Farbenblind von Scribble ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Tränen ruhten tief in mir, wie in einem fossilen Grundwasserreservoir, unangetastet. Es schien viel mehr mein Herz stumm zu weinen, oder einfach nur stumm zu sein. Aber natürlich war es das nicht wirklich. Es schlug in meiner Brust und hielt mich am Leben. Es brachte mich weiter, irgendwie. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt. Der Schmerz in mir gedämpft. Irgendwie wusste ich, dass dies nur der Anfang war. Dass ich jetzt noch nichts begriffen hatte. Dass mein Schock ein Segen war, der mich in Watte hüllte, und die drohende Erkenntnis dämpfte, dass ich nicht mehr davonlaufen konnte. Und die mein spuckendes, speiendes Gewissen auf Abstand hielt. Heute morgen war mein Problem ein falsch zubereiteter Kaffee bei Starbucks gewesen. Jetzt fragte ich mich, was das für eine Frau gewesen war, weil sie mir wie eine Fremde erschien. Ihre Probleme waren nicht länger meine Probleme. Ein Anruf, und die Welt kippte unaufhaltsam. Und während alles um mich herum zu Boden splitterte, versuchte ich mich an irgendetwas festzuhalten. Doch alles, was ich hatte, war meine Handtasche. Eine Handtasche, die mich vor den Scherben meiner Welt und den Schatten schützen sollte, vor denen ich immer geflohen war. War es ein Wunder, dass die Unsicherheit mich ängstigte, die alles zu dominieren schien? Ich versuchte irgendeinen meiner wirren Gedanken zu sortieren und zu greifen, aber ich wusste ja nicht einmal, was ich überhaupt fühlte. Nicht genau. Es war schier unmöglich, ich konnte aus diesem festen Knoten von Gefühlen nicht einfach eines herausziehen und benennen. Es waren zu viele, Angst und Ungläubigkeit, Trauer und auch so etwas wie Wut ... und all das schien wie ein schwarzes Loch zu funktionieren, das meine Gedanken einsaugte, oder sie zumindest unnütz machte. Sie hatten keinerlei Bedeutung. Doch was schien schon noch Bedeutung zu haben? Ich starrte einfach nach draußen und rührte mich nicht. Wenn ich mich nicht bewegte, existierte ich nicht. Wenn ich nicht existierte, existierten auch meine Probleme nicht. Dann war all das nicht wahr. Ganz einfach und logisch. Wenn ich es ignorierte, wie konnte es dann mein Leben beeinflussen? „Entschuldigen Sie! Die Fahrkarte!“ Ich blinzelte, als die Stimme durch meine Watte drang, wie ein Messer schnitt sie hinein und piekste mein wundes Herz, nur leicht, ganz wenig, aber es reichte, um den Knoten in mir wuchern zu lassen, um ihn an Bedeutung gewinnen zu lassen. Ich versuchte mich an die Gleichgültigkeit zu klammern, eine Garantie für meine emotionale Gesundheit. „Die Fahrkarte!“ Das Messer zerstörte mehr von meiner äußeren Hülle, dieser Watte, und zwang mich dazu, meine Existenz anzuerkennen. Und die Existenz einer Realität, die mein selbst aufgebautes Leben bedrohte. Ich wandte den Kopf, und brauchte kurz, um den Mann vor mir scharf zu sehen. Die rötlichen Bartstoppeln an seinen Wangen fesselten meinen Blick und brannten sich in mein Gedächtnis, es war, als wäre er nur auf dieses Attribut reduziert. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. „Geben Sie mir bitte Ihre Fahrkarte“, presste er zwischen den Zähnen hervor, und ich sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung, die eine unbestimmte Panik in mir auslöste. Er hatte seine Hand ausgestreckt, was mir wie eine Drohung vorkam, nicht wie eine Aufforderung. Er machte mir Angst. Alles machte mir Angst. „W-wie bitte?“, stammelte ich und rutschte automatisch etwas weiter zurück, um zumindest ein wenig mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Er wollte irgendetwas, und er war genervt, wohl sogar wütend. Nichts, womit ich heute umgehen konnte. Nicht jetzt. Nicht hier. Er sollte einfach gehen und mich zufrieden lassen. „Hören Sie, ich habe jeden Monat mindestens zehn von ihrer Sorte hier sitzen. Stellen Sie sich nicht dümmer als sie sind. Das hier ist ein Zug, für einen Zug braucht man einen Fahrschein. Entweder haben Sie den, oder nicht, und zahlen dafür Strafe. Ist nicht mein Problem, ist Ihres. Aber machen Sie es bitte nicht schwerer als es ist und hören Sie auf mit diesem Schmierentheater.“ Ich starrte ihn an, irgendwie waren all seine Worte an mir vorbei geplätschtert wie ein kleiner Bach, der sich an meinem Schädel in zwei kleine Ströme teilte, ihn umfloss, und danach wieder als ein Strom von dannen zog, weit weg, irgendwohin, wo ich ihn nicht erfassen konnte. Wo ich ihn nicht einmal erfassen wollte. Wieso sollte ich es überhaupt wollen? Nicht einmal meine eigenen Gedanken konnten meinen Kopf füllen. Wie also sollten es die anderer tun? „Sind Sie taub?! Mir reicht es jetzt langsam mit Ihnen!“ Er war mir zu laut, viel zu laut. Ich schloss die Augen und hoffte, dass er fort war, wenn ich sie wieder öffnete. Wenn ich mich weg wünschte, würde dann all das hier verschwinden? Wenn ich es mir nur fest genug wünschte? „Entschuldigen Sie bitte, hier liegt wohl ein Missverständnis vor.“ Eine Stimme erhob sich glasklar über das undeutliche Rauschen, das mit der Watte einher ging. Ganz nahe bei mir. Ich öffnete blinzelnd die Augen. „Ich hatte Kopfhörer auf, deswegen habe ich Sie erst gehört, als Sie schon - sagen wir, laut genug waren. Sie fährt bei mir mit, wir haben ein Bayern Ticket.“ Die klangvolle Stimme liess mich nicht los. Sie war so viel leiser als die Stimme des Mannes, aber trotzdem fand sie ihren Weg zu meinen Ohren viel müheloser, und hielt mich zurück, hielt mich davon ab, zurück in die graue, schmutzige Watte zu sinken, die mich gleichzeitig schützte und erstickte. Es war eine Frau mir gegenüber. Sie war mir gar nicht aufgefallen. Sie hatte vorher nicht existiert. Nichts hatte existiert, bevor mich dieser Mann dazu gezwungen hatte, Dinge existieren zu lassen. „Zeigen Sie mal her. Was zur Hölle ist denn mit der los?“ Die Stimme, die mich hielt, wurde leiser, dunkler, duckte sich wie eine Raubkatze bereit zum Sprung. „Halten Sie sich etwas zurück, ja?“ Der Mann grummelte irgendetwas, dann ging er weiter. Ich spürte, wie es in mir brannte, nicht wegen irgendwelcher Worte, sondern weil die Realität mich ein Stück weit zurück hatte. Und das war genug, um den Schmerz real werden zu lassen. Der Knoten in mir schien übermächtig zu werden, sich aufzubäumen, und nach meinem Hals zu greifen, um sich um ihn zu schließen, um mich zu ersticken. Das Chaos in mir schien entfesselt zu werden. Die Frau gegenüber stand auf, mit einer schnellen Bewegung, so geschmeidig wie ihre Stimme, ließ sie sich auf den Platz neben mir sinken. Die schnelle Bewegung hatte so etwas wie meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich starrte sie stumm an, die Augen aufgerissen. Was wollte sie? Ich wusste nicht, wie mir geschah, als sie mich an sich zog und fest die Arme um mich legte. Ich versteifte mich augenblicklich, und plötzlich fiel mir auf, wie sehr meine Finger schmerzten. Reflexartig lockerte ich den Griff um meine Tasche, die schon knitterte davon, wie sehr ich mich in den Stoff krallte. Hatte ich die ganze Zeit so dagesessen? Ich wagte es, einzuatmen, und als der blumige Duft der Frau mir in die Nase stieg, da fühlte es sich an, als würde irgendeine Barriere in mir aufbrechen. Ich schnappte nach Luft, warf mich förmlich in das süsse Versprechen von Sicherheit und schmiegte mich in die feste Umarmung, die mir das Einzige erschien, was meine Welt noch zusammen hielt. Zitternd bettete ich den Kopf in der Halsbeuge der fremden Frau. Sie sagte kein Wort, ich hörte nur ihren Atem und spürte, wie er meinen Hals streifte. Ich sank nicht zurück in die Watte, nicht völlig. Stattdessen nahm ich so viele kleine Empfindungen wahr, die die Präsenz der Frau mit sich brachte, und dennoch - ihr betörender Duft und die Kraft und Sicherheit ihrer Umarmung ließen den Knoten schrumpfen. Unwichtiger werden. Legten das völlige Chaos. Schützten mich. Ich fühlte mich sicher. Reglos saßen wir da, nur ihr Daumen strich mir sanft über den Rücken. Und auch wenn ich darauf wartete, dass es sich verflüchtigte, das Gefühl blieb. Als würde die Welt nicht auseinanderbrechen. Als würde es weitergehen. „Es wird alles gut.“ Sie flüsterte es mir ins Ohr, Worte nur für mich, für niemandem sonst. Wieso glaubte ich ihr? Ich wollte ihr nicht glauben. Es war nicht die Wahrheit. Und wenn sie es noch so oft sagen würde, es stimmte ja doch nicht, denn wie sollte es je wieder gut werden? Was sollte gut werden? Mir entrang sich ein trockenes Schluchzen, völlig ohne Tränen. Ich konnte nicht weinen. Nicht richtig. Nicht wirklich. Nur mein Atem schien die Trauer nach außen transportieren zu können, und immer mehr Schluchzer kämpften sich ihren Weg nach draußen. Fast gewaltsam wurde mein Körper geschüttelt. Ganz ohne Tränen. Ich kam mir vor als würde ich lügen. Doch ich konnte nichts dagegen tun. Die Fremde zog mich noch näher an sich, legte eine Hand an meinen Hinterkopf. Ihre Geräusche irritierten mich. Sie drangen erst nur vereinzelt an mein Ohr, und als ich ihnen Beachtung schenkt, da setzten sie sich zu einer kleinen Melodie zusammen, verbanden sich zu einem Lied, das sie summte. Und es schien seinen Weg nicht in meine Ohren zu finden, sondern direkt in mein Herz. Es schien der Grund, mein Herz schlagen zu lassen. Wieso erschien es mir so voller Sinn hier zu sein? Was brachte mich dazu ihr zu vertrauen? Die Frau wiegte mich sanft in ihren Armen, als sei ich ein Kind, und ich wurde ruhiger. "Ich bin bei dir", sprach sie. Wieso erschien mir dies genug um das hier zu überstehen? Ich ließ mich von ihr halten, von ihren süßen Worten tragen. "Danke", wisperte ich an ihre Haut. Ich hatte das Gefühl, dass sie lächelte, als sie als Antwort ihre Stirn an meinen Kopf lehnte, ganz sanft, eine zarte, kaum merkliche Berührung. Ich atmete ruhig, in einem gleichmäßigen Rhythmus, ein und aus. Lauschte ihren Atemzügen. Das Wort Geborgenheit kam mir in den Sinn. Es beschrieb am Besten, was ich gerade fühlte. "Danke mir nicht, Wintermädchen." Sie verwirrte mich. Wieso nannte sie mich so? Ihre Stimme hatte einen weichen, schmeichelnden Klang, als wäre es ein liebevoller Kosename. Doch er gefiel mir nicht - seine Bedeutung gefiel mir nicht. Es klang so kalt. "Ich ... ich bin Sasha", hörte ich mich sagen. "Sasha", wiederholte sie, und es klang wie ein Kompliment. "Ich bin Maja. Bitte, sag mir, wohin gehst du?" Es brachte die Realität zurück. Wenn ich ihr sagte, wohin ich ging, dann würde es wahr werden. Und dann würde der Moment kommen, in dem ich aus ihrer Umarmung in das Krankenhaus stolpern würde. Und mich dort allem stellen musste. Ich wollte nicht allein sein. Ich wollte ihnen nicht begegnen. Ich wollte meine Mutter nicht verlieren. Ich wollte nichts davon. Doch niemand ließ mir eine Wahl. "Ich ... ich muss nach München, ins Krankenhaus ..." Sie lockerte den Griff um mich, und plötzlich Panik ergiff mich. Maja schob mich etwas von sich, strich mir die Strähnen aus dem Gesicht und nahm es in beide Hände. Ich starrte in ihre Augen wie betäubt. Ich fürchtete, dass sie mich loslassen würde. Doch sie tat es nicht. "Ich kann dich jetzt nicht begleiten, aber sorge dich nicht, Sasha. Ich werde für dich da sein." Die Gegenwart schien sich auszudehnen. Genug, um die Zukunft bedeutungslos erscheinen zu lassen. Ich verlor mich in blau, dann verschwamm es, und während mir die Tränen aus den Augen kullerten, zog Maja mich wieder an sich, wiegte mich in ihren Armen. Hielt mich mit ihren Versprechen und leise gesummten Melodien, die den Knoten in mir klein hielten, fast schon bedeutungslos. Eine Bedrohung, der ich mich jetzt nicht stellen musste, auch wenn ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Für nun fühlte ich mich geborgen und sicher in Majas Armen. Doch irgendwann kam der Moment, in dem ich mich von ihr lösen musste. Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof ein. Maja ließ mich los, sie holte ein Notizbuch aus der Tasche, schrieb sorgsam ihre Nummer auf eine Seite und trennte sie vorsichtig heraus. "Bitte, ruf mich an. Wann immer du möchtest. Ich möchte dir helfen. Ich werde an deiner Seite sein." Sie schob mir den säuberlich gefalteten Zettel in die Hand, und schloss sie mit ihrer eigenen. Ich fragte mich, womit ich jemanden wie sie verdient hatte. Weshalb half sie mir? Weshalb war sie so bemüht um mich? Ich war ja nicht das Opfer in dieser Misere - eher der Täter. Aber das wusste sie noch nicht. Maja sah nur meine Oberfläche. Sie wusste nicht, wen sie da Wintermädchen nannte und gleichzeitig mit ihrer Umarmung wärmte. "Danke", flüsterte ich. Mehr brachte ich nicht heraus. Der Zug hielt. Um uns herum setzten die Menschen sich auf, nahmen ihre Taschen und bildeten einen Strom zu den Türen. Ich wollte nicht gehen. Ich wollte nicht fort von Maja. Doch ich musste. Wir beide mussten aufstehen. Zur Tür gingen wir gemeinsam, sie hielt meine Hand, die Hand, die ich um die Nummer geschlossen hatte. Am Bahnsteig nahm sich mich noch einmal in den Arm. "Alles wird gut.", sagte sie und in ihrem Lächeln suchte ich nach Wahrheit, obwohl ich längst wusste, dass ich ihr glaubte. Noch immer war ich unfähig ihr zu antworten. Ich stand nur da und sah ihr nach, wie sie langsam in der Menge verschwand und davonging. Auf halbem Weg drehte sie sich um, sie winkte. Meine Hand hob sich wie von allein zu einem Abschiedsgruß. Dann blieb ich allein zurück. Ich brauchte kurz, um mich in Bewegung zu setzen. Ich musste zu den U-Bahn-Stationen. Doch mit jedem Schritt in diese Richtung begann der Knoten in mir an Bedeutung zu gewinnen. Alles in mir sträubte sich, und doch ging ich einfach weiter. Kapitel 2: ----------- Es war ein riesiger Gebäudekomplex, in dem ich mich zurechtfinden musste. Krankenhäuser an sich war ich ohnehin nicht gewohnt - und gerade wegen der Größe schien es mir wie ein bedrohliches Labyrinth, das einfach so entscheiden konnte, ob ich überhaupt wieder hinauskam. Oder doch bleiben musste, in ein Bett gelegt wurde und plötzlich auch zu denen gehörte, die hier kämpften und bangten. Den Linien an der Wand, die den Weg zu der Sation zeigten, folgte ich wie in Trance. Konnte das hier die Wahrheit sein? Krankenhäuser schienen so abgeschnitten von jeglicher Realität, es schien fast als gerate man in eine andere Welt. War es da ein Wunder mich zu fühlen wie in einem schlechten Traum? Das hier war einfach viel zu unwirklich, und gleichermaßen viel zu unangenehm. Ich wollte nicht hier sein. Und am Liebsten hätte ich die Tür einfach ignoriert, als ich vor der richtigen Station stand. Am Liebsten wäre ich umgekehrt und geflohen. Der Geruch, der hier überall herrschte, wurde mir wieder schmerzhaft bewusst. Er beunruhigte mich. Die Wände um mich herum waren eng, es roch steril, und auch wenn es mir lächerlich vorkam, fühlte es sich an, als könne man den Atem des Todes hier fast spüren, wie er den Nacken streifte. Er kroch näher an einen heran in so einer Umgebung, in der er nahezu Hand in Hand mit dem Personal der Klinik arbeitete. Manche Fälle übernahmen sie, manche riss er an sich. Ich wollte ihm fern bleiben, so weit wie es nur ging. Doch irgendwie lief ich ihm dennoch entgegen. Ich fröstelte und schlang die Arme um meinen Oberkörper, hielt mich selbst fest. Maja schien mir weit entfernt, wie ein flüchtiges Traumbild, an das ich mich immer weniger erinnern konnte. Ich fragte mich allmählich, was überhaupt real war. Nichts fühlte sich real an. Ich machte zwei unsichere Schritte nach vorne, legte eine Hand an den breiten Metallstreifen quer über der breiten Tür, mit dem man sie aufdrückte. Ich wünschte mich zurück ins Hotel, zwischen meine Taschen. Ich wünschte mich zu Maja. Ich wünschte mich nach Hause. Irgendwohin. Weit weg von hier. Dann stieß ich die Tür auf und trat auf die Station, eingeschüchtert von dem langen Gang, an dem hinter jeder Tür eine andere Krankheit lauerte. Man hatte mir die richtige Zimmernummer gesagt, und dennoch war ich nicht in der Lage, geradewegs loszulaufen. Ich stand dort und war abermals überfordert. Spürte, wie ich schneller atmete. Ich wollte nicht hier sein. Ich hasste Krankenhäuser. Ich wollte nicht, dass meine Mutter hier war. Ich wollte, dass sie in der Küche stand und mich nach der Schule mit einem breiten Lächeln und einem leckeren Essen erwartete, um mich zu fragen, wie mein Tag gewesen war. Ich wollte wieder das Mädchen von damals sein. Und ich wollte dass sie genauso gesund wie damals war. Ich wollte diese Zeit meines Lebens in ein Konservenglas pressen und sichern. Und sie immer bei mir tragen, ganz dicht bei mir. Ich wollte alles zurückdrehen, alles anders machen. Doch das Leben war kein Wunschkonzert. Niemals würde ich in der Lage sein zurück zu gehen. Es ging immer nur voran. Was hatte ich für eine Wahl? Die Schultern zu straffen und weiter zu gehen war das einzige, was ich tun konnte. Der Weg an den Türen vorbei war so unwirklich wie alles hier. Zu lang, nicht lang genug. Ich sah auf die Schildchen, auf die Nummer. Fand das richtige Zimmer. Der Geruch um mich herum drang in meine Lunge ein und ließ sie schmerzen. Ich spürte wie mir das Atmen schwerer fiel, mein Herz raste, ich presste mir die Hand auf die Brust, kniff die Augen zusammen. Ganz ruhig, ganz ruhig. Ich atmete gleichmäßig ein und aus. Der Schmerz ließ nach. Ich wurde etwas ruhiger. Meine Hände zitterten noch immer. Eine Panikattacke, nur eine Panikattacke. Hier stand ich, und ich konnte atmen. Luft strömte gleichmäßig in meine Lungen und wieder hinaus. Alles war gut. Es gab keinen Grund für Panik. Nein, gar keinen. Tränen waren mir in die Augen getreten von der Anstrengung. Ich hasste es, Panikattacken zu haben. Ich hasste es. Und das dumpfe Brodeln der Panik ließ mich nicht los. Ich konnte es zurückdrängen, aber es war da und wartete auf seine Chance wieder Besitz von mir zu ergreifen. