Promise von YourBucky ================================================================================ Kapitel 4: Vierte Erinnerung - Denk an mich ~ Remember me --------------------------------------------------------- Vierte Erinnerung - Denk an mich ~ Remember me Auf dieser Fanfic liegt ein Fluch! ^^; Diesmal konnte ich so lange nicht schreiben, weil mein PC grad nicht tut und ich die Story erst vor ein paar Tagen auf einer Diskette gefunden habe... dafür ist das Kapitel besonders lang geworden. Lalit ist so ein toller Charakter! Auch wenn ich ihn diesmal wirklich manchmal nicht mehr verstanden habe... ich glaube, er versteht sich selber nicht... *drop* Ich war aber auch so gemein und habe all meine Ferienendendepri und meine Angst vor der neuen Klasse an Lalit-kun ausgelassen. Gomen! Und... ich weiß auch nicht, was mich zu diesem Ende bewegt hat, wirklich! Vergebt mir! ^^; Wie auch immer, dieses Stück Wahnsinn widme ich vor allem mal wieder meinem FF-Autor Son-Goku Daimao! Für dich!!! *knuddl* Und außerdem ist das hier für Van17... danke, danke, danke für die langen Commis! ^.^ Viel Spaß beim lesen!!! Die Kutsche war noch vor Sonnenaufgang aufgebrochen. Zwei kräftige Apfelschimmel zogen das schneeweiße Gefährt durch die verschlafene Frühlingslandschaft. Lalit wusste, dass sich das Bild hinter dem kleinen Fenster schon bald wandeln würde. Während hier in Belicia die warme Jahreszeit an einigen Bäumen prächtige Blütenregen hervorbrachte und die weißen Wiesen in zarte Farbenpracht tauchte, lag das Königreich Fuyubi noch in tiefstem Winterschlaf. Im Land der Eisseen wurde es zwar wärmer als in den sturmgepeitschten Tälern von Akai, aber dennoch lag das ganze Jahr hindurch dicker Schnee auf den endlosen Ebenen. Lalit sah aus dem Fenster, ohne wirklich auf die vorbeiziehende Landschaft zu achten. In seinem Kopf spielten sich noch einmal die Szenen der vergangenen Stunden und Tage ab. Er sah seinen Vater, wie er in einem riesigen Berg aus Kissen und Decken in jeder Sekunde ein bisschen mehr starb. Die müden violetten Augen, die ihn ohne jegliche Wärme musterten, und die zittrige Stimme, die nur noch entfernt an die Strenge und Autorität vergangener Tage erinnerte. "Lalit, Ihr wisst, was ihr zu tun habt." "Natürlich, Vater. Wenn wir zurückkehren, werden wir euch einen würdigeren Nachfolger mitbringen, als ich es war. Macht euch das nicht glücklich?" "Redet... nicht so mit mir." "Verzeiht, Vater." "Ach, lasst doch diese... geheuchelte Höflichkeit bleiben. Erfüllt eure Bestimmung. Und wehe, ihr lasst irgendwelche... Schande... auf unser Königshaus kommen." "Aber natürlich nicht, Vater." Der sterbende König hatte nicht mehr geantwortet. Sein Kopf war kraftlos zur Seite gekippt, seine Augen geschlossen. Seine Brust hob und senkte sich langsam in unruhigem Schlaf. Der Heiler war augenblicklich eingetreten und hatte Lalit angewiesen, den Patienten nun ruhen zu lassen. Lalits goldene Augen folgten versunken den übermütigen Sprüngen eines zierlichen, schneeweißen Rehs, das sich erschrocken vom Hufgeklapper der Pferde in sein Versteck zwischen den verschneiten Bäumen eines dichten Waldes zurückzog. Der junge Thronfolger seufzte leise. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er das gewohnte Bild der tiefgrünen Wälder Belicias vermissen würde. Er war als Kind schon einmal in Fuyubi gewesen und erinnerte sich noch verschwommen an endlose, glitzernde Felder aus reinem Weiß und dem blendenden Hellblau der unzähligen gefrorenen Teiche. Damals war er, wie vor jeder Reise, von freudiger Erregung erfüllt gewesen und hatte sich an dem so ungewohnten Anblick gar nicht satt sehen können. Von dieser Freude war an dem jetzigen Morgen nicht das Geringste übrig geblieben. Lalit hörte den gleichmäßigen Atem seiner schlafenden Frau hinter sich. Er selbst war ebenfalls noch müde, aber die wirbelnden Gedanken in seinem Kopf ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Der junge Weißhaarige lehnte sich zurück und starrte hinaus auf die dichte Mauer aus tiefgrünen Fichten und Tannen. Ihre Äste hingen schwer unter dem drückenden Gewicht der Schneemassen hinab. In Lalits Gedanken drängte sich die Erinnerung an seinen Abschied vom Hof. Die lieblose Umarmung seiner Mutter, begleitet von ein paar guten Worten, die aus ihrem Munde irgendwie hilflos wirkten. Neben ihr stand sein Großvater. Lalit konnte sich selten daran erinnern, den alten Mann so glücklich und zufrieden erlebt zu haben. Der Weißhaarige verzog das Gesicht. Schon bei dem bloßen Gedanken an dessen selbstgefälliges Lächeln wurde ihm übel. Er schüttelte den Kopf und vertrieb das Bild. Die weiße Kutsche rollte in eiligem, aber nicht zu schnellem Tempo aus dem verschneiten Wald hinaus. Den Wegesrand säumte nun eine Wiese, deren Oberfläche nur vereinzelt mit einer Schneeschicht bedeckt war. Hier und dort gab es große Flecken, in denen winzige Blumen ihre zarten Köpfe aus dem dichten, sattgrünen Gras streckten. Lalit wusste, dass diese kleinen grünen Oasen immer seltener werden würden, sobald sie sich der Landesgrenze näherten. Eigentlich mochte der junge Thronfolger den Winter lieber als den Frühling, wenn die ganze Landschaft von