Der Schrein der Zeit von jade18 (Sawako und die Krieger vom Aokigahara) ================================================================================ Kapitel 3: Die Schatulle ------------------------ Draußen herrschte das pure Chaos. Sie hörte wieder das Klirren von Waffen. Auch einzelne Kampfesschreie drangen durch die Nacht. Sawako verstand nicht, was die Männer riefen, zu sehr war sie auf ihr Ziel fixiert. Ihr Ziel, es irgendwie lebend aus diesem Camp zu schaffen. Lange genug hatte sie hilflos und verzweifelt in diesem Zelt festgesessen. Nun war ihre Chance gekommen und sie war fest entschlossen, sich nicht von ihrer Angst paralysieren zu lassen. Also rannte sie, rannte, rannte, rannte, das Kampfesgetümmel hinter sich lassend. Ihre Beine schrien fast vor Überanstrengung. Sie verlangte ihnen alles ab, was möglich war. Ihre Lunge brannte von der kalten Nachtluft. Ihr wäre schwindelig geworden, hätte sie nicht ihr ganzes Bewusstsein darauf getrimmt, sich auf das Ziel zu konzentrieren. Was um sie herum geschah, nahm sie nur am Rande war. Weitere Zelte sah sie links und rechts von sich, auch weitere Soldaten, die nach ihren Waffen griffen und hinüber zu den Kämpfenden liefen. Bewaffnete Eindringlinge schienen zu ihrem Glück eine höhere Priorität zu genießen als flüchtende Gefangene. Überall wurden wieder Feuer entfacht, sodass das ganze Camp hell erleuchtet war. Der Shinobi konnte nicht alleine gekommen sein, dachte sie kurz, denn ein Einzelner hätte kaum für einen solchen Aufruhr sorgen können. Egal, das spielte keine Rolle. Sawako hätte kaum auffälliger sein können, wie sie mitten hindurch und gegen den Strom rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Alles, was zählte, war, dass sie den Waldrand erreichte und aus dem Sichtfeld der Soldaten verschwand. Erst dann hatte sie eine realistische Chance, das Chaos hinter sich zu lassen und ihre Haut zu retten. Mit jedem Schritt kam sie dem schützenden Dickicht näher. Nur noch ein wenig. Ein paar Meter. Es kam ihr vor, als würde die Dunkelheit des Waldes sie wie eine schützende Decke umschließen. Sie störte sich nicht an dem Gestrüpp, das beim Hindurchlaufen gegen sie peitschte. Schützendes Gestrüpp, wie könnte sie sich da an ein paar Kratzern stören, wo doch jetzt die Dunkelheit des Aokigahara sie verschlang und damit allen Blicken entzog? Und sie rannte und rannte. Nichts konnte sie erkennen von dem Weg, der vor ihr lag und sie stolperte ständig über Wurzeln und dergleichen. Egal, solange sie sich nur nicht so sehr verletzte, dass es sie am Weiterlaufen gehindert hätte. Würde die Dunkelheit doch auch nur den Lärm verschlucken, den ihr Weg durch die Büsche verursachte. Geschwindigkeit oder Unauffälligkeit, beides war nicht möglich. Schon im Camp hatte sie entschieden, dass Ersteres ihre einzige Chance war. Die Verwirrung im Lager nutzen, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und ihre Angreifer zu bringen und erst dann, in sicherer Entfernung, ein Versteck zu suchen. Sie hoffte inständig, dass es die richtige Entscheidung war. Und plötzlich hörte sie es. Hinter ihr dasselbe Rascheln, das auch ihr hektischer Weg durch das Unterholz verursachte. Sie hatte es erst nicht wahrgenommen, da jedes Rascheln der Blätter, jedes Peitschen der Zweige und jedes Knacken der Äste, das sie verursachte, wie eine Sirene in ihren Ohren dröhnte. Eine Sirene, die ihren Angreifern zurief, wo sie Sawako finden würden. Nun war sie sich sicher, dass sie verfolgt wurde. Wieder packte sie das kalte