Farbenblind von Scribble ================================================================================ Kapitel 6: ----------- Ich konnte nicht mehr zurücksehen. Es hatte lange genug gedauert, und ich hatte mich gefragt, ob ich es je hinter mich bringen würde, dieses Zimmer zu verlassen. Aber plötzlich hatte ich einfach nicht mehr dasitzen können. Hatte das Gefühl nicht ertragen, dass ihr Herz jeden Moment mit dem Schlagen aufhören würde können. Und so stieß ich irgendwann fast schon verzweifelt die Tür auf, um zurück zu Maja zu stolpern. Ob sie noch hier war? Ich erstarrte, die Tür noch halb offen, und blinzelte. Einmal. Zweimal. Alexander. Er wirkte als hätte er sich nicht mehr von der Stelle gerührt. Er wirkte ... anders aus als zuvor. Erschüttert. Und müde, schrecklich müde. Traurig ... ich hätte ihn so gerne getröstet. Doch ich machte immer alles nur noch schlimmer. Ich stand unschlüssig vor ihm, hatte das Gefühl, etwas stand zwischen uns, das tatsächlich ausgesprochen werden wollte, doch hatte Skrupel, es selbst zu tun. Ich schloss die Tür hinter mir, wusste nicht so recht, was ich mit meinen Händen tun sollte. Auch Alexander sagte kein Wort, und ich traute mich kaum, ihn anzusehen. Ich hatte das Gefühl, dass es an der Zeit war, zu gehen. Mit einem lautlosen Seufzen machte ich einen Schritt nach vorne, an ihm vorbei, ohne auch nur ein Wort zu sagen. "Nicht." Seine Hand hatte sich um meine Hand geschlossen. Erinnerungen keimten in mir auf, wie er mich über die Steine führte, weil ich solche Angst hatte davor, in das Wasser zu stürzen. Meine Kehle schnürte sich zu. Sein Händedruck war so unsicher wie ich mich fühlte. "Lass uns ... reden. Irgendwo." Er ließ meine Hand los, und ich nickte stumm, ohne ihn anzusehen. Mein Bruder würde mir nie mehr versprechen, dass er mich halten würde, sollte ich fallen. Weshalb sollte er, wo ich ihn doch fallen gelassen hatte? Es kam mir etwas merkwürdig vor, in dieser kleinen Wartenische zu sitzen, um zu reden über ... über, das was vorgefallen war und jetzt noch passierte, wo wir dort eigentlich keine Garantie auf Privatsphäre hatten. Aber wohin sollten wir schon gehen? Das hier war mehr eine spontane Entscheidung als die Verabredung zu einem Treffen - und ich bezweifelte, dass wir wieder die Chance hätten zu reden, wenn wir diesem Impuls nicht nachgaben, und das jetzt. "Wer ... wer ist diese ... Person, die mit dir hier ist?" Es war das erste, was Alexander über die Lippen kam. Und irgendetwas daran, wie er von Maja sprach, ließ in mir die Frage aufkeimen, was die beiden geredet hatten. Lag es an ihr, dass Alexander und ich jetzt hier saßen? Ich seufzte, fragte mich ja selbst, wer sie war. Ich wusste kaum etwas über sie, und dann wiederum Dinge, die man nicht jedem einfach so erzählte. Ich dachte an ihre Worte zurück ... dass jeder sich Ventile suchte. Und welches sie gewählt hatte. Lag es daran, dass wir Geheimnisse teilten, dass ich mich ihr so ... nahe fühlte? Für mich war sie weit mehr als eine Fremde. Der einzige Grund, weshalb ich noch nicht den Verstand verloren hatte. Und meine einzige Hoffnung, dass es irgendwie weiter gehen würde ... dass meine Fehler aufhören könnten ... dass ich erblühen könnte. Maja war - mehr ... mehr als jemand, den ich erst seit kurzem kannte. Aber wie sollte ich das Alexander begreiflich machen? "Ich, ich glaube ... sie ist meine Freundin, auch wenn wir uns nicht sehr lange kennen." Ich sah sie als Freundin. Alexander zog die Augenbrauen hoch, sah mich forschend an. "Aber nicht deine Freundin, oder?" Ich blinzelte. "Nein! Maja ist ... einfach für mich da, sie hält mich ... wann immer ich das Gefühl