Farbenblind von Scribble ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Tränen ruhten tief in mir, wie in einem fossilen Grundwasserreservoir, unangetastet. Es schien viel mehr mein Herz stumm zu weinen, oder einfach nur stumm zu sein. Aber natürlich war es das nicht wirklich. Es schlug in meiner Brust und hielt mich am Leben. Es brachte mich weiter, irgendwie. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt. Der Schmerz in mir gedämpft. Irgendwie wusste ich, dass dies nur der Anfang war. Dass ich jetzt noch nichts begriffen hatte. Dass mein Schock ein Segen war, der mich in Watte hüllte, und die drohende Erkenntnis dämpfte, dass ich nicht mehr davonlaufen konnte. Und die mein spuckendes, speiendes Gewissen auf Abstand hielt. Heute morgen war mein Problem ein falsch zubereiteter Kaffee bei Starbucks gewesen. Jetzt fragte ich mich, was das für eine Frau gewesen war, weil sie mir wie eine Fremde erschien. Ihre Probleme waren nicht länger meine Probleme. Ein Anruf, und die Welt kippte unaufhaltsam. Und während alles um mich herum zu Boden splitterte, versuchte ich mich an irgendetwas festzuhalten. Doch alles, was ich hatte, war meine Handtasche. Eine Handtasche, die mich vor den Scherben meiner Welt und den Schatten schützen sollte, vor denen ich immer geflohen war. War es ein Wunder, dass die Unsicherheit mich ängstigte, die alles zu dominieren schien? Ich versuchte irgendeinen meiner wirren Gedanken zu sortieren und zu greifen, aber ich wusste ja nicht einmal, was ich überhaupt fühlte. Nicht genau. Es war schier unmöglich, ich konnte aus diesem festen Knoten von Gefühlen nicht einfach eines herausziehen und benennen. Es waren zu viele, Angst und Ungläubigkeit, Trauer und auch so etwas wie Wut ... und all das schien wie ein schwarzes Loch zu funktionieren, das meine Gedanken einsaugte, oder sie zumindest unnütz machte. Sie hatten keinerlei Bedeutung. Doch was schien schon noch Bedeutung zu haben? Ich starrte einfach nach draußen und rührte mich nicht. Wenn ich mich nicht bewegte, existierte ich nicht. Wenn ich nicht existierte, existierten auch meine Probleme nicht. Dann war all das nicht wahr. Ganz einfach und logisch. Wenn ich es ignorierte, wie konnte es dann mein Leben beeinflussen? „Entschuldigen Sie! Die Fahrkarte!“ Ich blinzelte, als die Stimme durch meine Watte drang, wie ein Messer schnitt sie hinein und piekste mein wundes Herz, nur leicht, ganz wenig, aber es reichte, um den Knoten in mir wuchern zu lassen, um ihn an Bedeutung gewinnen zu lassen. Ich versuchte mich an die Gleichgültigkeit zu klammern, eine Garantie für meine emotionale Gesundheit. „Die Fahrkarte!“ Das Messer zerstörte mehr von meiner äußeren Hülle, dieser Watte, und zwang mich dazu, meine Existenz anzuerkennen. Und die Existenz einer Realität, die mein selbst aufgebautes Leben bedrohte. Ich wandte den Kopf, und brauchte kurz, um den Mann vor mir scharf zu sehen. Die rötlichen Bartstoppeln an seinen Wangen fesselten meinen Blick und brannten sich in mein Gedächtnis, es war, als wäre er nur auf dieses Attribut reduziert. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. „Geben Sie mir bitte Ihre Fahrkarte“, presste er zwischen den Zähnen hervor, und ich sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung, die eine unbestimmte Panik in mir auslöste. Er hatte seine Hand ausgestreckt, was mir wie eine Drohung vorkam, nicht wie eine Aufforderung. Er machte mir Angst. Alles machte mir Angst. „W-wie bitte?