Auf Zeit können wir nur hoffen von Scribble ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Pia … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Alles fühlt sich so unwirklich an. Ich komme mir vor als wäre ich in die falsche Filmkulisse gestolpert, und statt mich gehen zu lassen, hat mich der Drehbuchschreiber hierher gesetzt, an diesen Tisch neben die tickende Uhr. Und so sitze ich hier, und alles, was mir einfällt, ist dir zu schreiben. Verrückt, oder? Als würde ich dir diesen Brief einfach in einen Postkasten stecken und er würde zu dir nach Hause geschickt werden. Als würdest du ihn öffnen und lesen, und du würdest arbeiten gehen, jeden Morgen joggen und ein Leben fernab von allen Krankenhäusern führen. Und wir wären wohl noch immer nur Freundinnen. Ich weiß nicht. Ich komme nicht wirklich darüber hinweg, dass wir beide so viel Zeit verschwendet haben. Warum haben wir uns erst dann tief in die Augen gesehen, nachdem man dir gesagt hat, dass du auf die Transplantationsliste musst? Dass alles andere keinen Sinn mehr macht, dass die Möglichkeiten ausgeschöpft sind, dass du höchstens noch ein Jahr zu leben hast, wenn du kein Spenderherz bekommst? Warum haben wir erst geweint, uns dann angesehen, und uns dann geküsst? Warum haben wir das nicht früher gemacht? Warum kann es sein, dass wir niemals Zeit haben werden? Warum muss es ausgerechnet dich treffen? Wieso dich? Wir stellen seit zwanzig Jahren zusammen Mist an. Du warst immer gesund, immer. Mein Gott, selbst ich war öfter krank als du. Und eine verschleppte Grippe zerstört dein Leben, das untrennbar mit meinem verbunden ist. Unser Leben. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Ich wünsche mir, dass du mich ansiehst, und mit einem leisen Lächeln sagst, dass wir nicht mit Gerechtigkeit rechnen können, weil Leben ein Arsch ist und Gott sich eine gigantische Soap erschafft. Und in Soaps darf niemand länger als zwei Folgen glücklich sein. Ich wünsche mir, dass du nicht so müde und blass aussehen würdest. Ich wünsche mir, dass du nicht an Atemnot leidest und nichts ans Bett gefesselt bist. Ich wünsche mir, deine Hand zu nehmen und mit dir durch die Stadt zu schlendern, statt dich mit einem Rollstuhl durch triste Krankenhausgänge zu schieben. Jetzt ist der Traum fast greifbar, aber ich habe noch immer deinen Gesichtsausdruck im Kopf, als sie sich mitgenommen haben. Diese Angst. Wir beide hatten Angst. Wir haben auf diesen Moment gewartet, wir haben gebangt und gefleht, dass er kommen möge, und als man uns Bescheid gegeben hat, es … es war ein Schock. Ist das nicht auch verrückt? Aber alles ist so ungewiss. Ich habe lieber eine blasse, todkranke Freundin als eine, die die Operation nicht überstanden hat. Drei Stunden, sagen sie. Wie soll ich das aushalten? Die Uhr tickt. Ich habe Angst um dich. Angst vor der Zukunft. Angst, Angst, Angst. Bis du aus dem OP kommst habe ich diese Uhr definitiv zerschmettert. Ich frage mich, was passiert, wenn es klappt. Ich meine, ich weiß es. Diese Broschüre war wirklich ausführlich, auch wenn ich mir gewünscht hätte, du hättest dir nicht die Nebenwirkungen von diesen ganzen Tabletten angeschaut, die du schlucken wirst, wenn die OP gut läuft. Du warst so schwach vorher. Noch etwas länger und du wärst zu schwach für die OP gewesen, und dann - Ich weiß nicht, was ich ohne dich wäre. Ich weiß es nicht. Bitte, ich weiß, dass du deine Mutter vermisst. Aber es ist zu früh ihr zu folgen. Bitte, bleib hier, bleib bei mir. Ich bin nichts ohne dich, ich brauche dich. Du magst meine Geliebte sein, aber du bist noch immer meine beste Freundin. Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich liebe dich, Pia. Bleib bei mir. Geh nicht. Geh nirgendwohin. Überlebe diese OP gefälligst. Ich schwöre dir, wenn du stirbst, töte ich dich eigenhändig. Okay, der war mies. Und klischeehaft. Noch mehr Klischee ist, dass ich gerade weine. Ich weiß nicht, ob ich weine, weil ich jetzt schon rumzuwitzeln versuche. Oder ob ich versuche lustig zu sein, weil ich weine. Sollte Galgenhumor nicht helfen? Oder zumindest das Weinen? Ich versuche beides, aber nichts hilft. Ich hasse es, zu weinen. Ich komme mir so allein und hilflos vor. Am Liebsten würde ich wenigstens dein neues Herz hüten. Ich kann übrigens nicht glauben, dass du mir so etwas Kitschiges zum Abschied gesagt hast. Du warst nie der Typ für Kitsch. „Mein neues Herz wird von Anfang an nur für dich schlagen.