Das Monster von Sky- (BB vs. Jeff the Killer) ================================================================================ Kapitel 1: Schönes Gesicht -------------------------- Spät in der Nacht wachte Jeffs Mutter auf, als sie ein Geräusch hörte, das aus dem Badezimmer zu kommen schien. Es klang merkwürdig, als würde jemand weinen oder so. Vorsichtig näherte sie sich dem Badezimmer und diesem Geräusch, um zu sehen, was da eigentlich war. Als sie die Tür öffnete und hineinschaute, sah sie etwas Grauenerregendes: Jeff hatte sich ein Messer genommen und sich damit ein blutiges Lächeln in die Wangen geschnitten. „Jeff! Was machst du da?“ fragte seine Mutter entsetzt und wich einen Schritt zurück, konnte nicht glauben was sie da sah. Ihr Sohn starrte sie an. „Ich konnte nicht länger lächeln, Mommy. Es hat irgendwann sehr wehgetan. Aber jetzt kann ich für immer lächeln!“ Jeffs Mutter war erstarrt und sah seine Augen. Sie waren schwarz umrandet. „Jeff… deine… deine Augen…“ Diese weit aufgerissenen Augen schienen sich nie zu schließen. „Ich konnte mein Gesicht nicht sehen. Ich… wurde müde und meine Augen fingen an, sich zu schließen. Deswegen habe ich meine Augenlider verbrannt, sodass ich mich für immer sehen kann… mein schönes neues Gesicht.“ Angst überkam seine Mutter, als sie erkannte, dass ihr Sohn wahnsinnig geworden war. Nein… das da konnte gar nicht ihr Sohn Jeff sein. Das da war ein Monster! Sie wich noch weiter zurück, ihre Beine zitterten und drohten jeden Moment nachzugeben. „Was ist los, Mommy? Bin ich nicht wunderschön?“ „J-ja mein Schatz“, brachte sie mit zitternder Stimme hervor. „Das bist du. Lass mich nur kurz deinen Vater holen, damit er auch dein Gesicht sehen kann.“ Hastig eilte sie ins Schlafzimmer, stolperte fast und rüttelte ihren Mann heftig durch, um ihn zu wecken. „Schatz, wach auf. Wach auf!“ Nur langsam reagierte er, wälzte sich aber brummig auf die andere Seite, um weiterzuschlafen. „Schatz, wach auf! Hol schnell das Gewehr, wir müssen….“ Doch sie stoppte, als sie Jeff an der Türschwelle stehen sah. Er hielt noch das blutige Messer in der Hand und starrte sie mit seinen nun unmenschlich wirkenden Augen an. Sein Grinsen wirkte noch unheimlicher, da die Augen nun wutverzerrt waren. „Du hast gelogen, Mommy.“ Das war das Letzte, was sie von Jeff hörten, als er auf sie zurannte und mit dem Messer auf beide einstach. Er stieß es in den Unterleib seiner Mutter und zog einen tiefen Schnitt hoch bis zum Brustkorb, dann fiel er über seinen Vater her. Das Blut wirkte in dieser Vollmondnacht rabenschwarz und als seine Eltern tot waren, begann er sie auszuweiden. Sein Bruder Liu wachte auf, als er von irgendwelchen Geräuschen erschreckt wurde. Er horchte kurz, hörte aber rein gar nichts und so schloss er wieder die Augen und versuchte, wieder einzuschlafen. Doch er konnte nicht so richtig schlafen, denn er hatte ein seltsames Gefühl. So eines, das man hatte, wenn man beobachtet wurde oder so. Langsam sah er auf und in dem Moment packte Jeffs Hand ihn am Kiefer und drückte seinen Mund zu. Langsam erhob er das Messer, um es jeden Moment in den Körper seines Bruders zu stoßen. Verzweifelt versuchte Liu zu schreien oder sich zu befreien, aber Jeff besaß Bärenkräfte. „Shhhhhh“, flüsterte Jeff und führte das Messer immer näher an seinen Körper. „Geh einfach schlafen…“ Kapitel 2: Tatort ----------------- Es war bereits die dritte Familie innerhalb eines Monats und sie alle sahen gleichsam schlimm zugerichtet aus. Ebenso wie die vorigen beiden Familien, die getötet wurden. Naomi Misora hatte schon so einiges gesehen, aber all das Blut, die am Boden liegenden Gedärme und dieser furchtbare Leichengeruch waren zu viel für sie. Die Kollegen von der Spurensicherung machte gerade Fotos vom Tatort, aber auch denen war alles andere als wohl zumute. „Wer zum Teufel macht nur so etwas?“ murmelte Kazan, der an Rayes Stelle als ihr Partner in diesem Fall war und bei dem Anblick, dem sich ihm bot, den Kopf schüttelte. In seiner ganzen Zeit beim FBI hatte er so einiges erlebt, aber das hier war wirklich grauenhaft. Die Familie Bloom, bestehend aus beiden Eltern und drei Kindern, waren in ihren Betten ermordet worden, wahrscheinlich während sie geschlafen hatten. Der Mörder hatte sie mit dem Messer aufgeschlitzt, die Organe herausgerissen und auf den Boden geworfen wie Abfall. Danach hatte er ihnen die Köpfe abgetrennt und sie im Wohnzimmer so aufgereiht, dass man vom jeden Blickwinkel des Zimmers aus in ihre Augen sehen konnte. Nachdem sie enthauptet worden waren, hatte der Mörder ihnen die Augenlider herausgeschnitten und ihnen die Wangen aufgeschlitzt, um sie lächelnd zu machen. Dieses schauderhafte Bild, das sich dem FBI bot, erschien wie aus einem Horrorfilm. Die Kinder waren zwischen 6 und 14 Jahre alt gewesen. Selbst vor noch jüngeren Kindern schreckte er nicht zurück und griff immer nur nachts an, wenn alles schlief. Das brachte ihm einige fragwürdige Titel ein. Angefangen von „Der Sandmann“ über „Grinning Death“, bis hin zum „Nachtschlächter“. Aber nichts schien wirklich zu beschreiben, was dieses Monster verkörperte, das diese Morde beging. Da man noch nicht den Namen des Täters hatte, beschränkte man sich beim FBI auf die Bezeichnung „Grinface“. Inzwischen nannte ihn auch die Zeitung so und wenn man von Opfern hörte, deren Wangen aufgeschlitzt waren, wusste man sofort, dass das Grinfaces Werk war. Grinface wurde von den Profilern als männlicher Weißer eingeschätzt, nicht älter als 27 Jahre. Augenzeugen, die ihn gesehen haben könnten, gab es nicht. Auch was Spuren anging, war er sorgfältig. Ein Amateur war das auf keinen Fall. „Was will der Mörder uns wohl damit sagen? Warum hat er die Köpfe so aufgereiht?“ fragte Naomi und verschränkte dabei nachdenklich die Arme, während sie sich die grinsenden Kinderköpfe ansah. „Was hat er sich wohl dabei gedacht?“ „Tja, wenn wir das wüssten, wären wir einen ganzen Schritt weiter. Unser Mörder ist wahrscheinlich kein Unbekannter. Wir suchen zwar nach einem Mörder, der vielleicht schon bekannt ist und durch eine ähnlich grausame Vorgehensweise aufgefallen ist, aber bislang haben wir noch keine Ergebnisse. Die Kollegen suchen immer noch.“ Naomi ging in die Kinderzimmer, um sich dort umzusehen. Das Zimmer der kleinen Lacie war ein rosarot-weißes Zimmer mit Plüschponys, Barbiepuppen und glitzernden Spielsachen. Das Bett war weiß, die Bettdecke zeigte eine Vielzahl von Feen, die mit Zauberstäben in der Hand fröhlich umherflogen. Umso bizarrer wirkten das Blut an der Wand und auf dem Bett, sowie die herausgerissenen Organe auf dem Teppich. Naomis Magen drohte zu rebellieren und sie entschied sich vehement dagegen, sich dieses Bild noch weiter anzutun, oder sich noch weiter diesem grausigen Fund zu nähern. Lacies Körper lag im Bett, die Beine waren noch zugedeckt. Außer den tiefen Messerschnitten und dem fehlenden Köpfen hatten die Opfer keine anderen Verletzungen. Kein Wunder, denn der Mörder nutzte den Überraschungsmoment, um sie zu töten. Meistens bekamen die Opfer dann keine Chance zu reagieren, oder sich zu wehren. Einbruchsspuren gab es kaum welche. Der Mörder brach durchs Fenster ein und er suchte sich seine Opfer anscheinend völlig wahllos aus, oder man hatte sein Prinzip noch nicht durchschaut. „Ich wette, dahinter steckt dieser BB-Mörder“, murmelte einer von der Spurensicherung, der gerade dabei war, die enthauptete Leiche des ältesten Sohnes zu fotografieren. „Nur der ist zu solch einer Grausamkeit imstande.“ „Ich glaube kaum, dass er etwas damit zu tun hat“, widersprach Naomi überzeugt. „Das hier passt doch gar nicht in sein bisheriges Vorgehen. Er tötet immer einzelne Personen auf unterschiedliche Art und Weise. Zudem reinigt er jeden Tatort vollständig, sodass wirklich nirgendwo auch nur ein einziger Fingerabdruck zurückbleibt. Außerdem…“ Außerdem sitzt er im Gefängnis, wollte Naomi Misora eigentlich sagen, aber sie sprach diesen Satz nicht zu Ende. Ihr fiel nämlich wieder ein, dass Beyond Birthday aufgrund eines Justizfehlers laufen gelassen werden musste. Sie betrat nun das Badezimmer und sah, dass der Spiegel zerschlagen war, als hätte jemand mit einem stumpfen Gegenstand darauf geschlagen. Mit Blut hatte der Mörder dann einen Smiley auf den Spiegel gemalt und „Go to Sleep!“ geschrieben, was übersetzt „Schlaf ein“ oder „Geh schlafen“ bedeutete. Diese Botschaft hatte Grinface auch beim ersten und zweiten Tatort hinterlassen, aber bis jetzt konnte sich niemand einen Reim darauf machen, was das zu bedeuten hatte. Vielleicht hatte dieser Satz ja auch keine tiefere Bedeutung. Naomi ging dann in die Küche und sah dort das offen stehende Fenster. „Offenbar ist er durchs Fenster gekommen. Er hat ein Loch hineingeschnitten, es geöffnet und ist so eingestiegen. Nicht das geringste Geräusch hat er dabei gemacht.“ „Beim ersten Mal ist er durch die Terrassentür eingestiegen. Dabei hat er die Scheibe mit Klebeband abgeklebt und sie dann zerbrochen, ohne dass es ein Geräusch gab. Nachher hat er das Klebeband verbrannt, um Fingerabdrücke zu beseitigen“ rief Kazan, der seinerseits die Zimmer der Söhne untersuchte. „Offenbar wird er mit jedem Mord sorgfältiger. Zu Beginn hat er zwar darauf geachtet, beim Einbruch keine Geräusche zu machen, aber er ist ziemlich grob zu Werke gegangen. Die Morde selbst haben alle das gleiche Bild, aber was den Einbruch angeht, ist er noch dabei, seine Methoden zu verfeinern. Das Töten scheint ihm wohl mehr zu liegen.“ Naomi sah sich das Fenster näher an und begann, nach Spuren zu suchen. Was sie noch herausgefunden hatten war, dass der Mörder nie durchs Fenster wieder hinauskletterte, sondern meist die Hintertür oder die Vordertür benutzte. „Warum macht er sich die Mühe und bricht extra durchs Fenster ein, wenn er sowieso durch die Tür wieder geht?“ „Wahrscheinlich weil, wie du bereits gesagt hast, ihm das Töten mehr liegt, als das Einbrechen. Kann sein, dass er das mit dem Fenster als einfachste Methode ansieht. Er legt eben nicht sehr viel Wert darauf, es sich unnötig kompliziert zu machen.“ Kazan hatte die Zimmer inspiziert, allerdings ohne, dass sich eine Spur finden ließ. Doch dafür fand Naomi etwas Interessantes: Ein Haar, ein langes schwarzes Haar. Vorsichtig holte sie Beweistüte und Pinzette und stellte das Beweisstück sicher. „Sag mal, hat einer aus der Familie so ein langes schwarzes Haar?“ „Nein, sie sind alle blond.“ „Oh, dann hat unser Täter wohl etwas übersehen. Das schicken wir sofort zum Labor, die sollen sich das mal näher ansehen.“ Ein schwarzes Haar… Ob es wirklich Beyond Birthday gehörte, wie alle ihre Kollegen dachten? Oder lag sie richtig und der BB-Mörder hatte rein gar nichts mit dem Fall zu tun? „Ach Naomi, könntest du mal kurz mitkommen? Da gibt es etwas, das du sehen musst.“ Neugierig, was ihr Freund und Partner zeigen wollte, folgte sie ihm ins elterliche Schlafzimmer, wo sich die restlichen zwei Leichen befanden. Hier stank es sogar noch schlimmer als in den Kinderzimmern. Kazan ging auf den Leichnam der Mutter zu und hob ihren Arm hoch. Dort waren Bissspuren zu sehen und sie waren ziemlich tief. „Ich bin kein Experte, aber so wie das aussieht, hat etwas mit ziemlich spitzen Zähnen Fleischstücke herausgebissen. Vielleicht ein Tier.“ „Nein, das sieht mir mehr nach einem menschlichen Gebiss aus.“ „Willst du etwa damit sagen, dass Grinface ein Kannibale ist?“ „Was denkst du?“ „Eher, er spukt sie sofort wieder aus. Ziemlich dumm, so kommen wir doch viel einfacher an Speichelproben.“ „Das Problem ist nur, dass er es auf den Organhaufen geworfen hat, weswegen der Speichel sich mit dem Blut des Opfers vermischt hat und somit verloren ist. Und außerdem finde ich noch das hier interessant.“ Kazan deutete auf die Brust des Opfers, wo vier lange Schnitte zu sehen waren, die aber mehr nach tiefen Kratzern als nach Messerschnitten aussahen. Naomi sah sich das näher an. Diese Kratzer waren wirklich tief, als wären es Krallen. „Das sieht wirklich fast nach einem Tier aus. Oder aber wir haben Besuch von Wolverine.“ „Nein, eher von Freddy Krueger. Der hatte vier Klingen, Wolverine nur drei. Wenn unser Täter wirklich ein Mensch ist, dann muss er nicht nur Zähne wie ein Raubtier haben, sondern auch Krallen wie eines. Ich will echt nicht wissen, wie unser Grinface aussieht.“ Naomi bekam eine Gänsehaut. Sie verließ das Haus und atmete die frische Luft ein, damit sie nicht noch länger diesem furchtbaren Leichengeruch ausgesetzt war. Trotzdem hing dieser Verwesungsgeruch noch in ihrer Nase. Irgendwie fühlte sie sich schlecht und kam sich schmutzig vor. Kazan kam ebenfalls raus und zündete sich eine Zigarette an. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Naomi froh, dass der Nikotinqualm in ihre Richtung wehte und ihre Klamotten und ihre Haare selbst nach Kippen zu stinken begannen. Das überdeckte wenigstens den Leichengeruch. „Ach Steven, was ist nur in dieser Welt los? Ich habe irgendwie das Gefühl, das mit jedem festgenommenen Mörder die Verbrecher immer grausamer und verrückter werden. Zuerst der BB-Mörder, dann der Puppenmacher von London, der Rattenfänger, der Henker von Boston…. Es wird immer schlimmer.“ „Tja… wenn wir das wüssten, dann könnten wir die Wurzel allen Übels bekämpfen. Aber wir sind auch nur Menschen und können keine Wunder vollbringen. Aber bearbeitet Raye nicht zurzeit den Fall des Rattenfängers?“ „Ja und er ist kaum noch zuhause. Andauernd trifft er sich mit seiner ominösen Informantin. Dabei ist diese selbst kein Unschuldslamm. Sie ist nämlich die Hauptverdächtige, der Henker von Boston zu sein, der ausschließlich Jagd auf Kindermörder und Kinderschänder macht. Sie ist nur auf freiem Fuß, weil wir ihr niemals einen Mord nachweisen konnten.“ „Und was hat sie mit dem Rattenfänger zu tun?“ „Na, der Rattenfänger hat es auf Kinder abgesehen. Die Geschichte besagt, dass der Rattenfänger, nachdem er von den geretteten Dorfleuten hintergangen wurde, mit seiner Musik die Kinder fortgelockt hatte und sie für immer verschwanden. In dem Falle werden ausschließlich Kinder entführt, zu Tode gefoltert und dann irgendwo abgelegt. Das passt unserem Henker überhaupt nicht, denn er hat sich nie an Kindern vergriffen. Nicht einmal, als der kleine Billy Nicholson ihn gesehen hatte. Dumm nur, dass dieser partout nicht mit der Sprache herausrücken will. Aber es ist sowieso demütigend genug, wenn wir uns schon von Schwerverbrechern helfen lassen müssen. Wenn das die Presse erfährt, die zerreißen uns in der Luft und dann sind wir schnell unsere Jobs los.“ Naomi schob sich ein Pfefferminzkaugummi in den Mund und schmeckte den süßfrischen Minzgeschmack auf der Zunge. Trotzdem hatte sie ein flaues Gefühl im Magen und immer noch war ihr schlecht. Kazan blies einen Rauchkringel aus und sah in den bewölkten Himmel. Dabei sah er viel älter aus, als er eigentlich war. Er war um die 38 Jahre alt, hatte aber bereits ergrauendes Haar und einen Dreitagebart. In dem Trenchcoat und mit dem etwas ungepflegten Gesicht wirkte er aber bereits wie ein 55-jähriger. „Aber hast du dir nicht auch im BB-Mordfall von einem Kriminellen helfen lassen?“ „Das ist ganz was anderes“, rief Naomi und drehte sich dabei zu Kazan, wobei sie einen halben Schritt zurückging. „Ich wusste erstens gar nicht, dass er einer war und zweitens hat er mich nur für seine Pläne benutzt, die ich zum Glück verhindern konnte. Und drittens hat er selbst versucht, mich umzubringen.“ „Tja, aber leider musste er aufgrund eines verdammten Justizfehlers laufen gelassen werden. Sadie, unsere Vorgesetzte, ist deswegen immer noch stinkwütend.“ „Ach, die alte Sklaventreiberin ist doch ständig am herumkeifen. Aber auch egal. Ich würde echt gerne wissen, wem dieses Haar gehört.“ „Vielleicht deinem BB-Mörder?“ „Das glaube ich nicht. Er wäre doch nicht so dumm gewesen, Spuren am Tatort zu hinterlassen. Nein, er geht normalerweise nach einem vollkommen anderen Muster vor.“ „Vielleicht hat er seine Vorgehensweise geändert, damit wir genau das glauben.“ Doch Naomi war sich sicher, dass Beyond Birthday damit nichts zu tun hatte, auch wenn das schwarze Haar ein wenig verdächtig wirkte. Aber es gab genug andere Leute in Los Angeles mit langen schwarzen Haaren. Das hatte noch rein gar nichts zu bedeuten. Schließlich traf der Leichentransport ein. Die Toten wurden in die entsprechenden Leichensäcke gelegt und in die Autopsie gebracht. Während man wie in einem Trauerzuge die Toten wegbrachte, nahm Kazan die Zigarette aus dem Munde und senkte wie zum Gedenken den Kopf. Es zeichnete ihn aus, dass der den Toten sehr viel Respekt und Achtung entgegenbrachte. Obwohl er leidenschaftlicher Raucher war, hatte er an einem Tatort, wo ein geisteskranker Feuerteufel eine ganze Wohnsiedlung abgefackelt und dabei mehrere Menschen getötet hatte, nicht ein einziges Mal geraucht und jeden gescholten, der es tun wollte. Da er recht lange dort verbrachte, gab er sich notgedrungen mit Nikotinkaugummis zufrieden. Auch Naomi senkte still den Kopf, als nun die Leichen der Kinder fortgebracht wurden. „Was für ein grausamer Mensch bringt nur Kinder um? Ich werde das nie verstehen.“ Nachdem Kazan seine Zigarette zu Ende geraucht hatte, begannen sie in der Nachbarschaft nachzufragen, um mehr über die Familie herauszufinden. Die Frage „Haben Sie in den letzten Tagen eine verdächtige Person gesehen?“ ging schon fast wie von selbst und wie immer würden sie „Nein, leider nicht“ hören. Aber dann, ganz unverhofft, erzählte die gegenüber wohnende Nachbarin, eine gewisse Mrs. Dickens, sie habe tatsächlich eine merkwürdige Gestalt gesehen. Mrs. Dickens war eine 83-jährige sehr rüstige spitzzüngige Oma mit einer rauen Stimme wie Sofia von den Golden Girls. Sie hatte eine riesige Brille auf der Nase und auch wenn sie bereits ein stolzes Alter innehatte, war sie noch durchaus imstande, sich zur Wehr zu setzen. „Also ich habe tatsächlich eine merkwürdige Person gesehen. Sie schlich immer wieder ums Haus rum und wenn man versuchte sie zu anzusprechen, lief sie davon.“ „Können Sie die Person beschreiben?“ „Der Kerl ging wie der Glöckner von Notre Dame und sah aus wie eine Vogelscheuche. Das Haar war ganz schwarz und zerzaust, vom Körper her war es ein schlanker junger Mann. Seine Augen waren irgendwie merkwürdig und er trug einen weißen Pullover und Jeans. Als ich vom Einkauf zurückkam und ihn sah, fragte ich ihn, was er da eigentlich zu suchen habe. Er sagte mir, er sei ein Privatdetektiv, der verdeckt ermitteln würde. Dabei sah der gar nicht aus wie einer. Eher wie ein ungepflegter Student oder ein Psychopath. Ich wette, der ist für das Blutbad verantwortlich.“ „Warum haben Sie ihn nicht der Polizei gemeldet?“ „Wozu denn? Er hat ja nichts getan. Er kam hin und wieder vorbei, hat irgendetwas vor sich hin gemurmelt und am Daumen geknabbert wie ein Kind. Er kam mir zwar merkwürdig vor, aber ich hätte es doch gesehen, wenn er bewaffnet wäre. Viele Versteckmöglichkeiten hatte er ja nicht. Aber ehrlich gesagt, ich habe ihn für einen harmlosen Spinner gehalten. Nannte sich doch hinterher tatsächlich einen Unprivatdetektiv. Komischer Kauz….“ Das klang nach Beyond Birthday. Das waren eindeutig seine Worte gewesen und auch die Beschreibung passte auf ihn. Naomi sah Kazan fragend an, dann wandte sie sich wieder Mrs. Dickens zu. „Und hat er auch seinen Namen genannt?“ „Nein, aber ich wette darauf, dass der irgendetwas mit diesen Morden zu tun hat.“ „Und wann genau haben Sie ihn gesehen?“ „Zum ersten Mal war das vor genau einer Woche. Dann drei Tage später und schließlich wenige Stunden vor dem Mord.“ Naomi und Kazan bedankten sich bei Mrs. Dickens und verabschiedeten sich. Noch auf der Türschwelle rief sie ihnen nach „Hoffentlich schnappen Sie den Kerl bald. Herumgetrödelt haben Sie ja schon lange genug.“ Nachdem sie sich in der Nachbarschaft umgehört hatten, fuhren sie zurück zur Zentrale. Dort wartete bereits ihre Vorgesetzte, Sadie James auf sie. Sie war noch schlimmer als diese Brenda Leigh Johnson aus der TV Serie „The Closer“. Obwohl sie genauso alt wie Kazan war, hatte ihre schneeweiße Haut noch ihre jugendliche Schönheit bewahrt und sie trug ihr aschblondes Haar stets zu einem Knoten gebunden. Etwas Mysteriöses, Kaltes und zugleich Schönes umgab sie und doch war ihr Charakter alles andere als schön. Sie war eine regelrechte Sklaventreiberin, führte mit strenger Hand das Regime und war unerbittlich. Mit einem verärgerten Ausdruck im Gesicht kam sie auf die beiden zu, mit einer zusammengefalteten Zeitung in der Hand. „Kazan, Misora! Sehen Sie sich diesen Schund an uns sagen Sie mir, was Sie davon halten!!!“ Es stellte sich heraus, dass es einen Artikel enthielt, der ausführlich über die Grinface Morde berichtete. Beide lasen ihn sich durch und bemerkten schnell, dass das FBI als unfähig und als eine Bande von Schnarchnasen dargestellt wurde. „So etwas steht doch fast jeden Tag in der Presse.“ „Das weiß ich selbst, aber bis jetzt hat der Mistkerl drei Familien massakriert, das macht insgesamt 13 Personen. Sicher lacht er sich ins Fäustchen, weil wir nicht einen einzigen Schritt weiter sind.“ „Wir sind vielleicht weitergekommen. Es scheint nämlich so, als hätte der BB-Mörder die letzte Familie tagelang observiert.“ „Dann finden Sie diesen Dreckskerl und quetschen Sie ihn aus, oder Sie sind Ihre Marken schneller los, als Sie das Vaterunser beten können.“ Damit ging Sadie James wieder in ihr Büro, um sich eine extra große Tasse Kaffee zu machen. Jeder in ihrer Abteilung war der Meinung, dass sie ihren Kaffeekonsum besser reduzieren sollte. Sie trank rund um die Uhr nichts anderes als Kaffee. Am besten immer mit viel Koffein, da sie auch nachts durcharbeitete und einen Wachmacher brauchte. Und wenn sie dann aufgrund dessen so wenig Schlaf hatte, war sie richtig unausstehlich. Sie war ein richtiger Kaffee Junkie. Schweigend sahen Kazan und Naomi ihr hinterher. „Was für eine Sklaventreiberin.