Alles wird sich ändern ... von abgemeldet ([Blumen vom Mond]) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Es war tiefster Winter; Die Bäume bogen sich unter der glitzernden Pracht, hohe Schneeberge verdeckten Weiden, Wiesen und Hügel. Soweit das Auge reichte, war nur weisser Glanz zu erkennen. Ein wunderbares Schauspiel, doch die Schönheit war trügerisch. Kälte, Hunger, Armut, Dunkelheit und ganz am Ende Tod für viele, für die Armen. Das Mädchen, dass jedoch in die verschneiten Weiten hinausblickte wusste nichts von alledem, sie war nicht in der Situation, in der man sich um so etwas Sorgen machte. In ihrer Position konnte sie den Anblick ganz einfach geniessen. Sie hatte einen dicken Pelzmantel um sich gehüllt und so konnte ihr nicht einmal die Eiseskälte etwas anhaben. Ihre Augen glitzerten belustigt, als sie ihrem Gegenüber zurief: "Komm nur! Du wirst doch nichts gegen mich ausrichten! Ich bin stärker! Das Gute siegt immer über das Böse!" Der Angesprochene, ein junger Mann, viel mehr ein Knabe, grinste und rief: "Das wird es! Und bei allen Mächten: Wenn hier jemand gut ist, dann bin ich es, Soldat des Zaibacher Reiches!" "Niemals! Ihr wollt ganz Gaia ins Chaos stürzen! Aber ich, ich werde das nicht zulassen! Ich werde meine Heimat verteidigen, und wenn es mich das Leben kostet!" "Dein Leben? Ich kann es dir gerne abnehmen!" "Komm doch her und versuche es! Du wirst nichts finden als deinen eigenen Tod!" Der Junge zuckte gleichgültig mit den Schultern und zog sein Schwert aus der Scheide. "Genug der Worte! Kämpfe und hör auf, grosse Töne zu spucken!" "Ganz wie du willst!" Das Mädchen zog ebenfalls ein Schwert. "Ich werde dich dem Erdboden gleich machen." Beide schwiegen und ihre Blicke kreuzten sich. Eine Weile lag bedrückende Stille über dem Schauplatz. Dann, nach einigen Augenblicken, stiess das Mädchen einen Schrei aus und stürzte nach vorn, das Schwert bereit, um es dem Gegenüber in den Leib zu rammen. Der Junge parierte den Hieb jedoch mühelos; mit einem eleganten Satz sprang er zur Seite und griff nun seinerseits an. Er schlug mit dem Schwert gezielt auf das Mädchen ein, das seinerseits die Schläge mit ihrer eigenen Waffe abblockte, jedoch immer weiter zurückgedrängt wurde. Plötzlich stolperte sie über einen Stein, für einen Augenblick vernachlässigte sie ihre Deckung. Doch der Junge nutzte die Gelegenheit nicht rasch genug und sie konnte sich mit einem schnellen Wegrollen retten, bevor das Schwert niederschmetterte. Sie rannte ein paar Sätze nach hinten, um von neuem anzugreifen. Er wich diesmal nicht aus, sondern stemmte sich ihrer Waffe entgegen. Eine Weile rangen sie beide stumm und verbissen. - Dann - "Merit!" Die schrille Stimme durchbrach die Winterstille. Der Junge und das Mädchen stockten. "Petronilla", flüsterte das Mädchen. "Verschwinde schon!" "Kommst du morgen?" "Ich weiss nicht! Geh schon!" Sie warf ihm ihr Schwert zu, das er geschickt auffing. Dann drehte er sich um und lief schnell wie ein Wiesel davon. Es dauerte nicht lange, da sah man ihn nicht mehr in der weissen Ebene. Das Mädchen atmete auf und richtete ihren Mantel. Sie stopfte die wirren schwarzen Haare unter die Kapuze, so gut es ging und wartete. Bald darauf erschien ein schwer schnaufendes Tier - so wirkte es jedenfalls - auf einer Schneewehe. Als es näher kam, erkannte man eine Frau, doch es sei gesagt, dass ihr gewaltiger Kiefer ihrem Profil etwas Pferdeähnliches verlieh und bei ihrer mehr als stattlichen Figur konnte den Betrachter leicht die Vorstellung eines Nilpferdes überkommen. Sie atmete schwer und stützte sich mit den Armen an den Knien ab. "Merit!", keifte sie mit einer unnatürlich hohen Stimme. "Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dich nicht aus dem Schloss schleichen sollst? Was dir hier draussen alles zustossen könnte! Nicht auszudenken! Was denkst du, wer dafür bestraft wird? Ich! Verwöhnte Königskinder nicht, nur ich!" Sie jammerte noch ein paar unzusammenhängende Worte von bösen Kindern und gebeutelten Kinderfrauen, doch Merit, das Mädchen hatte kein offenes Ohr dafür. Da plötzlich stockte Petronilla und blickte Merit an. "Hast du dazu etwa nichts zu sagen?" "Es tut mir sehr leid, Lady Petronilla." "Das soll es auch!" "Ja ..." "Dann komm jetzt zurück zum Palast. Wie du nur wieder aussiehst! Denkst du nie daran?" "Selten." Petronilla sagte nichts mehr und zog Merit resolut an der Hand mit sich. Der Palast war nicht weit, man brauchte nur über die Hügelkuppe zu klettern. Eben dies machte Petronilla sichtlich Mühe, was Merit diebisch freute. Endlich erreichten sie den Palast, besser gesagt, die Gartentür, durch die Merit den Palast auch verliess auf ihren Streifzügen. Es war nur ein niedriges Gatter. Petronilla stiess es auf und zog Merit hinter sich her. Sie schimpfte ununterbrochen, während sie das Mädchen mitzog und durch den Garten stapfte. Im Sommer blühten in diesem Garten Wassersträuche, doch jetzt waren die halbkugeligen, lilafarbenen Blütendolden natürlich nicht zu sehen; die Pflanzen waren schneebedeckt. Merit gefielen die Blumen nicht, doch ihr Vater wollte, dass sie angepflanzt wurden. Wieso, das wusste niemand. Die Sorte kannte auch niemand. Sie kam von weit her, ihr Vater hatte sie von irgendwoher, doch wo genau, das sagte er nicht. Er redete sowieso nicht viel mit seiner Tochter. Merit war das eigentlich auch egal. Denn so hatte sie ihre Freiheit, jedenfalls soweit, dass sie sich manchmal hinausschleichen konnte, um dem öden Palastleben zu entkommen. Sie hatten den Garten durchquert und gelangten zu einer kleinen Nebentür. Sie führte in den Trakt des Palastes, in dem die Königsfamilie lebte. Petronilla zog Merit ungnädig weiter und diese musste beinahe rennen, um mitzukommen. Erst vor dem Eingang zu Merits Gemächern machte sie halt. Die Wache davor blickte starr geradeaus, die Hand am Schwert an der Seite. Merit fragte sich wieder einmal, ob es den Männern nie langweilig wurde, den ganzen Tag so dazustehen, nur um ein kleines Mädchen zu bewachen, das sich mit grosser Wahrscheinlichkeit gar nicht in dem Zimmer befand. Doch wie immer fand sie weder Zeit, lange darüber nachzudenken, geschweige denn, den Mann zu fragen. Petronilla riss die Tür auf und Merit trat ein. Petronilla folgte ihr und zog die Tür hinter sich zu. Merit blieb stehen und wartete auf Petronillas Predigt. Diese liess nicht auf sich warten. "Du bist die Prinzessin! Was soll dein Vater von dir halten? Ich will gar nicht wissen, was du da draussen tust, denn von nun an wirst du den Palast nie mehr ohne Erlaubnis verlassen. Kind, da draussen herrscht Krieg! Die Welt ist schlecht! Wenn ich nur schon daran denke, was dir hätte zustossen können!" Petronilla schnaufte heftig und zog ein kleines, besticktes Taschentuch hervor, mit dem sie sich über Stirn und Hals tupfte. "Diesmal ist es nicht mit einer Entschuldigung und einem Versprechen, es nie wieder zu tun, getan! O nein, junge Dame, ich kann auch anders. Ich werde bei deinem Vater vorsprechen. Heute war nicht das erste Mal, das weisst du. Schon sage und schreibe vier Mal -" Petronilla fuchtelte mit vier ausgestreckten Fingern vor Merit Nase herum. "- vier Mal bist du davongeschlichen! Dein Vater wird dich bestrafen, da bin ich mir sicher!" Sie machte eine Pause und blickte Merit böse an. Merit setzte einen bekümmerten und betretenen Gesichtsausdruck auf. "Aber nein, ich bitte euch inständig, Dame Petronilla! Ich bitte euch, sprecht nicht mit meinem Vater! Er würde wütend werden und ausserdem will ich nicht, dass er sich Sorgen macht! Er hat doch so viel zu tun! Ich verspreche, mich zu bessern, wirklich! Nie wieder werde ich ungezogen und unartig sein, ganz sicher nicht! Ich werde brav sein und im Palast bleiben!" Im Stillen lächelte sie. Sie benutzte bewusst die selben Worte wie jedes Mal. Damit machte sie sich über Petronilla lustig, doch diese merkte es nicht einmal. Und wie jedes Mal antwortete sie darauf milde und verzeihend: "Nun ja, Kind. Wenn du es wirklich versprichst ..." Merit nickte bekräftigend. "Wenn du dich wirklich besserst ..." Merit nickte wieder heftig. "Gut. Aber ich will dich niemals wieder ausserhalb der sicheren Mauern erwischen." "Ja, Lady Petronilla. Ich danke euch aus tiefstem Herzen." Petronilla nickte. "Jetzt wasche dir deine Hände. Ich schicke dir eine Zofe und erwarte, dass du pünktlich zum Abendessen erscheinst." "Ja, Lady Petronilla." Petronilla rauschte aus dem Raum. Kapitel 1: Neuigkeiten, die eine Sehnsucht weckten -------------------------------------------------- Merits Haare waren zu einem langen Zopf geflochten und zu einem Kranz gewunden. Sie trug ein blaues Kleid mit einem hellgrauen, wollenen Überwurf. Sie rannte wie gehetzt durch die Gänge und stiess Diener und Hofdamen zur Seite. Natürlich war sie wieder einmal zu spät, denn die Knöpfe wollte nicht zugehen, die Haare nicht gekämmt werden, die Schleifen nicht gebunden werden, die Schuhe nicht passen. Aber das interessierte ja doch niemanden. Als sie endlich vor dem Eingang zum Speisesaal ankam, musste sie erst einmal Luft holen, bevor sie eintrat. Als sie den Raum betrat, sassen alle schon zu Tische. Ihr Vater runzelte nur kurz die Stirn, doch er beschäftigte sich nicht weiter damit. Sheritra setzte sich still auf ihren Platz, neben ihrem kleinen Bruder Calen. Wie immer fand Merit den Tisch viel zu gross für nur vier Personen, doch es musste sein. Er war etwas wie ein Statussymbol. Ihr Vater sagte nichts, trotz ihrer Verspätung. Wie so oft schien er sie gar nicht zu bemerken. Pella, ihre Mutter sagte natürlich auch nichts. Nie würde sie es wagen, etwas zu sagen, wenn sie nicht wusste, was ihr Mann dazu sagte. Auch wenn sie es sich nicht anmerken liess, verachtete Merit ihre Stiefmutter. Pella war ein schönes Mädchen, mit braunem, leicht gelocktem Haar, grünen Augen und einem rosigen Gesicht mit Stupsnase. Bauernschönheit, nannte Merit sie im Stillen und das war sie auch. Pella war die Tochter eines Bauern. Eines Vermögenden immerhin, doch trotzdem ein Bauer. Sie war nicht einmal viel älter als Merit und vor wenigen Jahren, dreieinhalb um genau zu sein, war sie als verschüchtertes, tollpatschiges Mädchen angekommen, das laut und vulgär redete und nicht die geringste Form von Anstand oder Bildung besass. Eine Bäuerin eben. Jetzt hatte sie dem König einen Sohn geboren, was Merit noch wütender machte, denn damit war sie dem völligen Vergessen preisgegeben und konnte auf nichts mehr hoffen, als darauf, mit irgendeinem Herzog verheiratet zu werden, um die politische Bindung zwischen dessen Ländereien und dem Reich ihres Vaters zu festigen. Ein Sohn galt vieles mehr als eine Tochter. Er würde König werden und der Erbe des Reiches von Fanelia, das ihr Vater aufgebaut hatte. Wenn das Reich dann überhaupt noch bestand, fügte Merit in Gedanken hinzu. Im Imperium herrschte immer Krieg, da die eroberten Länder sich nur ungern beherrschen liessen. Wer konnte schon sagen, ob ihnen in zwanzig Jahren nicht ein vernichtender Schlag gegen das Königreich gelungen war? Plötzlich trat ein Dienstbote ein. Er kniete vor dem König hin und hielt diesem demütig eine Pergamentrolle entgegen. Merits Vater wischte sich die Hände ab und griff danach. Der Diener zog sich zurück, während der König das Pergament auseinander rollte und es mit gerunzelter Stirn überflog. Dann liess er es abrupt los und das Blatt schnellte zurück. "Die Familie von Fassa wird uns besuchen. In etwa zwei Tagen wird die Handelsflotte ankommen." Mehr sagte er nicht. Auch vom Rest der Familie sagte niemand etwas. Wenn der König gesprochen hatte, war ein Thema abgeschlossen. Merit hätte gerne gewusst, wer genau denn die Familie Fassa war. Sie wusste, dass ihr Vater einmal gut mit ihnen befreundet gewesen war. Das war während des ersten grossen Krieges gewesen. Und vor dem Krieg, der jetzt herrschte. Damals hatten sich viele Verbündete von Fanelia abgewandt. Niemand wollte, dass etwas geschah, wie zur Zeit der Zaibacher. Und Fanelia, ein kleines Land wollte tatsächlich das Reich aufbauen, das die Zaibacher nicht zu errichten schafften. Und doch war es so. Merit konnte sich nicht erinnern, dass jemals kein Krieg herrschte. Auch die Angst war nicht wirklich da. Man lebte damit. Und Fanelia war mächtig. Längst mehr als ein kleines Provinzreich, beherrschte es einen grossen Teil ganz Gaias und die Eroberungen waren immens. Längst spottete niemand mehr. Die Familie Fassa ... Ob sie vermitteln wollten? Doch Merits Vater liess nicht mit sich reden. Merit selbst wusste, dass vom König, selbst in den eigenen Reihen wie von einem Verrückten gesprochen wurde. War er das wirklich? "Merit!" Merit schreckte auf. "Ja, Dame Petronilla?" Petronilla schüttelte den Kopf. "Du bist schon wieder abgelenkt! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dich gerade zu halten hast und dich nicht von der Arbeit hast ablenken zu lassen?" "Niemals mehr, Dame Petronilla." Petronilla verzog das Gesicht. "Das wäre zu schön!" Merit tat einige Stiche an ihrer Stickarbeit, bis Petronilla ihre strengen Augen von Merit ab- und wieder ihrer eigenen Arbeit zugewendet hatte. Sobald sie gewahr wurde, dass die Augen ihrer Kinderfrau nicht mehr auf ihr ruhten, legten sich ihre Hände wieder in den Schoss und hing ihren Gedanken nach. Seit einem Tag hätte diese geheimnisvolle Familie Fassa hier sein sollen, doch weder waren Reiter gesichtet worden, noch hatte jemand ein Flugschiff am Horizont entdeckt. Es war nicht ungewöhnlich, es war tiefer Winter und vielerorts mochten Schneestürme wüten, doch Merit hoffte auf Abwechslung. Es war trist und eintönig den ganzen Tag im Schloss, doch Petronilla beschäftigte Merit pausenlos mit langweiligen Arbeiten, so dass sie nicht einmal die Gelegenheit hatte, sich zwischendurch davonzuschleichen. "Merit!" Petronillas Stimme klang schrill. Merit blickte auf. "Dame Petronilla ... Darf ich eine Frage stellen?" Petronilla schaute überrascht drein. "Stelle sie." "Wer ist die Familie Fassa?" Einen ewigen Augenblick lang schwieg Petronilla. Dann, langsam, wie gewohnt, legte sie die Stickerei weg. "Die Familie Fassa ..." Sie zog das Wort in die Länge. "Die Familie Fassa." "Die Familie Fassa?!", drängte Merit. "Die Fassas stammen aus einem sehr wohlhabenden Kaufmannsgeschlecht", erklärte Petronilla knapp. "Mehr nicht." Doch sie hatte zu lange mit der Antwort gezögert, als dass Merit ihr Glauben schenken mochte. Doch bevor sie eine Frage stellen konnte, schnitt Petronilla ihr das Wort ab, das ihr erst auf der Zunge gelegen hatte. "Und nun mache weiter! Es ziemt sich nicht, neugierig zu sein!" Was ziemt sich schon!, dachte Merit bei sich. Sich nichts denken und tun, als merke man nicht, dass einem die Welt weggeschlossen wird? Verbittert steckte sie die Nadel in das weiche Seidentuch, zog sie wieder raus, steckte sie wieder hinein - und stach sich. Wütend steckte sie den Finger in den Mund. Das Blut war warm und schmeckte salzig. Wie mochte das Blut schmecken, das auf den Schlachtfeldern vergossen wurde? Kapitel 2: Ankunft von fremden Vertrauten ----------------------------------------- Als man gesagt hatte, die Familie Fassa reise in einem Luftschiff an, hatte sich Merit nichts gedacht, schon gar nicht, dass eine riesige Flotte den Horizont über den Schlossmauern verdunkeln würde. Nur eines der sieben Schiffe fand in dem riesigen Vorhof platz, auf dem die Königsfamilie wartete. Pellas Finger krallten sich in Merits Schulter, mit der anderen Hand hielt die Königin den kleinen Calen fest, der liebend gern zu dem riesigen Schiff hingelaufen wäre. Merit war nur einen halben Kopf kleiner als Pella und sie liess sich nur ungern festhalten, als sei sie ein kleines Kind. Doch sie wollte ihren Vater nicht verärgern und so fand sie sich damit ab. Sie war genauso aufgeregt wie ihr kleiner Bruder, als zwei grosse Füsse die Rampe herunter schritten. Zu den Füssen gehörte, wie sie erkennen konnte, ein grosser Mann, mit braunen Locken, durch die sich etliche graue Strähnen zogen und den leicht überlegen-ironischen Gesichtsausdruck eines erfahrenen Kaufmannes, der viel erlebt und viel gesehen hatte. Hinter ihm erkannte Merit noch andere Gestalten, doch sie konnte nichts erkennen, da der fremde Mann buchstäblich allen Platz einnahm; die anderen schienen in den Falten seines riesigen Mantels zu verschwinden. Als er den König erblickte riss er theatralisch die Arme hoch und rief freudig: "Mein alter Freund! Kennst du noch deinen Kampfgefährten?" Mit zwei, drei langen Schritten war er beim König und seiner Familie. Er fiel dem König, dem Herrscher über jedes Land im Umkreis von unzähligen Meilen, dem Kriegsherrn, vor dessen Namen sich jeder Fürst fürchtete, regelrecht um den Hals und Pella und die Kinder konnten gerade noch zurückweichen. Der König befreite sich schnell aus der Umklammerung, aber der kurze Augenblick hatte gereicht, um Merits Sichtweise drastisch zu verändern. Ist es nicht seltsam, dass es immer diese kleinen, scheinbar unwichtigen Augenblicke sind, die das Leben des Menschen so grundlegend zu verändern vermögen? Noch nie hatte Merit gesehen, dass ein Mensch ihren Vater auch nur berührt hatte. Es war unglaublich, mit anzusehen, dass jemand in der Lage war, ihren Vater so mir nichts dir nichts zu umarmen. Noch nie war Merit auf die Idee gekommen, dass so etwas möglich wäre. Selbst wenn dieser Gedanke jenseits jeglichen Verstandes war, es war einfach nie die Notwendigkeit da gewesen, darüber nachzudenken. Doch die Stimme ihres Vaters brach Merits Gedankenstrang ab. "Ich, König Taren von Fanelia und Herrscher über die umliegenden Provinzen und Gebiete heisse dich willkommen in Fanelia, Kaufmann Fassa." Fassa brach in unbändiges Lachen aus. "Taren? Taren?" Er schien es nicht fassen zu können. Er räusperte sich, als Taren keine Miene verzog. "Nun gut ... Taren." Er kicherte albern und Merit fragte sich, ob sie vor wirklich einem erwachsenen Mann stand. "Warum denn so förmlich?" Er liess dem König jedoch keine Zeit zum Antworten, sondern schlug ihm mit voller Wucht auf die Schultern, sodass Taren, Herrscher über Haus und Hof und noch vieles, vieles mehr, beinahe vornüber kippte. Taren de Fanel war kein besonders starker Mann, was Körperliches anging. Er war auch nicht gross; der grosse Kaufmann Fassa, mit seinem alles einnehmenden Wesen schien den ganzen Platz einzunehmen und den König von Fanelia und Eroberer so vieler Reiche klein und unbedeutend erscheinen. Fassa schien sich selbst bewusst, dass er die Autorität des Königs auf eine gewisse Weise untergrub und räusperte sich wieder. "Und das? Deine Frau, ja? Sie sieht ja aus wie ... wie ... aber lassen wir die alten Geschichten! Ich bin erfreut, eure Bekanntschaft machen zu dürfen." Fassa nahm galant Pellas Hand in die seine und gab ihr einen flüchtigen Handkuss. Pella errötete wie ein kleines Mädchen und Merit schämte sich für ihre Stiefmutter. Dann wanderte Fassas Blick weiter zu Merit und ihrem Bruder. "Und was für hübsche Kinder du hast! Das Mädchen ... Du bist doch nicht etwa die kleine Merit?" "Doch, die bin ich", antwortete Merit überrascht. Woher kannte er sie? Sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, dass dieser Mann schon einmal hier zu Gast gewesen sein konnte. Fassa strahlte sie an. "Meine Töchter sind in deinem Alter! Ach, ich erinnere mich daran, wie sich eure Mütter unterhalten haben -" Taren räusperte sich und Fassa brach ab. Merit hätte gern noch mehr erfahren, doch es schickte sich nicht. Merit blickte auf die fremden Gesichter. Nach wie vor schien ihr die Tafel zu gross, doch jetzt, da vier Personen dazu gekommen waren, kam sie sich nicht ganz so einsam vor. Die Frau Fassas machte einen seltsamen Eindruck; Merit vermochte sie in keiner Schublade einzuordnen. Sie war vom Leben gezeichnet und sah müde aus. Gleichzeitig jedoch schien etwas in ihr mehr als lebendig zu sein und Merit dachte sich, dass diese Frau früher eine Schönheit gewesen sein musste, wie ihre Töchter, die neben ihr sassen. Merit war seltsam unbeholfen und es war ihr unangenehm. Doch sie fühlte sich irgendwie hilflos und hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Sie hatte mit Kindern verkehrt, deren Väter oder Mütter im Palast dienten, doch noch nie war sie Gleichaltrigen begegnet, die dazu noch gleichrangig waren. Sie durfte den Gästen keine Befehle erteilen und diese brauchten keine Ehrfurcht vor ihr zu zeigen. Sie sahen sich unglaublich ähnlich, nur in der Haarfarbe waren sie verschieden. Den Kopf der einen zierten blonde Locken, die Haarpracht der Anderen war kastanienbraun. Wie hiessen sie? Aurélie und Aurore? Seltsame Namen. In der Frankensprache, die kein Mensch verstehen konnte und die nur sehr, sehr wenige Gelehrte sprachen. Doch vielerorts war es beim Landadel beliebt, Namen in dieser unaussprechbaren Sprache zu geben. Damit zeigt man, dass man etwas besseres war als das gemeine Volk, das auch prompt vor Ehrfurcht in die Knie ging. Jedenfalls, wenn die feinen Herrschaften mit ihren wundersamen Namen vorbeigingen. Doch Merit bezweifelte, dass sich ein Bauer darum mehr scherte, als um den Inhalt eines Abtrittes. Doch waren diese Menschen denn adlig? Gewiss, auch Reichtum brachte eine Art Adel ein, man konnte sich einen Titel kaufen, wenn man keine Braut aus adliger Familie fand. Kaufadel ... Angesichts des Verhaltens des Familienoberhauptes, des Kaufmanns konnte das doch gut möglich sein. Merit schreckte aus ihren Gedanken, als eine übermütige Kinderstimme rief: "Ducken!", Und unglaublich lachte, als Merit erschrocken auf ihren mit Sosse bespritzten Ärmel blickte. "Du kleines Biest!", zischte sie Calen zu. "Das wirst du bereuen!" Der Bruder schaute sie mit den grossen Unschuldsaugen an, so dass sie das Gefühl hatte, ein neugieriges Reh zu betrachten. Sie seufzte. Irgendwie konnte sie ihren Bruder nicht hassen. Irgendwie mochte sie ihn sogar ... Sie liebte ihn wie nichts auf der Welt. Calen grinste ein dämliches Kleinkindergrinsen und schob ihr seinen Teller hin. "Mehr!" Merit seufzte. "Du hast doch noch gar nicht aufgegessen! Ausserdem bin ich nicht deine Dienerin!" Sie nahm Calens Teller in die Hand, als sie einen Blick auf sich ruhen spürte. Sie wandte den Kopf zur Seite und blickte in die veilchenblauen Augen des braunhaarigen Mädchens. Sie war derart erschrocken, plötzlich in Aurélies Augen zu blicken, dass ihr der Teller aus den Fingern glitt und auf den Boden fiel. Erschrocken blickte sie auf die Sosse, die sich unaufhaltsam auf ihrem roten Überkleid verteilte und bis zu ihrem Unterrock durchdrang. Calen liess ein fröhliches Kreischen vernehmen und patschte die kleinen Wurstfingerchen aneinander. "Kaputt!", rief er glückselig. Merit biss sich auf die Lippen und traute sich nicht, aufzublicken. Alle Gespräche waren verstummt und die Blicke richteten sich auf Merit, die sich nicht traute, den Blick zu heben. Langsam erhob sie sich, den vollgesogenen Überrock zwischen den Fingern. "Entschuldigt", murmelte sie zerknirscht. Kapitel 3: Als mein Vater Mensch war ------------------------------------ Auch wenn sich überhaupt keiner dafür interessiert ... ich stell den nächsten Teil on -_______- Als sie durch die langen Gänge ging, hing sie ihren Gedanken nach. Was dachte wohl Aurore von This? Und vor allem, was dachte sie von Merit? Plötzlich blieb sie stehen. Sie war am Ende des Ganges angelangt, wo er sich in zwei gabelte. Der Linke führte in Richtung ihrer Gemächer und der Recht in Richtung Thronsaal. Instinktiv wollte sie den Linken wählen, doch die Stickerei, die immer noch in ihrem Zimmer lag, schien sie magisch abzustossen und sie wandte sich nach rechts. Eine Zeitlang ging sie den Gang entlang, bis sie plötzlich stehen blieb und horchte. Da waren Stimmen. Wütende Stimmen und sie kamen aus dem Raum hinter der Tür nebenan. Auf Zehenspitzen schlich sie sich zu der Türe und legte ein Ohr an das dunkel glänzende Holz. "... so ist es nun einmal!" "Hast du ein Recht, mir irgendetwas zu sagen? Du magst Geld haben und Reichtum, doch die Macht habe ich! Auch wenn du denkst, deine Güter könnten dir Macht geben, braucht es nur einen Wink von mir und deine Frau ist Witwe und deine Töchter Waisen!" "Willst du mir drohen?" "Ja, stell dir vor!" "Bist du ein kleiner Junge, der erst lernen muss, wie man sich zu benehmen hat?" "Nun, leider bist du nicht in der Position, mir Vorhaltungen zu machen! Nicht mehr. Niemand mehr!" "Du kannst niemals alle Stimmen zum Schweigen bringen." "Das muss ich auch nicht. Ich höre einfach nicht hin." "Nicht nur das. Du bist taub geworden." Es herrschte Schweigen und die Holzbretter knirschten unter schweren Schuhen, die sich auf die Tür zu bewegten. Merit hatte keine Zeit mehr, sich zu verstecken und konnte nur vor Schreck erstarren und sich an die Mauer pressen. Doch der Kaufmann war wohl zu aufgebracht, um sie zu bemerken, jedenfalls schritt er wütend in die andere Richtung. Merit blickte ihm gebannt nach, jede Sekunde das Gefühl, dass er sich gleich in ihre Richtung umdrehen würde, doch bald drehte er um eine Ecke, ohne sich noch einmal umzusehen. Merit fiel ein Stein vom Herzen und sie atmete hörbar aus. Erschöpft liess sie sich an der Mauer heruntergleiten. Es war die Stimme ihres Vaters gewesen. Worüber mochten sie gesprochen haben? Doch sie mussten sich von früher kennen, der Kaufmann hatte so respektlos gesprochen. Jeden Anderen hätte es Kopf und Kragen gekostet. Was gab es in der Vergangenheit ihres Vaters, was ihr verheimlicht wurde? All die Leute in den vierzehn Jahren, binnen derer sie schon auf Gaia wandelte, die Sätze begonnen hatten und abrupt abbrachen unter dem strengen Blick ihres Vaters ... Was, ja, was hatten sie sagen wollen? Was durfte Merit nicht wissen? Sie musste beinahe lachen. Sie wusste selbst nicht, wieviel es war, doch es musste viel sein. Nicht umsonst sagte man im Volksmund, dass die einfachen Leute meist mehr über das Leben in den feinen Häusern wussten, als die feinen Leute selbst. Konnte sie denn niemanden fragen? Doch, es gab schon jemanden ... aber ... Als sie die Tür öffnete, erblickte sie das erwartete Bild. Die Stickarbeit lag immer noch an dem Platz, wo sie sie hingeworfen hatte, doch in der Mitte des Zimmers hatte sich eine wutschnaubende Petronilla aufgebaut, die aussah, als stünde sie dort schon den ganzen Tag. Merit setzte eine unschuldige Miene auf und lächelte naiv: "Dame Petronilla! Was tut ihr denn hier? Ich war nur ganz kurz draussen auf dem Abtritt-" "Es ist mir egal, was auch immer du mir für eine Ausrede andrehen willst!", keifte Petronilla. "Ich dulde diesen Ungehorsam nicht mehr länger!" Merit senkte den Kopf. "Es tut mir wirklich schrecklich leid, dass ich mich nicht im Raum befunden habe, als ihr hereinkamt! Doch ich sass den ganzen Tag an der Stickarbeit! Aber es ist eine sehr schwierige Aufgabe. Ich bin nun einmal nicht so begabt wie ihr." Merit verstummte und setzte einen zutiefst betrübten Gesichtsausdruck auf. "Oh, natürlich! Und wie! Ich glaube dir kein Wort, du undankbares Kind! Ich habe mich für dich aufgeopfert, wollte eine Dame aus dir machen! Aber du bist ein unerzogenes Balg, das keinen Anstand hat! Am liebsten würdest du dich mit den Schweinen im Schlamm suhlen und mit dem Ziegenjungen ins Heu gehen!" Merit zuckte zusammen. Petronilla war noch nie so wütend gewesen. Und sie hatte noch nie solche Worte ausgespuckt. So verachtende Worte. Petronilla bemerkte wohl ihr Erschrecken und fuhr fort: "Ja, ich weiss von diesem Ziegenjungen! Wenn das dein Vater wüsste! Er würde mich hinrichten lassen! Die Prinzessin hat vielleicht ihre Unschuld an diesen Schweinehüter verloren! Es ist schrecklich!" "Aber niemals! Er ist kein Schweinehüter oder Ziegenjunge! Sein Vater kämpft in der Armee meines Vaters und ist ein rechtschaffener Bürger! Und This ist ... ist ... er ist ein Freund! Er würde nie etwas tun, dessen ich mich schämen müsste!" War This überhaupt noch ihr Freund? Sie hatte ihn geschlagen und war weggelaufen. Und vielleicht, ja, vielleicht konnte sie ja niemals mehr mit ihm reden. Wer wusste schon, was Petronilla ihrem Vater erzählte? Aber sie beruhigte sich. Petronilla hatte ihre Drohungen nie wahr gemacht. Weshalb sollte sie es jetzt tun? Aber doch ... Sie war noch nie so aufgebracht gewesen. Petronilla schüttelte wild den Kopf. "Wir gehen jetzt zu deinem Vater! Er muss erfahren, wie du dich benimmst!" Merit räusperte sich. "Aber nein, ich bitte euch inständig, Dame Petronilla! Ich bitte euch, sprecht nicht mit meinem Vater! Er würde wütend werden und ausserdem will ich nicht, dass er sich Sorgen macht! Er hat doch so viel zu tun! Ich verspreche, mich zu bessern, wirklich! Nie wieder werde ich ungezogen und unartig sein, ganz sicher nicht! Ich werde brav sein und die Arbeit erledigen, die ihr mir auftragt!" Eine Weile blieb Petronilla wie angewurzelt stehen und starrte Merit an. Dann plötzlich, es dauerte nur einen Bruchteil einer Sekunde und Merit merkte es gar nicht, bis es wieder vorbei war, hob sie die Hand und schlug Merit ins Gesicht. Wie erstarrt blieb Merit stehen. Langsam fasste sie sich an die Wange, die zu glühen schien. Es fühlte sich an, als sei ein Brandmal zurückgeblieben. Sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, doch sie schluckte sie hinunter, als Petronilla wieder zum Sprechen ansetzte. "Du kannst mich nicht ewig mit den gleichen Worten zum Narren halten. Du warst ein kleiner Säugling, als ich dich zum ersten Mal in den Händen hielt. Damals gelobte ich, dich zu erziehen und zu einem ehrbaren Menschen zu machen. Ich dachte immer, ich hätte versagt, doch ich denke, dein Charakter ist durch und durch böse. Es liegt nicht an mir. Dein Herz ist vergiftet von diesen ganzen Generationen vor dir." Petronillas Gesichtsausdruck war so hart und unnachgiebig, wie es Merit noch nie gesehen hatte. Sie fühlte sich überschwemmt von vielen Empfindungen. Petronilla verachtete sie. Vor ihr gab es vergiftende Generationen. Sie hatte einen bösen Charakter. Petronilla hatte sie als Säugling in den Händen gehalten. Nicht sie hatte Petronilla an der Nase herumgeführt. All die Jahre hatte Petronilla sie an der Nase herum geführt. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Wie beschämend. Die Wange brannte immer noch. Petronilla fasste sie hart am Arm. "Komm", sagte sie nur und Merit liess sich wohl oder übel mitziehen. Kapitel 4: ----------- Erst einmal danke für die Kommis^^ es tut mir leid, dass die Kapitel so kurz sind ... das ist von der Story so. Aber die Kapitel sind nicht gleichmässig lang und es gibt längere und kürzere^^ Hab die FF jetzt umbenannt ^.~ hoffe, ihr findet sie noch^^ Ich war nämlich mit dem anderen Titel nicht recht zufrieden ... Ich wollte das Ding endlich on haben und dann nahm ich einfach irgendwas ... obwohl die Blumen vom Mond auch noch ne Rolle spielen werden! Sie traute sich nicht, aufzublicken. Sie wusste nicht, was das Gesicht ihres Vaters für einen Ausdruck trug; sie hatte ihn noch nie eine Gefühlsregung zeigen sehen. Gerade das machte ihr Angst. Sie hörte nur undeutlich, wie Petronilla sprach. "... Dann dachte ich, Eure Majestät sollte davon in Kenntnis gesetzt werden." Eine Weile herrschte Schweigen und Merit hob vorsichtig den Kopf. Ihr Vater schien nachzudenken. Dann plötzlich umspielte ein Lächeln seine Lippen. "Und nur deshalb seid ihr zu mir gekommen?", fragte er gleichgültig. "Aber -" Petronilla stockte. "Ja, Majestät. Ich wollte euch nicht belästigen." Taren machte eine wegwerfende Handbewegung. "Quält euch nicht deswegen, Petronilla. Aber bitte, belästigt mich nicht weiter damit. Ich habe zu tun." Damit war das Gespräch beendet. Merit war kalt. Petronilla fasste sie an der Schulter und zog sie zurück. Merit folgte beinahe willenlos. Sie zuckte zusammen, als die schwere Tür des Thronsaales hinter ihr zuschlug. Sie blickte zu Petronillas Gesicht auf, die starr geradeaus blickte, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Merit lief schneller, um mit ihr Schritt zu halten. Sie war traurig. Sie müsste froh sein ... Sie hatte eine schreckliche Strafe erwartet. Doch so war es besser. Sie hatte das Gefühl, dass alles besser gewesen wäre, als diese Gleichgültigkeit und dieses kalte Lächeln. Wenn ihr Vater sie wenigstens hassen würde. Doch sie wollte ihm nicht egal sein. "Dame Petronilla?" "Ja?", fragte Petronilla, ohne anzuhalten. "Warum bedeute ich meinem Vater nichts?" Petronilla blickte zu ihr herunter. "Wer sagt das?" Merit zuckte mit den Schultern. "Wer war meine Mutter?", fragte sie stattdessen. "Weshalb willst du das wissen?" Sie hatten Merits Gemächer erreicht. Petronilla stiess die Tür auf und zog Merit hinein. "Und woher kennt mein Vater den Kaufmann?" "Wieso?" Merit biss sich auf die Lippen. "Warum -" rief sie wütend, "Warum darf ich nichts wissen? Warum hält man alles vor mir geheim?" Petronilla setzte sich in einen Sessel und seufzte erleichtert auf. "Wenn du älter bist, erfährst du es schon noch." Merit wandte den Kopf ab. "Weshalb sollte ich das glauben?" "Weil ich es sage!" Merit traute sich nicht, noch etwas zu erwidern. "Und woher kam meine Mutter?" "Ich weiss es nicht." "Ihr wisst es nicht?" "Nein." "Weshalb nicht?" "Niemand weiss es." "Auch mein Vater nicht?" "Das weiss ich nicht. Er hat es jedenfalls niemandem gesagt." Eine Weile schwieg Merit. Dann hob sie den Kopf. "Haben sie ... Aus Liebe geheiratet?" Petronilla lächelte nachsichtig. "Ich weiss nicht, was für dich als Liebe gilt. Doch ich denke es schon. Aber nur dein Vater könnte es dir sagen." Merit wollte noch etwas erwidern, doch Petronilla erhob sich. "Du hast zu tun. Und wenn du diesmal deine Arbeit noch einmal nicht erledigst, werde ich dich bestrafen, ob mit oder ohne die Einwilligung deines Vaters." Sie stand auf und verliess schnell den Raum. Wollte sie nicht weiter reden? Weshalb? Was war das für ein Geheimnis? Merit wollte es wissen, doch wie konnte sie es herausfinden? Seufzend nahm sie ihre Stickarbeit wieder zu Hand. Es klopfte und sogleich öffnete sich die Tür und Aurore trat herein. Langsam schloss sie die Tür hinter sich und lächelte zögernd. Merit erhob sich rasch und stiess dabei das kleine, dreibeinige Holztischchen um, das vor dem Sessel stand. Verlegen stellte sie es wieder auf. Aurore bewegte sich nicht und faltete die Hände. "Hallo", sagte Merit leise. "Hallo", antwortete Aurore. "Ich wollte mich entschuldigen dafür, dass ich so einfach weggegangen bin." "O nein, ich muss mich entschuldigen!" Aurore blickte sie verdutzt an. "Aber wofür denn?" Merit hob die Schultern. "Nur so ..." Aurore lachte. "Du bist mir nicht böse?" "Nein, natürlich nicht!" Aurore setzte sich auf Merits Bett. "Kann ich ein bisschen bleiben?" "Sicher." Eine Weile sagte niemand etwas. Merit schielte zu ihrer Stickarbeit, doch sie rührte sie nicht an. "Weisst du ...", begann dann Aurore plötzlich, doch sie brach ab. "Was denn?", fragte Merit. Aurore blickte zur Decke. "Ich mag es nicht, wenn man schlecht über meine Familie redet. Es ist ziemlich oft so. Kaufleute sind überall fremd ... Und über die Fremden redet der Pöbel." "Aber doch nicht alle!", widersprach Merit, doch Aurore lächelte nur nachsichtig. "Wirklich nicht? Ich bin sicher, dein kleiner Freund ist kein schlechter Mensch. Aber wenn jemand etwas sagt, dann sagen es alle." Merit biss sich auf den Lippen herum. Irgendwie stimmte es ja. "Aber du weisst ja gar nicht, was sie sagen!", machte sie einen letzten Versuch. "Ich kann es mir vorstellen", erwiderte Aurore düster. "Dass wir aus Asturia kommen. Und vor Asturia fürchten sie sich alle. Heute", fügte sie hinzu. Merit horchte auf. "Wie war es denn früher?" "Früher?", fragte Aurore langsam. "Weisst du es denn nicht?" Fast, ohne es zu merken, setzte Merit sich neben Aurore auf die Bettkante. "Nein. Es ist überhaupt seltsam. Mir sagt man beinahe nichts." Aurore grinste. "Du bist eine Prinzessin. Prinzessinnen sagt man nie etwas." Von dieser Seite hatte es Merit noch nie betrachtet. Vielleicht war sie ja gar nicht so besonders? Vielleicht gab es viele, die nicht wussten, was auf der Welt vorging? "Vor einigen Jahren", riss Aurore Merit aus ihren Gedanken. "Da waren Fanelia und Asturia Verbündete. Es gab einen grossen Bund, der nach dem schrecklichen Weltkrieg gegründet waren. Nachdem Zaibach gefallen war." Merit nickte. "Das weiss ich. Aber ... Dann ..." "Es gab Streit. Genau weiss ich es nicht. Doch es gab Streit zwischen Asturia und Fanelia. Er war nicht politischer Natur, sagt mein Vater, doch er herrschte zwischen den Leuten, die die Macht besassen ... Die Königshäuser kriegten sich in die Haare ..." "... Und Fanelia erklärte die Verträge für nichtig ...", flüsterte Merit. "... Und all das Chaos und der Krieg begannen von neuem. Heute ist dein Vater der Herrscher über viele Länder. Fanelia war ein kleiner Stadtstaat, der von vielen belächelt wurde, doch dein Vater hat ihm Ruhm eingebracht. Wenn auch keine Ehre." Aurores Stimme war hart. Doch Merit konnte ihren Worten nichts entgegensetzen. Sie waren wahr. Wenn sich hier im Palast noch niemand getraut hatte, so offen zu sprechen. Ihr Vater war wahnsinnig, so sanft und gleichgültig sein Lächeln auch war. Beinahe musste sie mit den Tränen kämpfen. Sie blinzelte zweimal. "Und was ist mit ... Euch?" "Uns?", fragte Aurore verständnislos. "Deiner Familie." "Ach ..." Aurore verschränkte die Arme hinter dem Kopf und liess sich auf das Bett hinunter fallen. "Meinem Vater haben die Streitereien nicht gepasst. Die Verbindungen zum Hof von Asturia sind heute so gut wie abgebrochen. Kaufleute haben Anspruch auf Neutralität." Sie schwieg eine Weile und sagte dann: "Ich kann mich nicht mehr an meine Heimat erinnern. Ich war noch zu klein, als ... Alles kaputt ging. Aber es muss ein schönes Land sein." Merit blickte zu Aurore hinunter, die mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Es war seltsam. Wenn ein Asturianer nach Fanelia kam, ging es ihm schlecht. Doch Kaufleute bekamen überall Einlass. Merit spürte, wie sie von so einem Leben zu träumen begann. "Was denkst du?", fragte da Aurore. "Ich denke ...", antwortete Merit wahrheitsgemäss. "Ich denke, wie wunderbar es wäre, ein Leben wie du zu führen." Aurore öffnete die Augen und blickte sie schräg an. "Wirklich? Es ist nicht wirklich beneidenswert ... Du weisst nie, wohin du jetzt gehörst. Das ist manchmal nicht sehr angenehm." "Ich gehöre lieber nirgendwo hin, als hierhin." Merit blickte sich im Zimmer um. "Alles ist so eng. Ich werde nie etwas von der Welt sehen. Ich bin schon vierzehn Jahre alt. Ich werde sehr bald mit irgend einem Provinzgrafen oder sonst wem verheiratet werden. Dann werde ich von diesen Mauern hinter andere kommen und den Rest meines Lebens Kinder gebären, bis ich daran sterbe. Und ich werde nie ... Ich werde nie wissen, wie es ist, selber über sein Leben zu bestimmen." Es herrschte Schweigen. Dann lächelte Merit scheu. "Du geniesst sicher mehr Freiheiten, oder?" Aurore schien zu überlegen. "Vielleicht", sagte sie irgendwann zögernd. "In gewisser Hinsicht. Aber so, wie die Welt nun einmal ist, ist eine Frau eine Frau und hat den Pflichten einer Frau nachzugehen. Es macht nicht wirklich einen Unterschied, ob ich in einem Schloss oder einem Luftschiff lebe." "Schade." "Was denn?" "Ich habe mir irgendwie gewünscht, dass es anders wäre ... Dann hätte ich von einem Leben, wie du es führst träumen können. Aber es gibt wohl nirgends einen Ort, wo es anders ist." Aurore setzte sich jetzt auf. "Doch, natürlich gibt es den." "Du brauchst dich nicht über mich lustig zu machen!" Aurore lächelte. "Das tue ich nicht. Es gibt solche Orte. Überall. Aber dort ist es nicht besser, glaube mir. Man kann sich den vorherrschenden Gesetzen entgegenstellen, aber dann darf man nicht erwarten, dass man noch im Einklang mit diesen Gesetzen leben kann. Solche Orte können nicht zum Gaia gehören, dass wir kennen. Sie sind von der Welt abgeschnitten." Traurig senkte Merit den Kopf. "Vielleicht ist es besser, nicht immer zu bekommen, was man will, damit man nicht enttäuscht wird?" Sie sprach es als Frage. Und Aurore antwortete: "Sicher. Ich glaube es jedenfalls." "Warst du schon einmal an einem solchen Ort?" Aurore grinste. "Vielleicht ...? Wahrscheinlich würden wir Menschen es gar nicht merken, wenn sich etwas ändert. Wir sind viel zu schwerfällig." Merit lachte leise, obwohl sie den Witz nicht wirklich verstehen konnte. "Oder", sagte Aurore, "Oder man hält es nicht aus. Weisst du, wenn man immer in Enge gelebt hat, muss man sich ziemlich verloren fühlen, wenn man plötzlich die Weite der Welt gerät." "Vielleicht hast du Recht." "Ich habe sicher Recht." Dazu sagte Merit nichts. Stattdessen fragte sie: "Willst du eigentlich so leben? So, wie du jetzt lebst." Aurore seufzte. "Du bist seltsam, Merit! Ich weiss es nicht und ich mache mir auch keine Gedanken darüber. Ich lebe nun einmal, wie ich lebe und es gibt keinen Grund, sich selbst zu bemitleiden. Damit ändert man nichts." "Und wenn man sonst auch keine Möglichkeit hat, etwas zu ändern?" "Man hat immer die Möglichkeit, etwas zu ändern", antwortete Aurore stur. War das so? Konnte Merit etwas ändern an dem Leben, das sie hatte? "Vielleicht siehst du im Moment auch keine Möglichkeit, etwas zu ändern", fuhr Aurore fort, als hätte sie Merits Gedanken gelesen. "Aber dann hilft es genauso wenig, wenn du nur daran denkst, wie schlecht es dir doch geht, nicht?" Sie sagten wieder eine Weile nichts. Jemand lief draussen auf dem Gang vorbei. Irgendwo draussen war ein Tier zu hören und Kinderstimmen riefen einander in weiter Ferne zu. Irgendwann erhob sich Aurore. "Ich sollte wieder gehen." Sie lächelte Merit noch einmal zu und ging zur Tür. Nachdem sie gegangen war, starrte Merit noch lange auf die Tür. Gab es wirklich Orte, wo alles anders war als hier? Kapitel 5: Wärme und Kälte, alles ist verbunden ----------------------------------------------- Sie traute sich nicht, aufzublicken. Sie wusste nicht, was das Gesicht ihres Vaters für einen Ausdruck trug; sie hatte ihn noch nie eine Gefühlsregung zeigen sehen. Gerade das machte ihr Angst. Sie hörte nur undeutlich, wie Petronilla sprach. "... Dann dachte ich, Eure Majestät sollte davon in Kenntnis gesetzt werden." Eine Weile herrschte Schweigen und Merit hob vorsichtig den Kopf. Ihr Vater schien nachzudenken. Dann plötzlich umspielte ein Lächeln seine Lippen. "Und nur deshalb seid ihr zu mir gekommen?", fragte er gleichgültig. "Aber -" Petronilla stockte. "Verzeiht, Majestät. Ich wollte euch nicht belästigen." Taren machte eine wegwerfende Handbewegung. "Quält euch nicht deswegen, Petronilla. Aber bitte, belästigt mich nicht weiter damit. Ich habe zu tun." Damit war das Gespräch beendet. Merit fröstelte. Petronilla fasste sie an der Schulter und zog sie zurück. Merit folgte beinahe willenlos. Sie zuckte zusammen, als die schwere Tür des Thronsaales hinter ihr zuschlug. Sie blickte zu Petronillas Gesicht auf, die starr geradeaus blickte, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Merit lief schneller, um mit ihr Schritt zu halten. Sie war traurig. Sie müsste froh sein ... Sie hatte eine schreckliche Strafe erwartet. Doch so war es besser. Sie hatte das Gefühl, dass alles besser gewesen wäre, als diese Gleichgültigkeit und dieses kalte Lächeln. Wenn ihr Vater sie wenigstens hassen würde. Doch sie wollte ihm nicht egal sein. "Dame Petronilla?" "Ja?", fragte Petronilla, ohne anzuhalten. "Warum bedeute ich meinem Vater nichts?" Petronilla blickte zu ihr herunter. "Wer sagt das?" Merit zuckte mit den Schultern. "Wer war meine Mutter?", fragte sie stattdessen. "Weshalb willst du das wissen?" Sie hatten Merits Gemächer erreicht. Petronilla stiess die Tür auf und zog Merit hinein. "Und woher kennt mein Vater den Kaufmann?" "Wieso?" Merit biss sich auf die Lippen. "Warum?", rief sie wütend, "Warum darf ich nichts wissen? Warum hält man alles vor mir geheim?" Petronilla setzte sich in einen Sessel und seufzte erleichtert auf. "Wenn du älter bist, erfährst du es schon noch." Merit wandte den Kopf ab. "Weshalb sollte ich das glauben?" "Weil ich es sage!" Merit traute sich nicht, noch etwas zu erwidern. "Und woher kam meine Mutter?" "Ich weiss es nicht." "Ihr wisst es nicht?" "Nein." "Weshalb nicht?" "Niemand weiss es." "Auch mein Vater nicht?" "Das weiss ich nicht. Er hat es jedenfalls niemandem gesagt." Eine Weile schwieg Merit. Dann hob sie den Kopf. "Haben sie ... Aus Liebe geheiratet?" Petronilla lächelte nachsichtig. "Ich weiss nicht, was für dich als Liebe gilt. Doch ich denke es schon. Aber nur dein Vater könnte es dir sagen." Merit wollte noch etwas erwidern, doch Petronilla erhob sich. "Du hast zu tun. Und wenn du diesmal deine Arbeit noch einmal nicht erledigst, werde ich dich bestrafen, ob mit oder ohne die Einwilligung deines Vaters." Sie stand auf und verliess schnell den Raum. Wollte sie nicht weiter reden? Weshalb? Was war das für ein Geheimnis? Merit wollte es wissen, doch wie konnte sie es herausfinden? Lustlos nahm sie ihre Stickarbeit wieder zu Hand. Es klopfte und sogleich öffnete sich die Tür und Aurore trat herein. Langsam schloss sie die Tür hinter sich und lächelte zögernd. Merit erhob sich rasch und