Der Garten von Swanlady (Gelb wie Löwenzahn) ================================================================================ Kapitel 1: Der Garten --------------------- Ihr Kleid war gelb. Gelb wie der Löwenzahn, der vor ihren Füßen ausgebreitet war, wie ein Teppich. Sie tanzte durchs weiche Gras, lachend und sich im Kreis drehend. Dabei flog der sanfte Stoff ihres gelben Kleides durch die Luft, bot mir den lieblichen Anblick ihrer schlanken, milchweißen Beine, katapultierte meine Gedanken innerhalb weniger Sekunden in Sphären, die verboten gehörten. Sehnsüchtig legte ich meine Hand an die Glasscheibe meines Fensters und verfluchte diese unsichtbare Barriere, die zwischen ihr und mir bestand. Gebannt beobachtete ich, wie die junge Schönheit sich hinab beugte, eine Blume pflückte, diese zu ihrem bereits beachtlich großen Blumenstrauß hinzufügte und dann weitereilte. Irgendwo in der Ferne ertönte der Motor des Rasenmähers, doch ich scherte mich nicht darum. Es war mir egal, dass sie die Tochter meines Gärtners war, dass sie so unschuldig war, dass meine Gedanken nichts weiter als die einer Perversen waren, die vor lauter Einsamkeit und unerfülltem Verlangen nicht mehr vernünftig denken konnte. Seit ich sie das erste Mal gesehen hatte, hatte sie meinen Verstand vollkommen eingenommen, sodass ich das Gefühl hatte, nur noch für sie zu existieren. Es war erbärmlich, wie verfallen ich ihr war. Ein Mädchen, das mich im Leben noch nie gesehen hatte, war meine Göttin. Ich war bereit aus dem Fenster zu springen, hier und jetzt, sollte mein Name auch nur ein einziges Mal über ihre süßen Lippen rollen. In meinem Kopf spielten sich Szenen ab, für die ich mich hassen wollte. Wie oft hatte ich sie in meinen Gedanken bereits aus ihrem hübschen Sommerkleid geschält, ihre sanfte Haut berührt und mein Gesicht in ihrem Meer aus blondem Haar vergraben? In meiner Vorstellung roch ihr Haar nach eben jenen Blumen, für die sie solch eine Leidenschaft zeigte. Sie pflückte jede einzelne, die sie ergreifen konnte, als wolle sie die Pflanzen vor ihrem grausamen Schicksal bewahren, vom Rasenmäher überrollt zu werden. Sie zeigte ihnen Barmherzigkeit, lächelte jede mit einem warmen Funkeln in den Augen an und brachte jedes Mal mein Blut erneut in Wallung. Ich erwischte mich bei dem Gedanken, dass ich eifersüchtig auf diese Blumen war. Gutgütiger, es ging mit mir zu Ende! Ich hatte vollkommen den Verstand verloren und es sah nicht danach aus, als würde ich bald wieder zur Besinnung kommen, denn jedes Mal, wenn sie für ein paar Tage nicht mit ihrem Vater zur Arbeit erschien – um sich der ehrenvollen Rettung meiner Gänseblümchen im Garten zu widmen – war ich davon überzeugt, dass ich meine Emotionen wieder im Griff hatte, doch kaum taten ihre nackten Füße wieder einen Schritt auf das hoch gewachsene Gras, saß ich an meinem Fenster und konnte die Augen nicht von ihr nehmen. Ich war ein hoffnungsloser Fall. So sehr mich ihr Anblick auch verzückte und meine Fantasie zu einem einzigen Strudel aus Lust und Begehren werden ließ, so litt ich gleichzeitig Höllenqualen, wann immer sie ihren Kopf hob und verdächtig in meine Richtung spähte. Sie konnte mich nicht sehen, das wusste ich – und doch zuckte mein Körper immer wieder verräterisch zusammen, als hätte sie mich auf frischer Tat ertappt, denn das was ich hier tat, war abgrundtief falsch. Sie war jung, sie war schön, sie war unberührt. Mit meinen Gedanken befleckte ich ihre Seele, auch wenn sie nichts davon wusste. Jeder einzelne Gedanke an sie versetzte mir einen Stich tief im Innern meines Herzens, denn ich wusste, dass sie nie mir gehören würde, dass