Hoffentlich Hundert von Gam ================================================================================ Kapitel 1: Zahnschmerz ---------------------- Als das Licht durch die weißen Gardinen meines Zimmers drang, war ich bereits wach. Schon seit Stunden hatte ich dagelegen, mit weit offnen Augen und ohne mich zu rühren. Nun drehte ich den Kopf und blinzelte in das erste Tageslicht. Draußen hörte ich Schritte auf dem kalten Boden, die Schwester, die Frühschicht hatte, öffnete behutsam die Tür zum Schwesternzimmer und schloss sie kurz danach wieder. Im Kopf ging ich den Dienstplan durch. Heute war Donnerstag. Gestern war Jan dagewesen, der einzige Pfleger. Mein Gesicht hellte sich auf. Dann würde heute Bettina da sein. Bettina war meine Lieblingskrankenschwester. Sie war noch jung, hatte weich aussehendes blondes Haar und ein schüchternes Lächeln. Bettina war die Art von Mensch, dem man seinen Beruf ansehen konnte. Still, schüchtern und hübsch – für mich klang das bereits nach Krankenschwester. Ich setzte mich ein wenig im Bett auf und reckte meine steifen Muskeln. Ich war vielleicht ein wenig still, aber nicht schüchtern, und hübsch schon gar nicht. Besonders nicht nach fast einem Monat Krankenhaus. Im Bett gegenüber lag Maja. Sie war vierzehn und erst seit drei Tagen hier; sie hatte sich beim Fußballspielen das Sprunggelenk verletzt und musste operiert werden. Sie fluchte über alles und jeden. Über ihre Mutter, die zu selten kam, über ihre Oma, die zu oft kam, das Essen, die Schwestern. Sie ließ an nichts und niemandem ein gutes Haar. Ich dagegen hatte genug Zeit gehabt, mich mit den Bedingungen hier zu arrangieren. Mich mit so ziemlich allem zu arrangieren. Meine Probleme hatten vor nun fast drei Monaten begonnen – mit Schmerzen. Nun bin ich keine Zimperliese und kein Mamakind, und ich bin auch nicht scharf darauf, jedem der fragt, wie es mir geht, allzu detailliert Auskunft zu geben. Das machen doch nur alte Leute. Also hatte ich den Schmerz gewähren lassen. Menschen beschreiben immer wieder verschiedene Arten von Schmerz. Brennend, juckend, heiß oder kalt, ziehend oder drückend. Man fragt sich dann meistens unwillkürlich, wer auf die dumme Idee gekommen ist, Schmerz verschiedene Adjektive zuzuschreiben. Schmerzen sind nichts anderes als kleine Stromsignale in deinem Kopf, ausgesendet von irgendwelchen Nerven, die irgendwas zu meckern haben. Aber doch, es gibt sie. Mein Schmerz dagegen war nichts von alldem: Wenn man mich nach einem passenden Adjektiv dafür gefragt hätte, hätte ich einen Moment innegehalten und dann gesagt: Hohl. Genauso war es gewesen. Ein hohler Schmerz, als wäre da ein Loch. Mir war schon klar, dass ein Körper nicht plötzlich irgendwo ein Loch haben kann, wo vorher keins war. Ich war nicht gefallen, hatte mich nicht gestoßen und mir auch nichts verrenkt. Ich war mir sicher, kerngesund zu sein. Bis eben auf diesen Schmerz. Ich lebte mein Leben weiter, ging zur Schule, traf Freunde, ging mit dem Hund raus. Ich aß genug und schlief nachts durch. Von meinem Problem erzählte ich niemandem, doch ich spürte, dass da etwas in mir fraß, sich von mir ernährte und von Tag zu Tag größer wurde. Einen Monat später war ich ein anderer Mensch. Zumindest fühlte ich mich so. Meine Augen hatten Ringe, denn schlafen konnte ich nachts schon lange nicht mehr. Mein ganzer Körper juckte, sobald ich mich ins Bett legte. Ich konnte nichts mehr essen, mein Magen wollte nichts bei sich behalten. Ich sprach nur noch, wenn es unbedingt sein musste. Meistens war das, um meinen Eltern zu erzählen, es sei alles in Ordnung. Nichts war mehr in Ordnung. Wenn ich doch einmal schlief, meistens in einer Ecke meines Kleiderschranks, wo es dunkel und sicher war, jagten mich Monster durch dunkle Wälder und Steinwüsten. Ich hielt es einen weiteren Monat aus. Doch mit wem sollte ich denn darüber sprechen? Wer konnte mir denn helfen? Niemand würde sich dafür interessieren. Die redeten ja eh schon lange nicht mehr mit mir. Meine Freunde hatten mich doch längst aufgegeben! Warum sollten sie auch nicht. Ich war hässlich, langweilig und klein. Ganz klein. In dieser einen Nacht träumte ich, ich schrumpfte. Ich schrumpfte immer weiter. Erst wurden mir meine Hosen zu lang, dann schaffte ich es nicht mehr auf unseren Wohnzimmerstuhl, dann nicht mehr auf mein Bett, bald konnte ich unters Sofa gucken, ohne mich bücken zu müssen. Zuletzt war ich so klein, dass ich unter den Teppich passte – wo mein Vater mich mit seinen Füßen, groß wie die Antarktis, zertrat. Ich wachte auf, schweißgebadet und fühlte mich, als wäre ich Schuld. Schuld an allem. Ich war der schlechteste, ekelhafteste und hässlichste Mensch der Welt. Und wenn mich jemand ansah, würde er es auch wissen. Bald würde die ganze Welt es wissen! Ich ging ins Bad, öffnete den Schrank. Auslöschen. Vernichten. Verschwinden. Das war das einzige, was half. Ich stürzte die Tabletten mit Leitungswasser aus meinem Zahnputzbecher hinab und verlor das Bewusstsein, noch ehe ich das Bad verlassen konnte. Mein Schmerz war ein anderer gewesen. Deswegen lag ich seit einem Monat hier. Der hohle Schmerz ist noch da, aber ich habe gelernt, ihn zu vergessen. Anderes ist jetzt wichtiger. - Ich hoffe, es war in Ordnung trotzdem "Schmerz" zu schreiben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)