stiess dabei das kleine, dreibeinige Holztischchen um, das vor dem Sessel stand. Verlegen stellte sie es wieder auf. Aurore bewegte sich nicht und faltete die Hände. "Hallo", sagte Merit leise. "Hallo", antwortete Aurore. "Ich wollte mich entschuldigen dafür, dass ich so einfach weggegangen bin." "O nein, ich muss mich entschuldigen!" Aurore blickte sie verdutzt an. "Aber wofür denn?" Merit hob die Schultern. "Nur so ..." Aurore lachte. "Du bist mir nicht böse?" "Nein, natürlich nicht!" Aurore setzte sich auf Merits Bett. "Kann ich ein bisschen bleiben?" "Sicher." Eine Weile sagte niemand etwas. Merit schielte zu ihrer Stickarbeit, doch sie rührte sie nicht an. "Weisst du ...", begann dann Aurore plötzlich, doch sie brach ab. "Was denn?", fragte Merit. Aurore blickte zur Decke. "Ich mag es nicht, wenn man schlecht über meine Familie redet. Es ist ziemlich oft so. Kaufleute sind überall fremd ... Und über die Fremden redet der Pöbel." "Aber doch nicht alle!", widersprach Merit, doch Aurore lächelte nur nachsichtig. "Wirklich nicht? Ich bin sicher, dein kleiner Freund ist kein schlechter Mensch. Aber wenn einer etwas behauptet, dann sagen es alle." Merit biss auf ihren Lippen herum. Irgendwie stimmte es ja. "Aber du weisst ja gar nicht, was sie sagen!", machte sie einen letzten Versuch. "Ich kann es mir vorstellen", erwiderte Aurore düster. "Dass wir aus Asturia kommen. Und vor Asturia fürchten sie sich alle. Heute", fügte sie hinzu. Merit horchte auf. "Wie war es denn früher?" "Früher?", fragte Aurore langsam. "Weisst du es denn nicht?" Fast, ohne es zu merken, setzte Merit sich neben Aurore auf die Bettkante. "Nein. Es ist überhaupt seltsam. Mir sagt man beinahe nichts." Aurore grinste. "Du bist eine Prinzessin. Prinzessinnen sagt man nie etwas." Von dieser Seite hatte es Merit noch nie betrachtet. Vielleicht war sie ja gar nicht so besonders? Vielleicht gab es viele, die nicht wussten, was auf der Welt vorging? "Vor einigen Jahren", riss Aurore Merit aus ihren Gedanken. "Da waren Fanelia und Asturia Verbündete. Es gab einen grossen Bund, der nach dem schrecklichen Weltkrieg gegründet waren. Nachdem Zaibach gefallen war." Merit nickte. "Das weiss ich. Aber ... Dann ..." "Es gab Streit. Genau weiss ich es nicht. Doch es gab Streit zwischen einem Königreich und Fanelia. Er war nicht politischer Natur, sagt mein Vater, doch er herrschte zwischen den Leuten, die die Macht besassen ... Die Häuser kriegten sich in die Haare und alle mächtigen Reiche, auch Asturia, wurden da hineingezogen ..." "... Und Fanelia erklärte die Verträge für nichtig ...", flüsterte Merit. "... Und all das Chaos und der Krieg begannen von neuem. Heute ist dein Vater der Herrscher über viele Länder. Fanelia war ein kleiner Stadtstaat, der von vielen belächelt wurde, doch dein Vater hat ihm Ruhm eingebracht. Wenn auch keine Ehre." Aurores Stimme war hart. Doch Merit konnte ihren Worten nichts entgegensetzen. Sie waren wahr. Wenn sich hier im Palast noch niemand getraut hatte, so offen zu sprechen. Ihr Vater war wahnsinnig, so sanft und gleichgültig sein Lächeln auch war. Beinahe musste sie mit den Tränen kämpfen. Sie blinzelte zweimal. "Und was ist mit ... euch?" "Uns?", fragte Aurore verständnislos. "Deiner Familie." "Ach ..." Aurore verschränkte die Arme hinter dem Kopf und liess sich auf den Rücken fallen. "Meinem Vater haben die Streitereien nicht gepasst. Die Verbindungen zum Hof von Asturia sind heute sehr ... formal. Kaufleute haben Anspruch auf Neutralität." Sie schwieg eine Weile und sagte dann: "Ich kann mich nicht mehr an meine Heimat erinnern. Ich war noch zu klein, als ... alles kaputt ging. Aber es muss ein schönes Land sein." Merit blickte zu Aurore hinunter, die mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Es war seltsam. Wenn ein Asturianer nach Fanelia kam, ging es ihm schlecht. Doch Kaufleute bekamen überall Einlass. Merit spürte, wie sie von so einem Leben zu träumen begann. "Was denkst du?", fragte da Aurore. "Ich denke ...", antwortete Merit wahrheitsgemäss. "Ich denke, wie wunderbar es wäre, ein Leben wie du zu führen." Aurore öffnete die Augen und blickte sie schräg an. "Wirklich? Es ist nicht wirklich beneidenswert ... Du weisst nie, wohin du jetzt gehörst. Das ist manchmal nicht sehr angenehm." "Ich gehöre lieber nirgendwohin, als hierhin." Merit blickte sich im Zimmer um. "Alles ist so eng. Ich werde nie etwas von der Welt sehen. Ich bin schon vierzehn Jahre alt. Ich werde sehr bald mit irgend einem Provinzgrafen oder sonst wem verheiratet werden. Dann werde ich von diesen Mauern hinter andere kommen und den Rest meines Lebens Kinder gebären, bis ich daran sterbe. Und ich werde nie ... Ich werde nie wissen, wie es ist, selbst über sein Leben zu bestimmen." Es herrschte Schweigen. Dann lächelte Merit scheu. "Du geniesst sicher mehr Freiheiten, oder?" Aurore schien zu überlegen. "Vielleicht", sagte sie irgendwann zögernd. "In gewisser Hinsicht. Aber so, wie die Welt nun einmal ist, ist eine Frau eine Frau und hat den Pflichten einer Frau nachzugehen. Es macht nicht wirklich einen Unterschied, ob ich in einem Schloss oder einem Luftschiff lebe." "Schade." "Was denn?" "Ich habe mir irgendwie gewünscht, dass es anders wäre ... Dann hätte ich von einem Leben, wie du es führst träumen können. Aber es gibt wohl nirgends einen Ort, wo es anders ist." Aurore setzte sich jetzt auf. "Doch, natürlich gibt es den." "Du brauchst dich nicht über mich lustig zu machen!" Aurore lächelte. "Das tue ich nicht. Es gibt solche Orte. Überall. Aber dort ist es nicht besser, glaube mir. Man kann sich den vorherrschenden Gesetzen entgegenstellen, aber dann darf man nicht erwarten, dass man noch im Einklang mit diesen Gesetzen leben kann. Solche Orte können nicht zum Gaia gehören, dass wir kennen. Sie sind von der Welt abgeschnitten." Traurig senkte Merit den Kopf. "Vielleicht ist es besser, nicht immer zu bekommen, was man will, damit man nicht enttäuscht wird?" Sie sprach es als Frage. Und Aurore antwortete: "Sicher. Ich glaube es jedenfalls." "Warst du schon einmal an einem solchen Ort?" Aurore grinste. "Vielleicht ...? Wahrscheinlich würden wir Menschen es gar nicht merken, wenn sich etwas ändert. Wir sind viel zu schwerfällig." Merit lachte leise, obwohl sie den Witz nicht wirklich verstehen konnte. "Oder", sagte Aurore, "Oder man hält es nicht aus. Weisst du, wenn man immer in Enge gelebt hat, muss man sich ziemlich verloren fühlen, wenn man plötzlich in die Weite der Welt gerät." "Vielleicht hast du Recht." "Ich habe sicher Recht." Dazu sagte Merit nichts. Stattdessen fragte sie: "Willst du eigentlich so leben? So, wie du jetzt lebst." Aurore seufzte. "Du bist seltsam, Merit! Und deine Fragen auch. Ich weiss es nicht und ich mache mir auch keine Gedanken darüber. Ich lebe nun einmal, wie ich lebe und es gibt keinen Grund, sich selbst zu bemitleiden. Damit ändert man nichts." "Und wenn man sonst auch keine Möglichkeit hat, etwas zu ändern?" "Man hat immer die Möglichkeit, etwas zu ändern", antwortete Aurore stur. War das so? Konnte Merit etwas ändern an dem Leben, das sie hatte? "Vielleicht siehst du im Moment auch keine Möglichkeit, etwas zu ändern", fuhr Aurore fort, als hätte sie Merits Gedanken gelesen. "Aber dann hilft es genauso wenig, wenn du nur daran denkst, wie schlecht es dir doch geht, nicht?" Sie sagten wieder eine Weile nichts. Jemand lief draussen auf dem Gang vorbei. Irgendwo draussen war ein Tier zu hören und Kinderstimmen riefen einander in weiter Ferne zu. Irgendwann erhob sich Aurore. "Ich sollte wieder gehen." Sie lächelte Merit noch einmal zu und ging zur Tür. Nachdem sie gegangen war, starrte Merit noch lange auf die Tür. Gab es wirklich Orte, wo alles anders war als hier? Kapitel 6: Alles ändert sich, egal, ob wir es wollen oder nicht --------------------------------------------------------------- Der trockene Wind blies über den harten, unfruchtbaren Boden, den sie unter ihren nackten Füssen spürte. Ihr war und sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiss von der Stirn. Die Sonne schien unbarmherzig vom Himmel und weit und breit war keine noch so kleine Wolke in Sicht. Doch da vorne waren im gleissenden weissen Licht schon die Umrisse der Hügel zu erkennen. Als sie die Felsen endlich erreicht hatte, musste sie sich erst einmal an den schwarzen Stein lehnen und nach Luft schnappen. Sie rieb sich die Beine und verzog das Gesicht. Sie war nun einmal nicht mehr jung. Aber alt auch nicht, verbesserte sie sich. Reif, könnt man sagen. Oder? Der Schatten, den die schwarzen Felsen warfen, war eine Wohltat und sie fürchtete schon jetzt die Rückkehr, wenn sie den ganzen Weg zurück zu gehen hatte. Warum mussten auch Seher immer an den abgelegensten Orten wohnen? Hielten sie sich etwa für etwas besseres? Sie schnaubte und machte sich daran, einen schmalen Pfad hinauf zu klettern. Je weiter nach oben sie kam, desto stärker wurde der Wind und als sie endlich bei der breiten Plattform angelangt war, musste sie sich ihm beinahe entgegenstemmen, um nicht umzufallen. Vorsichtig ging sie auf den Eingang der Höhle zu und trat ein. Dunkelheit umschloss sie. "Tritt ein, meine Tochter. Ich habe dich erwartet", begrüsste sie eine raue Stimme, die unheimlich an den Wänden widerhallte. Sie zog einen Mundwinkel hoch. "Ich finde, du solltest dir einmal eine neue Begrüssung zulegen. Es wird langweilig." Ein Husten und aus dem Schatten trat ein verhutzelter kleiner Mann, mit einer Fackel in der linken Hand, die flackerndes Licht verteilte und die Schatten an den Wänden lebendig zu machen schien. Mit der anderen stützte er sich auf einen sicher neun oder zehn Fuss hohen Stab, an dessen Ende die heiligen Federn angebracht waren. Er selbst hatte diese Federn erbeutet. Oder war es noch sein Lehrmeister gewesen? Er hatte einen stoppeligen Dreitagebart und zerschlissene Kleidung. Und sah so gar nicht übernatürlich aus. Die Besucherin lächelte. "Seid gegrüsst, Tajalleh." "Sei du auch gegrüsst, Tochter. Was führt dich heute zu mir? Was sind deine Fragen?" Sie liess sich auf einen Stein nieder. Der alte Mann mit Namen Tajalleh blieb stehen, überragte sie jedoch trotzdem nicht einmal um einen Kopf. "Ich wollte dich etwas fragen ..." Sie blickte auf die Hand, die vor ihrem Gesicht herumfuchtelte. "Schon gut!", unterbrach sie sich und stiess die Hand weg. "Bezahlung im Voraus, ich weiss schon." Sie griff in die lederne Tasche, die sie sich um die Schultern gehängt hatte und zog nacheinander einen grossen Laib dunklen Brotes, eine sorgsam versiegelte, silberne Karaffe mit Wein und drei hellgelbe Früchte hervor. Tajalleh schnappte sich Brot und Wein und die Frau begann, mit den Zitronen zu jonglieren. "Also ...? Du bekommst sie, wenn du mir meine Fragen beantwortest, Seher." "Du willst also wissen, ob die Gerüchte stimmen." Sie lächelte. "Du wirst deinem Ruf gerecht." Er zupfte sich stolz am Ohrläppchen. "Ich weiss." Es entstand eine kleine Pause und der alte Mann schloss die Augen und stützte sich noch mehr auf den hölzernen Stab, als presse er die Antworten aus diesem. "Was du gehört hast, stimmt", sagte er leise. Die Zuhörerin schreckte auf und erhob sich eilig. Doch sie sagte nichts, sondern starrte den alten Seher nur gebannt an. "Es bahnt sich etwas an ... Eine schwerwiegende Veränderung. Doch auch die höheren Mächte können nichts genaueres sagen." Er verzog das Gesicht. "Wollen jedenfalls nicht. Du kennst ja höhere Mächte. Immer voller Furcht, nicht mehr höhere Mächte zu sein, wenn sie etwas verraten. Ha!" Sie lächelte schwach. Sie durfte nichts sagen, wenn Tajalleh in Gedanken versunken war, da sie sonst die Zuverlässigkeit dessen gefährdete, was er sah. "Aber der Umsturz ist nicht mehr weit. Und du ... Ja, du wirst auch darin verwickelt sein. Nicht so, wie du es gern hättest, doch du kannst es nicht ändern. Tja, das Los der Sterblichen." Er lachte heiser. Oder war es nur ein Husten gewesen? "Und vor allem wird dieses Land hier sehr wichtig sein für das Kommende. Es liegt schon in der Luft, wie der schwere Duft des Mohns, der Blume der Betäubung. Doch dieser Duft ist anders ... Er rüttelt uns auf. Am anderen Ende der Welt geschieht etwas." Er machte eine Pause und sagte dann so leise, dass die Bittstellerin sich vorbeugen musste, um etwas zu verstehen: "Die Zeit der Unschuld ist abgelaufen. Das neue Zeitalter kommt. Und es entscheidet sich, ob es von Licht oder Dunkelheit erfüllt sein wird." Er öffnete urplötzlich die Augen und starrte sie durchdringend an. Sie sprang erschrocken zurück. "Und was soll das heissen?", fragte sie missmutig. "Aus eurem Gefasel wird man einfach nicht schlau!" Doch Tajalleh lächelte nur überlegen und sagte: "Mein Lohn." Sie warf ihm wütend die Zitronen zu und eilte aus der Höhle. Der Seher blieb zurück und schälte gemächlich die Frucht um genüsslich in ihr saures Fleisch zu beissen. Dabei schüttelte er gutmütig den Kopf. "Übermorgen bist du zurück, meine Gute. Wetten?" Kapitel 7: Schatten über Ängste ------------------------------- Es war still auf dem dunklen Gang. Der kalte Stein kitzelte unter ihren nackten Füssen und sie fror. Es war Winter und nachts wurde an Holz gespart. Die Fenster wechselten ab mit grauer Mauer. Licht - Dunkel. Einmal wurde man vom Licht des blauen und des weissen Mondes beinahe geblendet, dann wieder sah man die Hand vor Augen nicht mehr. Merit verursachte keinen Laut auf dem glatt polierten Boden. Auch um sie herum war nur sanfte Stille, nur hin und wieder durchbrochen vom Schrei eines Käuzchens, das draussen auf einem der schneebedeckten Bäume sitzen musste oder einem Husten hinter einer Tür. Sonst war alles ruhig und das Schloss schien in tiefen Schlaf versenkt. Wie in dem Märchen der Prinzessin, die hundert Jahre schlief. Doch in diesem Märchen war die Prinzessin die einzige, die wach war. Merit wusste nicht, warum sie ausgerechnet hierher gekommen war, als sie nicht hatte schlafen können. Sie dachte auch nicht weiter darüber nach, sondern liess sich von ihren Gedanken leiten, die sie langsam von ihrem Zimmer wegzogen. Sie begegnete niemandem und beinahe hätte sie glauben mögen, das Schloss sei völlig ausgestorben. Merit wusste nicht, woher diese plötzliche Sehnsucht nach der Dunkelheit kam, die sie durch die nächtlichen Gänge jagte, doch es gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit, wenn von den Dingen nur die schemenhaften Umrisse erkennbar waren, wenn kein unbarmherziges Sonnenlicht in die letzten Ritzen vordrang und alles offen legte, was verborgen bleiben sollte. Aber gerade das wäre es doch eigentlich, was sie wollte? Aber wusste sie denn überhaupt, was sie wollte? Eigentlich war es doch egal. Sie lächelte beinahe, ob dieser Gedanke. War sie schon immer so seltsamen Überlegungen nachgehangen? Wo war sie überhaupt? Sie blickte sich um. Der Gästetrakt. Hier ... Hier irgendwo schlief auch Aurore. Aurore ... Wie lange mochte die Familie noch hier bleiben? Merit wollte gar nicht darüber nachdenken und kniff die Augen zusammen, um sich zu zwingen, diesen Gedanken