“ Ernsthaft, Pia? Ernsthaft? Das ist dein Stil? Du warst total melodramatisch. War die ganze Szene an sich nicht schon melodramatisch genug? Ich frag mich, was du dir fürs Aufwachen ausgedacht hast. Ich erwarte ja fast irgendein Zitat aus irgendeinem bekannten Film. Oder schlechte Witze, was das Herz angeht. Oder wieder was Kitschiges. Ich bin gespannt. Überrasch mich, Pia. Ah, verdammt. Diese Uhr macht mich wahnsinnig. Mit jedem Ticken wird es schlimmer. Es tut richtig weh die dummen Zeiger zu hören. Vielleicht ist dieser Zustand jetzt ganz gut. Einerseits sehne ich das Ende herbei, einerseits fürchte ich es, ganz einfach deswegen, weil dann alles feststeht. Lebend oder nicht lebend. Dann geht es los. Idealerweise damit, dein neues Leben zu beginnen. Jetzt ist noch alles offen. Jetzt kann alles noch in jede Richtung kippen. Aber irgendwann heißt es Alea iacta est. Das ist nur dein Scheißlatein. Ich hasse das Zeug, dass ich sowas überhaupt weiß, ist nur deine Schuld. Ohne dich wär ich eh nie durch die Schule gekommen. Dann würd ich mit 27 noch immer zwischen irgendwelchen Rotzgören rumhängen. Oder so. Ich kann nicht glauben, so bedeutungsloses Zeug zu faseln, während dir gerade ein verdammtes Herz transplantiert wird. Das ist eine verdammt große Sache. Etwas echt besonderes. Mir tut die Familie irgendwie Leid, die vom Spender. Sie weinen um jemanden, aber ich bin viel zu fixiert darauf, dass nur du unbedingt überleben musst, als dass ich mich jetzt wirklich gut drum kümmern kann. Du füllst den ganzen Platz in meinem Herzen. Da ist kein Platz, um um jemand anderes zu weinen und für jemand anderes zu hoffen und mitzufühlen. Da bist nur du, und der Gedanke an dich. Bitte, auch wenn ich ein so fürchterlich egoistischer Mensch bin, du warst immer bei mir, du warst immer für mich da, also bitte, verlass mich nicht. Nicht jetzt, hörst du? Gott, Pia. Mach keinen Scheiß, okay? Ich merke, dass ich müde bin … ich bin schrecklich müde. Ich hol mir einen Kaffee. Der Kaffee schmeckt wie Pisse. Grauenhaftes Zeug. Widerlich. Ich frag mich warum sie in einem Krankenhaus nicht einmal anständigen Kaffee haben können. Oder Uhren, die nicht lauthals ticken. Wollen sie dass man sich noch unwohler fühlt?! Außerdem nervt mich die mitleidige Schwester. Sie tut so, als wüsste sie, was ich fühle, als wüsste sie alles, und deswegen würde sie so mit mir mitleiden. Argh, sie soll mich in Ruhe lassen. Ich brauche jetzt nur einen Menschen und das bist du, Pia. Ich brauche dich. Das kann es doch nicht gewesen sein. Ich hab das Gefühl, wir hatten nicht genug Zeit. Ich hab das Gefühl, ich hätte dir noch fünfhundertzwanzigtausend Dinge sagen müssen, bevor sie dich abgeholt haben. Und selbst dann würde ich wohl noch hier sitzen und mir würden andere fünfhundertzwanzigtausend Sachen einfallen, die ich dir noch hätte sagen müssen. Du bist jetzt schon ewig im OP. Solltest du nicht langsam mal raus sein? Wenn mir nur noch keiner Bescheid gesagt hat, dann reiß ich ihnen den Arsch auf. Warte mal. Ich geh mal einen Arzt suchen. Ich kann hier nicht mehr lange einfach sitzen. Ich würde irgendwas kaputt machen. Die Uhr steht immer noch ganz oben auf meiner Liste. Ich muss irgendwas erfahren. Irgendwer muss ja was wissen. Scheiße, scheiße, gottverdammte Scheiße. Vier Stunden und du bist immer noch im OP. Was machen die mit dir?! SOLLEN DAS NICHT EXPERTEN SEIN?! Scheiße. Ich hab die Uhr kaputt gemacht. Ich bin einfach auf den Tisch geklettert und hab sie abgenommen und auf den Boden geworfen. Sie tickt jetzt nicht mehr. Die Schwester guckt immer noch mitleidig. Keiner will das Scheißteil ersetzt haben. Ich bin ein schlechter Mensch. Du bist ein guter Mensch. Warum stirbst du da gerade in diesem OP-Saal?! Okay, okay, NEIN. Du STIRBST NICHT. Hörst du?! DU STIRBST NICHT. NEIN. NEIN. NEIN. NEIN. SCHEIßE. Ich hasse Tränen. Wieso rotzt man so viel. Scheiße, Pia. Scheiße, wieso? Wieso? WIESO?! Pia … Kapitel 2: ----------- Irgendwann musste sie halb eingenickt sein, schief in einem Stuhl sitzend. Hannah schreckte hoch, als jemand ihre Schulter berührte, sie spürte ihr Herz schon rasen ehe sie überhaupt realisierte wem sie ins Gesicht sah. Es war ein Arzt, und sie spürte, wie die Angst sich um ihren Körper wand, wie sie sich um sie schnürte, das Atmen schwer machte und Druck auf den ganzen Körper ausübte, sodass sie das Gefühl hatte, gleich zu Platzen. „Ist sie … ?“ Hannahs Stimme brach weg, ehe sie den Satz beenden konnte. Sie presste sich die Hand auf den Mund. „Sie ist am Leben, aber ihr Zustand ist kritisch. Während der Operation kam es zu Komplikationen, genau genommen mehreren Blutungen und sie schien Anzeichen einer preakuten Abstoßung zu zeigen, so weit ich informiert bin. Glücklicherweise ist dies nicht der Fall, die Transplantation konnte erfolgreich durchgeführt werden, doch wirkliche Prognosen über ihre Chancen können derzeit nicht getroffen werden. Es tut mir Leid, Ihnen nichts genaueres sagen zu können. Es bleibt nur zu hoffen, dass das Spenderherz noch nicht zu spät kam. Wir werden bald mehr wissen. Sie liegt auf der Intensivstation und wird wohl die nächsten Stunden nicht aufwachen. Vielleicht möchten Sie vorerst nach Hause gehen und sich ausruhen … ?“ Hannah rieb sich über die Augen. „Nichts in der Welt würde mich dazu bringen zu gehen bevor ich gesehen habe, wie sich ihre Brust hebt und senkt.“ Der Arzt nickte. „Ich verstehe. Ich werde einer Schwester sagen, dass sie Ihnen Bescheid geben soll, sobald Sie zu ihr können. Wir tun unser Bestes, um ihr ein neues Leben zu ermöglichen.