“ „Aber Sie ist eine der Besten beim FBI, das muss man ihr lassen. J. Hoover, unser Gründer, hat ihren Vater sehr geschätzt und Sadie will eben in seine Fußstapfen treten.“ „Ist mir Jacke wie Hose. Sorgen wir erst mal dafür, dass wir so schnell wie möglich DNA Spuren vom Täter bekommen und Beyond Birthday finden. Entweder hat er etwas mit den Morden zu tun, oder er verfolgt selbst eine Spur.“ Kapitel 3: Ein Bekannter ------------------------ Da eine Suche nach Beyond Birthday nicht den geringsten Erfolg zeigte, versuchte man es nun über Fahndung. Der Verdacht, dass er die drei Familien ermordet hatte, hatte sich immerhin durch die Zeugenaussage von Mrs. Dickens erhärtet und das war schon Grund genug, ihn als Tatverdächtigen zu verhören. Außerdem hatte er bereits zuvor drei Morde begangen und er wäre auch verurteilt worden, wenn die Juristen nicht geschlampt hätten. Müde rieb sich Naomi die Augen und begann, in der Datenbank nachzusehen. Vielleicht hatten sie etwas übersehen. Möglicherweise gab es ja jemanden, der bekannt für dermaßen blutige Morde war. Sie schränkte die Suche ein und der Computer spuckte ein paar Namen aus. Unter anderem eine gewisse Angeline Heaven, die neun Morde begangen hatte, aber freigelassen wurde, weil die Beweislage zu dünn war. Dann der Serienmörder Yugure Heian alias „Doktor Tod“, der seine Opfer auf brutale Art und Weise tötete und ihre Organe stahl, um sie zu essen. Doch der saß zurzeit in einer Irrenanstalt und befand sich auch noch dort. Dann gab es William Chevalier den Kindermörder, allerdings passte er rein gar nicht dazu, weil er ein Ästhet war. Interessanter war aber der Name Rumiko Karasuma. Sie wurde verdächtigt, der Henker von Boston zu sein. Dieser schlitzte seine Opfer bei lebendigem Leib auf, bevor er sie enthauptete und ihre Köpfe mitnahm. Allerdings würde das wieder nicht passen, weil der Henker aus Prinzip nur Kinderschänder und Kindermörder jagte. Warum sollte er es jetzt plötzlich auf Familien abgesehen haben? Vielleicht war ihr Mörder ja noch nicht in der Datenbank eingetragen und das würde bedeuten, dass er noch nicht vorbestraft war. Diese Möglichkeit war die Wahrscheinlichste von allen. „Ach so ein verdammter Mist“, murmelte Naomi und kratzte sich am Kopf. „Wir suchen echt die Nadel im Heuhaufen.“ Da die Suche in der Datenbank erfolglos blieb, versuchte sie nun Zeitungsberichte zu finden, in der von einem Psychopathen die Rede war, der dafür bekannt war, seinen Opfern Fleisch aus dem Körper zu beißen und ihnen mit den Fingernägeln tiefe Verletzungen zufügte. Doch außer dem Kannibalen von Louisiana und „Doktor Tod“ gab es keinen und der Kannibale aß auch Teile seiner Opfer, aber er spuckte sie nicht wieder aus. Und Doktor Tod schied ja aus, weil der noch hinter Gittern saß. Grinface ging es nicht darum, seine Opfer zu essen, sondern um blinde Zerstörungswut. Er wollte sie nicht nur mit dem Messer bearbeiten, sondern auch mit seinem eigenen Körper. Der Kerl musste wirklich gestört sein. Aber dann fand sie einen kurzen Artikel. Er war nicht von der Los Angeles Post, sondern von einem unbedeutenden kleinen Lokalblättchen irgendeiner kleinen Stadt. „Familie nachts ermordet. Vom Täter fehlt noch jede Spur.“ Leider gab es keine konkreteren Hinweise und als Naomi per Telefon herausfinden wollte, was damals passiert war, da wurde sie einfach abgewimmelt. Man könne sich nicht an damals erinnern, es wäre zu lange her und wenn es kein großer Artikel war, dann war es auch nicht so wichtig. „Ich bitte Sie, hier geht es immerhin um Familienmord. Wenn so etwas nicht wichtig ist, was verstehen Sie dann darunter?“ Es wurde einfach aufgelegt. Naomi hatte das Gefühl, dass in dieser Stadt irgendetwas faul war. Niemand würde so etwas einfach verschweigen und die Sache als Kleinigkeit abstempeln. Sie gab den Namen der Stadt in den Computer ein und bekam ein paar interessante Informationen. Das kleine Städtchen, das in seiner Architektur dem deutschen Stil nachempfunden wurde, bestand aus einem ca. 29km² großen Wald, einem See und besaß sonst nur einen Bahnhof, ein paar unbedeutende Läden sowie einer Schule. In dieser Stadt gab es in den letzten Jahrzehnten eine Serie von Vermisstenfällen. Hauptsächlich von Kindern, die nie gefunden wurden und die Stadt war zudem bekannt dafür, dass sie eine Reihe von Serienmördern hervorgebracht hatte. Darunter auch Rumiko Karasuma, Beyond Birthday, Molly Stone und Sam Leens. Sie alle waren bekannt für ihre Grausamkeit, ihre kaltblütige und abweisende Art anderen Menschen gegenüber. Einer war gefährlicher als der andere. Weitere Nachforschungen ergaben, dass es zwar Familienmorde gab, die immer nachts durchgeführt wurden, allerdings hatte man die Opfer nicht dermaßen zugerichtet. Von Biss- und Kratzspuren war auch nicht die Rede. Offenbar wurde er immer mutiger und fühlte sich immer sicherer. Oder wollte er die Polizei herausfordern? Auch die Frage, warum er der Mutter der ermordeten Familie ein Stück Fleisch aus dem Arm gebissen hatte, beschäftigte sie. War es etwas, das ihn sexuell erregte? So etwas gab es, auch wenn Naomi es noch selbst nicht erlebt hatte. Wenn es wirklich so wäre, dann war es nicht auszuschließen, dass Grinface traumatische Kindheitserlebnisse und vielleicht sogar einen Ödipuskomplex hatte. Aber das waren nur Theorien, sie brauchten mehr Beweise. Naomi gönnte sich schließlich eine Pause. Sie hatte Hunger, auch wenn ihr noch ein wenig übel war. Allerdings kam sie gar nicht erst dazu, sich etwas zu Essen zu holen, denn kaum hatte sie das Büro verlassen, da hörte sie laute Schreie der Empörung und wie jemand nach einer Erklärung verlangte. Die Stimme klang irgendwie vertraut. Naomi eilte dem Geräusch hinterher und sah, wie ein junger Mann in Handschellen zu den Verhörräumen gebracht wurde. Es war Beyond Birthday. „Wir haben ihn nicht weit vom Tatort entfernt festgenommen. Offenbar hat er die Polizisten und die Spurensicherung beobachtet.“ „Ich habe überhaupt nichts Falsches getan. Das ist eine Unverschämtheit! Ich werde….“ Beyond verstummte, als seine rot glühenden Augen in die von Special Agent Naomi Misora blickten. Er setzte ein etwas merkwürdig aussehendes Lächeln auf und hob die Augenbrauen. „Welch unerwartete Freude, Sie wiederzusehen, Frau Misora. Sie arbeiten doch sicher am Grinface Fall, nicht wahr?“ „Ja, das tue ich. Wissen Sie etwas darüber?“ „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich habe aber keine Lust, mich mit diesen impertinenten und unkompetenten Beamten herumschlagen. Wenn Sie etwas wissen wollen, dann sorgen Sie erst mal dafür, dass das hier geklärt wird. Ich bin jedenfalls der Falsche.“ Doch bevor Naomi sich Beyond Birthday widmete, ging sie erst einmal in die Mittagspause, denn inzwischen war ihr Hungergefühl unerträglich geworden und ihr Magen begann sich zu verkrampfen. Beim Chinesen holte sie sich Ente mit Bratnudeln, dazu eine Cola und stärkte sich erst einmal. Kazan, auch in der Zentrale „Ironfist“ Kazan genannt, führte das Verhör durch und wie Naomi ihn kannte, würde er Beyond erbarmungslos in die Mangel nehmen. Auch wenn Kazan die meiste Zeit über ein nachdenklicher, verständnisvoller und ruhiger Mensch war, so zeigte er in der Zentrale ein anderes Gesicht. Den New Agents gegenüber war er äußerst streng, bei Verhören brachte er selbst die stillsten Vögel zum Singen und wiederum Opfer pflegte er mit Sanftmut und Mitgefühl zu behandeln. Aber so wie Naomi auch Beyond kannte (natürlich wiederum auch nicht zu lange), so wusste sie, dass er alles andere als einfach einzuschüchtern war. Nein, er besaß eine unglaubliche mentale Stärke und einen ganz schönen Dickkopf. Aus dem würde Kazan nicht so schnell etwas herausbekommen, so viel stand fest. Sie ging zum Verhörzimmer und beobachtete zusammen mit Sadie die Befragung. Doch so sehr Kazan auch versuchte, den Verdächtigen klein bei zu kriegen, er schwieg sich aus und grinste auch noch amüsiert. Kazan kochte inzwischen vor Wut und er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Nun tun Sie nicht so überlegen. Wir haben Zeugenaussagen, die belegen, dass Sie die getötete Familie tagelang beobachtet haben.“ „Das will ich ja auch nicht bestreiten.“ „Und warum haben Sie das getan?“ „Nun, ich hatte gehofft, den Mörder persönlich zu treffen.“ „Dann wissen Sie, wer es ist?“ „Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Ich werde nur Frau Misora meine Informationen weitergeben, sonst niemandem.“ Als diese das hörte, war sie erstaunt und wusste nicht, was das sollte. Auch Sadie hob die Augenbrauen und sah sie an. „Wissen Sie etwas, das ich noch nicht weiß?“ „Ehrlich gesagt, wüsste ich das selbst gerne.“ „Na vielleicht hat er ja ein Auge auf Sie geworfen, Starling.“ „Entschuldigen Sie, aber das hier ist kein Schweigen der Lämmer….“ „In gewisser Weise schon. Wir sind auf seine Informationen angewiesen und offenbar sind Sie die Einzige, mit der er sprechen will. Also, wir werden erst einmal überprüfen, ob er wirklich etwas mit den Morden zu tun hat und in der Zwischenzeit werden Sie sich ins Verhörzimmer begeben und ihn ausfragen, wenn Kazan mit ihm fertig ist. Ich werde mir in der Zwischenzeit noch eine Tasse Kaffee machen und dann der Gerichtsmedizin einen Besuch abstatten.“ Die Befragung dauerte noch gut eine halbe Stunde, ohne dass Kazan irgendetwas in Erfahrung bringen konnte. Also räumte er das Feld und überließ Naomi die Arbeit. Diese hatte ein Glas Marmelade organisiert, um die Stimmung ein wenig zu lockern. Als sie das Zimmer betrat, fand sie Beyond Birthday in gewohnter Sitzposition vor und er wirkte ein wenig missmutig. Aber als er Naomi und insbesondere das Marmeladenglas sah, hellte sich seine Stimmung ein wenig auf. „Sie haben ihn echt an den Rand der Verzweiflung gebracht“, scherzte Naomi und setzte sich ihm gegenüber. „Hätte nicht gedacht, Sie persönlich noch mal zu sehen.“ „Ach, die Welt ist eben klein.“ Dankend nahm er das Marmeladenglas an und begann zu essen. „Also Frau Misora, Sie arbeiten mit Sicherheit am Grinface Fall und wollen nun ein auf Schweigen der Lämmer machen.“ Warum kamen Sadie und er bloß auf diese Nummer? Naomi wusste nicht ob sie das positiv oder negativ auffassen sollte und versuchte, diesen Kommentar zu ignorieren. „Nun, Sie waren immerhin Tage vor dem Mord vor Ort und haben auf den Mörder gewartet. Da stellt sich die Frage, ob Sie selbst Grinface sind, oder den Mörder bereits durchschaut und ihn lediglich verpasst haben.“ „Und was glauben Sie?“ „Ich bezweifle, dass Sie hinter Grinface stecken.“ „Und warum glauben Sie das?“ „Wir haben am Tatort ein Haar gefunden. Außerdem hat der Mörder bloß seine Spuren verwischt, während Sie wirklich alles reinigen, sogar die Glühbirnen in den Fassungen. Außerdem ist Grinface kein sehr geschickter Einbrecher und legt auch nicht viel Wert darauf. Ihn interessieren nur die Morde, Sie hingegen sind schon fast ein Perfektionist.“ „Nicht schlecht, Sie beweisen immer wieder ein helles Köpfchen, Frau Misora.“ Seltsamerweise störte es Naomi überhaupt nicht, wie Beyond seine Marmelade aß. Sie hatte sich ja an seine Marotten gewöhnt und deswegen war es ihr auch egal, als er sich die Finger genüsslich ableckte. „Aber wenn Sie nicht der Mörder sind, warum haben waren Sie am Tatort?“ „Nun, ich wollte Informationen sammeln.“ „Wissen Sie, wer der Mörder ist?“ „Ich habe nur einen Verdacht und um diesen zu bestätigen, muss ich Beweise sammeln. Allerdings hat er mich wohl durchschaut und genau dann zugeschlagen, als ich nicht da war. Ein wirklich cleverer Mistkerl.“ „Und wen verdächtigen Sie?“ „Einen alten Freund von mir. Er ist nicht wirklich ein Freund, aber wir haben in unserer Kindheit einige Zeit miteinander verbracht.“ „Wann war das?“ „Vor zwölf Jahren.“ „Sie verdächtigen also eine Person, die Sie vor zwölf Jahren gekannt haben? Sieht Ihnen gar nicht ähnlich.“ „Das weiß ich selbst. Es ist so etwas wie ein Gefühl. Eine Art sechster Sinn, nennen Sie es ruhig, wie Sie wollen.“ So kam Naomi sicher nicht weiter. Wenn sie das ihrer Vorgesetzten so erzählte, würde die sie durch den Wolf drehen und sie vielleicht sogar suspendieren und herumschimpfen. Beyond Birthday hatte Recht, er brauchte dringend Beweise. „Haben Sie Indizien?“ „Nicht direkt. Aber es ist damals etwas passiert, was mich dazu veranlasst hat, ihn in den Kreis der Verdächtigen aufzunehmen.“ „Und was ist damals passiert?“ „Die Stadt, in der wir aufgewachsen sind, ist schlecht. Sie ist von Grund auf schlecht. Ungerechtigkeit wird totgeschwiegen, die Leute sehen einfach weg und es gibt dort Dinge, die nicht mit bloßem Menschenverstand zu erklären sind. Mein alter Freund ist nicht in dieser Stadt geboren worden, sondern dorthin gezogen, zusammen mit seiner Familie. Ich habe ihn als einen völlig normalen Jungen in meinem Alter kennen gelernt. Er hatte auch einen jüngeren Bruder. In unserer Nachbarschaft gab es ein paar ältere Punks, die Probleme gemacht haben und sie hatten es besonders auf die beiden abgesehen. Es kam sogar zu Schlägereien und manchmal waren auch Waffen im Spiel. Bei einer Auseinandersetzung wurden die Punks niedergestochen und man beschuldigte den jüngeren Bruder und er kam ins Jugendgefängnis. Ein Jahr später gab es dann ein Unglück: Die Punks gingen mit Pistolen und Messern auf meinen alten Bekannten los und haben ihn mit einer Wodkaflache geschlagen. Dann haben sie ihn angezündet und er kam mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus. Und kaum war er entlassen worden, hatte jemand seine Familie nachts umgebracht. Der jüngere Bruder, den man freigelassen hatte, da man seine Unschuld im Nachhinein bewiesen hatte, wurde auch getötet. Allerdings fehlte vom älteren jede Spur.“ „Sie glauben, er hat seine eigene Familie umgebracht?“ „Zumindest wurden alle Familien nachts getötet und das auf grausame Art und Weise. Das Problem allerdings ist, dass ich nicht weiß, wie er jetzt aussehen könnte. Immerhin hat er am ganzen Körper gebrannt, besonders sein Gesicht. Es kann sein, dass er vollkommen entstellt ist oder aber, er wurde einer Operation unterzogen.“ „Und wie wollen Sie ihn dann wieder erkennen, wenn Sie nicht wissen, wie er aussieht?“ „Ich habe da so meine Mittel.“ „Und wie heißt Ihr Freund oder Bekannter?“ „Jeffrey Blalock. Sie dürfen ihn aber nicht mit Jeffrey Dahmer, dem verurteilten Straftäter, verwechseln. Das sind zwei verschiedene Personen.“ Naomi nickte, obwohl sie noch ernsthafte Zweifel hatte, ob an Beyonds Theorie etwas dran war. Er sah die Zweifel in ihren Augen und unterbrach kurz das Marmeladenessen. „Ich weiß, dass meine Theorie mehr als dünn ist. Die Chancen stehen gerade mal bei 4,99%, aber ich gehe jeder Möglichkeit nach.“ „Aber was ich nicht verstehe ist, warum Sie sich die Arbeit wegen eines Bekannten machen, den sie vor zwölf Jahren gekannt und dann wieder aus den Augen verloren haben.“ „Ich will Gewissheit haben und außerdem würden Sie doch auch an einem Mordfall interessiert sein, in welchem eventuell ein Bekannter verwickelt sein könnte.“ Dem konnte sie nicht widersprechen. „Also gut, was genau haben Sie bis jetzt über den Mörder herausgefunden?“ „Wie Sie schon sagten: Einbruch zählt nicht zu seinen Stärken. Auch seine Spuren verwischt er nicht sehr professionell und es scheint, als würde er gar nicht darüber nachdenken. Er hat auch kein Interesse an irgendwelche Psychospielchen mit der Polizei, ihn interessiert nur Mord. Auch scheint er das Tageslicht zu meiden. Könnte ein Indiz dafür sein, dass es Jeff sein könnte, weil er sein Aussehen verstecken will. Wer möchte sich denn schon gerne in der Öffentlichkeit zeigen, wenn er wie Freddy Krueger aussieht?“ „Und warum hat er die Wangen seiner Opfer aufgeschlitzt?“ Da hatte Beyond noch keine Antwort darauf. Er vermutete, dass Jeff seine Gefühle dadurch kompensieren wollte, dass er auch andere entstellte, um sich vielleicht besser zu fühlen. „Aber er hat seine Opfer auch zerkratzt und ihnen sogar Fleisch aus dem Körper herausgebissen und wieder ausgespuckt.“ „Na wenigstens hat er es nicht heruntergeschluckt.“ Der Kerl hatte echt Nerven. So etwas half ihr doch wirklich nicht weiter. „Rohes Fleisch ist doch sowieso widerlich.“ „Menschenfleisch essen ist widerlich!“ „Das kommt ganz auf die Zubereitung an.“ Naomi sah ihn schon beinahe fassungslos an, doch Beyond schien das nicht wirklich zu verstehen. „Hey, das war ein Witz.“ „Sie sind ein echt mieser Komiker…. Aber zurück zum Mordfall. Was wissen Sie noch?“ „Es ist hundertprozentig ein Mann. Er ist nicht älter als 30 Jahre, nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen und er hat ein gestörtes Bild, was Familien betrifft. Das erinnert mich an ein anderen Bekannten…. Der hat nämlich auch Familien getötet. Er hat die Eltern gefesselt, ihnen die Augen verbunden und direkt vor ihren Augen sozusagen die Kinder gefoltert und wenn er genug hatte, dann hat er den Eltern vor die Wahl gestellt: Entweder sie bringen ihren Partner um, oder lassen das Kind sterben. Das hat er gemacht, weil er vollkommen unfähig war, menschliche Gefühle zu empfinden und er dafür sein Umfeld umso genauer beobachtet hat. Er hat seine Opfer also erst mal psychisch gefoltert und sie dann gegenseitig töten lassen. Die restlichen Überlebenden hat er entweder laufen gelassen oder sie umgebracht. Nur weil er wissen wollte, was Liebe, Leiden, Schmerz, Trauer und Angst sind.“ „Das ist krank…“ „Ja. Und ehrlich gesagt schaudert es mich jedes Mal, wenn ich ihn sehe und bekomme eine Gänsehaut. Aber hier liegt nichts dergleichen vor. Unser Mörder hat es allein auf Blut und Gemetzel abgesehen. Warum sonst würde er seine Opfer nachts im Schlafe angreifen? Weil er keine Lust hat, dass sie schreien oder sich wehren. Er will seine Opfer also gar nicht quälen. Das schließt schon mal aus, dass es ihn um Macht über andere geht. Es ist also kein 08/15 Mörder.“ Tatsächlich wurden zum größten Teil Morde aus Rache oder aus einem Hunger nach Macht ausgeführt. Missbrauchsopfer zum Beispiel wurden später selbst zu Pädophilen und Kinderschändern, weil sie ihre Traumata bewältigen wollten, indem sie andere leiden ließen. Viele Morde wurden auch zur Machtdemonstration durchgeführt, wenn sich die Mörder von Anfang an überlegen fühlen und dann forderten sie oft die Polizei heraus. Einen geringeren Teil bildeten Mörder, denen es weder um Geld, noch um Überlegenheit oder Traumaverarbeitung oder Rache ging. Und diese waren größtenteils Soziopathen und Geisteskranke. In einem Vortrag an der Polizeischule hatte Sadie James einmal gesagt, dass Soziopathen die wohl gefährlichsten Menschen wären. „Sie sind außer Stande, Gefühle zu empfinden oder sich in irgendeiner Art und Weise in andere hineinzuversetzen. Sie benutzen und betrügen ihre Mitmenschen, tarnen sich perfekt und sind hochintelligent. Um ihr Ziel zu erreichen, tun sie alles und sind perfekte Lügen- und Geschichtenerzähler. Da sie sehr wortgewandt sind, können sie andere leicht um den Finger wickeln. Soziopathen haben kein Gewissen, sie haben keine Ideal- und Moralvorstellungen und sie kennen keinerlei Gnade mit ihren Opfern.“ Naomi hatte dieser Vortrag zum Nachdenken gebracht und sie fragte sich auch, ob Beyond Birthday nicht vielleicht einer war. Nein, eher nicht. Er schien mehr ein Psychopath zu sein, ein geisteskranker Mensch und nicht jemand mit einem derartig gestörten Sozialverhalten. Dann würde er sich besser anpassen. Naomi war dermaßen in Gedanken versunken, dass sie gar nicht registrierte, dass Beyond ihr eine Frage stellte und so wiederholte er sie noch mal. „Könnte ich Sie für die Idee einer Zusammenarbeit gewinnen? Ich denke, Sie und ich könnten diesen Fall schneller aufklären, wenn wir zusammenarbeiten würden.“ „Das muss ich erst mit meiner Vorgesetzten besprechen.“ Nach der Befragung wurde Beyond Birthday vorerst festgehalten. Dann aber stellte sich heraus, dass seine DNA mit der des Haares, das am Tatort gefunden wurde, gar nicht übereinstimmte. Und nachdem Sadie die Aufnahmen der Befragung gehört hatte, musste sie ihn wohl oder übel laufen lassen. „Aber eines sag ich Ihnen Misora: Wenn die Presse davon erfahren sollte, dass Sie mit diesem Kriminellen zusammenarbeiten, dann werde ich Sie wie der Henker von Boston einen Kopf kürzer machen!“ „Ich habe verstanden.“ „Sie sind sich also sicher, dass Sie mit diesem Individuum gemeinsam an diesem Fall arbeiten wollen?“ „Absolut. Ich glaube, er kann uns mehr helfen als jeder andere.“ „Dann tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber denken Sie an meine Warnung! Sie wissen, ich mache nie Witze.“ Irgendwie fühlte sich Naomi nicht gerade erleichtert. Im Gegenteil. Sie fühlte sich seltsam krank und erschöpft. Ihr Kopf kam ihr bleischwer vor und ihre Augen brannten. Außerdem fiel es ihr schwer, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Wurde sie etwa wirklich krank oder war es dieser Mord, der ihr so schwer im Magen lag? Sie wusste es nicht. Auch hatte sie einen widerlich metallenen Geschmack im Mund, der sie an Blut erinnerte. Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie jetzt 26 Stunden durchgearbeitet hatte. Dann waren diese Krankheitsgefühle also bloß ein Zeichen für Erschöpfung. „Ich sollte besser nach Hause gehen und mich hinlegen.