Fremder von NeunMephistopheles ================================================================================ Kapitel 1: Minas ---------------- Wir waren gerade erst hier angekommen und unsere Sachen wurden auf die Hotelbetten geworfen und unsere besten Partyoutfits heraus gekramt. Kichernd standen wir im Badezimmer vor dem riesigen Spiegel und schminkten uns auffällig. Gegenseitig machten wir uns dann noch die Haare und schwärmten von möglichen Jungs, die wir kennen lernen würden. „Kommt, Mädels, lasst es krachen!“, meine beste Freundin schloss die Tür ab und zu viert gingen wir eingehakt durch das helle Hotel. Schon hier zogen wir alle Blicke auf uns, auf der Straße noch mehr. Schillernde und blinkende Werbung erhellte die Straßen effektiv und tauchte alles in einem traumartigen Schein. Unser Weg führte uns in eine ausgewählte Discothek, sie war untergebracht in einer alten Fabrik, doch davon war nichts mehr zu sehen. Es gab mehrere verschiedene Tanzböden, auf denen verschiedene Musik gespielt wurde. Wir traten ein und wurden von einer Wand aus Musik, Rauch und Schweiß begrüßt. Sofort stürzten wir uns in den Raum und fanden den Rhythmus der Musik. Ich fasste meine beste Freundin Mira ein Lied später am Arm und schleifte sie mit zur Bar. Dort bestellten wir und checkten die männlichen Besucher ab. „Hier, meine Süßen.“ Der Barkeeper schob uns zwei Drinks zu und grinste lüstern. Wir lächelten nur und schoben uns mit unseren Drinks wieder durch die Menge. „Ist das nicht geil hier? Die Musik ist klasse und schau dir mal die Jungs an!“ Mira hatte sich zu mir gebeugt und wir kicherten. „Ja, komm, wir sehen uns mal um. Vielleicht finden wir ja den einen oder anderen?“ Ich nahm einen tiefen Schluck aus meinem Glas und lachte. Gemeinsam tanzten wir uns durch die Räume. Grelle Lichter in immer wechselnden Farben und der Rauch in der Luft schufen eine einzigartige Atmosphäre. Mein Körper bewegte sich wie von selbst, ich schwitzte zwischen den erhitzten Körpern, tanzte hier mit jemandem und dort. Jemand drückte mir einen weiteren Drink in die Hand, nachdem das letzte Glas wie durch ein Wunder verschwunden war. Mit großen Zügen trank ich und fühlte mich immer leichter. Mira war verschwunden, doch ich machte mir darüber im Moment keine Gedanken. Die Leute um mich herum waren so freundlich. Gerade tanzte ich mit einem süßen Kerl, er hatte lange, schwarze Haare, die er offen trug und ein markantes Gesicht. Sein schlanker Körper presste sich an meinen, seine Lippen fanden meinen Mund. Ich bemerkte nicht, wie er mich zur Seite tanzte, doch plötzlich fand ich mich in einem leiseren Flur wieder. Die Wände bebten wegen der Bässe, ich blickte in die schwarzen Augen, dort sah ich Lust. Er küsste mich auf den Mund, auf den Hals, mit einer Hand knetete er meine Brüste, mit der anderen versuchte er mir unter den Rock zu fassen. Dann tauchte Mira neben mir auf und zog mich von dem Fremden weg. Dieser starrte nur hinter uns her und verschwand dann wieder. Ich lachte vergnügt. „Mensch, Sanna, du kannst dich doch nicht einfach abschleppen lassen.“ Kopfschüttelnd zog mich Mira durch den Raum mit hartem Electro-Beat. „Komm, die Nacht ist vorbei. Die anderen wollen nach Hause.“ Ich ließ mich hinter ihr her ziehen und lachte immer noch vor mich hin. Ich fand mich in unserem Hotelzimmer wieder. Mira saß neben mir auf dem Bett und erzählte von der Nacht. Verwirrt sah ich sie an. „Was sagst du da?“ Ihre blauen Augen starrten mich an. „Geht es dir gut? Du siehst so blass aus.“ „Ich bin nur ein bisschen müde.