“ Hannah nickte, unfähig, zu fühlen. Sie war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Sie war zu müde. Ihre Augen brannten und ihr Schädel schmerzte. Pia lebte, aber sie war nicht außer Gefahr. Der Horror hatte noch längst kein Ende, und wirklich glauben würde Hannah es erst dann, wenn sie endlich wieder bei ihr war. Wie lange, war die Frage. Wie lange würde sie noch mit Pia zusammen sein können? Hannah wankte zum Tisch zurück, verschränkte die Arme darauf und legte den Kopf auf dieses provisorische Kissen. Tränen rannen ihr lautlos über die Wangen, kein Ton kam über ihre Lippen, sie zitterte nicht, gar nichts. Hannah war am Ende. Nervlich und körperlich. Wie musste es erst Pia gehen? Unruhe, Angst und immer wieder das Erwachen nach kurzen Perioden, in denen sie auf ihren Armen oder im Sitzen eingedöst war. Das Hochschrecken bedeutete meist, dass sie noch müder war als zuvor, noch etwas genervter, noch etwas ängstlicher, noch etwas hoffnungsloser, noch etwas desorientierter. Die Welt bestand nur noch aus diesem Raum hier, in dem sie gefangen war. Hannah hatte das Gefühl es würde niemals enden. Als wäre sie für immer hier gefangen. Sie war unfähig irgendetwas zu tun. Sie konnte nicht mehr schreiben, sie konnte nur noch vor sich hin dämmern, oder starrte einfach vor sich hin. Doch irgendwann dämmerte es draußen am Fenster, irgendwann ging diese Nacht zu Ende, und irgendwann kam die Schwester, legte ihr mit einem sanften Lächeln eine Hand auf den Arm und nickte ihr zu. „Sie können jetzt zu ihr.“ Schlaftrunken stemmte Hannah sich auf die Beine, so schnell es ging folgte sie der Schwester durch die Gänge, hörte die Schritte auf dem Linoleum überdeutlich, und ansonsten nahm sie kaum etwas wahr, außer der Tatsache, dass die Neonröhren an den Decken ihr zu hell waren, nachdem sie bis eben in die Dämmerung geschaut hatte. Wie lange, konnte sie nicht sagen. Sie hatte einfach dagesessen, leer, und nach draußen gesehen. Jetzt war sie schon unterwegs. Plötzlich stand sie vor dieser Tür. Sie würde Pia sehen. Sie würde sie sehen können. Etwas Leben kam in sie. Ihre Mundwinkel zuckten. Es fühlte sich falsch an. „Ich muss Sie bitten einen Mundschutz zu tragen, Handschuhe und einen sterilen Kittel, bevor Sie zu ihr gehen, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren.“ Mechanisch tat sie, wie ihr geheißen, streifte sich all das Zeug über und wurde zunehmend wacher. Als würden sich im beschlagenen Spiegel langsam wieder Umrisse formen. „Bitte, ich muss sie sehen“, hörte sie sich flehen, und die Schwester deutete auf die Tür. „Niemand hält Sie auf.“ Es schmerzte sie noch mehr, als sie erwartete hätte, Pia so schmächtig und blass dort liegen zu sehen. Hannah konnte den Blick nicht von ihr wenden als sie die Tür hinter sich schloss. Wie Pia in den hellen Laken fast unterging, so wirkte, als würde sie sich jeden Moment darin auflösen. Als hielten nur die zahlreichen Schläuche sie noch hier, was … sie ja gewissermaßen auch taten, selbst wenn Hannah im Leben nicht gewusst hätte, wofür jeder Schlauch stand, außer vielleicht bei denen der Beatmungsmaschine. Kurz verharrte sie dort reglos, als würde Pia verschwinden, sobald sie näher an sie herantrat, als würde sie vom leisesten Windhauch davon geweht werden. Dann ertrug Hannah den Abstand nicht länger und stürzte zu ihr. „Pia ...“, flüsterte sie. „Oh, Pia …“ Wann waren ihr schon wieder Tränen in die Augen getreten? Hastig wischte sie sie weg, sie konnte es nicht gebrauchen, dass ihre Sicht verschwamm. Sie wollte sich jeden verdammten Millimeter von Pias abgezehrten, blassen, eingefallenen, wunderschönen Gesicht einprägen und nie wieder vergessen. Pia versuchte ein schwaches Lächeln, doch ihre Augen waren von Müdigkeit wie umnebelt. Es wirkte als sei sie mitten in der Nacht davon aufgewacht, dass Hannah einmal wieder aus dem Bett gefallen war, und sobald diese zurück ins Bett geklettert war und sich an sie geschmiegt hatte, würde auch Pia zurück in den Schlaf gleiten. Was völlig in Ordnung war, so lange sie nur wieder aufwachte. Vorsichtig, als würde sie sie ganz einfach zerbrechen können, wenn sie zu grob mit ihr umsprang, schob Hannah ihre Hand unter Pias und schloss ihre Finger um die Haut, die nicht von einer Kanüle bedeckt war. Hannah konnte nicht anders, als zu strahlen. Es tat ihr weh, weil sie ihr das alles gerne erspart hätte, weil Pia all die Schmerzen nicht verdiente, aber sie lebte. Ihre Brust hob und senkte sich. Und da klopfte ein gesundes Herz. „Jetzt wird alles gut, ich verspreche es dir. Du packst das, okay? In der Broschüre stand, dass wir in drei Monaten in den Urlaub fahren können. Dir ist schon klar, dass ich mir das nicht nehmen lassen werde?