zwischen uns ein unüberwindbarer Abgrund lag und ich nicht das Recht hatte, auch nur nach einer Brücke zu suchen. Sie war dort drüben, hinter dieser millimeterdicken Fensterscheibe, sicher. Sicher vor mir und den Dingen, die ich mit ihr tun würde, sollte diese Grenze auch nur für eine Sekunde verschwinden. Es war gut, dass ich mich nicht traute, diese restliche Kontrolle, die ich noch über mich hatte, aufzugeben. Ich blieb hartnäckig in meinem Haus, ging kein einziges Mal in den Garten, um einen Blick aus der Nähe auf sie zu erhaschen. Ich hatte ohnehin das Gefühl, dass ich jedes bisschen ihrer Haut bereits kannte, mit dem Blick studiert hatte, sodass sich jedes Detail in meine Netzhaut eingebrannt hatte. Ich blieb vor dem Fenster sitzen, bis sie aus meinem Blickfeld verschwand und ein leeres Gefühl in meiner Brust hinterließ. Dieses Gefühl zwang mich jedes Mal dazu, meine guten Vorsätze zu vergessen und ehe ich mich versah, glitt meine Hand bereits in meinen Schoß, um mich von der Pein ihres Verschwindens abzulenken. Dieses Mal jedoch wurde ich unterbrochen. Erschrocken sprang ich auf, als das Türklingeln ertönte und ballte die Hand, die eben noch unter meinem Rock gewesen war, zu einer Faust. Ich war niemand, der oft Besuch bekam und ich vermutete, dass es mein Gärtner war, der mich darüber informieren wollte, dass seine Arbeit für heute getan war. Er war ein höflicher Mann, immer freundlich und zuvorkommend und wann immer er mich mit einem leichten Kopfnicken begrüßte, brodelten Schuldgefühle in mir auf wie in einem Hexenkessel. Mit der Hoffnung, dass meine Gesichtsfarbe keine rote Nuance zeigte, strich ich meine Kleidung glatt, obwohl sie keinerlei Falten aufwies und begab mich langsam in Richtung Tür. Ich musste das Bild des Mädchens aus meinem Kopf bekommen, noch bevor ich nach der Klinke griff, sonst war dies mein Ende. Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Dies half meinem Pulsschlag sich zu beruhigen, aber keinesfalls die Bilder aus meinem Kopf zu verbannen. Sie waren fast schon so normal wie das Essen und Schlafen für mich. Ich gab es auf, denn all meine Anstrengungen waren vergebens und öffnete die Eingangstür. Die Fassung, die ich eben mit Mühen noch vom Grund meiner Moral aufgekratzt hatte, verabschiedete sich genau in dem Moment wieder, in dem ich zum ersten Mal aus nächster Nähe das engelsgleiche Gesicht meiner schlaflosen Nächte erblickte. Es verschlug mir die Sprache und ich wusste, dass ich wie eine Närrin, mit geöffnetem Mund und entgleisten Gesichtszügen dastand, obwohl sich dies jenseits meiner Wahrnehmung abspielte, während sie neugierig zu mir hinauf blickte, den Kopf schief legte und ein paar Mal blinzelte. „Wir sind für heute fertig“, teilte mir ihre zuckersüße Stimme mit. Es war absolut hinreißend, dass sie das Wort wir benutzte, denn das bestätigte nur meine Vermutung, dass sie sich selbst als Retterin der Blumen sah. Ich hatte große Lust Gänseblümchen in ihr Haar zu flechten, damit sie zu meiner ganz persönlichen Fee werden konnte. Meine bebenden Lippen öffneten sich und für einen Augenblick kämpfte ich mit mir selbst, mit dem Engel auf meiner rechten Schulter und dem Teufel auf meiner linken, die mir beide vollkommen widersprüchliche Ratschläge gaben. Ich musste sie warnen, denn meine Nähe stellte für sie eine Gefahr dar, von der sie keine Ahnung hatte. Gleichzeitig wollte ich aber nichts sehnlicher, als ihr ein Glas Saft anzubieten und mich noch für ein paar Minuten länger an ihrem Anblick zu laben. Meine Augenlider zuckten, als ich die viel zu warme Sommerluft tief einatmete, um mich zu beruhigen. Sicherheitshalber krallte ich