einer weißen, glitzernden Schicht verzaubert wurde. Und dennoch stimmte ihn der Gedanke traurig, dass er einen Frühling ohne die blühenden Bäume und die farbenfrohe Blütenpracht inmitten der leuchtenden Wiesen ihres Schlossgartens erleben würde. Ohne das Leuchten der schönsten Augen, die ein Mensch nur haben konnte. Zwei Augen, die intensiver funkelten als das Blau des Himmels und des Türkis des Meeres an einem wolkenlos sonnigen Sommertag. Kein Edelstein konnte kostbarer Glitzern, kein Schmuckstück konnte prächtiger und wertvoller sein. Lalit seufzte leise. Es war doch zum Verzweifeln! Jetzt war er noch nicht einmal einen einzigen Tag aus dem Schloss aufgebrochen, und schon begann er, Kierans Anwesenheit zu vermissen. So schmerzhaft es auch sein mochte, den Geliebten stets um sich zu haben, ohne ihn berühren zu können oder von ihm in die Arme geschlossen zu werden, umso mehr zerriss ihm diese so endgültig scheinende Trennung das Herz. Wer konnte ihm denn schon sagen, wie lange der Aufenthalt in Dalias Schloss dauern würde? Das Einzige, was er mit grausamer Gewissheit sagen konnte, war, dass die Zeit ihm dort wie eine Ewigkeit erscheinen würde. Wie sollte er denn nur leben können ohne seinen Kieran? Lalit schloss seine Augen und sah im Geiste noch einmal jenen unendlichen und doch vergänglichsten aller Augenblicke, in dem er seinen schwarzhaarigen Engel das letzte Mal hatte sehen sollen. Wie immer war der Junge mit gesenktem Haupt vor ihm gestanden, den Blick starr zu Boden gerichtet, die Hände zu Fäusten geballt, so als harre er in stummer Erwartung der schrecklichen Dinge, die ihm jede Sekunde widerfahren konnten. Die ganze Haltung seines Körpers drückte tiefste, unterwürfige Demut aus und versetzte Lalit einen schmerzhaften Stich mitten in sein Herz. "Kieran, ich habe eine Aufgabe für dich!" Lalits Worte hatten sanft klingen sollen, doch kaum hatte er sie ausgesprochen, entglitten sie seinen Händen und verwandelten sich in einen gewöhnlichen Befehl. Für einen Moment stockte dem jungen Thronfolger der Atem und er wagte es nicht, mit seiner Rede fortzufahren. "Natürlich, eure Majestät!" versicherte Kieran eilig und verneigte sich leicht. Lalit fragte sich unweigerlich, was wohl geschehen mochte, wenn er seinen jungen Diener anwies, augenblicklich aus dem Fenster seines Turmzimmers zu springen. Wahrscheinlich würde er auch solch einen Selbstmordbefehl ohne ein einziges Mal mit der Wimper zu zucken befolgen. "Ich möchte, dass du mir schreibst, was in meiner Abwesenheit am Hofe geschieht. Ich werde dir antworten und wiederum Bericht von meiner Situation erstatten. Diese Briefe sollst du sammeln, aber niemandem zeigen, es sei denn, ich teile es dir ausdrücklich mit. Ganz egal, was du lesen wirst, behalte es nur für dich!" Auf Kierans Gesicht trat ein ängstlicher Ausdruck. Ihm war deutlich anzusehen, dass er den Sinn hinter dem Befehl des jungen Thronfolgers nicht erkennen konnte. Dennoch nickte er. "Selbstverständlich, eure Majestät!" "Es ist ganz einfach so, dass ich nicht den Überblick über die Geschehnisse am Hof verlieren möchte. Wenn es nun ein Problem gibt, kann ich dir immer noch schreiben, was du unter Umständen tun kannst!" Lalit wusste selber am Besten, dass er sich und seinen Diener mit diesen Worten belog, aber das war ihm vollkommen egal. Allein der Gedanke, seinen Geliebten für einen unbestimmten, auf jeden Fall aber unerträglich langen Zeitraum nicht mehr sehen zu können, war an und für sich schon mehr, als er ertragen konnte. Wenn es nun irgendeine Möglichkeit gab, doch noch mit ihm in Kontakt zu bleiben, musste er sie um jeden Preis nutzen. "Die Briefe wirst du in einem Umschlag versiegeln und dann Lyra, der Amme meines Großvaters geben. Sage niemand anderem etwas davon. Lyra wird sie unter ihrem Namen verschicken und ich werde meine Antworten ebenso an sie adressieren." Wiederum nickte Kieran, ohne seinen Blick auch nur ein Stückchen dabei zu heben. Lalit fragte sich ernstlich, was wohl im Kopf seines schönen Dieners vorgehen musste. Die Anweisungen seines Herrn mussten ihm unvorstellbar absurd erscheinen! Wie nicht anders zu erwarten lies er sich jedoch nichts von seiner Verwunderung anmerken und stimmte ohne irgendwelche Fragen zu stellen zu. "Ich werde den ersten Brief am Tag meiner Ankunft im Schloss schreiben und du wirst mir so schnell wie möglich darauf antworten. Falls ich einmal innerhalb von sechs Wochen nicht zum Schreiben kommen sollte, wirst du ebenfalls einen Brief senden. Wundere dich nicht, wenn ich unter falschem Namen schreibe. Hast du alles verstanden?" "Ja, eure Majestät! Ich werde alles genauso befolgen, wie ihr es mir befehlt!" Lalit nickte. Seine Augen fixierten unaufhörlich das dem Boden zugewandte Gesicht des schwarzhaarigen Dieners. Er wusste mit einem Mal nicht mehr, was er jetzt noch tun sollte. War das alles wirklich nicht nur ein böser Traum? Er redete über unvorstellbar lange Zeiträume, so als wären sie eine gottgegebene Selbstverständlichkeit. Hatte er sein Schicksal denn schon so schnell akzeptiert? Blieb ihm überhaupt eine Wahl? In seinem Inneren nagte unaufhörlich ein dumpfer, nicht enden wollender Schmerz, während