“ Hannah lächelte, während ihr noch immer Tränen über die Wangen kullerten. Irgendwie war es doch eine Erleichterung. Sie zu sehen, ihre Hand zu halten, ihr kalte, schmale Hand mit der Kanüle darin, auch durch die Handschuhe. Sie hätte ihr so gerne einen sanften Kuss auf die Hand gehaucht, aber das war natürlich nur ein Wunschtraum. Hannah blieb eine Weile bei ihr, sah sie an, hielt ihre Hand weiter fest. Pia döste recht schnell wieder ein, und dann lag sie ganz friedlich da, während Hannah sich dabei ertappte, ständig auf ihren Brustkorb zu schauen, als könne sie jederzeit einfach aufhören zu atmen und wirklich fort sein, sich irgendwo hoch über den Wolken verlieren und sie hier allein zurück lassen. Schließlich kam die Schwester zurück und bat sie zugehen, gerade anfangs waren stundenlange Besuche schlichtweg nicht möglich, das Infektionsrisiko musste so gering wie möglich gehalten werden. „Außerdem wird es Ihnen guttun, sich auszuruhen. Sie sollten sich dringend hinlegen.“ Und so ungern Hannah das zugab, die Schwester hatte Recht. Sie brachte niemandem etwas, wenn sie am Ende ihrer Kräfte war, und selbst wenn etwas mit Pia sein würde … helfen würde sie ja doch nicht können. „Ich komme später wieder.“ Die Schwester nickte nur, und räusperte sich, als Hannah sehnsüchtig auf die Tür sah, statt sich in Bewegung zu setzen. Diese wusste dass es besser war, ihr Verstand wusste es. Doch für ihr Herz war es das einzig Richtige, Pias Bett nicht mehr zu verlassen bis sie es gemeinsam tun konnten. Dennoch seufzte Hannah tief und setzte sich in Bewegung, ließ die Station hinter sich, und ertappte sich selbst bei einem stillen Gebet. Bitte, Gott. Wenn du da irgendwo bist. Lass sie noch atmen, wenn ich wiederkomme. Das ist deine Chance, eine Gläubige zurückzugewinnen. Lass sie am Leben und ich steig bei der Kirche wieder ein. Kapitel 3: ----------- Den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, schob Hannah fluchend die anbrennenden Zwiebeln im Topf herum. Multitasking war nichts, womit sie gesegnet war, und ihr Kochtalent war so oder so miserabel. Ihr Bruder unterbrach sich in seiner Erzählung über die Eltern. Hannah hörte selbst durch den Telefonhörer das breite Grinsen auf seinem Gesicht. „Hast du vor, das Essen durch bloße Einschüchterung zu braten?“ Sie knurrte nur vor sich hin, mit dem Gedanken spielend, die ganze Pfanne in die Spüle zu hauen und zu ignorieren. „Braten geht gut. Zu gut.“ Okay, es reichte. Die Zwiebel hatte ihr erst Tränen in die Augen getrieben – und das obwohl sie heute zum ersten Mal kein Gefühl danach gehabt hatte, zu heulen! - und jetzt verbreitete sie diesen beißenden, angeschmorten Gestank. Dann würde Hannah eben verhungern. „Nur, dass das klar ist, sobald Pia nach Hause kommt übernimmt sie das wieder, ich werde es nämlich nie lernen!“ Sie wusste, dass Tom das laute Scheppern im Hintergrund hörte, und sie sah sein Gesicht förmlich vor sich, wie er nur mit Mühe und Not ein Lachen verkneifen konnte. Er war gelernter Koch und hatte schon oft genug versucht, ihr dabei zu helfen, aber immer musste er eingreifen, um das Essen zu retten. Hannah drehte den Herd aus, ließ etwas Wasser in die Pfanne laufen und lief zum Sofa rüber. „Wird wirklich Zeit, dass sie nach Hause kommt.“ Ohne sie war die Wohnung noch immer viel zu leer, viel zu weit. Auch das Chaos konnte keine Lücken füllen, sie höchstens übertünchen. „Hey, sie liegt doch seit heute schon auf der Normalstation, und mit den Tabletten kommt sie auch ganz gut zurecht. Nach der Reha wird praktisch alles so wie vorher.“ Hannah lächelte und nickte stumm vor sich hin. Ja, bald würde alles wieder normal werden. Oder normaler. Nur noch etwas Geduld. „Ich glaube, ich leg auf, Tom. Ich bin todmüde und sollte mich hinlegen bevor mein Magen den Betrug bemerkt und mir Schlaf nur gegen Essenseintausch gewährt.“ „An dir ist eine Geschäftsfrau verloren gegangen.“ „Wenn ich schon nicht kochen kann. Gute Nacht, Tom.“ „Gute Nacht, Schwesterherz.“ Ihre Schritte hallten laut in dem Krankenhausgang. Das taten sie immer, aber jetzt, wo sie beschleunigte, klangen sie irgendwie bedrohlicher. Wobei, das machte nur die Angst. Angst ließ jedes noch so alltägliche Geräusch bedrohlicher klingen. Angst beschleunigte ihre Schritte auch. Ohne noch länger zu warten, rief sie einfach in das Schwesternzimmer: „Wo ist sie?!“ Ihre Stimme klang höher, schriller, als sie erwartet hätte. Sie hatte sich zur Ruhe zwingen wollen, aber war daran gescheitert. Ihre Nerven waren wieder zum Zerreißen gespannt und ließen keinen Platz für Besonnenheit. War es ein Fehler gewesen sich in Sicherheit zu wiegen? Drei Köpfe flogen herum, zwei eher verwirrt, aber eine der Schwestern erkannte sie, sprang auf und kam rasch zu ihr herüber. Hannah biss sich auf die Lippen, um sie nicht anzubrüllen, dass sie gefälligst reden sollte, weil selbst die paar Sekunden zu viel Wartezeit waren. „Frau Roths Zustand hat sich über Nacht extrem verschlechtert. Sie hat Fieber und ist kaum noch ansprechbar, zeigt Anzeichen einer Abstoßung. Früh erkannt lässt sich diese gut behandeln, aber wir sahen uns gezwungen auf Nummer sicher zu gehen und sie zurückzuverlegen.“ Die Schwester versuchte ein Lächeln, aber Hannah konnte es nicht erwidern, sie starrte die Frau einfach nur an, unfähig, die Worte richtig zu begreifen. Sie konnte es nicht fassen. Wieso? Es war doch gestern alles noch gut gewesen! Wieso? Pia lag doch schon auf der Normalstation! Ihr Zustand war stabil! Und nun?! „Wieso – wieso hat mir niemand Bescheid gegeben?!