“, stammelte ich und rutschte automatisch etwas weiter zurück, um zumindest ein wenig mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Er wollte irgendetwas, und er war genervt, wohl sogar wütend. Nichts, womit ich heute umgehen konnte. Nicht jetzt. Nicht hier. Er sollte einfach gehen und mich zufrieden lassen. „Hören Sie, ich habe jeden Monat mindestens zehn von ihrer Sorte hier sitzen. Stellen Sie sich nicht dümmer als sie sind. Das hier ist ein Zug, für einen Zug braucht man einen Fahrschein. Entweder haben Sie den, oder nicht, und zahlen dafür Strafe. Ist nicht mein Problem, ist Ihres. Aber machen Sie es bitte nicht schwerer als es ist und hören Sie auf mit diesem Schmierentheater.“ Ich starrte ihn an, irgendwie waren all seine Worte an mir vorbei geplätschtert wie ein kleiner Bach, der sich an meinem Schädel in zwei kleine Ströme teilte, ihn umfloss, und danach wieder als ein Strom von dannen zog, weit weg, irgendwohin, wo ich ihn nicht erfassen konnte. Wo ich ihn nicht einmal erfassen wollte. Wieso sollte ich es überhaupt wollen? Nicht einmal meine eigenen Gedanken konnten meinen Kopf füllen. Wie also sollten es die anderer tun? „Sind Sie taub?! Mir reicht es jetzt langsam mit Ihnen!“ Er war mir zu laut, viel zu laut. Ich schloss die Augen und hoffte, dass er fort war, wenn ich sie wieder öffnete. Wenn ich mich weg wünschte, würde dann all das hier verschwinden? Wenn ich es mir nur fest genug wünschte? „Entschuldigen Sie bitte, hier liegt wohl ein Missverständnis vor.“ Eine Stimme erhob sich glasklar über das undeutliche Rauschen, das mit der Watte einher ging. Ganz nahe bei mir. Ich öffnete blinzelnd die Augen. „Ich hatte Kopfhörer auf, deswegen habe ich Sie erst gehört, als Sie schon - sagen wir, laut genug waren. Sie fährt bei mir mit, wir haben ein Bayern Ticket.“ Die klangvolle Stimme liess mich nicht los. Sie war so viel leiser als die Stimme des Mannes, aber trotzdem fand sie ihren Weg zu meinen Ohren viel müheloser, und hielt mich zurück, hielt mich davon ab, zurück in die graue, schmutzige Watte zu sinken, die mich gleichzeitig schützte und erstickte. Es war eine Frau mir gegenüber. Sie war mir gar nicht aufgefallen. Sie hatte vorher nicht existiert. Nichts hatte existiert, bevor mich dieser Mann dazu gezwungen hatte, Dinge existieren zu lassen. „Zeigen Sie mal her. Was zur Hölle ist denn mit der los?“ Die Stimme, die mich hielt, wurde leiser, dunkler, duckte sich wie eine Raubkatze bereit zum Sprung. „Halten Sie sich etwas zurück, ja?“ Der Mann grummelte irgendetwas, dann ging er weiter. Ich spürte, wie es in mir brannte, nicht wegen irgendwelcher Worte, sondern weil die Realität mich ein Stück weit zurück hatte. Und das war genug, um den Schmerz real werden zu lassen. Der Knoten in mir schien übermächtig zu werden, sich aufzubäumen, und nach meinem Hals zu greifen, um sich um ihn zu schließen, um mich zu ersticken. Das Chaos in mir schien entfesselt zu werden. Die Frau gegenüber stand auf, mit einer schnellen Bewegung, so geschmeidig wie ihre Stimme, ließ sie sich auf den Platz neben mir sinken. Die schnelle Bewegung hatte so etwas wie meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich starrte sie stumm an, die Augen aufgerissen. Was wollte sie? Ich wusste nicht, wie mir geschah, als sie mich an sich zog und fest die Arme um mich legte. Ich versteifte mich