Finera - Dawn of the Dark von Kalliope ================================================================================ Kapitel 24: So gut wie pleite ----------------------------- 9. Oktober - Rain - Am Abend hatten Camille und Rain es sich im Speisesaal des Pokémoncenters bequem gemacht. Die Tische, an denen normalerweise gegessen wurde, hatte man an die Seiten geschoben und in der Mitte bildeten die anwesenden Trainer insgesamt sieben Stuhlreihen. Vorne stand eine alte Dame mit graumeliertem Haar und mildem Lächeln, die sich schon zu Beginn der Aktion als ehemalige Schwester Joy vorgestellt hatte. „Tante Gretchen hat jahrelange Erfahrung“, dozierte die aktuelle Schwester Joy und schaute dabei, wie meistens, eher gelangweilt drein. Sie gehörte wohl zu der seltenen Spezies von Joys, denen das strahlende Lächeln nicht permanent ins Gesicht geschrieben stand. Ob sie sich diesen Job überhaupt selbst ausgesucht hatte? „Ich habe mich schon immer gefragt, wieso die Joys sich alle so verdammt ähnlich sehen“, raunte Camille Rain in diesem Augenblick zu. Beide saßen am Rand der vorletzten Reihe, weil sie sich verspätet hatten. Das Plakat, das einen Vortrag von Gretchen Joy zum Thema Zucht und Geburtshilfe bei Pokémon ankündigte, hatten sie beide bislang übersehen, aber soweit sie mitbekommen hatten, hatte Schwester Joy auch einen ziemlich ungünstigen Ort zum Aufhängen gewählt. Rain zuckte leicht mit den Schultern und neigte ihren Kopf zu Camille. „Diese Familie muss verdammt dominante Gene haben. Ich habe noch nie eine Joy gesehen, die nicht die weichen Gesichtszüge und die rosa Haare geerbt hat.“ Camille nickte zustimmend. „Die Augenfarben sind schon unterschiedlich und die Statur manchmal auch, aber ansonsten gleichen sie wie ein Ei dem anderen.“ „Psst!“ Ein Junge vor ihnen drehte sich zu ihnen um. „Seid still, es geht los!“ Zusammen mit den gezischten Worten kehrte Ruhe im Raum ein und die alte Joy stellte sich vorne vor die versammelten Trainer. „Es freut mich, dass so viele junge Leute gekommen sind, die sich für das Thema interessieren. Die meisten von euch sind Trainer auf der Durchreise, aber zwei oder drei, mit denen ich mich bereits kurz unterhalten habe, möchten Züchter werden.“ In der ersten Reihe saßen ein Junge und zwei Mädchen, die sich offensichtlich angesprochen fühlten, denn sie streckten stolz die Brust raus und tuschelten leise miteinander. Gretchen Joy fuhr mit der inhaltlichen Planung ihres Vortrags fort und Rain ahnte bereits, dass das Thema doch nicht so ganz ihren Geschmack treffen würde, als unvermittelt ihr ComDex zu piepen begann. Zwanzig Augenpaare wandten sich zu ihr um, darunter mehr als nur ein paar böse Blicke. Dazu kamen diejenigen, die hinter ihr saßen oder sich nicht umgedreht hatten. „Entschuldigung“, sagte sie schnell, stand auf und zog sich in die Lounge im Eingangsbereich zurück. Noch immer piepte ihr ComDex lautstark und kündigte damit den sich leerenden Akku an. „Und ich dachte, das Ding hält mindestens ein bis zwei Wochen.“ War sie schon so lange von zu Hause weg? Grob überschlug sie die Tage. Heute war der 9. Oktober und am 27. September war sie von zu Hause abgehauen. Tatsächlich, der Akku hatte jeden Grund, um sich zu verabschieden. Sie fluchte leise, ging dann nach oben in das Doppelzimmer, das sie sich mit Camille teilte, und schloss den ComDex an das Ladekabel an. Während sie damit beschäftigt war, scrollte sie durch die Kurznachrichten, darunter war eine neue von ihrer Mutter, die um einen baldigen Rückruf bat. Rain überlegte nicht lange, denn den Vortrag wollte sie sich nicht weiter antun. Also ging sie zurück nach unten ins Erdgeschoss zu der Ecke mit den Bildtelefonen. Zwei der roten Kästen hingen an der Wand gegenüber der Loungesessel und waren durch eine halbhohe Trennwand und einige große Pflanzen vom restlichen Geschehen abgeschirmt. Nachdem es ein paar Mal getutet hatte, meldete sich ihre Mutter am anderen Ende und der schwarze Bildschirm erwachte flackernd zum Leben. „Rain, Schatz, da bist du ja!