habe, mich selbst zu verlieren, dann -" Meine Stimme erstarb. Ich atmete ein und wieder aus, ehe ich mit leiser Stimme fortfuhr. "Ich ... ich weiß nicht einmal, ob ich mich selbst noch verlieren kann. Ich glaub, ich hab mich schon verloren ..." Es war einfach unmöglich meinem Bruder in die Augen zu sehen. Ich fühlte mich so unheimlich ... verletzlich. Stattdessen sah ich hinab auf meine Finger, die sich nervös ineinander verhakten. Eine kurze Weile war es still zwischen uns, dann sprach auch Alexander, und seine Stimme war genauso leise wie meine noch zuvor. "Als du mit dieser Frau da aufgekreuzt bist ... ich kam mir ziemlich verarscht vor", meinte er mit rauer Stimme. Jetzt hob ich doch den Kopf und sah ihn überrascht an. "Aber wieso?", fragte ich ungläubig. "Wieso?" Er wandte sich mir endgültig zu, und unsere Blicke begegneten sich. "Du ... du sagst mir all das, mit ... Tatjana ... und dann taucht ihr hier auf, und haltet Händchen? Hast du mir überhaupt die Wahrheit gesagt, Sasha?" Ich hätte Vorwürfe von ihm erwartet, Wut. Aber er klang fast schon resigniert. Enttäuscht. Und so, als wäre er einfach nur müde von all der Wut, all dem Frust, all der Bitterkeit ... und all den Fragen. Ich atmete tief durch. Ich hätte es abstreiten können, dass ich in Tatjana verliebt war. Das hier war die perfekte Chance. Aber Maja hatte Recht. Die Wahrheit war der erste Schritt, und ich hätte schon längst den Mut aufbringen sollen, nein, aufbringen müssen, ihm all das zu sagen. Vielleicht wäre es dann niemals so weit gekommen zwischen uns ... Und trotz allem fiel es mir noch schwer. Meine Worte kamen noch immer leise, stockend. "Ich ... ich habe dir die Wahrheit gesagt, Alexander. Das mit Maja und mir ... das ist nichts in diese Richtung." Er zog die Augenbrauen hoch, und irgendwie hatte ich das dumpfe Gefühl, dass er etwas wusste, dessen ich mir nicht bewusst war. Es war ein merkwürdiges Gefühl, das mich etwas aus dem Konzept brachte, und das mir eine leichte Röte in die Wangen trieb. Was meinte er mit diesem Blick? Ich blinzelte nervös und knete meine Finger, versuchte, den Faden wieder zu finden. "Und das mit Tatjana ... ist wahr. Und es ... es tut mir Leid, wie ich mich benommen habe. Ich weiß, dass es falsch war. Ich weiß, dass es zu spät kommt. Es ist nur ... es war ..." Ich atmete zittrig ein und wieder aus. "Wirklich schwierig", hauchte ich leise, und es kostete mich Überwindung, Alexander weiterhin in die Augen zu sehen. Ich suchte nach etwas ... Vergebung? Vielleicht zumindest Verständnis? Doch seine Augen wirkten fast schon ... leer. Er atmete zitternd ein und seufzend wieder aus, stützte die Ellbogen auf seine Knie und vergrub die Hände im Haar. Ich konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, er ließ den Kopf hängen und schirmte sich selbst nahezu vor mir ab. "Aber ... wieso hast du nie etwas gesagt? Wieso war all das notwendig?", fragte er, und der Schmerz in seiner Stimme schnürte mir die Kehle zu. Ich hob die Hand, verharrte regungslos, traute mich nicht, sie ihm auf die Schulter zu legen. "Dann hätte ich wenigstens gewusst, warum du all das tust! Weißt du, wie sich das anfühlt? Der Hass eines Menschen, den man so sehr liebt?" Seine Stimme brach, und ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten. "Ich ... ich hatte solche Angst, dass du mich hassen würdest ...", würgte ich hervor, bevor ich mir die Hände vor den Mund schlug und mit aller Macht das laute Schluchzen zurückhielt. Mein Körper bebte, aber ich behielt die auffälligen Geräusche für mich, mir entfleuchte nur eine Art kleines Hicksen. Ich kniff die Augen zusammen, versuchte, die Tränen irgendwie zu stoppen, die mir aus den Augen rannen, aber es wollte mir nicht gelingen. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Haar, vorsichtig und sanft, und sah erschrocken auf. "Dummes, kleines Schwesterchen ...", meinte Alexander heiser, und der Anblick meines eigenen Bruders, der weinte, fühlte sich noch schlimmer an als seine brechende Stimme. Mein Körper machte sich selbstständig - ich konnte gar nicht anders, realisierte es nicht einmal wirklich, was ich da tat. Erst, als ich meine Arme bereits um Alexanders Hals geschlungen hatte und das Gesicht an seine Schulter gelehnt. Und als seine Hände sich nach einigen Sekunden beruhigend auf meinen Rücken legten. Ich rang nach Atem, nachdem ich immer noch das Schluchzen zurückdrängte, und presste meine Zähne zusammen, hielt mich an meinem großen Bruder fest, den ich so sehr verletzt hatte ... nur weil ich so feige gewesen war. "Als hätte ich dich jemals hassen können -" "Es tut mir Leid!" "Du bist meine Schwester, verdammt -" "Es tut mir so wahnsinnig Leid, Alexander ..." "Du hättest doch nur etwas sagen brauchen ... wir sind doch eine Familie, Sasha ..." "Ich hatte solche Angst ..." "Wieso hast du mir nicht genug vertraut?" "Ich ... ich weiß nicht, und ... es tut mir alles so Leid, ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen ..." Wir hatten uns aneinander geklammert und mit leisen, gehetzten Stimmen geredet, doch nun schob Alexander mich sanft von sich und sah mir fest in die Augen. Ich versuchte so gut es eben ging die Tränen fort zu blinzeln, um ihn wirklich sehen zu können. "Nein, das ist es eben ... du kannst es nicht rückgängig machen", meinte er leise, und ich atmete zitternd ein. Ich wusste, dass er Recht hatte. Natürlich hatte er Recht. Meine Fehler der Vergangenheit waren geschehen. Ich konnte nicht einfach zurückreisen und sie korrigieren. Es war zu spät dafür. Aber vor mir lag noch immer ein ganzes Leben, in dem es noch nicht zu spät war, um diese Fehler wieder gut zu machen, und um neue Fehler so gut es ging zu vermeiden. Oder sie zumindest nicht so viele Jahre lang beizubehalten. "Aber ich kann es in Zukunft besser machen", sagte ich aufrichtig, und ich hatte das Gefühl, dass so etwas wie ein schwaches Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen war. Er nickte stumm und ich griff nach seiner Hand, die noch immer auf meiner Schulter ruhte. "Versprochen, Bruderherz", flüsterte ich mit erstickter Stimme, und noch immer hatte ich einen Kloß im Hals von all dem, was heute vor sich gegangen war, von all den Emotionen. Von den merkwürdigen Wandeln. Wer hätte gedacht, dass Alexander und ich solch ein Gespräch führen würden? Wer hätte erwartet, dass noch heute in mir so etwas wie Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufkeimen würde? Er schluckte hart und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, dann drückte er meine Hand fest. "Versprochen ist versprochen?", wisperte er. "Und wird auch nicht gebrochen", flüsterte ich zurück, und schloss mit ihm den Schwur ab, den wir unsere ganze Kindheit über geteilt hatten. Wir lächelten uns schwach an, dann entwich Alexander so etwas wie ein trockenes Lachen, das mehr klang, als hätte er einen bösartigen Husten. "Schau uns an ... sitzen hier und weinen uns die Augen aus dem Kopf." Er war verlegen, wischte sich abermals über die Augen und wich meinem Blick aus, rutschte wieder etwas von mir weg und auf seinen Stuhl zurück, aber ohne meine Hand loszulassen. Ich musste lächeln, als ich an den Moment im Flur zurückdachte, wo ich bei mir gedacht hatte, dass er nie wieder meine Hand halten würde, damit ich nicht fiel. Aber hier saß ich, und er tat