augenblicklich, und plötzlich fiel mir auf, wie sehr meine Finger schmerzten. Reflexartig lockerte ich den Griff um meine Tasche, die schon knitterte davon, wie sehr ich mich in den Stoff krallte. Hatte ich die ganze Zeit so dagesessen? Ich wagte es, einzuatmen, und als der blumige Duft der Frau mir in die Nase stieg, da fühlte es sich an, als würde irgendeine Barriere in mir aufbrechen. Ich schnappte nach Luft, warf mich förmlich in das süsse Versprechen von Sicherheit und schmiegte mich in die feste Umarmung, die mir das Einzige erschien, was meine Welt noch zusammen hielt. Zitternd bettete ich den Kopf in der Halsbeuge der fremden Frau. Sie sagte kein Wort, ich hörte nur ihren Atem und spürte, wie er meinen Hals streifte. Ich sank nicht zurück in die Watte, nicht völlig. Stattdessen nahm ich so viele kleine Empfindungen wahr, die die Präsenz der Frau mit sich brachte, und dennoch - ihr betörender Duft und die Kraft und Sicherheit ihrer Umarmung ließen den Knoten schrumpfen. Unwichtiger werden. Legten das völlige Chaos. Schützten mich. Ich fühlte mich sicher. Reglos saßen wir da, nur ihr Daumen strich mir sanft über den Rücken. Und auch wenn ich darauf wartete, dass es sich verflüchtigte, das Gefühl blieb. Als würde die Welt nicht auseinanderbrechen. Als würde es weitergehen. „Es wird alles gut.“ Sie flüsterte es mir ins Ohr, Worte nur für mich, für niemandem sonst. Wieso glaubte ich ihr? Ich wollte ihr nicht glauben. Es war nicht die Wahrheit. Und wenn sie es noch so oft sagen würde, es stimmte ja doch nicht, denn wie sollte es je wieder gut werden? Was sollte gut werden? Mir entrang sich ein trockenes Schluchzen, völlig ohne Tränen. Ich konnte nicht weinen. Nicht richtig. Nicht wirklich. Nur mein Atem schien die Trauer nach außen transportieren zu können, und immer mehr Schluchzer kämpften sich ihren Weg nach draußen. Fast gewaltsam wurde mein Körper geschüttelt. Ganz ohne Tränen. Ich kam mir vor als würde ich lügen. Doch ich konnte nichts dagegen tun. Die Fremde zog mich noch näher an sich, legte eine Hand an meinen Hinterkopf. Ihre Geräusche irritierten mich. Sie drangen erst nur vereinzelt an mein Ohr, und als ich ihnen Beachtung schenkt, da setzten sie sich zu einer kleinen Melodie zusammen, verbanden sich zu einem Lied, das sie summte. Und es schien seinen Weg nicht in meine Ohren zu finden, sondern direkt in mein Herz. Es schien der Grund, mein Herz schlagen zu lassen. Wieso erschien es mir so voller Sinn hier zu sein? Was brachte mich dazu ihr zu vertrauen? Die Frau wiegte mich sanft in ihren Armen, als sei ich ein Kind, und ich wurde ruhiger. "Ich bin bei dir", sprach sie. Wieso erschien mir dies genug um das hier zu überstehen? Ich ließ mich von ihr halten, von ihren süßen Worten tragen. "Danke", wisperte ich an ihre Haut. Ich hatte das Gefühl, dass sie lächelte, als sie als Antwort ihre Stirn an meinen Kopf lehnte, ganz sanft, eine zarte, kaum merkliche Berührung. Ich atmete ruhig, in einem gleichmäßigen Rhythmus, ein und aus. Lauschte ihren Atemzügen. Das Wort Geborgenheit kam mir in den Sinn. Es beschrieb am Besten, was ich gerade fühlte. "Danke mir nicht, Wintermädchen." Sie verwirrte mich. Wieso nannte sie mich so? Ihre Stimme hatte einen weichen, schmeichelnden Klang, als wäre es ein liebevoller Kosename. Doch er gefiel mir nicht - seine Bedeutung gefiel mir nicht. Es klang so kalt. "Ich ... ich bin Sasha", hörte ich mich