“ „Hey, Mom, was gibt’s?“ Ihre Mutter lächelte sie an und ihre türkisfarbenen Haare, in denen sich die ersten grauen Haare zeigten, hingen nass bis auf ihre Schultern. Sie musste gerade aus der Dusche gekommen sein. „Ich hatte vorhin ein sehr nettes Gespräch mit deiner Schwester. Summer hatte eine großartige Idee.“ Rain kniff die Augen leicht zusammen. Summer und großartige Idee gehörten ihrer Ansicht nach nicht zu den Dingen, die sie unbedingt in einem Satz miteinander kombinieren würde. „Und die wäre?“ „Sie hatte ein paar Probleme mit einem Mädchen, das sie wegen ihrer Herkunft ausgegrenzt hat. Summer hat vorgeschlagen, dass ihr auf die Hälfte eures Taschengeldes verzichtet und komplett auf unsere Unterstützungszahlungen. Auf diese Weise wärt ihr fast vollkommen auf euch selbst gestellt und könnt die Reise genau so erleben, wie es die meisten jungen Leute tun. Mir ging es damals nicht anders, nun ja, zumindest bis auf den Batzen, den ich mir extra dafür zusammengespart hatte.“ Kichernd erinnerte ihre Mutter sich an ihre Jugendzeit zurück. „Ich finde die Idee wirklich gut.“ „Hm“, brummte Rain. Wieso machte Summer sich ausgerechnet jetzt Gedanken über so etwas? In den sechzehn Jahren davor hatte sie sich schließlich auch nie mit der Herkunft des Geldes beschäftigt und wie sie damit auf andere wirken könnte. „Muss das sein?“ Am anderen Ende herrschte einige Sekunden lang Schweigen. „Ja, ich denke, das wäre eine gute Erfahrung für euch beide. Außerdem könnt ihr euch im Notfall natürlich immer noch an uns wenden.“ „Ich kann dich nicht umstimmen oder?“ „Versuch es wenigstens, ja?“ „Ja.“ „Du bist ein Schatz. Wir telefonieren bald wieder, ich hab dich lieb. Viel Spaß noch heute Abend!“ Rain verabschiedete sich von ihrer Mutter, wartete, bis der Bildschirm schwarz wurde und drückte dann den Aus-Knopf. Ausgerechnet ihre Schwester war also auf die Idee gekommen, dass sie auf einmal sämtliche Strapazen mit anderen Reisenden teilen sollten. Auf der einen Seite fand Rain diese Idee zwar gar nicht so schlecht, aber auf der anderen Seite … Sie kramte ihr Portemonnaie aus der Hosentasche, öffnete das Fach mit den Scheinen und zählte noch genau sechshundert Pokédollar, die sie als Bargeld dabei hatte. Eigentlich hatte sie morgen zur Bank gehen wollen, doch nun mussten die ausgiebigen Einkaufstouren und Cafébesuche mit Camille wohl kleiner und weniger ausfallen. Sie seufzte, steckte ihr Portemonnaie zurück und freundete sich nur langsam mit dem Gedanken an, dass sie aktuell so gut wie pleite war. Am Tresen von Schwester Joy, die dem Vortrag ihrer Vorgängerin ebenfalls nicht mehr lauschte, erkundigte sie sich nach Aushilfsjob, doch die Joy zuckte nur gelangweilt mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen? Hier brauche ich jedenfalls niemanden.“ Enttäuscht kehrte Rain auf ihr Zimmer zurück und grübelte, wie sie die Angelegenheit am besten angehen sollte. Illumina City war eine teure Stadt, auch wenn Unterkunft und Essen im Pokémoncenter für Trainer mit offiziellen IDs dank der Finanzierung durch Steuergelder kostenlos war. Das Essen war immer dasselbe, von einem aktuellen Tagesangebot am Mittags- und Abendtisch einmal abgesehen. Camille liebte Schokolade, Pizza und andere Fertiggerichte, die sie grundsätzlich dazu kauften, außerdem gönnte Rain sich jeden Tag zumindest einen Milchkaffee mit Vanillesirup, den sie jeden Vormittag bei einer teuren Cafékette holte. Sie war frustriert, weil sie sich schon wieder Summers Willen beugen musste, obwohl sie extra von ihrer Schwester getrennt reiste. Doch egal, wie sehr sie sich grämte, fiel die Entscheidung schnell, dass sie sich gleich am nächsten Tag nach einem Nebenjob umsehen musste, wenn sie weiterhin ihren Lebensstandard halten wollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)