Talvisota von Riku ((K)ein einziges Wort [Wichtel-FF für Azamir]) ================================================================================ Kapitel 1: (K)ein einziges Wort ------------------------------- Talvisota (K)ein einziges Wort (Für ) Der tarnfarbene GAZ-Geländewagen gab ein heiseres, stotterndes Geräusch von sich, als Eduard versuchte, ihn zu starten. Der Motor dampfte. Weißer Rauch stieg unter der Kühlerhaube hervor und vermischte sich mit dem seines Atems. Es war kalt, ein paar Grad unter Null. Nicht kalt genug, um sich zu drücken und zu Hause zu bleiben aber eindeutig zu kalt, um sich jetzt die Handschuhe auszuziehen und nach der Ursache für das Keuchen und Röcheln des sonst so strapazierfähigen Motors zu suchen. Die russischen Wagen waren sehr solide und besaßen gepanzerte Türen, die für seine Sicherheit sorgen sollten aber seiner Meinung nach eher weniger brachten, wenn man die Tatsache, dass bei einigen die Fenster schlichtweg fehlten, mit einbezog. Noch einmal drehte er den Schlüssel im Zündschloss und spürte, wie sein Körper sich anspannte, als der Wagen einen kurzen Ruck tat, ehe das Motorengeräusch von neuem erstarb und dem leisen Wimmern des Windes wich, der durch die offenen Fenster wehte. Eduard ließ den Schlüssel los und sank in die ausladende, harte Sitzbank zurück. Als 'strategisch wichtig' hatte man ihn betrachtet. Man hatte ihn auf die Gefahren hingewiesen, die aus Deutschland drohten und aus der Wiedererstarkung Japans resultierten. Man hatte ihm gesagt, dass es von großem Nutzen sein würde, einen starken Verbündeten wie Russland an seiner Seite zu haben. Es hatte ihn viele schlaflose Nächte gekostet, bis er dem Drängen Russlands, nach mehreren Verhandlungen, der Stationierung sowjetischer Truppen in Estland und kleinen, militärischen Scharmützeln, hatte nachgeben können. Es war ihm nicht leicht gefallen, seine Unabhängigkeit aufzugeben und sich Russland anzuschließen. Wenn er geahnt hätte, was dieses Bündnis bedeutete, hätte er es sich möglicherweise mehr als zweimal überlegt. Er hätte keine Wahl gehabt. Wie oft hatte er diese Worte in seinem Kopf wiederholt? Wie oft hatte er neben Lettland gesessen und ihm diese Worte vorgebetet, einerseits um ihn zu beruhigen, andererseits um sich selbst immer und immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, wie aussichtslos seine eigene Lage gewesen war und dass er die einzig richtige Entscheidung getroffen hatte. Als er dem Vertrag zugestimmt hatte, hatte Eduard zugegebenermaßen noch nicht mit Sicherheit gewusst, was eine Ablehnung Russlands für ihn hätte bedeuten können. Die Verhandlungen waren weder aggressiv gewesen, noch hatte er Russland im ersten Moment als besonders zudringlich empfunden, bis dieser mit militärischer Verstärkung in seinem Haus auftauchte und seine Forderungen wiederholte. Er hatte kein Risiko eingehen wollen. Darum saß er jetzt hier, den Blick auf die finnischen Wälder von dem weißem Dampf der Kühlflüssigkeit und zarten, in einem leisen Taumel herab treibenden Schneeflocken verschleiert. Jetzt erfuhr er, was es für ihn bedeutet hätte, Russlands Forderungen abzulehnen. Nur stand er heute auf der sicheren Seite der Waffe. In der Gleichung, die ihm gestellt worden war, hatten sich eine Menge Unbekannte befunden. Er hatte nicht geahnt, was ihn erwartet würde, selbst wenn er wusste, dass Russland sich gegen Deutschland wappnen, Leningrad sichern und die umliegenden Länder auf seiner Seite wissen wollte. Nach und nach, je mehr er die Rechnung zerdachte, taten sich ihm die Variablen Stück für Stück auf. Lettland und Litauen hatten im Herbst, ähnlich wie er, dem Bündnis mit Russland zugestimmt. Weißrussland hatte dieser wahrscheinlich gar nicht erst bitten müssen und Ukraine sah er bereits vor den deutschen Soldaten und Panzern zittern. Der einzige, der jetzt noch fehlte, um das Bild komplett zu machen und Leningrad in dem Maße zu sichern, wie Russland es für notwendig erachtete, war Finnland. Er befand sich auf der falschen Seite der Waffe. Auf ihn richtete die Sowjetunion ihre Mündung. Eduard seufzte schwer und löste den Anschnallgurt, sich noch immer davor drückend, nach dem Motor zu sehen. Langsam verfärbte sich der Horizont. Die Sonne ging auf. Hätte er Finnland doch nur eine Chance gegeben. Ohne Kriegserklärung waren sie über die Grenze marschiert, begleitet von der sowjetischen Luftwaffe. Eduard wusste nicht, ob die Vorwürfe, die Russland gegen seinen Freund erhob, stimmten. Er konnte und wollte Finnland nicht zutrauen, dass dieser selbst den bestehenden Nichtangriffspakt gebrochen haben sollte. Das sah ihm nicht ähnlich. Das war nicht seine Art. Er hätte niemals zugelassen, dass der Frieden seines Hauses gefährdet werden würde. Schon gar nicht, wenn es sich um einen solch mächtigen Gegner handelte. Eduard stieß die Tür des GAZ auf und schwang seine schlanken Beine aus dem hohen Fahrzeug. Seine Stiefel tauchten in dichten Schnee, auf dessen Oberfläche sich eine knirschende Eiskruste gebildet hatte. Seit Anfang Dezember hatte es beinahe unnachlässig geschneit. Letzte Nacht hatte er das erste Mal seit langem die Sterne gesehen. Sein Lächeln ging ihm nicht aus dem Kopf. Das Lächeln, das ihm sein Freund so oft geschenkt hatte. Das Teilen von Geschenken unterm Weihnachtsbaum. Die Lichter und Girlanden, die sich in seinen violetten Augen spiegelten. Die