“ Sie hatte doch das Telefon neben ihrem Bett, das erste, was sie morgens machte, war nachsehen, ob sie nicht des Nachts einen Anruf von der Klinik verpasst hatte. Wieso hatte man ihr nicht Bescheid gegeben, wieso hatte man sie in dem Irrglauben hierher fahren lassen, dass alles in Ordnung war?! Und dann das?! „Meine Liebe, sie hätten nichts für sie tun können. Sie hätten sich nur zu Tode gesorgt und die ganze Nacht hier gesessen ohne ein Auge zuzutun.“ „Man hätte es mir doch sagen können!“ Hannahs Stimme brach, sie presste sich die Hände auf die Augen. Nicht weinen, nicht weinen. Es gab keinen Grund zu weinen. Pia lebte doch. So lange sie lebte, gab es keinen Grund zu weinen. „Na, na, mein Kind. Jetzt atmen Sie erst einmal tief durch, und ich mache Ihnen einen schönen, heißen Tee. Und wenn Sie sich beruhigt haben, dann gehen Sie zu ihr.“ Die Frau nahm sie an die Hand als wäre sie ein kleines Mädchen und führte sie zu einer kleinen Gruppe Stühle. Es klang alles so logisch und normal. Zwar teilte die Angst sich den Sitzplatz mit ihr, aber sie war nicht mehr so überwältigend, dass Hannah die Nerven verlor. Den Geschmack des Tees nahm sie kaum wahr, nur die Wärme des Getränks an ihren Händen, und wie es auch ihr Inneres wärmte. Draußen war es gar nicht kalt, aber in ihr selbst ging alles drunter und drüber. Über all das hinweg die Wärme zu spüren war wenigstens ein gutes Gefühl. Sie blieb so lange dort sitzen, bis sie sich in der Lage fühlte, eine blasse und zerbrechliche Pia zu ertragen. In den letzten Tagen hatte sie einen Hauch von Farbe auf den Wangen gehabt, einen Glanz in den Augen. Es war ihr besser gegangen, viel besser. Nun schien alles wieder zum Anfang zurück gerückt. Die Zeit zurückgefallen. Es fühlte sich wieder unwirklich an. Den Weg legte Hannah mechanisch zurück. Sie kannte ihn noch von den ersten Tagen, sie kannte die Handlungsabläufe. Dann trug sie wieder die sterile Kleidung, bekam wieder den Hinweis, dass sie nicht zu lange bleiben durfte. Es gelang ihr kaum, die Tür zu öffnen. Sie hatte Angst davor einzutreten. Wenn sie Pia sah, dann würde es wahr werden. Dann wäre ihr Leben schon wieder am seidenen Faden. Dann könnte Hannah sie abermals verlieren. Nichts schien eine Garantie zu haben. Jedes Gefühl von Sicherheit eine Lüge, der sie glaubte, weil sie es so sehr wollte. Die Atmosphäre im Zimmer war drückend, wie dichter Rauch, in den sie eintrat, der das Atmen erschwerte, der Hannah langsam werden ließ und benommen. Mit unruhiger Hand schloss sie die Tür hinter sich und trat langsam an Pias Bett. Sie war so blass als wäre sie schon tot, die Augen geschlossen, das Gedicht von Schweiß feucht glänzend. Stumm stand Hannah neben ihr, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Nur Gefühle und Fragen stürzten auf sie ein und wirbelten in ihr, pressten ihr schmerzhaft die Tränen in die Augen. Sie konnte nichts tun, sie ließ es geschehen, rührte sich nicht, betrachtete Pias Gesicht. Warum? Alles, was sie wollte, war Zeit. Ein Leben mit Pia. War das denn zu viel verlangt?! Sie wollte keine Millionen, sie wollte doch nur, dass ihre beste Freundin nicht starb, dass die Liebe ihres Lebens nicht plötzlich zu atmen aufhörte. Was wäre diese Welt ohne sie? Nichts, nichts, nichts! Sinnlos. Leer. Zeit war, was sie nicht hatten. Irgendetwas in Hannah schien aufzubrechen. Es schien ihr plötzlich so klar, was sie zu tun hatte, dass sie schon fast darüber lachen musste, es nicht eher getan zu haben. Leise trat sie einen Schritt zurück, sah Pia noch ein letztes Mal an, ehe sie zur Türe schlich, sie hinter sich zuzog. So schnell es ging entledigte sie sich der Kleidung und verließ die Intensivstation. Kaum hatte sie diese hinter sich gelassen, zückte sie noch in den übrigen Krankenhausgängen das Handy und tippte die Nummer, ohne nachzudenken. Freizeichen. Atemzüge. „Schwesterherz? Was gibt’s?“ Sie presste sich die Hand auf den Mund, um sich daran zu hindern loszuschluchzen, und zwang sich dann, mit zitternder Stimme zu sprechen. „Sie liegt auf der Intensivstation, ihr Zustand ist schlecht, sie war nicht einmal wach.“ „Oh mein Gott, Hannah, ich -“ „Tom. Tom, hör mir zu.“ „Ja?“ „Du musst mir Geld leihen!“ Kapitel 4: ----------- Ihre Tasche fühlte sich nahezu bedeutungsschwer an, wie sie auf ihrem Schoß stand. Tom neben ihr auf dem Fahrersitz sah aufmerksam auf die Straße, aber Hannah spürte, dass etwas unausgesprochenes zwischen ihnen hing, und dass er nur noch den Mut sammelte, es auszusprechen. „Spuck's aus.“ Ertappt grinste er sie halb an, nahm sich noch Zeit zu kuppeln und die Sonnenblende runterzuklappen, ehe er sehr vorsichtig zu sprechen begann. „Bist du dir damit auch wirklich sicher? Ich meine, du bist nicht sonderlich … rational. Willst du dir nicht noch etwas Zeit lassen?