zu vergessen. Jedenfalls für den Augenblick. Noch bevor sie die Augen wieder öffnete, hörte sie Schritte. Hecktisch blickte sie sich nach einem Versteck um und fand auf die Schnelle nichts anderes, als sich in einen der schweren, roten Vorhänge zu hüllen. Die Schritte kamen näher. Merit hielt den Atem an. Jetzt waren sie fast bei ihr angekommen und sie schloss die Augen. Wenn sie hier entdeckt wurde, zu dieser Zeit, wer wusste, was dann passieren würde? Wenn sich auch ihr Vater nicht für sie interessierte ... Sie musste sich benehmen. Ein junges Mädchen konnte leicht ins Kloster gesteckt werden. Und so wütend, wie Petronilla gewesen war, hatte sie Merit wirklich Angst gemacht. Die Schritte waren nun vor ihr. Sie erkannte einen Schatten und zu ihrem Schrecken verharrte die Person. Merit hielt den Atem an und betete zu allen heiligen und unheiligen Wesen. Endlich setzte der oder die Fremde den Gang fort und Merit konnte nicht verhindern, dass sie erleichtert aufatmete. Und bevor sie weiterdenken konnte, waren die Schritte zurückgekommen und eine Hand riss den Vorhang zur Seite. Merit blickte ins Gesicht des Kaufmanns, der sie so verdutzt ansah, dass sie hätte lachen mögen. Er zog fragend eine Augenbraue hoch und kratzte sich am Hinterkopf. "Und ich dachte, ein Dienstmädchen hätte etwas aus der Küche gestohlen. Was macht ihr denn hier, Prinzessin?" "Ich ...", stotterte Merit, doch dann raffte sie sich auf und blickte Fassa direkt in die Augen. "Was macht ihr denn hier?" Er grinste. "Du bist ganz schön keck, meine Kleine. Ich werde dich schon nicht verraten." "Das würde auch nichts bringen", sagte Merit, die es nicht mochte, als klein bezeichnet zu werden. "Ich ... Ich habe nämlich die Erlaubnis ... Die Erlaubnis ..." "... Dich nachts hinter Vorhängen zu verstecken?", beendete Fassa die Frage trocken. Merit biss sich auf die Lippen und zuckte mit den Schultern. Er lachte lauthals, brach aber sogleich wieder ab, als hätte er kurz vergessen, dass es mitten in der Nacht war. "Wo waren sie?", fragte Merit noch einmal. Sie wusste nicht, wieviel sie sich erlauben konnte, doch sie wollte es austesten, auch auf die Gefahr hin, die Grenzen zu überschreiten. "Ich ...? Das ist doch nicht sehr interessant für dich ..." "Verkauft mich doch nicht für dumm!", unterbrach ihn Merit wütend. "In dieser Richtung liegen die Gemächer meines Vaters! Ich habe euch schon einmal mit ihm streiten gehört -" Sie schlug sich die Hand vor den Mund und lief rot an. Fassa runzelte die Stirn, doch er sagte nichts zu Merits letztem Satz. "Ja, vielleicht war ich tatsächlich da. Und nun? Ach, es ist zum verrückt werden, kleine Prinzessin! Euer Vater ist ein sturer Bock. Ich glaube kaum, dass ich erreiche, was die grössten Diplomaten über Jahre hinweg nicht vermocht haben. Ich habe mir wohl zuviel auf alte Zeiten eingebildet." Er lachte in sich hinein. "Aber du brauchst dir keine Sorgen darüber zu machen, dass ich dich verraten könnte. Wir werden abreisen. Möglichst schon morgen. Ich denke nicht, dass hier noch eine Aufgabe aussteht." Merit nickte und Fassa drehte sich um. "Wenn du mich fragst, dann solltest du jetzt schlafen gehen. Bevor dich noch ein anderer hier findet!" Er ging den Gang entlang weiter. Merit blickte ihm lang nach. Plötzlich schreckte sie auf, als ihr seine letzten Worte plötzlich aufgingen. Sie reisten ab. Sie. Das hiess, auch Aurore ging weg. Und Merit war wieder alleine. "Eine neue Ordnung ...", murmelte sie vor sich hin und schaute in die flimmernde Ebene hinaus. "Wenn ich dazu beitrage, warum dann nicht so, wie ich es mir wünschte? Hauptsache war doch immer, dass es überhaupt endlich eine Ordnung gibt ..." Sie lächelte verdriesslich. "Wahrscheinlich werden immer einige leiden müssen ... Opfer sind unvermeidbar. Das sagte er einmal." Kapitel 8: Unentschlossen ------------------------- "Hallo." "Hallo." Merit senkte den Blick und ging weiter, doch Aurore holte sie ein. "Ich ... Ich wollte dir nur sagen ..." "Ich weiss es schon!", unterbrach Merit sie. Aurore biss sich auf die Lippen. "Ich weiss", begann sie noch einmal. "Ich wollte dir etwas anderes sagen." "Und das wäre?" Merit vermochte es nicht wirklich, ruhig zu klingen. Aurore blieb stehen. Obwohl Merit dies nicht vorgehabt hatte, spürte sie, wie sich ihre Beine nicht mehr weiter bewegten und sie Aurore anstarrte. Diese lächelte. Es war ein freundliches Lächeln, irgendwie so ganz anders als sonst, wenn sich immer eine Spur Ironie in ihrem Gesicht fand und ihre Augen listig funkelten. Aurore nahm Merits Hand in die ihre. Merit spürte, dass deren Hand genauso klamm war, wie ihre eigene und das war irgendwie beruhigend. "Ich wollte dir sagen ... Dass ich dich wirklich nett finde." Ohne Vorwarnung umarmte sie Merit. "Es ist wirklich schön, mit dir zu reden", sagte sie leise. "Ich werde dich sicher vermissen. Wir werden noch heute abfliegen." Merit spürte, dass auch sie lächelte. "Ich denke immer noch, dass dein Leben besser ist, als meines. Nun ja, man kann sich wohl nicht aussuchen, was man wird." Aurore liess sie los. Ihre Augen glänzten. "Ich weiss ... Komm doch mit uns! Wenn wir weit genug weg sind, wird dich doch niemand mehr finden! Ich bezweifle dass dich dann jemand finden könnte." Sollte sie 'ja' sagen? Sollte sie einfach weggehen? Doch beinahe musste sie ob dieser Überlegung lachen. So etwas war einfach unvorstellbar. Sie konnte doch nicht einfach weglaufen, vor ihren Problemen, vor ihrem Leben und vor ihrer Vergangenheit, die sie noch ergründen wollte. Ausserdem ... Kannte sie dieses blonde Mädchen, das Aurore hiess? Ihre Familie verliess Fanelia, wenn auch nicht im Streit, so jedenfalls nicht im Guten. Sie mussten die Prinzessin von Fanelia nicht aufnehmen, als sei sie eine Waise, die Schutz bedurfte. Aurore musste das gleiche denken, denn sie lachte verlegen. "Ich weiss, es geht nicht. Aber irgendwie ... Habe ich das Gefühl, dass ich etwas verliere, wenn ich dich vielleicht niemals wieder sehe. Seltsam, dabei kennen wir uns nicht einmal richtig ..." Dasselbe dachte ich eben auch!, hätte Merit beinahe gesagt, aber sie unterliess es. "Weisst du ...", sagte sie stattdessen zögerlich. "Ich denke, man begegnet vielen solchen Personen im Leben." Aber nur eine einzige ist einzigartig und das wird man sofort erkennen ... Merit blinzelte. "Ich muss gehen!" Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte davon. Sie blieb stehen und rang nach Atem. War sie feige? Oder mutig? Was war die richtige Entscheidung? Ein Leben zu fristen, dass immer nur aus einem monotonen Rhythmus bestand, aus Kinderkriegen und Hausarbeiten, langweiligen Gesprächen und Klatsch und sich somit mutig ihrem Schicksal stellen? Aber war es schlechter, davon zu laufen, in der Hoffnung, vielleicht ... Vielleicht etwas zu schaffen, obwohl man nur ein Mensch, noch weniger; nur ein Mädchen war? Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurde und wischte sich wütend mit dem Ärmel übers Gesicht. "Verdammt", murmelte sie. Weshalb passierte das in letzter Zeit so oft? Gerade noch hatte sie ... Ja, gerade noch war sie ... Sie musste This suchen gehen. "This?" Der Junge schrak zusammen und drehte sich um. "Merit!" Erst hellte sich sein Gesicht auf, doch dann verzog es sich zu einer Grimasse. "Willst du mich wieder schlagen?" Sie errötete. "Es tut mir leid. Entschuldige." Seine Züge entspannten sich und er grinste. "Und jetzt? Was willst du?" "Treffen wir uns beim Platz?" Er zuckte die Schultern. "Warum nicht?" "Gut!", rief Merit und rannte davon. This blieb zurück und kratzte sich am Kopf. Sie war schon mehr als seltsam, in letzter Zeit. Merit öffnete leise die Tür und stand im schneebedeckten Garten, der seltsam ruhig dalag und von den hektischen Ereignissen nichts mitbekommen zu haben schien. Als sie langsam durch den Garten schritt, überkam sie ein seltsames Gefühl der Ruhe. Weshalb sollte sie immer so rastlos sein? Was kam, das kam und sie konnte sowieso nichts dagegen machen. Oder? Sie schüttelte wütend den Kopf und trat fest mit dem Fuss auf, so dass eine weisse Wolke aus in der Sonne glitzernden Schneesternen aufstäubte. Sie schüttelte noch einmal den Kopf und rannte los. Sie wollte nicht so seltsame Gedanken haben. Jetzt war sowieso nichts wichtig, als endlich wieder einmal aus dem einengenden Palast hinauszukommen. Sie stiess das Gatter auf, das quietschend und quälend langsam aufging und rannte quer über die Wiese. Ihr Atem verwandelte sich in kleine Wölkchen, die vor ihrem Mund in die Luft stiegen. Dort vorne war schon der Wald, dunkel, schneebedeckt und scheinbar leblos stand er als stummer Zeuge da. Als Merit zwischen die Bäume trat, hielt sie an und atmete heftig. Die kalte Luft schien ihre Lunge zu umklammern und sie schluckte. Dann machte sie sich sogleich wieder auf. Sie rannte lange, nahm extra Umwege, zwischen weissen Tannen, laublosen Büschen, grauen Steinen hindurch, über einen gefrorenen Bach - sie fühlte sich so frei, wie schon lange nicht mehr und hatte das Gefühl, fliegen zu können. Der Palast, der Hof, die Etikette, all die lästigen Pflichten, die Einsamkeit, die Abreise von Aurore ... Alles war in die Ferne gerückt und Merit war mehr Zuschauer als Schauspieler in dem Stück. Jedenfalls jetzt. Als sie endlich an der Lichtung ankam, sackte sie erst einmal zusammen und hustete und schnappte nach Luft. Sie war lange gerannt. This stand einfach mitten im Schnee und sah ihr gedankenverloren zu, bis sie sich wieder gefasst hatte. "Du hast lange gebraucht", sagte er dann, als Merit sich wieder aufrichtete. Sie lachte. "Ich bin die Prinzessin." Wenig beeindruckt warf This ihr das Holzschwert zu. "Und du kämpfst auch wie eine!" "War das eine Beleidigung?" "Nein", lachte This und zog das Wort demonstrativ in die Länge. Merit drehte nachdenklich das Schwert in den Händen herum. "Irgendwie seltsam ...", murmelte sie. "Was denn?" "Irgendwie ist alles ... anders geworden, nicht? Aber das Schwert hier, das du immer im Heu versteckt hältst, ist das gleiche geblieben. Ist doch komisch." This hob die Augenbrauen und warf ihr einen Blick zu, der verriet, dass er sich ernsthafte Sorgen um ihren Gesundheitszustand machte und sagte: "Ich finde eigentlich nicht. Das haben Holzschwerter so an sich, weisst du." "Kann sein", grinste Merit. Sie nahm das Schwert in die andere Hand und schwang es ein paar Mal durch die Luft, die es mit einem surrenden Geräusch durchschnitt. "Nun gut ..." Sie ging in Angriffsposition und This tat es ihr gleich. Eine Weile blickten sie sich stumm in die Augen, bis Merit sagte: "Ich werde dir die Kehle durchschneiden und dein Herz den Hunden zum Frass vorwerfen! Falls du eines besitzt!" This ging darauf ein: "Ach ja? Nun, du kannst ja nachschauen, ob in meiner Brust ein Herz schlägt oder nicht - aber da kommst du nicht so einfach ran!" Merit überlegte sich schnell einen weiteren Satz. "Du hast der jungen Prinzessin das Herz geraubt und sie verschleppt! da sie sich in den Tod stürzte, nachdem du's ihr gebrochen hast, weilt sie heute nicht mehr unter uns. Ich werde nicht zulassen, dass du noch mehr Untaten begehst!" Eine Weile blickte This sie völlig perplex an. Dann begann er leise zu kichern und platzte los. Merit schaute ihn böse an. "Was ist denn so lustig?", fragte sie wütend. This räusperte sich und unterdrückte das Lachen. "Wie bitte schön kommst du denn auf den Mist?" Merit zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Ist halt da ..." This hob ebenfalls die Schultern. "Nun gut, wenn du willst, spiel ich halt mit. Aber verlange nicht, dass ich darauf etwas antworte!" Merit grinste. "Musst du auch nicht. Greif einfach an!" Irgendwann liess sie sich erschöpft und trotz der Kälte völlig verschwitzt in den Schnee fallen. This setzte sich neben sie. Sie lächelte. "Das hat gut getan. Ich musste endlich einmal wieder 'raus ... Aus all dem ..." This lächelte auch. "Ich find's gut. Ich meine, dass jetzt alles wieder beim Alten ist." Merits Lächeln gefror und sie biss sich auf die Lippen. Sie erhob sich hastig. "Ich muss zurück, sie vermissen mich sicher!" Ohne eine Antwort abzuwarten, machte sie auf dem Absatz kehrt, rannte wieder in den Wald hinein und liess einen völlig verblüfften This zurück. Erst, als sie sich ausser Sichtweite ihres Freundes wusste, blieb sie stehen und lehnte sich atemlos gegen einen Baum. Sie schluckte. Alles wieder beim Alten? Das war es nicht. Das würde es nie wieder sein. Das wollte sie doch auch gar nicht. Sie wusste es zu diesem Moment noch nicht, doch dies war der Augenblick, in dem ihre Zukunft endlich Form anzunehmen begann Hätte sie gewusst, dass von dieser Zukunft noch viel mehr abhing, als sie sich vorstellen konnte, hätte sie es womöglich mit der Angst zu tun gekriegt. Doch so schluckte sie noch einmal leer und machte sich auf den Rückweg. Sie wollte jetzt die Welt und das Schicksal auf die Probe stellen. Denn wenn das Schicksal keine Antworten aufzuweisen hatte ... Wer denn dann? Kapitel 9: Verwischte Träume ---------------------------- Am folgenden Abend blieb Merit in ihren Gemächern. Lange sass sie da und wartete darauf, dass die Tür aufging. Dass sie jemand zwang, heraus zu kommen. Sie hoffte buchstäblich, dass dies passieren würde, doch nichts geschah. Es ist nun einmal so, sagte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf. Du bist eben allen egal! Das war doch schon immer so. Du bist wirklich naiv, zu glauben, diesem wildfremden Mädchen würdest du irgendetwas wert sein. "Es kann sein!", sagte sie zu sich selbst. "Aber es ist egal." Sie kauerte sich in dem grossen roten Polsterstuhl zusammen und kniff die Augen zu. Vielleicht war dann die ganze Welt weg. Sie öffnete die Augen, als eine Hand sie unsanft wachrüttelte. Sie musste eingeschlafen sein. Petronilla starrte sie böse an und Merit setzte sich schnell auf. "Dame Petronilla." "Wo bist du? Du sollst zum Abendessen erscheinen! Verwöhntes Gör." Sie jammerte nicht wie sonst vor sich hin, sondern musterte Merit nur kühl. Ihre Amme, Kinderfrau, beinahe ihre ... Mutter verachtete sie, das wurde Merit plötzlich schmerzlich bewusst. Sie hatte immer geglaubt, Petronilla zu hassen, dass es ihr egal sei, was diese denke ... Offenbar war dem doch nicht so. "Du versäumst deine Pflichten. Ich kann das nicht mehr zulassen. Du wirst den nächsten Tag in deinem Zimmer verbringen!" "Aber ...!" Doch sie verstummte ob Petronillas säuerlichem Gesichtsausdruck. Doch wenn sie hier oben eingeschlossen war, konnte sie sich nicht einmal ein letztes Mal von Aurore verabschieden. Was würde diese denken? Merit konnte schlecht von Petronilla verlangen, dass diese Aurore erklärte, weshalb denn Merit verhindert sei. Traurig kauerte sie sich wieder auf ihrem Stuhl zusammen. Petronilla wandte sich zum gehen, drehte sich aber unter der Tür nochmals um. "Besser noch, du kommst mit. Wir gehen ins alte Spinnzimmer." Merit stöhnte. "Keine Widerrede!" Merit hasste das alte Spinnzimmer. Sie hegte gegen das Spinnen eine noch grössere Abneigung als gegen das Sticken. Das Zimmer selbst befand sich im Südturm, weit