seine äußere Hülle sich wie in einem Trancezustand eingefroren weiter bewegte. Der junge Thronfolger hatte das Gefühl, einen Meter über seinem eigenen Körper zu schweben und in lähmender Fassungslosigkeit gefangen zusehen zu müssen, wie unter ihm ein längst vollendetes Theaterstück ablief, in das er nicht mehr eingreifen konnte. "Leb wohl, Kieran!" fuhr die geistlose Hülle unter ihm fort. "Ich verlasse mich auf dich, während ich nicht hier bin." "Lebt wohl, eure Majestät!" Kieran verneigte sich tief. Seine Stimme und auch sein Gesicht waren zwar keineswegs so kalt und emotionslos wie es bei Lalit der Fall war, aber dennoch lies sich nicht die geringste Gefühlsregung aus seinen Worten ablesen. Es war, als spräche er nicht aus eigenem Antrieb, sondern vielmehr so automatisch wie eine Puppe, deren Spieler in alter Gewohnheit immer wieder an denselben Fäden zog. "Ich werde für eure Sicherheit und für euer Wohlergehen beten!" "Ich danke dir. Und vergesse nicht, was ich dir aufgetragen habe." Lalit wusste, dass dies der endgültige Abschied war. Er würde gehen, hinab auf den Platz, wo die Kutsche und der Teil seiner Familie auf ihn wartete, der nicht gerade halb tot in einem weichen und kostbaren Sarg in Form eines Himmelbettes lag. Kieran würde wahrscheinlich sogar aufatmen, das Zimmer seines Herren in Ordnung bringen und dann anderen Aufgaben im Schloss nachgehen, bis ihn in einigen Wochen sein abgezwungenes Versprechen mit Stift und Papier an einen Tisch fesseln würde. Ein Versprechen... Der junge Thronfolger zuckte unweigerlich zusammen, als ihm schmerzlich in Erinnerung gerufen wurde, dass dies bereits der zweite Abschied von seiner ersten und einzigen großen Liebe war. Und obwohl diese unerträglichen Augenblicke scheinbar verschiedener nicht sein konnten, kroch in Lalit exakt das gleiche Gefühl hoch wie in jener längst vergangenen Winternacht. Sicher, damals war sein Kieran schreiend hinter der Kutsche hergerannt, die das junge Liebespaar so erbarmungslos auseinandergerissen hatte. Tränen waren über seine sommersprossigen Wangen gelaufen und hatten die türkisfarbenen Augen zum Glitzern gebracht, wahrend er verzweifelt den Namen seines Geliebten in die Nacht hinausrief. Mit dem durch und durch leidenschaftlichen, heißblütigen Jungen von damals schien jener scheue, unterwürfige Diener nichts mehr gemeinsam zu haben. Stumm und ängstlich stand er da, den Kopf demütig gesenkt, und wahrscheinlich wartete er sehnsüchtig darauf, dass sein seltsamer junger Herr ihn endlich allein ließ. Lalits Verhalten jedoch war dasselbe. Er war innerlich wie eingefroren, ließ sich ohne den geringsten Versuch von Gegenwehr von den Fäden ziehen, die das Schicksal für ihn gesponnen hatte. War nicht in Wirklichkeit er die Puppe, die sich bedingungslos umherzerren und herumkommandieren lies? Dies war nicht einfach nur der zweite Abschied. Es war das zweite Mal, dass Lalit regungslos dabei zusah, wie der Mensch, den er mehr als alles andere liebte, von ihm weggerissen wurde. "Kieran..." Lalit fuhr herum um zog die zierliche Gestalt des jungen Dieners mit einem Ruck an sich. Seine Hände vergruben sich in den pechschwarzen Haaren. Er fühlte die Wärme des kleineren Körpers an seinem eigenen, spürte, wie der flüchtige Atemhauch seinen Hals streifte. Er hatte in diesem Augenblick keinen anderen Wunsch, als die Berührung von Kierans Armen an seinem Rücken zu spüren, und sei es auch noch so zögerlich - und gleichzeitig wusste er, dass dieser eine Wunsch unerreichbarer war als jedes noch so kostbare Gut auf dem gesamten Planeten. Stattdessen begann der Schwarzhaarige in seinem Griff leicht zu zittern. Lalit wusste, dass er wahrscheinlich jede seiner Umarmungen aus tiefstem Herzen hasste und er verabscheute sich für das, was er tat. Dennoch konnte er nicht anders, als sein Gesicht ein letztes Mal gegen den Hals seines Geliebten zu pressen, noch ein einziges Mal seine Nähe zu spüren. Dann löste er sich von ihm. Kieran stand wie erstarrt inmitten des prächtigen Zimmers. Sein Blick war starr, beinahe krampfhaft auf den Boden gerichtet, seine Wangen gerötet. Sein schmaler Leib bebte, die höfliche Ausdruckslosigkeit auf seinem Gesicht wirkte erzwungen. "Denkst du an dein Versprechen, Kieran?" Lalit meinte, seine Stimme zittern zu hören, aber er wusste, dass er sich das nur einbildete. Im Laufe der Jahre war die kalte, gefühllose Maske mit seinem eigenen Gesicht verschmolzen und er wusste nur zu gut, dass er sie wahrscheinlich nie wieder abnehmen konnte. "Na-natürlich... eure... eure Majestät!" Kieran hatte einige Probleme damit, seine Fassung wiederzugewinnen, dennoch nickte er eifrig. Der junge Thronfolger fühlte einen kurzen, aber unvorstellbar schmerzhaften Stich in seinem Herzen. Wie konnte Kieran denn auch wissen, dass er die Frage seines Herrn nicht richtig verstanden hatte? "Gut... dann denk bitte daran..." Lalit wandte sich ab und ging auf die Türe zu. Er wusste, dass es unnütz war, seinem Diener zum Abschied zuzuwinken oder auch nur die Hand zu heben - er wagte es ja ohnehin nicht, ihn anzublicken. Trotzdem nickte er dem schwarzhaarigen Jungen noch ein letztes Mal zu. "Leb wohl..." Der Weißhaarige war