Vorfreude auf jedes Fest. Eduard spürte, wie sich ein gewaltiger Druck in seiner Brust aufbaute, als er die kalte, brennende Luft in seine Lunge sog und tastete nach der Kühlerhaube, um nicht im Leeren zu stehen. Sein Atem ließ seine Brille beschlagen. Durch das milchige Weiß sah er, wie sich etwa fünfzig Meter vor ihm die Fahrertür von Russlands Wagen öffnete und dieser, mit einer glimmenden Zigarette im Mundwinkel und einer dicken, wärmenden Robbenfellmütze auf dem Kopf, aus dem Auto stieg; aufgrund der langen Beine ein wenig eleganter als er selbst. Er hätte jetzt gerne Lettland an seiner Seite gehabt, um ihn zu beruhigen und sicher zu gehen, dass er nichts anstellte, wohl wissend, dass er viele Kilometer von ihm entfernt damit beschäftigt sein musste, den Seeweg zu sichern. Er fragte sich, ob Litauen sich ähnliche Gedanken um Polen gemacht hatte, als Deutschland bei ihm eingefallen war. Immerhin waren auch sie einmal unzertrennlich gewesen. Eduard nahm seine Brille ab und putzte sie mit seinen behandschuhten Fingern, verzweifelt versuchend, den Druck in seiner Brust zu ignorieren. Kalte Schweißperlen bildeten sich an seinen Schläfen. Er wollte weiter an das Lachen denken, das ihm so sehr fehlte. An die hellen, klugen Augen seines Freundes. Wie eifersüchtig er gewesen war, als Finnland damals mit Schweden vor seinem Haus aufgetaucht war. Wie selbstverständlich hatte der finstere Kerl Eduards besten Freund zu seiner 'Frau' erklärt. Noch heute konnte er den Knoten spüren, der sich damals um sein Herz geschlungen hatte. Ja, er war nicht gerade für Gefühlsausbrüche bekannt. Aber wenn er bei Finnland war, konnte Eduard zu einem ganz anderen Menschen werden. Ja. Das war der Punkt. In Finnlands Nähe fühlte er sich menschlich. Er wollte sich nicht vorstellen, wie dieser nun von ihm denken musste. Er wollte ihm nicht in die Augen sehen und feststellen müssen, dass sie ihn mit der gleichen Enttäuschung, mit derselben Trauer anblickten, die er seit Wochen kontinuierlich zu verdrängen versuchte. „Was ist los?“ Russland kam auf ihn zu, seinen langen Schal, den er einst von Ukraine geschenkt bekommen hatte, locker um den Hals gelegt. Der ausgefranste Saum hob und senkte sich sacht mit dem Wind. „Springt nicht an“, antwortete Eduard knapp und stemmte die Kühlerhaube hoch. „Von Autos hab ich zwar nicht so viel Ahnung aber ich bin mir sicher, dass ich das hinbekomme. Ansonsten warte ich hier einfach auf Verstärkung. Du kannst ruhig schon vorfahren, ich komm dann nach.“ Er drehte dem anderen den Rücken zu, mit fachmännischem Gesichtsausdruck abschätzend auf das Kabel- und Rohrgewirr blickend, das den mächtigen Motor umschlang. Er war sich tatsächlich ziemlich sicher, dass er das Prinzip verstehen würde, wenn er das Ding auseinandernahm. Genauso sicher war er sich, dass Russland das nicht unbedingt begrüßen würde. „Schon in Ordnung. Fahr bei mir mit.“ Russland deutete nach hinten und zeigte ein mildes Lächeln. Eduard drehte sich nicht um. Die Stimme seines Verbündeten klang sanft und wohlwollend. Selbst für jemanden wie Eduard, der sich nicht nur für recht klug hielt, sondern tatsächlich über ein gewissen Maß an Intelligenz verfügte, die es ihm eigentlich erlauben sollte, Menschen zumindest unter ihre Oberfläche zu blicken, eventuelle Absichten hinter einem bestimmten Verhaltensmuster zu eruieren oder wenigstens zwischen Wahrheit und Heuchelei unterscheiden zu können, war Russland ein äußerst schwer zu entsiegelndes Buch. Eduard fehlte es vielleicht einfach an sozialem Gespür, das er durch sein technisches Wissen und seine Kombinationsgabe wett machte. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass Russland einfach immer lächelte und immer wohlwollend und liebenswert erschien. Selbst wenn er mit einer handvoll sowjetischer Soldaten in seinem Wohnzimmer auftauchte und ihm mit Sanktionen drohte, sollte er sich ihm nicht anschließen. „Gut“, erwiderte er nach langem Zögern und schlug die Kühlerhaube zu. „Gut“, wiederholte er und zeigte nun selbst ein eher schwaches Lächeln. „Dann fahre ich mit dir.“ Es war schwer, die richtigen Worte zu finden. Er hätte ihm gerne gesagt, dass er nicht gegen Finnland in den Kampf gezogen wäre, wenn er ihn nicht dazu gezwungen hätte. Das Problem war nur, dass Eduard vermutete, dass Russland diesen Schluss niemals von selbst gezogen hätte; dass er überhaupt nicht das Gefühl hatte, ihn zu irgendwas gezwungen zu haben. Er betrachtete nicht nur sein Ziel als rechtens – das zugegebenermaßen recht nobel war, wenn man die Tatsache betrachtete, dass es Russland tatsächlich um den Schutz der Menschen, seines Hauses und seiner Schwestern zu gehen schien – sondern auch die Mittel und Wege, mit denen er es umzusetzen versuchte. Für Eduard war, wenn Drieden und Sicherheit das oberste Ziel darstellte, Krieg kein besonders dienlicher Status quo. Dann konnte man ebenso gut in ein Gefängnis marschieren und dort Seminare für organisiertes Verbrechen anbieten. Andererseits, und das war kein Nachteil, befand er sich nun in der Position, den Ausgang dieses Krieges zumindest ein wenig beeinflussen zu können. Er wusste nur noch nicht so recht, wie er das anstellen sollte. | ··· | Tino ließ resignierend den Telefonhörer sinken. Sie wollten ihre Neutralität behalten. Natürlich. Sie konnten es nicht mit ihren Vorgesetzten vereinbaren, kein Risiko für ihr Haus, für