oben, sodass Merit die Beine zu schmerzen begannen, wenn wohl auch nicht so, wie die von Petronilla. Als sie endlich die Tür erreicht und geöffnet hatten, traten sie in ein spärlich beleuchtetes Zimmer, gross, dafür aber recht dürftig eingerichtet. Durch zwei Fenster fiel Streifen von Sonnenlicht, doch vermochten diese nicht, in die hintersten Ecken vorzudringen und so machte das Zimmer einen düsteren und engen Eindruck. Es standen vielleicht sieben oder acht Spinnräder darin, sonst war er leer. Eigentlich wurde das alte Spinnzimmer nicht mehr benutzt, es war einfach zu dunkel und zu kalt. Warum die Spinnräder nach wie vor darin standen, wusste niemand. Nur selten ging jemand hier hinauf und das war zumeist Petronilla gewesen, die der kleinen Merit hier oben das Spinnen hatte beibringen wollen, damit sie im grossen Spinnzimmer nicht die Spinnerinnen störten. Merit hatte es jedoch nie fertiggebracht, einen gleichmässigen Faden zu spinnen und sie war lange nicht mehr hier gewesen. Sie hatte auch Angst vor dem Zimmer, das so dunkel und einsam da lag. Merit glaubte, sich zu erinnern, dass sie als kleines Mädchen einmal gesagt hatte, dass die Vögel sie hatten zum Fenster hinausziehen wollen. Weshalb sie das gesagt hatte, wusste sie nicht mehr, aber sie erinnerte sich noch an Petronillas bleiches Gesicht und dass sie seither niemals mehr hatte nach hier oben gehen müssen. Petronilla blieb stehen und schnaufte wie ein Pferd. Als sie wieder Luft hatte, bedeutete sie Merit, sich an ein Spinnrad zu setzen. "Ich werde anordnen, dass man dir essen bringt und du rührst dich nicht von diesem Spinnrad, bevor ich dich hole! Und dann will ich einen wunderschönen, gleichmässigen Faden haben, klar? Wolle hast du." Merit starrte sie an. Sie sollte ganz allein hier oben bleiben, den ganzen Tag? Sie wollte etwas sagen, doch Petronilla schnitt ihr das Wort ab. "Ich werde dich jetzt einsperren. Ich bedaure, dass das nötig ist, aber ich weiss sehr wohl, dass du wohl kaum hier bleiben wirst, wenn du eine andere Möglichkeit hast." "Aber Dame Petronilla!", flehte Merit jetzt doch. "Die Familie Fassa reist doch heute ab und-" "... Und?", fragte Petronilla verständnislos. "Mach dich jetzt an die Arbeit und trödele nicht." Mit diesen Worten drehte sie sich nun doch um und verliess das Zimmer ohne ein weiteres Wort. Merit hörte das Geräusch eines, sich im Schloss umdrehenden Schlüssels, Schritte, die die Treppe hinuntergingen und dann ... Stille. Unschlüssig setzte Merit sich hin und beäugte angewidert das Spinngerät, das wie ein grosses Monster zurück zu starren schien. Sie war fest entschlossen, keinen Finger zu rühren, doch auf dem hölzernen Stülchen fühlte sie sich auch nicht wirklich wohl. Sie stand auf und blickte sich noch einmal um und schlenderte dann zu dem kleinen Fenster, durch das die letzten Strahlen der Abendsonne in den Raum gelangten. Es war nur sehr klein, kaum grösser als ihr Kopf, doch die Aussicht von diesem höchsten Turm war wunderbar. Man sah weit aus dem Tal hinaus über verschneite Felder und den Wald, dessen Bäume wie gezuckert aussahen bis nach vorne, wo sich die Berge verengten und den Blick auf die weiten Ebenen ausserhalb des Tales freigaben. Merit war erst einmal dort draussen gewesen. Es war eine wilde Gegend und man kam leicht in einen Hinterhalt. In den letzten Jahren wagten sich sowieso nur noch Wagemutige, sprich Dummköpfe nach dort draussen, wo blutige Schlachten ausgetragen wurden. Dort war kein Ort mehr für die Menschen. Früher hatte es dort viele kleine Dörfer gegeben, doch die Bewohner lebten nun in der Stadt ... oder nicht mehr. Wenn gerade kein Krieg herrschte, trieben Wegelagerer ihr Unwesen in den verwüsteten Ruinen und Diebe raubten die Leichen auf den Schlachtfeldern aus. Und doch war jetzt alles weiss, das Blut war bedeckt von einem reinen, leuchtenden Schnee. Es schien Merit, als bedecke er die Untaten und wenn man nach dort draussen blickte, konnte man fast vergessen, wie schlecht die Welt doch war. In der Ferne war ein kleines Dorf zu erkennen, wo der Rauch in den Himmel stieg. Eine idyllische Aussicht. Es klopfte. Sie drehte sich um und blickte die Zofe an, die schüchtern durch die Tür trat. "Verzeihung, Herrin?" "Was ist, Natris?" "Ihr seid schon reichlich lange hier oben ..." Sie lächelte. "Ja, ich habe die Zeit vergessen. Das passiert leicht in diesem einsamen Turm. Als ob man sich hier abseits der Zeit befindet." Natris lächelte schüchtern. "Das kann sein", sagte sie. "Ich kann das nicht beurteilen." "Aber sicher könntest du das! Wenn man so viel Zeit hat, wie ich, merkt man das sicher. Je mehr Zeit man hat, desto eher denkt man doch über die Zeit nach, nicht?" Natris blickte verlegen. "Ich ... Ich weiss es wirklich nicht, Herrin! Aber ich dachte, es ist vielleicht besser, wenn ihr nicht zu lange allein seid. In eurem Zustand ..." Sie verschränkte instinktiv die Arme über ihrem Bauch. Doch dann lächelte sie. "Ach, meine Liebe, mach' dir keine Sorgen um mich! Ich denke, ich kann gut einschätzen, wann es soweit ist. Und dann werde ich mich sicher nicht die Stufen hierher hochquälen." Natris verbeugte sich. "Ich wollte nicht anmassend sein ..." "Das bist du nicht. Es ist gut, dass sich jemand um mich Sorgen macht. Ich selbst vergesse es ja zuweilen." Sie ging auf Natris zu, die immer noch an der Tür stand, jetzt aber hastig zur Seite trat. "Herrin ...?" "Lass uns nach unten gehen. Dieser Raum sieht irgendwie plötzlich sehr düster aus." Sie trat ins enge Treppenhaus hinaus. Es war stockfinster, doch Natris hinter ihr ergriff die Fackel, die an der Wand in einem eisernen Halter gehangen hatte und zündete sie an. Augenblicklich erschienen die Stufen in dem schummrigen, flackernden Licht. Langsam setzte sie einen Fuss vor den anderen. Sie biss die Zähne zusammen ob der, in letzter Zeit vorhandenen, quälenden Rückenschmerzen. Ihr Bauch war schwer und zog sie nach vorne und sie klammerte sich am Treppengeländer fest, um nicht zu stürzen. Wieder einmal fragte sie sich, weshalb sie sich trotz der Rückenschmerzen immer noch jeden Tag hier herauf quälte. Doch sie wusste, sie würde am nächsten Tag wahrscheinlich wieder oben am Fenster stehen und die Aussicht bewundern. Als sie unten auf den breiten Gang traten, blieb sie stehen und lehnte sich keuchend neben die Hand. Natris war sofort neben ihr und nahm ihre Hand. "Ist euch nicht gut, Herrin?" Sie rang noch einmal nach Atem und wehrte dann ab: "Nein, mach dir keine Sorgen. Ich ... Ich muss nur kurz Luft holen." Natris blickte sie furchtsam an. "Vielleicht wäre es besser, wenn ihr euch etwas hinlegt. Ihr solltet euch nicht mehr so viel zumuten!" Sanft, aber bestimmt schüttelte sie Natris' Hand ab. "Nein. Ich sage doch, du sollst dir keine Sorgen machen!" Um ihre Worte zu beweisen, machte sie ein paar kräftige Schritte den Gang entlang. Natris hatte Mühe, ihr zu folgen. Eine ganze Weile ging sie schweigend, eine Hand über den Bauch gefaltet, die andere in ihr Kreuz gestützt, den Blick starr nach vorne gerichtet, die Lippen aufeinander gepresst. Sie sass etwas gelangweilt auf dem Thron, die Worte der Bittsteller perlten an ihr ab. Es war jedesmal dasselbe: Gestohlene Hühner, Nachbarschaftsstreitereien, die Armut in den äusseren Stadtvierteln, Flüchtlinge aus Archam, die um Aufnahme baten, bereits abgewiesene, die gestohlen hatten um zu überleben. Sie hatte die Hände über ihrem Bauch gefaltet, lächelte huldvoll, nickte bedächtig und bejahte, versprach, sich um die Angelegenheiten zu kümmern, doch in Wirklichkeit weilten ihre Gedanken weit weg, bei dem Boten, dem blonden Jüngling, kaum dem Knabenalter entwachsen, an dem ihre ganzen Hoffnungen hingen. Er musste den Herzog so schnell wie möglich erreichen, nur dieser konnte ihr noch helfen. So hoffte sie jedenfalls. Wenn nicht, wenn ihr Mann jetzt zurückkam, bevor ... Wenn dann das Kind kam und es nicht - Sie wagte wieder einmal nicht, zu Ende zu denken. "... Und Hunold weigert sich, sie mir zu ersetzen! Er behauptet, es sei gar nicht-" Sie winkte ungeduldig ab. "Bitte lieber ... Ähm ... Ingold -" - Der Gesichtsausdruck des Bauern zeigte deutlich, dass er nicht Ingold hiess - "Ich werde mich darum kümmern. Hu... Hubert wird euch eure Kuh ersetzen!" Der Mann nickte griesgrämig und verbeugte sich ruckartig, bevor er steif zur Tür hinaus ging. "Keinen mehr!", sagte sie schnell. "Ich bin müde und will mich ausruhen." Sie nickte ihrem Hofmarschall zu, welcher sich verbeugte. "Wie ihr wünscht, eure Majestät." "Ja, ich wünsche." Sie machte eine ungeduldige Handbewegung und erhob sich. Natris eilte herbei und stützte sie, als sie schwankte. "Danke, Natris", sagte sie und atmete tief ein. "Es scheint mir ein ungeduldiges kleines Ding zu sein." Sie lächelte vor sich hin. "Sicher wird es ein Junge." "Majestät!" Sie schreckte auf. "Natris! Kannst du nicht anklopfen?" Das junge Mädchen senkte beschämt den Kopf. "Verzeiht, Herrin." Sie schüttelte den Kopf. "Was ist denn nun?" "Der König! Der König und sein Gefolge kommen an." "Was?" Sie stand überstürzt auf. "Jetzt schon? Aber ... Aber wieso haben sie nicht zuerst einen Boten geschickt?" "Ich ... Ich weiss nicht, Herrin", erwiderte Natris verwirrt. Doch die Herrin hörte schon nichts mehr. Sie rannte den Gang schneller hinunter, als sie in den letzten Monaten je gerannt war und stoppte erst, als sie beim grossen Tor angekommen war. Des Königs Vasallen standen schon unten und einige andere standen da und blickten sie verwundert an, als sie so völlig aufgelöst anhielt. Doch sie bemerkte niemanden, nur ihren Mann, der eben vom Pferd stieg. Sein Blick war hart und um seine Lippen war nicht die Spur eines Lächelns. Zögernd trat sie auf ihn zu. "Ich-", begann sie, doch sie wurde von einem harten Schlag in ihr Gesicht unterbrochen, der sie in den Staub schleuderte. Sie schmeckte Blut und presste fassungslos die Hand vor den Mund. "Aber ... Aber ... Aber", stotterte sie und fühlte, wie ihre Augen nass wurden. Ihr Mann trat auf sie zu und warf ihr einen Fetzen in den Schoss. "Hier", sagte er mit eisiger Stimme. "Kennst du das?" Mit zitternden Händen ergriff sie das dreckige, zerknitterte Pergament und rollte es auseinander. Ihre Augen weiteten sich, als sie die verschmierte Schrift entzifferte. Ihre Botschaft. Er hatte ihren Boten abgefangen. Einen Augenblick lang überlegte sie, was aus dem Boten geworden sein mochte, doch sie besann sich darauf, dass sie selbst gerade in allergrössten Schwierigkeiten steckte. "Verzeiht mir, Geliebter", murmelte sie mit tränenerstickter Stimme. Ihre Hände zerknüllten die Botschaft. Sie traute sich nicht, aufzublicken. Er packte sie am Arm und zog sie hoch. Willenlos liess sie sich mitziehen, stolperte hinter ihm durch die Menge hindurch, mit gesenktem Kopf, doch sie spürte die Blicke trotzdem wie glühende Messer, die in ihre Haut stachen. Er schloss die Tür hinter sich und warf sie hin, als wäre sie etwas ekelhaftes, das er nicht länger als unbedingt nötig berühren wollte. Sie erhob sich mühsam und setzte sich weinend aufs Bett. Sie umklammerte schützend ihren Bauch und wiegte sich vor und zurück. "Ich wollte es nicht, wirklich nicht!" Sie blickte zu Boden, sah auf seine Füsse, die nun genau vor ihr standen. "Ehebruch", sagte er langsam. "Ist ein schweres Verbrechen vor den Göttern. Und er wird hart bestraft." Sie kniff die Augen zusammen und nickte. "Ja", sagte sie heiser. Plötzlich griff er mit der Hand unter ihr Kinn und hob ihr tränenverschmiertes Gesicht hoch, sodass sie ihm in die Augen blicken musste. "Aber ich ... Du bist immer noch schön." Er schwieg und sie merkte, dass er mit sich kämpfte. Plötzlich zog er sie an sich und küsste sie. "Aber du hast meine Liebe mit Füssen getreten. Bring dein Balg zur Welt und danach verlässt du das Land. Für immer. Wenn das Kind ein Junge ist, werde ich es töten lassen. Ist es ein Mädchen, bleibt es hier." "Nein ... Bitte, bitte tu mir das nicht an! Bring mich um, lass mich töten, aber tu nicht so etwas!" Er löste sich aus ihrer verzweifelten Umklammerung und trat zurück. Er öffnete die Tür, drehte sich noch einmal um und sagte: "Mein Wort gilt. Und komme mir nicht mehr unter die Augen." Er knallte die Türe hinter sich zu. Eine ganze Weile stand sie so da, wie gelähmt vor Schreck. Erst, als seine Schritte auf dem Gang verklungen war, löste sich die Starre und sie brach zusammen, geschüttelt von harten Schluchzern. "Herrin ...", sagte eine sanfte Stimme. "Natris", flüsterte sie. "Hasst du mich jetzt?" "Aber nein, Herrin", erwiderte Natris. "Ich könnte euch nie hassen, Herrin." Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. "Es ... Es ist das Kind des Königs! Bitte glaub mir! Es wurde nicht in Sünde gezeugt, ich bin sicher, wirklich, es muss so sein, er darf es nicht töten, er darf es mir nicht wegnehmen, nicht, bitte, ich-" Sie stammelte wirres Zeug vor sich hin, doch Natris legte ihr den Finger auf die Lippen. "Seid still Herrin. Ich werde dafür sorgen, dass eurem Kind nichts geschieht, ich gebe euch mein Wort. Und ich weiss auch, wo ihr hingehen könnt. Dort müsst ihr warten. Die Zeit heilt alle Wunden." Sie klammerte sich an die sanften Worte ihrer Zofe. "Wirklich?" "Wirklich. Ich werde ein Schiff finden, das nach Syreon fliegt. Man wird euch mitnehmen." Syreon. Sie überlegte, womit sie dieses Wort in Verbindung brachte ... Aber natürlich! Sie schüttelte heftig den Kopf. "Nein, Natris, ich kann nicht dorthin! Sie ... Sie ist doch dort!" Natris seufzte. "In Wirklichkeit habt ihr keine Wahl, Herrin." Sie sah ein, dass das Mädchen recht hatte. Sie schloss die Augen. Sie stand inmitten der Scherben ihrer Existenz. Hätte sie doch nur nie ... Wäre sie doch nur ... Sie verbot sich, so zu denken. Dies war ihr Leben. Sie konnte nicht mehr zurück, konnte die Dinge nicht mehr ungeschehen machen. Sie erhob sich, versuchte, einen letzten Rest Würde wieder zu finden. "Ich danke dir, Natris. Ich werde ... Ich werde nicht mehr weinen." Ihr entfuhr ein Keuchen, als sie auf die Knie fiel. "Was ... Was war das?", hörte sie eine Stimme flüstern, merkte jedoch sofort, dass sie es selbst gewesen war. Ihr Kopf hämmerte und sie presste die Hände an die Schläfen. Sie hatte etwas gesehen. Nur ... Was? Und mit einem Schlag wurde es ihr klar. Der Schreck half ihr auf die Beine. Sie musste weg. Kapitel 10: Sonnenuntergang --------------------------- "Aurore!" Das Mädchen drehte sich suchend um. "Wer ist da? Merit?" "Ja." Ein Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. "Merit! Ich wusste, du würdest mitkommen!" Merit trat hinter dem Gepäckballen hervor. Aurore trat auf sie zu und legte ihr die Hand auf den Unterarm. "Ich freue mich." Merit lächelte schwach, doch es sah wohl nicht sehr überzeugend aus, denn Aurore erwiderte das Lächeln nicht. "Ich freue mich auch", sagte sie dennoch. Aurore musterte sie ernst. "Erzähl' es mir, wann immer du willst." Sie gewann jetzt doch ihr schelmisches Lächeln zurück. "Aber mehr als drei Jahre gebe ich dir nicht Zeit." Auch Merit grinste. "Erinnere mich daran." Aurore zog sie resolut am