Grauen, das ihr den Rücken hinauf kroch und sie lähmen wollte, in die Knie zwingen wollte. „NEIN“, schrie sie stumm in Gedanken und schüttelte alles von sich ab, nur noch das Wort ‚rennen‘ kannte sie noch. Sie sah nicht zurück. Ihr Blick war starr auf die Dunkelheit vor ihr gerichtet. Alles, was sie aus dem Zelt mitgenommen hatte, warf sie achtlos beiseite. Unnützer Ballast. Sie musste schneller rennen. Sie hätte auch den Umhang abgelegt, aber das hätte sie vielleicht die Sekunde kosten können, die über Leben und Tod entschied. Wieder stolperte sie, den stechenden Schmerz in ihrem Knöchel ignorierend Rennen. Rennen. Rennen. Die Wucht, mit der sie zurück gerissen wurde, als er sie erreichte, war unbeschreiblich. Alle Luft wurde aus ihrer Lunge gepresst. Sie hätte nicht sagen können, ob es der gewaltige Ruck war oder aber die Erkenntnis, dass sie nun verloren war. Gewaltsam ging sie zu Boden. Sie konnte gerade noch reflexartig ihre Arme vor dem Gesicht verschränken, um ihren Kopf vor dem Aufprall zu schützen. Eine Verschnaufpause blieb ihr nicht. Etwas Schweres stemmte sich ihr schmerzhaft in den Rücken? Ein Knie, vermutete sie. Wer auch immer sie gefunden hat, nutzte sein ganzes Körpergewicht, um sie am Boden festzuhalten. Sie versuchte, ihn abzuschütteln, doch konnte sie nicht die nötige Kraft aufbringen. Je mehr sie sich wehrte, desto schmerzhafte drückte er das Knie gegen ihren Rücken. Sie gab einen kurzen Frustschrei von sich. Schon wieder war es für den Angreifer so einfach, sie im Zaum zu halten. „Gefiel dir mein großzügiges Angebot so wenig, junge Sawako aus Tokio?“, säuselte eine Stimme hinter ihr und sofort wusste sie, wer ihr gefolgt war und sie nun so erfolgreich an ihrer Flucht hinderte. Es war Yorinaga selbst. Sie wand sich noch mehr, so gut es ging, und versuchte sich seines eisernen Griffes zu entreißen. „Es interessiert mich sehr, wer dir die Verstärkung geschickt hat. Sag, möchtest du jetzt reden?“ Wieder klang seine Frage fordernd. „Der gehört nicht zu mir. Er wollte mich töten“, keuchte sie verteidigend. „Und dennoch sahst du sehr lebendig aus, wie du das Lager verlassen hast.“ Sie spürte seine Hand, die sich um ihre Kehle legte, drohend und mit einem stummen, tödlichen Versprechen. Sein Griff war fest. Da er nur sein Bein und sein Gewicht benötigte, um sie festzuhalten, hatte er beide Hände zu Verfügung, um sie einfach zu erdrosseln. Panisch schlug sie mit ihren eigenen freien Händen um sich, erreichte ihn in ihrer Position aber kaum. „Was muss ich nur mit dir tun, damit du anfängst, zu singen.“ Diesmal war seine Stimme näher an ihrem Ohr. Er musste sich weiter vorgebeugt haben. Sie hatte die Gewichtsverlagerung bemerkt. Wild um sich schlagend versuchte sie weiter, ihn abzuschütteln. Es schien aussichtslos. Frustriert vergrub sie die Finger im kalten Waldboden, als würde er ihr Halt spenden. Sie wagte es nicht, sich auszumalen, was ihr bevorstand. Könnte dieser Albtraum doch nur endlich enden. Könnte doch nur das Klingeln ihres Weckers sie aus diesem Höllentrip erlösen. Sie spürte seine andere Hand, erst auf ihrem Schenkel ruhend, dann bedrohlich nach oben wandernd. Und sie bemerkte seinen Atem an ihrem Ohr. Vielleicht eine Chance … Sie nutze den Moment, die Sekunde der Überraschung, und riss nun mit aller Wucht ihren rechten Ellenbogen nach hinten. Der Schlag traf sein Ziel. Mit den Schmerzen, die sie durchfuhren wie ein Stromschlag, hatte sie gerechnet, denn sie hatte geahnt, dass sie nur seine Rüstung erwischen würden, wenn überhaupt. Doch es reichte, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er wankte kurz, aber nicht lange genug, als dass sie sich hätte befreien können. Schnell hatte er sich wieder gefangen und ließ ihr keinen Raum, sich ihm zu entwinden. „Nun wird es interessant.