langsam aus dem Zimmer gegangen. An den Weg hinab in den Hof konnte er sich nicht mehr erinnern. Er hatte nicht gedacht, nicht gefühlt... es war, als sei er auf diesen letzten Metern in seinem heimatlichen Schloss mit jedem Schritt ein bisschen mehr gestorben. Lalit schüttelte den Kopf und schlug müde die Augen wieder auf. Vor dem Fenster der Kutsche zogen endlose weiße Landschaften vorbei. Die Sonne tauchte die zahllosen Eiskristalle in ein kostbares, magisches Funkeln. Hier und dort ragten pechschwarze Baumskelette oder vereinzelte, dich aneinander gedrängte Tannengruppen aus der alles bedeckenden Schneeschicht hervor. Der junge Thronfolger wandte sich ab. Der Anblick mochte wunderschön sein, aber er berührte ihn nicht. Außerdem wusste er nur zu gut, dass ihm die nächsten Tage kaum andere Bilder zeigen würden. Gegen seinen Willen fielen dem schönen Kronprinzen erneut die Augen zu. Er blinzelte, aber seine Lider schienen mit jeder Sekunde ein wenig schwerer zu werden. Lalits Gedanken wurden von einem dunklen Nebel eingekreist, dem er schließlich nicht mehr ausweichen konnte. Er rutschte so weit wie möglich von seiner schlafenden Frau weg, dann gab er der süßen Versuchung nach und ließ sich in das dunkle, traumlose Nichts fallen. Die Fahrt zog sich fast zwei Wochen lang hin, obwohl sie jeden Tag lange Strecken zurücklegten und nur mit einem einzigen schwereren Schneesturm zu kämpfen hatten. Die Hufe der Pferde trabten sicher über jeden noch so glatten oder felsigen Boden, und auch die Räder der Kutsche, so prächtig verziert sie auch sein mochten, waren von meisterlicher Hand dazu geschaffen, selbst den extremsten Bedingungen Stand zu halten. Für Lalit machte es kaum einen Unterschied, ob die Fahrt nun Tage, Wochen oder Monate dauerte. Er fühlte sich wie in einem Schwebezustand zwischen zwei Welten, die beide aufhörten zu existieren, sobald man ihnen den Rücken kehrte. Das unwirkliche Gefühl war so allgegenwärtig wie die glitzernd weiße Schneedecke, auch wenn es mehr einem nebligen Käfig glich, der den jungen Thronfolger in einer ebenso flüchtigen wie unendlichen Traumwelt gefangen hielt. Als dann schließlich, nach zahllosen Meilen der Einsamkeit, der holprige Boden unter ihrem Gefährt zu einer breiten, gepflasterten Straße wurde, als die vereinzelten Bäume sich allmählich in Häuser wandelten, die Dörfer, die sie durchquerten, zu Städten heranwuchsen und nach weiteren winzigen Ewigkeiten der schneeweiße Scherenschnitt des Schlosses von Fuyubi auftauchte, konnte Lalit diesen Anblick anfangs noch gar nicht begreifen. Alles erschien ihm so fremd, so unwirklich, als würde sich das prachtvolle Bild jede Sekunde in Luft auflösen, sobald er es nur wagte, die Türen der Kutsche zu öffnen. Fuyubis Hauptstadt Chaela ließ sich jedoch auch mit gutem Gewissen als traumhaft beschreiben. Die Stadt war nicht nur von ihren Ausmaßen her gigantisch, sondern auch ein architektonisches Meisterwerk. Das Häusermeer schmiegte sich an eine kleine Anhöhe, wie sie ansonsten kaum in dem ansonsten so flachen, von endlosen Schneefeldern bestimmten Landschaftsbild zu finden waren. Oben auf diesem niedrigen Plateau lag nicht nur das Schloss der königlichen Familie, sondern auch ein riesenhafter See, der nur in den kältesten Wintermonaten zufror. Für die Einwohner Chaelas war jener See ein göttlicher Segen. Er goss sein Wasser in etlichen Wasserfällen in die Stadt hinab, wo es über ein ausgeklügeltes Kanalsystem bis in die entlegensten Winkel transportiert werden konnte. Und dies sicherte nicht nur das Leben der unzähligen Menschen, es verhalf der Metropole auch zu einer besonderen, bis weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannten Schönheit. Ein türkisfarben glitzerndes Netz durchzog die weißen Straßen und spaltete sich von den sieben Hauptadern ab. Überall fand man kleine Brückchen und verwunschene Hinterhöfe. Ihre efeubewachsene Torbögen führten wiederum zu kleinen Plätzchen, von denen jedes zu einer Rast an einem der Flüsschen einlud, während ein großes Mühlrad gemächlich das Wasser durchwälzte und unzählige Tropfen in die Luft schleuderte, die von der Sonne in glitzernde Kristallsplitter verwandelt wurden. Doch nicht nur abseits der großen Straßen ließ es sich gemütlich verweilen. Das allgegenwärtige Plätschern der kristallenen Fluten und das Rauschen der Wasserfälle brachten eine gewisse Ruhe und Gemächlichkeit in das rege Treiben der Menschen. Sei es in den schnurgeraden, von hohen weißen Häuserfronten gesäumten Gassen, sei es auf dem riesigen Marktplatz mit dem alles überragenden Níva-Tempel oder den zahllosen Restaurants und Cafés, die sich in die von dort aus abzweigenden Seitenstraßen drängten. Von all diesen Dingen bekam Lalit noch reichlich wenig mit. Ihre Kutsche passierte keine der vielen Attraktionen und Touristenmagnete Chaelas, sondern rollte zielstrebig durch ein wenig belebtes Randgebiet, dessen Prachtbauten mit ihren riesigen Grundstücken auf das Wohnviertel der höheren Schicht hinwiesen. Der junge Thronfolger blickte versunken aus dem Fenster und fühlte sich an seine lange zurückliegenden Besuche in der riesigen Metropole Gharyth, der Hauptstadt des Waldkontinentes