“ Taumelnd ging ich ins Bad und stellte mich unter die Dusche. Das kalte Wasser klärte meinen wirren Kopf ein wenig. Doch viele Erinnerungen an den Abend hatte ich nicht, außer blitzendem Licht, schwitzende Körper und Verlangen. Müde ließ ich mich wenige Minuten später in die weichen Kissen des Hotelbettes sinken. Mein Kopf dröhnte und ich sah bunte Tiere vor den Augen. Kein gutes Zeichen. Der nächste Morgen brach sonnig und warm an. Ich wurde durch das Lachen Miras geweckt. Für einen Moment schwirrte alles um mich herum, dann klärte es sich. „Na, geht es dir wieder besser? Sind die rosa Elefanten weg?“ Mira grinste mich herzlich an. Ich guckte nur. Wahrscheinlich wie ein Fisch. „Rosa Elefanten?“ Irritiert rollte ich mich aus dem Bett und warf einen beiläufigen Blick in den Spiegel. Ich sah aus, als wäre ich als Vogelnest missbraucht worden. Mein erster Gang führte mich ins Bad. Ich hatte mich gestern nicht mehr richtig abgeschminkt und sah nun wie durch den Tuschkasten gezogen aus. Das kalte Wasser erfrischte mich ein wenig. Aber ein wenig komisch war es dennoch. „Sanna, kommst du zum Frühstück?“ Die helle Stimme Kathys weckte mich aus meiner Selbstbetrachtung. „Ja, sofort.“ Schnell flitzte ich ins Zimmer zurück und zog mich an. Die Halle, in der gefrühstückt wurde, war schon ziemlich voll, doch wir fanden noch einen Platz in einer der Ecken. Es gab reichlich zu Essen. Ich schob mein Müsli jedoch ziemlich lustlos durch die Schüssel und ließ es in der Milch aufweichen. „Was ist mit dir los, Sanna? Ist es noch wegen gestern?“ Mira strich mir mitfühlend über den Arm. Ich fühlte mich wirklich etwas unangenehm berührt, wegen meinem Ausrutscher mit dem Kerl gestern Nacht, doch das war es nicht. Sie hatten mir gestern was ins Getränk gemischt und das kotzte mich an. Ich hatte bisher nichts mit Drogen zu tun gehabt, und das sollte auch so bleiben. „Ach, ich habe mich gehen lassen. Aber du hast mich ja von etwas unbedachten abgehalten.“ Ich lächelte ihr schwach zu. Kathy schob sich ihr drittes Brötchen in den Mund und sagte: „Gehen wir heute Abend wieder dahin?“ „Ich fand’s gut. Ihr nicht?“ Anne grinste über das ganze Gesicht. Sie wischte sich beiläufig ihre wasserstoffblonden Haare aus der Stirn und stocherte in ihrem Salat herum. „Da gab es jemanden, mit dem ich mich heute Abend gern treffen würde.“ Sie schaute vorsichtig unter ihrem langen blonden Pony zu uns herauf. „Na gut. Einmal kann man sich die Bude ja noch antun.“ Mira nahm einen Schluck Kaffee und hielt sich einen Augenblick später den Mund. „Heiß, heiß, heiß…“ Wir lachten alle gemeinsam. Ich betrachtete mich vor dem Spiegel. Das kurze schwarze Kleid ging gerade bis zur Mitte der Oberschenkel und hatte rote Rosen auf einer Hälfte gestickt. Dazu legte ich noch lange, schwarze Ohrringe an und kämmte meine Haare, bis sie glatt lagen. Ich kontrollierte noch einmal mein Outfit, dann trug ich noch meinen tiefroten Lippenstift auf, zog meine einfachen, schwarzen Keilpumps an und setzte mich auf mein Bett. Ich wartete, bis die anderen auch fertig waren. Gemeinsam stöckelten wir die wenigen Straßen bis zu dem Club und tauchten wieder in das reizvolle Nachtleben ein. Es war genauso voll, wie am vorigen Abend. Die Tanzböden spielten dieselbe, laute Musik und flackerndes Licht nahm die Realität fort. Ich ging wie ein Schlafwandler durch die von Rauch geschwängerte Luft. Es war laut und hell und irritierend. Eine Stunde irrte ich nur zwischen den Tanzböden herum und bekam nicht wie sonst das Gefühl, Teil der Masse zu werden. Ab und zu wurde ich durch die Tänzer geschubst, dann drängte ich mich an der Wand entlang. Ich flüchtete vor all den überwältigenden Sinneseindrücken. Für einen Moment lang verstand ich nicht, was in mir vorging. Jahrelang war ich schon in Discos gegangen, habe Partys gefeiert, doch nicht einmal hatte ich dieses Gefühl von Angst und Mangel an Platz. Ohne Rücksicht zu nehmen, drängte ich mich durch die tanzende Menge hinaus an die Nachtluft. Auch