Arm. "Komm mit. Du brauchst dich nicht wie ein blinder Passagier hier unten im Lagerraum zu verstecken." Merit liess sich mitziehen, fragte jedoch zögernd: "Was wird dein Vater sagen?" Aurore hob gleichgültig die Schultern. "Du bleibst in meiner Kabine, bis ich dich hole. Wenn wir über die Grenze sind, ist mein Vater deinem Vater gegenüber zu nichts mehr verpflichtet und ... Nun ja, du weisst ja wohl, dass sie sich sowieso nicht unbedingt ... als dicke Freunde getrennt haben." Merit nickte. "Ja", sagte sie schlicht. Sie fühlte, wie ein seltsames Schamgefühl in ihr hochstieg. Sie merkte verwundert, dass sie sich für ihren Vater schämte. "Was wird er sagen?" In Merit waren doch Zweifel aufgekommen. Was, wenn der Kaufmann doch nicht so reagierte, wie sie es gedacht hatte? Was, wenn er sie zurückbrachte? Würde ihr Vater dann vielleicht doch einmal eine Gefühlsregung zeigen ... Würde er sie doch beachten? Sie schüttelte den Kopf, ärgerlich über sich selbst. Sie wollte doch gar nicht zurück. Und ausserdem, fuhr es ihr durch den Kopf, ist er vielleicht gar nicht mein Vater? Sie wusste nicht, was diese eigenartigen Bilder bedeutet hatten, die sie gesehen hatte, doch sie wusste, dass es etwas war, das wirklich passiert war. Sie konnte nicht sagen, was es denn wirklich gewesen war, doch es hatte sie mit Panik erfüllt. Jetzt, nachdem sie Zeit gehabt hatte, sich zu beruhigen, wenngleich sie immer noch aufgeregt war, schienen sich die Nebel langsam zu lichten. Die Frau war ihre Mutter gewesen. Und sie dieses ungeborene Ding in ihrem Bauch. "Was er sagen wird?", wiederholte Aurore. "Keine Ahnung. Aber du musst nicht so verschüchtert dreinblicken wie ein Kitz, das seine Mutter verloren hat!" Merit verzog den Mund. "Bin ich doch." "Was?" "Ach, nichts." Aurore zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Na dann ..." Sie hiess Merit unter dem schweren Samtvorhang hindurch treten und diese stand darauf in einem geräumigen Raum. Fassa stand an einem sperrigen alten Holztisch und hatte sich über eine Karte gebeugt, von der er jetzt überrascht aufsah. "Prinzessin! Was machst du denn hier?" Merit öffnete langsam den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Sie blickte hinter sich. Aurore lugt durch einen schmalen Spalt zwischen dem Vorhang und blinzelte ihr zu. Merit funkelte sie böse an. "Na?", fragte der Kaufmann mit hochgezogenen Augenbrauen. "Ich ... Ich ... Ich ...", stotterte Merit. "Ich ... wollte ... mitkommen." Das letzte Wort hatte sie gemurmelt. Fassa blickte sie einen Moment lang sprachlos an und machte einen unentschlossenen Schritt vorwärts. Merit zuckte zusammen und war schon beinahe auf einen Schlag gefasst, als er zu ihrer Überraschung ... Lauthals zu lachen begann. "Mitkommen also, wie? Der gute Herr Taren wird bald keine Untertanen mehr haben, da er sie offensichtlich alle vergrault!" Merit ballte die Fäuste. "Tut mir leid, Prinzessin. Natürlich ist er dein Vater ..." "Es macht nichts", unterbrach ihn Merit schroff. "Ihr habt wohl recht." Fassa seufzte und sah sie nachdenklich an. "Du bist nicht die erste, die mich darum bittet, ihr zu helfen, aus diesem Land heraus zu kommen ..." Fassa schüttelte nachdenklich den Kopf. "Es ist auch verständlich. Tarens Reich ist sehr düster geworden." Er runzelte die Stirn und blickte auf den Vorhang hinter Merit. "Komm da raus, Aurore!" "Tut mir leid, Vater", sagte Aurore, als sie den Samt zur Seite schob und eintrat. Fassa hob die Schultern und wandte sich wieder seiner Landkarte zu. Konzentriert fuhr er eine Linie nach, als gäbe es nichts interessanteres auf der Welt. "Du hast mir das eingebrockt, du kleiner Nichtsnutz. Wenn der Herr Taren das merkt, wird er mich hängen lassen, Kaufmann hin oder her. Kümmere du dich also auch darum." Aurore strahlte. "Danke, Vater!" Zu Merit gewandt zischte sie: "Na los, willst du hier Wurzeln schlagen?" "Ich danke euch, Fassa", beeilte sich Merit noch zu sagen. "Du brauchst nicht zu danken, Merit de Fanel", rief ihr der Kaufmann nach. "Und nenne mich einfach Dryden!" Sie gingen durch die Gänge, Merit hielt sich verstohlen an Aurore fest. "Weshalb schwankt das Schiff so?", fragte sie, bemüht, ein Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Aurore blickte sich nicht um. "Luftlöcher", sagte sie nur. "Luftlöcher?", fragte Merit verständnislos. Sie versuchte, sich ein Loch in der Luft vorzustellen. Konnte denn etwas Löcher haben, das man gar nicht anfassen konnte? Der Himmel hatte doch auch keine Löcher ... oder? "Ja, dann schwankt das Schiff zuweilen etwas. Aber keine Angst, es ist stabil. Das beste der ganzen Flotte!" "Gut", sagte Merit schwach. Aurore drehte sich nun doch halb zu Merit um und kniff ein Auge zu. "Wir können dich auch runterlassen, wenn du das willst!" Merit schüttelte heftig den Kopf. "Nur das nicht!" Aurore lachte fröhlich. "Das dachte ich mir." Sie ergriff Merits Hand. "Aber jetzt komm schon mit, ich zeige dir das, was du haben willst. Und ich beweise dir, dass es das gibt!" Sie erklommen eine kleine, aber steile Treppe. Merit war überrascht, wie gross das Luftschiff wirklich war, die wenigen Male, die sie es von draussen gesehen hatte, hatte es kleiner gewirkt. Sie blickte konzentriert auf ihre Füsse, von denen sie in der dusteren Umgebung kaum mehr als die Umrisse wahrnahm, um nicht zu stolpern. Hin und wieder wandte sie den Blick aber ab auf die Wände, die aus dem dunkelsten Edelmetall gefertigt waren, das Merit je gesehen hatte, zur Decke, die unendlich weit oben zu hängen schien. Und plötzlich tat sich hinter einer schweren Eisentür der Himmel auf. Merit blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf das Blau, das sich unendlich weit in die Ferne zu ziehen schien. Aurore zog sie ungeduldig am Arm und Merit stolperte mehr durch die Tür, als dass sie ging. Sie fiel Aurore in die Arme, die sie auffing und wieder gerade hinstellte. "Schau doch! So schau doch, Merit! So was hättest du in deiner düsteren Burg nie zu sehen gekriegt." Merits Blick folgte Aurores zum Horizont weisenden Finger. Wie ein blutroter Feuerball ging die Sonne langsam unter, sandte noch letzte, orangerote Strahlen zu allen Seiten, verflimmerte und verschwamm. Sie wurde heller und heller, kleiner und kleiner, bis zum Schluss nur noch ein kleiner Funke zu springen schien und mit einem letzten Glimmen verschwand der Tagesstern. Merit holte Luft; sie hatte den Atem angehalten, ohne es zu merken. Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, überrascht, dass sie tränten. Wohl von der Helligkeit. "Es ist schön, nicht?", fragte Aurore, in einem ganz anderen Tonfall als sonst. Sie sprach leise und bedächtig; sie schien zu spüren, dass etwas Besonderes in der Luft lag. Sie klang beinahe schüchtern, als hätte sie Angst, nicht auf Zustimmung zu stossen, dachte Merit. "Wunderschön", pflichtete Merit flüsternd bei. "Es ist ... Es ist ..." Sie suchte nach einem passenden Wort. "Freiheit, nicht wahr?" Aurore nickte. "Ich wollte sie dir zeigen. Du hast dich doch immer so danach gesehnt." Merit umarmte sie stürmisch. "Ich will immer hier bleiben. Immer, hörst du? Ich will nur noch die Sonnenuntergänge und die Freiheit sehen, ich will nie, nie, nie mehr zurück!" Zögernd legten sich Aurores Hand auf ihre Schultern. Mit der anderen strich sie behutsam über Merits Haare. "Und ich will, dass du nie, nie, nie mehr zurück gehst. Wir bleiben zusammen." "Ja." Merit empfand diese Worte als Schwur; sie nahm sich fest vor, ihn nie zu brechen. Sie umklammerte Aurores Hals und vergrub ihr Gesicht in deren Haaren. "Ja!" Kapitel 11: Tischgespräche -------------------------- "Langsam müssen wir herausfinden, was mit dir geschehen soll." Merit senkte den Kopf tief über den Teller und schaufelte das Essen in sich hinein. "Hm", murmelte sie mit vollem Mund. Verstohlen blickte sie doch noch zu Fassa hinüber. Seine Frau legte ihm die Hand auf den Arm. "Wieso sollte sie nicht eine Weile bei uns bleiben? Sie kann doch sonst nirgends hin, nicht wahr?" Sie blickte sanft in Merits Richtung. Merit fühlte sich unwohl und schluckte schnell herunter, um verlegen zu lächeln. "Gehen wir nach Asturia?", fragte Aurore undeutlich; auch sie hatte den Mund voll. Ihre Mutter warf ihr einen strafenden Blick zu. "Aurore, bitte schlucke, bevor du redest!" "Ja, Mutter", antwortete Aurore treuherzig und stopfte einen weiteren Getreidekloss in den Mund. Ihre Mutter seufzte. "Verzeiht die Frage, aber dann gehen wir nun nach Asturia, Mutter?", fragte Aurélie in höflichem Tonfall. Die Mutter nickte freundlich. "Ja, mein Kind, wie beschlossen werden wir voraussichtlich zwei Wochen bei Hofe bleiben." "Wieso denn? Es versteht sich doch sowieso niemand mit unserer Tante und ihrem Mann!" "Aurore!" Das waren die Eltern. "Aurore, du weisst, ich verbitte mir solche Worte bei Tisch! Rede nicht von Dingen, die du nicht verstehst." "Ja, Vater. Entschuldigt." Merit hatte grosse Augen gekriegt. Ob es bei den Diners der Familie Fassa immer so zu und her ging? Fassa nickte. "Ich will es hoffen, obwohl ich es kaum glaube. Aber wir haben andere Probleme ... Merit, am Hofe solltest du lieber nicht an die grosse Glocke hängen, dass du die entlaufene Tochter des Königs von Fanelia bist ... Du weisst, es, ähm, herrschen bestimmte Unstimmigkeiten zwischen Asturia und Fanelia." Merit nickte. "Natürlich." Fassa kratzte sich am Kopf. "Am besten ist es, du gibst dich als meine Nichte zweiten Grades aus oder etwas in der Richtung. Das ist nicht sehr einfallsreich, aber es wird wohl reichen." Merits Augen glänzten. Sie hatte schon immer Asturia sehen wollen. Wenn sie von Asturia gehört hatte, war es immer im Zusammenhang mit dem Krieg gewesen, aber immer war die Macht, der Reichtum und die Grösse dieses Reiches, vor allem seiner Hauptstadt Pallas gepriesen worden, wo der König residierte. "Wir könnten doch auch etwas länger bleiben", warf Aurélie ein, "In zwei Monden ist der grosse Ball ..." "... Und dann kannst du ein schönes Kleid mit vielen Rüschen und Spitzen tragen, in der Hoffnung, einen Ritter zu bezirzen, was?", höhnte Aurore, "Hast du schon was in Aussicht, Schwesterchen?" Aurélie lief feuerrot an und biss sich auf die Lippe. "Aurore! Entschuldige dich sofort bei deiner Schwester, hast du gehört?" "Entschuldigt, junge Dame", sagte Aurore giftig. Die Mutter wies zur Tür. "Hinaus mit dir. Verlass diesen Tisch." Aurore erhob sich gemächlich, legte ihr Besteck auf den Teller und raffte ihre Röcke. Merit starrte ihr betroffen nach. Fassa schüttelte traurig den Kopf. "Entschuldige diese hässliche Szene. Aurore ist wohl etwas ... Durcheinander." Merit nickte, doch bei sich dachte sie, dass das wohl schon öfters vorgekommen war. Niemand schien besonders beunruhigt. Sie blickte auf ihre Hände. Die Freiheit war wohl doch kein vollkommenes Gut. Sie fand Aurore in einem dunklen Gang, wo sie am Boden sass. Sie kniete sich vor sie hin und Aurore blickte auf. Das gewohnt spöttische Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, doch es sah nicht sehr überzeugend aus. "Und? Bist du erschrocken?" "Nein ...", sagte Merit zögernd, "Ich meine, Ja." Sie setzte sich neben Aurore und lehnte sich an die kalte Wand. Aurore kaute auf ihren Nägeln. "Es ist immer dasselbe. Ich weiss nicht, wovon ich da besessen bin. Aber manchmal beschimpfe ich die Leute, einfach so, weil sie mich irgendwie abstossen." Merit hielt den Atem an. "Deine eigene Schwester stösst dich ab?" Sie hatte bisher noch gar nie mehr als ein Wort mit Aurélie gewechselt, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie abstossend sein konnte. Und man konnte doch nicht die eigene Schwester hassen. Merit konnte nicht einmal ihren kleinen Bruder hassen. Sie schluckte, als sie an ihn dachte. Plötzlich ging ihr auf, wie weit von zu Hause sie schon entfernt war. Und dass es keine Möglichkeit gab, zurückzukehren. Eine Weile erschreckte sie dieser Gedanke, doch sie vergass ihn auch wieder, als Aurore antwortete: "Ich weiss, man soll vor den Göttern seine Familie ehren, aber ... Oh, Merit, es ist einfach grässlich, ihr auch nur in die Augen zu sehen! Sie hat wunderbare Manieren und sie ist schön, sie versteht es, sich zu kleiden, sie kann wunderbar reden und scheint belangloses Geplänkel zu lieben und wünscht sich nicht mehr, als einen Mann zu heiraten, ihren Haushalt zu haben und Kinder zu kriegen. Sie ist eine ebenso normale wie perfekte junge Dame. Und ich, was bin ich?" Sie machte eine verächtliche Geste, als wolle sie sich selbst fortwischen. Merit schüttelte den Kopf. "Aber du bist doch auch ganz wunderbar! Und wenn du keine Dame bist, dann etwas anderes!" Aurores Augen leuchteten kurz auf. "O ja, weisst du was? Ich könnte die Flotte meines Vaters übernehmen. Wir hatten zwar nur Unterricht in den Künsten der Schrift, aber ich habe mir selbst etwas Mathematik beigebracht und stell' dir vor, ich hätte meine eigene Flotte und könnte ganz Gaia durchfliegen ..." Ihr Mund nahm einen harten Zug an. "Aber das darf ich nicht, ich bin nur eine Tochter. Meine Aufgabe ist es, so zu sein wie Aurélie, damit ein Mann mich begehrt. Aber ich bin nicht so und jetzt werde ich nicht einmal einen Mann finden." Aurores Stimme klang so verbittert, dass Merit nichts darauf zu antworten wusste und sie schwieg betreten. Aurore drehte den Kopf in ihre Richtung. "Wieso sagst du nichts?" Merit hob die Schultern. "Ich wüsste nicht, was." "Weisst du", sagte dann Aurore, "Vielleicht sollten wir einen Ort suchen, wo das alles anders ist. Wo jeder sein kann, was er will!" "Diesen Ort gibt es nicht." "Doch, den gibt es ganz sicher, das sagte ich dir doch schon einmal! Wir müssen ihn nur suchen." Ein schieres Glücksgefühl durchströmte Merit, als Aurore von einem 'Wir' sprach. Sie musste wider Willen lächeln. "Und wie sollen wir wissen, wo wir suchen sollen?" Aurore verzog das Gesicht. "Siehst du, genau das ist das Problem von uns Menschen: wir sehen nie über unsere eigene Nasenspitze heraus." Instinktiv schielte Merit zu ihrer Nasenspitze. Sie konnte sie nur andeutungsweise erkennen und ein unangenehmes Gefühl machte sich um ihre Augen breit. Sie kniff sie zusammen und schüttelte den Kopf. "Dabei ist es viel einfacher, über sie hinaus zu schauen", knüpfte sie die Redewendung weiter. Doch Aurore hörte ihr nicht zu. Sie blickte starr in die entgegengesetzte Richtung und dann zog sie Merit in eine kleine Besenkammer. "Was soll das?", fragte Merit erbost. "Pssst!", gebot ihr Aurore und Merit konnte im Halbdunkel erkennen, wie sie ihr Ohr mit gerunzelter Stirn an die Tür presste. "Hörst du was?" Aurores Gesicht entspannte sich. "Nein. Tut mir leid, ich dachte, ich höre was ..." "Du belauschst gerne Leute?" Aurore schüttelte den Kopf. "Nein, aber wenn ich mich schlecht benommen habe, reden meine Eltern immer über uns - ich meine, über mich und meine Schwester. Ich dachte, sie sind es vielleicht." Merit schüttelte zweifelnd den Kopf. "Ich glaube, du bist etwas ... überreizt!" Aurore funkelte sie wütend an. "Ich bin nicht überreizt!" "Nein, natürlich nicht", beeilte sich Merit zu sagen. "Sei