Silvania erinnert. Auch dort war alles ein bisschen größer und prunkvoller gewesen als in anderen Städten und die Straßen und Gassen zogen sich ebenso geometrisch exakt durch die Häuserreihen, als hätte man sie mit einem Lineal gezogen. Die Fahrt durch Chaela erschien Lalit nahezu lächerlich kurz im Vergleich zu ihrer bisherigen Reise. Auch wenn er es sich nur höchst ungern eingestand, war er ein wenig enttäuscht. Die großen Städte hatten ihn seit jeher fasziniert, und das Bild der Häuser und geschäftigen Menschen bot eine nur allzu angenehme Abwechslung zu den endlosen, leeren Ebenen der vergangenen Wochen. Er hatte schon viel von dem berühmten Marktplatz zu Füßen der Wasserfälle gehört, von der unglaublichen Atmosphäre des Níva-Viertels bei Nacht, wenn die schmalen Straßen von Menschen überquollen, hundert verschiedene Düfte in der blauen Luft lagen und von Köstlichkeiten aus allen nur erdenklichen Ländern erzählten. Überall lockten Kellner die Vorbeieilenden in ihre Gaststuben, und die unzähligen Lichter verwandelten das Wasser der Kanäle in einen glitzernden Strom aus fließenden Sternen. Lalit seufzte leise, als ein schmerzhafter Stich in seinem Herzen ihn daran erinnerte, wer ihm einst von jener unbeschreiblichen, besonderen Schönheit der silbernen Stadt Chaela berichtet hatte, damals, in einer kalten Winternacht, bei einer dampfenden Tasse Tee im Gasthof von Cecaya. Er sah noch heute vor sich, wie Kierans türkisfarbene Augen gestrahlt hatten, als er ihm von den Wintermonaten in Fuyubis Hauptstadt berichtet hatte. Wenn die riesigen Wasserfälle zu bizarren Gebilden aus Eis erstarrten und das Licht der Sonne in funkelnden Facetten reflektierten, bis der sanfte Schein des Mondes sie schließlich in gefrorene Kristalle verwandelte. Und jeder einzelne von ihnen schien eine einzige glitzernde Träne des Silbermondes in sich zu tragen. Der junge Kronprinz wandte sich von seinem schönen Spiegelbild ab, das ihm mit kalten Augen aus der Scheibe der Kutsche entgegenblickte. Warum machte er sich überhaupt Gedanken über Chaelas Schönheit bei Nacht? Was brachte es ihm, wenn er Erinnerungen an irgendwelche großartigen Erzählungen nachhing, deren märchenhafte Wunder er doch niemals selbst erblicken konnte? Es waren doch alles nur dumme Spinnereien! Er war der zukünftige König von Belicia, es war ihm schlicht und einfach nicht möglich, sich wie ein einfacher Schaulustiger aus einem fremden Land in die Menschenmassen zu stürzen und die Schönheit dieser oder irgendeiner anderen Stadt am eigenen Leibe zu erfahren. Sein Leben würde in den kommenden Monaten in dem alles überragenden Palast stattfinden. Wenn überhaupt, dann konnte er Chaela mitsamt einer Horde von Leibwächtern und natürlich seiner reizenden Gemahlin erkunden, und darauf konnte er nun wirklich mehr als getrost verzichten. "Liebling? Oh Liebling, sieh doch!" Der junge Weißhaarige verzog unmerklich das Gesicht. Was für ein großartiger Zufall! Kaum sprach, oder besser gesagt, dachte er vom Teufel, da säuselte der ihm im nächsten Augenblick auch schon mit seinem liebreizenden Stimmchen ins Ohr. Lalit wandte sich nur halb um, aber das genügte, um das sonnenfarbene Leuchten des hellblonden Haares, das Blitzen der himmelblauen Augen und das verzückte Lächeln auf den zartrosafarbenen Lippen Dalias wahrzunehmen. "Was ist denn los?" fragte er in einem so kalten Tonfall, dass die strahlende Sonne sich für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelte und ein grauer Wolkenschleier sich über das Hellblau des Himmels legte. Doch noch im nächsten Augenblick war die äußerst kurzlebige Schlechtwetterfront auch schon weitergezogen und machte einem Hoch aus blendender guter Laune Platz. "Jetzt! Sieh dir die Stadt an! Sieh nur, wie wunderschön sie ist!" Dalia hob ihren porzellanfarbenen Finger in Richtung des Fensters. In ihrem Blick lag ungetrübte Begeisterung. Für die puppenhaft schöne Prinzessin war das Ende ihrer langen Fahrt eine Heimkehr. Doch selbst Lalit musste sich eingestehen, dass ihn der Blick von der Anhöhe auf die Stadt hinab überwältigte. Die Dächer Chaelas erstrahlten beinahe ausnahmslos in blitzendem Silber, das mit dem türkisblauen Kanalnetz zu einem kostbaren, funkelnden Stoff vernetzt wurde, besetzt mit reinen Diamanten. In der Ferne stach aus dem riesenhaften Teppich das hohe Gebäude des Níva-Tempels hervor, dessen hohe, silberne Kuppeln mit den perlmuttfarbenen Mauern und den darin eingesetzten, hellblauen Edelsteinen um die Wette strahlen. Die vier kleineren Türme an den Seiten des Gotteshauses waren in sich gedreht und in ihren blitzenden Kuppeldächern hingen unzählige Silberglöckchen, die das Lied des Windes in ein immerwährendes, überirdisch schönes Glockenspiel verwandelten. Eingerahmt wurde dieser unfassbar prächtige Bau von zwei Wasserfällen, die eine meeresfarbene Kristallflut in den metallenen Ozean hinabgossen. Wie gebannt ruhten Lalits goldene Augen auf dem unglaublich schönen Bild, das wie ein bewegtes Gemälde hinter dem Kutschenfester vorbeizog. Der junge Thronfolger verstand nun, warum Chaela auch die silberne Stadt genannt wurde, und obwohl er die verschneite Metropole bislang nur aus der Ferne