Farbenblind von Scribble ================================================================================ Kapitel 2: ----------- Es war ein riesiger Gebäudekomplex, in dem ich mich zurechtfinden musste. Krankenhäuser an sich war ich ohnehin nicht gewohnt - und gerade wegen der Größe schien es mir wie ein bedrohliches Labyrinth, das einfach so entscheiden konnte, ob ich überhaupt wieder hinauskam. Oder doch bleiben musste, in ein Bett gelegt wurde und plötzlich auch zu denen gehörte, die hier kämpften und bangten. Den Linien an der Wand, die den Weg zu der Sation zeigten, folgte ich wie in Trance. Konnte das hier die Wahrheit sein? Krankenhäuser schienen so abgeschnitten von jeglicher Realität, es schien fast als gerate man in eine andere Welt. War es da ein Wunder mich zu fühlen wie in einem schlechten Traum? Das hier war einfach viel zu unwirklich, und gleichermaßen viel zu unangenehm. Ich wollte nicht hier sein. Und am Liebsten hätte ich die Tür einfach ignoriert, als ich vor der richtigen Station stand. Am Liebsten wäre ich umgekehrt und geflohen. Der Geruch, der hier überall herrschte, wurde mir wieder schmerzhaft bewusst. Er beunruhigte mich. Die Wände um mich herum waren eng, es roch steril, und auch wenn es mir lächerlich vorkam, fühlte es sich an, als könne man den Atem des Todes hier fast spüren, wie er den Nacken streifte. Er kroch näher an einen heran in so einer Umgebung, in der er nahezu Hand in Hand mit dem Personal der Klinik arbeitete. Manche Fälle übernahmen sie, manche riss er an sich. Ich wollte ihm fern bleiben, so weit wie es nur ging. Doch irgendwie lief ich ihm dennoch entgegen. Ich fröstelte und schlang die Arme um meinen Oberkörper, hielt mich selbst fest. Maja schien mir weit entfernt, wie ein flüchtiges Traumbild, an das ich mich immer weniger erinnern konnte. Ich fragte mich allmählich, was überhaupt real war. Nichts fühlte sich real an. Ich machte zwei unsichere Schritte nach vorne, legte eine Hand an den breiten Metallstreifen quer über der breiten Tür, mit dem man sie aufdrückte. Ich wünschte mich zurück ins Hotel, zwischen meine Taschen. Ich wünschte mich zu Maja. Ich wünschte mich nach Hause. Irgendwohin. Weit weg von hier. Dann stieß ich die Tür auf und trat auf die Station, eingeschüchtert von dem langen Gang, an dem hinter jeder Tür eine andere Krankheit lauerte. Man hatte mir die richtige Zimmernummer gesagt, und dennoch war ich nicht in der Lage, geradewegs loszulaufen. Ich stand dort und war abermals überfordert. Spürte, wie ich schneller atmete. Ich wollte nicht hier sein. Ich hasste Krankenhäuser. Ich wollte nicht, dass meine Mutter hier war. Ich wollte, dass sie in der Küche stand und mich nach der Schule mit einem breiten Lächeln und einem leckeren Essen erwartete, um mich zu fragen, wie mein Tag gewesen war. Ich wollte wieder das Mädchen von damals sein. Und ich wollte dass sie genauso gesund wie damals war. Ich wollte diese Zeit meines Lebens in ein Konservenglas pressen und sichern. Und sie immer bei mir tragen, ganz dicht bei mir. Ich wollte alles zurückdrehen, alles anders machen. Doch das Leben war kein Wunschkonzert. Niemals würde ich in der Lage sein zurück zu gehen. Es ging immer nur voran. Was hatte ich für eine Wahl? Die Schultern zu straffen und weiter zu gehen war das einzige, was ich tun konnte. Der Weg an den Türen vorbei war so unwirklich wie alles hier. Zu lang, nicht lang genug. Ich sah auf die Schildchen, auf die Nummer. Fand das richtige Zimmer. Der Geruch um mich herum drang in meine Lunge ein und ließ sie schmerzen. Ich spürte wie mir das Atmen schwerer fiel, mein Herz raste, ich presste mir die Hand auf die Brust, kniff die Augen zusammen. Ganz ruhig, ganz ruhig. Ich atmete gleichmäßig ein und aus. Der Schmerz ließ nach. Ich wurde etwas ruhiger. Meine Hände zitterten noch immer. Eine Panikattacke, nur eine Panikattacke. Hier stand ich, und ich konnte atmen. Luft strömte gleichmäßig in meine Lungen und wieder hinaus. Alles war gut. Es gab keinen Grund für Panik. Nein, gar keinen. Tränen waren mir in die Augen getreten von der Anstrengung. Ich hasste es, Panikattacken zu haben. Ich hasste es. Und das dumpfe Brodeln der Panik ließ mich nicht los. Ich konnte es zurückdrängen, aber es war da und wartete auf seine Chance wieder Besitz von mir zu ergreifen. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Gestalt näher treten, wandte den Kopf etwas, blinzelte. Ich stolperte zurück, und starrte den Mann vor mir an. Auch sein Blick streifte mich, erkannte mich, fixierte mich. Aus den Tiefen drangen die Emotionen hervor und zeigten sich in seinen braunen Augen. Überraschung, Wut, Enttäuschung, Schmerz, Abneigung und so etwas wie eine leere Freude, das Aufblitzen von etwas, das mein Anblick einmal ausgelöst hatte.Und was nun der Vergangenheit angehörte. Er öffnete den Mund, brachte keinen Ton hervor. Auch in mir wirbelten die Emotionen. Ich wollte ihm nicht näher kommen. Ich senkte den Blick, wagte es nicht, ihn noch anzusehen. Ich fühlte mich wund, verletzlich, und vor allem schuldig. "Sasha", sagte er kalt. "Dich hier zu sehen." Ich ballte meine Hände zu Fäusten, wollte ihm laut antworten, doch ich schaffte es nicht meine Stimme zu erheben. "Es geht um Mutter, oder nicht?", fragte ich leise, doch eigentlich wollte ich ihn fragen, was er von mir erwartete. Dass ich nicht auftauchen würde? Dass ich warten würde bis sie fort war ohne sie auch nur noch einmal gesehen zu haben? Doch ich kannte die Antwort auch so. Er hätte tatsächlich nicht erwartet mich hier zu sehen. Hatte mich auch nur anstanshalber verständigt. Eine knappe Mail, die ich nur wegen ihres Betreffs nicht gelöscht hatte. Alexander schnaubte. "Ja. Selbstverständlich tauchst du erst jetzt auf, wo es schon zu spät ist. Wo warst du als sie dich gebraucht hat? Weißt du, wie oft sie nach dir gefragt hat? Tatjana und ich haben uns die ganze Zeit um sie gekümmert, während du verschwunden warst. " Ich zuckte zusammen, als der Name Tatjana fiel, und entlockte Alexander nur ein weiteres Schnauben. Er machte keinen Hehl aus seiner Wut, und ihm war egal, wie sehr mir das zu Schaffen machte. Teilweise konnte ich ihn ja auch verstehen - ich war diejenige gewesen, die ihr Leben in München verlassen hatte und nach Hamburg geflohen war. Ich war diejenige gewesen, die all die Brücken hinter sich zerstört hatte. Kaum erreichbar, niemals da. Ich hatte nicht auf Briefe und E-Mails reagiert, meine neue Nummer nicht einmal durchgegeben. In seinen Augen hatte ich meine Familie hintergangen. Und ich wusste, dass er nicht einmal Unrecht hatte damit. Ich wusste, dass ich meine Mutter verletzt hatte. Dass ich ihn verletzt hatte. Ich hatte so viele Fehler gemacht, und sie alle zu verlassen war einer davon gewesen. Natürlich hatte Alexander Recht. Natürlich konnte ich das nachvollziehen! Nur wieso war ihm nicht auch nur einmal in den Sinn gekommen dass ich es aus anderen Gründen tat als aus purem Egoismus? Ich wollte nicht allein sein. Aber ich hatte doch keine andere Wahl damals. Ich musste gehen. Irgendwie musste ich mich selbst ja schützen. Und dies schien mir die einzige Alternative, an der ich nicht zerbrechen würde. Doch diese Gedanken behielt ich für mich. Ich war zugleich zu stolz und zu feige Alexander meine wahren Beweggründe zu nennen. Ich nahm es hin, was er sagte, den Kopf gesenkt, die Fäuste geballt. Mein Gesicht brannte vor Scham. "Es tut mir Leid", hörte ich mich sagen. Es tat mir wirklich Leid. Doch mir selbst war klar wie leer diese Worte klingen mussten nach all der Zeit. "Sicher tut es dir jetzt Leid. Das ist das bequemste. Alles, was du tust ist das bequemste für dich! Hast du auch nur einmal daran gedacht was du uns antust in all der Zeit?" Natürlich hatte ich darüber