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Gestalt näher treten, wandte den Kopf etwas, blinzelte. Ich stolperte zurück, und starrte den Mann vor mir an. Auch sein Blick streifte mich, erkannte mich, fixierte mich. Aus den Tiefen drangen die Emotionen hervor und zeigten sich in seinen braunen Augen. Überraschung, Wut, Enttäuschung, Schmerz, Abneigung und so etwas wie eine leere Freude, das Aufblitzen von etwas, das mein Anblick einmal ausgelöst hatte.Und was nun der Vergangenheit angehörte. Er öffnete den Mund, brachte keinen Ton hervor. Auch in mir wirbelten die Emotionen. Ich wollte ihm nicht näher kommen. Ich senkte den Blick, wagte es nicht, ihn noch anzusehen. Ich fühlte mich wund, verletzlich, und vor allem schuldig. "Sasha", sagte er kalt. "Dich hier zu sehen." Ich ballte meine Hände zu Fäusten, wollte ihm laut antworten, doch ich schaffte es nicht meine Stimme zu erheben. "Es geht um Mutter, oder nicht?", fragte ich leise, doch eigentlich wollte ich ihn fragen, was er von mir erwartete. Dass ich nicht auftauchen würde? Dass ich warten würde bis sie fort war ohne sie auch nur noch einmal gesehen zu haben? Doch ich kannte die Antwort auch so. Er hätte tatsächlich nicht erwartet mich hier zu sehen. Hatte mich auch nur anstanshalber verständigt. Eine knappe Mail, die ich nur wegen ihres Betreffs nicht gelöscht hatte. Alexander schnaubte. "Ja. Selbstverständlich tauchst du erst jetzt auf, wo es schon zu spät ist. Wo warst du als sie dich gebraucht hat? Weißt du, wie oft sie nach dir gefragt hat? Tatjana und ich haben uns die ganze Zeit um sie gekümmert, während du verschwunden warst. " Ich zuckte zusammen, als der Name Tatjana fiel, und entlockte Alexander nur ein weiteres Schnauben. Er machte keinen Hehl aus seiner Wut, und ihm war egal, wie sehr mir das zu Schaffen machte. Teilweise konnte ich ihn ja auch verstehen - ich war diejenige gewesen, die ihr Leben in München verlassen hatte und nach Hamburg geflohen war. Ich war diejenige gewesen, die all die Brücken hinter sich zerstört hatte. Kaum erreichbar, niemals da. Ich hatte nicht auf Briefe und E-Mails reagiert, meine neue Nummer nicht einmal durchgegeben. In seinen Augen hatte ich meine Familie hintergangen. Und ich wusste, dass er nicht einmal Unrecht hatte damit. Ich wusste, dass ich meine Mutter verletzt hatte. Dass ich ihn verletzt hatte. Ich hatte so viele Fehler gemacht, und sie alle zu verlassen war einer davon gewesen. Natürlich hatte Alexander Recht. Natürlich konnte ich das nachvollziehen! Nur wieso war ihm nicht auch nur einmal in den Sinn gekommen dass ich es aus anderen Gründen tat als aus purem Egoismus? Ich wollte nicht allein sein. Aber ich hatte doch keine andere Wahl damals. Ich musste gehen. Irgendwie musste ich mich selbst ja schützen. Und dies schien mir die einzige Alternative, an der ich nicht zerbrechen würde. Doch diese Gedanken behielt ich für mich. Ich war zugleich zu stolz und zu feige Alexander meine wahren Beweggründe zu nennen. Ich nahm es hin, was er sagte, den Kopf gesenkt, die Fäuste geballt. Mein Gesicht brannte vor Scham. "Es tut mir Leid", hörte ich mich sagen. Es tat mir wirklich Leid. Doch mir selbst war klar wie leer diese Worte klingen mussten nach all der Zeit. "Sicher tut es dir jetzt Leid. Das ist das bequemste. Alles, was du tust ist das bequemste für dich! Hast du auch nur einmal daran gedacht was du uns antust in all der Zeit?" Natürlich hatte ich darüber nachgedacht! Ich hatte ja mehr als genug Zeit gehabt dafür. Aber es war einfach gewesen als ... wäre ich in Treibsand geraten. Ich versank, immer weiter, und ich konnte mich nicht befreien, es zog mich einfach nach unten. Und alles, was ich wollte, war nicht zerquetscht und zermamlt zu werden von dem, was mich abwärts zog. "Alexander, bitte - das ist auch für mich nicht leicht." Ich wusste dass ich das falsche gesagt hatte, als ich sah, wie sich auch seine Hände zu Fäusten ballten. Nicht so wie ich, die ich es tat, weil ich unter Druck stand. Alexander hatte das schon immer nur aus Wut gemacht. "Was erwartest du von mir?! Mitleid?! Immer geht es nur um dich. Alles dreht sich um dich! Aber ich sag dir was. Niemand hier braucht dich noch, und niemand hier kümmert sich darum ob du jetzt doch noch angekrochen kommst oder nicht. Ich für meinen Teil kann auf deine Anwesenheit gut verzichten, Schwesterherz." Ich hob den Blick und sah ihn direkt an. Er hatte dieselben Augen wie ich, wie unsere Mutter. "Was willst du von mir? Dass ich gehe? Du glaubst dass Mutter das genauso sieht? Dann bist du hier wohl derjenige, der sie schlecht kennt!" Alexanders Verhalten riss Wunden in mir auf, die ich hatte heilen wollen. Und es machte auch mich wütend. Weshalb nur konnte er nicht verstehen dass alles zwei Seiten hatte? Und dass nicht nur er im Recht war? Wieso fand er es richtig mich einfach abzustempeln? Ohne auch nur einmal nachzufragen woran es liegen konnte? Wir waren in unserer Kindheit unzertrennlich gewesen. Wie konnte er davon ausgehen dass ich keinen guten Grund hatte so etwas zu tun? Wieso musste er noch immer eines draufsetzen? "Du hast kein Recht davon zu sprechen wer sie besser kennt! Sie hat sich verändert! Die Krankheit hat sie verändert! Aber ich fürchte du liegst richtig damit, dass sie dich sehen will. Sie hat dich viel zu sehr vermisst um dich jetzt wegzuschicken. Aber wenn du schon so fragst - ja, ich will, dass du verschwindest. Es war nicht leicht dich aus meinem Leben zu streichen. Aber du wolltest es so. Und ich habe absolut keine Lust dir jetzt wieder einen Platz darin zu geben." Ich sah ihn an, und er blickte einfach zurück, seine Augen ausdruckslos, doch ich kannte ihn zu gut, um den Schmerz darin nicht zu sehen.Mir war klar gewesen, dass ich ihn verletzt hatte. Ich hatte es immer gewusst. Aber mir war nicht klar gewesen dass ich ihn damit ganz verloren hatte. Das hatte ich nie so gewollt. Es war ein Fehler gewesen, ja. Aber ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht anders. Und damals hätte ich nicht damit gerechnet, dass ich meinen Bruder verlieren würde. Endgültig verlieren würde. Die Erkenntnis fühlte sich an wie eine Ohrfeige, die mich zur Seite riss, aber deren Schmerz ich noch nicht spüren konnte. Irgendwie war alles taub. "Ich verstehe das", hörte ich mich sagen, dabei wollte ich ihn eigentlich nur anschreien und meine Fäuste auf seine Brust trommeln wie früher, wenn er eine Puppe von mir hoch über seinen Kopf gehalten hatte und ich sie zurück haben wollte. Oder mich an ihn krallen, wie in den langen Gewitternächten. Ich wollte meinen Bruder, den Bruder von damals, der das Mädchen von damals beschützte, wenn die Zukunft sie ängstigte. Doch mir blieb nichts anderes übrig, als weiter zu reden. Irgendwie alles nicht noch schlimmer zu machen. "Ich verstehe es wirklich, aber bitte lass unsere Differenzen keine Auswirkung auf die Sache mit Mutter haben. Das würde ich nicht ertragen. Es ist doch schon schlimm genug, oder nicht?" Ich sah wie Alexander die Schultern hängen ließ, seine Hände sich entspannten. Plötzlich fiel mir auf wie müde er wirkte. Mir wurde endlich bewusst, dass er all die Zeit für sie da gewesen war, dann, als ich es nicht war. Wie sehr das an ihm gezehrt haben musste, und dass auch seine Welt sich kippte, fern von allem, was zwischen uns stand. Es ging um unsere Mutter, es ging um die wichtigste Frau in unserem Leben. Nicht nur um Schuld der Verganenheit, auch wenn es schwierig war, diese Kapitel hinter sich zu lassen. Als würde man die Ketten ignorieren wollen, die einen am Boden fesselten. Es tat mir Leid, es tat mir so unendlich Leid, dass nicht ich diejenige gewesen war, die bei Mutter gewesen war. Dass ich so lange gewartet hatte. Jetzt war es zu spät für Wiedergutmachung - für mich gab es nur noch einen Abschied. Jetzt konnte ich mich nur noch meinen Fehlern stellen. Alexander atmete tief ein uns aus. Er sah mich nicht direkt an, als er sprach. "Sie wird sterben. Nur deswegen habe ich mich überhaupt bei dir gemeldet. Die Ärzte haben uns gewarnt, dass wir uns von ihr verabschieden sollten. Sie wird nicht mehr lange durchhalten." Es noch einmal zu hören, endgültig, war wie ein zweiter Faustschlag. Ich taumelte abermals, drohte vielleicht zu fallen, aber der Schmerz war nicht da, alles taub, alles war taub. Stumm. Erdrückend. Ich verharrte regungslos, das Herz pochte in meiner Brust, heftig, schnell. Ich war nicht bereit für so etwas. Die Panik in mir kämpfte sich wieder nach oben, ich versuchte, sie zu unterdrücken, versuchte, durchzuhalten, etwas zu tun, irgendetwas, aber ich war völlig überfordert mit der Situation. "Was jetzt?", fragte ich meinen großen Bruder leise, und fühlte mich wie das Mädchen von früher in einem Gewittersturm. Doch Alexander schüttelte nur den Kopf, machte einen halben Schritt zurück. "Das ist nicht meine Sache, Sasha. Es ist mir egal, was du tust. Aber mach nicht alles noch schlimmer als es ohnehin schon ist. Du hast nicht nur mich und Mutter verletzt, ich hoffe du weißt das. Was hat Tatjana dir getan, dass du sie so behandeln musstest?" Abermals zuckte ich zusammen. Tatjana. Wieso musste er jetzt sie mit ins Spiel bringen, wenn ich ohnehin schon zu zersplittern drohte unter dem Druck, der auf meinem Herzen lastete?! Wieso musste er jetzt alles noch schlimmer machen?! Ic "Sie ist schwanger, Sasha. Wir bekommen ein Baby. Du wirst Tante. Aber auch das vergönnst du uns nicht, oder?" Ich schnappte nach Luft. Es tat weh. Alles. Es tat so weh. Meine Lungen zogen sich zusammen, ich erstickte, ich drohte zu ersticken, und gegen den Druck hörte ich mich schreien. "Sei still! Ich will kein Wort hören davon!" Ich wirbelte herum, floh, noch bevor ich es wirklich realisierte war ich schon unterwegs. Rang nach Atem. Ich musste hier weg. Rennen, rennen, weit weg, irgendwohin, irgendwohin wo Alexander mein Bruder war, meine Mutter in der Küche stand, und wo Tatjana nicht existierte. "Dann geh doch!", schrie Alexander mir nach. "Hau doch ab, verdammt! So wie du es immer tust!" Der Schmerz in seiner Stimme vervielfachte meine Schuldgefühle nur noch. Doch in einem Punkt musste ich ihm auf jeden Fall recht geben. Gerade ging es mir nur um mich, nicht um seinen Schmerz. Ich versuchte mich selbst zu schützen, ohne auf ihn zu achten. So wie du es immer tust, hämmerte seine Stimme in meinem Kopf. Ich stolperte, fiel vornüber auf den Boden, war irgendwo im Krankenhaus, irgendwo, wo sich jemand zu mir herabbeugte und fragte, ob alles in Ordnung war. Ich starrte die Frau nur an, schüttelte den Kopf, nichts war in Ordnung. Und dann ging ich einfach weiter, irgendwie. Die Luft um mich herum erstickte mich. Ich musste nach draußen. Ich brauchte Luft, richtige Luft, noch viel länger würde ich es hier drin nicht aushalten. Als ich nach draußen stolperte kamen die Tränen. Und ohne darüber nachzudenken, als wäre es eine ganz natürliche Reaktion, die einzig logische, die es geben konnte, griff ich nach meinem Handy und fischte Majas Nummer aus der Tasche. Meine Finger wählten sie, ich brauchte mehrere Anläufe, während ich schon davon stolperte. Weg. Nur weg, weg, weg von diesem Ort. Kapitel 3: ----------- Draußen zog die Landschaft vorbei. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wohin wir fuhren. Es war mir egal. Ich brauchte es nicht einmal zu wissen. Maja war bei mir. Sie hatte meine Hand genommen und mich geführt, während ich hinter ihr her gestolpert war ohne mich auch nur einmal zu fragen wohin wir gehen würden. Erst hatte sie mir einen warmen Kakao in die Hand gedrückt, dann hatte sie mich weiter geführt, in eine S-Bahn, die von einem Bahnhof abfuhr, den ich alleine nicht einmal gefunden hätte. Vieles hatte sich verändert ... Und nun saßen wir hier, sagten kein Wort. Sie hielt meine Hand und strich mit ihrem Daumen über meine Handfläche. Leises Summen drang an meine Ohren. Die Tränen waren längst getrocknet, allein ihre Anwesenheit hatte mir mehr geholfen als ich es ihr zu gestehen wagte. Alles schmerzte viel weniger, schien viel weiter weg. Maja wusste nicht, was ich getan hatte. Sie wusste nicht, dass ich selbst Schuld an alldem war. Dass ich meinen Bruder so lange von mir gestoßen hatte, bis er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Und sie hatte keine Ahnung, dass die Frau meines Bruders schnwanger war. Schwanger. Sie erwarteten ein Baby. Ich würde Tante werden. Und alles, was ich fühlen konnte, war der Drang zu weinen. Es wunderte mich nicht, dass mein Bruder mir nicht verzeihen konnte und wollte. Er hatte alles Recht dazu. Ich benahm mich völlig daneben, als hätte man mich irgendwann einfach falsch programmiert. Aber ... das hatte man ja. Irgendwie. Kraftlos lehnte ich mich an Maja, und sie legte ihren Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. "Danke", murmelte ich, "Danke, dass du all das für mich tust." Ich wusste nicht, was ich ohne Maja gewesen wäre. Ohne sie wäre ich sicherlich schon längst zusammengebrochen. Nur sie hielt mich irgendwie hier, mit ihren Melodien, den Berührungen, der bedingungslosen Zuneigung, die sie mir entgegen brachte. Einfach so. Womit hatte ich das verdient? Ich verdiente es nicht, wie sehr sie sich um mich kümmerte. Und ich fürchtete mich davor, dass sie herausfinden würde, dass ich es nicht verdiente, genauso wie davor, dass sie es nicht herausfinden würde, und ich sie immer weiter ... anlügen würde. Ein Trugbild sein. Immerhin hatte ich die Fehler gemacht. Immerhin war ich gegangen. Immerhin war ich es, die ihren Bruder von sich stieß. Und die ihre Mutter selbst dann ignoriert hatte, als sie krank geworden war. Wieso war ich nicht einfach zurückgekehrt als es noch nicht zu spät gewesen war? Ich verdiente keine Fürsorge. Ich sollte auf mich allein gestellt sein, ich sollte weinen und schreien und meine Schuld tragen. Stattdessen ließ ich mich von Maja entführen, atmete ihren süßen Duft ein und ließ meine Last von ihr erleichtern. "Ich habe es dir doch schon einmal gesagt, Wintermädchen. Danke mir nicht." Ich blinzelte, löste mich etwas von ihr, um sie ansehen zu können. "Wieso nennst du mich so? Wintermädchen, meine ich?" Maja lächelte sanft, und in ihren Augen sah ich eine Wärme, die mir die Kehle zuschnürte. Dann deutete sie nach draußen. "Siehst du die grünen Blätter an den Bäumen?" Natürlich sah ich sie. Majas Frage irritierte mich etwas, doch ich nickte bloß. Was hatte das mit meiner Frage zu tun? "Nein, ich meine nicht deine Augen. Natürlich hast du schon einmal grüne Blätter gesehen. Ich meine damit, ob du weißt, was es mit ihnen auf sich hat. Ich frage dich, ob du dich jemals auf die Natur eingelassen hast und darauf, was sie uns lehrt." Sie sah mich an, und ein feines, fast schon amüsiertes Lächeln umspielte nun ihre Lippen. Maja konnte an meinem Gesichtsausdruck sehen, dass ich mich nicht nur niemals damit auseinander gesetzt hatte, sondern dass ich sie auch für ein kleines bisschen verrückt hielt. Eventuell auch ein größeres bisschen. Maja stand auf, zog mich an der Hand mit. "Komm mit. Es dir hier zu erklären würde keinen Sinn machen." Ich fragte mich, ob Maja gewusst hatte, was sie tat, als sie einfach ausgestiegen war, wie mir schien, an einer zufälligen Haltestelle. Ich hoffte nur, dass wir zurückfinden würden, denn wir wanderten eine ganze Weile einfach nur umher, und noch immer sagte sie kein Wort. Mir fiel auf, dass es hier recht abgelegen war. Ganz anders als die laute, lärmende Innenstadt von München. Die Natur war tatächlich weit präsenter, es war ruhiger. Die Luft klarer. Sie füllte