hatte bewundern können, wusste er ganz genau, warum Kierans Augen bei seinen Erzählungen derart geleuchtet hatten. Lalit konnte nicht genau sagen, warum, aber die prachtvolle Stadt passte zu seinem Geliebten, wie er ihn früher einmal gekannt hatte. Vielleicht lag es an dem allgegenwärtigen, türkisfarbenen Glitzern, vielleicht aber auch an jenem nicht greifbaren, inneren Strahlen und Funkeln, das einen schon auf den ersten flüchtigen Blick gefangen nahm. Er betrachtete die Stadt mit einer Mischung aus Bewunderung und schmerzhafter Trauer, bis die Kutsche irgendwann um eine scharfe Biegung rollte und ihm den Blick verwehrte. Lalit senkte seinen Kopf. Er wusste, dass das Ende ihrer langen Reise unmittelbar bevorstand. Die beiden Apfelschimmel zogen die schneeweiße Kutsche in gemächlichem Trab auf das königliche Schloss von Fuyubi zu. Der schöne Kronprinz fühlte sich, als ob sie ihn geradewegs zu seiner Exekution trugen, oder auch in einen düsteren, grässlichen Kerker, in dem er den Rest seines unglücklichen Lebens dahinvegetieren musste. Ein leiser, bitterer Seufzer stahl sich über seine Lippen. Vielleicht lag er mit diesem zweiten Gedanken ja gar nicht so falsch. Der Weißhaarige war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht merkte, wie außerhalb seines vierrädrigen Gefängnisses unaufhaltsam die Zeit voranstrich. Er blickte auch dann noch nicht auf, als der Kutscher seine Tiere zügelte, dass sie zunächst in langsamen Schritt übergingen und dann schließlich ganz zum Stehen kamen. Er bemerkte nicht den leisen, entzückten Ausruf seiner Frau, die ihr Gesicht an die Scheibe gepresst hatte und mit riesigen, vor Begeisterung funkelnden Augen aus dem Fenster hinausstarrte. Erst, als neben ihm die Türe geöffnet wurde, begriff er, dass sie soeben im Schloss seiner Gemahlin angekommen waren. Der Empfang war weit weniger prunkvoll, als Lalit befürchtet hatte. Wohl aus Rücksicht auf das von der anstrengenden Reise erschöpfte Ehepaar waren lediglich ein paar Wachen herbeigestellt, die sich ihnen augenblicklich in tiefer Demut vor die Füße warfen. Im Hintergrund lauerte eine Dienerschar, um das Gepäck der zukünftigen Herrscher Belicias auf die bereitgestellten Zimmer zu bringen. Doch zumindest Dalia schien von all dem nicht das Geringste zu bemerken. Sie schwebte mit einem durch und durch glücklichen Lächeln auf den Lippen hinaus auf den Schlossplatz, um ihre wiedergewonnen Heimat zu begrüßen. Lalit folgte ihr weitaus weniger begeistert und euphorisch. Das Schloss Fuyubis stand seinem eigenen in nichts nach, aber es ähnelte ihm auch nicht im Geringsten. Es war ein langgezogener, eher flacher Prachtbau, dessen Fassade von Weiß, Hellblau und Silber bestimmt wurde. Besonders auffällig war eine hohe, kreisrunde Kuppel am Westende des Palastes, der mit seinen reichen Verziehrungen und Glaseinsätzen auf eine große Kapelle hinwies. "Ehrwürdige Majestät, Sir Lalit, und Prinzessin Dalia, verehrte Herrin, ich bitte euch, folgt mir!" Eine der Wachen hatte sich erhoben und blickte in unterwürfiger Ehrfurcht zu seinen jungen Gebietern auf. "Ihre Majestät, der König persönlich, wünscht, sie zu empfangen. Selbstverständlich können sie sich danach auf ihre Gemächer zurückziehen und sich von der gewiss sehr anstrengenden Reise erholen!" "Oh, habt Dank!" Dalia spitzte die Lippen und schaffte es auf wundersame Weise, noch ein bisschen püppchenhafter auszusehen als sie es ohnehin schon tat. Auf ihrem Gesicht ließ sich bloße Begeisterung ablesen. Sie konnte es ganz offensichtlich kaum noch erwarten, ihre Eltern wiederzusehen. Lalit spürte ein seltsames Gefühl in sich aufsteigen, das er selber nicht ganz einordnen konnte. War es etwa Eifersucht? Nein, unmöglich! Wahrscheinlich fühlte er lediglich die wachsende Beunruhigung beim Gedanken an die Eltern seiner Gemahlin. Immerhin, wenn Dalia ihre Eltern liebte, beruhte dieses Gefühl höchstwahrscheinlich auf Gegenseitigkeit. Und allein die Vorstellung, die kommenden Monate seines Lebens mit einer ganzen Familie von hinterhältigen, verlogenen und äußerst zickigen Puppen verbringen zu müssen, jagte ihm kalte Schauer über den Rücken. Aus irgendeinem Grund hielt sich seine Freude über die kommende Begegnung stark in Grenzen. Lalit ließ sich nichts von seinem Widerwillen anmerken und folgte ohne jeglichen Einspruch der demütigen Wache, die das junge Prinzenpaar durch ein Labyrinth von breiten, verzweigten Korridoren führte. Immerhin konnte er mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass er sich in diesem Schloss vom ersten Augenblick an fremd und unwohl fühlte. Dabei kam er auf dem gesamten Weg nicht an dem kleinsten Detail vorbei, das den Eindruck von offener, strahlender Schönheit mindern konnte. Im Gegenteil. Fuyubis königlicher Palast war mit großem Abstand das einladendste, freundlichste Schloss, das er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Überall ließen hohe Fenster durch weiße, luftige Vorhänge das Sonnenlicht in die langen, geraden Gänge einfallen. Die Wände erstrahlten in reinstem Weiß, die Böden waren mit schachbrettartig angeordneten, schwarzen und weißen Fließen bedeckt. Auch die an und für sich dunklen Türen wurden