vor dem Club standen viele Menschen, um sich abzukühlen, so flüchtete ich in eine dunkle Seitengasse. Tief luftholend lehnte ich mich an eine Wand und hielt die Augen geschlossen. Vom anderen Ende der Gasse erklang ein leises Ticken, wie von einer der alten Taschenuhren in der Sammlung meines Vaters. Eine dieser antiken Uhren trug auch ich immer mit mir herum, doch diese tickte nicht so laut. Eine Weile lauschte ich auf das Ticken, dann wehte eine traurige Melodie, von einer Drehleier gespielt, zu mir heran. Angezogen von der Fremdheit der Musik ging ich langsam die dunkle Gasse entlang. Sie war eng und nicht gerade ansehnlich, doch es lag merkwürdiger Weise kein Müll herum, wie es meist in Großstädten der Fall war. Doch es war so dunkel, dass ich kaum mehr sehen konnte, wo ich meine Füße hinsetzte. Nach einer Weile kam ich in eine nicht stark beleuchtete Straße. Ich sah mich um, die Musik der Drehleier war lauter geworden, doch noch immer konnte ich niemanden ausmachen, der sie spielte. Allgemein war die Straße sehr leer. Die Gebäude sahen aus, wie aus Mitte der 50er. Hinter keinem Fenster brannte Licht. Unwohl und fröstelnd rieb ich mir die Arme. Natürlich hatte ich nicht daran gedacht, dass es auch im Sommer nachts noch kalt sein konnte, und habe in der blinden Flucht aus der Disco meine Jacke vergessen. Ich versuchte, den Spieler der Drehleier ausfindig zu machen. Mein Blick irrte zwischen den hohen Gebäuden umher. Dann ging ich einfach los, hoffend, dass ich die richtige Richtung eingeschlagen hatte. Kurze Zeit später wurde ich überraschender Weise fündig. Der Mann mit der Drehleier saß vor dem Eingang eines alten Theaters und spielte gedankenverloren. „Ah, junge Lady, wunderschön seht Ihr aus. Tretet doch ein. Seid Ihr neugierig?“ Erschrocken blieb ich stehen und bekam keinen Ton heraus. „Ziert Euch nicht so. Taucht für zwei Stunden in eine andere Welt ein und Euer Leben wird sich grundlegend ändern.“ Der alte Mann verzog sein Gesicht und seine Grübchen und Falten lächelten mit. „Wie ist Euer Name, meine Lady?“ Immer noch spielte er seine traurige Melodie weiter, während er sprach. „Ich heiße Sanna, äh, Susanne.“ „Lady Sanna also. Kommt schon, tretet ein, Ihr könnt nichts verlieren. Es kostet auch nichts.“ Zögernd ging ich an ihm vorbei und schob die schweren, reichlich verzierten Holztüren auf. Drinnen erwartete mich gedämpftes Licht und ein langer Flur. Langsam und vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich betrachtete die Bilder an den Wänden und erkannte alte Stilikonen wie Marilyn Monroe. Alles schien hier noch original zu sein. Von der rasanten modernen Zeit war keine Spur zu sehen. Am Ende des Flures verdeckten schwere rote Samtvorhänge den Weg. Vorsichtig schob ich sie zur Seite und trat in einen runden Raum, von dem mehrere Türen weiterführten. Es gab schwaches, gelbliches Licht, dass jedoch nur wenig von dem Raum enthüllte. Mitten im Raum blieb ich stehen und zögerte abermals. Welche Tür sollte ich nehmen? Sie führten wahrscheinlich alle in den Theatersaal. Ich gab mir einen Ruck und ging auf die zweite Tür von links zu. Leise drückte ich den Türgriff herab und ging in den Theatersaal. Nur wenige Menschen saßen auf den gepolsterten roten Sesseln, verteilt in den vielen Reihen, auf der Bühne stand ein junger Mann in einem schwarzen Frack und mit einem Zylinder auf dem Kopf. In einer Hand hielt er einen glänzenden Gehstock, in der anderen ein altes Mikrophon, das genauso wie die Photographien im Flur noch original aus den 50ern stammen könnte. Auf leisen Sohlen setzte ich mich in die letzte Reihe. Die Zuschauer vor mir waren fast alle männlich, nur eine Handvoll Frauen saßen in den Reihen. Mein Blick wanderte über die gepflegt aussehende, alte Bühne und zu dem geheimnisvollen Fremden. „Guten Abend, werte Damen, geschätzte Herren. Ich begrüße Sie nun zu unserer neunten Varieté-Vorstellung. Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie den Auftritt unserer unzähligen Künstler.“ Mit einer galanten Verbeugung zog er sich zurück. Unter dem Rand des Zylinders blitzten noch einmal seine Augen auf, versteckt musterte er in dem kurzen Augenblick jeden der Zuschauer. Ich erschauerte, als die bodenlos schwarzen Augen mich betrachteten, doch dann wurde ich von zarten, aufrührenden Klängen in eine andere Welt entführt. Eine unglaublich schlanke Frau schwebte von der Decke herab, kopfüberschwingend, mit den Beinen in eine dünne Stange eingehakt. Sie trug einen eng anliegenden Anzug von dunkelroter Farbe, der ihren gesamten Körper bis hoch zum Hals bedeckte. An ihren Armen und Beinen waren rote und gelbe Tücher befestigt, die bei den langsamen Bewegungen mitschwangen wie Wolken. Dann gab es in der Musik einen Ruck und ich wurde mitgerissen. Die folgenden Stunden vergingen in einem Rausch. Meine Wangen glühten. Mein Herz schlug heftig. Mein Kopf schwirrte. „Nun, Ladys und Gentleman, wir sind am Höhepunkt des Abends angelangt.“ Er sah immer noch genauso aus, wie am Anfang des Programms. Meine Augen befolgten jede seiner Bewegungen. „Wie in jedem Programm werde ich nun drei Auserwählte vorstellen.“ Seine schwarzen Augen überflogen das Publikum. Mit eleganten Schritten trat er von der Bühne herunter und ging gezielt durch die Reihen. Ich schluckte. Auserwählte? Was meinte er? Seine flachen Absätze klickten, als er durch das Publikum ging. Ab und zu beugte er sich hinab und sprach leise auf einen der Gäste ein. Er kam näher. Ich schluckte wieder. Ich war die Letzte in der hintersten Reihe. Zwei junge Menschen standen schon vorne auf der Bühne. Jetzt waren nur noch leere Stühle zwischen ihm und mir. Mein Herz schlug mir im Hals. „Lady Sanna. Darf ich dich bitten, zu mir zu kommen?“ Seine samtweiche, extrem tiefe Stimme ließ mich von innen heraus vibrieren. Wieder schluckte ich. „Ich…?“ Angst erfasste mich. Panik ließ mich handeln. Ich sprang auf und wich zurück. Ein Schritt, zwei. Dann drehte ich mich um und flüchtete. Stürzte hinaus, hinaus in die kalte Nacht. Stille. Nur meine klappernden Absätze waren zu hören. Ich rannte und rannte. Blindlings durch die Straßen. Lachen erklang. Zigarettenrauch stieg mir in die Nase. Mit einem Schlag war ich zurück in der Realität. Ich starrte auf die Uhr an der Säule vor dem Club. Eine Stunde war vergangen. Doch im Varieté des mysteriösen Fremden waren so viele Stunden vergangen. Mein Herz schlug heftig. Ich sah mich um, verwirrt von den Lichtern, den bunt blinkenden Werbetafeln. Ich war zurück in der Realität. Waren die letzten Stunden nur ein Traum gewesen? Mira kam auf mich zu. „Hey, Sanna, wo zum Teufel warst du?“ „Ich ähm… habe ein wenig frische Luft geschnappt. Ich glaube, das war zwei Abende aufeinander ein wenig zu viel für mich. Ich bin müde.“ Wie auf Kommando gähnte ich. „Komm, dann gehen wir. Die anderen beiden bleiben noch.“ Mira zog mich mit einem besorgten Blick mit sich. Als wir im Hotel angekommen waren, setzte ich mich wie betäubt auf mein Bett. Es war zu hell, es war zu laut, zu grell. Die Welt, in die ich heute geblickt hatte, war so angenehm gewesen. „Was ist mit dir los?“ Mira hockte sich besorgt vor mich. „Ich weiß nicht. Ich fühle mich so komisch.“ „Was hast du da?“ Mira nahm vorsichtig meine Hand und besah sich mein Handgelenk. Voller Schreck erkannte ich eine schwarze Rose auf meinem Handgelenk. Und sie war fest in meiner Haut. Eine Tätowierung. Woher? „Der fremde…“ Ich betrachtete das Abbild der Rose. Sie war so filigran, so detailliert. Ich war eine seiner Auserwählten. Gekennzeichnet. Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in mir aus. Ich gehörte ihm. „Welcher Fremde? Mein Gott, Sanna, was hast du getrieben?“ Echte Besorgnis klang in ihren Worten mit. „Ich weiß es nicht.“ Ich legte mich auf das weiche Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Am nächsten Morgen wachte ich so auf, wie ich abends eingeschlafen war. „Sanna, der Portier hat gerade angerufen. Du hast Besuch.“ Mira sah mich fragend an. Ich sah zurück. Wie ein Fisch. Dann blickte ich an mir herab, schluckte. „Sanna?“ Vorsichtig weckte Mira mich aus meiner Starre. Ich sprang wie von einer Tarantel gestochen auf und stürzte ins Bad. Ich sah noch genauso aus wie am Vorabend. Nur meine Haare versuchten, eine Vogelscheuche nachzuahmen. Heftig bürstete ich mir die Haare glatt und entfernte mein Make-Up. Das Kleid zog ich mir auch aus. Dann hüpfte ich zähneputzend zu meinem Koffer. Ich zog mir ein rotes Pettiecoatkleid und flache Sandalen an. Dann machte ich mir einen einfachen Zopf und zog mir noch eine längere Jacke über. „Willst du wirklich so runtergehen?“ Meine drei Freundinnen sahen mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Ich ignorierte sie, schnappte meine Handtasche und rannte die großen Treppen hinab. Auf der letzten Treppe wurde ich langsamer und zögernd betrat ich schließlich das Foyer. Der Portier führte mich in einen separaten, kleinen Raum, in dem mehrere bequeme Sofas und Glastische standen. Ich war allein im Raum. Sah mich um. Setzte mich. Wartete. Dann hörte ich nach kurzer Zeit, die mir unendlich lang vorkam, die Tür leise schließen. „Ah, meine Liebe. Ich habe dich gestern Abend schmerzlich vermisst.“ Sein düsterer Blick fing mich ein. Ich konnte kaum mehr atmen. Langsam senkte ich den Kopf und faltete nervös meine Hände. Er setzte sich neben mich und sah mich lange und nachdenklich an. Er sah mich nicht nur an, er sah mich. Als die, die ich wirklich war, nicht die, die ich tagein, tagaus darstellte. Behutsam legte er den Zylinder ab und den Gehstock zur Seite. „Ich bin gezeichnet.“ Meine Stimme brach. Ich starrte auf die schwarze Rose auf meinem Handgelenk. „Warum gerade ich?“ „Meine Liebe.“ Aus tiefen schwarzen Augen sah er mich an und legte eine Hand auf meine. „Ich habe bei dir so ein unbestimmtes Gefühl, als ich dich auswählte.“ Ich sah ihn stirnrunzelnd an. „Ein Gefühl.“, sagte ich trocken. „Ich hatte auch ein Gefühl, als ich geflohen bin. Blinde, unbegründete Panik.“ Mit in Falten gelegter Stirn musterte er mich. Geduldig ließ ich mich betrachten und besah ihn mir meinerseits. Er hatte ein fein geschnittenes Gesicht, die gerade Nase, die geschwungenen Augenbrauen. Er war von einer so perfekten Schönheit, dass er so fremd wirkte. Unsicher hob ich eine Hand und ließ sie wieder sinken. Sein mittellanges, hellbraunes Haar glänzte. In den Ohren waren drei Ohrlöcher mit kleinen Figuren an Steckern. Ich betrachtete sie verwundert. Sie passten nicht zu dem perfekten, konservativen Stil, den er an den Tag legte. „Wer bist du?“ Meine Stimme klang hohl. Ich rückte unwohl ein Stück von ihm fort. „Wer ich bin? Das ist eine gute Frage. Vielleicht bin ich gerade dabei mich zu finden…. Ich kann dir etwas über mich erzählen. Ich bin zweiundzwanzig. Mein Leben war bis vor einem Jahr wenig ereignisreich. Durch einen kleinen Zufall stieß ich auf das alte Theater. Ich ergriff die Chance, die sich mir bot, und begann meinen Traum zu verwirklichen. Mit besonderen Maßnahmen stellte ich ein unvergessliches Erlebnis auf die Beine. Ich versuche, die Vergangenheit zum Leben zu erwecken, ziehe mich zurück aus dem Leben, das in der heutigen Zeit geführt wird.“ „Was sind diese besonderen Maßnahmen?