die Menschen eingehen. Natürlich. Er hatte nichts anderes erwartet. Nicht von Norwegen oder Dänemark, sogar von Deutschland, den er förmlich um militärische Unterstützung angefleht hatte; deren Standpunkte konnte er verstehen. Er konnte keine Hilfe mehr von ihnen erwarten, wenn sie nicht ihren eigenen Hals und ihren Neutralitätsstatus oder ihre frisch geschlossenen Nichtangriffspakte riskieren wollten. Aber Schweden...? Niemals hätte er geglaubt, dass Schweden es ablehnen würde, ihm zu helfen. Nicht jetzt, da er ihn so sehr brauchte und sich so einsam fühlte wie schon lange nicht mehr. Sein Haus war Russlands nicht nur zahlenmäßig unterlegen. Er war gar nicht auf einen Krieg vorbereitet gewesen, als die ersten Bomben gefallen waren. Wenn es so weiter ging, würde von seinem Haus bald nicht mehr als ein Häufchen Asche übrig bleiben. Und Schweden wies ihn ab. Nachdem sie so viel gemeinsam durchgestanden hatten. Tino war blass, fühlte sich blutleer, konnte aber deutlich den Puls in seinen Ohren rauschen hören. Sein Herz schien nach jedem dritten Schlag einmal kurz auszusetzen und mit dem nächsten zu stolpern, als versuchte es, seinem Brustkorb zu entkommen, Er rieb sich die trockenen Augen und blinzelte in die Morgendämmerung. Gedämpft drang das leise Tuten des Telefons in sein Bewusstsein. Er hatte den Hörer noch nicht aufgelegt. Mit fahriger Hand hängte er ihn auf die Gabel und schob sich von seinem Sessel, für einen kurzen Augenblick mit seinem Kreislauf kämpfend, der ihm tanzende Punkte vor die Augen zauberte. England hatte sich bereit erklärt, ihm ein wenig Unterstützung zukommen zu lassen. Er wollte die Eisenerzminen besetzen, da er Deutschland momentan für die größere Bedrohung hielt und sichergehen wollte, dass der Weg zu diesen wertvollen Ressourcen für ihn unzugänglich war. Als Austausch würden seine Soldaten wohl auch auf Sowjets schießen, sollte ihnen einer vor die Flinte geraten. Tino wurde das Gefühl nicht los, dass England der Meinung war, er würde seine eigene Lage dramatisieren. Er war nicht dabei gewesen, als die Bomben gefallen waren. Nicht seine Leute waren im Schlaf von den Explosionen überrascht, nicht seine Grenze war im Morgengrauen überrannt worden. Estland hatte er mehrfach zu erreichen versucht. Das letzte, was er von ihm gehört hatte, war, dass er Verhandlungen mit Russland führte – und nun patrouillierten baltische U-Boote vor der Küste. Tino spürte, wie ihm erneut brennende Tränen in die Augen stiegen und seine trockene Hornhaut anfeuchteten. Die Umgebung verschwamm in salzigen Schleiern. Estland und er – sie beide hatten noch gar nichts für die Feiertage geplant. Bald war Weihnachten. Und er war ganz allein. Sein Oberkörper wurde von einem leisen Schluchzen geschüttelt. Hastig wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen, biss sich fest auf die Unterlippe und warf seinen Kopf hin und her, um sich wach zu rütteln. Seine Nase lief. Als er spürte, wie das Nasensekret auf seiner Oberlippe kitzelte, schniefte er. Er durfte nicht aufgeben. Nicht noch weitere wertvolle Minuten an seine Tränen verschwenden, wenn dort draußen jeden Augenblick die Waffenruhe enden konnte. Und er durfte nicht untätig bleiben. Er musste über Suomussalmi zu Schwedens Haus gelangen, um ihn erneut um Hilfe zu bitten, falls ihm dieser Weg nicht schon abgeschnitten worden war. Er konnte ihm nicht in die Augen sehen und ihm die Hilfe verwehren, die er so dringend brauchte. Sie waren mehr als Freunde. Das hatte Schweden immer schon gesagt. | ··· | Beredsamkeit ist eine Kunst. Die Kunst hierbei ist es, den Zuhörer des Redners allein durch Worte zu einer Handlung zu bewegen, von einer Meinung oder Aussage zu überzeugen oder zu beschwichtigen. Das ist in der Praxis natürlich schwieriger als in der Theorie oder auf Papier. Wie leicht es doch ist, jemandem über ein so weit verbreitetes Medium wie das Buch oder Fernsehen von etwas zu überzeugen, dem er zuvor gleichgültig oder sogar feindselig gegenübergestanden hatte! Politische Propaganda bediente sich zu dieser und in jeder Zeit nicht nur der Bildkraft sondern auch der Rhetorik, für welche es sogar in Universitäten Fortbildungskurse gab – und diese waren nicht einmal schlecht besucht. Schlagfertigkeit, Feinfühligkeit, Empathie; nur drei Voraussetzungen, die es brauchte, um erfolgreich zu sein. Ein Maler braucht mehr als nur eine leere Leinwand, ein Komponist mehr als nur Gitarrensaiten. Wenn Russland ein Computer gewesen wäre, den Eduard bloß hätte umprogrammieren müssen, hätte er vielleicht ein paar Stunden gebraucht, um Passwort und Firewall zu knacken und das System um hundertachtzig Grad zu drehen, um es benutzerfreundlicher zu machen. Hier jedoch ging es um zwischenmenschliche Interaktion. Ein Windowsversierter stieg leichter durch ein linuxbasierendes Betriebssystem als er durch diesen sozialen Strichcode. Die Metadaten zumindest hatte er schon mal. Er musste nur die Informationen entschlüsseln. „Wo fahren wir hin?“ fragte Eduard und schlug das Buch zu, das er auf seine Schenkel gelegt und in dem er gelesen hatte, um mit Russland kein Gespräch führen zu müssen. Das erste Mal seit Stunden sah er aus dem Fenster. Es ging auf Mittag zu. Die Wolken hatten sich etwas gelichtet. Fetzenweise lugte kalter, blauer Himmel zwischen dem Wintergrau hervor. Die unbefestigte Straße, auf der sie fuhren, war gesäumt von abgeschlagenen Nadelbäumen, kahlen Sträuchern und Schnee. Das Funkgerät auf dem Armaturenbrett rauschte leise vor sich hin. „Wir stoßen zur 163. Division, um sie mit der 44. motorisierten Schützendivision zu unterstützen. Sobald wir Oulo erobert haben, steht Finnland alleine da. Dann können wir uns bei der Karelischen Landenge eigentlich bedienen.