durch goldene und silberne Verzierungen derart wirkungsvoll aufgehellt, dass sie den durch und durch von Licht erfüllten Eindruck nicht im Geringsten störten. Doch jede Leiste, jede noch so kleine Zierde war von meisterlicher Hand genau so platziert, dass sie die würdevolle Leichtigkeit dieses Ortes zwar schmückte, aber dennoch nicht beschwerte. Wie düster, wie erdrückend konnten einem da die tiefroten Tapeten und Teppiche, die ebenholzfarbenen Wandvertäfelungen und schweren Türen in Belicias Schloss erscheinen! Und doch sehnte Lalit sich in jeder einzelnen Sekunde so sehr nach ihnen, wie er es noch nie zuvor in seinem Leben getan hatte. Sicher, sein eigenes, prunkvolles Zuhause war ihm sein Leben lang wie ein goldener Käfig erschienen. Aber wenn der Palast in Belicia ein Käfig war, dann war dieser hier in Fuyubi ein finsterer Kerker. Bei aller Unterwürfigkeit besaß ihre Wache dennoch ganz offensichtlich auch einen ausgeprägten Orientierungssinn, denn sie fand den Weg durch die Gänge zum Thronsaal hin mit traumwandlerischer Sicherheit. Lalit dachte in diesem Augenblick gar nicht daran, dass der noch verhältnismäßig junge Wächter die Strecke vom Tor zum Saal ihrer Majestät wahrscheinlich schon unzählige Male gelaufen war. Für ihn erschien der Weg unangenehm kurz. Er konnte nicht wirklich sagen, dass er nervös war, vielleicht wollte er das auch ganz einfach nicht. Er wusste nur, dass er am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht hätte, selbst wenn er dafür jeden einzelnen Meter auf dem endlosen Weg zurück nach Belicia zu Fuß hätte bestreiten müssen. Natürlich drehte er nicht um. Er pilgerte auch nicht in sein Heimatland zurück, sondern folgte mit sehr zu seinem Missfallen heftig klopfendem Herzen der Wache in einen riesigen, an beinahe schon blendender Helligkeit kaum noch zu übertreffenden Raum hinein. Das Weiß der Wände, der Decke, der von feinen, schimmernden Fäden in metallischem Hellblau durchzogenen Vorhänge brach wie eine Welle über jeden Eintretenden hinein und raubte einem für einen Augenblick den Atem, noch bevor man die majestätischen Gestalten auf den funkelnden Thronen erblicken konnte. Das Herrscherpaar schaffte es, all die geballte Pracht noch zu übertreffen. Die Königin war eine der schönsten Frauen, die sich ein Mensch nur vorstellen konnte. Ihr Körper war schlank, zierlich, aber durchaus wohlgeformt. Ihr Gesicht glich dem einer göttlichen Statue, geschaffen von dem begabtesten Künstler, der sich auf dem gesamten Rund des Planeten finden ließ. Ihre Augen waren von einem so intensiven Grün, dass sie das Licht wie kostbar geschliffene Edelsteine in tausend kleine Funken zu brechen schienen. Die Farbe ihrer Haut glich der von feinstem Porzellan, ihre Lippen trugen den seidigen Schimmer und das intensive Rot frisch gefallener Rosenblüten. Ihr Haar war von einem tiefen Honigblond, nur vereinzelt zogen sich hellblonde Strähnen wie Sonnenreflexe durch die seidene Flut. Während die Königin auf einem silbernen Thron Platz genommen hatte, saß der König selber auf einem unbeschreiblich prächtigen Thron aus purem Gold, bezogen mit dunkelblauem Samt. Noch bevor man ihn näher betrachtete, spürte man unweigerlich eine beinahe greifbar im Raum liegende Würde, die ihn wie eine goldene Aura umgab. Sein Gesicht war gleichzeitig herrschaftlich streng, erhaben, Ehrfurcht einflössend, und doch unendlich gütig, beinahe weise - dabei schien er sogar noch recht jung zu sein. Das hellblonde Haar trug er zurückgekämmt, seinen Bart exakt geschnitten. Neben dem Königspaar saß noch eine weitere Gestalt auf einem kleineren Thron. Es war ein junger Mann mit langem, welligem Haar in einem so intensiven Goldblond, als ob sich das Licht der Sonne in jeder einzelnen Strähne verfangen hätte. Man musste nicht zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass dieser junge Mann Dalias Bruder war, und er stand ihr in Schönheit um nichts nach. Dabei lag in seinen strahlend blauen Augen ein verschwörerisches, heiteres Blitzen. Er lächelte. "Mutter!" Dalias Stimme hatte mit einem Mal jegliche gespielte, antrainierte Höflichkeit verloren. Sie stieß ein übermütiges Lachen aus und rannte auf die wunderschöne dunkelblonde Frau auf dem Silberthron zu. Auch diese erhob sich augenblicklich, um ihre Tochter in die Arme zu schließen und mit einer liebevollen Geste an sich zu drücken. Innerhalb weniger Sekunden hatten sich auch Prinz und König dazugesellt und verharrten in seliger Einigkeit. "Vater! Und Alan! Oh, ich habe euch so vermisst!" "Wir haben dich auch vermisst, Schatz!" Die Königin strich ihrer Tochter mit einer liebevollen Bewegung durch das hellblonde Haar. "Ich freue mich unglaublich darüber, dich wieder in unserem Schloss begrüßen zu können... oh..." Sie lächelte leicht verlegen und wandte sich dann Lalit zu. "Verzeiht meine Unhöflichkeit! Euch heiße ich natürlich auch mit Freuden willkommen, Sir Lalit!" "Natürlich!" Nun meldete sich der König zu Wort, löste sich mit einem letzten, zärtlichen Kuss auf die Stirn von seiner Tochter und trat auf den jungen Weißhaarigen zu. Der verneigte sich und ergriff dann die Hand, die der blonde Mann ihm entgegenstreckte. "Wir fühlten