“ Sie holte noch schnell ihre Jacke und ihre Handtasche und ging zu ihrem Auto. Das Motorrad hatte sie zuhause gelassen und insgeheim war sie froh drum. Sie fühlte sich sogar viel zu erschöpft dazu, auch noch Motorrad zu fahren. Ihre Augen begannen immer schlimmer zu brennen und sie kniff sie zusammen. Und als sie sie wieder öffnete, sah sie einiges unscharf und manche Sachen flimmerten sogar. Ihr wurde nun richtig schlecht und sie zitterte, obwohl sie gerade eben ihre Jacke angezogen hatte. Sie fuhr nach Hause, schloss die Tür auf und begab sich ins Schlafzimmer. Und kurze Zeit später fiel sie in einen tiefen Schlaf. Woanders in Los Angeles betrachtete sich Jeff Blalock in einem zerbrochenen Spiegel und kicherte ununterbrochen. „Bin ich nicht schön, Mommy? Habe ich nicht ein wunderschönes Gesicht? Es passt perfekt… es passt perfekt zu mir! Und jetzt werden auch die anderen für immer schön lächeln, genauso wie ich. Und sie werden es jetzt für immer sehen können. Hahahahaha.“ Aus seiner Hosentasche holte er die Augentropfen, die er immer wieder aufs Neue brauchte, um seine Augen vor dem Austrocknen zu bewahren. Da er seine Lider vor Jahren zerstört hatte, konnte er nicht mehr blinzeln. Und seine aufgeschlitzten Wangen wurden mit schwarzen hässlichen Nähten zusammengehalten, die ihn noch abstoßender und monströser erscheinen ließen, als er es ohnehin schon war. Und nun waren auch seine Zähne wunderschön, die er spitz gefeilt hatte, um auch wirklich perfekt auszusehen. Insgesamt sah er mehr wie ein Monster aus einem Horrorfilm aus, als ein Mensch. Seine Haut war durch die Bleiche schneeweiß und hatte eine Struktur wie Leder, seine stechenden Augen waren schwarz umrandet, das Weiß der Augen an den äußeren Seiten rötlich. Lippen hatte er kaum noch. Sie waren wie kleine schmale Schlitze und er konnte sie kaum noch schließen. Da seine Wangen nur noch durch Nähte zusammengehalten wurden und ein zu weites Öffnen des Mundes nur blutige Wunden rissen, presste er meist die Lippen so fest wie möglich zusammen und atmete zischend durch seine scharf gefeilten Zähne. Diese waren oft blutverschmiert, da er durch das Feilen das Zahnfleisch verletzt hatte und die Verletzungen immer wieder aufrissen. Sein Haar, das früher einmal brünett gewesen war, war damals schwarz verbrannt worden und als es nachwuchs, behielt es diese Farbe. Und seine Hände, die damals ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden waren, sie besaßen lange knochige Finger mit langen spitzen Fingernägeln, die wie Vogelkrallen aussahen. Mit schlurfenden Schritten verließ er das Badezimmer, holte sein Messer hervor und öffnete die Tür gleich nebenan. Es war stockduster, die Uhr zeigte halb eins. Alles war herrlich ruhig. Genauso, wie er es wollte. Er brauchte kein Licht zu machen, das Mondlicht spendete genug Licht. Vorsichtig trat er näher ans Bett und hörte das langsame rhythmische Atmen. Behutsam schlich er näher und hob sein Messer. Dann beugte er sich über das Bett und starrte das kleine Mädchen an, das nicht älter als 11 Jahre alt sein konnte. Dieses bemerkte unterbewusst, dass da jemand im Zimmer war und öffnete die Augen. Und als sie Jeff und sein entstelltes hässliches Gesicht sah, war sie zu erschrocken, um schreien zu können. Und dann packte Jeff sie am Hals und drückte mit aller Kraft zu. Erst jetzt begann das Mädchen, heftig zu strampeln und an seiner Hand zu zerren. Sie versuchte nun zu schreien, doch ihr ging langsam die Luft aus und sie brachte nur ein ersticktes Quieken hervor. Jeff hingegen war die Ruhe selbst und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Dann aber spannte sich jeder Muskel in seinem Körper an, er hob das Messer noch weiter hoch und dann verzerrte sich sein Gesicht zu einem monströsen Grinsen. „Geh schlafen!“ Kapitel 4: Rückkehr ------------------- Es war jetzt der vierte Mord und das innerhalb von zwei Tagen. Und auch hier war wie in den letzten Morden ein einziges Blutbad, bei dem sich selbst bei hartgesottenen Polizisten der Magen umdrehte. Dieses Mal hatte der Mörder nicht nur die Köpfe abgetrennt, sondern den Körper regelrecht auseinandergepflückt und im ganzen Haus versteckt. Den Torso der 11-jährigen Sarah Winters fand man im Backofen, der immer noch lief und einen beißenden Gestank nach verbranntem Fleisch verbreitete. Man war also gezwungen, erst einmal das Fenster zu öffnen, um überhaupt noch atmen zu können. Ihr Kopf baumelte vom Kronleuchter, wo sie mit den Haaren dort oben festgebunden war. Die Beine waren an den abgetrennten Enden zusammengebunden worden und die Arme fand man im Müll. Ihrer Mutter Corinne erging es auch nicht besser. Man hatte ihr den Kopf um 180° verdreht und dabei war der Täter mit solch brachialer Gewalt vorgegangen, dass ein Teil der Wirbelsäule aus ihrem Rücken herausragte. Die Augen hatte man entfernt und man fand sie im Kühlschrank zwischen den Lebensmitteln, ebenso wie ihre herausgetrennte Gebärmutter. Die Finger hatte der Mörder abgetrennt und ihr in den Mund gestopft, Die Beine wiesen mehrere Frakturen auf. Hier hatte Grinface mit einem harten und stumpfen Gegenstand so kräftig zugeschlagen, dass jeder einzelne Knochen zertrümmert war. Dies geschah wahrscheinlich noch, während das Opfer gelebt hatte. Die Arme, die er abgetrennt hatte, fanden sich in der Waschmaschine, die mit dem Schleudergang längst fertig war. Ihrem Mann Thomas hatte man die Augen zerdrückt, die Zunge herausgerissen und die Gliedmaßen völlig zerbissen und zerkratzt. Außerdem hatte man seine Genitalien abgeschnitten und ihm in den Mund gestopft. Zudem war er vom Unterleib bis zum Brustkorb aufgeschlitzt und sämtliche Organe hatte man auf verschiedene Art und Weise zur Schau gestellt. Sei es in Frischhaltebehälter im Kühlschrank, in Kochtöpfen auf dem Herd oder in der Badewanne. Und anstatt, dass auf dem zerschlagenen Badezimmerspiegel die Nachricht „Go to Sleep“ stand, hatte der Mörder dieses Mal „You Lied Mommy“ geschrieben. „Großer Gott“, murmelte Naomi, als sie das alles sah. „Das wird ja immer schlimmer….“ Ihr war es nach einer ordentlichen Mütze voll Schlaf besser gegangen, aber jetzt stieg wieder die Übelkeit in ihr hoch. Zum Glück hatte sie kaum etwas gegessen, sonst hätte sie sich noch übergeben müssen. Ein paar von der Spurensicherung bekreuzigten sich sogar und murmelten „Herr, stehe uns bei…“, bevor sie an die Arbeit gingen. Der Leichengeruch, vermischt mit dem des verbrannten Torso im Backofen war atemberaubend und Naomi wankte ein wenig. Ihr Kopf fühlte sich ziemlich benebelt an und ihr fiel es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Im Schlepptau hatte sie dieses Mal nicht Kazan, sondern Beyond Birthday. Ihr eigentlicher Partner hatte sich krank gemeldet und lag mit Grippe zuhause. Ob sie auch etwas ausbrütete?? „Mein lieber Scholli, also der hat sich ja mal ausgetobt“, sagte Beyond Birthday vollkommen ungerührt von dem entsetzlichen Anblick, als wäre er in einer Kunstausstellung. „Kein Stil hat dieser Kerl. Einfach nur blinde Zerstörungswut.“ „Reden Sie gefälligst nicht so pietätlos!“ „Was denn? Serienmörder sind wie Künstler, die den menschlichen Körper als Material benutzen und die Polizei ist nichts Weiteres als eine Ansammlung von Kritikern, die diese Werke bewundern. Aber was hier geschehen ist, das ist nichts Weiteres als Blasphemie an der Kunst.“ Manchmal konnte Beyond ein richtiger Mistkerl sein, da war sich Naomi sicher und am liebsten hätte sie ihm für diesen Kommentar eine reingehauen. Sie sahen sich zusammen um, jedoch konnte man fast nirgendwo hingehen, ohne in eine Blutpfütze zu treten. Selten hatte die Spurensicherung so viel Arbeit wie hier. Beyond begutachtete die Fenster, um nach Einbruchspuren zu suchen, fand allerdings nichts. „Wenigstens ist er, was den Einbruch betrifft, nicht ganz so stümperhaft. Anscheinend hat er sein Können weitestgehend perfektioniert. Allerdings frage ich mich, warum er in einem so kurzen Zeitraum mordet. Normalerweise lässt er sich doch eine Woche lang Zeit.“ „Vielleicht hatte er keine Lust mehr zu warten und wollte sich noch mal austoben.“ „Nein, ich glaube, es steckt noch etwas anderes dahinter. Er wird nicht aus irgendeiner Laune heraus so früh noch mal zuschlagen, sonst wären auch seine anderen Morde nicht in einem dermaßen regelmäßigen Abstand. Vielleicht hat er etwas vor, das ihn eine längere Zeit daran hindern könnte zu morden.“ „Und was genau schwebt Ihnen da so vor?“ „Na denken Sie doch nach Frau Misora. Wenn jemand, der normalerweise nicht nachdenkt, während er mordet, plötzlich dermaßen schnell noch ein weiteres zeitaufwendiges Massaker dazwischenschiebt, dann heißt es, dass er in der nächsten Zeit deutlich eingeschränkt ist. Das könnte eine körperliche Einschränkung sein.“ „Sie meinen, er ist krank oder schwer verletzt?“ „Letzteres ist am wahrscheinlichsten. Allerdings hätte er dann kaum dieses Blutbad anrichten können. Vielleicht lässt er sich ja unters Messer legen und ist dann verhindert.“ „Dann müssen wir Kontakt zu den Krankenhäusern in der Umgebung aufnehmen.“ Während sich Naomi darum kümmerte, begutachtete Beyond den Spiegel. Warum hatte Grinface seine Nachricht geändert und „You Lied Mommy“ geschrieben? Wenn es wirklich Jeff war, war etwas in seiner Vergangenheit passiert, was ihn wütend auf seine Eltern gemacht hat? War etwas nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus passiert, was ihn dermaßen durchdrehen ließ, dass er seine eigene Familie massakrierte? Eine Lüge…. War er vielleicht wütend geworden, weil er sich selbst dermaßen hässlich vorkam und seiner Mutter nicht glauben konnte, dass sie ihn trotz dieser Entstellung liebte? Vielleicht hatten ihm diese schweren Verletzungen endgültig den Verstand geraubt und der Zorn auf seine Familie hatte sich auch auf andere übertragen. „Jeff, du verdammter Idiot.“ Beyond war weder traurig noch wütend, er war auch nicht enttäuscht. Nein, er verspürte lediglich ein gewisses Bedauern, denn er hatte gehofft, dass wenigstens einer seiner Bekannten, die noch am Leben waren, nicht geisteskrank geworden waren. Vielleicht war das ja auch seine Schuld. Wenn er selber diese Punks getötet hätte, dann hätte es vielleicht anders laufen können. Aber… er war noch nie in der Lage gewesen, anderen Menschen zu helfen. Weder jener Person, die ihm von der Tyrannei seiner Eltern erlöste und dafür selbst durch die Hölle ging, weder seinem verstorbenem Freund aus dem Waisenhaus, noch irgendeinen anderen Menschen. Alles was er konnte war, anderen Menschen ihr restliches Leben zu nehmen. Warum hatte er diese Gabe, diese Shinigami-Augen überhaupt? Diese Frage hatte er sich mehr als oft genug gestellt. Er kniete sich hin und durchsuchte nun den Mülleimer. Dort fand er nicht viel, aber dafür ganze vier Fläschchen mit Augentropfen. Ganz schön viel für eine einfache Familie, eigentlich zu viel, wenn er so darüber nachdachte. Könnte ja sein, dass eines davon dem Täter gehörte. Wenn er Glück hatte, fanden sich vielleicht Fingerabdrücke des Täters, wenn es wirklich von ihm stammte. Gut, dass er im Vorfeld an die Handschuhe gedacht hatte. Er ließ die Fläschchen ins Beweistütchen verschwinden und suchte weiter. Doch sonst war da nichts Interessantes im Müll und so begann er, das Schränkchen zu durchsuchen. Da drin befanden sich Antidepressiva, Verhütungspillen, Hautcreme und Anti-Aging Mittelchen. Dann noch eine Salbe gegen Gelenkschmerzen, Betaisodona, Ibuprofentabletten gegen Kopfschmerzen, ein Parfum von Thierry Mulder und Make-up. Aber von Augentropfen war nichts zu sehen und wenn alle leer waren, dann holte man sich doch normalerweise Nachschub. „Frau Misora!“ rief er und verließ das Badezimmer. „Ich hätte da vielleicht etwas Interessantes.“ Mit einem beinahe triumphierenden Ausdruck im Gesicht hielt er ihr den Beutel mit den Augentropfenfläschchen hin. „Vielleicht ist ja heute unser Glückstag und wir finden ein paar Fingerabdrücke des Täters.“ Augentropfen?“ fragte Naomi ungläubig. „Also langsam werden Sie mir immer seltsamer mit Ihren Ideen.“ „Ich habe nirgendwo im Badezimmer Augentropfen gefunden und wenn Grinface so viel davon braucht, könnte es bedeuten, dass er ein Augenleiden hat und es vielleicht behandeln lassen muss. Jedenfalls ist es unwahrscheinlich, dass sie den Opfern gehören.“ „Dann haben wir es also mit einem blutrünstigen Psychopathen mit Krallen, scharfen Zähnen und einer eventuellen Bindehautentzündung zu tun. Wenn er wirklich diese ganzen Augentropfen verbraucht hat, muss er ein wirklich starkes Augenleiden haben.“ „Und das würde erklären, warum er seinen nächsten Mord vorverlegt hat.“ Nun ging Beyond in die Küche um sich die Sauerei dort näher anzusehen. Den Torso der kleinen Sarah hatte man aus dem Backofen herausgeholt. Er war schwarz verbrannt und stank fürchterlich. „Also das ist wirklich krank, selbst für meine Verhältnisse…“, murmelte Beyond und hielt sich ein Taschentuch vor dem Mund, denn der Geruch von verbranntem Fleisch brannte in Augen und Nase und er begann zu husten. Obwohl man das Fenster bereits geöffnet hatte, war die Luft hier drin kaum zu ertragen und überall hing noch der Qualm. Naomi hatte den Kühlschrank unter die Lupe genommen und unter anderem auch die herausgeschnittenen Augen gefunden, die man statt der Oliven zusammen mit Käsewürfel aufgespießt hatte und die sie anzuglotzen schienen. Sie musste einen Brechreiz unterdrücken und wandte den Blick ab. „Warum macht er so etwas? Will er uns irgendetwas beweisen oder demonstrieren?“ „Ja und nein. In seinen ersten drei Morden war es ihm vollkommen egal, was die Polizei über ihn dachte oder ob sie nach ihn suchte. Er hatte nur Augen für sein Werk gehabt. Aber jetzt hat er sich auffällig viel Mühe gegeben, seinen vierten so bizarr und bestialisch wie möglich aussehen zu lassen, was natürlich die Frage aufwirft, ob er uns etwas damit zeigen will. Allerdings würde das doch keinen Sinn machen, da er doch die ersten drei Morde nach demselben Prinzip durchgeführt hat. Eine Möglichkeit lautet: er will uns so lange wie möglich mit diesem Saustall beschäftigen, damit nicht auffällt, dass er danach verhindert sein könnte. Die zweite Theorie ist, dass er sich vor seiner Auszeit noch mal richtig austoben wollte und das trifft eher zu. Sonst hätte er es anders gemacht. Er hätte genauso gut eine an das FBI gerichtete Botschaft hinterlassen können, aber das hat er nicht getan. Und dann hätte er die anderen Morde genauso durchgeführt.“ Das machte schon Sinn. Aber es stellte sich die Frage, was genau Grinface passieren würde und ob das nicht vielleicht ein Trick war. „Und wenn er uns genau das glauben lassen will und nun untergetaucht ist?“ „Ich habe doch vorhin gesagt, dass er sich keinen Deut für die Polizei oder das FBI interessiert. Er interessiert sich nur für sich selbst und das gibt uns die Chance, eine Spur zu ihn zu finden. Wir müssen einfach noch mal alles durchsuchen.“ Gesagt getan und sie nahmen wirklich alles in der Wohnung auseinander. Schließlich ging Beyond in den Garten und sah sich dort um. Offenbar war Grinface ganz einfach über den Zaun gestiegen und dann durchs Beet gelaufen. Die Rosen waren zertrampelt und am Zaun hing ein kleiner Stofffetzen. Den sammelte er auch ein und begann nun im Beet zu suchen. Die Fußspuren, die er entdeckt hatte, fotografierte er selbstverständlich und dann wollte er wieder reingehen, da glaubte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrzunehmen. Und es stand tatsächlich jemand auf der anderen Seite des Zauns. Ein junger Mann, vielleicht in seinem Alter mit weißblondem Haar, das perfekt frisiert war und zwei grauen Augen. Er trug einen Anzug und sah sehr vornehm aus. Diese starren Augen… dieses ausdruckslose Gesicht…. Beyond kannte es von damals. Und es überkam ihm jedes Mal eine Gänsehaut, wenn er sie sah. Alle Gesichtsfarbe wich aus seinem Gesicht und er wich zurück. Zum ersten Mal seit Jahren überkam ihm Angst. Es war nicht die Angst vor dieser Person selbst, sondern die Angst vor dem, was er nicht sehen konnte. Denn dieser junge Mann war der Erste in seinem Leben, von dem er zwar die Lebenszeit, aber nicht den Namen erkennen konnte. „Was… was machst du hier?“ Keine Antwort. Der junge Mann starrte ihn einfach an und gab keine Gefühlsregung von sich. Kein Verziehen der Miene, kein Glanz in den Augen, kein angedeutetes Lächeln, geschweige denn überhaupt, dass er ein Wort sprach. Beyond wusste genau, wer dieser junge Mann war und was er eigentlich verkörperte. Und er hatte Angst, dass genau dieses Wissen ihm zum Verhängnis werden konnte. „Bist du hier wegen Jeff?“ Eine leichte Kopfbewegung, die wohl ein Nicken andeuten sollte. „Und… und… weißt du wo er ist?“ Keine Reaktion. Das Einzige, was dieser Mensch von sich gab (Wenn es sich in Beyonds Augen überhaupt jemals um einen Menschen gehalten hatte) war seine unendliche Kälte, die ihn wie eine unheimliche Aura umgab. Sam Leens, so nannte ihn jeder, der genug von ihm wusste um zu wissen, dass jedes weitere Wissen für ihn den Tod bedeutete. Sam Leens, der gefühlslose Killer, der Familien entführte und sie so lange psychisch als auch körperlich folterte bis er seine Studien über menschliche Emotionen beendet hatte. Der namenlose Alptraum von Amerika. „Bist du hier um mich zu töten?“ Ein leichtes Kopfschütteln. „Und weswegen bist du dann hier?“ Wieder keine Antwort. Aber dann zeigte er auf die Gartenlaube, was Beyond wohl als Hinweis verstand. Seltsam. Warum machte Sam das überhaupt und warum war er hier? Wenn Beyond ehrlich war, so hatte er sich gewünscht gehabt, dieses Monster nie wieder in seinem Leben zu sehen. Allein die Erinnerung an damals, was Sam den Kindern in seiner Klasse angetan hatte, ließ ihn erschaudern. Er ging in die Gartenlaube und fand dort eine Knochensäge, die blutverschmiert war. Seltsam, warum hatte er sein Werkzeug nicht mitgenommen, so wie er es immer tat? Selbst wenn er nicht mehr richtig im Oberstübchen war, dann müsste er doch wenigstens die Tatwaffe mitnehmen. Handschuhe konnte er ja nicht getragen haben, so lang wie seine Fingernägel waren. Er hätte sie an den Fingerspitzen abschneiden müssen. Oder hatte diese Fahrlässigkeit einen bestimmten Grund? Warum war es ihm egal geworden, ob man an seine Fingerabdrücke kam? Hatte er etwa vor…. Schnell verließ Beyond die Laube und sah zu Sam, der wie ein Mahnmal des Unheils an der Straße stand. „Er will sich seine Fingerabdrücke entfernen lassen, indem er seine eigenen Hände verstümmelt, nicht wahr? Das ist es, was du mir sagen wolltest, oder?“ Sam sagte nichts, er sagte nie etwas, wenn er es nicht für absolut nötig halten würde. Nur ein leichtes Nicken kam als Antwort. „Warum zeigst du mir das?“ Sam schwieg und wandte sich zum Gehen um. Beyond machte keine Anstalten, ihn aufzuhalten. Seine Angst war dafür zu groß. Aber dann fragte er ein letztes Mal. „Ist es wegen ihr?“ Sam drehte den Kopf und sah Beyond mit seinen farblosen glasigen Augen an. Er antwortete ihm mit einem Nicken, dann ging er und verschwand um eine Häuserecke und das so plötzlich, wie er gekommen war. Manchmal kam er Beyond wie ein Phantom oder wie ein Gespenst vor. Und wie heilfroh war er, dass dieser namenlose Mensch endlich weg war. Schnell eilte er wieder ins Haus und rief Naomi Misora, die gerade mit jemandem von der Spurensicherung redete. Er zeigte ihr den sichergestellten Stofffetzen und erzählte ihr von seinem Fund in der Gartenlaube. Über Sam verlor er kein Wort. Das war ihm zu gefährlich. „Sie glauben also, er will seine Handflächen verletzen um keine Fingerabdrücke mehr zu hinterlassen? Sind Sie sich da auch sicher?“ „Das würde sein fahrlässiges Verhalten erklären. Wie will die Polizei denn jemanden mit Fingerabdrücken überführen, wenn er keine mehr hat? Genau deswegen hat er die Knochensäge da gelassen und deswegen hat er auch die Augentropfen einfach so in den Müll geworfen.“ „So ein Mist. In dieser kurzen Zeit werden wir ihn sicher nicht finden. Wir wissen ja noch nicht einmal, wo wir mit der Suche anfangen sollen.“ Da hat sie nicht ganz Unrecht, dachte Beyond und kaute nachdenklich auf seiner Daumenkuppe. Auch wenn er vollkommen durchgeknallt war, würde Grinface nicht so blöd sein und sich hier in der Nähe aufhalten. Wenn es sich bei ihm wirklich um Jeff Blalock handelte, dann würde er sich einen Ort suchen, an dem er in Ruhe leben konnte und auch nicht auffiel. Verlassene Gegenden würde er sicher nicht aufsuchen, wenn er wirklich dermaßen viele Augentropfen verbrauchte und sich auch noch selbst die Finger kaputt machte, dann musste er in der Nähe von Apotheken leben. Aber wo genau könnte er denn hin, wo er sicher sein konnte, dass niemand ihn an die Polizei verraten würde? Könnte es vielleicht sein, dass er zurück nach Hause ging? Zurück an den Ort, wo er seine eigene Familie abgeschlachtet hatte? Der Gedanke an seine eigene Heimatstadt ließ Beyond unwohl werden. Dabei hatte er sich doch geschworen, nie wieder dorthin zurückzukehren. Damals war er davongelaufen, um so weit weg wie möglich von seinen eigenen Erinnerungen zu flüchten. Vor den Leuten, die von seinem Leid wussten, was ihm angetan worden war und trotzdem einfach geschwiegen hatten. Und vor dem Grauen, was da in diesem Städtchen lauerte, dem er nur knapp entronnen war. Jeff wusste davon nichts, er war ja erst später mit seiner Familie hingezogen und doch hatte es gerade mal ein Jahr gebraucht, um ihn zum psychischen Krüppel zu machen. Er selbst war mit acht Jahren soweit gewesen, dass er am liebsten seine eigenen Eltern umgebracht hatte, wenn nicht etwas dazwischengekommen wäre. „Ich glaube, ich weiß wo er hingegangen ist“ sagte er mit solchem Ernst, dass auch Naomi beunruhigt war und Schlimmes zu ahnen begann. „Und wo könnte er sein?“ „In meiner Heimatstadt.“ „Sind Sie sich da ganz sicher?“ „Glauben Sie mir Frau Misora, ich wäre unendlich dankbar wenn ich falsch läge und dem nicht so wäre. Aber das ist wahrscheinlich der einzige Ort, an dem er sich bedenkenlos blicken lassen kann, ohne dass die Polizei dort etwas unternimmt. Denn diese Stadt ist dafür bekannt, dass sie all ihre Verbrechen unter den Teppich kehrt und sich darüber totschweigt. Und ich spreche nicht nur von Handtaschendiebstahl oder Vandalismus. Nein, in dieser Stadt hat es alles gegeben. Entführungen, Missbrauch, Vergewaltigung, schwere Körperverletzung und auch Mord. Allerdings werden all diese Fälle vertuscht.