“ Russland klemmte das große Lenkrad des Wagens zwischen seine Knie und suchte mit beiden Händen unter seinem Sitz nach der Flasche Wodka, die er dort lagerte. Auf seinen Lippen lag ein stummes Lächeln. Eduard runzelte die Stirn und blickte auf die Frontscheibe, mehr auf Russlands Spiegelbild konzentriert als auf die immer gleich bleibende Landschaft. „Bedienen? Ich denke nicht, dass das so leicht wird.“ „Finnland denkt mit Sicherheit, dass wir auf dem Weg nach Helsinki sind. Ich habe Aufklärungsflieger losgeschickt, die keine Stellungen um Oulo sichten konnten.“ „Und getarnte Stellungen?“ Eduard machte eine halbe Drehung auf seinem Sitz und sah Russland nun direkt an. „Was ist, wenn sie getarnt sind? Ich denke nicht, dass Luftaufklärung dann –“ – „Mach dir darüber keine Gedanken. Das ist die neueste Technologie, nicht wahr? Das hast du selbst gesagt.“ „Ja, hab ich“, murmelte Eduard und beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. „Wir fahren also nach Oulo. Denkst du nicht, dass das Schweden reizen könnte?“ „Schweden wird sich nicht einmischen.“ „Du bist dir deiner Sache aber sehr sicher...“ „Und du bist mir ein klein wenig zu unsicher.“ Russland nahm einen Schluck Wodka, die linke Hand wieder am Lenkrad. „Und das geht mir ziemlich auf die Nerven.“ „England stellt dich bereits als Aggressor dar. Du bist aus dem Völkerbund ausgeschlossen worden. Was willst du noch aufs Spiel setzen? Es ist riskant, sich den Unmut der anderen einzufangen; das wird auch Deutschland noch merken. Und Finnland ist nicht wirklich ein so wichtiger Faktor, dass du deine Freunde und Schwestern gefährden möchtest, oder? Wenn dir Leningrad wirklich so wichtig ist, dann könnte ich Finnland für dich bitten, einen baltischen Stützpunkt im finnischen Teil Karieliens stationieren zu dürfen. Du musst doch nicht gleich ganz Finnland einnehmen.“ Eduard lächelte zittrig und gab etwas von sich, das ein spöttisches Lachen hätte werden sollen, nun aber eher wie ein heiseres Lungenpfeifen klang. Russlands Lächeln erstarb langsam. Einen Augenblick lang schwieg er und blickte verloren auf die eisige, unwegsame Straße. Als von neuem zu sprechen begann, klang seine Stimme noch immer ruhig und besonnen. „Weißt du, es gibt nicht viele Gründe, aus welchen ein Land sich gegen seinen Vorgesetzten wendet. Und dieser ist ganz sicher keiner davon.“ Er nahm noch einen Schluck Wodka und bog auf einen Waldweg ein. Ein wenig der klaren, alkoholischen Flüssigkeit schwappte über seine Hand. „Und außerdem –“ Schleichend bildete sich ein zahmes Schmunzeln in seinem Gesicht. „– währe Finnland doch, rein hypothetisch, eine schöne Bereicherung für die Sowjetunion. Nicht wahr?“ Der Gedanke, dass Finnland in ihr Haus einziehen konnte, gefiel ihm irgendwie. Er konnte sich gut vorstellen, morgens mit ihm aufzustehen. Er würde nicht nur die Feiertage mit ihm verbringen, sondern jeden einzelnen Tag des Jahres. Er musste nicht ständig im Hinterkopf haben, bald wieder seine Koffer packen und nach Hause gehen zu müssen, wenn sie beisammen lagen; beide ihren Kopf in ein einziges, großes Kissen gebettet, sich gegenseitig anblickend, redend, obwohl sie sich schon dreimal eine gute Nacht gewünscht hatten aber einem von beiden immer noch etwas einfiel, über das sie sich unterhalten konnten, bis es fast schon wieder Morgen wurde. Er kam ihm dabei so nah, dass er ihn selbst ohne Brille ganz klar sehen konnte. Wo war nur seine erstaunliche Fähigkeit geblieben, unliebsamem Stress aus dem Weg zu gehen? Es würde ihn nicht glücklich machen. Finnland war schon einmal so weit gewesen, auszureißen. Damals gemeinsam mit Schweden. Eduard konnte ihn nicht in einem Käfig halten, wenn er ihm nicht die Flügel stutzte. Und er wollte ihn nicht verletzen. Nicht ihn. | ··· | Die Sonne war bereits untergegangen, als Tino sich aus dem Unterholz und auf die Straße zurück kämpfte. Kainuu hatte eine sehr geringe Bevölkerungsdichte. In einem Umkreis von vielen Kilometern stand hier kein einziges Haus. Nur Wälder, Moore und Seen, die zu dieser Zeit des Jahres allesamt mit weißen, kalten Decken bedacht waren. Es waren nur noch wenige Kilometer bis Suomussalmi, dann noch mal die gleiche Strecke bis Oulo und dann war er auch schon beinahe bei Schweden angelangt. Er war jetzt der letzte, auf den er vertrauen konnte – und er hoffte wirklich, dieses Vertrauen richtig investiert zu haben. In Suomussalmi konnte er sich nur kurz ausruhen. Aufgrund der geographischen Nähe zu Kuhmo rechnete man dort bereits mit einem Angriff der Sowjets und man hatte begonnen, sich aufzurüsten. Je weiter die finnischen Soldaten ins Landesinnere zurückgedrängt wurden, desto wahrscheinlicher war es, dass auch dieser friedliche Fleck dem Krieg anheimfiel. Er zog den Mantel, den er über seine Uniform geworfen hatte, etwas fester und schob seine Hände in die Ärmel hinein, deren Saum er mit behandschuhten Fingern zuhielt, um seine Arme ein bisschen vor dem kalten Nordwind zu schützen. Zumindest hatte er wieder etwas Farbe im