meine Finger so fest es ging in das massive Holz der Eingangstür. „Ist in Ordnung, Liebes“, presste ich hervor, gebrauchte absichtlich diesen Kosenamen, um mich daran zu erinnern, dass sie viel zu jung für mich war. Obwohl zwischen uns wohl kaum mehr als fünfzehn Jahre liegen konnten, hatte sie es nicht verdient von jemandem wie mir begehrt zu werden. Ein junges Mädchen wie sie sollte von Jungen in ihrem Alter umworben werden, nicht von einer Frau, die bereits Witwe war und ein einsames, verbittertes Leben führte. Manchmal fragte ich mich, ob es nur ihre Jugend und Unschuld waren, die mich faszinierten, aber jetzt wusste ich, dass unerreichbare Träume einfach meine Spezialität waren und rein gar nichts mit dem Begehren zu tun hatten, das ich für diese Schönheit empfand. Einmal mehr nahmen meine hungrigen Augen sie ins Visier, allerdings darauf bedacht, das zerstörerische Feuer daraus zu verbannen. Ich durfte nicht. Ich durfte einfach nicht! „Ist alles in Ordnung?“, hörte ich ihre sanfte Stimme fragen, ehrlich besorgt. Ich wollte schreien und gleichzeitig einfach in Ohnmacht fallen, damit ich das Leiden meines Körpers – und das wohl viel schlimmere meiner Seele – nicht mehr ertragen musste, doch ich wagte es nicht einmal zu blinzeln. Ihr Anblick war viel zu verführerisch, viel zu kostbar. Ich wollte jeden Zentimeter ihres Körpers, bedeckt oder unbedeckt, für immer in meinem Gedächtnis einsperren. Wenn nicht jetzt, dann wann? Sonst durfte ich sie doch nur aus der Ferne beobachten. Hatte ich mir nicht also einen kurzen, genaueren Blick verdient? Als der Gedanke durch meinen Kopf huschte, wurde mir schlecht. Ich hatte kein Recht, dieses schöne Wesen zu missbrauchen, indem ich aus ihr das Objekt der Begierde einer einsamen Frau machte. Nur mit großer Mühe brachte ich meinen steifen Nacken dazu, ein Kopfnicken anzudeuten. „Es ist nur so schrecklich heiß hier“, hörte sich mich sagen, mit einem aufgesetzten Lächeln, das die sachten Fältchen um meine Augen herum heraufbeschwor. Ich hasste sie, aber das Mädchen schien sie nicht zu bemerken, schien durch meine Hässlichkeit hindurch zu blicken, als könnte man sie nicht an jeder einzelnen Furche meines Gesichts erkennen. Das Äußere spiegelte das Innere wider, ich wusste es und doch fürchtete sie sich nicht vor dem, was sich unter meiner Haut befand. Doch wie lange konnte ihre Unschuld sie vor der bitteren Realität schützen? „Das stimmt“, gab die Schönheit mir Recht und wischte sie demonstrativ über die Stirn, um die winzigen Schweißperlen loszuwerden. „Aber Wärme ist besser als Kälte.“ Mit dieser simplen Aussage lockerte sie etwas in mir; etwas, das niemals hätte gelockert werden dürfen. Die brüchige Konstruktion meines Seins war im Begriff zusammenzustürzen und schnell wandte ich den Blick ab, um ihr nicht zu zeigen, wie viel Wahrheit in ihren Worten lag. Sie war warm, ich war kalt. Sie war ein so viel besserer Mensch, als ich es je sein würde. Ich wusste nicht mehr, ob der unangenehme Schwindel in meinem Kopf wirklich auf die extremen Temperaturen zurückzuführen war, oder ob mein Wunsch in Erfüllung gehen und ich wirklich ohnmächtig werden würde. Sie musste mich für verrückt halten. Ich stellte mir ihren angewiderten Blick vor, wie sie mich ansah, als wäre ich eine dreckige Made und hoffte, dass mir dieses Bild die Selbstbeherrschung zurückgeben würde, aber auch diese Strategie versagte. Sie machte das Ganze sogar noch schlimmer, denn nun breiteten sich der Schmerz und die Angst, die mit dieser Vorstellung einhergingen, in mir wie ein Lauffeuer aus. Es reichte ein Blick in ihr Gesicht, um den Sturm sofort wieder zu beruhigen. Ich