nicht wütend, ich hab's doch nicht so gemeint ..." "Schon gut", erwiderte Aurore ruhig. Merit blickte sich um. "Was machen wir dann noch hier? Lass uns gehen." Doch Aurore wich keinen Wank von der Tür und starrte sie nur an. "Was ... Was soll das, Aurore?", fragte Merit nervös. "Komm schon, mach die Tür auf." Aurore aber blickte sie nur weiter an. "Magst du mich eigentlich?", fragte sie dann leise. Ihre Augen waren so gross und fragend wie Kinderaugen. "Was soll das, Aurore?", fragte Merit verzweifelt. "Natürlich mag ich dich, aber hör auf, mich so anzusehen und lass uns wieder wohin gehen, wo es heller ist ... Bitte!" Aurore erwachte plötzlich und schien überrascht von sich selbst. "Tut mir leid. Keine Ahnung, was in mich gefahren ist!" Sie öffnete die Tür und trat beiseite. "Lass uns gehen." Auf dem Gang gingen sie eine ganze Weile nebeneinander her, ohne ein Wort zu sagen. Merit hatte ihren Oberkörper mit ihren Armen umschlungen; sie fröstelte, obwohl es nicht kalt war. "Ich gehe schlafen", sagte sie dann. Aurore nickte. "Und du?" "Ich weiss nicht", antwortete Aurore. "Ich glaube, ich kann noch nicht schlafen, aber ich kann ja noch mitkommen, damit du dein Zimmer findest." "Danke." Merit war wirklich froh; sie hätte sich wohl in den fremden Gängen verirrt. Ausserdem gab es hier, im Gegensatz zu ihrem Heimatschloss, fast keine Dienstboten, es sei denn, sie verständen es ausgezeichnet, sich unsichtbar zu machen. Es war niemand da, den man nach dem Weg fragen konnte. Aurore jedoch führte sie zielstrebig durch das Gewirr von Abzweigungen und sie waren bald wohlbehalten bei Merits Zimmer angekommen. "Gute Nacht, Merit." "Aurore ..." "Ja?" "Ich mag dich wirklich, weisst du." Sie bekam die erhoffte Antwort: "Ich dich auch, Merit." Sie umarmten sich, flüchtig, aber aufrichtig. Keine wusste von der Anderen, wieviel dieser das Eingeständnis bedeutete. Kapitel 12: Fremde Welt ----------------------- Pallas war die wundersamste Stadt, die Merit je gesehen hatte. Sie staunte schon, als sie beim Anflug nur von weitem auf die hellen Dächer herunterblicken konnten, die sich mit den in der Sonne glitzernden Kanälen abwechselte. Alles war grösser, prunkvoller und majestätischer als die Dinge in ihrer Heimat. Merit begriff, dass ihr Vater Macht besass; Asturia jedoch den Reichtum. Dies musste mit ein Grund für die so lange andauernde Fehde sein, überlegte sie. War Fanelia die stärkste Streitmacht auf dem Lande, so bestach Asturia durch seine gigantische Flotte zur See; kein Wunder, Fanelia war ein Binnenland, wenn es auch einige Küstenreiche erobert hatte, Asturia war zum grossen Ozean hinaus gelegen, den Merit bis dahin nur aus Geschichten gekannt hatte. Er war gross, viel grösser als der grösste See, den sie je gesehen hatte und am Horizont konnte man nicht einmal die Spur eines Ufers erkennen. Merit hatte gehört, dass das grosse Wasser endlos sei. Man konnte jahrelang segeln, ohne an das Ende zu kommen und niemand wusste, ob er irgendwo aufhörte. Die, die es vielleicht wussten, waren nie zurückgekehrt. Doch hier schien der Ozean wenig furchteinflössend. Still lag er da in der Sonne. Von so weit oben konnte man glauben, seine Oberfläche sei völlig glatt und nicht einmal von Wellen gekräuselt. Pallas, diese fremde Stadt öffnete sich ihm. Merit dachte, der riesige Hafen, in dem die grossen Schiffe und kleinen Boote ankerten, ein- und ausfuhren, wirkte wie eine vertrauensvolle Geste dem Meer gegenüber. Doch Merit wusste, dass die harmlose Friedlichkeit trog; im Falle eines Angriffs konnten die Stadttore blitzschnell verschlossen werden, der Hafen verriegelt und gesichert und auf die Zinnen der hohen Mauer, die von hier oben gar nicht so hoch wirkte und die die Stadt umgab, traten Bogenschützen und Soldaten, die jeden Angreifer mit heissem Pech und Pfeilen in die Flucht trieben. Jedenfalls hatte das Merits Vater behauptet, wenn er zu Tische von den Schlachten erzählte - was selten genug vorkam. Und auch wenn Asturia und Fanelia erbittert verfeindet waren, so musste doch einer dem anderen zur Ehre gereichen - es kam ja nicht von ungefähr, dass in der ganzen langen Kriegszeit noch keiner der beiden es vermocht hatte, über den anderen zu triumphieren. Egal, welche unehrenhaften Bündnisse Fanelia und Asturia eingegangen waren, sie waren sich immer gegenseitig voraus, ein Zustand, den gar nicht beständig sein konnte, da er unmöglich war. Aber beide Parteien waren besessen, so schien es Merit. Sie wusste, dass ihr Vater alles daran setzte, den nächsten Schritt der Asturianern schon zu vereiteln, wenn diese ihn wohl noch nicht einmal geplant hatten. Sie war sich sicher, dass es sich auf astorianischer Seite genauso verhielt. Plötzlich durchlief eine Bewegung das mächtige Schiff und Merit wäre beinahe hingefallen. Sie blickte durch das dicke Glas hindurch. Sie sanken. Das Schiff setzte zur Landung an. Doch das Schiff kam nicht sogleich am Boden auf. Im Sinkflug überflogen sie die Stadt und als das Schiff wendete, erkannte Merit endlich ihr Ziel, den Königspalast. Hatte sie vorher gestaunt ob der Stadt, so wurde diese von dem riesigen Palast bei weitem in den Schatten gestellt. Der Palast, indem sie aufgewachsen war, machte vielleicht gerade mal den dritten Teil dieses riesigen Gebildes aus. Und auch hier stellte Asturia seinen Reichtum schamlos zur Schau. Alles war reich verziert und geschmückt, Giebel, Türme, Kuppeln und verschlungene Ornamente waren liebevoll angeordnet zu einem kunstvollen Muster aus Gold, Silber, schneeweissem Marmor und mächtigen, sorgsam behauenem Granit. Doch so schön und kunstvoll dies alles auch war, Merit wurde das Gefühl nicht los, dass einen einzigen, riesigen Haufen Protz und Prunk vor sich zu haben. Wollten die Asturianer mit ihren roten Giebeldächern und weissen Mauern sagen, dass sie die Welt, in der der Krieg tobte, nicht bemerkten? Oder wollten sie damit ein Zeichen setzen, das jedem ihre Macht demonstrierte? Das Schiff war jetzt über einem riesigen, leeren Steinplatz und Merit erkannte, dass es ein Landeplatz sein musste, wie bei ihnen zu Hause. Nur grösser, wie alles hier. "Wo ist denn der Rest der Flotte?" "Die sind im Hafen gelandet. Es gibt dort Hangars für Flugschiffe." Merit runzelte die Stirn. Aurore schien es zu bemerken, denn sie sprach weiter: "Hier in den Palast dürfen nur die Gäste. Ihr Gefolge, sofern dieses nicht unbedingt benötigt wird, ist in der Stadt untergebracht." Sie setzte einen todernsten Gesichtsausdruck auf. "Aus Sicherheitsgründen ... Was das auch immer heissen mag. Vielleicht, damit die fremden Männer nicht die Mägde verführen." Merit rang sich ein Lächeln ab. "Oder, damit die königliche Familie nicht im Schlaf niedergestochen wird." Aurore lachte kurz auf. "Das glaube ich eher weniger." "Weshalb denn?" Aurore zuckte die Schultern und sagte nichts. Merit vergass die Frage und blickte zu den hohen Türmen und Dächern auf, die unendlich weit oben zu sein schienen. Sie dachte an ihr Zuhause - wenn es dies denn noch war. Die Burg von Fanelia war eine gut gesicherte Festung, uneinnehmbar trotzte sie möglichen Feinden und sie bot ihren Bewohnern Sicherheit und Schutz. Doch angesichts dieses Schlosses, das von Marmor und Edelstein nur so zu glitzern schien, dessen Zinnen die Wolken zu kitzeln schienen, war die Stätte ihrer Kindheit nicht mehr als eine Hütte. Doch Merit fragte sich auch, wie ein solches Schloss verteidigt werden konnte. Sie hatte schon oft vom Reichtum Asturias gehört und sie wunderte sich jetzt, weshalb nicht längst ein feindliches Heer oder gar die Räuber, die überall, sogar in Fanelia, die Strassen unsicher machten, diese Festung überrannt und an sich gerissen hatten. Das konnte nicht schwer sein. Prunk, so hatte man Merit immer gelehrt, war ein Zeichen für Schwäche. Schönheit ist leicht einzunehmen. Und die Marmortürme und die von der Sonne beschienen Dächer schienen wirklich, als würden sie bei der leichtesten Berührung in Stücke zerfallen. Sie fragte Aurore. Diese lachte nur und sagte: "Nur weil du sie nicht sehen kannst, heisst das nicht, dass es hier keine Verteidigungsanlagen gibt. Ganz Pallas ist von einer hohen Mauer umgeben, die Tag und Nacht bewacht ist. Glaubst du, es kommt von ungefähr, dass nicht einmal dein verehrter Herr Vater diese Stadt je eingenommen hat?" Merit kniff die Augen zusammen. "Und Asturia hat auch niemals Fanelia eingenommen!" Aurore wurde ernst. "Natürlich", räumte sie geknickt ein, "Tut mir leid." "Mir auch", erwiderte Merit. Sie war von sich selbst verwundert. Sie musste feststellen, dass sie mit einem Mal zu beginnen schien, ihren Vater und all die Dinge, die sie früher gehasst hatte, zu verteidigen. Ihre Heimat war doch immer noch Fanelia, wurde ihr schmerzlich bewusst, auch wenn es keine schöne Heimat war. Doch hier war sie völlig unter Fremden, weg von Zuhause und eigentlich - auch wenn sie neben Aurore stand - völlig allein. Allein das war schlimm genug, doch dazu hielt sie sich in einem Land auf - nein, im Sitz des Königs dieses Landes - wo man sie wohl, wüsste man, wessen Tochter sie war, sofort ... Ja, was? Plötzlich spürte sie, wie jemand sie am Arm zog. Aurore. "Sag mal, willst du hier Wurzeln schlagen? Oder kommst du mit, in die Gemächer, die uns zugewiesen werden, wo wir uns waschen können, essen und schlafen?" Merit lachte. "Natürlich! Ich brauche endlich andere Kleider. Und etwas zu trinken ..." "Und 'was zu essen, Süssigkeiten, ein Bad und alles, aber beeil' dich bitte mit der Aufzählung, sonst geh' ich alleine." Merit beeilte sich. Kapitel 13: Entscheidungen -------------------------- Von Wind konnte man nicht sprechen; doch Merit hatte noch nie eine Meeresbrise gespürt, sie fühlte sich etwas seltsam, wenn ihr die salzige Luft leicht ins Gesicht blies. Dennoch war sie gänzlich gebannt von der grossartigen Aussicht von den östlichen Zinnen des Palastes, von denen aus man den ganzen Hafen und den Grossteil der Stadt überschauen konnte und vor der Stadt das endlose grosse Wasser, das still im Licht der Sonne vor sich hin glitzerte und funkelte. "Schön, nicht?" Aurores Stimme verriet eine gewisse Langeweile. Als hätte sie das Aufseufzen in dieser überhört, nickte Merit eifrig. "Es sieht aus wie ein See ohne Ende. Ich habe noch niemals so viel Wasser auf einem Haufen gesehen." Aurore lachte über diesen Ausdruck. Merit war ein wenig gekränkt. "Du findest du mich wohl albern." Aurore schüttelte den Kopf. "Es ist nur so ... Du wunderst dich auch nicht darüber, dass es so viel Luft gibt, wenn du dein ganzes Leben lang geatmet hast." Merit hob die Schultern und fuhr mit den Fingern den Steinkanten der Mauer nach. "Ich bin weniger herumgekommen als du, das stimmt schon." Aurore boxte ihr sanft in die Seite. "Du wirst mich sicher noch einholen, was das anbelangt!" "Kommt darauf an, wie lange ich bei euch bleiben kann", warf Merit düster ein. Aurore schüttelte ihre blonden Locken, wie, um diesen Gedanken abzuschütteln. "Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Das schwöre ich!" Merit blickte Aurore von der Seite an. Sie fühlte ein seltsames Gefühl in sich aufsteigen, wie sie es in den letzten Tagen oft gespürt hatte. Ihr wurde warm, doch gleichzeitig kroch eine seltsame Bedrückung ihre Kehle hinauf. Wann immer das andere Mädchen solche Worte sprach, die eine für Merit irgendwie verwirrende Zuneigung beinhalteten, fühlte sie sich unruhig. Sie konnte nicht glauben, dass sie jemandem in so kurzer Zeit so wichtig geworden war, während sie ihrem eigenen Vater gleichgültig war. Sie wollte sich bedanken, für diese Worte, gleichzeitig jedoch hatte sie Angst davor, ausgelacht zu werden. So sehr sie Aurore auch liebte - mochte, korrigierte sie sich in diesem Augenblick selbst -, so fürchtete sie auch. Ein abfälliges Lachen von ihr genügte und Merit kam sich klein und dumm vor. Aurore mit ihren langen, blonden Locken, den veilchenblauen Augen, dem kleinen Mund und der schlanken, festen Figur war so schön, sollte sie sich noch so undamenhaft benehmen, konnte sie doch noch so sehr reden wie ein Junge, ihre Röcke hochraffen und darunter Hosen tragen. Merit dagegen, was war Merit? Sie war nur ein dünnes kleines Mädchen ohne jegliche Anziehungskraft, genau so undamenhaft wie Aurore aber nicht so schön wie diese. Die Tochter eines Tyrannen, die ihre Herkunft in allen Ländern, die ihrem Vater nicht untertan waren, nicht preisgeben durfte und sie hatte nicht einmal eine Mutter, die sie anstelle des Vaters nennen konnte. Und doch schien Aurore sie zu mögen. Trotz allem hatte Merit das Gefühl, Aurore wichtig zu sein, wenngleich diese sich manchmal auf Kosten ihrer Unwissenheit belustigte, hatte sie das Gefühl, dass dieses Mädchen wollte ... dass sie bei ihr blieb. "Hallo?" Die Hand, mit der Aurore vor Merits Gesicht herumfuchtelte, beendete ihre Überlegungen abrupt. Verwirrt blinzelte sie und stiess Aurores Hand sachte fort. "Entschuldige. Ich bin kurz abgeschweift." "Du schweifst oft ab. Woran denkst du nur?" Merit runzelte die Stirn und blickte fragend in die Augen ihrer Gegenüber. Diese hob die Brauen und sagte tadelnd: "Du denkst viel zu viel nach! Wieso bist du nicht einfach glücklich, hier zu sein?" "Ich bin doch glücklich!", wehrte Merit heftig ab. "Es ist nur immer noch wie ... ein Traum, verstehst du? Vor wenigen Tagen war alles so einfach ... Oder schwer, je, wie man es anschaut. Und jetzt ..." Sie brach ab. Sie wusste gar nicht, was sie sagen sollte, sie konnte nicht einmal in Gedanken in Worte fassen, was sie fühlte, sie war sich nicht einmal ganz sicher, ob sie überhaupt fühlte, was sie fühlte - so unglaublich das auch klingen mochte. "Aber ich bin hier fremd, verstehst du? So ungern ich auch Zuhause war, es war doch ... Nun ja, es war Zuhause." "Und du wärest jetzt lieber dort?", beendete Aurore den Satz fragend. "Nein!", widersprach Merit gereizt. "Was dann? Ich versteh' dich wirklich nicht. Merit, du musst dich entscheiden, was du willst. Und denk' dran, dass es nicht selbstverständlich ist, dass du dies auch tun darfst!" Merit nickte und blickte wieder zur See hinaus, sie sah inzwischen jedoch nicht mehr die Wellen und war nicht mehr fasziniert von der Weite. Viel eher machte die schiere Unendlichkeit der Welt ihr mit einem Male Angst. Doch sie riss sich zusammen. Was war aus ihrem Mut geworden? Hatte sie nicht das, was sie immer gewünscht hatte? Weshalb zweifelte sie nun plötzlich? Sie blinzelte, um all die Fragen loszuwerden und drehte sich dann wieder zu Aurore an, die sie erwartungsvoll anblickte. "Ich habe mich schon längst entschieden, ich habe mich an dem Tag entschieden, als euer Schiff in Fanelia gelandet ist!" Aurore lächelte. Ihr Blick verriet, dass sie das schon gewusst hatte. Merit kam der Gedanke, dass es vielleicht nur darum gegangen war, sie selbst dazu zu bringen, einzusehen, wie sie dachte. Endlich war sie sich auch sicher, dass sie tatsächlich fühlte, was sie fühlte. "Aurore." "Ja?" "Denkst du, wir sollten hineingehen?" Aurore grinste. "Ich denke schon." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)