Gesicht. Seine Nase und Wangen glänzten rötlich und seine zitternde Unterlippe hatte einen blau-violetten Schimmer angenommen. Tino wusste nicht genau, was er Schweden sagen sollte. Schon am Telefon hatte er versucht, ihn von der Dringlichkeit zu überzeugen. Die finstere Stimme auf der anderen Seite der Leitung hatte sich mehrfach entschuldigt und gesagt, dass er das ganz einfach nicht könne. Wahrscheinlich hätte das noch ewig so weitergehen können, wenn er selbst nicht einfach aufgelegt hätte, um zu verhindern, dass Schweden merkte, wie zittrig und dünn seine Stimme während des Telefonats geworden war. Verzweifelt versuchte er, sich die richtigen Worte zurecht zu legen und überlegte, auf was sein Freund wohl am ehesten reagieren würde. Eigentlich hoffte er, dass er nicht allzu viel reden musste. Vielleicht half es tatsächlich, wenn er mit eigenen Augen sah, wie verzweifelt er war. Er brauchte gar nicht viel Unterstützung. Es hätte ihm schon geholfen, zu wissen, dass er nicht vollkommen allein dastand und die einzigen, die ihm halfen, es deshalb taten, um irgendwelche Ressourcen vor Deutschland zu schützen. Ein wenig verbittert trat Tino in eine matschige Reifenspur. Dann hielt er inne. Einen Augenblick lang stand er einfach nur da und starrte auf die Spuren der vielen Reifen, die hier den Schnee zerdrückt und zum Tauen gebracht hatten. An einigen Stellen war er noch nicht einmal gefroren. Eigentlich hatte er auf dieser Straße laufen wollen, weil sie von niemandem außer einer handvoll Waldarbeitern befahren wurde. Er war so in Gedanken verloren gewesen, dass er die Spuren im Schnee gar nicht richtig registriert hatte. Er machte einen Sprung zur Seite und ging rückwärts den kleinen Hang hinauf, mit geweiteten Augen abwechselnd in beide Richtungen der Straße blickend. Er hielt die Luft an, um nicht gehört zu werden, vollkommen grundlos, da er selbst niemanden hören oder sehen konnte. Wieder spürte er das klamme Herz in seinem Brustkorb zucken und rebellieren, bis er langsam und zittrig durch die Nase Luft holte und seine Schleimhäute in trockene Kälte kleidete. Die Reifenspuren standen weit auseinander und hatten sich tief in den Schnee gedrückt. Es mussten große Fahrzeuge sein. Geländewagen. Vielleicht sogar größer. Nur schwach konnte er die Umrisse der weißen Planen erkennen, die wie Zelte vor die tarnfarbenen Fahrzeuge gespannt waren. Vor dem grau-weißen Hintergrund konnte er diese um einiges besser ausmachen. Der Camouflage-Look verriet nicht nur ihren Standort, sondern auch ihre Absicht. Die roten Sterne, der auf einigen Kühlerhauben prangten, ließen unschwer die Herkunft erahnen. Hinter einigen Planen konnte er dezente, lauwarm gelbe Lichter flackern sehen und leise Stimmen vernehmen. Also konnten sie ihn auch hören. Tino spürte, wie sich seine Brust verkrampfte. Er wollte nicht atmen. Er wollte sich nicht einmal mehr bewegen. Mit einer Hand klammerte er sich an ein Gewehr, mit der anderen tastete er vorsichtig nach der rauen Borke des Baumes, der neben ihm stand. Er hätte den Spuren nicht folgen dürfen. Er hätte seinen Weg durch den Wald abkürzen können, in der Hoffnung, sich nicht zu verirren. Er hätte sich flach hinlegen und bis zum Morgen ausharren können. Nun stand er hier, sein einziger Schutz ein paar spärlich bewachsene Tannenzweige, der Untergrund voller morschem oder trockenen Holz, das nur darauf wartete, unter seinen Schritten zu zerbersten. Er konnte spüren, wie seine Knie immer weicher wurden. So lange war er gegangen, ohne den Wunsch verspürt zu haben, sich zu setzen und zu rasten. Nun, als er die Kraft seiner Beine am nötigsten brauchte, fühlten sie sich ausgezehrt und schwach an, als rieben die Knochenenden seiner Gelenke aufeinander und drohten, auseinander zu rutschen. Sein Gesicht wurde heiß. Kalter Schweiß brannte in seinen Augenwinkeln. Er musste sich bewegen. Fort von hier. So schnell es ging, egal in welche Richtung. Nein. Ein Rückzug war ausgeschlossen. Wenn Russland hier war, konnte er nicht zurück nach Helsinki. Er musste auf der Stelle den schnellsten Weg nach Oulo nehmen, musste seine Rast, die er in Suomussalmi einlegen wollte, aufschieben und hoffen, dass er, ob Schweden nun ihm zu helfen bereit war oder nicht, zurück über der Grenze war, ehe Russland sie erreichte. Tino schluckte schwer und kämpfte einen Augenblick lang gegen Schwindel an, der seine Sicht vernebelte. Es war unmöglich. Dieses Unterfangen war... unmöglich. Ein Geräusch ganz in seiner Nähe ließ ihn zusammenfahren. Er atmete hastig aus und schnappte nach Luft, dieser schweren, kalten Luft; flehend, dass er von niemandem gehört worden war. Das Knirschen von Schritten im Schnee. Seine Lunge brannte, als er sich krümmte, beim Versuch, sich so lautlos wie nur irgend möglich kleiner zu machen. Mit zitternden Fingern umfasste er den Griff seines Gewehrs, schob den Zeigefinger auf den Abzug, presste die Waffe an seine Brust. Das Knirschen wurde lauter. Jemand kam näher. Tino musste sich zwingen, sich zu bewegen. Wie ein rostiges Scharnier hakte das Drehgelenk seines Schädels, als er sich dazu drängte, einen vorsichtigen Blick durch das Unterholz zu riskieren. Eine Gestalt, unweit von ihm, stapfte durch den Schnee, schob ihn mit seinen Stiefeln vor sich her. Viel konnte er nicht erkennen. Mantel und Schal verschleierten die Konturen des Körpers. Tinos Arme bebten, als er den Stamm losließ und das Gewehr mit beiden Händen griff, eine den Lauf stützend, während er mit dem Daumen der rechten Hand den Sicherungshaken löste. Wenn er jetzt schoss, verriet er sich. Wenn er nicht schoss... „Ist da jemand?