meine Lungen und ließ mich ein Gefühl von Freiheit spüren, das so ganz anders war als die Ketten, die ich im Krankenhaus mit mir trug. Ich ignorierte den Gedanken daran so gut wie nur irgendwie möglich. Jetzt war ich hier, jetzt war dies weit weg, an einem Ort, den ich nicht eiinmal aus der Vergangenheit kannte. Ein ganz neues München für mich. Irgendwann hielt Maja plötzlich an. Wir standen vor einer Grünfläche, über die verteilt die unterschiedlichsten Bäume standen und ihre Kronen zum blauen Himmel reckten. Die warme Luft schmeckte nach dem Versprechen eines nahenden Sommers. Es war Spätfrühling, und um uns herum stand die Natur in voller Blüte. Das Gras vor mir war durchzogen von Gänseblümchen und Löwenzahn, zwischen den Blüten summten die Bienen umher. Fragend blickte ich zu Maja, die sich auf den Boden vor mir kniete und sich über meine Füße beugte. Was tat sie da? Ihre plötzliche Nähe, und diese Geste, die mir unheimlich intim vorkam, ließen mich erröten. "Ähm -", stieß ich verlegen hervor, doch fand keine Worte, die ich hätte sagen können. Stattdessen wartete ich atemlos ab, was sie vorhatte. Ihre Finger fanden die Schnürsenkel meiner Turnschuhe und öffneten sie, erst links, dann rechts. "Heb dein Bein", forderte sie sanft, und völlig perplex tat ich, wie mir geheißen. Der Klang ihrer Stimme lullte mich ein. Majas Finger streiften meine Haut, als sie mir den Turnschuh vom Fuß streifte, und kurz darauf die Socken. Die plötzliche Luft an meinen Zehen, und die zarte Berührung einer so ungewöhnlichen Stelle, ließen mich erschaudern. Maja tat dasselbe mit dem anderen Bein, und plötzlich stand ich barfuß auf dem Teer. Ich spürte an meinen nackten Fußsohlen überdeutlich die Unebenheiten und kleine Steinchen, die darauf lagen. Irgendwie kam ich mir nackt vor. Maja hingegen lachte befreit, als auch sie sich die Schuhe von den Füßen streifte. Ich warf einen nervösen Seitenblick auf die anderen Leute ringsumher, die es sich gemütlich gemacht hatten, lasen oder mit ihren Kindern tobten. Was würde man von uns halten? "Lassen wir sie hier liegen, wir können sie nachher holen. Komm mit, Sasha." Maja begann rückwärts in die Wiese hinein zu laufen, die Hand nach mir ausgestreckt. Ich machte einen raschen Schritt voraus und griff nach ihrer Hand, doch gleichzeitig hatte ich Scheu, völlig ungeschützt durch die Wiese zu laufen. "Wir können doch nicht - was, wenn wir in Steine treten? Oder auf eine Biene?" Maja jedoch führte mich einfach weiter, und setzt ihre Füße furchtlos zwischen die Grashalme und Blüten. "Hab keine Angst. Du musst dich nur darauf einlassen. Trample nicht durch die Welt als wärst du die einzige, die existiert. Nimm Rücksicht auf deine Umwelt, setze deine Schritte bedacht, und nichts wird geschehen, außer dass du fühlst." Sie lachte abermals auf, so offen und frei, dass es mein Herz einen frohen Satz machen ließ. Auch ich musste lächeln, und setzte unsichere, vorsichtige Schritte, um ihr zu folgen. Majas Wangen waren gerötet und ihre Augen funkelten. Sie war begeistert darüber, dass ich mich darauf einließ. Und sie war glücklich, unheimlich glücklich darüber, mit nackten Füßen über die weiche Wiese zu laufen und den Sonnenschein zu genießen. Ich beneidete sie darum, so viel Freude an solch einfachen Dingen zu finden, und bewunderte sie gleichzeitig dafür. Es fühlte sich aufregend an sich mit ihr auf solch neue Dinge einzulassen. Irgendwie prickelnd, neu, anders. Ich schloss die Augen und stolperte einige Schritte weiter, meiner Sache noch immer nicht ganz sicher, aber versuchte zu fühlen, was sie fühlte. Versuchte zu verstehen, was sie daran fand. Weshalb es einen Menschen dazu bringen konnte so aufzulachen wie sie es tat. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, ihre Euphorie zumindest etwas nachvollziehen zu können. Das Gefühl von Freiheit flatterte hinter mir her wie Seidenbänder, die an meine Handgelenke gebunden waren. Und mit jedem weiteren Schritt schien ich das Grau hinter mir zu lassen und aufzugehen in den Farben, die Maja mir zeigte. Der Knoten in mir, die brodelnde Panik, nichts davon hatte noch Bedeutung. Maja ließ sich nun auf den Boden fallen, und blinzelte hoch zu der mächtigen Baumkrone einer Eiche, während ich mich beeilte, ihr nachzukommen, und fast auf den Boden neben sie fiel, weil sie meine Hand noch immer festhielt. Sie grinste mich fröhlich an, und ich fühlte, wie ich zurück grinste, und mich etwas bequemer hinsetzte. Ich lehnte mich ebenfalls an den Baumstamm, und spürte die Rinde im Rücken. Über uns sangen Vögel, und andere antworteten von überall her. "Ich liebe den Frühling", seufzte Maja. Ich lächelte nur stumm, und eine Weile saßen wir einfach nur nebeneinander im Gras. Ich konnte nicht mehr aufhören mit den Zehen zu wackeln. So viel Freiheit und frische Luft waren sie nicht gewöhnt, ganz und gar nicht gewöhnt, aber ich empfand es nicht als schlecht sie ihnen zu gönnen. Es fühlte sich schön an. Zwischen Majas Zehen hatte sich ein Gänseblümchen verfangen, doch sie tat nichts dagegen, sondern ließ es ihre Füße schmücken. Ich konnte den Blick nicht abwenden davon. Seien es nur ihre Füße, sie war schön, das wurde mir jetzt schon fast schmerzhaft bewusst. Und sie war so viel stärker als ich. Weshalb war sie für mich da? Weshalb tat sie all das für mich? Ich hörte es mich laut aussprechen. "Warum hilfst du mir? Wieso bist du so gut zu mir?" "Hattest du nicht eigentlich eine andere Frage?" Majas Lächeln blieb, doch ihr Blick verlor sich in der Ferne, und ein trauriger Zug schlich sich in ihr Gesicht. Ihre Stimme klang anders, als sie nun sprach. Sie hatte den Klang verloren, der vor Freude übersprudelte, dennoch erschien er nicht wirklich traurig, eher ... neutral, obwohl der Gegensatz zu vorher den Eindruck verstärkte, dass es ihr ernst war. Ihre Worte wirkten bedacht gewählt, vorsichtig gesprochen auf mich. "Ich weiß nicht, es ... ich schätze, ich hätte es mir auch gewünscht, als ich Hilfe brauchte. Jemand, der für mich da ist. Jemand, der mich hält, und mir sagt, dass alles gut ist, bis es endlich so weit ist. Es ist hart, darauf zu warten, wenn man allein ist. Es ist hart, daran zu glauben, wenn niemand da ist, der einem dabei hilft." Sie seufzte. "Ich möchte nicht, dass es dir so geht wie mir. Ich habe mir ... Ventile gesucht, damals, auf die ich nicht stolz bin. Angewohnheiten entwickelt, gegen die ich lange kämpfen musste. Ich möchte dich davor bewahren." Sie wandte sich mir zu. "Klingt das verrückt? Wir kennen uns nicht einmal. Aber als ich dich sah, da habe ich einen Teil von dem wiedererkannt, was damals in mir war. Und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass es auch dich bekommt." Ich wusste nicht, was ich ihr darauf antworten sollte. Sie machte mich sprachlos, und es fiel mir schwer nachzuvollziehen, wovon sie sprach. Was meinte sie damit? Von welchen Ventilen sprach sie? Doch irgendwie schien Maja zu verstehen, was ich gerade fühlte, dass ich verwirrt war, und eigentlich gerne wissen wollte, warum sie mir das sagte. Und so rutschte sie etwas näher zu mir, und ich sah, wie sie den Reißverschluss ihrer dünnen Jacke öffnete und sie sich von den Schultern streifte. Dann zeigte sie mir ihren Arm. Erst fiel mir nichts auf, doch plötzlich realisierte ich, was ich sah. Feine, weiße Narben, manche kaum sichtbar, andere breit und eher auffällig verheilt. Ich schlug mir die Hand vor den Mund. "Es gibt viele Wege, die Menschen einschlagen, um der Dunkelheit zu entgehen", meinte Maja einfach. "Dies ist nur einer davon, und wie jeder in dieser Situation, so habe auch ich damals nicht bemerkt, dass er mich nur tiefer in die Dunkelheit führt. Und eine Last ist, wenn bessere Zeiten abrechen. Und diese besseren Zeiten damit zu verbringen von den Fehlern der Vergangenheit loszukommen ..." Vielleicht hätte ich es ihr jetzt sagen sollen. Dass ich viele Fehler gemacht hatte, von denen ich loskommen hatte wollen, doch ... mit denen ich nur immer mehr Fehler begangen hatte, so lange, bis es nichts mehr zu retten gab. Doch ich war noch immer schockiert davon, was sie mir gezeigt hatte. Und hatte keine Ahnung, was ich sagen könnte dazu. Hier ging es um sie, nicht um mich. Sie streifte sich die Jacke wieder über, doch machte den Reißverschluss nicht zu. Maja kniete sich vor mich, um mir besser in die Augen sehen zu können. Ihr Blick hielt mich gefangen. "Mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin ein Fürhlingsmädchen geworden. Ich bin wieder im Licht angekommen, und mein Inneres erblüht, so wie diese Wiese hier. Grüne Blätter sprießen an kahlen Zweigen, und die Bienen summen in mir und treiben mich an, weiterzumachen. Du jedoch, Sasha ..." Sie nahm meine Hände in ihre. "Du bist ein Kind des Winters. In dir ruht der Schnee, der schmelzen muss, bevor der Frühling wieder anbrechen kann. Du schläfst noch, dein Inneres schläft, obwohl es eigentlich darauf wartet zu dieser Wiese zu werden, zu sprießen und zu wachsen. Deswegen nenne ich dich Wintermädchen. Und deswegen meinte ich - sieh dir die Natur an. All diese Jahreszeiten gehören zum Kreislauf des Lebens dazu, ohne den Winter könnte die Erde nicht ruhen, und hätte nicht genug Kraft, im Frühling neue Triebe erblühen zu lassen. Jeder braucht den Winter. Er ist nichts Schlechtes. Doch man muss den Mut haben, ihn hinter sich zu lassen, und manchmal ... da braucht es auch ein wenig Hilfe, weil man eingefroren ist. Zum Stillstand gekommen. Ich weiß nicht genau, was es ist bei dir, aber ... deswegen helfe ich dir. Ich möchte dich wärmen, damit der Schnee schmilzt und du dich dem Neuen öffnen kannst. Ich möchte dich erblühen sehen." Sie rutschte etwas zurück, ganz so, als wäre alles normal. Als wären mir nicht die Tränen in die Augen getreten wegen ihrer Worte. Als hätte sie mich nicht sprachlos gemacht, mein Herz zum Schlagen gebracht, mein Innerstes aufgewühlt. Maja rutschte neben mich, lehnte sich wieder an den Baum. Ich legte den Kopf an ihre Schulter,sie legte ihren Arm um mich, und gemeinsam saßen wir, und ich fühlte mich wund, aber beschützt, geborgen und ihr auf eine rätselhafte, tiefgehende Weise verbunden. Ich war ruhig und entspannt, und hatte das Gefühl, die Sonne schien schon herab bis in meine Seele. Als hätte Maja ihr den Weg dorthin geebnet. Wir warteten in Stille bis die Sonne so weit gewandert war, dass der Wind uns frösteln ließ. Erst dann liefen wir zurück über die Wiese, schlüpften in unsere Schuhe und fuhren zurück in die Stadt. Zum Abschied zog sie mich abermals in ihre Arme. Ich schmiegte mich an sie, ganz nah, dann trennten wir uns langsam voneinander, sahen uns an, lächelten. Ich lief wie auf Wolken Richtung Aufzug, doch schon als ich mein Zimmer aufschloss, spürte ich, wie Majas Abwesenheit sie ergrauen ließ. Die Wände waren viel zu nah, und der Teppich kratzte unter meinen Füßen, als ich die Schuhe auszog, was unangenehm war. Mir war kalt, als ich unter die Decke schlüpfte, und der fremde Baumwollstoff legte sich kühl auf mich. Es schien fast greifbar, diese Metapher, dass ich im Schnee ruhte. Ich hatte Lust, die Decke von mir zu strampeln, den Schnee loszuwerden ... doch das war albern, meine eigene Körperwärme machte auch die Decke warm, unter der ich mich sicher fühlte, und die mich warm hielt ... Ich träumte von grünen Blättern, Sonnenschein, Tatjanas Gesicht und Alexander, der weinte, ohne dass ich ihn erreichen konnte. Kapitel 4: ----------- Dieses schmerzhafte, unruhige Gefühl einer nahenden Panikattacke setzte sich bereits in meinen Lungen fest, doch ich sagte mir selbst, dass ich atmen konnte und dass es keinen Grund dafür gab, wieder und wieder. Abermals folgte ich bunten Linien, und die gesamte Krankenhausatmosphäre, der Geruch, der Boden, ließen mich schon fast selbst krank werden. Ich fürchtete mich davor, dass wieder jemand dort war. Dass es Alexander war - oder dass ich auf Tatjana treffen würde. Ich wusste nicht, wie ich das überstehen sollte. Selbst mit Alexander war es leichter als mit ihr. Ob man ihren Bauch schon sah? Alles in mir zog sich zusammen, der Schmerz in meinen Lungen wurde stärker. Ich wollte sie nicht sehen. Auf keinen Fall. Und alles war gut. Ich konnte atmen. Ruhig, Sasha, ruhig. Abermals stand ich vor der Station, aber diesmal hielt ich nicht inne, sondern zwang mich selbst dazu, nicht stehen zu bleiben, einfach weiter zu laufen. Die Gänge entlang. Was, wenn ich zu spät war? Was, wenn ich sie nicht mehr sehen würde, nur, weil ich nicht damit umgehen konnte, was mein Bruder mir erzählt hatte? Ich würde es mein Leben lang bereuen. Es wäre mein größter Fehler gewesen. Der größte Fehler in einer langen Reihe großer Fehler. Die Tür vor mir öffnete sich. Es war Alexander, erneut. War er zu jeden Besuchszeiten hier? Ich ertappte mich dabei, panisch nach Tatjana Ausschau zu halten, doch er schien allein zu sein. "Sie schläft." Das bedeutete, Mutter lebte. Ich war erleichtert, und dennoch fixierte ich Alexander misstrauisch. Seine Körperhaltung und sein Tonfall drückten aus, dass er mich nicht in dieses Zimmer lassen würde, das wurde mir sofort klar. Er schloss die Tür und stellte sich davor, die Arme verschränkt. "Alexander - ich weiß nicht einmal, ob sie noch aufwachen wird. Ich will sie noch einmal sehen. Bitte, lass mich durch." Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich von oben herab an. Alexander war schon immer größer gewesen als ich, sodass ich den Kopf in den Nacken legen musste, wenn auch ich ihn ansehen wollte. "Du hast kein Recht sie jetzt zu wecken. Es ist immer gut, wenn sie schläft, dann hat sie wenigstens mal keine Schmerzen. Wenn du sie so dringend sehen willst hättest du auch gestern bleiben können." Natürlich ging es darum. Das würde er mir nicht verzeihen. Würde ich es tun, wenn er flüchten würde, sobald ich ihm sagte, dass er Onkel werden würde? Doch das Thema war einfach zu sensibel, als dass ich es ansprechen wollte. "Okay. Hör zu, Alexander. Wir haben gesagt dass wir unsere Differenzen nicht in die Sache mit Mutter mit hineinbringen, dass die Situation an sich schon reicht. Also würdest du mich jetzt bitte in dieses Zimmer lassen? Ich möchte sie sehen." "Du denkst du kannst es dir so einfach machen, oder?", zischte er und trat einen Schritt vor. Er wirkte fast schon bedrohlich auf mich, und ich trat etwas zurück. "Hör mir gut zu: ich werde nicht zulassen dass du mit deinem Egoismus auch noch Mutters Lage verschlimmerst! Lass sie schlafen, wenn sie es endlich geschafft hat, einzuschlafen. Du kannst dir nicht einmal vorstellen was sie durchmacht. Und was wir alle deswegen durchmachen. Also sag du mir nicht dass ich das hier aus meinen egoistischen Gründen mache. Ich denke dabei an Mutter. Und du könntest das zur Abwechslung auch mal tun! Du denkst du kannst hierher kommen wann es dir passt, hier herumtrampeln als wärst du der einzige Mensch auf Erden, ohne Rücksicht auf die Menschen, die hier seit Jahren die Stellung halten? Die sich seit Jahren um sie kümmern! Hm, das denkst du doch, oder?! ... was zur Hölle tust du da?!" Ich hatte mich gebückt, und begonnen, meine Schuhe auszuziehen. Ich hätte nicht einmal rational begründen können, weshalb ich das tat, ich machte es einfach. Majas Worte klangen in meinem Kopf, dass ich nur auf meine Umwelt achten musste, und nichts würde geschehen. Ich würde auf keine Biene treten und sie zerquetschen. Ich hatte das Gefühl, es wäre leichter, aufzupassen, wenn ich barfuß war. Leichter, die Menschen in meiner Umgebung nicht zu verletzen. Nicht noch mehr Fehler zu machen. Ich hatte die Fehler satt, so satt. "Das würdest du nicht verstehen." Ich nahm die beiden Schuhe in die linke Hand und richtete mich wieder auf. Alexander starrte auf meine nackten Füße als wäre ich verrückt geworden. Ich wusste, dass er nach Worten suchte, dass er noch immer wütend war und es nicht so einfach akzeptieren würde, und deswegen ergriff ich das Wort, bevor er weitersprechen konnte. "Ich verstehe wirklich, dass du wütend bist. Aber bitte - bitte, hör auf mich zu behandeln, als hätte ich hier nichts zu suchen. Sie ist noch immer meine Mutter. Und du bist noch immer mein Bruder." "So behandelst du mich aber nicht! Und wer garantiert mir, dass du ihr nicht genauso weh tust wie mir?!" "Das ist etwas ganz anderes, Alexander, es-" "Ach, tatsächlich?!", schnitt er mir mit bebender Stimme das Wort ab. "Ist es das? Ich verdiene es also, oder habe etwas getan, um das zu verdienen, oder wie soll das gemeint sein?" "Hör auf mir die Worte im Mund herumzudrehen, das meine ich gar nicht, ich -" "Lass es einfach, Sasha, ich will gar nicht wissen, was ich dir getan habe. Was Tatjana dir getan hat. Ich wüsste es