Unvergesslich von Namaiki (Obliviate) ================================================================================ Kapitel 1: Grau in Grau ----------------------- Sein Blick huschte von ihrem Gesicht, über ihren grauen Umhang zu dem Stab in ihrer Hand, der gerade eben noch auf seine Fensterscheibe gedeutet hatte, die sich momentan selbst zusammensetzte. Er stöhnte auf, warf sich zur Seite auf sein Kissen und drückte den Kopf darauf. Das gab Phoebe kurz Zeit, sich zu fassen und ihn zu betrachten. Sein blondes ehemals schulterlanges Haar, das ihm immer im Gesicht gehangen hatte, war nun kurz geschnitten, er trug Jogginghose und T-shirt. Sehr gewachsen war er wohl nicht mehr, aber er war früher schon immer ein kleiner Riese gewesen. Als er sein Gesicht aus dem Kissen hob, bemerkte sie, dass er sich auch sonst bis auf ein paar Bartstoppeln kaum verändert hatte. Sein Mund war noch immer so groß, seine Lippen noch genauso einladend, die Nase hatte sich keinen Zentimeter wegbewegt und auch die Augen, vor allen Dingen die Augen, waren die gleichen geblieben. Nur der Ausdruck, den sie zeigten, war ungewohnt. Er wirkte immer noch geschockt und unsicher, nur die Neugierde und Aufregung, die dahinter standen, waren ganz er selbst. Er stand auf und tappte zum Fenster hinüber, das mittlerweile keine Spuren von seinem Zusammenstoß mit einem Besen zeigte. Ungläubig klopfte er dagegen. „Pheebs“, sagte er, während er sich zu ihr umdrehte, „sei ehrlich. Bin ich verrückt geworden?“ „Ich fürchte, das ist echt, Flynt“, meinte sie leichthin und schalt sich in Gedanken. Was tat sie da? Sie sollte ihren Job erledigen und dann verschwinden. Bevor sie ihren Gedanken aber in die Tat umsetzen oder daran scheitern konnte, begann Reece zu lachen. Er legte den Kopf in den Nacken und brach in so wildes Gelächter aus, dass Phoebe erschrocken zusammenzuckte und ihn nun ihrerseits unsicher beäugte. „Das ist so absolut dämlich“, japste er, nachdem er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. „Trinken Halluzinationen eigentlich? Ich glaube, irgendwo habe ich noch diesen Zitronentee, den du früher so gemocht hast...“ Er lief kopfschüttelnd an ihr vorbei – in die Küche, wie sie vermutete. Überfordert ließ Phoebe sich auf das Sofa sinken und rekapitulierte. Reece hielt sie für eine Geisteskrankheit – das konnte sie ihm nicht verübeln. Sie hatte ihn immer noch nicht verzaubert und wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich auch weiterhin nicht in der Lage dazu. Sie hatten sich nicht gesehen, seit sie zu ihrem 7. Jahr in Hogwarts aufgebrochen war, aber seine Wirkung auf sie schien sich nicht gemindert zu haben. Im Gegenteil, sie fühlte sich noch berauschter als früher. Im Grunde war das nur ein weiteres Argument dafür, zu verschwinden, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen. Ein bisschen wollte sie noch bleiben, ein bisschen, nur bis sie den Tee getrunken hatte. Als er wiederkam, hatte er tatsächlich zwei Tassen von dem versprochenen Zitronentee in den Händen. Er schien zu zögern, bevor er ihr eine davon gab, aber als er die Tasse losließ, traf seine Befürchtung, sie werde zu Boden fallen und zerspringen, nicht ein. Schließlich hatten Hirngespinste normalerweise nicht die Eigenschaft, besonders standhaft zu sein. Auch Phoebe war erleichtert, wenn auch aus einem anderen Grund. Es war immer eine Angewohnheit, eine Eigenart von ihr gewesen, Dinge fallen zu lassen oder über sie zu stolpern, sodass entweder sie oder die Sache zu Bruch ging. Als Resultat war sie sehr gut darin, Dinge wieder zu reparieren und den Schaden zu beheben, den sie angerichtet hatte und Madame Pomfrey hatte sich in Hogwarts längst nicht mehr gewundert, wenn sie mal wieder vorbeischaute. Tatsächlich war das das Einzige gewesen, dass sie vor anderen Schülern ausgezeichnet hatte. So wie sie Passwörter vergaß, vergaßen die Schüler und manchmal sogar einige Lehrer sie. Trotz ihrer Macken war sie nicht schlecht genug, um allzu negativ aufzufallen und