Besessen von diesem Chaos von Niekas ================================================================================ Kapitel 1: Besessen von diesem Chaos ------------------------------------ Hollywood hat dein Hirn infiziert Du wolltest Küsse im Regen Ich habe in einer Filmkulisse gelebt und den American Dream ausgekotzt Ich bin besessen von diesem Chaos, das Amerika ist! (frei übersetzt nach „Hollywood“ von Marina and the Diamonds) Gestern habe ich dich gesehen. Nicht erst, als du deine Rede gehalten hast und alle dich angesehen haben – davor, meine ich. Du bist relativ spät gekommen, als alle schon im Konferenzsaal waren, die meisten ihre Plätze gefunden hatten. Du hast deine Ankunft laut verkündet, in die Runde gegrinst und alle ignoriert, die dieses Grinsen nicht wenigstens mit einem Nicken erwidern wollten. Du hast Hände geschüttelt und dich nicht um die geschert, die dir ihre Hände nicht geben wollten. Du hast meine Hand geschüttelt, erinnerst du dich? Ich habe mich durchgekämpft durch die Traube von Anzügen und Krawatten, die sich um dich gebildet hatte. Alles, um dich zu begrüßen. Du hast glücklich ausgesehen, ich erinnere mich. Ein wenig abgekämpft, aber trotzdem sehr zufrieden. Du hast dich in der allgemeinen Aufmerksamkeit gesonnt, und du hast meine Hand geschüttelt. „Alfred. Schön, dass du hier bist.“ (Vielleicht war es dumm, das zu sagen, oder? Vielleicht hätte ich einfach „Guten Tag“ sagen sollen. Aber ich wollte noch mehr sagen, irgendetwas anderes als alle anderen, irgendetwas Persönliches. Immerhin bin ich nicht wie alle anderen, oder?) „Hey“, hast du gesagt und gegrinst, dieses wunderbare, breite Grinsen, als gäbe es nichts in der Welt, das dir Angst macht. Dein Händedruck war fest und warm. Du hast mir in die Augen gesehen und kurz genickt. Danach hast du meine Hand losgelassen und dich anderem zugewandt, und für den Rest des Tages haben wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Ich bin nicht irgendjemand, Alfred. Oder? Ich bin nie irgendjemand gewesen. Ich will nicht, dass du mich vergisst. Ich weiß, du hast so viel zu tun, dich um so viel zu kümmern. Es gibt so viele Nationen, zu denen du Beziehungen pflegen musst, und Politik ist ein hartes Geschäft. Ich weiß, dass du viel zu tun hast. Ist es egoistisch, trotzdem von dir zu verlangen, dich an meinen Namen zu erinnern? Meine Hände liegen auf dem Geländer des Balkons, das nass ist, glitschig vom Regen. Der Regen strömt unaufhörlich aus dem bleigrauen Himmel über der Stadt. Keine sehr hübsche Stadt, wenn man hinter die Kulissen blickt – zu viele Mauern aus Beton und wirr herumhängende Stromkabel. Ich dachte, bei dir würde die Sonne scheinen, Alfred. Ich dachte, bei dir gäbe es keine Armut und keine Hässlichkeit und alle wären glücklich, immer, jeden Tag. Wahrscheinlich hat Hollywood mich verdorben, was meinst du? Und davor all die Berichte und Erzählungen, Amerika, Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Aber unbegrenzte Möglichkeiten bedeutet auch unzählige ungenutzte Möglichkeiten. Hast du darüber jemals nachgedacht, Alfred? „Hey.“ Ich zucke zusammen und will nicht glauben, dass du da bist. Unten fällt der Regen in die Pfützen und wühlt das Wasser auf. Ich kann es selbst auf diese Entfernung sehen. „Hey“, sagst du noch einmal. „Ist alles in Ordnung?“ Ich liebe diese Sorge in deiner Stimme, aber gleichzeitig diese Sicherheit, dass alles gut werden wird. Nichts kann dir wirklich Sorgen machen, nicht wahr? Du findest immer eine Lösung. Es gibt kein Problem, für das es keine Lösung gibt. „Was ist los?“ Langsam wage ich es, den Kopf zu heben. Du siehst wirklich besorgt aus, Alfred. Sollte mich das überraschen? Das tut es. Du machst dir keine Sorgen, du hast keine Angst. Du bist niemals unglücklich. Ich will auch so glücklich sein wie du, Alfred. Ich will. Es ist ungeschickt, das ist mir klar. Ich weiß nicht, wie ich den Mut dafür zusammenkratze. Dein Kragen ist schon ein bisschen feucht von Regentropfen, als ich die Hand hinein kralle. Du reißt überrascht die Augen auf, aber du weichst nicht zurück, drehst das Gesicht nicht weg. Im Bruchteil einer Sekunde beschließe ich, das als Zustimmung zu deuten. Verzeih mir, wenn ich hier eine Grenze überschreite, die nicht hätte überschritten werden sollen. Ich will nur etwas von deinem Glück abhaben, Alfred. Vielleicht kriege ich etwas davon ab mit diesem Kuss. Regentropfen schlagen gegen meine Hand, die deinen Kragen umklammert, aber ich will es ignorieren. Ich will alles ignorieren bis auf diesen Moment. Dinge ignorieren kannst du doch auch so gut. Es dauert lange, bis ich meine Lippen von deinen löse und zurückweiche, langsam, wie betrunken. Es ist das Glück, Alfred. Ich wollte etwas von deinem Glück haben, und ich habe es bekommen. Aber jetzt plötzlich fällt mir auf, dass es gar nicht das war, was ich wollte. Ich wollte nie dein Glück haben, Alfred. Ich wollte meines. Du siehst mich an, grinst schief, weißt anscheinend nicht, was du sagen sollst. Ich muss einige Male Luft holen, bevor ich es fertig bringe, zu fragen. „Meinen Namen.“ Du ziehst eine Augenbraue hoch. „Meinen Namen“, wiederhole ich. „Nenn mir meinen Namen.“ Ich sehe die Ratlosigkeit in deinen Augen. Du verstehst nicht, worauf ich hinaus will. Vermutlich wirst du es niemals verstehen. Ich bin nur jemand, den du trösten kannst. So jemand braucht keinen Namen. Ich bin nur irgendjemand. „Du hast ihn vergessen. Du weißt nicht, wer ich bin. Sag mir... meinen Namen... sag mir, dass du nicht vergessen hast...“ Die Worte sterben auf meinen Lippen, diesen Lippen, auf denen noch ein bisschen von deinem Glück klebt, das nicht meines ist. Ich will doch nur glücklich sein, Alfred, ist das zu viel verlangt? Glücklich. Durch die Tränen und den Regen kann ich sehen, dass du mich in den Arm nimmst, kann es spüren. Tief drinnen sträubt sich etwas in mir, ein letzter Rest Stolz oder Würde, was es auch immer ist. Du sollst mich nicht umarmen. Ich will das nicht. Ich will es nicht und wehre mich doch nicht dagegen, weil ich weiß, dass dein Trost der einzige ist, den ich bekommen werde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)