nämlich nicht. Ich weiß wirklich nicht was dich dazu gebracht hat uns aus deinem Leben schneiden zu wollen. Ich weiß nicht, warum du meine Frau hasst, ich weiß nicht, warum du mich hasst, aber du hast sicherlich Gründe, die gut genug sind, um nach Hamburg abzuhauen und jeden Kontakt zu unserer Familie abzubrechen. Und wenn du jetzt zu weinen anfängst, dann brauchst du ganz sicher nicht auf Mitleid zu hoffen, das zieht bei mir nicht." Ich presste mir die Hand auf den Mund und versuchte mit aller Macht die Tränen zurückzuhalten. Er hatte doch keine Ahnung, wovon er sprach. Ich wollte ihm die Ironie aus der Stimme prügeln und ihn zum Schweigen bringen. Aber ich wollte ihn auch nicht noch mehr verletzen. Ich hatte das alles nie gewollt. Aber ich hatte es auch nie abstellen können. Es ging nicht, es war immer da, ein Teil von mir. Und vor sich selbst konnte letzten Endes niemand je flüchten, und nicht, wenn er die ganze Welt bereiste. "Ich hatte meine Gründe!", stieß ich hervor. Alexander sah mich herablassend an. "Ach, tatsächlich? Was waren denn bitte schön deine Gründe? Dass sie dasselbe Abschlussballkleid hatte? Dass ich dir deine beste Freundin angeblich geklaut habe? Fandest du uns einfach kein hübsches Paar? Warst du traurig weil du keinen abgekriegt hast? Sag, was war es, Sasha? Was waren deine tollen Beweggründe?" Ich schluchzte auf. "Sei still!", schrie ich. "Sei still, sei still!" "Ich sag dir was: nein. Ich werde nicht still sein. Ich habe es satt! Mir steht es bis hier, und ich habe keinen Nerv mir deine kindischen Gründe anzuhören deine Familie zu hintergehen! Was soll das denn bitte gewesen sein? Wieso konntest du es nicht ertragen dass deine beste Freundin die Liebe meines Lebens ist?" "Sei still ..." Diesmal flehte ich fast, während ich noch immer bebte. "Weißt du, wie traurig du sie gemacht hast mit deinem Hass? Wieso musstest du sie dafür hassen mich zu lieben?" "Hör auf!" "Wieso musstest du mich dafür hassen sie zu lieben?" "Hör auf!" "Wieso wirst du auch unser Kind hassen? Sag es mir Sasha, sag es mir! Was sind denn deine tollen Beweggründe?!" Ich stand vor ihm und zitterte am ganzen Körper, und ich spürte, wie es hochkam. Wie alles hochkam. Und es war mir egal, was er denken würde, es war mir egal, was er sagen würde. Ich würde mich nicht länger lächerlich machen, verletzen lassen. Er demütigte mich, mitten in diesem Gang, er ließ mich nicht zu meiner Mutter, und dann sagte er all diese Sachen. Ich wollte es ihm um die Ohren hauen. Ich wollte den Schock in seinem Gesicht sehen und dann die Erkenntnis und meinetwegen sollte er angewidert sein von mir. Nichts zählte mehr. Ich schluchzte auf, und dann schrie ich ihn einfach an. "Weil ich sie liebe! Ich habe sie schon geliebt bevor ihr euch kanntet! Ich habe sie immer geliebt, und ich liebe sie noch immer! Also sei endlich still, wenn du keine Ahnung hast, wovon du redest!" Meine Stimme brach, und ich stand einfach vor ihm, und ich weinte mit der rechten Hand über den Augen. Alexander sagte kein Wort. Dann trat eine Schwester zu uns, die uns bat, unseren Streit an einen anderen Ort zu verlegen und die Station zu verlassen. Ich nickte nur und eilte ohne ein weiteres Wort davon. Ich konnte es nicht ertragen noch länger hier zu sein, und ich wollte Alexander nicht in die Augen sehen müssen. Nein, plötzlich wollte ich nichts mehr sehen. Ich konnte es nicht mehr zurücknehmen. Es war vorbei. Jetzt war es raus, jetzt wusste er, dass ich Tatjana niemals gehasst hatte. Ich konnte einfach nicht ertragen, dass die Frau, die ich liebte, sich in meinen Bruder verliebte. Ihn heiratete. Und jetzt ein Kind von ihm erwartete. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Ich hatte den Abstand gebraucht, um meinen Liebeskummer zu vergessen, um sie nicht jeden Tag um mich zu haben, um nicht immer lächeln zu müssen, während ich innerlich weinte. Doch nun musste ich zurückkehren, nun wollte ich zurückkehren, um meine Mutter wiederzusehen. Und jetzt würde ich sie vielleicht nie mehr sehen können, weil ich erst geflohen war, und dann Alexander so lange angeschrien hatte, bis man uns aus der Station warf. Ich spürte wie die Panikattacke mich überrollte, wie meine Lungen sich schmerzhaft zusammenzogen. Ich konnte nicht mehr atmen. Nein, nein, ich konnte atmen. Es ging. Ich zwang mich dazu regelmäßig zu atmen, noch immer wurde ich von Schluchzern geschüttelt. Neben mir war die Damentoilette. Ich stolperte hinein, atmete weiter gleichmäßig, spritzte mir Wasser ins Gesicht. Alles war gut. Nein, nein, nichts war gut! Doch ich erstickte nicht. Ich konnte die Panik bekämpfen. Ich blieb so lange in dem gekachelten Vorraum, bis ich mich beruhigt hatte, und mich bereit fühlte, ins Hotel zu kommen. Oder zu Maja. Ich brauchte sie, ich brauchte sie unbedingt. Ich musste ihr endlich sagen, was los war. Ich wollte, dass sie erfuhr, was ich getan hatte, und warum. Ich wollte, dass sie wusste, dass ich meine Familie hintergangen hatte, und dass meine Gründe dafür egoistisch waren, aber dass sie da waren. Damit Maja nicht dasselbe denken würde wie Alexander, damit ich mir niemals wieder anhören müssen würde, dass ich nur alberne Gründe hatte, dass es um Kleider ging, oder darum "keinen abzukriegen". Natürlich ging es nicht darum! Wie könnte es je um so etwas gehen?! Ich war in Tatjana verliebt gewesen. Seit ich 12 Jahre alt war stellte ich mir vor, wie es wäre, sie zu küssen. Doch damals hatte es mir gereicht, meine Freundin nur bei der Hand nehmen zu können und ihr nahe zu sein. Irgendwann, als ich älter wurde, da war das nicht mehr genug. Mir wurde mehr als klar, was ich wollte, doch ich hatte solche Angst, Tatjana zu verlieren, dass ich nie irgendetwas tat. Es blieb dabei, dass ich still litt, während meine beste Freundin um mich herum war, es reichte mir nicht, dass wir nur normale Freundinnen waren. Dann lernten sich Tatjana und Alexander irgendwann wirklich kennen. Sie waren beide zu Besuch, beim einzigen Mal, dass ich selbst im Krankenhaus gelandet war. Ich war auf dem Weg zu Tatjana gewesen, um ihr zu sagen, was ich fühlte. Ein regnerischer Tag, und weil ich kein Licht am Rad hatte und in der Dämmerung dunkle Sachen trug, hatte mich ein Autofahrer nicht gesehen, der aus einer Einfahrt fuhr. Und auch ich hatte nicht auf ihn geachtet, weil mir das Herz bis zum Hals schlug und ich solche Angst hatte, dass ich nur geradeaus starrte, mit schreckensgeweiteten Augen. Und so nahm er mich mit beim Ausparken, und ich flog vom Rad. Dies war mein erster Fehler, einer, der mein ganzes Leben prägen sollte. Es war nichts Schlimmes. Ein paar Schürfwunden und Prellungen, und dazu ein Schock. Aber natürlich, als alle benachrichtigt wurden, da kamen sie. In Alexanders Nähe wollte ich auf keinen Fall Tatjana mein Herz ausschütten, und so hielt ich mich zurück. Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, entschied ich mich dazu, es noch einmal zu versuchen. Ich glaubte nicht an Schicksal und daran, dass "man mir hatte sagen wollen, es mache keinen Sinn", nur weil ich unachtam gewesen war und mich von einem Autofahrer hatte mitnehmen lassen. Doch Tatjanas einziges Gesprächsthema war Alexander. Sie gestand mir, dass sie ihn toll fand und sich in ihn verschossen hatte. Ich wurde daraufhin wütend und schrie sie an. Statt die Situation je zu klären hielt ich mich von ihr fern und ignorierte sie. Alexander versuchte mit mir darüber zu reden und mich dazu zu bringen, zu sagen, was los sei. Oder wieder mit Tatjana zu reden. Doch ich weigerte mich, ich würde es nicht aushalten, sie zu sehen, und zu wissen, dass es nicht ich war, der sie nahe sein wollte, sondern mein Bruder, ausgerechnet mein Bruder. Und es wurde nur noch schlimmer, als sich herausstellte, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte. Mutter war ganz aus dem Häuschen, alle waren glücklich. Nur ich war diejenige, die sich ungerecht benahm, launisch war, Alexander anschrie und Tatjana ignorierte. Und ich fühlte mich schuldig, aber gleichzeitig raste ich vor Eifersucht, Scham und Liebeskummer. Ich wusste einfach nicht wohin mit all den Emotionen. Ich wusste nicht wohin mit mir. Und so ergriff ich die erstbeste Gelegenheit, aus München wegzukommen. Eine räumliche Trennung schien das einzige, was mich retten konnte. Mich von allem abzutrennen. Von niemandem etwas zu hören. Einfach ein neues Leben beginnen. Mich entlieben. Doch es gab nie eine andere. Es gab immer nur sie, die große Liebe meines Bruders, in die ich mich verliebt hatte. Und nach der ich mich sehnte. Ich wollte ihnen ihr Glück ja gönnen, aber ich konnte nicht. Ich war nur ein egoistisches Etwas. Und so hatte ich die Situation so weit gebracht, dass weder mein Bruder, noch meine ehemals beste Freundin nachvollziehen konnten, weshalb ich sie so ungerecht behandelt hatte, weshalb ich es noch immer tat. Weshalb ich sie hasste. Ich hatte es so weit getrieben, dass meine Mutter nichts mehr von mir gehört hatte, und ich tatsächlich so lange fort gewesen war, bis ich zurückkehren musste, weil es zu spät war. Und sie gehen würde, und ich all die Zeit verloren hatte, die ich mit ihr hätte haben können. Ich sah in den Spiegel über mir und verabscheute die Fratze des Wracks, das mir entgegen sah. Ich wünschte mir, wieder das Mädchen zu sein, das Tatjana nie geliebt hatte. Aber das war so weit weg, ich konnte mich kaum noch erinnern. Tatjana war mehr als ein halbes Leben lang alles gewesen, was ich wollte, und was ich nie erreichen konnte. Ich glaubte nicht, dass es jemals etwas anderes geben konnte. Ich stolperte aus der Damentoilette und wankte die Gänge entlang zum Ausgang. Ich brauchte frische Luft. Ich brauchte Gefühl. Es reichte nicht, diesen ekelhaften, glatten, sterilen Boden zu spüren. Ich musste zurück. Ich musste raus. Ich brauchte Farben. Ich brauchte Maja. Kapitel 5: ----------- Diesmal fiel es mir schwerer die Tränen zu stoppen. Sie flossen und flossen einfach, während ich mich an Maja klammerte. Sie sagte nichts, kein Wort, sie streichelte mir nur gleichmäßig über den Rücken und hielt mich fest. Als wäre es das natürlichste, was es gab, eine fast Fremde in den Armen zu halten, die einem die Kleidung nass heulte. Aber andererseits waren wir uns ja trotzdem nahe, fast schon lächerlich nahe, wenn man bedachte, wie lange wir uns erst kannten. Irgendwie brach jetzt all das aus mir raus, was sich über die Jahre angestaut hatte. Die stummen Tränen, die ich in mich hinein geweint hatte, der insgeheime Neid, das Gefühl, minderwertig zu sein, oder zumindest nicht genug. Und ich konnte diese Flut einfach nicht mehr stoppen. Sie schwappte es aus mir heraus, ohne dass ich das aufhalten konnte. Und als meine Tränen doch langsam versiegten, da fühlte ich mich leere als je zuvor. "Ist ja gut", hauchte Maja. "Geht es dir jetzt besser?" Ich stellte mir selbst diese Frage und lauschte in mich hinein, aber war mir nicht sicher, ob die Leere besser war als der Sturm an Gefühlen von vorher. Mit geschlossenen Augen wartete ich, auf irgendetwas, doch der Moment erschien mir wie eine Wand, eine Wand, an der ich stehen bleiben musste. Weil es nie mehr weitergehen würde. Dabei war das natürlich eine Lüge. Es ging immer weiter, die Welt tat einem nie den Gefallen, anzuhalten. Sie drehte sich weiter und weiter, das Leben lief weiter. Und ehe man sich's versah war man näher an den dreißig als an den zwanzig, noch immer rettungslos verliebt in die eine Frau, die den eigenen Bruder geheiratet hatte, und verrannte sich in einem Beruf, der Leere füllen sollte, aber eigentlich nur bewirkte, dass man sich immer weiter belog. Vielleicht war die Leere, die ich fühlte, die Wahrheit. Nach all der Zeit, in der ich ignoriert hatte, was um mich herum geschah, in der ich vor meiner Vergangenheit geflohen war - vielleicht spürte ich jetzt endlich, was wirklich in mir war, nachdem ich die Siegel gelöst hatte, die all das in mir gestaut gehalten hatten. Vielleicht hatte Maja recht, und vielleicht war die Flut nur das Eis, das zu schmelzen begann, um den Frühling kommen zu lassen. Doch ich fühlte mich innerlich nicht so als könne ich erblühen, als könne ich etwas entwickeln. Ich fühlte mich als wäre ich ein schwaches, verdrehtes, ausgebranntes Etwas, für das es keine Rettung gab. "Möchtest du darüber reden?", fragte Maja sanft. Meine erste Reaktion war, dass ich auf gar keinen Fall über irgendetwas sprechen wollte, was vorgefallen war. Doch meine Kehle machte mir einen Strich durch die Rechnung, als sie ein schnelles "Ja" keuchte, und auch wenn sich Teile von mir sträubten, überhaupt noch weiter zu bohren, und mich aufforderte, alles ruhen zu lassen. Ich vertraute Maja, und wenn ich mich jemals bereit gefühlt hatte, über das zu sprechen, was in mir vorging, dann war es jetzt. Jetzt, als ich fühlte. Majas warmer Körper, ihr Duft, ihr leiser Atem ließen mich fühlen. Hielten mich. Ich fühlte mich sicher bei ihr, und ich hatte das Gefühl, sie war die einzige, die es schaffen könnte, die Leere in mir zu heilen. Ich wollte, dass sie es wusste, dass sie alles wusste, dass sie mich sah. Nicht mein Äußeres, sondern mein Inneres. Ich wollte mich ihr zeigen, und wissen, was sie von mir halten würde. Selbst wenn sie sich von mir abwenden würde, ich wollte sie nicht länger anlügen, ihr etwas verschweigen. "Ich ..." Wo sollte ich nur anfangen? Es war so eine lange Geschichte, ich hatte keine Ahnung, an welchem Punkt ich ansetzen konnte. Doch dann begann ich einfach. "Mein Bruder wird Vater, und meine Reaktion darauf ist es, wegzurennen und ihn zurückzulassen. Meine Mutter liegt im Sterben, und ich renne einfach vor ihrem Krankenzimmer davon. Und heute wollte ich sie sehen, und Alexander hat mich nicht gelassen, und dann hat er all diese Sachen gesagt, und dann ... dann hab ich ihn angeschrieen und es ihm gesagt." "Was hast du ihm gesagt?" Maja bohrte nicht, es klang fast, als würde sie nur nach dem Wetter fragen. Als hätte ich ihr gerade nicht von einem Familiendrama erzählt, sondern davon, welche Temperaturen wir gerade draußen hatten, und sie wollte wissen, welche wir morgen haben würden. Sie fragte einfach nach. "Dass ich sie liebe. Seine Frau. Seit 15 Jahren. Und dass sich das nie geändert hat." Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch Maja war so dicht bei mir, dass sie jedes Wort verstand. Noch immer sagte sie nichts, was über die Situation wertete. Sie nickte einfach, ich spürte es, und streichelte mir weiter sanft über den Rücken. Es hatte eine starke Wirkung auf mich, meine verkrampften Schultern entspannten sich, ich atmete ruhiger. Schloss die Augen. Und irgendwie wurde es so leichter, zu reden. "Es ist die Wahrheit. Nur deswegen bin ich gegangen, nach Hamburg, und ... habe hier alles zurückgelassen. Ich komme eigentlich aus München. Und ich habe meine ganze Familie zurückgelassen und ignoriert, und jetzt wird meine Mutter sterben, und ich war nicht für sie da, und vielleicht werde ich sie niemals wieder sehen, weil ich mich so dumm aufgeführt habe, und noch immer meinen Bruder beneide. Und er hasst mich. Wir standen uns so nahe, und meine Eifersucht hat alles kaputt gemacht. Und jetzt weiß er es. Was denkt er jetzt von mir?" Ich wurde schneller, lauter. Panischer. "Shh." Maja ließ mich los, lehnte sich etwas weg und legte mir einen Finger auf die Lippen. Ich blinzelte, hielt inne, und sah sie einfach nur an. Die Wand verschwand, die es unmöglich machte, über den Moment hinaus zu leben. Stattdessen wurde die Gegenwart wieder zu dem wichtigsten, als ich ihr in die Augen sah, und zu einer Sekunde, in der die Leere verstand. Majas Blick war so intensiv, ich konnte mich nicht davon losreißen. "Ganz ruhig. Eines nach dem anderen. Das Wichtigste ist es jetzt, dass du deine Mutter noch einmal sehen kannst. Du wirst es dein Leben lang bereuen, wenn du nicht noch einmal mit ihr sprechen konntest. Mit deinem Bruder kannst du deine Konflikte noch klären. Es ist niemals zu spät, um zu verzeihen. Und die Wahrheit war ein erster wichtiger Schritt dahin. Gib eure Beziehung zueinander nicht völlig auf, aber schiebe es beiseite, nur für den Moment. Richte deinen Blick auf das Wichtigste, und nur darauf. Eines nach dem anderen, hörst du?" Sie strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr, und ich konnte nichts weiter tun als sie anzusehen. Womit habe ich dich verdient? Der Gedanke lag mir auf den Lippen, doch ich sprach ihn nicht aus, ich konnte nicht mehr sprechen. Ihre schiere Anwesenheit machte mich sprachlos, und die Art, wie sie plötzlich alles in die rechten Bahnen lenkte, wenn es mir schien, als würde es nicht weitergehen. "Ich begleite dich. Wir gehen zusammen, und du wirst mit deiner Mutter sprechen, und ich werde auf dich warten. Und danach sehen wir weiter, okay? Du bist nicht allein, Sasha. Ich bin hier. Ich lasse dich nicht allein." Ich nickte stumm, nahm die Hand, die sie mir entgegen streckte, und folgte ihr aus dem Zimmer. Es war als brächte Maja die Farben mit sich in die graue Krankenhauswelt. Es war der Hauch ihres Duftes, der sie begleitetete, der meine Lungen davon abhielt sich schmerzhaft zusammenzuziehen. Ihre Hand hielt meine fest, während sie zielstrebig durch die Gänge schritt, den Kopf erhoben, und ich neben ihr her trippelte als wüsste ich ohne sie nicht einmal, was ich hier tat. Ich hatte Angst. Ich krallte mich an ihre Hand als wäre sie das einzige, was mich beschützen konnte, als würde irgendetwas Schreckliches passieren, wenn ich nicht in ihrer Nähe blieb. Ich wollte Alexander nicht sehen. Ich wollte nicht wissen, wie meine Mutter reagierte. Ich hatte Angst mit ihr zu reden. Ich hatte Angst nie wieder die Chance zu haben mit ihr zu reden. Ich hatte Angst sie endgültig zu verlieren, die Möglichkeit, sie doch wieder anzurufen, oder ihr eine Karte zu schicken, irgendetwas. Die Möglichkeit zu verlieren, doch noch neue Fotos in die Alben zu kleben, auf denen wir zusammen lachten. Sie war doch noch nicht einmal alt. Nicht so alt. Nicht alt genug, um im Sterben zu liegen. Wir betraten die Station, und Maja zog mich bis vor die Tür, klopfte kurz und öffnete sie bereits, noch bevor die Panik in mir sich verschlimmern konnte. Ich wollte nicht hier sein. Ich konnte nicht hier sein. Ich konnte das nicht. Andreas war im Zimmer, er saß vor einem Bett, unter dessen weißer Decke zwei Füße hervorguckten, die in selbstgestrickten Socken steckten. Dieses Detail schnürte mir die Kehle zu, viel mehr noch, als Alexanders gesamte Anwesenheit es überhaupt tun konnte. "Ich bin gleich zurück, Mutter." Er richtete sich rasch auf, kam mit großen Schritten zur Tür und schloss sie hinter sich, noch bevor ich einen Schritt ins Zimmer tun konnte. Abermals versperrte er sie, und ich fragte mich, wann es endlich genug wäre. Meine Anwesenheit hatte er meiner Mutter gegenüber mit keinem Wort erwähnt, wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, dass ich hier war. Maja drückte meine Hand kurz und straffte die Schultern. Alexanders Blick blieb an unseren Händen hängen, er wirkte irritiert, dann sah er mich wieder an, und die altbekannte Wut zeichnete sich in sein Gesicht. "Was soll das?" Ich sah zu Maja, deren klare Stimme Alexander einfach das Wort abgeschnitten hatte, bevor er überhaupt zu sprechen anfangen konnte. Er blickte verdutzt. "Machen Sie bitte Platz, Sasha möchte ihre Mutter sehen. So weit ich weiß wollte sie das gestern schon tun, und heute Vormittag." Alexander war viel größer als sie, aber er schien mir ihr gegenüber merkwürdig ... klein, fast schon. Es war mehr ein Gefühl als etwas, was ich sehen konnte, doch es war da. Irgendwie war es da. "Mutter hat geschlafen, und ich verlange Respekt ihren Bedürfnissen gegenüber. Sasha muss irgendwann lernen, auch an ihr Umfeld zu denken statt nur an sich selbst. Sie haben offensichtlich weder eine Ahnung von meiner Familiengeschichte noch von der ... Biographie meiner Schwester. Darum würde ich Sie bitten, sich rauszuhalten. Dies ist eine Familienangelegenheit." Sein Tonfall war kalt, und es schwang eine gewisse Arroganz mit. Maja lächelte kühl. "Wenn die Bedürfnisse Ihrer Mutter Ihnen derart wichtig sind, fände ich es angebracht, sie selbst zu fragen statt ihr diese Entscheidung abzunehmen, oder sehen Sie das anders?" Sie hatte ihn schachmatt gesetzt, mit seinen eigenen Argumenten geschlagen. Ich hätte fast gelächelt, wenn ich nicht so angespannt gewesen wäre. Es war faszinierend, wie einfach sie ihn ausgetrickst hatte. Alexander blinzelte, dann räusperte er sich. "Das ... das ..." Maja trat einen Schritt vor. "Jetzt machen Sie schon Platz", schnappte sie, nun weit weniger ruhig, und tatsächlich ging mein Bruder zur Seite ohne noch einen Ton von sich zu geben. Maja öffnete die Tür und schob mich in Richtung des Zimmers. "Geh rein. Sprich mit ihr. Denk dran, eines nach dem anderen." Mir schwindelte nahezu, ich fühlte mich nicht als würde ich über festen Boden laufen. Eher über ein schwankendes Schiff, mit glitschigen Planken, von denen ich fast abrutschte, nur um in die tosenden Wellen zu stürzen. Und ich wusste, ich würde von ihnen verschlungen werden, wenn ich fiel. Ich würde tiefer in das Meer hinab sinken und meine Lungen würden wieder brennen, nach Sauerstoff ächzen. Sie taten es jetzt schon. Als hätte mich das Meer schon verschlungen. Hinter mir hörte ich noch Majas Stimme, die sich durch all das brannte wie ein heißer Sonnenstrahl, selbst als sie nicht mit mir sprach. "Und wir beide reden jetzt einmal über Ihre Schwester und deren Biographie" Ich schnappte nach Luft. Da war kein Meer. Alles war gut, es war doch nur ... ich war doch nur hier, um Abschied zu nehmen von einer Frau, die ich im Stich gelassen hatte, nachdem sie alles für mich gegeben hatte ... Die Tür hinter mir schloss sich, und über den Schwindel hinweg registrierte ich wieder die Füße in den Wollsocken, alten, abgetragenen Wollsocken. Ich dachte nicht mehr an das Meer, nicht mehr an einne Ozean, in dem ich versank, der mich erstickte. Ich dachte an Flammen, die sich an meiner Kindheit satt fraßen, die sich davon nährten, dass sie sie zu Asche verbrennen würden. Ohne meine Mutter gab es nichts mehr zu retten. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Wasser und Rauch in meinen Lungen, um die Luft zu verdrängen, die mich am Leben hielt. Ich wollte eigentlich rennen, doch ich traute mich nicht, machte winzige Schritte. Mein Herz hämmerte und ich hatte das Gefühl jeden Moment einfach umzufallen, und gleichzeitig wollte ich doch nur endlich, endlich, endlich meine Mutter wiedersehen. "Mama ... ?", fragte jemand. Nicht ich. Ein kleines, verängstigtes Mädchen erhob seine Stimme aus mir, und ich hatte das Gefühl, diese Kleine war ehrlicher als ich es die letzten Jahre gewesen war. Und sah klar zwischen all dem Rauch. Streckte die Arme nach der Mutter aus, denn sie war die Antwort. Bei ihr waren wir beide sicher. Das kleine Mädchen und ich ... "Mama!" Meine Schritte wurden lange, schnelle Schritte, taumelnd blieb ich stehen, stützte mich rechts und links neben dem Gesicht meiner Mutter ab, um nicht einfach auf sie zu kippen. Sie sah so abgezehrt aus, so anders. So eingefallen, so ... alt. Als wäre sie wirklich eine alte Frau. Aber das konnte doch nicht sein. Wie hatte die Zeit so schnell vergehen können? Wie hatte ich so wachsen können? Wieso waren meine Beine so lang? Mein Schluchzen so ganz anders als damals, und auch die Gründe dafür? Einst weinte ich doch einfach nur, weil ich mir ein Knie aufgeschlagen hatte ... Wieso waren die Augen meiner Mutter dieselben geblieben, deren Wärme sich in mich brannte, mich nahezu brandmarkte als die Tochter, die sie niemals von sich stoßen würde? Wieso nahm die sanfte Überraschung, die Freude in ihren Augen, das faltige Lächeln um ihre Mundwinkel den Rauch und das Wasser aus meinen Lungen? Wieso presste es die Tränen in meine Augen? Eine Träne fiel auf ihr Gesicht, und es tat mir Leid, aber ich konnte nicht anders. "Mama, Mama ...", weinte ich, keuchte, versuchte die Worte hervorzudrängen. "Es tut mir so Leid, es tut mir alles so unendlich Leid, Mama ..." Ich bettete meinen Kopf auf ihrer Brust, sodass ich ihr Herz unter meinen Ohren schlagen hören konnte, ihr Herz, das niemals damit aufhören durfte. "Sasha, meine kleine Tänzerin ..." Ihre Stimme war leise, kaum vorhanden, als hätte sie nicht mehr wirklich genug Luft übrig, um sie für diese Worte aufzuwenden. Diese Tatsache grub sich in mein Herz wie dunkle Klauen, doch es strebte dennoch weiter meiner Mutter entgegen. Sie roch so sehr nach Krankenhaus, aber unter all den fremden Gerüchen haftete noch immer diese Note an ihr, dieser Hauch von Zuhause und Wärme, dieser Beiklang von Sicherheit, Schutz, von bedingungsloser Liebe. Wie hatte ich sie jemals verlassen können? Wie hatte ich so dumm sein können? Dumm war kein Ausdruck. Egoistisch, zerstörerisch, erbärmlich, emotional verkrüppelt, ein Nichts, ein verdrehtes Etwas, eine verlorene Tochter, die sich selbst weggeworfen hatte, und damit alle verletzt, ich - "Ich bin so froh, dass du hier bist ..." Ich konnte einfach nicht aufhören mich an sie zu schmiegen und zu schluchzen. Alexanders Stuhl stand noch neben dem Bett, auf den ich mich niederließ und einfach verharrte, die Hand meiner Mutter suchte, sie fand, verkabelt, wie sie war, und die Finger darum schloss. Als könne ich sie so für immer festhalten ... als könne ich sie so ... retten. Oder mich retten? "Es ist gut, Kleines. Es ist schon gut ..." Nichts war gut. Doch ich sprach hier nicht mit irgendjemandem. Es war meine Mutter, die zwar kaum noch einen lauten Ton hervorbrachte, aber deren Art die Worte auszusprechen noch immer dieselbe Autorität hatte, und deren Entscheidungen schon immer weise gewesen waren, und respektiert wurden. Sie sagte es, und ... das Kind vertraute ihr. Es nickte artig und wurde ruhiger. "Ich bin nur froh dich noch einmal zu sehen ..." Mama hustete ein schreckliches, langes Husten, das meinen Kopf heben ließ. Es schüttelte ihren ganzen Körper, Mama kniff die Augen zusammen, und ich fürchtete fast, sie jetzt zu verlieren, klammerte mich weiter an ihre Hand, wollte schreien, als das Husten langsam verebbte. Sie lag da, sah schrecklich angestrengt und erschöpft aus. Als müsse sie sich erholen. Als hätte dieser Husten alles in ihr erschüttert. Sie wusste, dass sie sterben würde. Wir beide wussten es. Es trommelte tief in mir, ein unruhiger Rhythmus, asynchron zu dem meines eigenen Herzens. Warum konnte ich dennoch nur diese Worte sagen? "Geh nicht, bitte, bleib hier, du kannst nicht gehen ..." Ihre Augen waren halb geschlossen, ihre Stirn glänzte vor Schweiß, und doch waren ihre Hände eiskalt. Das Lächeln meiner Mutter war eine Spur zu müde, eine Spur zu melancholisch, um mich wirklich aufzumuntern. Es antwortete mir, sagte mir, dass das Leben so nicht spielte, dass man es akzeptieren musste ... dass sie es akzeptierte. Während ihre Stimme etwas anderes krächzte. "Alexander ... und du ... ihr seid ..." Sie hustete erneut, und ich hatte schreckliche Angst, dass sie nicht mehr diesen Satz beenden würde können. Aber irgendwie schaffte sie es doch. "Alles. Alles Gute in meinem Leben. Das Beste ..." Mutters Augen fielen zu, und ich hatte das Gefühl, dass ich sie nicht weiter hier festhalten würde können. Dass ich sie gehen lassen musste, auch wenn ich keine Ahnung hatte, ob sie je zurückkehren würde. "Passt aufeinander auf ..." Ihre Stimme war so leise, ich verstand ihre Worte nur, als ich mich ganz, ganz nah zu ihr beugte. Panik wallte in mir auf, stärker denn je. Sie blieb stumm. War sie etwa - war sie gegangen, jetzt, einfach so?! Ich legte mein Ohr wieder über ihr Herz, atmete ihren Geruch ein unter den anderen. Ein träger Rhythmus, zaghaftes Klopfen. Sie war noch hier. Wieso fühlte ich mich dann noch immer so? Wieso wurde die Welt nicht heller dadurch, dass ihr Herz noch schlug? Weil du Zeit schindest ... weil sie gehen wird ... irgendwann ... bald. Ich weinte nicht mehr. Starrte sie nur an, fühlte mich leer und so verletzlich zugleich, so verdammt verwundbar. Und verwundet. Mein schlechtes Gewissen kippte sich über alles wie Säure, fraß alles auf, zerstörte alles. Dieses komische, verdrehte Etwas in mir löste sich auf ... wurde zu einem ... Nichts. Tief in mir drin. Ich spürte den Schnee schon fast, seine eiskalte Decke. Das Nichts unter dem Eis. Und irgendwo in mir schlief das Kind friedlich, und erfror das Ich, das Jetzt ... Kapitel 6: ----------- Ich konnte nicht mehr zurücksehen. Es hatte lange genug gedauert, und ich hatte mich gefragt, ob ich es je hinter mich bringen würde, dieses Zimmer zu verlassen. Aber plötzlich hatte ich einfach nicht mehr dasitzen können. Hatte das Gefühl nicht ertragen, dass ihr Herz jeden Moment mit dem Schlagen aufhören würde können. Und so stieß ich irgendwann fast schon verzweifelt die Tür auf, um zurück zu Maja zu stolpern. Ob sie noch hier war? Ich erstarrte, die Tür noch halb offen, und blinzelte. Einmal. Zweimal. Alexander. Er wirkte als hätte er sich nicht mehr von der Stelle gerührt. Er wirkte ... anders aus als zuvor. Erschüttert. Und müde, schrecklich müde. Traurig ... ich hätte ihn so gerne getröstet. Doch ich machte immer alles nur noch schlimmer. Ich stand unschlüssig vor ihm, hatte das Gefühl, etwas stand zwischen uns, das tatsächlich ausgesprochen werden wollte, doch hatte Skrupel, es selbst zu tun. Ich schloss die Tür hinter mir, wusste nicht so recht, was ich mit meinen Händen tun sollte. Auch Alexander sagte kein Wort, und ich traute mich kaum, ihn anzusehen. Ich hatte das Gefühl, dass es an der Zeit war, zu gehen. Mit einem lautlosen Seufzen machte ich einen Schritt nach vorne, an ihm vorbei, ohne auch nur ein Wort zu sagen. "Nicht." Seine Hand hatte sich um meine Hand geschlossen. Erinnerungen keimten in mir auf, wie er mich über die Steine führte, weil ich solche Angst hatte davor, in das Wasser zu stürzen. Meine Kehle schnürte sich zu. Sein Händedruck war so unsicher wie ich mich fühlte. "Lass uns ... reden. Irgendwo." Er ließ meine Hand los, und ich nickte stumm, ohne ihn anzusehen. Mein Bruder würde mir nie mehr versprechen, dass er mich halten würde, sollte ich fallen. Weshalb sollte er, wo ich ihn doch fallen gelassen hatte? Es kam mir etwas merkwürdig vor, in dieser kleinen Wartenische zu sitzen, um zu reden über ... über, das was vorgefallen war und jetzt noch passierte, wo wir dort eigentlich keine Garantie auf Privatsphäre hatten. Aber wohin sollten wir schon gehen? Das hier war mehr eine spontane Entscheidung als die Verabredung zu einem Treffen - und ich bezweifelte, dass wir wieder die Chance hätten zu reden, wenn wir diesem Impuls nicht nachgaben, und das jetzt. "Wer ... wer ist diese ... Person, die mit dir hier ist?" Es war das erste, was Alexander über die Lippen kam. Und irgendetwas daran, wie er von Maja sprach, ließ in mir die Frage aufkeimen, was die beiden geredet hatten. Lag es an ihr, dass Alexander und ich jetzt hier saßen? Ich seufzte, fragte mich ja selbst, wer sie war. Ich wusste kaum etwas über sie, und dann wiederum Dinge, die man nicht jedem einfach so erzählte. Ich dachte an ihre Worte zurück ... dass jeder sich Ventile suchte. Und welches sie gewählt hatte. Lag es daran, dass wir Geheimnisse teilten, dass ich mich ihr so ... nahe fühlte? Für mich war sie weit mehr als eine Fremde. Der einzige Grund, weshalb ich noch nicht den Verstand verloren hatte. Und meine einzige Hoffnung, dass es irgendwie weiter gehen würde ... dass meine Fehler aufhören könnten ... dass ich erblühen könnte. Maja war - mehr ... mehr als jemand, den ich erst seit kurzem kannte. Aber wie sollte ich das Alexander begreiflich machen? "Ich, ich glaube ... sie ist meine Freundin, auch wenn wir uns nicht sehr lange kennen." Ich sah sie als Freundin. Alexander zog die Augenbrauen hoch, sah mich forschend an. "Aber nicht deine Freundin, oder?" Ich blinzelte. "Nein! Maja ist ... einfach für mich da, sie hält mich ... wann immer ich das Gefühl habe, mich selbst zu verlieren, dann -" Meine Stimme erstarb. Ich atmete ein und wieder aus, ehe ich mit leiser Stimme fortfuhr. "Ich ... ich weiß nicht einmal, ob ich mich selbst noch verlieren kann. Ich glaub, ich hab mich schon verloren ..." Es war einfach unmöglich meinem Bruder in die Augen zu sehen. Ich fühlte mich so unheimlich ... verletzlich. Stattdessen sah ich hinab auf meine Finger, die sich nervös ineinander verhakten. Eine kurze Weile war es still zwischen uns, dann sprach auch Alexander, und seine Stimme war genauso leise wie meine noch zuvor. "Als du mit dieser Frau da aufgekreuzt bist ... ich kam mir ziemlich verarscht vor", meinte er mit rauer Stimme. Jetzt hob ich doch den Kopf und sah ihn überrascht an. "Aber wieso?", fragte ich ungläubig. "Wieso?" Er wandte sich mir endgültig zu, und unsere Blicke begegneten sich. "Du ... du sagst mir all das, mit ... Tatjana ... und dann taucht ihr hier auf, und haltet Händchen? Hast du mir überhaupt die Wahrheit gesagt, Sasha?" Ich hätte Vorwürfe von ihm erwartet, Wut. Aber er klang fast schon resigniert. Enttäuscht. Und so, als wäre er einfach nur müde von all der Wut, all dem Frust, all der Bitterkeit ... und all den Fragen. Ich atmete tief durch. Ich hätte es abstreiten können, dass ich in Tatjana verliebt war. Das hier war die perfekte Chance. Aber Maja hatte Recht. Die Wahrheit war der erste Schritt, und ich hätte schon längst den Mut aufbringen sollen, nein, aufbringen müssen, ihm all das zu sagen. Vielleicht wäre es dann niemals so weit gekommen zwischen uns ... Und trotz allem fiel es mir noch schwer. Meine Worte kamen noch immer leise, stockend. "Ich ... ich habe dir die Wahrheit gesagt, Alexander. Das mit Maja und mir ... das ist nichts in diese Richtung." Er zog die Augenbrauen hoch, und irgendwie hatte ich das dumpfe Gefühl, dass er etwas wusste, dessen ich mir nicht bewusst war. Es war ein merkwürdiges Gefühl, das mich etwas aus dem Konzept brachte, und das mir eine leichte Röte in die Wangen trieb. Was meinte er mit diesem Blick? Ich blinzelte nervös und knete meine Finger, versuchte, den Faden wieder zu finden. "Und das mit Tatjana ... ist wahr. Und es ... es tut mir Leid, wie ich mich benommen habe. Ich weiß, dass es falsch war. Ich weiß, dass es zu spät kommt. Es ist nur ... es war ..." Ich atmete zittrig ein und wieder aus. "Wirklich schwierig", hauchte ich leise, und es kostete mich Überwindung, Alexander weiterhin in die Augen zu sehen. Ich suchte nach etwas ... Vergebung? Vielleicht zumindest Verständnis? Doch seine Augen wirkten fast schon ... leer. Er atmete zitternd ein und seufzend wieder aus, stützte die Ellbogen auf seine Knie und vergrub die Hände im Haar. Ich konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, er ließ den Kopf hängen und schirmte sich selbst nahezu vor mir ab. "Aber ... wieso hast du nie etwas gesagt? Wieso war all das notwendig?", fragte er, und der Schmerz in seiner Stimme schnürte mir die Kehle zu. Ich hob die Hand, verharrte regungslos, traute mich nicht, sie ihm auf die Schulter zu legen. "Dann hätte ich wenigstens gewusst, warum du all das tust! Weißt du, wie sich das anfühlt? Der Hass eines Menschen, den man so sehr liebt?" Seine Stimme brach, und ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten. "Ich ... ich hatte solche Angst, dass du mich hassen würdest ...", würgte ich hervor, bevor ich mir die Hände vor den Mund schlug und mit aller Macht das laute Schluchzen zurückhielt. Mein Körper bebte, aber ich behielt die auffälligen Geräusche für mich, mir entfleuchte nur eine Art kleines Hicksen. Ich kniff die Augen zusammen, versuchte, die Tränen irgendwie zu stoppen, die mir aus den Augen rannen, aber es wollte mir nicht gelingen. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Haar, vorsichtig und sanft, und sah erschrocken auf. "Dummes, kleines Schwesterchen ...", meinte Alexander heiser, und der Anblick meines eigenen Bruders, der weinte, fühlte sich noch schlimmer an als seine brechende Stimme. Mein Körper machte sich selbstständig - ich konnte gar nicht anders, realisierte es nicht einmal wirklich, was ich da tat. Erst, als ich meine Arme bereits um Alexanders Hals geschlungen hatte und das Gesicht an seine Schulter gelehnt. Und als seine Hände sich nach einigen Sekunden beruhigend auf meinen Rücken legten. Ich rang nach Atem, nachdem ich immer noch das Schluchzen zurückdrängte, und presste meine Zähne zusammen, hielt mich an meinem großen Bruder fest, den ich so sehr verletzt hatte ... nur weil ich so feige gewesen war. "Als hätte ich dich jemals hassen können -" "Es tut mir Leid!" "Du bist meine Schwester, verdammt -" "Es tut mir so wahnsinnig Leid, Alexander ..." "Du hättest doch nur etwas sagen brauchen ... wir sind doch eine Familie, Sasha ..." "Ich hatte solche Angst ..." "Wieso hast du mir nicht genug vertraut?" "Ich ... ich weiß nicht, und ... es tut mir alles so Leid, ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen ..." Wir hatten uns aneinander geklammert und mit leisen, gehetzten Stimmen geredet, doch nun schob Alexander mich sanft von sich und sah mir fest in die Augen. Ich versuchte so gut es eben ging die Tränen fort zu blinzeln, um ihn wirklich sehen zu können. "Nein, das ist es eben ... du kannst es nicht rückgängig machen", meinte er leise, und ich atmete zitternd ein. Ich wusste, dass er Recht hatte. Natürlich hatte er Recht. Meine Fehler der Vergangenheit waren geschehen. Ich konnte nicht einfach zurückreisen und sie korrigieren. Es war zu spät dafür. Aber vor mir lag noch immer ein ganzes Leben, in dem es noch nicht zu spät war, um diese Fehler wieder gut zu machen, und um neue Fehler so gut es ging zu vermeiden. Oder sie zumindest nicht so viele Jahre lang beizubehalten. "Aber ich kann es in Zukunft besser machen", sagte ich aufrichtig, und ich hatte das Gefühl, dass so etwas wie ein schwaches Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen war. Er nickte stumm und ich griff nach seiner Hand, die noch immer auf meiner Schulter ruhte. "Versprochen, Bruderherz", flüsterte ich mit erstickter Stimme, und noch immer hatte ich einen Kloß im Hals von all dem, was heute vor sich gegangen war, von all den Emotionen. Von den merkwürdigen Wandeln. Wer hätte gedacht, dass Alexander und ich solch ein Gespräch führen würden? Wer hätte erwartet, dass noch heute in mir so etwas wie Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufkeimen würde? Er schluckte hart und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, dann drückte er meine Hand fest. "Versprochen ist versprochen?", wisperte er. "Und wird auch nicht gebrochen", flüsterte ich zurück, und schloss mit ihm den Schwur ab, den wir unsere ganze Kindheit über geteilt hatten. Wir lächelten uns schwach an, dann entwich Alexander so etwas wie ein trockenes Lachen, das mehr klang, als hätte er einen bösartigen Husten. "Schau uns an ... sitzen hier und weinen uns die Augen aus dem Kopf." Er war verlegen, wischte sich abermals über die Augen und wich meinem Blick aus, rutschte wieder etwas von mir weg und auf seinen Stuhl zurück, aber ohne meine Hand loszulassen. Ich musste lächeln, als ich an den Moment im Flur zurückdachte, wo ich bei mir gedacht hatte, dass er nie wieder meine Hand halten würde, damit ich nicht fiel. Aber hier saß ich, und er tat es doch, hielt mich, damit ich nicht fallen konnte. Zumindest fühlte ich mich so. Irgendwie, als wäre mein großer Bruder wieder an meiner Seite ... es fühlte sich gut an. Wie ein kleiner, warmer Funke in meinem Herzen. "Ich hab dich schrecklich vermisst, Sasha ...", murmelte er leise. "Aber ich weiß nicht, wie schnell ich dir das verzeihen kann." Ich nickte stumm. Er hatte alles Recht dazu, nachtragend zu sein. Aber ... würde er mir verzeihen können? Irgendwann? Ich sah ihn an, öffnete den Mund, um genau diese Frage zu stellen, aber er kam mir zuvor. "Ich werde noch etwas brauchen. Aber ... wir sind doch eine Familie. Und der Gedanke, dich zu verlieren ... schon wieder ... wenn wir schon ..." Er machte eine kurze Pause, und ich war es, die seinen Satz zu Ende brachte. "Wenn wir schon Mama verlieren ..." Wir verstärkten den Griff unserer Hände gleichzeitig, wie um uns gegenseitig festzuhalten. Ich wandte fast schon schüchtern wieder den Kopf, um ihn anzusehen. Alexander starrte regungslos an die Wand vor sich, dann fiel ihm mein Blick auf. Er blinzelte und drehte dann den Kopf zu mir. Ich rang mir ein schwaches Lächeln ab. "Ich verspreche dir, mich wirst du nie wieder verlieren." Alexander schluckte, und ich spürte, wie er seinen Griff löste. Ich ließ ihn gewähren, auch wenn ich die kleine Berührung gerne noch viel länger anhalten hätte lassen. Er nickte vor sich hin, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schüttelte dann den Kopf. "Sasha ... ich, ich werde wirklich noch etwas Zeit brauchen, okay? Und ich glaube, ich wäre jetzt gerne allein ..." Ich nickte, auch wenn es irgendwie doch schmerzte. Ich musste seine Entscheidung respektieren, und war ohnehin schon froh genug, dass wir dermaßen viele Schritte aufeinander zu gemacht hatten. "Natürlich. Ich ... ich denke, ich gehe dann ..." "Diese ... Maja? Sie wartet auf dich im Eingangsbereich", sagte Alexander, bevor ich mir darum Gedanken machen konnte. Ich spürte, dass sich ein Lächeln auf mein Gesicht stahl. Ich konnte gar nichts dagegen tun. "Okay, dann ... sehen wir uns morgen?", fragte ich vorsichtig nach. "Ich ... ich würde gerne noch einmal vorbeikommen. Möglichst früh ..." Alexander nickte nur, ohne mich anzusehen. "Ich werde da sein ... ich bin praktisch immer hier." "Bis morgen, Alexander. Pass auf dich auf, ja? Es war schön mit dir zu reden ..." "J-ja ...", meinte er leicht zerstreut. "Fand ich auch ... Bis morgen ..." Ich sah ihn noch einmal an, dann kehrte ich ihm den Rücken zu und machte mich langsam auf den Weg zurück. Erst jetzt spürte ich richtig, wie mich der Tag angestrengt hatte. Ich wollte nur noch ins Bett, aber ... da war noch etwas, was mich innehalten ließ. Ich wirbelte noch einmal herum, und sah zu Alexander, der sein Gesicht reglos in den Händen vergraben hatte. "Alexander!" Er sah mich fragend an. "Alles Gute! ... dass, dass du ... Vater wirst. Also ... ich bin mir sicher, du wirst ein toller Vater." Mein Gestammel war irgendwie merkwürdig, und dieser Eindruck wurde noch davon bestärkt, dass ich es halblaut durch einen ansonsten stillen Gang rief. Aber Alexander lächelte mich schwach an. Er sagte kein Wort, aber ich sah es ihm an. Irgendwie sah ich ihm an, dass ich genau das Richtige gesagt hatte, um eine kleine Last von seinen Schultern zu nehmen. Ich lächelte auch noch einmal, ehe ich tatsächlich endlich ging und mit einem leisen Lächeln die Gänge des Krankenhauses hinter mir ließ. Und irgendwie ... hatte ich mir gerade auch selbst eine Last von den Schultern genommen. Es fühlte sich so viel leichter an, mit gehobenem Kopf zu laufen. Kapitel 7: ----------- Draußen zogen Lichter vorbei und das leichte Ruckeln und Rauschen der Straßenbahn schläferte mich nur noch weiter ein. Ich hatte mich kraftlos an Maja gelehnt, und die Augen nur noch halb geöffnet, während sie nach draußen auf die nächtliche Stadt sah. "Ich hab meinen Bruder wieder ...", murmelte ich erneut und lächelte. Auch auf Majas Gesicht war ein Lächeln, als sie mich anschaute. Ich konnte es sehen, als ich den Kopf doch wandte, die Wange noch immer an ihre Schulter gelehnt. "Er wäre ein Idiot, wenn er nicht mit dir geredet hätte ..." Eine ganze Weile ließ ich mich einfach weiter von den angenehm monotonen Geräuschen einlulleln, ehe sich eine Frage in meinen Kopf stahl, die da wohl schon die ganze Zeit gewartet hatte. "Du hast mit ihm geredet, oder ... ? Deswegen der Wandel ..." "Es ist nicht so als hätte ich recht viel mehr gemacht als ihn endlich auf den richtigen Pfad zu bringen. Die Entscheidung hat er selbst gefällt - ich hab nur versucht ihm die Augen zu öffnen." Majas angenehme Stimme machte es mir fast noch schwerer wach zu bleiben. Ich lehnte mich wieder kraftlos an sie und schloss die Augen. "Danke ...", murmelte ich verschlafen. "Danke für alles ... keine Ahnung ... was ich ohne dich wäre ... wo ich wäre ... danke, Maja ..." Sie legte einen Arm um mich und hauchte mir einen Kuss auf die Schläfe. "Ich mache es gerne, Sasha ... ich mache es wirklich gerne für dich ..." Mir war fast nach Lachen zumute, als ich die Gänge entlang lief. Kein fröhliches oder glückliches Lachen - aber die ganze Situation erschien mir absurd genug, um ein heiseres Lachen zu unterdrücken. Gestern noch hatte mir der Gedanke Bauchschmerzen bereitet im Krankenhaus auf Alexander zu treffen, und jetzt war es das einzige Gute, was mir geschehen würde. Jetzt freute ich mich darauf mit einer Mischung aus flatterhafter Angst und fast schon naiver Euphorie. Es war als hätte ich meinen Bruder zurück bekommen. Da war all die Zeit ein Loch gewesen, das sich jetzt wieder füllen würde - und dazu noch das Treffen mit Maja am Nachmittag ließ den Tag eigentlich sehr, sehr sonnig erscheinen. Es war nicht so als hätte sich irgendetwas an der Krankenhausatmosphäre geändert - eigentlich war alles noch genau so wie bei meiner Ankunft, und doch war alles anders. Es war in diesem Moment, dass mir zum ersten Mal eine Veränderung in mir selbst bewusst wurde. Alles war wie anfangs, und dennoch anders, weil ich anders damit umging. Es gab mir ein merkwürdig positives, optimistisches Gefühl. Ich konnte spüren, wie sich doch so etwas wie ein leichtes Lächeln auf meine Lippen stahl. "Sasha! Sasha, bist du das?" Überrascht drehte ich mich um, um zu sehen, wer mir nachgerufen hatte, und starrte blank die Person an, die vor mir im Gang stand. "T-tatjana ...", formten meine Lippen, ohne dass meine Stimme wirklich funktionierte. Es war nur ein raues Flüstern, das in dem Raum zwischen der Frau und mir verhallte ohne gehört zu werden. Unsere Blicke trafen sich, und irgendwie schien ich alles zu vergessen. Wie man lief, sprach, atmete. Hätte mein Körper sich nicht an letzteres erinnert, ich hätte ein verdammtes Problem gehabt. Tatjana. Sie war hier. Sie schaute mich an! Ich schloss die Augen, ihr Bild noch klar vor mir. Sie hatte sich verändert, und doch erkannte ich in ihr noch das Mädchen von früher. Mir schoss viel zu viel durch den Kopf, um zu verstehen, was ich fühlte, als ich ihr jetzt plötzlich gegenüber stand. Aber eines war klar, ein Gedanke hämmerte in meinem Kopf lauter als all die anderen. Weiß sie es? Weiß sie Bescheid? Weiß sie, dass ich sie liebe? Hat er es ihr gesagt?! Ich wollte mich umdrehen und wegrennen, aber so hatte ich es doch immer gemacht. Und wenn ich meinen Bruder wieder in meinem Leben wollte, dann gehörte seine Frau auch dazu. Ich konnte nicht einfach verschwinden. Ich musste hier jetzt durch. Ich atmete tief durch, und öffnete die Augen, hörte kaum noch die hastigen Schritte vor mir, als ich mich plötzlich in einer hysterischen Umarmung wiederfand. Ich schnappte nach Luft, blinzelte, versuchte zwischen Armen und Tatjanas wilder Haarmähne zu verstehen, was hier überhaupt los war. "Oh, Maja! Maja, Maja, Maja ..." Weinte Tatjana? Ihre Stimme klang so, und sie schniefte. Vielleicht hätte ich sie trösten sollen, oder zurück umarmen. Irgendetwas tun. Aber mein Gehirn stolperte noch immer bei der Interpretation dieser ganzen Szene, und ich blieb einfach nur stocksteif stehen. Meine Arme fühlten sich fast ein bisschen nutzlos an, wie sie da einfach an mir herunter baumelten. "Also hasst du mich nicht, oder? Du hasst mich nicht?", fragte Tatjana, und wenn ich mir vorher noch nicht sicher gewesen war, dass sie weinte, dann gab es jetzt keinen Zweifel mehr. Sie war völlig aufgelöst. "N-nein ...", stotterte ich ungläubig, und es wunderte mich, dass sie es über ihr Schluchzen überhaupt hören konnte. Tatjana verstärkte ihren Klammergriff um mich, so sehr, dass ich das Gefühl hatte, sie würde mich demnächst zerquetschen. Zum Glück ließ sie einige Momente später wieder etwas lockerer. Was war bloß in sie gefahren? "Oh, Gott sei Dank!", schluchzte sie nur, dann ließ sie mich los und wischte sich verlegen lächelnd die Tränen ab, die ihr unaufhaltsam über das Gesicht strömten. Ich reichte ihr nicht einmal ein Taschentuch, sondern starrte sie weiter an. Was geschah hier? Warum stand sie dort, warum weinte sie, warum ... warum ... ? "Ich dachte immer du hasst mich -", erklärte sie mit zitternder Stimme. Sie wischte sich mit dem Handrücken erneut über die Augen, aber es brachte nichts. Ihre Tränen waren nicht zu stoppen. "Aber, aber wenn du mich nicht hasst ... ich bin einach so ... glücklich ..." Sie lächelte ein so glückliches Lächeln, dass ich mich fragte, ob sie mich nicht verwechselte. "Bist du ... bist du denn nicht ... wütend?", fragte ich ungläubig. "Wieso sollte ich wütend sein?" Tatjana kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und versuchte dabei weiterhin mich anzusehen, und war dabei so zerstreut, dass letzten Endes doch ich es war, die eher welche gefunden hatte und ihr reichte. "Danke", murmelte sie und schnäuzte sich, während ich nervös an einer meiner Haarsträhnen zu zupfen begann. "Ich ... du ... ich bin doch einfach ... du hast allen Grund wütend zu sein", murmelte ich. Tatjana knüllte das Taschentuch in ihrer Hand zusammen und schüttelte heftig den Kopf. "Mir reicht es zu wissen, dass du mich nicht hasst. Alexander hat mir gesagt, dass du mich nicht hasst, und dass du deine Gründe hattest - aber irgendwie ... konnte ich es nicht ganz glauben, aber wenn du es auch sagst ... wirklich, mehr brauche ich und will ich gar nicht." Sie lächelte abermals durch ihre Tränen hindurch. "Es ist gut, dich wieder zu sehen, Sasha ..." "Es ... es ist auch gut, dich wieder zu sehen ...", murmelte ich und wurde erneut komplett überrascht davon, dass Tatjana mir um den Hals fiel, diesmal aber nur für einen Moment. Meine Gefühle waren noch immer in völligem Aufruhr, und mein Verstand hinkte hinterher, konnte gar nicht glauben, was hier gerade alles passiert war. Aber irgendwie hatte ich wirklich das Gefühl, dass es nichts Schlechtes war. Eigentlich war ich davon ausgegangen sie zu sehen würde schmerzhaft sein, so schmerzhaft dass mein Herz es kaum ertragen konnte, gerade jetzt. Doch ich hatte mich getäuscht. Da war Schmerz, da war wirklich Schmerz in mir, aber er schien mir so leicht zu ertragen, ich konnte ihn kaum ernst nehmen nach all den Schreckensszenarien, die ich mir ausgemalt hatte, falls ich Tatjana begegnen sollte. "Du bist unterwegs zu deiner Mutter, oder? Lass uns zusammen gehen!" Ich konnte gar nicht fassen, wie sehr Tatjana strahlen konnte. Machte es sie wirklich so glücklich einfach nur zu wissen, dass ich sie nicht hasste? Es war ja wirklich fast eine lächerliche Situation. Immerhin war die Situation, wie sie war, weil ich sie eben nicht hasste, sondern das genaue Gegenteil der Fall war ... "Alexander ist schon bei ihr, und ich hab ein paar Brote mitgenommen, weil er wieder nicht gefrühstückt hat ... für dich hab ich auch etwas dabei. Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen." Ich nickte nur stumm und murmelte ein leises "Danke". Aktuell war ich wirklich noch überfordert mit der ganzen Situation. "Oh, das ist er ja, das nenn ich Timing!", meinte Tatjana fröhlich und wandte sich dem Mann entgegen, der in unsere Richtung kam. Vielleicht lag es daran, dass sie gerade so euphorisch war, dass Tatjana es nicht gleich bemerkte. Mir fiel sofort auf, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war an der Art, wie er sich bewegte. Den Kopf gesenkt, die Schritte schnell und fahrig, die Fäuste geballt. Mein Herz zog sich zusammen, während Tatjana ihm etwas entgegenrief. "Alexander, du hattest Recht, sie - !" Jetzt fiel es auch ihr auf, und wir beide blieben stumm, während Alexander den Kopf hob, uns erst jetzt zu bemerken schien, und dann einfach zwei Schritte vorwärts in Tatjanas Arme taumelte. Er vergrub den Kopf an ihrer Schulter und lehnte sich an sie. Ich konnte sehen, dass sie sich anstrengen musste, um ihn zu halten, aber sie tat es trotzdem und schloss fest die Arme um ihn. Hilflos sah ich zu, wie es ihn schüttelte, wie er zu schluchzen begann. Ich presste mir die Hand vor den Mund, schloss die Augen. Die Tränen waren schon da, bevor überhaupt irgendetwas fest stand. Irgendetwas in mir fiel und zerbrach, ohne dass Alexander auch nur ein Wort gesagt hatte. Bitte, nein, bitte ... nicht ... bitte nicht, sie kann nicht, nein, bitte, sie ist doch meine Mutter, sie kann nicht ... sie kann nicht einfach ... nein, nein, nein, NEIN! "Sie ... sie ist ...", würgte er. Alles in mir schrie auf. Sag es nicht, sag es nicht, sag es nicht! Sprich es nicht aus! Tu es nicht! Bitte, bitte ... nicht ... bitte! "Sie ist tot ...", schluchzte Alexander. Da war keine Luft mehr zu atmen. Da war nichts mehr. Ich versuchte verzweifelt zu atmen, aber es ging nicht, egal wie schnell und wie viel Luft ich aufnahm, sie schien meine brennenden Lungen nicht zu erreichen. Der Schmerz in mir machte meine Lungen unfähig zu funktionieren, das Schluchzen raubte mir jeden Sauerstoff, den ich noch hatte. Die ganze Welt begann sich zu drehen, wurde dunkler. Meine Knie gaben nach, ich hörte irgendjemanden rufen, aber ich konnte nichts tun, ich erstickte gerade, ich konnte nichts mehr tun. Irgendwo in mir wusste ich, dass ich eine Panikattacke hatte, dass ich hyperventilierte, aber ich konnte einfach nichts tun. "Sasha! Sasha, beruhig dich!" Ich fand mich in einer starken Umarmung wieder und krallte mich an das Shirt meines Bruders, der selbst nicht zu wissen schien, was er tun sollte. "Tief durchatmen, Sasha, ganz ruhig, atme einfach ein und aus ..." Er selbst atmete ruhig ein und wieder aus, immer wieder und wieder. Tatjana legte ihre Hand auf meine Schulter und passte sich ebenso seinem Atemrhythmus an, und allmählich tat auch ich es, atmete mit ihnen und ließ mich von ihren sanften Worten beruhigen, bis ich einfach nur noch kraftlos zwischen ihnen am Boden kauerte und stumm weinte. Da war kein Funken Kraft mehr in mir, kein Funken Kraft mehr in uns. Es war Tatjana, die als einzige keinen Nervenzusammenbruch hatte, und dafür sorgte, dass wir irgendwann aufstanden. Und es war ihr zu verdanken, dass Alexander und ich, so wie wir aneinandergelehnt saßen, mit heißem Kakao in den Händen und leerem Blick in die Ferne, uns nicht ganz selbst verloren an diesem Tag. ---- Hallo! Erst einmal - vielen Dank fürs Lesen von Farbenblind! Und vor allem - vielen Dank für die Geduld bislang. Das Projekt lag jetzt mehrere Monate lang flach dank Krankenhausaufenthalt und gesundheitlichem Zeug, aber jetzt geht es weiter und ich kann es kaum erwarten, Farbenblind jetzt endlich zu beenden. Die restlichen Kapitel werden ab sofort in regelmäßigen Abständen kommen! :-) Kapitel 8: ----------- Als ich langsam in die Realität driftete war für einen winzigen Moment meine Welt in Ordnung. Doch ich brauchte nicht einmal die Augen zu öffnen, um die Scherben zu sehen. Sobald ich mir bewusst wurde, wo ich war, sobald es alles über mich hereinbrach wie eine schreckliche Welle, nach der ich nicht gefragt hatte, die mich erstickte ... da konnte ich sie fühlen, die Scherben, in mir. Und jeder einzelne Atemzug schmerzte. Ich gab einen erstickten Laut von mir, und wünschte mir, einfach in den Schlaf zurück zu fallen. Ich wollte nicht in dieser grauen Welt erwachen, und ich wollte nicht in dieser Welt bleiben und nachdenken. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wie ich mit dem Schmerz umgehen sollte, der alles in mir aufzufressen schien. Flammen, die an meinem Inneren leckten, irgendwo tief in meiner Brust. Ich wollte aufschreien, aber kein Ton kam über meine Lippen. Ich krümmte mich ruckartig zusammen, presste die Handballen auf meine Augen. Ein trockenes, schmerzhaftes Schluchzen entrang sich meiner Kehle und klang dumpf im stillen Raum um mich herum. Verlor sich dort. Es war so still. Es war so, so still. Ich presste meine Handballen so fest auf meine Augen, es schmerzte, und statt der endlosen Dunkelheit, nach der ich mich sehnte, sah ich kaum auszumachende Lichtpunkte verwischen. Eine merkwürdige Angst wallte in mir auf, darin Dinge zu sehen, die ich nicht sehen wollte. Ich schnappte nach Luft als sei ich lange Zeit unter Wasser gewesen. Neben mir raschelten die Laken, ein sanftes Geräusch, wie Wind, der in den Blättern spielt. "Sasha ...", murmelte eine Stimme neben mir, und es war das wundervollste Geräusch, das ich je gehört hatte. Die verrückte Angst löste sich auf als wäre ein Luftstoß auf Kerzenrauch gestoßen. "Sasha ... ganz ruhig, ich bin ja hier ..." Ohne mein eigenes Zutun drehte sich mein Körper um und strebte der Stimme entgegen, strebte der Person entgegen, so hastig dass ich gegen einen weichen, warmen Körper prallte. Verzweifelt löste ich die Fäuste von meinen Augen und öffnete die Handflächen nach vorne, um mich in lockeren Baumwollstoff zu krallen, mein Gesicht in einer Halsbeuge zu vergraben. Lichter blitzten vor meinen Augen auf, doch ich hatte keine Angst davor. Meine Augen schmerzten, aber mein Herzschlag beruhigte sich. Es fühlte sich an als würde ich nach Hause kommen. Ein Arm legte sich um mich, und eine Hand schob sich sanft zwischen meine Seite und die Matratze. Ein kleiner Kreis um mich herum, der sich sicher anfühlte. "Maja ...", nuschelte ich gegen ihre Haut, und meine Stimme brach. Sie verstärkte ihren Griff um mich nur noch weiter und vergrub die Nase in meinem Haar. "Ich bin hier, Sasha, ich bin für dich da, hab keine Angst ... ich bleibe so lange, wie du mich brauchst ..." Irgendetwas in mir schien sich zu verändern. Als hätte Maja an einem Bunsenbrenner gedreht und die Flammen in mir waren kleiner geworden. Sie waren noch dort, aber es fühlte sich an, als könnte ich den nächsten Atemzug machen. Ich atmete tief aus, und so ruhig ich es vermochte. "Gut so", wisperte Maja sanft. Es fühlte sich an, als würde sie mir einen Kuss aufs Haar hauchen, aber ich konnte es nicht genau ausmachen. Alles, was ich wusste, war, dass ich mich besser fühlte. Sehr viel besser. Fast schon lächerlich, was für einen Unterschied nur eine einzige Person, ihre Wärme, ihre Stimme machen konnte ... Ich versuchte es ihr zu sagen, versuchte Worte herauszubringen, aber da war nicht mehr als ein ersticktes Aufstöhnen. Maja hob langsam die Hand, die sich um mich gelegt hatte, und begann sanfte Kreise auf meinen Rücken zu malen. Zu meinem Erstaunen entkam mir ein gehauchtes, aber dennoch so etwas wie zufriedenes Summen. Maja verharrte für eine Sekunde, bevor ihre Fingerspitzen noch sanfter über meinen Rücken tanzten und sie eine sanfte Melodie summte. Ich fühlte mich zurückversetzt an unser erstes Treffen, an diesen merkwürdigen Nachmittag, an dem eine schöne und wunderbare Fremde mich gesehen hatte - und aus irgendeinem Grund entschieden, sie würde bei mir bleiben. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte, wie ich meine Dankbarkeit jemals ausdrücken konnte. Doch für jetzt hatte ich das beruhigende Gefühl, dass es völlig in Ordnung war, einfach zu schweigen. Ich spürte nicht einmal wirklich, wie ich zurück in den Schlaf sank ... Meine Augen waren noch immer geschlossen, doch ich konnte Majas Stimme hören, so leise und entfernt als wäre das hier alles nur ein Traum. Es klang als würde sie mit jemandem sprechen, immer wieder wurde es einfach still und ein kleiner Teil in mir wünschte sich den Klang ihrer Stimme dann sofort wieder zurück. Einige Minuten lag ich einfach nur da, unentschlossen ob ich überhaupt versuchen sollte aufzustehen oder einfach zurück ins Bett gehen. Ich fühlte mich taub und abgeschlagen und alles, jedes Rühren eines Fingers schien zu anstrengend, zu sinnlos um darauf Energie zu verschwenden. Dann war da ein Geruch, der eine Mischung aus kraftloser Vorfreude und Hunger in mir auslöste bevor ich überhaupt verstand, dass es nach ... Pfannkuchen roch? Mit einem leisen Stöhnen rieb ich mir ein ganzes Büschel strubbeliger Haare aus dem Gesicht und öffnete blinzelnd die Augen. Die Vorhänge waren zugezogen und tauchten den Raum in ein graues Dämmerlicht. Es traf mich fast wie ein Blitz, eine kleine Portion Energie. Und dann hatte ich den Drang die Vorhänge zu öffnen und nach draußen zu sehen. Ich wollte nicht in einem grauen Zimmer liegen. Schwerfällig schob ich die Decke zurück und setzte mich auf. Mir wurde schwarz vor Augen und für einige Momente wartete ich ab, bis sich der Kopfschmerz beruhigt hatte und ich wieder klar sehen konnte, bevor ich betont vorsichtig aufstand und zum Fenster schwankte. Ich atmete tief durch, griff je einen Vorhang in meiner geballten Faust und ließ dann mit einem kräftigen Ruck Sonnenlicht das Zimmer fluten. Meine Augen protestierten und mein Kopf antwortete mit rasch aufkeimendem Schmerz, der jedoch ebenso schnell wieder zu schwinden begann und nur ein dumpfes, unwohles Pochen hinterließ. Maja sagte einige kurze Worte im anderen Zimmer, und als sie kurz darauf durch die Tür kam hatte sie kein Telefon mehr bei sich. Ich sah sie an, in meinem zerknitterten Nachthemd, mit dem verworrenen Haar, wahrscheinlich verquollenen Augen und alles in allem ein bemitleidenswerter Anblick und verzog meine Lippen zu einem schiefen, schwachen Versuch zu lächeln. "Ich hab das Sonnenlicht reingelassen." Die Sonne ließ Majas Augen leuchten und tauchte sie in ein Licht, das sie mir fast engelsgleich erscheinen ließ. Ihr Lächeln war breit und echt und zeigte ihre Zähne. "Ich hab Pfannkuchen gemacht." Wir standen uns gegenüber, teilten das Lächeln und das Schweigen so lange, dass es hätte ungemütlich sein sollen, aber irgendwie fühlte es sich weiter gut an. Und dann streckte Maja mir ihre Hand entgegen, ich nahm sie, und sie führte mich zu dem kleinen Couchtisch. Sie drückte mich auf den Sessel und balancierte selbst umständlich auf der Lehne des winzigen Sofas, dessen Federn bei jeder Bewegung aufkreischten. Ich sah auf das riesige Glas Nugatcreme vor mir und dann wieder auf die dicken, duftenden Pfannkuchen. Mein Magen reagierte darauf mit einem ungeduldigen Knurren. "Ich mag Pfannkuchen am Liebsten mit Schokolade ...", meinte ich perplex, und versuchte mich zu erinnern, ob das Glas vorher schon hier im Hotelzimmer gewesen war. Ich war mir ziemlich sicher, dass dem nicht der Fall war. Maja sah von ihrem eigenen Teller auf. "Ich weiß", murmelte sie leise, und schielte fast schon schuldbewusst auf das Handy am anderen Ende des Sofas. "Ich hab mit deinem Bruder geredet ... er wäre vor Sorge fast umgekommen, aber ich glaube, ich habe seinen Test bestanden und bewiesen, dass ich seiner kleinen Schwester nichts antun werde." Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen und sie zwinkerte mir zu. In mir regte sich ein warmes Gefühl, fast vorsichtig, als wäre es sich selbst nicht sicher, ob ihm das überhaupt erlaubt war. Mein Bruder machte sich Sorgen um mich, und er redete mit Maja deswegen, und sie machte mir Pfannkuchen mit Nugatcreme ... "Sasha?", fragte Maja geschockt. Ich blickte auf und war überrascht über die Sorge auf ihrem Gesicht. "Was ist?", fragte ich leise, ein Stück Pfannkuchen schon auf meiner Gabel aufgespießt. "Es ... du ... du weinst?" Erstaunt brachte ich die freie Hand an meine Wange, spürte die Nässe und blinzelte mehrmals. " ... oh. Aber ... es ist okay ... denke ich ..." Ich wischte mir hastig die Tränen ab, und war erleichtert, dass meine Wangen trocken blieben. Weil ich ohnehin nicht wusste, was ich sagen sollte, stopfte ich mir eine ganze Gabel voller Pfannkuchen in den Mund. So wie ich aussah hatte ich ohnehin nichts mehr zu verlieren, was Ästhetik anging. "Sag mir, wenn du irgendetwas brauchst, okay?" "... okay", nuschelte ich und konzentrierte mich nur auf mein Essen, die Frage in meinem Kopf, die mir schon eine ganze Weile im Kopf herumspukte und immer penetranter zu werden schien. Womit habe ich dich bloß verdient ... ? Satt gefuttert lehnte ich mich schließlich zurück, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte an die Decke hoch. Aus welchem Grund auch immer wurde mir überdeutlich bewusst, wie hässlich die Lampe war, und irgendwie fühlte sich alles surreal an. "Also -", sagte Maja schließlich, und etwas an ihrem Tonfall ließ das schüchterne, warme Gefühl erwartungsvoll aufhorchen. "Bist du bereit?" "Bereit wofür ... ?" "Ah-ah, du bleibst sitzen!", warnte sie, als sie begann den Tisch abzuräumen. Im Stillen dankbar dafür lehnte ich mich nur weiterhin zurück und schloss die Augen. Ich war schrecklich, schrecklich müde und nur deswegen nicht versucht zu schlafen, weil ich mich fragte, was sie vorhatte. Die Geräusche von Maja, die geschäftig um mich herum furhwerkte hatten einen beruhigenden Effekt, und ich öffnete die Augen erst wieder, als ein bekanntes Klicken meine Aufmerksamkeit erregte, das ich jedoch nicht gleich zuordnen konnte. Blinzelnd richtete ich mich auf und sah, dass Maja auf das kleine Tischchen einen Laptop gestellt hatte und gerade eine DVD-Hülle geöffnet. "Ich hoffe du magst Kitsch und Zuckerkram, ich glaube nämlich, dass ein Disney-Marathon jetzt wirklich angebracht ist." Es war ein merkwürdiges Gefühl und mich überraschte selbst, dass sich meine beiden Mundwinkel leicht nach oben zogen. "Disneyfilme habe ich nicht mehr gesehen seit ich ein kleines Kind war ..." "Grundgütiger, Sasha. Du kannst wirklich froh sein, dass ich hier bin, um dich zu retten" Maja legte die DVD ein und rutschte auf dem Sofa, klopfte auf den schmalen Platz neben sich. Ohne zu zögern rutschte ich zu ihr hinüber und schmiegte mich an ihre Seite. Ihr Arm legte sich um mich als würde es so einfach gehören, als wäre es schon immer so gewesen. Ich seufzte und lehnte den Kopf an ihre Schulter. "Was wäre ich nur ohne dich ...", murmelte ich und versuchte sarkastisch zu klingen, obwohl ich jedes Wort so meinte. "Dasselbe könnte ich sagen ...", sagte Maja kaum hörbar und bevor ich wirklich etwas tun konnte, machte sie sich von mir los. Das plötzliche Fehlen ihrer Präsenz war alles andere als ein schönes Gefühl, aber kaum hatte ich das realisiert war sie auch schon wieder zurück, zog mich noch enger an sich. Der Film startete, doch es fiel mir anfangs schwer mich darauf zu konzentrieren, weil mir Majas Nähe plötzlich überdeutlich bewusst wurde. Etwas nervöses, lebendiges regte sich in mir, das noch nicht recht bereit war seinen Platz in dem Chaos in mir zu behaupten. Doch Maja war warm und roch nach Frühling und Pfannkuchen und Schweiß und so sehr nach ... nach einem Zuhause, dass es schon fast verrückt war. Und sie war hier, genau hier. Genau neben mir. Und das reichte, um ein kleines Körnchen Hoffnung in mein Herz zu setzen. ---- Hallo, und vielen, vielen Dank für das Lesen von Farbenblind! Jetzt hab ich ja doch wieder ewig gebraucht, aber zur Entschuldigung gibt es dafür ein Kapitel Fluff und Scherben-Aufsammeln? Und jetzt ist es wirklich Zeit, dass Farbenblind auch zu seinem Ende findet. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie viele Kapitel ich noch brauchen werde, um das runde Ende zu bekommen, das ich mir wünsche. Aber ab jetzt und bis dahin wird es jede Woche ein Neues geben. Kapitel 9: ----------- Sasha wirkte schrecklich klein in dem dunklen Kostüm, ihre Haut im Gegensatz zu dem Stoff nahezu weiß und ungesund. Ihre Schultern waren eingezogen, und unterbewusst war sie selbst es, die sich kleiner machte. Maja wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich hier genauso fühlte wie sie selbst es tat: fehl am Platz. Dabei war doch Sasha ein Teil dieser Familie, und Alexander sah das definitiv genauso. Maja erinnerte sich noch gut daran, wie die beiden Geschwister sich im Krankenhausgang gegenübergestanden hatten, und dies hier, es war das genaue Gegenteil. Als hätte Alexander in seine Rolle als großer Bruder zurückgefunden. Ein ganz anderer Mann, die Trauer mühsam hinter einer bröckellosen Fassade versteckt. Er spielte eine Rolle, und tat genau das, was alle brauchten: war derjenige, der nicht zusammenbrach und alles mit Stärke ertrug. Maja hatte das Gefühl wenn Alexander sich nicht so bemühen würde, dann würde es auch Sasha viel schlimmer ergehen. Doch er tat es. Er blieb meistens in ihrer Nähe, warf ihr Blicke zu, dann wieder einen Blick zu Maja selbst über den Kopf seiner Schwester. Er war dankbar. Dafür, dass sie hier war, obwohl Maja tatsächlich fehl am Platz war. Sie war kein Teil dieser Familie, nicht so wie Tatjana, die die einzige war, die hinter Alexanders Fassade zu sehen schien und als eine Stütze bei ihm blieb. Sie waren ein merkwürdiges Gespann - eigentlich eine komplizierte Beziehung nach der anderen, voller Reibereien. Maja kam nicht umhin eifersüchtig zu sein auf Tatjana und eine irrationale Wut in sich zu haben darüber, dass Sasha Gefühle für sie hatte und dadurch so verletzt worden war, und mit Alexander hatte Maja auch keine sonderliche freundschaftliche Basis. Aber unter diesen Umständen, da funktionierte es einfach - hielt sie alle irgendwie bei Verstand in dieser düsteren Atmosphäre. Dabei war Sasha kaum mehr als eine Fremde für sie. Eigentlich. Was zur Hölle war eigentlich passiert? Eigentlich hatte sie nur ein Puffer sein wollen für diese rätselhafte, stille Frau im Zug, die so fern und zerbrechlich wirkte. Als würde sie einfach zersplittern, würde niemand sie beschützen, und Maja hatte dieser Jemand sein wollen, zumindest für kurz. Und irgendwie hatte Maja nicht mehr damit aufhören können, ihr Schutzengel sein zu wollen. Da war so, so vieles was unter der Oberfläche zu ruhen schien. Sasha war nicht die gebrechliche Hülle, die man sehen konnte - sie war so viel mehr, und wenn man einfach nur die Geduld hätte, ihr vielleicht dabei helfen würde das selber zu verstehen ... Bevor Maja es recht verstand, war sie Sasha verfallen. Es waren die Geheimnisse, die sie umgaben, die sie so fszinierend machten. Aber eigentlich noch mehr die Tatsache, dass sie sich Maja öffnete. Und wie einfach alles mit ihr war. Es ... es passierte einfach. Es funktionierte, ohne Fragen. Einmal hatte Sasha gefragt, hatte versucht Sinn aus ihrer Beziehung zu machen - aber ansonsten war alles zwischen ihnen wortlos gewesen, als wäre es einfach Sashas Platz in ihren Armen, als hätte sie dort immer hin gehört. Auf die Beerdigung einer fremden Frau zu gehen, wo Maja niemanden wirklich kannte und irgendwie versuchen musste mitgenommen genug auszusehen, aber gleichzeitig auch stark genug, um der Hand auf Sashas Schulter etwas Beruhigendes zu geben - das war wirklich nicht ihre Absicht gewesen. Wenn sie gekonnt hätte, Maja wäre nicht gegangen. Aber sie hatte gar keine andere Wahl gehabt. Und das Merkwürdigste war, sie hätte sich niemanden sonst in ihrem Leben vorstellen können, für den sie sich selbst zu so etwas überwunden hätte. Himmel, in den letzten Tagen hatte sie ohnehin praktisch alles und jeden sonst ignoriert und sich zwischen ihren Arbeitszeiten mit Sasha getroffen. Man sollte meinen es hätte ihr mehr ausgemacht. Tatsache war, was ihr wirklich etwas ausmachte war, dass Sasha zurückkehren würde. Sie würde in einen Zug steigen und nach Hause fahren, und nach Hause war hunderte von Kilometern entfernt. Maja hatte nicht das Gefühl, dass Sasha auf der Suche nach einer Freundin am anderen Ende von Deutschland war. Und hatte sie nicht genug damit zu tun die Beziehung zu ihrem Bruder wieder aufzubauen? Und da war noch immer Tatjana, nach allem was vorgefallen war immer noch eine alte Freundin, an der Sasha etwas lag? Und wenn sie langsam über all ihre alten Probleme hinwegkommen würde ... weshalb sollte sie noch an Maja denken, diese fremde Frau, mit der sie einige wenige Tage verbracht hatte? Würde es wirklich zählen, dass sie versucht hatte über die Scherben zu laufen, um Sasha zu erreichen, und sie aufzusammeln, bevor etwas Schlimmeres geschehen würde? Oder war es anders, würde Sasha sie noch immer brauchen, aber Maja würde nicht bei ihr sein können? Würde der Schnee niemals schmelzen, und der Frühling niemals kommen? Es war ein überraschend intensiver Schmerz, der irgendwo in ihr pochte bei all diesen Gedanken. Zwischen den trauernden Gästen war Maja mit ihren ganz eigenen Gedanken und Problemen beschäftigt, und sie war gleichzeitig dankbar und verfluchte den Tag, an dem Sasha in ihr Leben stolperte, alles durcheinander brachte, und mit einem scheuen Lächeln ihr Herz stibitzte. Maja wollte es sich selbst eigentlich nicht eingestehen, aber irgendwann konnte sie sich nicht mehr rausreden. Es hatte seine Gründe, weshalb sie auf Tatjana eifersüchtig war, Sasha stundenlang in ihren Armen hielt und sich fühlte als bade sie in der Sommersonne, weshalb es so schmerzte, dass Sasha gehen würde. Wenn sie hier leben würde - wenn sie in der Nähe wäre, dann hätte Maja vielleicht eine Chance gehabt. Vielleicht hätte Sasha Tatjana irgendwann vergessen, und dann ... vielleicht hätte sie etwas in Maja sehen können, etwas was über ihre Freundschaft hinausging. Oder ihre Beziehung hätte sich einfach weiter entfaltet, so wie sie es jetzt getan hätte, und wäre irgendwann einfach ganz von selbst an dem Punkt angekommen, an dem Maja sorglos dem Drang nachgeben konnte ihren Kopf zu senken und Sashas Lippen mit ihren zu fangen. Sie beobachtete, wie Sasha sich bückte und die Schuhe von den Füßen streifte, einfach in die Hände nahm. Die Art, wie sie vorsichtig ihre Fußsohlen auf dem Boden aufsetzte, wie um den Weg zu testen. Ein warmes, bittersüßes Gefühl schnürte Maja die Kehle zu, und es wurde nur noch schlimmer, als Sasha schluckte und nach ihrer Hand griff. In einem anderen Leben würde ich dich niemals gehen lassen. Ihre Finger schlossen sich um Sashas Hand als könne sie sie einfach immer festhalten können, als würde Sasha bleiben wenn Maja nur niemals locker ließ. Es war was Sasha brauchte, um sich ein wenig aufzurichten, einen Blick auf Alexander werfend, der noch immer einen angestrengten, entschlossenen Gesichtsausdruck trug und Tatjanas Hand mit einer ähnlichen Suche nach Halt umklammerte. Ihre kleine, merkwürdige, stumme Gruppe folgte der Prozession schweigend. Der Tag von Sashas Abfahrt war nahe, und er kam viel zu schnell. Schon als Maja die Augen öffnete begann sie förmlich den Verstand zu verlieren, und von dort an wurde es nur noch schlimmer. Sie bekam keinen Bissen runter, zwang sich nur eine Tasse schwarzen Kaffee zu trinken und verbrachte lächerlich viel Zeit im Badezimmer, wo sie an ihren Haaren herumzupfte, bis sie von sich selbst genervt war, sich eine Grimasse im Spiegel schnitt und eine U-Bahn in Richtung Sashas Hotel nahm. Sie hatte sich bereit erklärt sie zum Bahnhof zu bringen, was ungefähr so viel hieß wie dabei zu helfen sich einen Dolch ins eigene Herz zu rammen. Aber Zeit mit Sasha war kostbar, und Maja benahm sich schon seit Tagen wie süchtig nach ihrer Gesellschaft, und das beinhaltete offensichtlich auch die letzte Stunde, also was sollte sie schon dagegen tun? Nichts, genausowenig wie sie etwas gegen den Kloß in ihrem Hals ausrichten konnte, als sie Sasha vor sich stehen sah, mit ihrem verstrubbelten Haar und den müden Augen. Sie war so, so schön und schien selbst nicht einmal eine Ahnung davon zu haben wie atemberaubend ihr Anblick sein konnte. Und ihr Lächeln. Himmel, ihr Lächeln. "Hey", murmelte Maja, und mehr brachte sie nicht heraus. "Hey", meinte Sasha, und für eine Sekunde meinte Maja etwas in ihren Augen aufblitzen zu sehen, was vielleicht ganz ähnlich dem war, was sie selbst fühlte. Aber vielleicht war es auch nur Wunschdenken. Sie schob sich in den Flur und warf einen Blick durch den Raum. Es war niemals wirklich Sashas Zuhause gewesen, aber der Mangel an ihren Sachen war nur noch umso mehr ein Beweis dafür, dass sie gehen würde. Und die Taschen, die in einer Ecke des Eingangsbereich standen und Majas Magen herumdrehten. "Danke dass du mitkommst." "Ich mache es gerne." Sie wollte noch hinzufügen, dass sie Sasha vermissen würde, und wie einsam es werden würde ohne sie, aber dann würde sie auch noch alles andere sagen wollen, und wenn Maja bei Sasha eine Chance haben wollte, auch nur ansatzweise, dann sollte sie sich besser damit zurückhalten. Man machte sich an keine Frauen an, die gerade ihre Mutter verloren hatten, an der Beziehung mit ihrem Bruder arbeiteten und über dessen Frau hinwegkamen. Zumindest nicht so offensichtlich. Und deswegen hielt Maja den Mund. Sasha räusperte sich und strich sich eine unsichtbare Haarsträne aus dem Gesicht. "Ähm, ich hab mich gefragt ... könnte ich, äh, könnte ich vielleicht deine Adresse haben?" Maja fingerte einen Zettel auf ihrer Jackentasche, auf den sie schon gestern neben ihrer Telefon- und Handynummer samt E-Mailadresse am Liebsten noch fünf andere Wege sie zu erreichen geschrieben hätte. Sashas Mundwinkel zuckten, als sie in ihre eigene Tasche griff und Maja ihrerseits einen Zettel gab. Es war sogar noch ihre Arbeitsnummer darauf, und als Maja aufsah und ihre Blicke sich trafen mussten sie beide lachen. Es war der Moment, in dem das Lachen von ihren beiden Gesichtern glitt und es völlig still war im Raum, in dem etwas in Maja einzurasten schien. Es fühlte sich an, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, und dabei alles, was sie bislang für richtig gehalten hatte weggepustet. Ohne nachzudenken machte sie einen halben Schritt nach vorne und griff nach Sashas Hand. "Geh nicht", hauchte sie, und ihr Gesicht war schon so nahe, und Sashas Augen funkelten, ein roter Schimmer lag auf ihren Wangen vom Lachen. Und plötzlich waren da Majas Fingerspitzen an ihrer Wange, und ihre Haut war so weich, und sie zuckte nicht weg, hielt nur ihren Blick. Sie sahen sich an, und die Zeit blieb stehen, oder sie dehnte sich einfach nur aus, Maja konnte es nicht sagen. Und dann lehnte sie sich vorwärts, strich leicht mit ihren Lippen über Sashas und sog die Luft ein angesichts des Gefühls, das wie ein Funkenstrom durch sie schoss. Unfähig sich länger zurückzuhalten presste sie ihre Lippen fast ungeduldig auf Sashas, denn sie hatte schon viel zu lange gewartet, und das hier war noch so viel besser als sie es sich ausgemalt hatte. Sie keuchte überrascht auf, als Sasha ihren Kopf neigte, um den Kuss zu intensivieren, und sie konnte ihr Lächeln spüren, und Grundgütiger, ihre Lippen waren so weich und Maja konnte auch ihren Atem spüren, und ansonsten hätte die Welt auch versinken können, denn da war nichts anderes mehr, alles was sie spürte war Sasha. Und deren Hände legten sich an ihre Wangen, wanderten über ihren Hals, zu ihren Schultern. Doch schoben sie dann sanft, aber bestimmt zurück. Maja war noch viel zu benommen, um sich Sorgen zu machen, dass sie zu weit gegangen war. Sie blinzelte nur, und sah Sasha an, noch ganz verträumt und ihre Hände noch immer an ihren Schultern. Fast war sie geneigt Sasha erneut zu küssen, doch diese schüttelte den Kopf und sah ihr in die Augen. Es war dieser Blick, der Maja schließlich ernüchterte. Ihr Herz schlug noch immer heftig, ungeduldig, doch ihr Kopf übernahm das Kommando erneut. Sasha sah schrecklich traurig aus. So sollte niemand nach einem Kuss aussehen, wenn sie zurückgeküsst hatten. Sasha hatte sie zurückgeküsst. "Maja, ich ...", begann Sasha, doch als sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr und Maja der Bewegung mit den Augen folgte war sie abermals abgelenkt. Sie räusperte sich, fuhr sich erneut durchs Haar. Dann seufzte sie, und in ihrem Blick war Überzeugung. "Ich bin nicht die Frau für dich. Ich -" Maja öffnete bereits den Mund, um ihr zu widersprechen, um ihr ganz genau zu sagen, weshalb Sasha die Frau für sie war, doch diese legte zwei Finger an ihre Lippen und schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf. "Mein ganzes Leben ist ein einziges Chaos. Ich bin ein Wrack, und ich bin noch lange nicht im Frühling angekommen. Ich möchte eigentlich immer noch rennen. Und wenn wir jetzt - wenn wir beide jetzt - du würdest mich nur immer weiter auffangen. Aber das will ich nicht. Ich will nicht, dass du auf mich Acht geben musst. Ich will dir ebenbürtig sein, wenn ... falls ..." Ihre Stimme verlor sich, aber Maja sagte noch immer nichts, halb weil es so wirkte als hätte Sasha noch etwas zu sagen, halb weil sie zu abgelenkt von den Fingern an ihren Lippen war. "Ich muss einiges in Ordnung bringen, bevor ich eine Beziehung eingehen kann. Und ich weiß nicht, wie lange das dauern wird, Maja ... ich weiß es nicht ..." Maja legte sanft die Finger um Sashas Handgelenk und zog die Hand von ihrem Mund. "Ich kann warten", flüsterte sie rau. Sashas Augen weiteten sich, und so etwas wie Hoffnung schlich sich hinein. "Bist du dir sicher?" Maja trat noch näher, und nahm Sashas beide Hände in ihre eigenen. "Ich werde auf dich warten so lange es nötig ist. Ich bin mir nicht sicher, ich weiß es. Ich schwöre es dir." Sasha schluckte, und wisperte kaum hörbar: "Okay." "Okay", wiederholte Maja, kam ihr noch näher, sodass sich ihre Lippen fast wieder berührten. "Okay", hauchte Sasha, bevor sie sich erneut küssten, diesmal weniger vorsichtig und tastend, und verzweifelter, hungriger, weil sie beide wussten, dass es ihre letzte Chance sein würde. Es war erneut Sasha, die sie davonschob, und sie beide rangen nach Luft. Maja hörte kaum ihre Worte, zu beschäftigt damit ihren Anblick in sich aufzunehmen, die wirklich geröteten Wangen, ihre dunklen Augen, ihre widerspenstigen Haarsträhnen und die geküssten Lippen. "Ich muss gehen." "Ich helfe dir mit den Taschen", murmelte Maja, ihr Kopf noch immer langsam dabei, alles zu verarbeiten, nachdem Sasha praktisch jeden Gedanken aus ihr heraus geküsst hatte. Sie griff nach einer der Taschen, aber Sasha hielt sie zurück. "Nicht. Wenn du da bist ... dann werde ich es nicht schaffen in diesen Zug zu steigen und zu fahren." "Dann tu es nicht." "Ich muss, Maja ..." Sasha hängte sich eine Tasche um die Schulter und schwang den Rucksack auf den Rücken. Dann hielt sie kurz inne, und nahm ein kleines Päckchen von ihrem Rollkoffer. Sie legte die Hand an den Griff des Koffers, und die beiden stolperten zusammen aus dem Hotelzimmer. Sasha zog die Tür hinter sich zu, und Maja war noch immer in einer Art Nebel gefangen, klopfendes Herz und die noch immer drohende Gefahr, dass Sasha gleich fort sein würde alles, was noch irgendwie einen Platz in ihr hatte. Es war bittersüß, wirklich. Sasha drückte ihr das Päckchen in die Hand, flüsterte in ihr Ohr. "Hier, damit du mich nicht vergisst." Und dann drückte sie ihr einen Kuss auf die Wange und ging, signalisierte Maja zu bleiben, wo sie war, vielleicht um den Abschied weniger schmerzhaft zu machen. Und Maja stand einfach dort, blieb zurück und sah Sasha verschwinden, verharrte in dem fremden Hotelgang, wo alles sich kalt anfühlte, obwohl sie noch gar nicht realisiert hatte, dass Sasha fort war. Sie blieb dort einige Minuten, in diesem leeren Gang mit dem grünen Teppich, bis sie schließlich das kleine Päckchen öffnete. Sie begann zu weinen, als sie das kleine Medaillon um ihren Hals gelegt hatte und das kühle Herz über ihrer Brust ruhte. ---- Uuuund das war es mit der Hauptgeschichte von Farbenblind. Entschuldigt bitte den Perspektivwechsel, aber anders wollte und wollte das Ende einfach nichts auf Papier kommen. Ich hoffe es war nicht zu verwirrend, und keine Sorge. Ganz vorbei ist es noch nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)