“ Die Gestalt blieb stehen und entzündete eine kleine Gaslampe. Etwas im Gesicht des jungen Mannes schien das Licht zu reflektieren. Was Tino jedoch am meisten verwirrte, war die Stimme. Er blinzelte in das Licht, den Finger noch immer am Auslöser seines Gewehrs doch langsam den Lauf senkend. Unter tausend Stimmen hätte er diese allein an einem Räuspern erkannt. Es war Estland. „Du solltest nicht hier sein.“ Estland sah müde aus. Seine Augen, selbst, wenn man gut die Überraschung, die er wohl empfand, aus ihnen lesen konnte, wirkten klein und trocken hinter den Gläsern seiner Brille. Tino rang nach Worten. Sein Rachen fühlte sich plötzlich spröde an, außer Stande, einen Laut von sich zu geben, der über ein unmenschliches Winseln hinausging. Erleichterung machte sich in ihm breit, trug aber nicht unbedingt dazu bei, seine Glieder zu stärken. Im Gegenteil. Jene, die sich zuvor noch steif und unbeweglich angefühlt hatten, drohten unter seinem Gewicht nachzugeben. Er strauchelte einen Moment, suchte erneut nach dem Baum, an dem er Halt gefunden hatte. Estland machte einen Satz nach vorne. Unter ihm knackten die Äste und Zweige, die wie ein Flickenteppich über dem Waldboden lagen. Tino war es egal. Er hatte keine Angst mehr, dass ihn jemand bemerkte. Kraftlos lehnte er sich gegen die Brust seines Freundes, die Augen fest geschlossen, gegen das Brennen in seinen Nebenhöhlen ankämpfend, um nicht am Ende doch noch zu weinen. „Komm mit. Bevor dich jemand sieht.“ Estland gab sich Mühe, leise zu reden, die Stimme nicht viel mehr als ein Raunen. Tino nickte und sicherte sein Gewehr, ehe er es sich wieder um seine Schulter legte. Sie gingen zehn Minuten lang. Ihr Weg durch den Wald schien vollkommen willkürlich. Tino achtete nicht darauf, wohin oder wie weit sie gingen. Er hatte keine Angst mehr, sich zu verlaufen, hielt nur Estlands Hand, die viel wärmer war als seine eigene, und konzentrierte sich auf den Druck seiner Finger und das Gefühl der Fingernägel, die sich sanft in eine Haut schmiegten. Als sie stehen blieben, waren sie von hohen Kiefern umringt, die keilförmig in den Himmel wuchsen. Vereinzelt drang das leise Kreischen weit entfernter Krähen an sein Ohr. Sie waren allein. „Estland“, hauchte Tino und legte einen Arm um ihn. Der andere ließ seine Hand los, tat es ihm gleich und drückte ihn an sich. „Ich habe versucht, dich zu erreichen.“ „Was tust du hier? Warum bist du nicht in Helsinki?“ Tino zögerte einen Augenblick. Er legte sein Gesicht an Estlands Hals und blinzelte müde in sein blondes Haar. „Ich brauche Hilfe“, wisperte er leise, spürend, dass seine Stimme nachzugeben drohte. Er räusperte sich, dann legte er auch seinen zweiten Arm um seinen Freund. „Ich muss zu Schweden. Ich schaff das nicht alleine. Ich wüsste nicht, wie...“ „Ich weiß“, murmelte Estland, der sein Kinn auf Tinos Kopf abgelegt hatte. Er konnte ihn atmen hören, ganz ruhig und langsam. „Ich hab versucht, dich zu erreichen.“ „Ich weiß.“ „Aber du warst nicht da.“ „Ja...“ Tino konnte spüren, wie Estlands Griff um ihn fester wurde, als fürchtete dieser, er würde ihm aus den Händen gleiten. Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, fühlte sich kälter an, als die Luft, die sie umschloss. Tino zitterte. Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. Einige, auf die er wirklich gerne eine Antwort gehabt hätte. Andere, die er sich nicht einmal zu stellen traute. So erleichtert er auch darüber war, hier mit Estland zu stehen, jemandem, den er kannte und dem er vertraut hatte – er war sich nicht sicher, ob er das noch konnte. Er spürte, wie sein Herz immer schwerer wurde, als er innerlich die letzten Wochen und Tage Revue passieren ließ und die Einsamkeit, die er am liebsten von sich abgestreift hätte, sich in ihm und zwischen ihnen rekonstruierte. „Du bist auf diesen Vertrag mit Russland eingegangen.“ Das war keine Frage. Und Tino erwartete auch keine Antwort, doch er konnte Estland nicken spüren. „Ja. Ich hatte keine andere Wahl.“ „Dann sind wir jetzt Feinde.“ „Nein, wir... sind Gegner“, murmelte der andere halblaut, nun beide Hände in Tinos Manteltaschen schiebend. Er konnte spüren, dass nun auch er zitterte. „Dann sind wir also noch Freunde“, bemerkte Tino kleinmütig und drückte seine Stirn gegen Estlands Hals. Er war feucht und warm, wo der Schal war. „Selbstverständlich.“ Er konnte ihn schnaubend lächeln hören. „Ich werde dich nicht verraten. Keine Angst. Nur weil ich keine andere Wahl hatte, als mich auf diesen Deal einzulassen, heißt das nicht, dass ich hinter diesem Unterfangen stehe. Oder hinter Russland.“ Wieder ein Schnauben. Diesmal klang es eher spöttisch. „Weißt du, ich glaube fast, er traut mir auch nicht so ganz. Sonst hätte er sicher lieber Litauen an seiner Seite gehabt.“ Tino löste sich langsam von ihm, mit vor Kälte geröteten Wangen durch die leicht beschlagenen Brillengläser seines Freundes blickend. Estland lächelte. Es war ein sicheres Lächeln, zuversichtlich und unbefangen. „Warum seid ihr hier?