“ „Warum denn?“ „Weil der Ort schlecht ist. Es ist ein verdammt mieser Ort und die Menschen haben Angst. Angst vor dem, was dort ist und was sie weder sehen noch greifen können. Deswegen schotten sie sich selbst ab und tun so als wäre nichts.“ Kapitel 5: Erinnerung --------------------- Es war ein wolkenverhangener grauer und kalter Tag und am Himmel sah es verdächtig nach Regen aus. Das perfekte Wetter, um zur Wurzel allen Übels zurückzukehren, dachte Beyond und wünschte sich, er könnte wieder gehen und die unangenehmen Erinnerungen einfach verdrängen, so wie er es immer getan hatte. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Warum sonst wäre Sam sonst extra zu ihm gekommen? Auch er war in dieser Stadt aufgewachsen und gehörte mit zu den unzähligen Grauen, die diese Stadt heimgesucht hatten. Vielleicht wollte er quasi mit seinem Erscheinen sagen, dass es Zeit war, zurückzukehren wo, alles seinen Anfang genommen hatte. Eigentlich konnte Beyond von Glück reden, dass Sam ihn überhaupt am Leben gelassen hatte denn eigentlich ließ dieser nie eine passende Gelegenheit aus, um ihn gleich umzubringen. Und Beyond entkam seinen Mordversuchen nur knapp und mit schweren Verletzungen, die er sich zum Teil selbst zufügen musste, um zu überleben. Aber dann, eines Tages, hatte es urplötzlich Ruhe gegeben und Sam war nicht mehr aufgetaucht. Trotzdem hatte Beyond kaum Ruhe gefunden und dann hatte er erfahren, dass Sam sich wohl anderen Dingen gewidmet hatte. Eine Person war in sein Leben getreten, näher gesagt eine Frau. Und sie gehörte sozusagen zu Beyonds Überbleibsel vom Familienkreis, auch wenn sie nicht seine Blutsverwandte war. Und anscheinend hatte Sam erhebliches Interesse an ihr, wenn auch nicht emotionaler Natur und jedenfalls schien eben jene Frau dafür gesorgt zu haben, dass die Mordversuche ein Ende fanden. War es auch ihr Verdienst, dass Sam ihm einen Hinweis auf Jeffs Aufenthaltsort gegeben hatte? In diesem Moment wusste Beyond nicht wirklich, ob er ihr dankbar sein, oder sie lieber dafür hassen sollte. Obwohl er immer eine sehr gute Vitalität besaß, fühlte er sich nicht gut. Sein Magen schmerzte, sein Kopf fühlte sich leicht benebelt an und seine Stirn glühte ein wenig. Selbst sein Körper sträubte sich mit aller Macht dagegen, in seine Heimatstadt zurückzukehren. Dabei war er sonst nie wirklich krank gewesen. Nun gut, als kleines Kind hatte er die Masern, die Windpocken und die Grippe gehabt, aber das war auch schon alles. Spätestens seitdem er nach Winchester geholt wurde, war er nicht ein einziges Mal krank. Und jetzt, wo er an diesen verfluchten Ort zurückkehren musste, erwischte es ihn. Seine Augen brannten und er fühlte sich benommen. Naomi entging dies nicht und sie fragte, ob alles in Ordnung mit ihm sei. So eine dumme Frage…. „Diese Stadt…“, murmelte er und sah mit trübem Blick aus dem Fenster, wo man bereits den Wald sah. „Diese Stadt macht mich krank.“ Nach knapp einer Viertelstunde, nachdem sie die Waldstraße passiert hatten, erreichten sie die Stadt. Klein und grau lag sie da und die Häuser wirkten vom Hügel aus wie Grabsteine auf einem Friedhof. Und genauso war auch dort die Stimmung. Zwar spielten Kinder draußen, die lachten und kreischten, aber irgendetwas lag in der Luft, das spürte Naomi. Es waren keine Vögel wie Tauben, Spatzen oder Meisen zu hören oder zu sehen. Nur Raben und Krähen, die wie die Boten des Todes krächzende Laute von sich gaben. Und obwohl der Nachbar mit Nachbarn plauderte, alte Klatschweiber sich zusammenrotteten und neueste Geschichten erzählten, kam Naomi das alles wie eine Art Fassade vor. Als würden die Leute nur Theater spielen. „Merken Sie es?“ fragte Beyond der gebeugt neben ihr herlief. „Alles hier fühlt sich an wie eine einzige Lüge. Angefangen von dem freundlichen Lächeln bis hin zum täglichen Plausch. Es ist, als wäre man in einer gigantischen Illusion gefangen, wo uns unsere fünf Sinne einen Streich spielen und wo wir uns nur auf unsere Intuition verlassen können. Wenn hier als Kind aufwächst, spürt man das manchmal. Es gibt aber auch manche, die überhaupt nichts bemerken und die Erwachsenen, die seit Ewigkeiten schon hier leben und die Stadt nie verlassen haben, die haben sich zu sehr daran gewöhnt, dass sie es nicht mehr wahrnehmen. Genauso wenig wie man einen Gestank riecht, gegen den man irgendwann abstumpft, wenn man ihn ewig lange wahrnimmt. Und auch die Stadt stinkt. Sie stinkt vor Falschheit und Verlogenheit und Ignoranz.“ „Wissen die, dass Sie ein Krimineller sind?“ „Natürlich und hinter meinem Rücken zerreißen sie sich alle die Mäuler. Das ist aber auch schon alles, was die machen. Hier könnten sogar islamische Terroristen ihr neues Hauptquartier errichten, die Welt würde davon nie etwas erfahren.“ „Warum sind die Leute so?“ „Das weiß ich nicht….“ Beyond begann ein wenig zu wanken und er wurde richtig blass im Gesicht. Naomi machte sich Sorgen und fragte sich, warum es ihm ausgerechnet jetzt so schlecht ging. Es schien so, als würde ihm diese Stadt sozusagen die Lebenskraft entziehen. Aber sie selbst merkte keine Veränderungen an sich. „Wo haben die Blalocks denn gewohnt?“ Ein paar Häuser weiter von mir.“ „Und da haben Sie nicht mitbekommen, wie er seine Familie umbringt?“ „Ich hatte selbst genug Probleme….“ Sie suchten in Gebäuden und Orten der Innenstadt nach, wo man sich hätte gut verstecken können. In der alten Musikschule, die schon seit über 13 Jahren verlassen war, dem gesperrten Fabrikgelände und sie fragten in der Apotheke nach. Wie befürchtet war Jeff nirgendwo. Schließlich setzten sie sich in ein Cafe, um alles Weitere bei einer Tasse Kaffee zu besprechen. „Langsam bezweifle ich, dass wir hier in so einem Kaff fündig werden. Außerdem hätten wir keine Beweise, selbst wenn es sich wirklich um Jeff Blalock handeln sollte.“ „Haben Sie das Haar vergessen, das Sie am Tatort gefunden haben? Wenn es nicht von mir oder der getöteten Familie ist, dann muss es dem Mörder gehören und wenn wir Jeff aufspüren können, dann können wir auch eine DNA-Probe entnehmen. Außerdem sprechen folgende Tatsachen dafür, dass er es sein könnte: Er verstümmelt den Leuten post mortem ihre Gesichter, weil er selbst entstellt ist. Und dann gibt es da noch die Fingerabdrücke… außerdem gibt es da noch etwas, aber… ich habe es irgendwie vergessen.“ Sein Atem wurde lauter und flacher, er musste seinen Kopf abstützen und manchmal verschwamm seine Sicht. „Ich habe da außerdem einen Informanten getroffen, der mir den Hinweis gab, hierherzugehen und ich glaube kaum, dass er mich anlügen würde.“ „Und wer ist dieser Informant?“ „Wenn ich Ihnen das sage, könnte das mein Todesurteil sein. Also verstehen Sie bitte, dass ich ihn nicht nennen darf.“ Nach dem Kaffee machten sie sich auf den Weg zu Jeffs Familienhaus. Doch sie kamen nicht sehr schnell voran, da Beyonds Kraft mit jedem Schritt immer weiter abnahm. Je näher er seinem eigenen Haus kam, desto schlimmer wurde es mit ihm. Sein ganzer Körper sträubte sich so sehr dagegen, dass er sich selbst krank machte. Und Beyond konnte kaum noch klar denken. In seinem Kopf schwirrten Bilder umher, er hörte Stimmen von damals und wusste nichts mit ihnen anzufangen. Er konnte sich nicht genau erinnern, was passiert war. Was der Grund war, warum er Angst davor hatte, nach Hause zurückzukehren. Und er erinnerte sich auch nicht mehr daran, was ihm im Wald im Alter von 10 Jahren passiert war. Alles, was er noch wusste war, dass er Todesängste ausgestanden hatte. Immer wieder hatte er um Hilfe gerufen, bis jemand kam und eine Waffe auf ihn richtete. Er erinnerte sich nur noch, wie er mit zwei anderen Kindern durch den Wald flüchtete weil etwas hinter ihnen her war. Und dann tauchte jemand auf, der mit einer Smith & Wesson auf ihn zielte. Aber wer war es gewesen und warum hatte er mit einer Pistole auf ihn gezielt? Warum? Was war überhaupt hinter ihnen her gewesen und wer war bei ihm gewesen? So sehr er sich auch anstrengte, es wollte ihm einfach nicht einfallen. Alles um ihn herum verzerrte sich zu einem bizarren Bild. Die Häuser schienen sich zu verbiegen und drehen und selbst der geteerte Boden schien weich und wacklig zu sein. Als Beyond zu einem weiteren Schritt ansetzen wollte, da gab sein Bein den Geist auf und er fiel vornüber zu Boden. Naomi war sofort zur Stelle und half ihm wieder hoch. „Ich sollte Sie besser ins Hotel bringen. Sie brauchen dringend Ruhe.“ „Nein, ich muss weiter. Ich muss unbedingt wissen, was damals passiert ist. All die Jahre habe ich es verdrängt….“ Er stieß sie weg und lief weiter. Es brauchte nicht viel und er hatte die Straße erreicht, in der er aufgewachsen war. Aber je näher er kam, desto stärker rebellierte sein eigener Körper. Und als er vor dem Haus stand, in dem er aufgewachsen war, da verkrampfte sich sein Magen und vor Schmerz stöhnend sank er in die Knie. Die Stimmen seiner Vergangenheit waren von einem Flüstern zu einem ohrenbetäubenden Schrei geworden. Er hielt sich die Ohren zu, doch da sie aus seinem Kopf kamen, brachte es gar nichts. Der Druck in seinem Schädel, der erst kaum spürbar gewesen war, steigerte sich ins Unerträgliche und er schrie auf. Naomi versuchte mit ihm zu reden, doch sie musste hilflos mit ansehen, wie sich Beyond Birthday in Krämpfen wand und dann bewusstlos zusammenbrach. Als Beyond die Augen öffnete, hörte er eine weibliche Stimme. Etwa die von Frau Misora? Nein, sie klang deutlich jünger, wie die eines kleinen Mädchens. Sanft rüttelte man ihm die Schultern und er hob den Kopf. „Beyond, du bist schon wieder eingeschlafen. Die Schule ist längst aus!“ Schule? Was redete sie da für einen Schwachsinn? Und wer war dieses Mädchen? Langsam öffnete er die Augen und sah zwei weitere rote Augen, die ihn ansahen. Vor ihm stand ein Mädchen. Sie hatte einen relativ kurzen goldblonden Haarschnitt trug einen weißen Pullover und ein schwarzes Kleid. Ihr Gesicht hatte kaum merkliche und doch sehr feine asiatische Gesichtszüge und sie sah ihn leicht tadelnd aber auch mit liebevollen Augen an. Sie schien nicht älter als 11 Jahre alt zu sein. „Na komm schon, die beiden warten schon auf uns.“ „Welche beiden?“ „Hast du es etwa vergessen? Wir sind doch mit den beiden Blalock Brüdern verabredet, die seit zwei Wochen hier wohnen. Erinnerst du dich nicht mehr an Jeff und Liu?“ Jeff und Liu Blalock? Dann spielte diese Erinnerung also vor der Ermordung der Familie Blalock und Jeffs Verschwinden. Dann musste das sich hier also um eine seiner verdrängten Erinnerungen handeln, in der er jetzt sozusagen live dabei war. Ein bisschen kam er sich wie bei Butterfly Effect mit diesem Vollpfosten Ashton Kutcher vor. Als wäre sein Geist in die Vergangenheit gereist und wäre in seinen Kindkörper gefahren. Vielleicht war diese Erinnerung ja der Schlüssel zu Jeffs Verschwinden und konnte Aufklärung geben, was genau damals passiert war. Nachdem er seine Schultasche (ein altes Ding, das fast auseinander fiel) gepackt hatte, folgte er Rumiko aus dem Klassenzimmer und sie gingen durch den Flur. Es war schon merkwürdig, seine alten Lehrer und Mitschüler wiederzusehen. Sprachlos sah er sich um, erkannte so vieles wieder und musste sich an teils komische und teils unangenehme Erlebnisse erinnern. „Beyond, du wirkst irgendwie merkwürdig. Geht es dir gut?“ „Was? Ach was, ich habe nur zu wenig geschlafen, das ist alles.“ „Ja, es war auch gestern ziemlich laut. Dad hat mal wieder zu viel gesoffen und Theater gemacht.“ Sie stiegen nun die Stufen hinunter. Unten tummelten sich immer noch Kinder herum, die zusammen spielten oder rauften. An der Eingangstür aber warteten zwei Jungs, an die sich Beyond überhaupt nicht erinnern konnte. Aber anhand der Namen konnte er erkennen, dass es sich um Jeff und Liu handelte. Liu war ein wenig schmächtig und blass, außerdem etwas kleiner als Jeff. Sein brünettes Haar war kurz geschnitten und er hatte dunkelbraune Augen. Er trug ein blaues Nike Basketball T-Shirt mit Kobe Bryant von den Los Angeles Lakers, dazu weiße Shorts und Sportschuhe. Sein Bruder Jeff, der durch seine Größe herausstach, war da etwas schlichter angezogen. Er gab sich mit einem weißen Kapuzenshirt und einer schlichten schwarzen Hose zufrieden. Sein brünettes Haar war viel länger als das von Rumiko und fiel über seine Schultern. Beyond erinnerte sich, dass viele aus der Klasse ihn dafür ausgelacht und ihn als Mädchen beschimpft hatten. Sein Blick wirkte ein wenig nachdenklich und abwesend, er war das komplette Gegenteil zu seinem Bruder, aber soweit Beyond sich richtig erinnerte, hielten beide wie Pech und Schwefel zusammen. „Hi Leute“, begrüßte Rumiko sie gut gelaunt. „Tut mir leid, dass ihr warten musstet, aber Beyond hat geschlafen.“ „Alte Petze“, bemerkte Beyond und sah sie schmollend an. Liu lachte und stieß seinen Bruder scherzhaft in die Seite. „Jeff ist auch eine alte Schnarchnase. In unserer alten Schule ist er auch ständig eingeschlafen.“ Jeff seinerseits fand das nicht ganz so lustig wie sein Bruder und zog eine mürrische Miene. Zusammen verließen sie den Schulhof und gingen in Richtung Stadtzentrum. Beyond bemerkte, dass sich im Grunde nichts verändert hatte, als er mit Frau Misora zurückgekehrt war. Lediglich der alte Buchladen war geschlossen worden und an seiner Stelle hatte eine Konditorei aufgemacht. Ihr Weg führte sie zur Altstadt wo sie sich ein Eis kauften. Rumiko, die ein unglaublicher Fan von allem war, was nach Vanille schmeckte oder roch, entschied sich wie immer für ihre Lieblingssorte, er selbst wählte Erdbeere. Liu entschied sich für Schokolade und Jeff für Waldmeister. Dann setzten sie sich an den Springbrunnen, in der Mitte des kreisrunden Platzes. „Sagt mal, wie ist es denn eigentlich in Los Angeles?“ fragte Rumiko neugierig während sie ihr Eis mit dem Löffel aß. „Ist es dort so, wie man sich erzählt?“ „Nun, es ist ganz schön groß. Im Vergleich zu Los Angeles ist diese Stadt ein kleines Bauernkaff. Ehrlich gesagt, wäre ich lieber dort geblieben. Hier ist es irgendwie… seltsam.“ „Wie meinst du das?“ fragte Liu seinen Bruder und verstand wohl nicht so wirklich, was er jetzt großartig auszusetzen hatte, denn das Wetter als auch die Luft und die Stadt selbst waren tadellos. Hier war es wesentlich ordentlicher und sauberer als da drüben und alles wirkte friedlich. Aber Jeff war nicht der Meinung. „Irgendetwas ist seltsam hier. Ich weiß nicht wie ich es beschreiben soll.“ „Es ist, als wäre das alles hier eine Lüge, nicht wahr?“ fragte Beyond und sah Jeff prüfend an. Seine Augen verrieten, dass er Recht hatte. „Ja. Und ich weiß nicht, warum.“ „Bei uns ist es genau das Gleiche“, erklärte Rumiko und hielt kurz mit dem Eisessen inne und sah sich auf dem Platz um. „Viele Kinder aus der Stadt spüren es, die Erwachsenen selbst merken gar nichts mehr. Sie sind bereits zu angepasst. Eben deswegen wollen wir hier so schnell wie möglich verschwinden. Diese Stadt ist durch und durch schlecht. Und es gibt hier so ein paar Orte, an denen es nicht mit rechten Dingen zugeht. Das beste Beispiel ist immer noch die Hütte am See.“ „Was ist damit?“ „Jeder, der sich länger als fünf Minuten dort aufhält, gerät in Panik und dreht durch. Und wenn man länger als drei Stunden da drin bleibt, verliert man den Verstand. Und dann ist da noch der Wald, den ihr bei eurer Ankunft passiert habt. Angeblich lebt dort ein Monster, das Kinder frisst.“ „Ist euch irgendwann mal in den Sinn gekommen, dass das bloß Gruselgeschichten sind, die Eltern ihren Kindern erzählen um ihnen Angst zu machen, damit sie nicht in den Wald gehen?“ entgegnete Jeff, der Rumikos Gerede für harmlose Schauermärchen hielt und der auch fest der Überzeugung war, dass es für die Geschichte mit dem Wald und der Hütte eine ganz einfache und logische Erklärung gab. Beyond wusste es besser. Rumiko war immerhin zwei Tage in der Hütte eingesperrt gewesen in einer kleinen Kiste. Jeder andere hatte bereits nach 5 Stunden Selbstmord begangen, nachdem er durchgedreht ist. Sie hatte zwei Tage in einer kleinen Kiste überlebt, aus der sie verzweifelt versucht hatte sich zu befreien. Dabei hatte sie sich fünf Fingernägel ausgerissen. Danach hatte sie den Nachbarn mit der Axt erschlagen und seine Eltern ermordet. Aber das würde erst später passieren und diese Rumiko hier wusste noch gar nichts von dem ihr bevorstehenden Unheil. Und auch das mit dem Wald war kein Hirngespinst. Irgendetwas war dort passiert und genau das hatte Beyond verdrängt. „Das mit der Hütte stimmt wirklich! Erst vor 3 Jahren haben sich fünf Teenager gegenseitig umgebracht, nachdem sie dort nicht mehr rausgekommen waren. Beyond, sag doch auch was.“ „Was?“ „Na dass das mit der Hütte keine Lüge ist!“ „Natürlich nicht. Dort gehen unheimliche Dinge vor….“ „Seid ihr schon mal selbst drin gewesen?“ Rumiko sah Jeff entgeistert an und sprang auf. „Bist du verrückt? Niemand geht freiwillig da rein.“ „Dann könnt ihr auch nicht beweisen, dass das alles wahr ist.“ „Probier’s doch selbst aus, wenn du es nicht glaubst!“ Das war wirklich keine gute Idee gewesen und Beyond bereute es auch gleich wieder, das gesagt zu haben. Aber das hatte er in seiner Vergangenheit auch so gesagt, nachdem ihm Jeffs dummes Geschwätz auf die Nerven gegangen war und er keine Lust mehr auf Zoff hatte. Und wie damals ging Jeff darauf ein und sagte „Gut, dann lasst uns zur Hütte gehen und ich beweise euch, dass das alles nur Hirngespinste und Schauergeschichten sind!“ Nachdem sie ihr Eis gegessen hatten, machten sie sich auf dem Weg zum See. Der befand sich nicht weit von ihrer Straße entfernt, sie mussten dazu lediglich durchs Maisfeld, dann einen Hügel hinauf und noch eine Zeit lang weiterlaufen und schon wären sie da. Aber Rumiko und er waren alles andere als begeistert von der Idee und sie versuchten Jeff umzustimmen. Es sei dort gefährlich und man dürfe das nicht als Schwachsinn abtun. Immerhin seien dort wirklich Menschen gestorben. Sogar Liu war der Meinung, dass man das besser sein lassen sollte, aber Jeffs Meinung stand fest. Er wollte unbedingt zur Hütte und beweisen, dass es sich dabei nur um Schauergeschichten der Erwachsenen handelte. Selbst wenn dort wirklich jemand gestorben wäre, dann hieß das noch lange nicht, dass die Hütte verflucht wäre. Nur mit großem Widerwillen machten sie sich auf den Weg zur Hütte und nach knapp einer Stunde erreichten sie den See. Wie ein riesiger Spiegel lag er da, keine einzige Welle ließ das Spiegelbild des Himmels und der Bäume verschwimmen und es herrschte Totenstille. Keine Grillen, keine Vögel… rein gar nichts. Als hätte die Welt um sie herum den Atem angehalten, um sich auf das Entsetzen vorzubereiten. Nicht weit vom Steg entfernt stand die Hütte, ein hässlicher grauer Klotz mit Ziegeldach und zugenagelten Fenstern. Wie alt sie schon war, dass wusste nicht einmal der Älteste in der Stadt. Wahrscheinlich war sie sogar älter als die Stadt selbst. Wofür sie überhaupt gebraucht worden war, das wusste auch keiner. In ihr drin befanden sich nur ein paar alte Möbel, sonst nichts. Normalerweise wären solche Häuser längst mit Moos und Efeu bewachsen, aber die Hütte stand da als wäre sie erst vor kurzem gebaut worden. Vor der Tür, die nicht verschlossen war, hatte jemand ein Warnschild aufgehängt: „Nicht betreten! Lebensgefahr!“ Kapitel 6: Gefährlich --------------------- Rumiko blieb knapp drei Meter von der Hütte entfernt stehen und weigerte sich, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Dies war auch die Grenze für alles andere, was lebte. Denn im Umkreis von drei Metern wuchs nichts mehr. Kein Gras, nicht einmal Unkraut. Der Boden war trocken und unfruchtbar. Nun waren auch Jeff und Liu stehen geblieben und sahen auf die Hütte. Es war, als würde ein Windzug aus den Fugen der vernagelten Fenster herausströmen, der den Klageschrei seiner Todesopfer mit sich trug und sich mit dem Gestank von Blut und Tod vermischte. Jeder vernünftige Mensch hätte spätestens jetzt kehrt gemacht und nicht mehr daran gedacht, die Hütte zu betreten. Beyond erinnerte sich nur zu gut an dieses verfluchte Gebäude. Wie ein unsichtbarer schwarzer Nebel umhüllten Tod und Verderben diesen Ort und jeder in der Stadt würde lieber Selbstmord begehen, als einen einzigen Fuß dort hineinzusetzen. Liu wandte sich an Jeff und in seinen Augen war auch Angst zu sehen. „Jeff, lass es doch lieber. Das hier ist mir nicht geheuer.“ Auch Jeff begann allmählich zu zweifeln, ob das wirklich eine gute Idee war. Aber wie stünde er denn da, wenn er jetzt kneifen würde? Ganz klar: Wie ein großmäuliger Feigling. Und überhaupt, es war nur eine Hütte. Was sollte denn da schon passieren? Das hier war doch nicht „Zimmer 1408“. „Irgendwie ein bisschen enttäuschend. Ich hab sie mir ein bisschen gruseliger vorgestellt.“ Jeffs Worte klangen nicht sehr überzeugend. Er kam in diesem Moment ja sogar etwas armselig rüber und Beyond schüttelte den Kopf. Warum ließ der Kerl es nicht einfach? Niemand würde es ihm übel nehmen, im Gegenteil. Er und Rumiko wären sogar froh, wenn er es sein ließe. Denn wenn da drin sich fünf Teenager gegenseitig die Kehlen aufgeschlitzt haben, weil sie dem Wahnsinn verfallen waren, dann konnte es für Jeff auch nichts Gutes bedeuten. Die Tür der Hütte öffnete sich auf einmal und als da jemand herauskam, begann Liu zu schreien, denn er glaubte für eine Sekunde, einen Geist zu sehen. Ein Junge mit weißblondem Haar, staubgrauen Augen und einem nichtssagenden Gesichtsausdruck kam heraus und starrte sie ausdruckslos an. Es war Sam Leens im Kindesalter. Schon damals wirkte er wie ein wandelndes Geheimnis, das wohl wirklich kein Mensch zu ergründen vermochte. Als Kind hatte er kaum ein Wort gesprochen, war immer alleine und manchmal fragte Beyond sich, ob er eigentlich ein Zuhause hatte. Dass er keine Eltern mehr hatte, das stand für ihn schon längst fest. „Sam, was hast du da drin gemacht?