nachgedacht! Ich hatte ja mehr als genug Zeit gehabt dafür. Aber es war einfach gewesen als ... wäre ich in Treibsand geraten. Ich versank, immer weiter, und ich konnte mich nicht befreien, es zog mich einfach nach unten. Und alles, was ich wollte, war nicht zerquetscht und zermamlt zu werden von dem, was mich abwärts zog. "Alexander, bitte - das ist auch für mich nicht leicht." Ich wusste dass ich das falsche gesagt hatte, als ich sah, wie sich auch seine Hände zu Fäusten ballten. Nicht so wie ich, die ich es tat, weil ich unter Druck stand. Alexander hatte das schon immer nur aus Wut gemacht. "Was erwartest du von mir?! Mitleid?! Immer geht es nur um dich. Alles dreht sich um dich! Aber ich sag dir was. Niemand hier braucht dich noch, und niemand hier kümmert sich darum ob du jetzt doch noch angekrochen kommst oder nicht. Ich für meinen Teil kann auf deine Anwesenheit gut verzichten, Schwesterherz." Ich hob den Blick und sah ihn direkt an. Er hatte dieselben Augen wie ich, wie unsere Mutter. "Was willst du von mir? Dass ich gehe? Du glaubst dass Mutter das genauso sieht? Dann bist du hier wohl derjenige, der sie schlecht kennt!" Alexanders Verhalten riss Wunden in mir auf, die ich hatte heilen wollen. Und es machte auch mich wütend. Weshalb nur konnte er nicht verstehen dass alles zwei Seiten hatte? Und dass nicht nur er im Recht war? Wieso fand er es richtig mich einfach abzustempeln? Ohne auch nur einmal nachzufragen woran es liegen konnte? Wir waren in unserer Kindheit unzertrennlich gewesen. Wie konnte er davon ausgehen dass ich keinen guten Grund hatte so etwas zu tun? Wieso musste er noch immer eines draufsetzen? "Du hast kein Recht davon zu sprechen wer sie besser kennt! Sie hat sich verändert! Die Krankheit hat sie verändert! Aber ich fürchte du liegst richtig damit, dass sie dich sehen will. Sie hat dich viel zu sehr vermisst um dich jetzt wegzuschicken. Aber wenn du schon so fragst - ja, ich will, dass du verschwindest. Es war nicht leicht dich aus meinem Leben zu streichen. Aber du wolltest es so. Und ich habe absolut keine Lust dir jetzt wieder einen Platz darin zu geben." Ich sah ihn an, und er blickte einfach zurück, seine Augen ausdruckslos, doch ich kannte ihn zu gut, um den Schmerz darin nicht zu sehen.Mir war klar gewesen, dass ich ihn verletzt hatte. Ich hatte es immer gewusst. Aber mir war nicht klar gewesen dass ich ihn damit ganz verloren hatte. Das hatte ich nie so gewollt. Es war ein Fehler gewesen, ja. Aber ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht anders. Und damals hätte ich nicht damit gerechnet, dass ich meinen Bruder verlieren würde. Endgültig verlieren würde. Die Erkenntnis fühlte sich an wie eine Ohrfeige, die mich zur Seite riss, aber deren Schmerz ich noch nicht spüren konnte. Irgendwie war alles taub. "Ich verstehe das", hörte ich mich sagen, dabei wollte ich ihn eigentlich nur anschreien und meine Fäuste auf seine Brust trommeln wie früher, wenn er eine Puppe von mir hoch über seinen Kopf gehalten hatte und ich sie zurück haben wollte. Oder mich an ihn krallen, wie in den langen Gewitternächten. Ich wollte meinen Bruder, den Bruder von damals, der das Mädchen von damals beschützte, wenn die Zukunft sie ängstigte. Doch mir blieb nichts anderes übrig, als weiter zu reden. Irgendwie alles nicht noch schlimmer zu machen. "Ich verstehe es wirklich, aber bitte lass unsere Differenzen keine Auswirkung auf die Sache mit Mutter haben. Das würde ich nicht ertragen. Es ist doch schon schlimm genug, oder nicht?" Ich sah wie Alexander die Schultern hängen ließ, seine Hände sich entspannten. Plötzlich fiel mir auf wie müde er wirkte. Mir wurde endlich bewusst, dass er all die Zeit für sie da gewesen war, dann, als ich es nicht war. Wie sehr das an ihm gezehrt haben musste, und dass auch seine Welt sich kippte, fern von allem, was zwischen uns stand. Es