nicht gut genug, um ihr größere Aufmerksamkeit zu schenken. Also hielt sie sich im bedeckten Mittelfeld und verschmolz beinahe mit ihrem Stuhl, bis sie beinahe selbst zu einem Möbelstück wurde. Ein Fußhocker vielleicht. Der Einzige, der sie trotzdem immer beachtete, war Professor Longbottom und das, obwohl seine Pflanze regelmäßig ihre Ungeschicklichkeit zu spüren bekamen und es ihr mit gleicher Münze heimzahlten. Sie hatte nie herausgefunden, warum er sie so zu mögen schien aber sie war dankbar dafür gewesen. Einmal hatte er ihr gesagt, dass absolut jeder etwas hatte, dass er besonders gut konnte, sie musste es nur noch finden. Sie fand, das klang wie aus einem Glückskeks und das Einzige, was ihr einfiel, war ihre „Fähigkeit“, Dinge recht gewissenhaft zu reparieren. Sie war der Meinung, dass man das nicht zählen konnte. Sie fand das Etwas nicht in Hogwarts. Erst später, als sie mehr auf das Drängen ihres Vaters hin, der selbst einer war, als aus eigenem Antrieb eine Ausbildung als Vergiss-mich begann, entdeckte sie es. Vergessenszauber. Sie gingen ihr leicht von der Hand, so leicht, dass sich ihr Ausbilder manchmal vor Begeisterung fast überschlug. Auch davon abgesehen, war sie in vielerlei Hinsicht für diese Aufgabe geradezu prädestiniert. Sie war unauffällig, das hatte sie schon zu Schulzeiten bewiesen und das kam ihr nun zugute. Sie war ein Halbblut und dank ihrer Mutter kannte sie sich zumindest soweit in der Mode der Muggel aus, dass sie es einigermaßen problemlos schaffte, nicht aufzufallen, wenn sie unter Menschen ging. Das konnte sie besser, als es ihr Vater je vermocht hatte. Dass sie Dinge leicht reparieren konnte, half auch. Nicht immer wurde das Magische Unfallumkehr-Kommando gerufen, wenn etwas kaputt ging. In der Vergiss-mich-Zentrale hatte sie eine Art der Zufriedenheit über die eigenen Leistungen kennengelernt, die ihr bisher immer fremd gewesen war. Sie war nicht ehrgeizig genug, um sich früher wirklich über ihre Mittelmäßigkeit zu ärgern aber als sie das erste Mal das Gefühl warmen Erfolges spürte, fragte sie sich trotzdem, wie sie es so lange ohne ausgehalten hatte. „Pheebs?“ Sie schreckte auf. Ihre Gedanken waren weiter abgedriftet, als sie es in dieser Situation für möglich gehalten hätte. Sie sah auf und bemerkte eine Hilflosigkeit in seinem Gesicht, die ihr nicht behagte. „Was passiert hier?“ Auch aus seiner Stimme war jegliche Heiterkeit gewichen und hatte einer matten Müdigkeit Platz gemacht. Sie überlegte, wie sie sich fühlen würde, stünde plötzlich ihr Weltbild auf dem Kopf. In ihr regte sich Mitgefühl. Es wäre einfacher gewesen, ihn vergessen zu lassen, aber stattdessen sagte sie: „Ich bin eine Hexe.“ Schlicht und einfach. Er starrte sie an. Sie erkannte in seinen Augen, wie er nachdachte. Wie ihr zuvor schossen ihm Erinnerungen durch den Kopf, auch wenn seine vermutlich keine romantischer Natur waren. Das erste, was er nach Minuten bedrückender Stille, in denen sie nichts weiter tat, als unruhig auf ihrem Sitzplatz hin und her zu rutschen und gelegentlich an ihrem Tee zu nippen, war: „Das Fernrohr. Du hast es aus dem Baumhaus fallengelassen und es ist kaputt gegangen. Als du am nächsten Tag wieder kamst, war es wieder ganz und du hast gesagt, deine Mutter könne gut kleben.“ Sie neigte wie zur Bestätigung den Kopf. „Eigentlich war es mein Vater, der gut zaubern konnte.“ Er stand ruckartig auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. „Und dieser gemeine Junge aus der Nachbarschaft. Er war anderthalb mal so groß wie du und fast doppelt so breit. Aber als er sich dich vornehmen wollte, hat er dich nie erwischt, obwohl du dich kaum bewegt hast.“ Er grinste. Diesmal nickte sie nur. Sein Grinsen verschwand. „Warst du deshalb plötzlich weg?“ Verwirrt hörte sie auf, ihre Tasse zu betrachten und sah auf. „Naja, das kann man so nicht sagen. Ich war mit der Schule fertig und habe hier meine Ausbildung begonnen. Aber ich wäre ja auch so bald ausgezogen...“ „Was meinst du mit hier?“ „Na, hier, in London.