“ rief Rumiko zu ihm rüber. Sam sah sie alle prüfend an, aber er antwortete nicht. Stattdessen ging er einfach und schenkte ihnen keine Beachtung. Doch Beyond konnte sehen, dass er nicht weit von ihnen entfernt stehen blieb und offenbar darauf wartete, dass einer von ihnen die Hütte betrat. Liu wandte sich an Beyond und fragte ihn, wer der Kerl eigentlich sei. „Der Junge heißt Sam Leens. Eigentlich ist es nicht sein richtiger Name, keiner kennt seinen richtigen Namen und Sam Leens ist ein Anagramm für „Nameless“. Er ist ein komischer Typ, der so gut wie nie spricht und lieber für sich alleine lebt. Geht Sam besser aus dem Weg, er ist unheimlich.“ „Irgendwie ist doch alles bei euch in der Stadt unheimlich.“ „Sei still Jeff und lass uns wieder gehen.“ Doch Jeff wollte sich selbst und auch den anderen beweisen, dass das alles nur Schwachsinn war, ging zwei Schritte vor und drehte sich zu den anderen um. „Ich wette mit euch um zehn Dollar, dass ich länger als zehn Minuten da drin aushalte.“ „Jeff, lass es lieber“. Doch egal wie sehr Liu auch versuchte, seinen Bruder umzustimmen, Jeff war ein unglaublicher Sturkopf. Mit Widerwillen willigten Beyond, Rumiko und Liu in die Wette ein und beobachteten, wie Jeffrey Blalock auf die Hütte zuging. Doch dann lief Rumiko auf ihn zu und versuchte, ihn am Arm festzuhalten. „Bitte überleg es dir noch mal. Keiner von uns wird schlecht von dir denken, wenn du es nicht machst. Wir verstehen das schon.“ „Ach was, ihr seid doch alle nur Angsthasen!“ Damit stieß er die kleine Halbjapanerin von sich und legte seine Hand um den Türgriff. Er hörte, wie der Wind durch die Ritzen pfiff und dabei schaurige Klagelaute zu hören waren. Schon jetzt überkam ihm eine Gänsehaut und er zögerte noch. Aber dann riss er sich zusammen und rief zu den anderen „Die Zeit wird erst gezählt, wenn die Tür geschlossen ist.“ Er nahm einen tiefen Atemzug, bereite sich innerlich auf das vor, was ihn da drin erwarten könnte, dann öffnete er die Tür und verschwand im Inneren der Hütte. Beyond begann den Timer seiner Armbanduhr zu drücken und die Zeit wurde gezählt. Liu, er und Rumiko warteten gespannt und wagten es nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Die Sekunden vergingen quälend langsam und die erste Minute schien eine Ewigkeit zu dauern. Als die zweite Minute und dann die dritte Minute verstrichen, schien sich Lius Anspannung zu legen. Es ist alles in Ordnung, dachte er sich. Es ist nur ein Aberglaube und Jeff geht es gut. Immerhin kam der andere Junge ja auch ganz normal wieder raus. Doch kaum hatte die fünfte Minute begonnen, da begann Rumiko nervös zu werden. Länger als fünf Minuten hatte keiner ausgehalten ohne in Panik zu geraten. Und tatsächlich dauerte es lange, da hörten sie laute Schreie aus der Hütte kommen. Es war Jeff. Er schrie um Hilfe, er schrie sich beinahe die Seele aus dem Leib, als ginge es ums nackte Überleben. Liu wurde leichenblass und taumelte zurück. „Was… was geht da vor? Was passiert da mit meinem Bruder?“ Rumiko war die Erste, die sofort reagierte und zur Hütte rannte, auch wenn sie selbst Angst hatte. Wette hin oder her, sie mussten Jeff da sofort rausholen. Sie begann an der Tür zu zerren, doch sie hatte sich anscheinend verklemmt. „Beyond! Liu! Ich krieg die Tür nicht auf, helft mir!“ Die beiden eilten sofort herbei und versuchten mit vereinter Kraft die Türe aufzukriegen, während Jeff da drin wie ein Wahnsinniger schrie. Die Tür klemmte total fest und erst nachdem sie alle zusammen auf Kommando zogen, da sprang sie auf und die drei fielen nach hinten und ihnen folgte Jeff. Er zitterte am ganzen Körper, schaffte es nicht einmal aufzustehen und er weinte sogar. „Jeff, Jeff was ist passiert? Was war da drin los?“ Doch Jeff war nicht in der Lage zu antworten. Er war vollkommen verstört und in dem Zustand hätte er nicht mal seinen Namen sagen können. Und nicht weit entfernt von ihnen stand Sam, der völlig ungerührt von dieser Entwicklung war und weder Erstaunen noch Entsetzen zeigte. Kühl holte er ein Notizbuch heraus, schrieb sich etwas auf und ging dann einfach. Nachdem Jeff sich einigermaßen beruhigt hatte, brachten sie ihn nach Hause. Er sprach auf dem ganzen Weg nicht ein Wort, reagierte auf keine Frage und als seine Eltern in der Tür standen und wissen wollten, was passiert war, brach Jeff in Tränen aus und sank zusammen wie ein Häufchen Elend. Seine Mutter war vollkommen durcheinander und fragte Liu aus, der aber konnte selbst nicht erklären, was genau passiert war. „Irgendetwas war da in der Hütte und Jeff hat wie wild geschrieen. Wir haben versucht, ihn da rauszuholen aber die Tür hat geklemmt.“ „Meint ihr die Hütte am See?“ „Ja.“ Da das Ehepaar Blalock mit dem Schlimmsten rechnen musste, fuhren sie Jeff ins Krankenhaus. Beyond und Rumiko kamen mit. Wie sich herausstellte, wies Jeff keine körperlichen Verletzungen auf. Nicht einmal ein Kratzer und als man selbst in der Hütte nachsah, fand man dort nichts außer ein paar alten Möbeln und Geräten. Als es schließlich Abend wurde, mussten Beyond und Rumiko nach Hause. „Wir hätten Jeff wirklich davon abhalten müssen, in die Hütte zu gehen.“ „Das haben wir doch versucht, aber er wollte nicht hören.“ „Was, wenn es bleibende Schäden bei ihm hinterlässt?“ „Tja, das werden wir wohl noch früh genug herausfinden.“ Am nächsten Tag gingen Beyond und Rumiko Jeff besuchen. Zu ihrem Erstaunen war er vollkommen normal und wie es schien, erinnerte er sich nicht einmal daran, was passiert war. Er riss ein paar derbe Witze, machte sich wie immer einen Spaß daraus, seinen Bruder zu ärgern und schlug vor, dass sie am See Schwimmen gingen. Es war ja ein schönes Wetter und es herrschten noch sommerliche Temperaturen. Die Idee fand bei allen Begeisterung und Rumiko schlug vor, auch den Nachbarsjungen Jamie Miller einzuladen. Dieser war ein Jahr jünger als sie alle und lernbehindert. Er litt unter Legasthenie und stolperte ständig über seine eigenen Füße, oder fiel die Treppen hinunter. Außerdem neigte er zum Stottern. „Diese lahme Flasche willst du wirklich mitnehmen?“ „Jamie ist keine lahme Flasche und wenn du das noch mal sagst, hau ich dir eine rein!“ Ja, Rumiko scheute sich nicht davor, jedem die Fresse zu polieren, der es wagte, Jamie auch nur ein Haar zu krümmen. Obwohl sie beide noch Kinder waren, hatte es trotzdem zwischen ihnen gefunkt. Natürlich war diese Liebe nicht mit der von Erwachsenen zu vergleichen. So etwas verstanden sie noch nicht. Jamie lebte bei seinem allein erziehenden Vater, nachdem seine Diabeteskranke Mutter im Krankenhaus verstorben war. Wie sich Jahre später herausstellte, hatte Jamies Vater sie getötet, weil sie sich von ihrem Mann trennen und das alleinige Sorgerecht für ihren Sohn haben wollte. Dem Jungen selbst ging es nicht gut. Ständig wurde er von seinem Vater ausgeschimpft und gedemütigt, weil er langsamer war als andere Kinder war und motorische Schwierigkeiten hatte. Für ihn war Jamie ein Schwachkopf, ein stotternder Nichtsnutz, der wirklich gar nichts konnte. Beyond hatte Mitleid mit Jamie. Er selbst wurde oft von seinem eigenen Vater geschlagen, aber dass man Fehler vorgeworfen bekam, für die man nichts konnte, das war wirklich schlimm. Jamie gab sich ja alle Mühe, mit den anderen mitzuhalten und er bemühte sich auch, Lesen und Schreiben zu lernen. Manchmal ging Rumiko zu ihm rüber und las mit ihm zusammen die Geschichten von Don Camillo und Peppone. Sehr witzige und einfach erklärte Geschichten, die Jamie besonders liebte. Mit all ihrer Kraft wollte sie dem Jungen dabei helfen, eines Tages auf eine normale Schule zu kommen und irgendwann mal vielleicht sogar eine Art Forrest Gump Geschichte zu erleben. Dieser war ja auch etwas langsamer gewesen und hatte es mit seiner kindlich naiven Art trotzdem zum reichen Mann gebracht, der auf seinem Weg vielen Menschen sehr geholfen hat, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Nur leider wollte es das Schicksal ganz anders. Rumiko würde später beobachten, wie Mr. Miller mit einer Sporttasche zum See kam und diese kurz alleine ließ. Sie würde in die Tasche hineinsehen und den abgetrennten Kopf ihres besten Freundes finden. Danach würde sie flüchten und sich in der verfluchten Hütte in einer Kiste verstecken. Ein Regal würde drauf fallen und ihre rechtzeitige Flucht verhindern. Zwei Tage würde sie festsitzen, bis sie sich dann endlich befreien konnte. Dann würde sie Jamies Vater nachts mit der Axt erschlagen und später auch ihre Adoptiveltern umbringen. Vollkommen verwirrt würde sie sich einreden, dass Jamie noch am Leben sei und danach jahrelang nach ihm suchen. Von Einsamkeit zerfressen und von damals traumatisiert würde sie damit beginnen, all jene zu jagen und zu töten, die es wagten, ein Kind anzufassen oder es zu töten. In all diesen Kinderaugen würde sie ihre Jugendliebe Jamie sehen, dessen Tod sie niemals verkraften würde. Wie die Schauspielerin in „Millennium Actress“ würde sie niemals aufhören, Jamie zu suchen bis sie dann eines Tages der Weg zurück nach Hause führen würde. Dann würde sie in die Hütte gehen und unter den Bodendielen die Tasche mit der Leiche von Jamie finden. Ja, so weit war sie in der wirklichen Welt angekommen und wie es ihr ging, das wusste Beyond nicht. Was er lediglich wusste war, dass Rumiko sich zurzeit mit dem spurlosen Verschwinden mehrerer Kinder beschäftigte und dieser Trantüte von FBI Agent Raye Penber auf die Sprünge half. Das hatte Ray-Ray auch wirklich bitter nötig, der Torfkopf würde noch nicht einmal eine Spur finden, wenn man sie ihm direkt vor die Nase hielt. Vielleicht war es ja auch Sams Verdienst, dass sie sich mit diesem Fall ablenkte. Als sie an der Tür der Millers klingelten und nach einer Weile Jamie öffnete, da kamen all diese Erinnerungen wieder hoch und es schnürte Beyond die Brust zu. Wenn das hier kein Traum wäre, dann würde er so vieles ändern. Er würde verhindern, dass Jeff die Hütte betreten und später durchdrehte und seine Familie abschlachtete. Er würde Jamies Tod verhindern und so vieles anders machen. „Jamie, hast du Lust mit uns zum See zu gehen? Wir wollen dort ein bisschen Schwimmen.“ „Au ja! G-g-gerne, i-i-ich sag nur Daddy Bescheid.“ Schnell eilte Jamie wieder rein und es kam, wie es kommen musste: Er stolperte und fiel der Länge nach hin. Wenig später kam er allerdings mit einer Tasche wieder zurück. Beyond erstarrte als er sah, dass es genau die Tasche war, in der seine Leiche später liegen würde. Doch er sagte nichts und gemeinsam gingen sie zum See. Dort schwammen sie um die Wette, testeten, wer unter Wasser am längsten die Luft anhalten konnte und spielten dann Wasserball. Sie alle hatten so viel Spaß wie noch nie und als Rumiko müde wurde und sich an den Steg setzte, um mit Jamie ein wenig zu lesen, ging es für die anderen erst richtig los. Ja, dachte Beyond, während er einen Wettkampf nach dem anderen mit Liu und Jeff bestritt. Das war wirklich einer der schönsten Augenblicke meiner Jugend. Aber wann war das alles so außer Kontrolle geraten? Wann genau hatte das alles eine derart dramatische Wendung genommen, dass er, Jeff und Rumiko zu Serienmördern mit angeknackster Psyche wurden und Liu und Jamie einen grausamen Tod sterben mussten? Vielleicht würde er es ja bald herausfinden. Sie verbrachten die ganze Zeit bis zum Abend zusammen und Jeff wirkte vollkommen normal. Er verhielt sich wie sonst auch. Als es langsam dunkel wurde, gingen sie wie immer durchs Maisfeld. „Sagt mal“, rief Liu zu Beyond und Rumiko, die ganz vorne liefen. „Warum latschen wir ständig durchs Feld? Wird der Besitzer nicht stinkwütend?“ „Nein, der sagt nichts. Außerdem ist es extrem gefährlich, sich bei Anbruch der Dunkelheit in der Nähe des Waldes aufzuhalten. Dort sind in der letzten Zeit immer wieder Kinder verschwunden. Auch tagsüber. Deswegen sagt der Besitzer auch nichts, solange wir nicht so viel kaputt machen.“ „Anscheinend gibt es hier wohl viele gefährliche Orte.“ „Nun ja, diese Stadt hat viel erlebt. Auf dem Gray Hill steht ein altes verlassenes Internat. Dort wurden angeblich vor fünfzig Jahren über 100 Schüler und 30 Lehrer in einer einzigen Nacht umgebracht.“ „Da muss man ja Angst haben, dass das eigene Zuhause ein alter Tatort ist“, kommentierte Jeff im sarkastischen Ton und schüttelte den Kopf. Rumiko, Liu und Beyond sagten nichts über den gestrigen Tag. Es war besser, wenn Jeff sich nicht erinnerte. „Das ist nicht witzig“, sagte Jamie plötzlich, der sich sonst immer zurückhielt und der aufgrund seiner unbeholfenen Gangart der Letzte in der Gruppe war. „Erst vor sechs Monaten ist Lucy Abbott aus der Parallelklasse im Wald verschwunden. Ihr hat die untere Körperhälfte gefehlt.“ „Ja, daran kann ich mich noch gut erinnern. Es stand in der Zeitung“, murmelte Rumiko mit einem ernsten Nicken und nahm Jamies Hand, um ihm zu helfen, durch das unebene Feld zu laufen. „Wenn die Sonne untergeht, haben wir alle sowieso Ausgangssperre. Also lasst uns beeilen, bevor es noch Ärger gibt.“ Lucy Abbott. Ihr Anblick war wirklich grauenerregend gewesen. Irgendetwas hatte sie in der Luft in Stücke gerissen und ihr dabei einen Arm und das Genick gebrochen. Von ihrer unteren Hälfte fehlte bis heute jede Spur und nicht nur ihr war es so ergangen. Wenn man überhaupt Kinderleichen fand, so fehlten ihnen manchmal ein Arm oder ein Bein. Man ging davon aus, dass ein wildes Tier in dem Wald sein Unwesen trieb und obwohl man bereits Jäger dorthin geschickt hatte, blieb die Suche erfolglos. Aber selbst wenn es ein Wolf oder ein Bär gewesen wäre, dann hätte man doch Spuren gefunden und es wären auch Biss- und Krallenspuren dort zu sehen gewesen sein. Dem war aber nicht so. Als sich die beiden Brüder von Rumiko, Beyond und Jamie verabschiedet hatten, blieben die drei eine Weile nachdenklich stehen. Zumindest Rumiko und Beyond dachten nach, Jamie hatte nicht die geringste Ahnung, was ihnen durch den Kopf ging. „Ich habe irgendwie eine ganz miese Vorahnung, Beyond. Als wenn etwas Schreckliches passieren wird.“ „Das Gefühl habe ich auch. Aber ich weiß einfach nicht, was es ist.“ „Hoffentlich bleiben sie wenigstens vom Wald fern. Das mit der Hütte war schon schlimm genug und wir konnten von Glück reden, dass wir keinen Ärger gekriegt haben.“ „Vielleicht wäre es besser, wenn die Erwachsenen die blöde Hütte einfach abreißen“, schlug Jamie vor, der sich auch am Gespräch der beiden beteiligen wollte, um zu zeigen, dass auch er gute Ideen hatte. Und eigentlich hatte er ja auch Recht. Eigentlich! „Das Problem ist, dass die Erwachsenen Angst haben, dass das, was in der Hütte ist, auf die ganze Stadt übergeht. Zumindest sollte man sie verschließen und auch die Tür zunageln. Sobald ich 16 bin, hau ich von hier ab und wenn ich auf der Straße leben muss. Überall ist es besser als hier. Manchmal komme ich mir wie in Stephen Kings „Es“ vor.“ „Was ist das?“ fragte Jamie neugierig. „Das ist ein Buch für Erwachsene. Es geht um eine Gruppe alter Freunde, die nach Jahren in ihre Heimatstadt zurückkehren, um ein böses Monster zu töten, das in der Kanalisation haust.“ „W-was ist das für ein Monster?“ „Es frisst am liebsten Kinder und kann jede Gestalt annehmen. Meistens zeigt es sich als Clown oder als Riesenspinne.“ „Igitt, ich ha-ha-hasse Spinnen. U-und vor Clowns habe ich Angst!“ Die Straßenlaternen gingen an und dann hatten sie auch schon ihr Haus erreicht. Rumiko ging noch eine Nummer weiter um sich von Jamie zu verabschieden. Vom Hauseingang aus beobachtete Beyond, wie Jamie errötete und anfing, etwas leise vor sich hinzustottern. Und dann stellte er Rumiko eine Frage, die er nicht ganz verstand und als er sie endlich ganz ausgesprochen hatte, da nahm Rumiko ihn in den Arm und rief laut „Ja, versprochen!“ Als sie sich von ihm verabschiedete und zu Beyond ging, hatte sie Tränen der Freude in den Augen und sie trug im Haar an der linken Seite nun ein rotes Seidenband. Jamie selbst trug ein gleiches um sein linkes Handgelenk. Beyond runzelte die Stirn. „Was war das denn?“ „Jamie hat… ähm…“ Sie wurde ganz verlegen und dabei betastete sie mit einem alles sagenden Lächeln die Schleife. „Wir haben uns gegenseitig versprochen, dass wir heiraten, wenn wir 18 Jahre alt sind. Und da er keine Verlobungsringe kaufen konnte, besonders weil er diese verlieren würde, hat er stattdessen rote Seidenbänder geholt.“ Das war es also, dachte Beyond und spürte wieder diesen unsagbaren Schmerz in der Brust. Der Grund, warum sie all die Jahre diese kindische Schleife getragen hatte war, dass sie ihr Versprechen Jamie gegenüber einhalten und mit ihm eine Familie gründen wollte. Das Schicksal konnte so unsagbar grausam sein, dass es mit uns nicht besser bestimmt war. Kapitel 7: Veränderung ---------------------- Das Wochenende war wie im Fluge vergangen und als die Schule wieder begann, ahnten Rumiko und Beyond noch nicht, was noch alles heute passieren würde. Rumiko bereitete wie immer das Frühstück vor, machte sich selbst und Beyond das Pausenbrot und packte im Anschluss ihre Sachen. Schon morgens trug sie die Schleife. „Musst du die ständig tragen?“ „Natürlich. Solange ich sie trage weiß Jamie, dass ich an unser Versprechen noch festhalte.“ „Du meinst das doch nicht wirklich ernst, oder? Ich meine, du machst das hoffentlich nicht aus Mitleid oder so.“ „Natürlich nicht. So etwas würde ich auch nicht machen. Aber Jamie ist anders. Ich weiß nicht viel über Liebe, aber ich bin mir sicher, dass es bei uns mehr ist, als nur Freundschaft. Aber keine Sorge, auch du bist mir sehr wichtig! Ich bin immerhin deine große Schwester und deswegen passe ich immer auf dich auf, egal was passiert. Versprochen!“ Ja, dieses Versprechen hatte sie auch gehalten. Nachdem sein Vater versuchte, ihn zu vergewaltigen, hatte Rumiko den Revolver aus den Tresor genommen und ihn mit fünf Schüssen niedergeschossen. Danach hatte sie Beyond in den Arm genommen und geweint. Er erinnerte sich noch genau, dass sie dabei gesagt hatte „Du brauchst keine Angst haben. Er wird dir nie wieder wehtun können….“ Aber Rumiko hatte sich dann irgendwann nicht mehr selbst unter Kontrolle. Sie griff ihre Mitschüler an, terrorisierte die Nachbarn und verprügelte die Kinder auf dem Spielplatz. Sogar den Wagen ihres Kindertherapeuten ließ sie verunglücken, indem sie die Bremsleitung durchschnitt. Schließlich stieß sie ihre verhasste Adoptivmutter vor den heranfahrenden Zug. Mit einem etwas unguten Gefühl fuhren sie mit dem Linienbus, da sie mit dem Schulbus keine guten Erfahrungen hatten. Erst als sie in der Klasse waren bemerkten sie, dass Jeff und Liu gar nicht da waren. „Merkwürdig“, murmelte Rumiko und drehte sich zu Beyond um, der hinter ihr saß. „Wo sind denn die beiden? Ob sie wohl krank sind?“ „Vielleicht haben sie ja auch nur verschlafen.“ „Beide zusammen? Naja, vielleicht schwänzen sie ja.“ Jeff und Liu kamen den ganzen Tag nicht zur Schule und als die Schule aus war, gingen sie direkt zu ihnen, um sich zu erkundigen, ob auch alles in Ordnung sei. Der Vorfall mit der Hütte lag ihnen immer noch schwer im Magen und sie wollten sicher gehen, dass Jeff sich immer noch ganz normal verhielt. Als sie aber vom Weiten die Polizeiwagen sahen und einer der Brüder abgeführt wurde, da ahnten sie bereits das Schlimmste. Die Streifenwagen fuhren jedoch bereits weg und an der Haustür stand Jeff. Er war völlig aufgelöst und heulte. Etwas Furchtbares musste passiert sein. War irgendetwas mit Liu geschehen oder mit seinen Eltern? „Jeff, hey Jeff! Was ist los?“ „Ich war es… ich hab es getan… warum glaubt mir keiner?“ „Jetzt beruhige dich doch erst mal und versuch, alles ganz in Ruhe zu erklären!“ „Verdammt noch mal, da waren diese drei Scheißpunks und haben versucht, mich und Liu mit Messern zu bedrohen. Ich hab sie verprügelt und bin selbst mit dem Messer auf sie losgegangen. Und jetzt glauben alle, Liu ist es gewesen!!!“ Erschrocken schlug sich Rumiko die Hand vorm Mund und wich zurück. „Du… du hast WAS getan?“ „Ich hab diese Dreckskerle Keith, Randy und Troy vermöbelt. Aber statt mich, sperren sie Liu ein. Dabei hat er doch nichts getan und keiner will mir glauben.“ Beyond und Rumiko sahen sich erschrocken an und konnten kaum glauben, was sie da hörten. Jeff war mit einem Messer auf die drei Schulschläger losgegangen? „Warum nur hast du das getan?“ „Hätte ich es nicht getan, dann hätten sie mir oder Liu dasselbe angetan. Außerdem wollte ich sie gar nicht mit dem Messer verletzen. Ich habe… irgendwie die Kontrolle verloren.“ „Die Kontrolle verloren?“ „Da war so ein komisches Gefühl. Irgendeine Stimme in meinem Kopf, die gesagt hat, ich solle weitermachen.“ Das klang gar nicht gut. Normalerweise ging Jeff solchen Schwierigkeiten lieber aus dem Weg. Ob dieses Erlebnis in der Hütte damit zu tun hatte, dass er sich so seltsam verhielt? Und warum beschuldigte man Liu, die drei Schläger niedergestochen zu haben? Das machte doch gar keinen Sinn. „Jeff, wir glauben dir.“ Doch Jeff wollte offenbar nicht mit ihnen reden und ging ins Haus ohne sich von ihnen zu verabschieden. Rumiko und Beyond blieben eine Zeit lang an Ort und Stelle stehen und schwiegen. „Ob es an dem Erlebnis mit der Hütte liegt? Vielleicht hat er mehr Schäden davongetragen, als gedacht.“ „Das kann sein. Aber was sollen wir schon großartig machen? Vielleicht wird sich das schnell klären.“ „Aber warum sperren die Bullen Liu ein und nicht Jeff, wo er doch sogar seine Tat zugab? Es sei denn, jemand hatte Liu die Schuld in die Schuhe geschoben. Keith, Troy und Randy mussten eine Falschaussage gemacht haben. Aber warum? Etwa um Jeff eine reinzuwürgen? Das machte irgendwie keinen Sinn.