“ Hannah seufzte. Sie hatte damit gerechnet, natürlich hatte sie das. Und er hatte ja auch einen Punkt, nur … „Auf Zeit können wir nur hoffen. Ich weiß, was ich will. Ich will sie! Gestern Morgen ging es ihr so viel schlechter – wer sagt mir, dass sie jetzt überhaupt noch … ich meine, es könnte sein, dass ich ankomme, und es ohnehin schon zu spät ist. Vielleicht war es ein Fehler so lange zu warten, vielleicht hätte ich lieber bei ihr sein sollen, ich weiß es doch auch nicht. Aber wenn es jetzt nicht zu spät ist, dann … ich werde meine Chance nutzen, so lange sie noch da ist, verstehst du?“ Hannah konnte nicht mehr weitersprechen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Schon die ganze Zeit trommelte die Frage in ihrem Hinterkopf. Was, wenn sie Zeit verschwendet hatte mit dieser Idee? Aber es ging nicht anders. Sie klammerte sich an ihre Tasche und lehnte den Kopf an die Scheibe. Draußen zog die Stadt vorbei, in Sonnenlicht getaucht. Eis essende Menschen, Kinder, die auf Rollern fast eine ältere Dame umfuhren, die das beeindruckend liebenswürdig hinnahm. Alles zog vorbei, die Welt drehte sich weiter, während Hannahs vielleicht schon längst stehen geblieben war, ohne dass sie es wusste. „Hannah … sie ist stark.“ „Man hat ihren Brustkorb aufgesägt, ihr Herz rausgeschnitten, ein Neues verkabelt und ihr Immunsystem runtergefahren, damit es dagegen nicht rebellieren kann! Wer soll so etwas überhaupt ...“ Nein, es nicht aussprechen. Hannah biss sich auf die Lippen, die schon schmerzhaft aufgenagt waren. Sie schmeckte Blut, aber es war ihr egal. Alles war egal. „Viele. Und sie ist in guten Händen.“ Hannah schwieg. Sie wollte nur zu Pia, sonst nichts. Als der Wagen auf dem Parkplatz hielt, hatte sie sich noch während der Fahrt abgeschnallt und wollte schon aus dem Auto steigen, als es noch nicht einmal ganz stand. Hastig griff Tom nach ihrem Handgelenk. „Was?“, fragte sie fast schon weinerlich. „Ich lasse dich nicht allein da rein gehen. Ich komme mit und warte auf dich, während du bei ihr bist. Du bist in letzter Zeit viel zu oft allein, komm heute mit zu uns, okay? Wir haben ein Gästezimmer, und ich halte auch die Rabauken von dir fern.“ Stumm beugte sich Hannah zu ihm herüber und schlang umständlich die Arme um seinen Hals. Mehr sagte sie nicht, beide stiegen aus und liefen im Stechschritt auf das Krankenhaus zu, wobei Tom sich Hannah anpasste. Ihm war klar, dass es keinen Sinn hätte, sie darum zu bitten langsamer zu gehen. Es war fast schon traurig, wie zielsicher sie den Weg Richtung Leitstelle lief, um sich für die Intensivstation anzumelden. Er trat etwas abseits und ließ sie reden, die Worte drangen nur gedämpft zu ihm, und er versuchte, an etwas anderes zu denken. Er hätte gerne geholfen. Mehr, als er es jetzt tat. Er war mit Pia befreundet und machte sich selbst Sorgen um sie, und seine Schwester leiden zu sehen tat ihm im Herzen weh. Aber ihm waren die Hände gebunden, er konnte Pia nicht heilen und damit auch Hannahs Schmerz nicht lindern. Er konnte einfach nur für sie da sein. Als ihre Stimme schriller wurde, irrte sein Blick besorgt zu ihr. „Was soll das heißen, Sie können es mir nicht sagen?! Das müssen Sie doch wissen!“ Tom trat näher zu ihr, dicht hinter sie. Sie sollte wissen, dass er hier war. „Es tut mir Leid, ich weiß nur, dass Frau Roth sich nicht mehr auf der Intensivstation befindet. Bislang ist mir nichts über Ihren Verbleib bekannt. Bitte, nehmen Sie kurz Platz, ich werde die Station anrufen. Wir werden bald wissen, was mit ihr passiert ist.“ Tom legte ihr die Hände auf die Schulter, als sie noch immer nur steif dastand, und schob sie sanft davon. „Vielen Dank.“, sagte er zu der Frau und nahm Hannah mit zu einer Sitzgruppe etwas entfernt. Er wollte ihr etwas beruhigendes sagen, nicht recht wissend, was er selbst davon halten sollte. Sie starrte zu Boden und rührte sich nicht, saß einfach nur da. Er versuchte, durch die Haarsträhnen ihren Gesichtsausdruck ausmachen zu können, als sie etwas flüsterte, was er nicht verstand. „Was hast du gesagt?“, fragte er sanft nach. „Es war ein Fehler.“ Hannah hob den Kopf, die Augen weit aufgerissen, sie schien völlig schockiert, als wäre ihr gerade klar geworden, dass - Tom realisierte, was sie dachte. „Hannah, das bedeutet doch nicht, dass sie -“ „Was soll es denn sonst bedeuten?!“ Hannah sprang auf und ihre Stimme überschlug sich. „Sie ist gestorben! Gerade erst! Und hätte ich mir nicht eingebildet vorher dieses dumme Ding abholen zu müssen … !“ Ihr Blick fiel auf die Tasche, und ehe Tom reagieren konnte, packte sie sie und schleuderte sie durch die halbe Halle. „Sie ist weg!“, schrie Hannah ihn an. „Sie ist weg und ich war nicht bei ihr!“ Reflexartig wollte Tom sie an sich ziehen, sie festhalten, doch sie stieß ihn von sich weg und taumelte einige Schritte zurück, die Hände an die Schläfen gepresst, als hätte sie schreckliche Kopfschmerzen. „Warum war ich nicht bei ihr? Warum war ich nicht hier? Warum sie? Warum nicht ich?“ Sie redete vor sich hin, wie in Trance, als wäre sie eine Schlafwandlerin, und fixierte irgendeinen leeren Punkt in der Ferne, den nur sie zu sehen schien. „Es ist meine Schuld! Wenn ich da gewesen wäre, ich hätte – sie – sie wäre nicht gegangen, ich bin Schuld, wenn ich -“ Tom konnte es nicht länger ertragen. „Hannah!