“ „Du warst die ganze Zeit in London?“ Entgeistert starrte er sie an. Kurz darauf lächelte er schwach. „Tut mir leid, ich dachte nur immer... Hexen leben in meiner Vorstellung einfach nicht in Großstädten, eher in Sumpfgebieten oder Wäldern.“ Sie musste unwillkürlich lächeln. „Nein. Den einzigen, den ich kenne, der so lebt, ist Professor Hagrid auf Hogwarts“, überlegte sie. „Professor Hagrid auf Hogwarts?“ „Professor Hagrid ist ein Halbriese und war mein Lehrer in Pflege magischer Geschöpfe auf Hogwarts. Das ist eine Schule für Hexerei und Zauberei.“ Wieder starrte er sie an, doch nun schien seine Neugier geweckt. „Es gibt dafür eine Schule!? Und magische Geschöpfe? Moment, Halbriese?“ In seine Stimme hatte sich mittlerweile eine Begeisterung geschlichen, die sie noch mehr beunruhigte, als die vorherige Hilflosigkeit. Also gut. Im Versuch Entschlossenheit zu demonstrieren, stellte sie ihre Tasse ab, stand auf und zog erneut ihren Zauberstab. „Hör zu...“ Sie wollte ihm fest in die Augen blicken. „... Reece...“ Nur genügte dieser Blick in seine grauen Augen, um alle demonstrierte Entschlossenheit dahinschmelzen zu lassen. Stattdessen fixierte sie seine Nasenspitze und fuhr fort. „Ich bin nicht hier, um mit dir Tee zu trinken. Ich bin hier... Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass du dich nicht mehr an diesen Vorfall erinnerst. Oder daran, dass ich da war. Und deshalb...“ Sie hob ihren Zauberstab und versuchte alles andere zu verdrängen. Er sprang auf. „Moment, Pheebs, bitte, du kannst doch nicht...“ Sie schüttelte stumm den Kopf. „Doch, ich kann. Das ist schließlich mein Beruf.“ Sie fragte sich unwillkürlich, ob sie sich das nur selbst einredete. „Tut mir leid, Flynt. Obli-...“ Blitzschnell sprang Reece hinter sein Sofa. „Das kannst du einfach nicht. Du kommst her und erzählst mir, es gibt Magie und Halbriesen und dann wedelst du mit diesem Zauberstab und sagst mir, dass ich gleich nicht mehr wissen werde, dass du überhaupt da warst... Bitte, Pheebs.“ Er lugte hinter der Couch hervor. Das wäre eine Gelegenheit gewesen, mal ganz abgesehen davon, einfach um die Sitzgelegenheit herumzugehen. Aber sie zögerte. Er beeilte sich weiterzureden. „Eine Woche. Gib mir eine Woche voller Magie und Hexerei und von mir aus auch Halbriesen. Nur 7 Tage. Bitte, Pheebs.“ Phoebe biss sich auf die Lippe. Das war dumm. Sie konnte das Alles jetzt und hier beenden, ob er es wollte oder nicht. Als ihn ansah, ihn und seine bettelnden Augen, erkannte sie, dass sie es nicht konnte. „Du darfst es niemanden sagen.“ Ihre Stimme klang heiser, als sie das sagte. Er nickte heftig. „7 Tage“, wiederholte sie noch einmal. Reece nickte noch heftiger und begann zu strahlen wie ein kleines Kind. Auch sie nickte noch einmal und apparierte fluchtartig. Als sie hinter ihrer eigenen Haustür wieder auftauchte und sich langsam an der Wand zu Boden gleiten ließ, fragte sie sich: Was zum Teufel hatte sie nur getan?! Erst nach einigen angespannten Momenten, in denen sie sich zu beruhigen versuchte, schaffte sie es, sich wieder aufzurichten und in ihr Wohnzimmer zu tapern. An dem Spiegel im Flur hielt sie kaum inne. Sie wusste, dass ihr nur eine junge, schrecklich blasse Frau mit dünnen, aschblonden Haaren und gewöhnlich graublauen Augen entgegen blicken würde. Nach der heutigen Nachtschicht würde sie vermutlich auch dicke Ringe unter den Augen haben, was auch nicht gerade zu höherer Attraktivität beitrug. Sie ging direkt weiter in die Küche, zu ihrem Kühlschrank und goss sich ein Glas Wasser ein, das sie schnell austrank. Sie stellte es ab, lief wieder aus der Küche und in ihr Schlafzimmer. Mochte sie auch gegen alles verstoßen haben, das ihren Beruf ausmachte, sie würde jetzt schlafen und sich morgen damit befassen. Als sie schließlich im Bett lag, kam ihr noch ein letzter Gedanke, bevor sie einschlief. Sie war grau in grau, unauffällig. Ein Vergiss-mich. Aber Reece hatte sie nicht vergessen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)