“ „Was sollen wir machen, Beyond?“ „Rumiko, dein Engagement in Ehren, aber das ist nicht unsere Angelegenheit. Du weißt, dass die drei gefährlich sind und wir können es selbst zu zweit nicht mit ihnen aufnehmen. Und die Polizei wird nicht ganz so dumm sein. Das wird sich bald sicher alles klären.“ Doch er konnte ihr ansehen, wie gerne sie Jeff geholfen hätte. Aber sie sah ein, dass ein Kampf gegen Troy, Randy und Keith wie ein Kampf gegen Windmühlen war. Sie würden am Ende selbst noch im Krankenhaus landen und das war die Sache nicht wert. „Ich hab irgendwie ein schlechtes Gewissen“, murmelte Rumiko niedergeschlagen und senkte den Kopf. „Hätten wir Jeff aufgehalten, dann hätte das vielleicht nicht so kommen müssen.“ „Das konnte keiner wissen, Rumiko. Es hätte genauso gut sein können, dass er so oder so auf sie losgegangen wäre. Und jetzt lass uns besser nach Hause gehen. Ich hab keine Lust, wieder Ärger mit Mum zu kriegen.“ Dem stimmte Rumiko zu und so gingen sie nach Hause. Und genau dann verschwand das Bild und alles wurde schwarz. Die Traumsequenz brach ab. Offenbar hatte er das Wichtigste bereits gesehen und das Nachfolgende war wohl nicht wichtig…. Als er aber wieder mitten im Geschehen war, befanden er und Rumiko sich im Krankenhaus. Er hatte wieder keinen Plan, welches Datum es war, warum sie hier waren und was genau passiert war. Jedenfalls kam das Krankenhaus, das nach Desinfektionsmitteln stank und so kühl und steril wirkte, dass es jedem zuwider wurde, es freiwillig zu betreten, ihm gut bekannt vor. Es war das örtliche Krankenhaus. Warum waren sie denn im Krankenhaus? Um die drei Schläger auszuquetschen, oder weil etwas während der Zeit, die Beyond übersprungen hatte, passiert war? Konnte es vielleicht sein, dass es bereits der Zeitpunkt war, in dem Jeff nach einer weiteren Schlägerei mit den drei mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus kam, während die anderen ihren eigenen erlegen waren? Soweit Beyond sich richtig erinnern konnte, hatte man Jeff angezündet, als dieser beim Schlag mit einer Wodkaflasche nass vom Alkohol wurde. Danach war er brennend durchs Haus gerannt und man konnte die Flammen rechtzeitig löschen, indem man ihn in den Pool geworfen hatte. Genau! Das war doch alles auf der Geburtstagsfeier von Billy passiert, zu der Jeff eingeladen worden war. Eine Krankenschwester kam zu ihnen und Rumiko stand auf. „Dürfen wir jetzt zu Jeff?“ „Ja, seine Eltern sind einverstanden. Aber ihr dürft ihn nicht zu sehr aufregen. Er braucht viel Ruhe!“ Die Krankenschwester, ein recht junges Ding mit südamerikanischer Abstammung und lockigem schwarzem Haar führte sie den Gang entlang zur Jugendstation, wo man Jeff eingeliefert hatte. „Was glaubst du, wie er wohl aussehen wird?“ „Ich weiß es nicht. Hoffentlich nicht ganz so schlimm“, murmelte Beyond. Heute würde sich zeigen, wie schlimm zugerichtet Jeff sein würde und ob er immer noch so normal war wie zuvor. „Die Polizei hat Liu übrigens wieder freigelassen. Offenbar haben die drei tatsächlich eine Falschaussage gemacht, um Jeff eins auszuwischen. Eine Frage, Schwester Clara: Wann kann Jeff denn entlassen werden?“ „Schon heute. Gleich nimmt der Doktor ihm auch den Verband ab.“ Gleich würde es sich also zeigen, ob Jeff schon so durchgedreht war oder ob er sich noch normal verhielt. Er wusste nur, dass kurz nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus seine Familie ermordet wurde. Ein wenig hatte Beyond Angst vor dem, was ihm erwarten sollte. Sein 25-jähriges Ich hätte sich vielleicht nicht so verhalten, aber man musste bedenken, dass dies seine Erinnerung als Kind war und da hatte er selbstverständlich Angst vor dem, was ihn erwarten würde. Jeff könnte mit einem blauen Auge davongekommen sein, er konnte aber auch aussehen wie Freddy Krueger aus den „Nightmare on Elm Street“ Filmen. Die Krankenschwester öffnete eine Tür und führte sie ins Krankenzimmer, wo Jeff lag. Seine Eltern und sein Bruder Liu warteten bereits, dass der Chefarzt gleich kam. Als sie Rumiko und Beyond sahen, gingen sie näher an Jeffs Bett. „Jeff, deine beiden Freunde sind da, um dich zu besuchen.“ Jeff reagierte mit einer leichten Kopfbewegung, man sah aber nur seine Augen, da der Rest des Gesichts komplett bandagiert war. „Hey Jeff, geht’s dir gut?“ Ein „hm“, was wohl ein „Ja“ sein sollte, kam zur Antwort. „Keine Sorge Jeff. Egal was auch gleich herauskommt, wir bleiben auf jeden Fall Freunde!“ Nach knapp zehn Minuten kam der Chefarzt herein und begrüßte sie alle freundlich. „Sind Sie die Familie Blalock?“ „Ja ganz Recht. Und die beiden hier sind Jeffs Freunde.“ „Dann wollt ihr also auch dabei sein, wenn wir ihm die Verbände abnehmen?“ Ein Nicken kam zur Antwort. Der Chefarzt ging zum Bett und sprach vorher noch mit Jeff. „So Jeff, wir werden jetzt die Verbände abnehmen. Halt also bitte deinen Kopf still.“ Langsam und ganz vorsichtig begann der Doktor nun damit, den Verband abzunehmen und es herrschte angespannte Stille. Fast alle hielten den Atem an und bereiteten sich auf den schlimmsten Fall vor, dass Jeff nämlich vollkommen entstellt war. Als schließlich das ganze Gesicht frei lag, erschraken alle erst einmal. Jeffs Gesicht war nicht wie das von Freddy Krueger, es sah mehr wie ein Geistergesicht aus. Die Haut war wie Leder und fast vollkommen weiß vom Bleichmittel, das ihm beim Kampf gegen die Schläger übers Gesicht geschlossen war. Sein Haar, sein brünettes langes Haar war schwarz verkohlt und die Lippen waren fast vollständig verbrannt und hatten sich zu einem ungesunden blutrot verfärbt. Ja, er sah wie ein Geist aus. Als Jeff die erschrockenen Gesichter sah, setzte er sich auf und begann sein Gesicht zu betasten. „Was ist… mit meinem Gesicht?“ „Jeff, es ist nicht so schlimm“, versuchte Liu ihn zu beruhigen, aber auch er hatte sich bei dem Anblick auch ganz schön erschreckt. Kein Wunder, wenn der eigene Bruder aussah wie ein Gespenst. Sogar am Hals war er vollständig weiß. Seine Handrücken hingegen waren normalfarben und vernarbt von den Brandverletzungen. Glück für Jeff war, dass seine Augen keinen Schaden genommen hatten. Etwas hastig und unbeholfen stieg Jeff aus dem Krankenbett und ging in Richtung Bad. „Ich will es sehen. Ich will mein Gesicht sehen.“ Beyond und Rumiko folgten ihm, wenig später kamen auch Jeffs Eltern hinzu, während Liu wie angewurzelt stehen blieb und Tränen in den Augen hatte. Mit geweiteten Augen sah Jeff in den Spiegel, beinahe fassungslos. Rumiko versuchte die Sache herunterzuspielen indem sie sagte „Jeff, es ist wirklich nicht so schlimm wie es…“ „Nicht so schlimm? Nicht so schlimm?! Es ist perfekt!“ Entsetzt über seine Worte wich sie zurück und ergriff instinktiv Beyonds Hand. Immer und immer wieder streichelte Jeff seine Wangen und sagte. „Es passt perfekt zu mir, mein neues Gesicht.“ „Doktor, ist das Verhalten unseres Sohnes normal? Ich meine… ist er gesund… da oben im Kopf?“ „Es kann sich um einen unerwarteten Nebeneffekt der Medikamente handeln, die wir ihm verabreicht haben. Bewusstseinstrübungen und manchmal auch Halluzinationen sind schon des Öfteren beobachtet worden. Das wird sich schon wieder legen, wenn die Medikamente abgesetzt sind. Sollte er sich dann immer noch auffällig verhalten, bringen Sie ihn noch mal ins Krankenhaus, damit wir ihn genauer untersuchen können.“ Wie vom Wahnsinn befallen grinste Jeff sein Spiegelbild an und kicherte. „Mein Gesicht… mein schönes… neues… Gesicht.“ Er ist verrückt, dachte Beyond und drückte Rumikos Hand fester, da er nun selbst Angst vor Jeff hatte. Entweder hat ihn der Schock durchdrehen lassen, oder aber er hatte nach dem Brand seinen Verstand verloren. Beinahe fluchtartig verließen er und Rumiko das Krankenhaus, denn Jeff war ihnen unheimlich geworden. Und damit war nicht sein Gesicht gemeint. Es war sein Verhalten, was sie beide so erschreckte. Sie rannten durch den Flur, die Treppen runter und als sie dann durch die Eingangshalle nach draußen liefen, blieben sie endlich stehen und Rumiko begann zu weinen. „Was ist ihm passiert? Warum ist Jeff auf einmal so?“ „Jetzt wein doch nicht gleich. Du hast doch gehört, was der Arzt gesagt hat. Es sind die Medikamente.“ „Nein, das sind sie nicht! Es ist wegen der Hütte, wegen der Rowdys. Jeff ist total durchgedreht!“ „Komm schon, er ist sicher total durcheinander wegen seinem Gesicht und er braucht eine Weile, um sich daran zu gewöhnen. Wir warten einfach ein paar Tage, dann können wir mit ihm und Liu wieder zum See gehen und dort Schwimmen, oder im Park Ball spielen.“ Tröstend streichelte Beyond seiner Adoptivschwester den Kopf. Rumiko, die schon von Geburt an einen beinahe übermenschlichen Beschützerinstinkt hatte und auch sehr mitfühlend und sensibel war, nahm das Ganze echt mit und sie machte sich schon so einige Vorwürfe. Anscheinend glaubte sie, dass diese dumme Wette mit der Hütte Schuld war, dass Jeff sich so verändert hatte. Denn kurz danach war er aggressiver geworden. Er hatte Randy, Keith und Troy mit dem Messer niedergestochen, diese hatten seinen Bruder in den Jugendknast gebracht und ein Jahr später gab es noch eine Prügelei. Zwei von den dreien lagen jetzt in der Leichenhalle und Jeff lag mit schweren Verletzungen im Krankenhaus. „Es wird schon alles gut werden“, tröstete er sie und gab ihr ein Taschentuch. „Heute Abend wollten wir doch sowieso raus und am See den Meteoritenschauer beobachten. Jamie wollte auch mitkommen.“ „Ach ja stimmt…. Das hätte ich fast vergessen.“ „Na komm, wir müssen noch nach Hause und unsere Sachen holen.“ Eigentlich war es Kindern verboten, sich nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen aufzuhalten, aber Beyonds Eltern war sowieso alles scheißegal. Und Jamies Vater würde schon nichts bemerken. Als sie nach Hause kamen, war es bereits später Nachmittag und während Beyonds Mutter sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, weil sie unter Migräne litt, war sein Vater mal wieder in der Kneipe um sich volllaufen zu lassen. Und während sie nach Hause gingen, sang seine Schwester leise ein Lied vor sich hin, um sich von ihrem Kummer abzulenken. Beyond liebte es, seiner Schwester beim Singen zuzuhören. Musikalisch war sie schon immer talentierter gewesen als er und sie war auch der Grund gewesen, warum er das Klavierspielen gelernt hatte. Er wollte irgendwann mal so gut werden wie sie, aber dann hatte sie einfach damit aufgehört, nachdem er sich damit beschäftigt hatte und stattdessen angefangen, Geige zu spielen. Jahre später hatte sie ihm den Grund genannt: Sie wollte unbedingt ein Duett mit ihm spielen und darum auch das Geigenspiel lernen. Denn was klang schöner, als Geige und Klavier zusammen? Auch was ihre Vorlieben betraf, ergänzten sie sich gut. Rumiko liebte Vanille über alles und Beyond war verrückt nach Erdbeeren. Auch eine nette Kombination. Natürlich hatte er als Kind nie darüber nachgedacht. Aber im Alter von 25, wenn er so manchmal über damals nachdachte, da waren ihm solche Sachen schon aufgefallen. Schließlich unterbrach Rumiko ihren Gesang, als ihr etwas Wichtiges einfiel. „Ach Mist! Zu dumm, dass wir keine Kamera haben. Dann hätten wir Jamie fragen können, ob er eine mitbringt.“ „Da kann man nichts machen. Aber zumindest haben wir heute einen sternenklaren Himmel. Was will man da mehr?“ „Da hast du auch wieder Recht.“ Auf Beyonds Bitte hin begann Rumiko nun das Lied von den drei Engeln zu singen. Es war ein Kanon und recht einfach, jedenfalls hatte es ziemlich wenig Text, aber Beyond und Rumiko liebten es. Manchmal sangen sie es zusammen mit Jamie: „Es sangen drei Engel einen lieblichen Gesang Sie sangen alles so wohl, alles so wohl Den lieben Gott wir loben solln. Wir heben an, Wir rufen Gott, Wir loben ihn, Doch er schweigt still. Und unsere Pein Wird ewig sein Wir sind in dieser Welt allein.“ Irgendwie passte es zu Kindern wie ihnen. Kinder, die verstoßen wurden und nicht in diese Welt gehörten. Kapitel 8: Horrornacht ---------------------- Als sie zuhause ankamen, begannen sie ihre Sachen zu packen. Jeder nahm eine Taschenlampe mit, Verpflegung, eine Decke falls es kalt wurde und ein Fernglas, das sie sich aber beide teilen mussten. Im Anschluss zogen sie sich noch um. Sie brauchten feste Schuhe, denn die Sandalen waren für das Gelände nicht geeignet. Da es draußen auch recht kühl war, zogen sie sich noch Jacken an. Nachdem sie fertig waren, verabschiedeten sie sich von ihren Eltern (was eigentlich total überflüssig war) und gingen zu Jamies Haus nebenan. Jamie wartete bereits mit seinem Rucksack und hatte wie die beiden seine Taschenlampe griffbereit. „Ich f-f-freue mich sehr auf den M-m-meteoritenschauer. Vielleicht können die Sternschnuppen ja wirklich Wünsche e-erfüllen.“ „So?“ fragte Rumiko neugierig. „Was würdest du dir wünschen?“ „Da-das darf ich doch nicht verraten, sonst geht es nicht in Erfüllung.“ „Ja, da hast du wohl Recht. Dann hoffe ich mal, dass dein Wunsch wirklich in Erfüllung geht, was auch immer das für einer ist.“ Um zum Maisfeld zu kommen, mussten sie zuerst am Haus der Blalocks vorbei. Und sie sahen, dass im oberen Stockwerk kein Licht brannte. Aber dafür war die Haustür sperrangelweit offen. Da stimmte etwas nicht, das spürten sie sofort. Beyond überlegte, ob sie vielleicht die Polizei rufen sollten, aber da ging seine Adoptivschwester einfach zur Haustür. Schnell eilte er ihr hinterher und hielt sie am Arm fest. „Bist du verrückt? Was ist, wenn da Einbrecher im Haus sind?“ „Die werden doch wohl kaum Kindern etwas antun. Und wenn, dann weiß ich mich gegen die auch schon zu verteidigen. Ich schau nur kurz nach dem Rechten und wenn es brenzlig wird, dann lauf ich sofort weg. Bleib du mit Jamie hier.“ „Nein, es ist besser wenn ich gehe und du bei Jamie bleibst! Ich sehe im Dunkeln sowieso viel besser als du und bin auch viel leiser.“ Und so ging er an Rumiko vorbei ins Haus. Drinnen war es vollkommen dunkel und er hörte auch Geräusche. Vielleicht doch Einbrecher. Lautlos schlich er zuerst in die Küche und dann ins Wohnzimmer, aber dort fand er nichts und niemanden. Als er kurz inne hielt, glaubte er, im oberen Stockwerk Wasser rauschen zu hören. Im Badezimmer musste jemand sein. Oh Mann, hoffentlich bekam er keinen Ärger mit den Blalocks, wenn das alles bloß Fehlalarm war. Er sollte doch besser die Polizei rufen aber nein, dann würde Rumiko stattdessen hier reingehen und das wollte er nicht. Sie brachte sich immer wieder nur in Schwierigkeiten und das konnte ihr noch eines Tages zum Verhängnis werden. Langsam stieg er die Treppen hoch und während er dem Geräusch des fließenden Wassers lauschte, hörte er auch noch etwas anderes. Er war sich aber nicht sicher, ob es ein Lachen oder Schluchzen war. Also ein Einbrecher würde solche Geräusche jedenfalls nicht machen. Wahrscheinlich hatten sie vergessen, die Tür zu schließen. Doch er wollte lieber sehen, wer da im Badezimmer war. Nur um sicherzugehen. Als er das Ende der Treppe erreichte, wandte er sich nach links. Und er erschrak, als er eine Blutspur auf dem Boden sah. Sie führte direkt in ein Zimmer. Beyond holte seine Taschenlampe heraus und schaltete sie an. Was er sah, erschrak ihn dermaßen, dass er beinahe vor Entsetzen geschrieen hatte. Auf dem Ehebett lagen die Leichen von Mr. Und Mrs. Blalock. Man hatte ihre Bauchdecken aufgeschlitzt und ihre Organe lagen verstreut auf dem Boden. Fassungslos wich er zurück und war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Er musste nach Jeff und Liu sehen. Er musste wissen, was mit ihnen war. Lius Zimmer lag nicht weit vom Elternschlafzimmer entfernt und auch hier stand die Tür offen. An ihr war ein blutiger Handabdruck zu sehen. Liu lag noch in seinem Bett, offenbar hatte er noch geschlafen, als er mit diversen Messerstichen in den Brustkorb getötet wurde. Das reichte! Beyond musste so schnell wie möglich hier raus. Was, wenn sich der Mörder noch im Haus befand und auch ihn kaltmachen würde? Das Wasserrauschen hatte aufgehört und immer noch war dieses leise Schluchzen zu hören. Irgendjemand wimmerte „Keine Sorge Liu, jetzt werde ich auch für dich mitlächeln. Für immer!“ Oh Gott, das war doch nicht etwa Jeff, oder? Hatte er etwa seinen eigenen Bruder getötet und seine Eltern? Nein, das konnte nicht sein! Das durfte einfach nicht sein. Langsam ging Beyond rückwärts in Richtung Treppe, trat auf eine knarzende Bodendiele und erregte damit ungewollt Aufmerksamkeit. Ein dunkler Schatten trat aus dem Badezimmer und kam direkt auf Beyond zu. Und als er sah, wen er da vor sich hatte und wie er aussah, hätte er am liebsten geschrieen. Jeffs Gesicht war blutverschmiert, seine Wangen waren mit einem Messer aufgeschlitzt worden und sahen wie ein groteskes Grinsen aus. Und seine Augenlider waren total verbrannt. „Jeff, was... was hast du getan?“ „Mommy hat gelogen. Sie sagt, sie findet mein Gesicht schön, aber sie wollte mich töten. Ich habe doch ein schönes Gesicht.“ „Deswegen hast du deine Familie umgebracht?“ „Ich... ich wollte Liu doch nicht...“ Jeff hatte Tränen in den Augen, die nicht von der Tatsache stammen konnten, dass seine Augen rapide schnell austrockneten und dadurch furchtbar brennen mussten. „Ich wollte ihn doch nicht töten. Aber jetzt... jetzt schläft er ganz friedlich. Jetzt kann er für immer schlafen.“ Der Typ ist doch total gaga, vollkommen durchgedreht. Und wenn Beyond nicht schnellstens weglief, dann würde Jeff sicher auch auf ihn losgehen. „Jeff, du brauchst dringend Hilfe! So kann das doch nicht weitergehen.“ „Es ist alles deine Schuld, Beyond! Hättest du mich nicht dazu gebracht, in diese Hütte zu gehen, dann wäre das alles niemals passiert.“ „Ich dachte, du erinnerst dich nicht mehr.“ „Und wie ich mich erinnere. An jedes schreckliche Detail, das mir dort widerfahren ist. Ich habe da drin Todesängste ausgestanden. Ich dachte wirklich, ich müsse darin sterben und ich wusste noch nicht einmal, was mich da eigentlich töten wollte. Nur deinetwegen musste es so weit kommen.“ Und Jeff holte das blutverschmierte Messer hervor und hielt es bereit zum Angriff. „Und jetzt wirst du dafür bezahlen. Du und deine Schwester werden auch ein wunderhübsches Lächeln bekommen, genauso wie ich.“ „Es war deine Entscheidung da reinzugehen! Rumiko und ich haben sogar versucht, dich davon abzuhalten. Beruhige dich doch erst mal, Jeff!“ Bevor Beyond die Treppe hinunterrennen konnte, hatte Jeff ihn am Hals erwischt und drückte ihn gegen die Wand. Er war viel kräftiger als sonst und es gelang Beyond nicht, sich zu befreien. „Halt einfach die Schnauze und geh schlafen!“ Doch das Knallen der Haustür lenkte ihn ab und als er den Kopf in Richtung Treppe drehte, sah er Rumiko. Ihre saphirblauen Augen weiteten sich vor Entsetzen, ihr Mund öffnete sich und dann schrie sie laut auf. Sie schrie, dass es die ganze Straße hätte aufwecken können und das in einem furchtbar hohen Ton, als würde Kreide an der Tafel kratzen. So etwas war gar nicht auszuhalten, aber Rumiko schrie so lange, bis Jeff nicht mehr konnte, Beyond los ließ und sich die Ohren zuhielt. Beyond stieß Jeff beiseite, stürmte die Treppen hinunter und rannte mit Rumiko raus. Sie eilten in Richtung Jamie, der völlig ahnungslos, aber verunsichert durch Rumikos Schrei war. „Jamie, lauf!!! Lauf so schnell du kannst!“ Da Jamie stehen blieb, nahmen sie ihn beide an den Armen und zerrten ihn mit sich. Sie rannten die Straße runter und schlugen einen Haken, woraufhin sie ins Maisfeld flüchteten. „Wa-wa-wa-was i-i-ist...?“ fragte Jamie, der immer wieder aufpassen musste, nicht auch noch zu stolpern und das fiel ihm in so einer Situation schwer genug. „Ein ganz böser Mensch ist hinter uns her und der will uns töten! Wir müssen uns irgendwo verstecken, wo er uns nicht findet.“ Aber leider gab es nicht viele Möglichkeiten. Das Maisfeld war nicht sonderlich groß und am See war offenes Feld. Außer der Hütte gab es nirgendwo einen Ort, wo sie sich verstecken konnten. In diese verfluchte Hütte würden sie sicher nicht gehen. Dazu hatten sie viel zu viel Angst. Nicht, dass sie noch genauso durchdrehten wie Jeff. „Wo sollen wir denn hin, Beyond?“ „Wir verstecken uns im Wald.“ „Bist du verrückt? Dort ist es genauso gefährlich wie in der Hütte.“ „Wir gehen auch nicht zu tief rein. Besser, als wenn Jeff uns genauso zurichtet wie Liu und seine Eltern.“ Voller Angst und mit Tränen in den Augen rannten sie auf die Bäume zu in die rabenschwarze Finsternis. Sie alle hatten keine Wahl. Aber vielleicht hatten sie ja auch Glück und der Kerl, der im Wald hauste und Kinder tötete, würde sie nicht bemerken. Sie waren zu dritt und da standen ihre Chancen besser, als wenn sie alleine waren. Nachdem sie über einen umgefallenen Baumstumpf gesprungen waren, blieben sie stehen und sahen zurück. Für einen Moment sah es so aus, als würde niemand ihnen folgen. Aber dann tauchte Jeffs Schatten auf und sofort rannten sie weiter. Sie rannten blindlings drauf los, bogen mal nach rechts ab und dann wieder nach links. Schließlich versteckten sie sich unter einen weiteren umgefallenen Baum, unter dem sie nicht zu sehen waren und wo sie alle drei Platz fanden. So machten sie sich klein und warteten. Obwohl Rumiko völlig durcheinander und geschockt von dieser grauenhaften Entwicklung war, versuchte sie, stark zu bleiben und ihre Tränen zurückzuhalten. Stattdessen bemühte sie sich, den völlig verängstigten Jamie zu trösten und Beyond Halt zu geben. Immerhin hatte er ja das Blutbad gesehen, was Jeff angerichtet hatte, im Gegensatz zu ihr. „Keine Angst, ich passe auf euch beide auf.