“ Sie hörte an seiner Stimme, dass ihr verzweifelter Widerstand ihn zu belustigen schien. Dann ging alles ganz schnell. Sie bemerkte etwas Kleines, das neben ihr auf den Boden gefallen war. Ein kleines Stück oberhalb ihres Kopfes, gerade so noch im Blickfeld. Es sah aus wie eine kleine Schatulle. Bei dem Hieb, den sie ihm verpasst hatte, musste es heruntergefallen sein. Sie starrte das Kästchen an. Irgendetwas daran erschien ihr von elementarer Bedeutung. Erklären konnte sie es nicht. Vielleicht war es seine Reaktion, die diesen Verdacht in ihr schürte. Auch er schien die Schatulle gleich bemerkt zu haben. Seine Hände ließen sofort von ihr ab und er schien sich wieder aufzurichten. "So, danach haben sie dich also geschickt. Ich hätte von Ogata mehr erwartet als eine so hilflose Frau in den Mauern des Tempels zu verstecken. Aber vielleicht warst du auch nur das Ablenkungsmanöver. Das sollte nun keine Rolle mehr spielen." Wieder beugte er sich vor, um nach der Schatulle zu greifen. Wenn sie je eine Chance hatte, dann war es jetzt. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, schleuderte sie ihren Kopf nach hinten und traf ihn hart. Sie hörte ein Keuchen. Auch sie konnte einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken. Der Schmerz, der nach dem Treffer einsetze, betäubte einen Moment ihre Sinne und ihr wurde schwarz vor Augen. Nein, es war ihre einzige Chance. Jammern konnte sie später noch, wenn sie das Ganze überlebte. Sie schnappte sich diese scheinbar so wichtige Schatulle. Hinter sich hörte sie ein wütendes Knurren, das ihr den Wert des Kästchens bestätigte. Gleich würde er es ihr entreißen, sie hatte keine Zeit. So kräftig sie konnte, schleuderte sie die Schatulle in das dichte Gestrüpp. Dann stemmte sie ihre Arme links und rechts neben sich, um mit aller Kraft zu versuchen, sich aufzurichten. Er war abgelenkt, vermutlich, weil er mit dem Blick der Schatulle gefolgt ist, wie sie es geplant hatte. Wenn dieses Kästchen so wichtig war, wichtiger als Sawako, dann würde er aufpassen, wo es landete. Und genau auf diese Ablenkung hatte sie spekuliert. Wieder geriet er aus dem Gleichgewicht und dieses Mal gelang es ihr, sich unter ihm wegzurollen. Jetzt hing alles am seidenen Faden. Schatulle, oder die Spionin, die nach der Schatulle geschickt wurde. Wenn ihre Theorie stimmte, war klar, was von beidem wichtiger sein würde. Trotzdem hatte sie nur einen kurzen Moment gewonnen. Ohne ihn anzusehen, richtete sie sich stolpernd auf und stürzte davon. Sie fürchtete, er würde wieder nach ihr greifen und sie aufhalten, dass sie wieder mit einem Rück zurückgehalten wurde. Doch der Ruck blieb aus. Keine Hände, die sie aufhielten. Kein Laut hinter ihr, der verriet, dass sie weiter verfolgt wurde. Sie wollte sich umdrehen. Wollte Gewissheit. Doch sie wagte es nicht, auch nur eine Sekunde zu verlieren. Ihr war, als spürte sie seinen Blick bohrend in ihrem Nacken. Fast glaubte sie, seine kalte Wut in der Nachtluft zu spüren. In Gedanken sah sie ihn, unbewegt und ihr nachblickend, nicht wagend, die kostbare Schatulle zurückzulassen. Und wieder rannte sie, noch schneller als zuvor. Doch hinter ihr blieb es still. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)