es doch, hielt mich, damit ich nicht fallen konnte. Zumindest fühlte ich mich so. Irgendwie, als wäre mein großer Bruder wieder an meiner Seite ... es fühlte sich gut an. Wie ein kleiner, warmer Funke in meinem Herzen. "Ich hab dich schrecklich vermisst, Sasha ...", murmelte er leise. "Aber ich weiß nicht, wie schnell ich dir das verzeihen kann." Ich nickte stumm. Er hatte alles Recht dazu, nachtragend zu sein. Aber ... würde er mir verzeihen können? Irgendwann? Ich sah ihn an, öffnete den Mund, um genau diese Frage zu stellen, aber er kam mir zuvor. "Ich werde noch etwas brauchen. Aber ... wir sind doch eine Familie. Und der Gedanke, dich zu verlieren ... schon wieder ... wenn wir schon ..." Er machte eine kurze Pause, und ich war es, die seinen Satz zu Ende brachte. "Wenn wir schon Mama verlieren ..." Wir verstärkten den Griff unserer Hände gleichzeitig, wie um uns gegenseitig festzuhalten. Ich wandte fast schon schüchtern wieder den Kopf, um ihn anzusehen. Alexander starrte regungslos an die Wand vor sich, dann fiel ihm mein Blick auf. Er blinzelte und drehte dann den Kopf zu mir. Ich rang mir ein schwaches Lächeln ab. "Ich verspreche dir, mich wirst du nie wieder verlieren." Alexander schluckte, und ich spürte, wie er seinen Griff löste. Ich ließ ihn gewähren, auch wenn ich die kleine Berührung gerne noch viel länger anhalten hätte lassen. Er nickte vor sich hin, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und schüttelte dann den Kopf. "Sasha ... ich, ich werde wirklich noch etwas Zeit brauchen, okay? Und ich glaube, ich wäre jetzt gerne allein ..." Ich nickte, auch wenn es irgendwie doch schmerzte. Ich musste seine Entscheidung respektieren, und war ohnehin schon froh genug, dass wir dermaßen viele Schritte aufeinander zu gemacht hatten. "Natürlich. Ich ... ich denke, ich gehe dann ..." "Diese ... Maja? Sie wartet auf dich im Eingangsbereich", sagte Alexander, bevor ich mir darum Gedanken machen konnte. Ich spürte, dass sich ein Lächeln auf mein Gesicht stahl. Ich konnte gar nichts dagegen tun. "Okay, dann ... sehen wir uns morgen?", fragte ich vorsichtig nach. "Ich ... ich würde gerne noch einmal vorbeikommen. Möglichst früh ..." Alexander nickte nur, ohne mich anzusehen. "Ich werde da sein ... ich bin praktisch immer hier." "Bis morgen, Alexander. Pass auf dich auf, ja? Es war schön mit dir zu reden ..." "J-ja ...", meinte er leicht zerstreut. "Fand ich auch ... Bis morgen ..." Ich sah ihn noch einmal an, dann kehrte ich ihm den Rücken zu und machte mich langsam auf den Weg zurück. Erst jetzt spürte ich richtig, wie mich der Tag angestrengt hatte. Ich wollte nur noch ins Bett, aber ... da war noch etwas, was mich innehalten ließ. Ich wirbelte noch einmal herum, und sah zu Alexander, der sein Gesicht reglos in den Händen vergraben hatte. "Alexander!" Er sah mich fragend an. "Alles Gute! ... dass, dass du ... Vater wirst. Also ... ich bin mir sicher, du wirst ein toller Vater." Mein Gestammel war irgendwie merkwürdig, und dieser Eindruck wurde noch davon bestärkt, dass ich es halblaut durch einen ansonsten stillen Gang rief. Aber Alexander lächelte mich schwach an. Er sagte kein Wort, aber ich sah es ihm an. Irgendwie sah ich ihm an, dass ich genau das Richtige gesagt hatte, um eine kleine Last von seinen Schultern zu nehmen. Ich lächelte auch noch einmal, ehe ich tatsächlich endlich ging und mit einem leisen Lächeln die Gänge des Krankenhauses hinter mir ließ. Und irgendwie ... hatte ich mir gerade auch selbst eine Last von den Schultern genommen. Es fühlte sich so viel leichter an, mit gehobenem Kopf zu laufen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)