sagen. "Sasha", wiederholte sie, und es klang wie ein Kompliment. "Ich bin Maja. Bitte, sag mir, wohin gehst du?" Es brachte die Realität zurück. Wenn ich ihr sagte, wohin ich ging, dann würde es wahr werden. Und dann würde der Moment kommen, in dem ich aus ihrer Umarmung in das Krankenhaus stolpern würde. Und mich dort allem stellen musste. Ich wollte nicht allein sein. Ich wollte ihnen nicht begegnen. Ich wollte meine Mutter nicht verlieren. Ich wollte nichts davon. Doch niemand ließ mir eine Wahl. "Ich ... ich muss nach München, ins Krankenhaus ..." Sie lockerte den Griff um mich, und plötzlich Panik ergiff mich. Maja schob mich etwas von sich, strich mir die Strähnen aus dem Gesicht und nahm es in beide Hände. Ich starrte in ihre Augen wie betäubt. Ich fürchtete, dass sie mich loslassen würde. Doch sie tat es nicht. "Ich kann dich jetzt nicht begleiten, aber sorge dich nicht, Sasha. Ich werde für dich da sein." Die Gegenwart schien sich auszudehnen. Genug, um die Zukunft bedeutungslos erscheinen zu lassen. Ich verlor mich in blau, dann verschwamm es, und während mir die Tränen aus den Augen kullerten, zog Maja mich wieder an sich, wiegte mich in ihren Armen. Hielt mich mit ihren Versprechen und leise gesummten Melodien, die den Knoten in mir klein hielten, fast schon bedeutungslos. Eine Bedrohung, der ich mich jetzt nicht stellen musste, auch wenn ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Für nun fühlte ich mich geborgen und sicher in Majas Armen. Doch irgendwann kam der Moment, in dem ich mich von ihr lösen musste. Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof ein. Maja ließ mich los, sie holte ein Notizbuch aus der Tasche, schrieb sorgsam ihre Nummer auf eine Seite und trennte sie vorsichtig heraus. "Bitte, ruf mich an. Wann immer du möchtest. Ich möchte dir helfen. Ich werde an deiner Seite sein." Sie schob mir den säuberlich gefalteten Zettel in die Hand, und schloss sie mit ihrer eigenen. Ich fragte mich, womit ich jemanden wie sie verdient hatte. Weshalb half sie mir? Weshalb war sie so bemüht um mich? Ich war ja nicht das Opfer in dieser Misere - eher der Täter. Aber das wusste sie noch nicht. Maja sah nur meine Oberfläche. Sie wusste nicht, wen sie da Wintermädchen nannte und gleichzeitig mit ihrer Umarmung wärmte. "Danke", flüsterte ich. Mehr brachte ich nicht heraus. Der Zug hielt. Um uns herum setzten die Menschen sich auf, nahmen ihre Taschen und bildeten einen Strom zu den Türen. Ich wollte nicht gehen. Ich wollte nicht fort von Maja. Doch ich musste. Wir beide mussten aufstehen. Zur Tür gingen wir gemeinsam, sie hielt meine Hand, die Hand, die ich um die Nummer geschlossen hatte. Am Bahnsteig nahm sich mich noch einmal in den Arm. "Alles wird gut.", sagte sie und in ihrem Lächeln suchte ich nach Wahrheit, obwohl ich längst wusste, dass ich ihr glaubte. Noch immer war ich unfähig ihr zu antworten. Ich stand nur da und sah ihr nach, wie sie langsam in der Menge verschwand und davonging. Auf halbem Weg drehte sie sich um, sie winkte. Meine Hand hob sich wie von allein zu einem Abschiedsgruß. Dann blieb ich allein zurück. Ich brauchte kurz, um mich in Bewegung zu setzen. Ich musste zu den U-Bahn-Stationen. Doch mit jedem Schritt in diese Richtung begann der Knoten in mir an Bedeutung zu gewinnen. Alles in mir sträubte sich, und doch ging ich einfach weiter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)