“ Sie warteten eine halbe Stunde, trauten sich nicht die Taschenlampe anzumachen und schließlich lugte Rumiko aus dem Versteck hervor. Sie hatte sich einen dicken Ast genommen, um sich im Notfall gegen Jeff zur Wehr setzen zu können. Angestrengt lauschten sie alle in die Totenstille der Nacht, um vielleicht irgendwo Schritte zu hören. Scheinbar war Jeff weg, oder aber er hatte einen anderen Weg genommen. Solange es noch dunkel war, hatten sie noch gute Chancen, ihm aus dem Weg zu gehen und zuhause die Polizei zu rufen. Ganz vorsichtig wagten sie sich hervor, geduckt und auf jedes einzelne Geräusch achtend. Doch kaum waren sie hervorgekrochen, da glaubte Beyond, für einen kurzen Moment eine Gestalt zwischen den Bäumen zu erkennen. Da er Sorge hatte, es könne Jeff sein, ließ er seine Taschenlampe aus und sah genauer hin. Aufgrund der Dunkelheit konnte er so gut wie nichts sehen und als er das Fernglas zur Hilfe nahm, war es auch schon wieder weg. Vielleicht nur eine Einbildung. „Von wo sind wir noch mal gekommen?“ „Wir müssen über den umgekippten Baum und dann irgendwann nach rechts. Dann müssten wir bald aus dem Wald raus sein.“ Sie flüsterten nur und wagten es nicht, lauter zu reden. Es könnte immer noch sein, dass Jeff in der Nähe war und sie hören konnte. Und sie wollten kein unnötiges Risiko eingehen. Knapp zehn Minuten schlichen sie durch den Wald über Laub und heruntergefallene Äste. Allen voran ging Beyond, der im Dunkeln die besten Augen hatte. Dann folgte Jamie und zuletzt Rumiko, die aufpassen sollte, dass Jamie nicht zurückfiel und womöglich noch verloren ging. Im Wald war es mit einem Male ganz still geworden, selbst der Wind wehte nicht mehr. Auch das laute stechartige Quieken der Fledermäuse oder das Zirpen der Grillen waren verstummt. Es war, als hätte die Welt den Atem angehalten, um sich auf einen entsetzlichen Schrecken vorzubereiten. Beyond blieb stehen um zu lauschen, da kam Rumiko mit ernster Miene auf ihn zu. Sie legte eine Hand auf seine Schulter, sah kurz nach hinten und ging ganz nah an sein Ohr um ihn zuzuflüstern „Da ist noch etwas im Wald. Und es verfolgt uns seit einer Weile.“ Als Beyond das hörte, durchfuhr ihn ein eiskalter Schreck durch Mark und Bein und er spürte, wie sein Gesicht jegliche Farbe verlor und seine Hände zu schwitzen anfingen. Auch er hatte es gespürt, jedoch hatte er sich immer eingeredet, es sei nur eine Einbildung gewesen. Seine Sinne spielen ihm bloß einen Streich und es sei lediglich der Mond, der seltsame Schatten werfe. Wenn aber schon Rumiko sagte, dass sie etwas gesehen habe, das sie verfolgt, dann war das unmöglich eine Einbildung. „Was ist es?“ „Ich weiß es nicht, ich habe immer nur einen Schatten gesehen, aber es scheint nicht Jeff zu sein. Es ist viel größer, wahrscheinlich zwei Meter.“ „Ein Erwachsener? Um diese Uhrzeit?“ „D-d-d-d-der Ki-ki-ki-kindermörder?“ stotterte Jamie und ergriff ängstlich Rumikos Hand. „Wa-wa-was machen wi-wi-w-wir jetzt?“ „Wir werden weiter geradeaus laufen. Irgendwann müssen wir doch aus dem Wald rauskommen. Wenn der Kerl uns zu nahe kommt, blenden wir ihn mit der Taschenlampe und rennen los. Eine andere Chance haben wir kaum.“ Ihre Stimme zitterte jedoch. Auch Beyond und Jamie hatten Angst, und das war noch untertrieben. Es war eine kaum zu ertragende Angst, die man nicht genau definieren konnte. Sie war schlimmer als die normalen Ängste wie zum Beispiel die Angst vor dunklen Wäldern. Nein, sie saß so tief in den Knochen, dass sie einen Menschen verrückt machen konnte. Es war die Angst vor dem Unbekannten. Die Ungewissheit, was passieren würde und wer oder was sie da verfolgte, war schlimmer als die Angst davor, vom besoffenen Vater verprügelt zu werden. Sie spürten dass das, was sie verfolgte, nichts Gutes im Schilde führte. Und das Gefühl blieb auch. Egal wohin sie auch gingen, sie fühlten sich verfolgt. Und wenn sie nach hinten oder zur Seite blickten, glaubten sie, die schattenhaften Umrisse eines Menschen zu sehen. Eines sehr großen Menschen mit lang gewachsenen Armen und Beinen. Aber mehr sahen sie nicht und wenn sie kurz den Blick abwandten, verschwand er auch schon wieder und es schien, als wäre es nur eine Einbildung gewesen. Als sie schließlich eine Art Container und einen Jeep fanden, der offenbar schon länger hier stand, blieben sie stehen und ihre Angst wuchs. Hier waren sie doch gar nicht vorbeigekommen. Sie mussten irgendwie in die falsche Richtung gelaufen sein. „Scheiße, ich habe echt keine Ahnung, wo wir sind.“ Sie gingen zum Jeep, öffneten die Wagentür und suchten nach etwas, das ihnen helfen konnte, aber sie fanden nichts. Und die Tür vom Container war fest verschlossen. Zwar versuchten sie, sie aufzukriegen aber ihre Mühe war zwecklos. Also entschieden sie sich, den Container zu umrunden und nach einer anderen Tür zu suchen. Es konnte ja sein, dass es eine zweite gab. Rumiko ging voraus und kaum war sie um die Ecke verschwunden, da schrie sie laut auf und sofort rannten Beyond und Jamie zu ihr. Vor ihnen stand Jeff und er war wütender denn je. Sein monströses Grinsen erschien im Mondlicht noch hässlicher und seine Augen noch unmenschlicher. „Hab ich euch endlich!“ rief er und umklammerte sein Messer, während er mit der anderen Rumiko festhielt. „Und jetzt werde ich dich für immer schlafen schicken!“ Doch Rumiko, die sich schon des Öfteren aus solch brenzligen Situationen befreien konnte, trat Jeff einmal mit aller Kraft auf den Fuß und als sich sein Griff lockerte, packte sie den Arm, der das Messer festhielt und vergrub ihre Zähne darin. Sie biss so fest zu, dass es blutete und als Jeff dann die Mordwaffe fallen ließ, schlug sie ihm noch ins Gesicht und rannte davon, Beyond und Jamie ihr hinterher. Als sie den Container hinter sich gelassen hatten und nun am Jeep vorbeikamen, da stand plötzlich jemand neben ihnen. Hier begann Beyonds Erinnerung sich zu verzerren und zu verschwimmen. Er sah nur die Gestalt eines großen Menschen und dass irgendetwas Rumiko packte und von den Füßen riss. Er hörte, wie sie in Todesangst schrie und er wusste nur noch, dass ein lauter Knall ertönt war und sowohl Jeff als auch der Unbekannte, der Rumiko gepackt hielt, inne hielten und sich nicht rührten. Doch Rumiko rannte blindlings weg, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Sie rannte auf eine Gestalt zu, die hinter den Bäumen auftauchte und als Beyond und Jamie ihr näher kamen sahen sie, dass es Sam war. Sie drei blieben vor ihm stehen, als sie sahen, dass er eine Smith & Wesson in der Hand hielt und direkt auf sie zielte. Seine Augen waren genauso leer und ausdruckslos wie sonst immer auch. Doch er wirkte in diesem Moment viel bedrohlicher und unheimlicher als Jeff, was eigentlich gar nicht möglich war, denn Sam selbst war äußerlich niemals furchteinflößend gewesen. Und doch sah er ganz danach aus, als wolle er sie alle einfach töten, ohne einen nachvollziehbaren Grund zu haben. Er spannte den Hahn und zielte direkt auf Beyond, der vor Angst nun völlig erstarrt war und innerlich wusste, dass er hier und jetzt sterben würde. Und der Schuss fiel. Aber er traf nicht Beyond. Er traf auch nicht Rumiko oder Jamie, geschweige denn Jeff. Nein, aber trotzdem traf er etwas. Daran konnte sich Beyond noch ganz genau erinnern. Die Kugel pfiff direkt an seinem Ohr vorbei, ganz knapp und sie streifte sein Haar. Und kaum war der zweite Schuss verhallt, da ließ ein lauter, unmenschlicher Schrei, der nicht von dieser Welt stammen konnte, den gesamten Wald erzittern. Und um Beyond herum wurde es endgültig dunkel. Schweißgebadet fuhr Beyond in der Gegenwart von seinen Fieberträumen auf und spürte noch, wie sein Herz raste. Auch wenn das alles nur ein Traum gewesen war, diese Angst, sie war Realität gewesen und auch jetzt spürte er sie noch. Sie hatte sich so tief in sein Gedächtnis eingebrannt, weil er diesen monströsen Schrei aus seiner Vergangenheit immer noch hörte. Als er auf seine Hände sah, bemerkte er, dass sie heftig zitterten. Dieser Schrei, dieser entsetzliche Schrei. Das war das Einzige, woran er sich noch erinnern konnte, als dieses Wesen versuchte, ihn und Rumiko zu töten. An den Schrei und diesen unheimlichen Schatten zwischen den Bäumen. Was zum Teufel war das bloß für ein Wesen gewesen, auf das Sam vor über 14 Jahren geschossen hatte? Ein Mensch war das nie im Leben. Es war der Kinderjäger aus dem Wald, von dem man immer sprach und der jedes Kind tötete, das sich nachts im Wald herumtrieb. Und es wollte ihn, Jamie und Rumiko damals auch töten. Wäre Sam damals nicht gewesen, dann wäre er jetzt nicht hier. Aber was genau hatte Sam im Wald gewollt? War er etwa auf der Jagd nach diesem Wesen gewesen oder war er hinter ihnen her? Warum hatte er sie dann nicht getötet? Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort hatte. Und solange Sam nicht wieder wie von Geisterhand auftauchte, würde er sie auch nicht so schnell herausfinden. Aber vielleicht wusste Jeff ja etwas darüber. Immerhin war er auch dabei gewesen, als dieses Ding sie jagte. Er musste sich doch daran erinnern können. Schnell sprang Beyond aus dem Krankenbett, suchte seine Sachen zusammen und stieg durchs Fenster. Er durfte keine Zeit verlieren. Hoffentlich machte diese Naomi Misora keinen Unsinn in der Zwischenzeit. Kapitel 9: Kampf ---------------- Beyond fühlte sich immer noch nicht gut, aber mit solchen Kleinigkeiten konnte er sich jetzt nicht aufhalten. Und da Naomi Misora nicht an ihr Handy ranging, musste er eben alleine weiterarbeiten. War ihm ehrlich gesagt auch viel lieber. Dann war sie wenigstens nicht so ein Klotz am Bein, wenn es zur Konfrontation mit Jeff kam. Ihm beschlich auch das dumpfe Gefühl zu wissen, wo sich Jeff gerade aufhalten könnte. Sicher war er am See bei der Hütte, wo er damals total durchgedreht war. Immerhin lag in ihr der Anfang dieser Tragödie, zumindest glaubte Jeff das. Beyond war sich nämlich nicht ganz sicher, ob es wirklich an dem Erlebnis in der Hütte lag, dass Jeff den Verstand verloren hatte. Es konnte auch gut möglich sein, dass er erst so neben der Spur war, seitdem die Rowdys ihn derart übel zugerichtet hatten. Bevor er aber zum See ging, machte er einen Abstecher in sein Elternhaus, das noch immer noch wie früher aussah, nur dass alles verstaubt und voller Moder und Dreck war. Manchmal huschten ein paar Ratten über den Boden, Spinnweben glänzten von Wassertröpfchen. Die Luft stank und es kostete Beyond große Überwindung, ins Haus zu gehen. Aber ohne Waffe würde er gegen Jeff nicht viel ausrichten können und so genial wie er war, hatte er seine Messer zuhause vergessen. Es blieben also nur folgende Möglichkeiten: Die Axt oder die Machete im Gartenhaus (wenn diese noch nicht geklaut worden waren), die Küchenmesser seiner Mutter, oder aber die Pistole seines Vaters. Allein wenn er schon an den Colt dachte, den sein Vater auf ihn gerichtet und ihn gezwungen hatte, sein Shirt auszuziehen, da schauderte es in ihn und er entschloss sich, den Colt nicht anzurühren. Mit einem unguten Gefühl ging Beyond in die Küche und fand tatsächlich das alte Küchenmesser, das noch scharf war. Es besaß einen rutschfesten Griff und eine 22cm lange Klinge aus Damaststahl. Trotzdem schliff er sie noch mal und führte einen Schneidetest mit einem Stück Papier durch. Das Messer schnitt es, ohne auch nur Fransen zu hinterlassen. Jetzt war es perfekt geschärft. Gut, dass seine Mutter immer ein handliches Schleifgerät für die Messer gehabt hatte. Nachdem er es eingesteckt hatte, suchte er noch nach einer Taschenlampe. Er glaubte sich daran zu erinnern, dass er damals eine in seinem Zimmer hatte und die eine unglaublich starke Leuchtkraft besaß, dass man auf ihrer Oberfläche genauso gut ein Spiegelei hätte braten können. Diese Marke war nur noch in China erhältlich und hier in den Staaten gesetzlich verboten worden. Aber gegen Jeff konnte sie ein gutes Mittel sein. Wenn er die Augen nicht mehr schließen konnte, dann würde ihn grelles Licht sofort blenden. Zu dumm, dass er auf die Schnelle kein Pfefferspray auftreiben konnte. Das hätte noch viel besser gewirkt, aber eine Taschenlampe tat es zur Not auch. Er ging in den Flur zurück und dann die Treppe hoch, vorbei am Schlafzimmer seiner Eltern, wo ihm wieder speiübel wurde, direkt in sein Zimmer. Es war ziemlich trostlos eingerichtet. Sein Bett, das nichts anderes als ein rostiges Drahtgestell war, hatte früher bei jeder einzelnen Bewegung angefangen zu quietschen und zu knarzen. Die Matratze war damals auch ziemlich versifft und stank nach Moder. Die Wände waren weiß, zumindest waren sie das mal. Inzwischen waren sie staubgrau und hatten dunkle Flecken, auch die Decke. Wahrscheinlich Schimmel. Links stand ein Regal mit Büchern, hauptsächlich alte Schinken, die er sich im Second Hand Laden gekauft hatte und ein altes Schachbrett. Die Figuren standen noch. Der schwarze König war von allen Seiten eingekreist und Beyond erinnerte sich, dass es die letzte Partie gegen seine Adoptivschwester gewesen war, bevor alles ganz anders wurde.... Auf seinem Schreibtisch lag ein Zettel. Er war in seiner Kinderhandschrift geschrieben und konnte sich nicht daran erinnern, es jemals geschrieben zu haben. Aber er erinnerte sich, dass es ein Gedicht aus einem Märchen war, dass er mal gelesen hatte. Kann sein, dass seine Mutter es ihm mal vorgelesen hatte: „My Mother, she killed me, My Father, he ate me, My Sister Marlene, Gathered all my bones, Tied them in a silken scarf, Laid them beneath the juniper tree Tweet, tweet, what a beautiful bird am I.“ Was hatte ihn damals bloß dazu geritten, so etwas zu schreiben? Und in seinem Bücherregal fand er die Antwort: Stephen Kings „Die Arena“, „Menschenjagd“ und „Es“. Edgar Allan Poes „Untergang des Hauses Usher“, „Mord in der Rue Morgue“, „Der Bericht des Arthur Gordon Pym“ und „Das Verräterische Herz“. Keine Gute-Nacht-Geschichten für ein Kind. Und auch Shakespeare war dabei, allerdings nur „Othello“, „Hamlet“ und „Macbeth“. Romeo und Julia hatte er nie gemocht, ihn faszinierten damals nur Geschichten, in der es kein Happy End und keine Romanzen gab. Nein… was ihn interessierte, waren Geschichten, in der die Protagonisten in den Wahnsinn getrieben wurden, unter Verfolgungswahn litten und zu Mördern oder Kannibalen wurden. Das hatte ihn ein wenig von seinem Elend hinweggetröstet, wenn er wusste, dass es manchen noch schlechter ging. So eine verkorkste Kindheit, dachte er missmutig. Schließlich ging er zur Kommode und öffnete die Schubladen. Da drin befanden sich zwar ein paar Zeichnungen und Noten, aber keine Taschenlampe. Merkwürdig. Aber vielleicht war sie damals unters Bett gerollt und er hatte nicht mehr daran gedacht, sie wieder herauszuholen. Da der Boden viel zu dreckig war und er keine Lust hatte unters Bett zu greifen und womöglich noch von einer tollwütigen Ratte gebissen zu werden, legte er sich nicht auf den Boden. Stattdessen zog er das Bett von der Stelle weg und war froh, dass er das getan hatte. Kakerlaken, Silberfische, aber auch Asseln krabbelten in alle Richtungen davon und versteckten sich in den Ritzen. Die Taschenlampe lag da, direkt neben einer Bodendiele, die leicht nach außen gebogen war und hervorstand. Offenbar war sie mal herausgenommen worden. Aus reiner Neugier, vielleicht auch weil es ihn an Rumikos Entdeckung in der Hütte erinnerte, als sie Jamies Leiche unter den Bodendielen gefunden hatte, nahm er sie heraus. Und tatsächlich lag da etwas: Eine kleine Metallbox. Vorsichtig holte Beyond sie heraus, wischte die Asseln hinfort und blies den Staub weg. Sie war rostig und sah ganz schön alt aus. Er konnte sich überhaupt nicht an dieses Kästchen erinnern. Wahrscheinlich stammte es von der Familie, die vor ihm hier gewohnt hatte. Prüfend sah er sie an und konnte eine fast verblichene Inschrift lesen. „Madeline Grey“. Das Schloss am Kästchen war so verrostet, dass Beyond es mit ein paar Handgriffen abtrennen konnte und dann öffnete er es. Darin lag ein Buch, handgeschrieben mit Zeichnungen und hineingeklebten Fotos. Es schien sich um eine Art Tagebuch zu handeln und dem Datum nach zu urteilen, war es über sechzig Jahre alt. Der erste Eintrag stammte aus dem Jahre 1945. Beyond war sprachlos. Da hatte die ganzen Jahre über ein Tagebuch unter den Dielen gesteckt. Da er es später gerne lesen wollte, steckte er es in die Tasche ein und schob das Bett anschließend wieder zurück. Die Batterien der Taschenlampe funktionierten sogar noch und nachdem er auch diese eingesteckt hatte, wollte er das Zimmer verlassen, hätte er da nicht Schritte im Erdgeschoss gehört. Und es waren nicht die lauten Absätze von Frau Misora, es waren schlurfende Schritte, die ihn an sich selbst erinnerten. Er nahm das Messer und hielt es griffbereit. Ein normaler Stadtbewohner war es nicht. Die wagten es nicht, in dieses Haus auch nur einen Fuß hineinzusetzen. Also gab es nur folgende zwei Möglichkeiten: Jeff oder Sam. Einer von beiden war es und mit beiden war Beyond nicht gerade gut dran. Instinktiv lief er geduckt und mied jede Bodendiele, von der er wusste, dass sie knarrte und ging langsam in Richtung Flur, um von dort aus einen Blick nach unten zu riskieren. Als er aber hörte, dass der Eindringling bereits die Treppen hochstieg, da schlich er leise wieder zurück und versteckte sich hinter der Tür. Dort lauerte er auf seinen Gegner und er wusste, dass Weglaufen zwecklos war. Wenn er aus dem Fenster sprang, würde er zwar auf dem Rasen landen, allerdings schloss dies nicht aus, dass er sich dabei ein Bein oder einen Arm brechen könnte. Außerdem war er kein Feigling! Wenn allerdings der Fall eintrat, dass sein Gegner eine Pistole hatte, dann sah es schlecht für ihn aus. Langsam kamen die Schritte näher, ganz langsam und vorsichtig, als wüsste der Eindringling, dass da jemand wäre. Trotzdem konnte Beyond genau hören, wo er war. Und als dann der Schatten in der Tür auftauchte, konnte er den Atem hören. Es war ein zischendes Atmen, als würde man durch geschlossene Zähne atmen. Ganz langsam und gemächlich schob sich die Gestalt ins Zimmer und sah sich um. Und als Beyond in diese weit aufgerissenen, schwarz umrandeten, entsetzlich geröteten Augen sah, erschrak er so sehr, dass er für einen Moment zögerte. Aber dann hob er das Messer und hielt es Jeff direkt an die Kehle. Er sah noch schlimmer und grauenerregender aus als damals. Seine ausgetrockneten Augen in den schwarzen Höhlen wirkten durch ihre Rötung unmenschlich und dämonisch. Die Zähne waren spitz gefeilt und blutig, die Fingernägel wirkten wie Krallen. Die Handflächen waren von Brandverletzungen gezeichnet. Jeff hatte es also wirklich getan. Er hatte seine eigenen Hände verbrannt, um seine Fingerabdrücke loszuwerden. Seine Wangen, die er sich damals aufgeschlitzt hatte, waren zum Teil zusammengewachsen, allerdings mussten sie mit schwarzen Nähten zusammengehalten werden. Jeffrey Blalock sah nicht mehr wie ein Mensch aus und wenn Beyond nicht das Shinigami-Augenlicht besäße, würde er auch nicht glauben, dass es sich bei ihm tatsächlich um Jeff handelte. Mit einem irren Grinsen sah er Beyond an und kicherte. „Lange nicht gesehen, was? Und? Wie gefällt dir mein schönes Gesicht?“ „Um ehrlich zu sein: Es ist abstoßend hässlich.“ „Kihihihi… ganz der Alte, was? Hast genauso eine trockene und abweisende Art wie deine Adoptivschwester.“ „Was hast du mit ihr gemacht?“ „Nichts, noch nichts. Nein, zuerst wollte ich mich um dich kümmern.“ Jeffs zischender Atem wurde lauter und er bewegte sich unruhig vor und zurück. Offenbar konnte er es kaum erwarten, Beyond zu töten. „Nur wegen dir musste Liu sterben. Liu sollte nicht sterben! Du hast ihn auf dem Gewissen!“ Nicht zu fassen, dachte Beyond und wusste nicht, ob er wütend oder entsetzt sein sollte. Dieser Dummkopf glaubte also immer noch, er wäre am Tod seines Bruders Schuld? Das ließ er nicht so einfach auf sich sitzen. „Es war damals deine eigene Entscheidung gewesen, in diese gottverdammte Hütte zu gehen und ich kann mich nicht erinnern, dich dazu aufgefordert zu haben, deine Familie umzubringen. Du allein bist Schuld, dass Liu tot ist!“ Beyond blieb ganz ruhig und ließ sich keine Sekunde lang durch Jeffs Beschuldigungen provozieren. Wenn er überlegt vorging und Jeff dazu brachte, unvorsichtig zu sein, dann hatte er gute Chancen, ihn überwältigen zu können. Durch langsames Vorangehen konnte er aus seiner Ecke raus und Jeff zurückdrängen. Dieser schien nicht wirklich darauf zu achten, legte den Kopf in den Nacken und begann dann zu lachen. Er gab ein schauriges und unmenschliches Lachen von sich, welches an das Gelächter eines Shinigami erinnerte. Ja, er sah auch fast so aus wie ein Shinigami. „Glaubst du wirklich, ich falle auf deine Psychospielchen herein?“ „Ich glaube eher, du bist völlig durchgeknallt, Jeff. Und ich habe auch keine Lust, mich länger mit dir herumzuärgern. Ich will nämlich etwas ganz Bestimmtes von dir wissen.“ „So? Was denn?“ fragte Jeff mit neugierigem Blick und er sah nicht danach aus, als hätte er so etwas erwartet. Beyonds Blick wurde nun sehr ernst und er spürte, wie seine Hände wieder zu zittern begannen. Er stellte seine Frage ganz ruhig und langsam, weil er es sicher nicht fertig bringen konnte, sie zu wiederholen: „Was genau war da draußen im Wald, das uns töten wollte?“ Einen Moment schwieg Jeff. Er sah Beyond mit hochgezogenen Augenbrauen an und wirkte nun ein klein wenig menschlicher. Aber dann brach er wieder in mörderisches Gelächter aus, was Beyond umso wütender machte. „Du fragst allen Ernstes mich, was da draußen war? Beyond, ich habe damals so gut wie nichts gesehen. Glaubst du nicht, dass dir deine Sinne einen Streich gespielt haben?“ „Du hast doch auch diesen Schrei gehört, als Sam noch mal geschossen hat.“ „Dann frag doch ihn. Ich habe keine Ahnung, was da draußen ist. Mir ist es völlig egal. Das Einzige, was mich interessiert ist, dich ein für alle Male ins Jenseits zu befördern! Und jetzt geh schlafen!