ging um unsere Mutter, es ging um die wichtigste Frau in unserem Leben. Nicht nur um Schuld der Verganenheit, auch wenn es schwierig war, diese Kapitel hinter sich zu lassen. Als würde man die Ketten ignorieren wollen, die einen am Boden fesselten. Es tat mir Leid, es tat mir so unendlich Leid, dass nicht ich diejenige gewesen war, die bei Mutter gewesen war. Dass ich so lange gewartet hatte. Jetzt war es zu spät für Wiedergutmachung - für mich gab es nur noch einen Abschied. Jetzt konnte ich mich nur noch meinen Fehlern stellen. Alexander atmete tief ein uns aus. Er sah mich nicht direkt an, als er sprach. "Sie wird sterben. Nur deswegen habe ich mich überhaupt bei dir gemeldet. Die Ärzte haben uns gewarnt, dass wir uns von ihr verabschieden sollten. Sie wird nicht mehr lange durchhalten." Es noch einmal zu hören, endgültig, war wie ein zweiter Faustschlag. Ich taumelte abermals, drohte vielleicht zu fallen, aber der Schmerz war nicht da, alles taub, alles war taub. Stumm. Erdrückend. Ich verharrte regungslos, das Herz pochte in meiner Brust, heftig, schnell. Ich war nicht bereit für so etwas. Die Panik in mir kämpfte sich wieder nach oben, ich versuchte, sie zu unterdrücken, versuchte, durchzuhalten, etwas zu tun, irgendetwas, aber ich war völlig überfordert mit der Situation. "Was jetzt?", fragte ich meinen großen Bruder leise, und fühlte mich wie das Mädchen von früher in einem Gewittersturm. Doch Alexander schüttelte nur den Kopf, machte einen halben Schritt zurück. "Das ist nicht meine Sache, Sasha. Es ist mir egal, was du tust. Aber mach nicht alles noch schlimmer als es ohnehin schon ist. Du hast nicht nur mich und Mutter verletzt, ich hoffe du weißt das. Was hat Tatjana dir getan, dass du sie so behandeln musstest?" Abermals zuckte ich zusammen. Tatjana. Wieso musste er jetzt sie mit ins Spiel bringen, wenn ich ohnehin schon zu zersplittern drohte unter dem Druck, der auf meinem Herzen lastete?! Wieso musste er jetzt alles noch schlimmer machen?! Ic "Sie ist schwanger, Sasha. Wir bekommen ein Baby. Du wirst Tante. Aber auch das vergönnst du uns nicht, oder?" Ich schnappte nach Luft. Es tat weh. Alles. Es tat so weh. Meine Lungen zogen sich zusammen, ich erstickte, ich drohte zu ersticken, und gegen den Druck hörte ich mich schreien. "Sei still! Ich will kein Wort hören davon!" Ich wirbelte herum, floh, noch bevor ich es wirklich realisierte war ich schon unterwegs. Rang nach Atem. Ich musste hier weg. Rennen, rennen, weit weg, irgendwohin, irgendwohin wo Alexander mein Bruder war, meine Mutter in der Küche stand, und wo Tatjana nicht existierte. "Dann geh doch!", schrie Alexander mir nach. "Hau doch ab, verdammt! So wie du es immer tust!" Der Schmerz in seiner Stimme vervielfachte meine Schuldgefühle nur noch. Doch in einem Punkt musste ich ihm auf jeden Fall recht geben. Gerade ging es mir nur um mich, nicht um seinen Schmerz. Ich versuchte mich selbst zu schützen, ohne auf ihn zu achten. So wie du es immer tust, hämmerte seine Stimme in meinem Kopf. Ich stolperte, fiel vornüber auf den Boden, war irgendwo im Krankenhaus, irgendwo, wo sich jemand zu mir herabbeugte und fragte, ob alles in Ordnung war. Ich starrte die Frau nur an, schüttelte den Kopf, nichts war in Ordnung. Und dann ging ich einfach weiter, irgendwie. Die Luft um mich herum erstickte mich. Ich musste nach draußen. Ich brauchte Luft, richtige Luft, noch viel länger würde ich es hier drin nicht aushalten. Als ich nach draußen stolperte kamen die Tränen. Und ohne darüber nachzudenken, als wäre es eine ganz natürliche Reaktion, die einzig logische, die es geben konnte, griff ich nach meinem Handy und fischte Majas Nummer aus der Tasche. Meine Finger wählten sie, ich brauchte mehrere Anläufe, während ich schon davon stolperte. Weg. Nur weg, weg, weg von diesem Ort. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)