“ Tino wirkte um einiges unsicherer. Estland schien für einen Moment zu überlegen, dann löste auch er die Umarmung und sein Lächeln verblasste. „Russland will Suomussalmi einnehmen und die Grenzen dicht machen. Er möchte verhindern, dass Schweden es sich am Ende doch anders überlegt und dir Hilfsgüter schickt. Darum werden wir morgen Mittag zuerst Suomussalmi überrennen. Danach Oulo.“ Tinos Augen weiteten sich. Er stolperte einen Schritt zurück und fasste sich an den Kopf, angestrengt überlegend, was er tun sollte. Estland nahm einen Zweig vom Boden auf, ging einen Schritt zur Seite und begann, dort wo der Boden noch weiß und unangetastet war, etwas in den Schnee zu zeichnen. „Die sowjetischen Aufklärungsflieger haben keine Stellungen ausmachen können, weshalb wir nicht besonders viel Zeit für dieses Unternehmen einkalkuliert haben. Gegen zwölf Uhr werden wir diese Stellung vor der Stadt eingenommen haben.“ Er zeichnete den ungefähren Umriss von Suomussalmi und ein paar sichelförmige Linien davor und innerhalb der Grenzen. „Für vierzehn Uhr ist, falls nötig, eine Panzerverstärkung angesetzt. Es handelt sich hierbei um den Bruchteil eines Korps, der von Süden aus angreifen wird.“ Auch diese Stellung zeichnete er in Form von kleinen Halbkreisen hinzu und versah sie mit Pfeilen. „Die 163. Schützendivision wird dann ins Innere der Stadt vordringen. Falls wir auf Gegenwehr stoßen, haben wir insgesamt 36000 Soldaten in der Hinterhand. Aufgrund der geographischen Lage würde ich aber sagen, dass wir hauptsächlich von Süden und Süd-Osten angreifen können. Wie du siehst will Russland das Ding unbedingt gewinnen. Du musst ihm also schon ordentlich Paroli bieten können.“ Wieder Striche, Halbkreise, Pfeile. Tino, der sich noch immer den Kopf hielt, versuchte verzweifelt, diese ganzen Informationen für sich zu verarbeiten und nickte zögerlich. „Wie du dir das alles merken kannst...“ Estland sah von seinen Zeichnungen auf. Er schmunzelte. | ··· | Er hätte ihn gerne lachen gesehen. Finnland hatte ein ansteckendes, anziehendes Lachen. Allein der Gedanke daran, vermochte es für gewöhnlich, ihn zu wärmen. Der Weg zurück kam ihm länger vor. Eduard spürte die Hand schon längst nicht mehr, die seine umklammert gehalten hatte und das obwohl er geglaubt hatte, dass sich dieses Gefühl tief in sein Fleisch gebrannt hätte. Die Umarmung. Der Atem an seinem Hals. Das Zittern, das auf seinen eigenen Körper übergegangen war. Die roten Wangen und die feuchten Augen, immer näher am Weinen als am Lachen. Es war genauso schön wie schmerzhaft gewesen. Er hatte ihm helfen müssen. Auch wenn das hieß, dass er ihm den Weg zu Schweden geebnet hatte. Er hätte es sich niemals verzeihen können, ihm nicht geholfen zu haben. „Könntest du dir nicht vorstellen, bei mir zu leben?“ hatte er ihn gefragt. Vielleicht ein wenig zu hoffnungsvoll, denn Finnland hatte nicht nur betreten sondern auch beinahe traurig gewirkt, als er nach kurzem Zögern langsam den Kopf schüttelte. „Ich könnte niemals mehr so leben. Lieber kämpfe ich und verliere, als mich zu ergeben und widerstandslos von einem größeren Land unterjocht zu werden.“ „Ich verstehe“, hatte er geantwortet und gelächelt. „Du weißt doch hoffentlich, dass es nicht an dir liegt. Ich bin gerne mit dir zusammen.“ „Ich weiß. Und wenn wir Glück haben, ist der ganze Schrecken noch vor Weihnachten vorbei. Dann besuche ich dich.“ „Und dann feiern wir. Vielleicht sogar zusammen mit Schweden.“ „Ja. Wir werden sehen.“ Es war schwer, etwas gegen Schweden zu sagen. Er hatte einst unter seiner Herrschaft gelebt, zwar nicht ganz freiwillig aber unter ihm hatte er zumindest noch eine bessere Behandlung genossen als unter der Knute Russlands. Er war Finnland mit Sicherheit ein guter Freund. Stärker und hilfreicher als er selbst für ihn sein konnte. Kurz vor der Straße hielt er an, lehnte sich mit der Schulter an einen Baum und schob seine Brille hoch. Er merkte, dass er seine Handschuhe noch immer in seinen Manteltaschen hatte und bewegte seine nackten Finger, ballte seine Hände zu Fäusten, die von der Kälte schon spröde und rot waren. Er war zu spät. Nicht zu spät, um ihm zu helfen. So wie es aussah, war ihr Ziel besser gerüstet, als sie glaubten und wenn Tino sich darum kümmerte, dass die Menschen zum Kämpfen bereit waren, hatten sie durchaus eine Chance, sich zu verteidigen. Es war ganz einfach zu spät, ihm seine Gefühle zu gestehen. Er, eigentlich rhetorisch gewandt, hatte nicht die richtigen Worte finden können. Er hatte den richtigen Zeitpunkt verpasst, hatte die Chance an sich vorüberziehen lassen, immer wartend und ausharrend, auf ein Wunder hoffend, um nicht am Ende das zu zerstören, was sie hatten. Finnland war damals, als er noch die Chance dazu gehabt hätte, nicht bereit gewesen. Das hatte er gespürt. Als die Bereitschaft, solche Gefühle zu akzeptieren, entgegen zu nehmen, in ihm aufkeimte, war er nicht da gewesen. Er hatte den Moment, in dem die Tür offen stand, verpasst. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als auf der Stelle zu stehen. Frierend. Wütend darüber, dass Schweden derjenige war, der sich bei Finnland wärmen konnte. Er fragte sich, ob es irgendetwas geändert hätte, wenn er den Mut gehabt hätte, es ihm zu sagen. Wenn er es geschafft hätte, das, was er für ihn empfand, in Worte und Sätze zu fassen, anstatt nur darüber nachzusinnen, wie er es möglichst glaubhaft vor ihm verschleiern konnte. Es war eine Kunst, die richtigen Worte zu finden. Eduard musste sich eingestehen, dass er kein Künstler war. | ··· | Seit Neujahr hatte es beinahe durchgängig geschneit und täglich hatte Berwald den Weg vor seinem Haus freischaufeln müssen. Seit Wochen hatte er nichts von Finnland gehört. Die letzte Nachricht hatte er am 5. oder 6. Dezember von England erhalten, der eine sehr bescheidene Unterstützung ausgesandt hatte. Seit dem schien der Krieg, selbst wenn er direkt vor seinen Grenzen tobte, unendlich weit weg zu sein. Dass er damit, Finnland nicht zu helfen, eine Fehlentscheidung getroffen hatte, hatte er spätestens am Heiligabend am eigenen Leib gespürt. Er hatte gebacken und gekocht, in der Hoffnung, dass Finnland möglicherweise doch bei ihm aufschlug. Er konnte Weihnachten nicht ausfallen lassen. Das sah ihm nicht ähnlich. Je länger er jedoch vor dem flackernden, warmen Kamin saß und in die tanzenden Flammen blickte, das Haus erfüllt von Zimt- und Anisduft, desto sicherer wurde er sich, dass er diese heilige Nacht allein verbringen musste. Dass Finnland dort draußen um die Zufahrtsstraßen, um die Menschenleben, seine Unabhängigkeit kämpfte. Für ihn hatte es kein Weihnachten gegeben. Berwald schwitzte vor Anstrengung. Die Kälte vermochte es kaum, durch seinen blauen, schweren Mantel zu dringen, als er von neuem die große Schaufel in den Schnee grub und ihn bei Seite schob. Zur Linken und Rechten des Weges türmten sich bereits gut einen Meter hohe Berge, die er immer wieder mit neuem Schnee aufschüttete. Als er bei seiner Haustür ankam, richtete er sich auf, wischte sich den kalten Schweiß vom Gesicht und lehnte die Schneeschaufel gegen die Außenwand seines Hauses. Als er sich umdrehte, um sein Werk zu betrachten, erstarrte er. Vor der geschlossenen Gartenpforte stand, das Gesicht beinahe bis zur Unkenntlichkeit mit Schmutz verkrustet, Finnland. Sein Gewehr hing an einer Lederschlaufe müde über seiner Schulter. Das blonde Haar wirkte grau und stumpf. Mit ein paar großen Schritten war er bei ihm. Berwald riss die Gartenpforte auf. Finnland schloss seine Augen, als er gegen ihn sackte, noch ehe er ihn in eine innige Umarmung schließen konnte. Kompromisslos schlang er seine Arme um den zarten, kalten Körper, der resigniert an seinem breiten Brust lehnte. Er fühlte sich dünn und ausgezehrt an. Viel zu leicht, wie er merkte, als er ihn hochhob, um ihn nach drinnen zu tragen. Der Geruch von getrocknetem Blut, Schießpulver und Schweiß hatten sich in die Maschen der Uniform gefressen, die Finnland trug. Beinahe mühelos beförderte er den Körper in seinem Arm den weg hinauf zum Haus, wo er mit einem Fuß seine Tür auf trat, um ihm genügend Halt zu geben. Erst, als er den zitternden Körper auf seinem Sofa abgelegt hatte, nahm er sich die Zeit, um sie zu schließen und einen Riegel vorzuschieben. Finnlands Hände waren voller Schrammen. Er wusch sie mit warmem Wasser, das er in einer Schale auf den Tisch gestellt hatte. Dann zog er ihm die Uniform aus. Finnland ließ es, zu seiner Verwunderung vollkommen wortlos, mit sich geschehen und hob die Arme an, damit Berwald ihm das Hemd über den Kopf ausziehen konnte. Während er ihn wusch, schwiegen sie beide. Zweimal musste er das Wasser wechseln, damit kein Schmutz in die Schrammen und Wunden geriet, die sich auf Finnlands Haut wie Straßen auf eine Landkarte gezeichnet hatten. Dann, als er ihn in eine dicke Wolldecke hüllte und ihm einen Becher heiße Schokolade in die Hand gab, rang er sich dazu durch, etwas zu sagen. Er fragte sich, weshalb Finnland überhaupt zu ihm gekommen war, so uneinsichtig wie er selbst sich ihm gegenüber gezeigt hatte. Berwald setzte sich neben ihn, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Manchmal war es leicht, die richtigen Worte zu finden. Doch selbst wenn es wahrscheinlich die einzigen Worte waren, die Finnland noch von ihm hören wollte, fiel es ihm schwer, sie auszusprechen. „Wir haben gewonnen.“ Finnland kam ihm zuvor. „Diese Schlacht haben wir gewonnen. Aber...“ Berwald sah ihn an. Finnland blickte in seinen dampfenden Becher. „Ich... brauche Hilfe. Berwald. Bitte...“ Berwald erschrak, als Finnland ihm in die Augen sah. Nicht nur der Name, bei dem er ihn genannt hatte, brannte sich in ihn wie ein heißes Eisen. Der Blick mit dem er ihn bedachte, so flehend, so gebrochen und hoffnungslos, schnürte einen Knoten um seine Kehle. Für einen Moment lang fühlte er sich beinahe handlungsunfähig. Dann nickte er. Er hatte nichts anderes vorgehabt. Er hätte ihm schon viel früher helfen müssen. Bereits als er ihn das erste Mal darum gebeten hatte. Seine Neutralität war ihm wichtig doch vor allem jetzt, nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland, nach der Rückeroberung des Sudetenlandes und dem Krieg in Polen, war es ohnehin schwer, Neutralität zu wahren. Finnland stellte seine Tasse auf dem Tisch ab und löste, nun ein wenig erleichterter wirkend, seinen Blick von ihm. Berwald biss mit seinen Backenzähnen auf seine Zunge und senkte seinen Kopf, als ob die Schuldgefühle ihn niederdrückten. „'s tut mir Leid“, nuschelte er leise und schlug die Augen nieder. „'s is' nur...“ Finnland rutschte an Berwald heran und sah ihn unsicher lächelnd an. „Ist schon gut. Du brauchst gar nichts sagen“, flüsterte er und tastete nach seiner Hand, um sie sanft zu drücken. „Wenn man sich auch ohne Worte versteht...“ [Ende] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)