sah, dass sie mich neugierig beobachtete und mein Körper versteifte sich augenblicklich. Wieso ging sie nicht? Die Frage blieb unausgesprochen, aber nicht aus Höflichkeit, sondern weil der masochistische Teil meines Ichs noch nicht loslassen wollte. Er wollte sie noch ein paar Augenblicke hier behalten, den Moment des Abschieds hinauszögern. Und dann tat ich etwas, was auf verquere Weise das mutigste war, das ich jemals für mich selbst getan hatte – auch wenn das natürlich keine Rechtfertigung war. Ich fragte sie, ob sie etwas zu trinken haben wollte. Mit angehaltenem Atem wartete ich auf ihre Antwort, spürte, wie der Schweiß meinen Rücken hinabfloss. Das dankbare Lächeln auf ihren vollen Lippen war mir diesen törichten Schritt wert. „Vielen Dank, aber ich denke, dass ich jetzt gehen muss.“ Ich stellte mir vor, dass ehrliches Bedauern in ihrer Stimme lag. Oder tat es das sogar tatsächlich? Manchmal fiel es mir schwer, die Wirklichkeit von meinen Wünschen zu unterscheiden, weil diese zu tief in mir verankert waren. Für mich gab es kein Zurück mehr, aber in meinen Augen spielte es keine Rolle mehr, ob ich, ein menschliches Wrack, am Boden eines Traums oder am Boden der Realität lag und verrottete. Sie hatte die Chance, meinen Klauen zu entkommen und sie tat es, was mich gleichzeitig glücklich und traurig stimmte. Die gute Seite war jedoch zu schwach, um die Enttäuschung zu übertünchen und so schaffte ich es auch nicht mehr, mir ein verständnisvolles Lächeln aufzuzwingen. Mit blankem Gesichtsausdruck sah ich sie an, rührte mich nicht vom Fleck, bis sie, von Unsicherheit und zögernden Bewegungen begleitet, auf dem Absatz kehrtmachte. „Auf Wiedersehen“, verabschiedete sie sich und machte einen kleinen Knicks, der erneut an meiner Fassade rüttelte. Meine Mundwinkel verzogen sich gequält, als sie die Tür hinter sich zuschlug und mich in dem stickigen Flur zurückließ. Ich sank auf den staubigen Teppich, presste meine Hände fest gegen meine Brust, als würde ich mein Herz festhalten wollen, das mir jeden Augenblick aus dem Körper zu springen drohte. Das schwere Pochen konnte ich nur allzu deutlich hören, obwohl mein Trommelfell alle anderen Geräusche um mich herum ausblendete – das leise Knarren des Fußbodens unter mir, das Summen der Fliege, die wohl zusammen mit meiner Angebeteten hereingekommen war. Alles war still um mich herum, nur mein Gewissen schrie mich an, zusammen mit dem schrecklichen Gefühl, etwas Furchtbares getan zu haben. Der kühle Wind, ein Bote des aufkommenden Gewitters, holte mich sanfter aus dem Schlaf, als die Hitze der letzten Tage. Irritiert öffnete ich die Augen, mich fragend, was mich aufgeweckt hatte, ehe ich die wild flatternden Vorhänge entdeckte, die ein Geräusch von sich gaben, als befände sich ein Schwarm Fledermäuse in meinem dunklen Zimmer. Eine Gänsehaut kroch meine Arme empor, denn eine bedrückende Vorahnung schlich sich in mein Unterbewusstsein, auch wenn ich nicht präzisieren konnte, wovor ich mich plötzlich zu fürchten begann. Schon im nächsten Moment saß ich kerzengerade im Bett, atmete schwer und lauschte in die Dunkelheit hinein, doch nichts geschah. Leise kletterte ich aus dem Bett, schlich hinüber zum Fenster, um es zu schließen, als ich sie erblickte. Mitten in der Bewegung hielt ich inne und meine Augen weiteten sich erschrocken. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Meine Prinzessin tanzte durch den Garten meiner Nachbarin. Obwohl nur ein kleiner Teil davon vom Mondlicht beschienen wurde, so konnte ich dennoch mit absoluter Sicherheit sagen, dass es sich um sie handelte. Diese Silhouette hätte ich selbst in vollkommener Finsternis erkannt. Sofort pressten sich meine verschwitzten Hände gegen die Scheibe, hinterließen feuchte Spuren darauf, doch es war mir egal. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, meinen Blick nicht eine Sekunde von ihr weichen zu lassen. Mit Faszination beobachtete ich, wie sie sich drehte, die Haare im Wind flattern ließ, um anschließend ins Gras zu fallen und dort reglos liegenzubleiben. Erschrocken öffnete ich den Mund. War ihr etwas passiert?! Nein, sie bewegte sich wieder. Erleichtert atmete ich aus, bereute es im nächsten Augenblick jedoch gleich wieder, weil mir nun die Luft zum Atmen fehlte. Sie wälzte sich in den Blumen, die sie heute Vormittag noch so tapfer verteidigt hatte. Auch wenn dieser Anblick Dinge in mir auslöste, die meinen Verstand benebelten, so konnte ich mein Bauchgefühl dennoch nicht ignorieren: irgendetwas stimmte nicht, irgendetwas war nicht richtig. Ehe ich mich versah, hatte ich mich vom Fenster abgewandt. Meine Füße hatten sich selbstständig in Bewegung gesetzt, trugen mich aus meinem Zimmer, die Treppe hinunter und hinaus in den Garten. Der Wind zerrte an meinem Nachthemd, legte mehr Haut frei, als mir lieb war, aber dies war meine geringste Sorge. Ich musste herausfinden, wieso sie hier war und wieso sie sich so verhielt. Ich rief ihren Namen, doch sie reagierte nur, indem sie wieder aufstand. Nicht einen Blick warf sie in meine Richtung und ich fürchtete, dass der Wind meinen Ruf geschluckt hatte. Ich näherte mich dem Zaun, der einzigen Barriere, die mich von ihr trennte. Wie war sie in den Garten meiner Nachbarin gekommen? Wieso tanzte sie? Wieso hatte sie nicht mehr als ein dünnes, gelbes Kleid an, obwohl es gleich regnen würde? Diese letzte Tatsache wurde mir erst jetzt bewusst, als ich ihren zierlichen Körper aus nächster Nähe ins Visier nahm. Die Trockenheit zog sich wie ein rauer Teppich durch meine Kehle und ich befeuchtete meine spröden Lippen mit der Zungenspitze, doch es brachte nichts. Alle Willensstärke war verschwunden, vom Wind geraubt, von der Sicherheit der Dunkelheit zerquetscht. Ich konnte endlich das tun, wonach ich mich schon so lange sehnte, denn niemand würde es sehen. Ich streckte die Hand aus und berührte den mittelhohen Zaun, der knapp über meinem Schlüsselbein aufhörte. Weder die nagenden Fragen, noch das sehr reale Gefühl des Holzes konnten mich zurück in meinen Käfig sperren. Ich hätte niemals mein Haus verlassen dürfen, aber nun war es zu spät. Unsere Blicke trafen sich und für einen kurzen Moment hörte sie auf zu tanzen, hielt vollkommen still. Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, bedeckten die leuchtenden Augen, die mich mit Neugier und so etwas wie… Verständnis anblickten. Ich versuchte mir einzureden, dass es mein Magen war, der sich bei diesem Blick zusammenzog, doch die Quelle dieser Empfindung lag tiefer. Viel tiefer. Ich hielt mich am Zaun fest, als wäre er mein letztes Rettungsseil, weil meine Beine so sehr zitterten. Als sie sich wieder in Bewegung setzte, tat sie genau das, was ich mir wünschte: sie kam auf mich zu, mit langsamen Schritten. Die Bewegungen ihrer Hüfte erinnerten mich dabei an eine Wiege, die sachte schaukelte. Ich presste meinen Körper gegen das Holz, um ihr so nah wie möglich zu sein, denn sie blieb nicht mehr als zehn Zentimeter von der Barriere entfernt stehen. Ich konnte sie anfassen, wenn ich wollte, dafür musste ich nur die Hand ausstrecken. „Wieso bist du hier?