“ Mit einem Aufschrei sprang Jeff auf ihn und konnte das Messer abblocken. Mit seinen Fingernägeln riss er blutige Wunden in Beyonds Arm und versuchte, sogar ihn zu beißen. Beyond rammte ihm sein Knie in die Magengrube, fuhr mit dem Messer über sein Gesicht und zog seinerseits einen fürchterlichen Schnitt über den Nasenflügel. Da Jeff aber so gut wie kein Gefühl mehr im Gesicht hatte, kümmerte es ihn nicht weiter. Nein, er schien dadurch sogar ein wenig erregt zu sein und kicherte. „Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, dir ein Lächeln zu verpassen und dich für immer schlafen zu schicken.“ Damit holte er ebenfalls ein Messer heraus, doch anstatt es gegen Beyond zu nutzen, begann er nun die Nähte an seinen Wangen durchzutrennen. Dabei schnitt er auch die Haut, die mit der Zeit zusammengewachsen war wieder auf. Blut tropfte seinen Mund an den Hals hinunter und mit Fassungslosigkeit beobachtete Beyond ihn dabei. Während seiner Laufbahn als Serienmörder war ihm schon so einiges über den Weg gelaufen, aber bis jetzt war niemand ein derartiger Psycho wie Jeff. Und dann sprang Jeff wieder auf ihn los, das Messer zielte direkt auf Beyonds Herz. Mit seiner eigenen Waffe gelang es ihm, den Schlag abzublocken und er machte einen halben Schritt zurück. Dann drehte er seinen Körper seitlich und verpasste Jeff einen gehörigen Tritt in die Magengrube. Dadurch schleuderte er diesen zur Kommode, die ihn endgültig aus dem Gleichgewicht brachte. Als er so taumelte, bekam Beyond seine Haare zu fassen, krallte sie fest und rammte Jeffs Stirn gegen die Zimmerwand. Ein Mal, zwei Male und dann ein drittes Mal. Bei der Kraft müsste Jeff eigentlich völlig ausgeknockt sein, aber er nachdem er Beyond mit seinen Krallen über den Arm gefahren war und dieser ihn daraufhin losließ, warf sich Jeff mit vollem Körpereinsatz auf ihn und riss ihn mit sich zu Boden. Als Jeff auf ihn hockte und seine Arme am Boden festnagelte, grinste er ihn hämisch an und Blut tropfte von seiner Wange auf Beyonds Gesicht. „Noch einen letzten Wunsch?“ „Fahr zur Hölle, du Monster.“ Und damit verpasste Beyond ihm eine Kopfnuss und brach ihm die Nase. Mit aller Kraft gelang es ihm, seinen Oberkörper so weit nach oben zu wuchten, dass er Jeff nach hinten stieß. Und nun war er es, der ihn am Boden festhielt und während er seine Knie auf Jeffs Arme gedrückt hatte, hatte er beide Hände frei, um ihn zu würgen. „Und jetzt tu mir den Gefallen und stirb.“ Beyond drückte immer fester zu und als Jeff schon allmählich an Kraft verlor, da stieß jemand die Tür auf und Naomi Misora kam mit einer Beretta herein. Diese kurze Unaufmerksamkeit nutzte Jeff um seinerseits Beyond mit Einsatz seines gesamten Körpers herunterzudrücken. „Gehen Sie sofort auseinander!“ rief Naomi und zielte auf die beiden. „Und keine falsche Bewegung.“ „Machen Sie keinen Quatsch, Frau Misora“, rief Beyond, der sich immer noch nicht von der Kopfnuss erholt hatte und dessen Kratzwunden verdammt brannten. „Dieser Kerl ist gefährlich, wenn Sie ihn nicht sofort ausschalten.“ Doch Jeff hatte das Gesicht von ihnen abgewendet und jammerte vor sich hin. Er schrie und stöhnte, als hätte er furchtbare Schmerzen. „Es tut weh... es tut so unendlich weh. Bitte helfen Sie mir. Er wird mich töten. Er hat versucht mich umzubringen. Ich blute! Ich bin schwer verletzt. Bitte, holen Sie einen Arzt. Es tut so schrecklich weh.“ Naomi steckte in der Zwickmühle und wusste nicht genau, was sie tun sollte. Sollte sie nachsehen, ob Jeff wirklich verletzt war, oder sollte sie ihn besser festnehmen? Wenn er wirklich verletzt war und sie tat nichts, dann könnte sie das den Job kosten. Sie entschied sich, besser nachzusehen und dann zu urteilen, ob sie den Notarzt rufen sollte. „Machen Sie keine falschen Bewegungen, sonst werde ich schießen!“ „Tun Sie das nicht, Frau Misora. Der Kerl zieht eine Schmierenkomödie ab!“ Aber er wusste, dass diese Frau viel zu sehr an die Vorschriften gebunden war, als dass sie Jeff hätte einfach seinem Schicksal überlassen können. Und als dann Jeff blitzartig zum Angriff überging, als Naomi nahe genug war, da war es Beyond, der sie am Kragen packte und nach hinten zerrte und sie somit aus der Gefahrenzone rettete. Und während er sie mit einem kräftigen Ruck nach hinten zog, stellte er sich Jeff in den Weg und stieß ihm das Messer in den Bauch. Jeder normale Mensch hätte spätestens jetzt aufgegeben, aber Jeff war wie ein wild gewordenes Raubtier. Er schien noch nicht einmal das Messer zu bemerken. Mit aufgerissenem Mund und die Krallen bereit zum Zerfetzen, stürzte er sich auf Beyond. Er biss ihn in die Schulter, fuhr mit seinen Krallen über seine Brust und riss blutige Wunden. Jeder Versuch Beyonds, seinen in Raserei verfallenen Angreifer auf Abstand zu bringen oder sich selbst zu schützen, brachte nichts. Naomi, die um das Leben Beyonds fürchten musste, feuerte einen Schuss ab, der Jeffs Schulter streifte. Daneben geschossen. Sie zielte erneut, aber da die beiden so dicht an dicht waren, hatte sie Sorge, sie könnte auf Beyond schießen statt auf Jeff und sie musste damit warten, bis sich eine Gelegenheit bot. Beyond hatte die Taschenlampe zu fassen bekommen und stieß sie Jeff auf die gebrochene Nase. Er schaltete sie an und drückte sie ihm direkt auf die aufgeschlitzte Wange. Zwar mochte Jeff kaum noch Gefühl in seinem Gesicht haben, aber wenn eine Taschenlampe derart heiß wurde, dass man auf ihr ein Spiegelei braten könnte, auf eine klaffende Wunde gedrückt wurde, war das schon ziemlich schmerzhaft. Jeff schrie auf und als die starke Leuchtkraft dann auch noch seine Augen blendete, bedeckte er diese notdürftig, indem er die Arme hochriss. In dem Moment versuchte Beyond, sich von ihm zu befreien und zu flüchten, doch Jeff bekam ihn am Shirt zu fassen und hielt ihn zurück. Er zerrte ihn zu sich und hielt ihn wie einen Schutzschild vor sich. „Wenn Sie schießen, ist er tot. Ich mache keine Scherze!“ „Komm schon Jeff, du hast es einfach nicht drauf, mich zu töten. Du bist ein elender Stümper, du tötest ohne Sinn und Verstand und genau so sieht es auch bei dir aus. Wenn ich die Chance gehabt hätte, dann hätte ich dich viel eher kaltgemacht!“ Diese Provokation war zu viel für Jeff. Er nahm das Messer und stieß es in Beyonds Seite. Die Klinge bohrte sich tief in seinen Körper, aber der Serienmörder ließ sich nicht durch die Schmerzen aufhalten. Er biss Jeff in den Arm, mit dem er ihn festgehalten hatte, stieß ihm den Ellbogen in den Bauch und schleuderte ihn in Richtung Bett. Erschöpft sank Beyond in die Knie und zog das Messer heraus, wobei er vor Schmerz die Zähne zusammenbeißen musste. Warmes Blut floss aus der Stichwunde und er presste eine Hand auf die Stelle, um die Blutung etwas zu mindern. Ihm wurde schwindelig und er wusste, dass er einen weiteren Angriff von Jeff nicht mehr abwehren konnte. Sein ganzer Körper war von tiefen Kratz- und Bisswunden übersät und er verlor immer mehr Blut. Er lehnte seinen Rücken gegen die Wand und keuchte. Dann aber rappelte sich Jeff auf und wollte sich erneut auf ihn stürzen, da fiel ein Schuss und er traf Jeff direkt in den Kopf. Kapitel 10: Rückkehr -------------------- Der Notarzt kam wenig später und brachte Jeff und Beyond ins Krankenhaus. Jeff überlebte den Kopfschuss, da die Patrone stecken geblieben war, allerdings lag er im Koma und so wie es aussah, würde er auch nicht mehr so schnell aufwachen. Beyonds Verletzungen wurden genäht und als er entlassen wurde, sah er trotzdem ziemlich mitgenommen aus. Der Familienmörder war endlich gefasst worden und damit war ein dunkles Kapitel in Beyonds Vergangenheit beendet. Naomi Misora drohte zunächst ein Verfahren, doch dank Beyond Birthdays eindeutiger Aussage wurde es fallen gelassen, da es sich um Notwehr handelte. Dass er selbst bei den Ermittlungen dabei gewesen war, verschwieg er. Seiner Aussage nach hatte er auf eigene Faust Nachforschungen betrieben und Jeff alleine gestellt. Naomi wäre zufällig auf beide aufmerksam geworden und hätte Jeff mit einer Kugel außer Gefecht gesetzt, nachdem er sie angegriffen hatte. Die Presse riss sich förmlich um diesen Fall, wollte alle Einzelheiten zu Jeff Blalock wissen und wäre Beyond Birthday nicht überraschend untergetaucht und verschwunden, dann hätte er sich vor Journalisten gar nicht retten können. Ein paar Wochen nach dem ganzen Trubel kehrte Naomi Misora in die kleine unscheinbare Stadt zurück, in der Beyond Birthday aufgewachsen war und fand ihm am See, wo er am Steg saß und Steine ins Wasser warf. „Hier habe ich als Kind viel Zeit verbracht. Damals habe ich mit Jeff und Liu Papierboote schwimmen lassen, oder mit ihnen eine Wasserschlacht veranstaltet. Das waren schon glückliche Momente.“ Naomi setzte sich zu ihm und sah auf den See hinaus. Ganz ruhig lag er da und spiegelte den wolkenverhangenen Himmel wider. Nur die kleinen Wellen ließen dieses Bild verschwimmen. „Wenn Sie sich so gut mit ihm verstanden haben, warum hat er versucht, Sie zu töten?“ „Es war eine Verkettung unglücklicher Ereignisse. Ich habe ihn auf dumme Gedanken gebracht und dann ist etwas passiert, das ihn verändert hat. Er wurde aggressiv, gewalttätig.... Aber wirklich schlimm wurde es, nachdem Keith, Troy und Randy ihn zusammengeschlagen und angezündet hatten. Danach hatte Jeff komplett den Verstand verloren und seine Familie umgebracht. Er wollte seinen Bruder nicht töten und suchte daraufhin die Schuld bei mir. Danach versuchte er, mich zu töten.“ „Unfassbar, dass aus guten Freunden Feinde werden können.“ Sie schaute Beyond prüfend an, so als ob sie nach seinem momentanen Gefühlszustand forschen wollte. Und was sie sah, war ein klein wenig Kummer und Enttäuschung. Es musste wohl hart sein, von einem guten Freund beschuldigt, gehasst und angegriffen zu werden. „Und was haben Sie jetzt vor?“ „Ich habe da etwas Interessantes in meinem alten Zimmer gefunden, das wollte ich mir näher ansehen. Außerdem gibt es da eine ganz wichtige Sache, die ich herausfinden muss. Und solange ich die Antwort auf meine Frage nicht gefunden habe, kann ich keine Ruhe finden.“ „Verraten Sie mir, welche Frage es ist?“ Beyond senkte den Blick, nahm dann einen Kieselstein und warf ihn ins Wasser, woraufhin es ein leises Platschen gab. „Damals, als Jeff seine Familie ermordet hatte, da hatte er bereits versucht gehabt, mich umzubringen. Ich bin mit zwei anderen Kindern, die dabei waren, in den Wald geflohen. Dort verschwinden seit vielen Jahren immer wieder Kinder. Und mir wäre beinahe das gleiche Schicksal zuteil geworden, hätte mich nicht jemand gerettet. Ich will herausfinden, wer oder was diese Kinder entführt und was genau ich damals im Wald schreien gehört habe.“ „Werden Sie alleine arbeiten?“ „Nein. Ich bekomme sozusagen Verstärkung. Zwei Leute, die ich von früher kenne. Vielleicht finden wir auch endlich eine Antwort darauf, was in unserer Heimatstadt, die uns schon immer so fremd und verhasst war, nicht stimmt.“ „Das scheint Ihnen wirklich Kopfzerbrechen zu bereiten, stimmt's?“ „Ja, leider. Denn immerhin sind zwei Freunde von damals auf grausame Art und Weise getötet worden, ein weiterer wurde zum Mörder. Und ein Mensch, der mir sehr nahe stand, ebenfalls. Denken Sie an meine Worte, Frau Misora: Diese Stadt ist durch und durch schlecht. Überall ist es besser als hier, glauben Sie mir ruhig. Vielleicht hätte es damals alles nicht so weit kommen müssen, wenn wir woanders groß geworden wären. Vielleicht wäre ich nicht zu dem geworden, der ich heute bin, wenn ich zum Beispiel in Los Angeles aufgewachsen wäre. Vielleicht wären meine Eltern normal geblieben, ich hätte ein durchschnittliches Bürgerleben geführt und vielleicht wäre ich auch mal imstande gewesen, eine enge Bindung zu anderen Menschen aufzubauen, anstatt sie allesamt zu verachten.“ „Ist es nicht ein bisschen übertrieben, alle Schuld Ihrem Heimatort in die Schuhe zu schieben?“ „Wenn Sie hier an meiner Stelle aufgewachsen wären und in meiner Familie gelebt hätten, dann wüssten Sie, wovon ich spreche. Man muss hier aufwachsen, um zu wissen, wie es mir geht… Wie es den anderen geht, die hier genauso wie ich gelebt haben und nicht anders können, als Menschen zu töten.“ Es herrschte bedrücktes Schweigen und Beyond hatte auch aufgehört, Steinchen ins Wasser zu werfen. Stattdessen sah er auf den See hinaus und war irgendwie trübsinnig. Das kannte Naomi gar nicht von ihm. „Ich kann erst meinen Frieden finden, wenn ich dem Geheimnis dieser Stadt auf die Spur komme und endlich den Kindermörder finde. Selbst auf die Gefahr hin, dass ich es nicht überleben werde.“ „Das klingt sehr entschlossen.“ Mit diesen Worten verabschiedeten sie sich voneinander. Ob es für immer war, das wusste keiner von ihnen so wirklich. Als Naomi sich umdrehte, sah sie zwei Personen in der Nähe der Hütte stehen. Einen Mann und eine Frau, beide im selben Alter wie Beyond Birthday. Die Frau war sehr groß, hatte langes goldblondes Haar und trug an der linken Seite eine rote Schleife. Sie hatte das, was man wohl einen perfekten Körperbau nannte. Ihr Gesicht war ein wenig blass, zeigte einen Hauch von asiatischen Gesichtszügen und ihre Augen leuchteten in einem düsteren Blutrot. Sie trug über ihrem weißen Hemd mit roter Krawatte eine schwarze Weste und einen ebenso schwarzen Rock, was sie wie eine wichtige Geschäftsfrau aussehen ließ und ihr Eleganz und Stil verlieh. Genauso bewegte sie sich auch. Ähnlich vornehm war auch ihr Begleiter gekleidet. Kurz geschnittenes fast weißblondes Haar, staubgraue Augen, ein fein geschnittenes, aber vollkommen ausdrucksloses Gesicht und fast dieselbe Kleidung wie die Frau. Nur dass er eine schwarze Hose mit Falte und dazu schwarze auf Hochglanz polierte Lederschuhe trug. Mit einem überaus kühlen Gesichtsausdruck gingen sie an Naomi vorbei. Dann aber blieb die Frau stehen und legte eine Hand auf Naomis Schulter. Mit einem mörderischen und unheimlichen Blick, der genau derselbe wie Beyonds war, sah sie Naomi in die Augen. Es schien, als wolle diese Frau ihr etwas sagen wollen, doch sie tat es nicht. Als Beyond sagte „Lass gut sein. Sie ist in Ordnung“, nahm die junge Frau wieder die Hand von Naomis Schulter und ging weiter. Naomi drehte sich nicht um, sie ging einfach los und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Diese beiden waren ihr unheimlich. Und als sie endlich das Maisfeld hinter sich gelassen hatte und in ihren Wagen gestiegen war, wurde ihr erst bewusst, dass nur ein falsches Wort von Beyond Birthday gereicht hätte und sie wäre sofort getötet worden. Jetzt endlich verstand sie, was Beyond mit dem Grauen der Stadt gemeint hatte. Und kaum hatte sie die Zündung betätigt, da fuhr sie so schnell es ging aus der Stadt raus und schwor sich, nie wieder hierher zurückzukehren. Die Frau sah Naomi schweigend hinterher, verschränkte die Arme und blieb stehen. Nun ruhte ihr Blick auf Beyond, der immer noch am Steg saß und nun wieder Steinchen warf. „Glaubst du, es war eine gute Idee, sie am Leben zu lassen?“ „Natürlich. Sie weiß ja so gut wie nichts. Da ihre Arbeit getan ist, wird sie auch nicht mehr so schnell hierher kommen.“ „Sieht dir gar nicht ähnlich, sie am Leben zu lassen. Immerhin hat sie dich verhaftet.“ „Sie hat mir das Leben gerettet, das war also nichts Weiteres eine Schuldbegleichung.“ „Wie du meinst, ich will mich auch nicht weiter einmischen.“ Langsam ging die Frau auf Beyond zu und setzte sich auf den Platz, wo zuvor Naomi Misora gesessen hatte. Ihr kühler Blick wich einem Lächeln, das jedoch sehr hoffnungslos aussah. „Wir haben uns sehr lange nicht mehr gesehen. Und ich wünschte, es wären erfreulichere Umstände.“ „Das wünschte ich auch. Aber sag schon, hast du Sam zu mir geschickt?“ „Ja. Ich hatte mir schon gedacht, dass du dich an damals nicht erinnern kannst. Sonst hättest du Jeff schon längst gestellt. Aber da ich mich persönlich nicht in deine Fälle mischen wollte und selber beschäftigt war, habe ich Sam um den Gefallen gebeten.“ „Und was hast du mit Raye Penber gemacht?“ „Der lebt noch, falls du das meinst. Ich habe den Rattenfänger hinter Gittern gebracht und bin dabei wieder auf die hohe Zahl vermisster oder ermordeter Kinder in unserer Heimatstadt gestoßen. Wie es scheint, laufen alle Fäden hier zusammen. Was für ein seltsames Spiel das Schicksal doch spielt.“ Dem konnte Beyond nur zustimmen. Und so sahen sie schweigend in den wolkenverhangenen Himmel und lauschten dem Wind in den Bäumen. Hier am See schien es, als wäre dies der einzige Ort in der Stadt, an dem man Zuflucht vor dem unsichtbaren Grauen Zuflucht fand. Mit diesem Ort konnten sie die einzigen halbwegs glücklichen Erinnerungen ihrer Kindheit verbinden. Und obwohl sie alle drei schwiegen und sich nicht einmal ansahen, gaben sie sich doch ein Versprechen. Gemeinsam würden sie dem Geheimnis auf die Spur kommen. Ganz egal, ob sie dabei mit ihrem Leben bezahlen mussten. Schwester Trisha McKeats hasste die Nachtschicht. Im Krankenhaus war es ihr bei Nacht noch nie wirklich geheuer gewesen und obwohl alle Gänge erleuchtet waren, hatte sie manchmal das Gefühl, einen Schatten zu sehen. Und ihre Kollegin, Schwester Dolly Mitts machte es mit ihren Geistergeschichten nur noch schlimmer. Ja sie hatte sogar Spaß daran, Trisha bei jeder Gelegenheit zu erschrecken. Auch jetzt erzählte sie den Kollegen eine neue Schauergeschichte. Sie beruhte angeblich auf wahren Tatsachen und hatte sich vor ein paar Jahren in diesem Krankenhaus ereignet. Demnach seien in jedem Zimmer, wo eine bestimmte Putzfrau geputzt hatte, immer mehr Patienten verstorben. Es fand sich aber niemals eine Waffe und es war lange unklar, wie die Patient getötet wurden. So wie es schien, waren sie nicht einmal eines gewaltsamen Todes gestorben. Kein Messerstich, keine Kugel, kein Gift. Erst später hatte man herausgefunden, wie die Putzfrau die Patienten tötete: Sie hatte die Geräte, die für die künstliche Beatmung da waren, ausgestöpselt, um den Staubsauger anzuschließen. Und als sie fertig war, hatte sie die Geräte wieder eingestöpselt und in der Zwischenzeit waren die Patienten erstickt. „Das ist keine Schauergeschichte und wirklich gruselig ist sie auch nicht“, kritisierte Trisha und schüttelte den Kopf, wobei ihre rote Lockenmähne tanzte. Aber Dolly hatte sichtlich Spaß an der Geschichte. „Sie hat sich aber tatsächlich hier zugetragen. Vor genau elf Jahren. Mein Vater war selbst Arzt.“ „Trotzdem ist sie nicht unheimlich.“ „Gut, dann habe ich noch eine.“ „Ach bitte Dolly, ich habe echt keine Lust auf solche Geschichten.“ Doch Dolly ließ sich nicht davon abbringen. Während sie beide die Zimmer abliefen, um schmerzgeplagten Patienten Morphium zu verabreichen, begann sie noch eine Geschichte zu erzählen, die sich auch in diesem Krankenhaus zugetragen hatte. „Vor über 14 Jahren hatte mein Vater einen Jungen als Patienten, der mit schweren Gesichtsverletzungen ins Krankenhaus kam. Als man ihm die Verbände abnahm, war sein Gesicht ganz schneeweiß, seine Haare schwarz verkohlt und er hatte angeblich keine Lippen mehr. Als er sein Gesicht sah, hat er wie ein Verrückter gelacht und in derselben Nacht, in der er entlassen wurde, hat er seine Familie abgeschlachtet. Er ermordete mehrere Familien, bis die Polizei ihn durch einen Kopfschuss aufhalten konnte. Und da hatte er sich bereits die Wangen aufgeschlitzt, die Zähne spitz gefeilt wie bei einem Raubtier und die Fingernägel waren scharfe Krallen. Angeblich hat er seinen Opfern Fleisch aus dem Körper herausgebissen.“ „Ach komm schon, das hast du nur erfunden.“ „Nein, das stimmt wirklich. Er ist nachts in die Häuser seiner Opfer eingebrochen und wenn sie aufgewacht sind, hat er ihnen leise zugeflüstert „Geh schlafen“, bevor er sie getötet hat. Er ist übrigens hier, auf dieser Station!“ „Wie bitte?“ „Ja, seitdem ihn die Kugel erwischt hat, liegt er im Koma. Wenn du willst, können wir mal einen Blick auf ihn werfen. Er sieht wirklich unheimlich aus. Wie ein Monster.“ Trisha sah ihre Kollegin zweifelnd an. Wenn sich diese besagte Person wirklich hier auf der Station befand, dann konnte sie das unmöglich erfunden haben. Aber sie zögerte. Wenn der Kerl wirklich so gruselig aussah, dann würde sie noch nächtelang Alpträume haben. „Und er ist wirklich nicht gefährlich?“ „So gefährlich wie ein Komapatient sein kann. Ich mach dir einen Vorschlag: Ich geh kurz rein und sehe nach dem Rechten und wenn alles in Ordnung ist, dann kannst du ruhig reinkommen.“ „Pah, du wirst bloß hinter einer Ecke auf mich warten und mich zu Tode erschrecken.“ „Nein, das schwöre ich dir! Ganz ehrlich.“ Zum Zeichen, dass sie keinen Spaß machte, hob Dolly schwörend die Hand. „Außerdem sagt Dr. Northwood, dass er wohl nie wieder aufwachen wird. Aber nachts kommen immer ein paar Kolleginnen, um ihn zu sehen. Ist viel besser als in jedem Gruselkabinett.“ An der Tür zum Krankenzimmer, wo besagter Komapatient lag, ging Dolly ins Zimmer und ließ die Tür angelehnt. Trisha wartete noch einen Moment, haderte noch mit ihren Entschluss, dieses „Monster“ zu sehen. Aber dann ging auch sie ins Zimmer. Von der Tür aus konnte man das Bett nicht sehen und sie rief vorsichtig „Dolly? Mach keinen Scheiß, ja?“ Langsam kam sie näher und trat ans Bett. Dort erschrak sie so sehr, dass ihr beinahe das Herz stehen blieb. Das Bett war leer und Dolly lag mit aufgeschlitzter Kehle daneben. Wie erstarrt blieb Trisha stehen und brachte nicht mal einen Schrei zustande, selbst als sie ein zischendes Atemgeräusch hörte, als würde jemand Luft durch die geschlossenen Zähne einatmen. Eine Hand tauchte hinter ihr auf und hielt ihr ein Skalpell an den Hals. Dann kam etwas ganz nah an ihr Ohr und flüsterte ihr zu: „Geh schlafen“. Fortsetzung folgt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)