“, rief er, und sie sah ihn an, als würde sie ihn erst jetzt bemerken. „Wir wissen nicht einmal was mit ihr ist, und egal, was es ist, es ist nicht deine Schuld! Okay?!“ Ihre Gesichtszüge veränderten sich, wurden weicher, ehe sie sich verzerrten. Sie stolperte nun von selbst zu ihm, und er breitete die Arme aus und presste seine kleine Schwester an sich, die sich in sein Shirt krallte und zu weinen begann. „Ich habe solche Angst“, keuchte sie, und er schlang die Arme nur noch etwas fester um sie. „Ich weiß, Hannah. Ich weiß. Aber aktuell wissen wir noch gar nichts. Warten wir ab, okay?“ Hannah blieb stumm, sie zitterte nur weiter in seiner Umarmung, während Tom versuchte, nicht auch noch die Nerven zu verlieren. Er musste jetzt stark sein und Hannah stützen, ganz egal, was sein würde. Sie standen eine Weile so da, und allmählich wurde Hannah ruhiger, wischte sich die Tränen ab. Sie trat zurück von Tom und suchte betreten nach ihrer Tasche im Raum, lief zu ihr herüber und hob sie auf. „Ich … ich will einfach nur eine Zukunft mit ihr, verstehst du? Ich will doch einfach nur, dass wir Zeit haben ...“ Tom nickte nur. „Ich weiß, Hannah. Ich weiß.“ „Entschuldigen Sie?“, rief da die Frau von der Rezeption. Tom und Hannah warfen die Köpfe herum, Hannah machte schon unterbewusst einen Schritt in ihre Richtung. „Ich habe mit dem Personal der Intensivstation gesprochen. Frau Roth befindet sich auf der Normalstation, wenn Sie bitte im zweiten Stock nach rechts abbiegen würden, es ist Zimmer Nummer 6.“ Tom und Hannah tauschten einen verdatterten Blick, dann packte Tom schon ihr Handgelenk und zog sie mit sich. „Komm schon!“, rief er, und hörte Hannah hinter sich Geräusche machen die klangen, als würde sie abgehackt lachen und weinen, immer abwechselnd. „Aber … aber wie ...“, stammelte sie, während sie hinter Tom die Treppen hoch rannte, wobei Tom definitiv mehr Kondition hatte als sie und sie schon nach kurzer Zeit nichts anderes mehr tun konnte als zu keuchen. „Ich hab dir doch gesagt, dass du nicht gleich den Teufel an die Wand zu malen brauchst, du Idiot!“ Selbst völlig verdattert, und einfach nur erleichtert, hörte Tom sich lachen, seine Schwester necken. Sie konnte es noch immer nicht fassen. Heftig keuchend stolperten sie beide auf die Station, und Tom, der noch immer der einzige war, der klare Gedanken fassen konnte, zog Hannah zum richtigen Zimmer. „Jetzt geh da rein und frag sie endlich.“ Hannah starrte ihn an, noch immer verstand sie nicht ganz, was vor sich ging. „Aber, aber ...“ Tom hingegen klopfte an die Tür und öffnete sie, dann schob er Hannah einfach in den Raum. Sie blinzelte, sah sich um, das musste doch alles ein Irrtum sein, Pia konnte nicht hier sein, doch … doch, hier war sie, sie … sie war da, und als sie Hannah sah, da strahlte sie. „Pia!“, stieß diese aus und rannte auf sie zu, wobei sie fast über ihre eigenen Füße gestolpert wäre. „Du weinst.“ Pias Stimme war noch recht leise, aber sie hatte wieder Farbe im Gesicht, und wenigstens etwas weniger Kabel an sich. „Ich hab was im Auge“, schluchzte Hannah, ließ sich auf einen Stuhl neben ihr fallen und packte ihre Hand, vergrub ihren Kopf im Laken und lehnte sich an die Bettkante. Pia wuschelte ihr mit der anderen Hand durchs Haar. „Hey … hey … ist schon gut.“ Hannah hob den Kopf und sah sie an. „Gut? Ich dachte du stirbst! Niemand wusste wo du bist!“ Pia seufzte, legte ihr eine Hand an die Wange, und Hannah konnte nicht anders, als sich über sie zu beugen und ihr einen schnellen, aber sanften Kuss zu geben. Dann setzte sie sich wieder, und hielt einfach nur ihre Hand. Pia runzelte die Stirn. „Es tut mir Leid, dass du dir solche Sorgen um mich machst.“ „Es tut dir Leid? Wem von uns beiden wurde der Brustkorb aufgesägt? Es tut mir Leid für dich, dass du das mitmachen musstest, aber … aber das ist ja jetzt auch, oh Gott, ich ...“ Pia schien alarmiert. „Was?“ „Ich … oh Gott, ich … so was hab ich noch nie … was weiß ich denn wie sowas läuft?!“ Hannah seufzte, und es tat ihr Leid, dass sie Pia so verunsicherte, nur war sie selbst gerade so völlig neben der Spur, dass sie einfach … nicht wirklich anders konnte, aber sie musste fast, bevor sie ihre erschöpfte Freundin noch mehr verunsicherte. „Okay, ähm. Ich sag es dir nicht, ich zeig es dir.“ Mit hochrotem Kopf begann sie in ihrer Handtasche zu wühlen, bekam die irrationale Panik, dass sie die Schachtel vergessen hatte, und fand sie dann doch, genau dort, wo sie sie verstaut hatte. Tief atmete Hannah durch, klappte sie auf, und kippte den Inhalt in Pias Hand. Diese starrte auf ihre Handfläche, dann sah sie zu Hannah, und dann blickte sie wieder auf ihre Handfläche. Hannah konnte ihr nicht in die Augen sehen, sondern schaute auf die leere Schachtel hinab, die sie in ihren Händen drehte. „Du hast … drei Herzen eingravieren lassen?