“, fragte ich sie, erhielt aber keine Antwort, auch nach endlosen Sekunden nicht. Tränen flossen über meine erhitzten Wangen, denn ich war glücklich und verzweifelt zugleich. Ich bekam mehr, als ich mir jemals gewünscht hatte und doch viel zu wenig. Die Gier flammte gnadenlos in mir, ich hatte keine Kontrolle mehr darüber. Meine zitternde Hand schlängelte sich wie von selbst zwischen den Zaunsprossen hindurch und in dem Moment, in dem meine Fingerspitzen den seidenen Stoff ihres Kleides berührten, wusste ich, dass ich im Paradies war. Jedes Gefühl, das ich jemals gespürt hatte, explodierte in mir wie ein Feuerwerk. Überrumpelt hielt ich inne, um diese Erinnerung einzufangen, würde es doch nie wieder dazu kommen, weil man mich wegsperren würde, aber es war egal. Egal, egal, egal. Ein ersticktes Schluchzen entriss sich meiner Kehle, ich konnte nichts dagegen tun. Dies schien meine Schönheit aus ihrer Starre zu holen, denn sie sah mich wieder an, nachdem sie aufgehört hatte die Hand, die sie fast berührte, zu mustern. Auf ihrem Gesicht zeigte sich keine Regung, außer der, dass ihr verlockender Mund sich um ein paar Millimeter öffnete. Jede Faser meines Körpers, jedes Bisschen meiner jämmerlichen Existenz wollte dies als Einladung sehen. Ich wollte ihre roten Lippen küssen, um all die Farbe daraus aufzusaugen. Ich stellte mir den süßesten Geschmack vor und wusste, dass ihre Haut ihn noch übertreffen würde. Während ich in meinen Vorstellungen gefangen war, die so viel sicherer waren, als meine Handlungen, beugte sie sich vor. Plötzlich verdeckte ein Vorhang aus weichen Haaren mir die Sicht und brennende Blütenblätter legten sich auf meine Wangen, wischten die Tränen weg, die der Wind noch nicht getrocknet hatte. Als mir bewusst wurde, dass sie meine Haut berührte, meine Haut küsste, blieb mein Herz stehen. Ich konnte es unendliche Sekunden lang nicht mehr schlagen hören, nicht mehr fühlen. Sie zog sich zurück, mit einem wunderschönen Lächeln auf den Lippen. Den Lippen, auf denen meine Tränen ein neues Zuhause gefunden hatten. Farbige Punkte begannen vor meinen Augen zu tanzen. Diesmal würde ich der Ohnmacht nicht entkommen können, das wusste ich und ich akzeptierte es. Ich wollte nur noch schnell, nur ein einziges Mal… Meine Hände fuhren hastig, aber dennoch so sanft wie möglich über den jungen Körper, den ich unter dem gelben Stoff in all seiner Vollkommenheit fühlen konnte. Meine Berührungen tanzten über ihren flachen Bauch, die wohlgeformte Hüfte, die sachten Wölbungen ihrer Rippen. Ich wollte sie festhalten, aber der Zaun war im Weg, ich konnte keine andere Stelle ihres Körpers erreichen, ohne meine Hände zuerst zurückzuziehen und das konnte ich nicht tun. Ich wollte sie nie wieder loslassen, wollte den Augenblick in die Länge ziehen, bis er zur Ewigkeit wurde und nicht an die Konsequenzen denken. Pure Entzückung erfüllte mich und ich wusste: so fühlte sich Freiheit an. Es war das, was ich mir immer gewünscht hatte. Sie verkörperte alles, was ich wollte, aber nicht haben konnte. Die Dunkelheit um mich herum wurde immer intensiver, meine Beine gaben nach. Ich spürte die schwüle Sommernacht um mich herum, konnte die Grillen zirpen hören, die frischen Blumen riechen, aber nichts war vergleichbar mit dem, was ich empfand, wenn ich an das perfekte Geschöpf vor mir dachte. Als ich sie schließlich losließ, weil mein Körper zu schwer für meinen Geist wurde, um ihn noch zu tragen, kehrte wieder qualvolle Leere in mich ein. Meine Augenlider flatterten und während ich langsam zu Boden sank, versuchte ich einen letzten Blick in ihre Augen zu erhaschen. Die Farben um mich herum waren jedoch zu verschwommen, ich konnte nichts mehr erkennen. Ich kämpfte mit der dunklen Decke, die eine unsichtbare Gestalt über mich legen wollte, aber es war ein aussichtsloser Kampf. Plötzlich begann sich meine Göttin umzudrehen und blanke Panik schoss durch mich hindurch. „Nein!