“ Ich fühlte mich so jung und unwissend neben ihm, obwohl er nur drei Jahre älter war als ich. Er strahlte eine so unglaubliche Ruhe aus, wie es sonst nur erfahrene Menschen taten. „Diese Maßnahmen sind einfach. Wie du gestern Abend bemerkt haben solltest, wähle ich junge Menschen aus. Ich verpflichte sie, wenn sie damit einverstanden sind, für drei Jahre, in denen sie für mich arbeiten. Sie bekommen genug Entlohnung, um später ein normales Leben führen zu können, wenn sie wollen.“ Ich fühlte mich so unsicher. Einerseits wurde ich von diesem Fremden unheimlich stark angezogen, andererseits wirkte er so unnahbar. „Was erwartet mich, wenn ich mich dazu entschließen sollte?“ Ich zitterte. Es war nicht kalt, aber ich spürte, dass ich vor einem gewaltigen Umbruch stand. „Vieles. Bekanntes und fremdes.“ Ich schluckte, diese Antwort war so unglaublich nichts sagend. „Ich kann dir nicht viel darüber sagen, jetzt noch nicht. Es tut mir leid, aber so sind die Regeln.“ Ich starrte ihn an. Biss mir auf die Lippen. Schmeckte Blut. „Regeln? Welche du selbst festlegst?“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. Mein Blick senkte sich auf die schwarze Rose. „Wieso ist das hier eine Rose? Hat sie eine Bedeutung?“ „Sie steht für dich. Jeder bekommt ein anderes Zeichen.“ Sanft strich er über meine Finger, über die Rose. Ein Kribbeln zog sich über meinen Arm hinauf durch den ganzen Körper. Tief in mir drin hatte ich meine Entscheidung schon getroffen, doch ich wollte sie mir noch nicht eingestehen. „Über leg es dir gut. Einen Tag hast du noch Zeit. Du weißt, wo du mich finden kannst.“ Er erhob sich, setzte den schwarzen Zylinder auf und nahm seinen Gehstock, den er meiner Meinung nach nicht brauchte, doch es war sein Stil, das begriff ich. Er bot mir seinen Arm und führte mich hinaus in das Foyer des Hotels. Dort wartete Mira schon wie auf Kohlen sitzend. Als sie mich sah, wurden ihre Augen riesig. Ich wandte mich zu dem Fremden und fragte: „Wie lautet dein Name?“ „Meine liebe Lady Sanna, nennt mich Minas.“ Er verbeugte sich galant vor mir und küsste meinen Handrücken. Ich sah auf meine hellen Finger hinab. Eine weitere, kleine Rose hatte sich zu der großen hinzugesellt. Minas grüßte Mira in dem er an seinen Zylinder tippte, dann schritt er elegant aus den Glastüren des Hotels hinaus. Als ich wieder aufblickte, stand Mira vor mir. „War er das?! Mira war so aufgeregt, dass sie nicht still stehen konnte. Ich nickte, starrte immer noch auf meine Hand. „Sieh doch noch, sie ist so schön.“ „Sanna, geht es dir gut?“ Mira wedelte mit der Hand vor meinen Augen herum. „Sein Name ist Minas, er ist zweiundzwanzig.“ Mehr sagte ich nicht, ging einfach hinauf auf das Zimmer, packte meine Sachen zusammen und zog mir wieder das schwarze Kleid über. Meine Freundinnen sahen mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Sie fragten und fragten, doch mehr als Mira ihnen sagen konnte, erfuhren sie nicht. Am Abend verabschiedete ich mich knapp von meinen Freundinnen. Meinen Eltern hatte ich am Nachmittag gesagt, dass ich eine Ausbildung gefunden und schon unterschrieben hatte, außerdem blieb ich gleich hier dafür. Sie hatten nichts dagegen. Den Weg zum Theater fand ich auf Anhieb. Der alte Mann mit der Drehleier saß wieder da. „Herzlich willkommen, Lady Sanna.“ Er verbeugte sich tief und spielte weiter. Ich schluckte noch einmal, dann trat ich entschlossen ein. Minas erwartete mich schon in dem dunklen Flur, er hatte ein Lächeln auf dem Gesicht. „Herzlich willkommen, meine Liebe. Ich freue mich, dich hier begrüßen zu dürfen. Komm mit, ich stelle dich vor.“ Er fasste mich an der Hand und legte sie auf seinen Arm. Ich wurde unruhig, als ich so nah neben ihm herging. Seine Hand war so warm gewesen. Er roch nach Minze und ein wenig Lavendel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)