“ Wieso lachte Pia? Fast schon trotzig nuschelte sie: „Ich musste zwei Herzen bei nur einer Frau erobern, da kann man doch wohl mal stolz drauf sein?“ Pia kicherte mittlerweile leise, während sie den silbernen Ring zwischen den Fingern drehte. Hannah hielt es nicht mehr länger aus. „Was ist denn jetzt? Willst du mich heiraten oder nicht?“, platzte sie heraus. „Oh, verdammt, ich hätte mir das irgendwie immer romantischer vorgestellt ...“ Pia deutete auf die Schläuche um sich herum. „Romantisches Ambiente sieht so oder so anders aus.“ Sie lächelte verschmitzt. „Ich brauche keine Romantik. Ich brauche dich, und wenn du mich jetzt fragst, ob ich mein restliches Leben mir dir verbringen will, dann ja! Ja, ich will!“ Hannah nahm den Ring von Pias Handfläche, drehte die Hand behutsam um und schob ihr den Ring an den Finger. „Spar dir den Text für später auf, ja?“ Pia nahm ihre Hand und lächelte. „Später. Das klingt gut …“ Epilog: -------- Der feuchte Sand unter ihren Füßen war kühl. Die Spuren, die ihre langsamen Schritte in dem lockeren Boden hinterließen, wurden von den Wellen wieder geglättet. Mit sanftem Rauschen krochen sie an den Strand, brachten Muscheln und Schutt mit sich, und zogen sich wieder zurück. Wind trug die salzige Luft heran und wirbelte ihr Strähnen ins Gesicht, die sie sich hinter die Ohren strich, während sie den Blick zum Himmel gerichtet hatte. Es war frisch, trotz der Morgensonne, die gerade hinter den grauen Wolkenbergen hervor blinzelte. Pia blieb stehen und schloss die Augen, streckte das Gesicht dem warmen Licht entgegen. Ihr Herz schlug in einem kräftigen, steten Rhythmus. Sie konnte es spüren, lauschte ihm, und schätzte es, war sich ihm mehr bewusst, als die meisten anderen Menschen. Und sie behütete es, wie die Kostbarkeit, die es war. Ein Spenderherz zu bekommen, wenn man es nötig hatte – nein, überhaupt ein Spenderorgan rechtzeitig zu bekommen - war keine Selbstverständlichkeit. Umso mehr dankte sie jenem Menschen, der in seinem Tod an sie gedacht hatte. Seine Zeit war abgelaufen gewesen, aber irgendwann im Laufe seines Lebens hatte er sich dafür entschieden, dass er an diesem Punkt jemand anderem Zeit schenken wollte. Ein zweites Leben. Mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen setzte sie sich wieder in Bewegung, und begrüßte den neuen Tag, still und für sich. Am Himmel über ihr segelten Möwen den Wolken entgegen, und riefen sich gegenseitig zu, und irgendwo in weiter Ferne läutete eine Glocke. Die leisen Schläge begleiteten Pia, als sie den Strand verließ und durch ein paar schlafende Gassen streifte. Irgendwann war es ihr genug der Ruhe, und als sie das Ferienhäuschen mit dem grünen Zaun am anderen Ende der Straße sah, packte sie der Schelm. Mit ausgebreiteten Armen rannte sie lachend bis zur Tür, stieß sie schwungvoll auf und stolperte in den Flur. Der Geruch von warmem Toast und frisch aufgebrühtem Kaffee, der ihr entgegen schlug, wurde begleitet von einem Geruch, als hätte Hannah die Vorhänge in der kleinen Küche angezündet. „Hast du versucht zu kochen, Liebling?“, rief Pia übermütig, während sie sich den Sand von den Füßen rubbelte. „Wenn du an keiner Rauchvergiftung sterben willst solltest du mir vielleicht helfen, statt dich kaputt zu lachen!“, murrte Hannah halb verzweifelt, halb belustigt aus der Küche zurück. Pia tappte zu ihr in und schüttelte lachend den Kopf. „Oh, Hannah. Du bist eine miserable Köchin.“ „Erzähl mir was Neues.“ Pia riss die Fenster auf, schnappte den Kochlöffel aus Hannahs Händen und schüttete das völlig angebrannte Omelett erst einmal in den Mülleimer, weichte die Pfanne ein, und begann eine schnelle Gemüsepfanne als Alternative zu machen, schnippelte rasch ein paar Möhren und Zwiebeln, dazu noch frische Tomaten. Während das Gemüse langsam anbriet, fiel Pia auf, dass Hannah sie die ganze Zeit von der Seite aus betrachtete. „Was ist? Hab ich was im Gesicht?“ „Nein, du ...“ Hannah stieß sich von der Wand ab, an der sie gelehnt hatte, trat auf sie zu und nahm Pias Gesicht in beide Hände. „Ich bin einfach nur froh, dass ich das hier mit dir erleben darf. Ich bin einfach nur froh, dich so zu sehen.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihr einen langen Kuss. Noch immer den Kochlöffel in der einen Hand, schmiegte sich Pia an sie, die Augen geschlossen. Sie spürte ihr Herz in ihrer Brust tanzen, und hatte das Gefühl, es würde reines Glück durch ihre Adern pumpen. Als sie sich voneinander lösten, lächelten sie sich einfach nur an, dann fiel Pias Blick auf die Pfanne. „Verdammt! Das ist alles dein schlechter Einfluss!“ Hannah zuckte nur mit den Achseln, drehte den Herd ab und versenkte auch diesen Topf in der Spüle. Dann nahm sie einen Teller mit erkalteten Toastscheiben, griff nach Pias Hand und zog sie mit sich zur Haustür. „Dann machen wir eben ein Strandpicknick.“ „Klar. Mit kaltem Toast.“ „Mit kaltem Toast! Wir haben auf unsere Verlobung mit Leitungswasser angestoßen, schon vergessen? Erzähl mir nicht, dass du jetzt wählerisch wirst.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)