“, rief ich mit rauer Stimme, die nicht mir gehörte, die nicht mir gehören konnte. Sie hörte sich fremd und armselig an. Ich wollte nicht dieser schwache Mensch sein, aber noch viel weniger wollte ich, dass sie ging. „Sssh, ganz ruhig“, hörte ich plötzlich eine weitere Stimme, die tatsächlich nicht mir gehörte. Ihre Absicht war es, mich zu beruhigen, aber sie rief nur noch größere Angst in mir hervor. Ich begann wild um mich zu schlagen, doch starke Arme schlossen sich um meinen sonst willenlosen Körper und ich gab auf. Nur mit Mühe konnte ich mich dazu bringen, die Augen zu öffnen. Wenn ich sie geschlossen hielt, konnte ich immer noch sie vor mir sehen, in all ihrer Schönheit und Pracht. Ihr Bild wollte ich für immer vor Augen haben, denn dies war der einzige Weg, um mit ihr zusammen zu sein. „Haben Sie sich etwas getan?“, fragte erneut die unbekannte Stimme und ich versuchte zum ersten Mal auszumachen, wer mich in den Armen hielt und sich nach meinem Wohlbefinden erkundete. Es war eine Frau, die ich nicht kannte, aber die mir trotzdem seltsam bekannt vorkam. Wer war sie? Mein Mund war viel zu trocken, um etwas zu erwidern, also schüttelte ich nur den Kopf. Ich bereute es sogleich, denn die Welt begann erneut sich in einem viel zu schnellen Tempo zu drehen. Die Frau half mir auf die Beine und ich konnte mich endlich umsehen. Ich befand mich in einem Garten, aber er sah völlig anders aus als meiner, zumindest auf den ersten Blick. Er war größer und es hielten sich unzählige Personen in ihm auf, was in meinem niemals der Fall wäre. Alle waren in Weiß gekleidet. Als ich an mir herunter sah, stellte ich fest, dass auch ich dieselbe Kleidung trug. Was ging hier vor?! Eine lautes Geräusch riss mich aus meiner Verwirrung und ich zuckte erschrocken zusammen. Ein paar Meter hinter mir entdeckte ich einen Mann, der den Rasen mähte. Moment… das war mein Gärtner! Was machte mein Gärtner in diesem fremden Garten? Ich verstand nicht, was vor sich ging. „Was ist passiert?“, fragte plötzlich eine barsche Stimme, die einer zweiten, fremden Frau gehörte. „Sie stand die letzte halbe Stunde über am Zaun, weil ihr der Löwenzahn dort so gefällt… und plötzlich lag sie am Boden… Ich glaube, die Hitze tut ihr nicht gut“, antwortete die andere Frau, die mich gefunden hatte. „Dieser Sommer ist ja auch verflucht heiß! Nun, wenn sie sich nichts getan hat, dann bring sie lieber rein…“ Plötzlich rührte sich etwas in mir. Rein? Nein, ich wollte nicht mit der Frau mitgehen, ich wollte zurück in mein Haus, zurück in meinen Garten, in dem sie morgen wieder mit ihrem Vater erscheinen würde! Er half hier bestimmt nur aus, deswegen war er hier… ganz sicher! Unruhig suchte ich nach einem Ausweg aus dieser Lage, doch da legte sich auch schon der schwere Arm der Frau um meine Schultern. „Kommen Sie, es ist Zeit für Ihre Medikamente.“ Ich entriss mich ruckartig ihrer halben Umarmung und wandte mich instinktiv dem Zaun zu, von dem die zwei Frauen gesprochen hatten. Er sah genauso aus wie der in meinem Garten. Ich konnte sogar noch die feinen Holzsplitter fühlen, die sich kurz in meine Haut gebohrt hatten, als ich versucht hatte an sie heranzukommen. Ich ließ meinen Blick an ihm entlang gleiten und genau an der Stelle, an der das graue Haus mir die weitere Sicht versperrte, fiel mir etwas auf. Es dauerte nur eine Sekunde lang, aber ich könnte schwören, dass es ein Stück Stoff gewesen war, das hinter dem Haus verschwunden war. Ein gelbes Stück Stoff. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)