uns zutiefst geehrt, eine so enge Bindung mit Eurem Königshaus eingehen zu können. Die Vermählung unserer Tochter war ein großes, freudiges Ereignis für uns. Umso mehr fühlen wir uns geehrt, euch nun in der Heimat eurer Gemahlin willkommen heißen zu dürfen." "Mir ist es ebenfalls eine Ehre, eure Majestät!" Lalit konnte nicht sagen, warum, aber er verspürte mit einem Mal das dringende Bedürfnis, aus diesem Thronsaal entfliehen zu können. Der Anblick seiner überglücklichen Frau mit ihrer wunderschönen, perfekten Familie ließ ein seltsames, beinahe unerträgliches Gefühl in ihm hochsteigen, das er beim besten Willen nicht einordnen konnte und wollte. "Ich bitte euch, im privaten Kreis können wir doch auf diese Höflichkeit verzichten, immerhin gehört ihr ja nun auch zur Familie. Nennt mich ruhig Ayâm, das sind meine Frau Zahra und mein Sohn Alan. Nun, ihr seid sicherlich sehr erschöpft, nicht wahr?" Lalit nickte. Er fühlte sich so erschöpft wie nie zuvor in seinem Leben, aber gleichzeitig wusste er auch, dass dies nicht allein von der langen Reise herrührte. Die prachtvolle, freundliche, vollkommene kleine Welt um ihn herum ermüdete ihn schon nach den wenigen vergangenen Minuten so sehr, dass er sich aus tiefstem Herzen in die kalte, schaukelnde Kutsche zurücksehnte, die bis in alle Ewigkeit durch eine monotone weiße Schneelandschaft irrte, ohne ihr Ziel auch nur zu kennen, geschweige denn erreichen zu können. Vor allem aber wollte er die Chance, endlich und ganz offiziell beglaubigt vor diesem Anblick vollkommenen Glücks davonlaufen zu können, nicht einfach so verstreichen lassen. Wer konnte ihm nach einer derart ermüdenden Reise denn auch verdenken, wenn er schlicht und einfach seine Ruhe haben wollte, um sich in seinem Zimmer einzuschließen und sich unter seiner Bettdecke vor dem königlichen Paradies und seinen elfengleichen Bewohnern zu verstecken? Und ganz nebenbei war dies vielleicht auch für eine sehr lange Zeit die letzte und einzige Gelegenheit, eine Nacht ohne seine liebreizende Gemahlin verbringen zu können. "Oh, ich bin natürlich auch sehr müde!" Wie auf Bestellung stieß Dalia ein helles, tonloses Seufzen aus und verdrehte ihre großen, hellblauen Augen. "Nun sei mal nicht so theatralisch, Schwesterherz!" Alan stieß der Prinzessin in die Seite. Auf seinem sanften Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. "Auch wenn ich es dir nicht verdenken kann, dass du dich auf dein eigenes Zimmer freust. Belicias Schloss soll ja - verzeiht mir den Ausdruck - eher einer luxuriösen Gruft gleichen." Lalit nahm das warme Lachen des Blonden mit versteinerter Miene zur Kenntnis. Während der König sich um einen strengen, tadelnden Blick bemühte, verbarg die Königin ihr glockenhelles Kichern hinter ihrem samtenen Handschuh. Dalia stimmte weitaus unverblümter in das Gelächter ihrer wunderschönen Mutter ein, während der junge Weißhaarige einen Hilfe suchenden Blick aus dem Fenster hinaus in den strahlend blauen Himmel sandte, auf dass düstere Wolken die Sonne verdeckten und seinem qualvollen Dasein durch einen kurzen, aber heftigen Blitz mitten durch das prachtvoll verzierte Schlossdach ein nicht unbedingt ehrenvolles, aber dafür umso erlösenderes Ende bescheren würden. Statt dem gnädigen Gewitter ergriff nun wieder einmal Fuyubis König das Wort. "Sei doch nicht so unhöflich, Alan!" Eine Armee von Lachfalten breitete sich um seine blitzenden Augen herum aus. Lalit sah mit einem Mal ein erschreckendes Bild vor sich, wie dieser Mann am Bettchen des zukünftigen belitischen Thronfolgers stehen und ihm geistlose Geschichten aus einer besseren Welt erzählen würde, neben sich seine engelsgleiche Frau und die puppenhafte Tochter. Willkommen in unserer heilen Familie, kleiner Prinz, kleine Prinzessin. Fürchte dich nicht, denn der Märchenonkel Ayâm wacht an deiner Seite. "Wieso? Wird Fröhlichkeit seit neuestem von der Hofetikette verboten?" Alan sah bei der Frage nicht seinen Vater an. Seine blauen Augen streiften Lalits Gesicht, blieben kurz an seinem eiskalten Blick hängen und wanderten dann zu seiner Schwester hin, die augenblicklich wieder zu kichern begann. "Alan!" Der König warf seinem Schwiegersohn einen entschuldigenden Blick zu, ohne dabei anscheinend auch nur im Geringsten zu ahnen, dass er die Situation auf diese Art und Weise alles andere als retten konnte. Danke für den Hinweis, schoss es Lalit durch den Kopf, während sich seine Hand unauffällig zu einer Faust ballte. Ergebensten Dank, Majestät, aber eigentlich hatte ich den dezenten Hinweis ihres reizenden Sohnes auch schon vor diesem Wink mit dem Gartenzaun verstanden. Das schöne Gesicht des Weißhaarigen blieb vollkommen unbewegt, während er den Kronprinzen Fuyubis im Geiste mit seinem Schwert durchbohrte und dann dem königlichen Ehepaar zur Türe hin folgte. Draußen wartete die ortskundige, demütige Wache mit einem Lächeln darauf, die ehrwürdigen Neuankömmlinge an jeden Ort zu geleiten, zu dem seine Herrin ihn weisen würde. Lalit zweifelte nicht im Geringsten daran, dass er auf eine einzige flüchtige Handbewegung hin durch einen tosenden Schneesturm geradewegs in die Schatten des Totenreiches und wieder zurückstürzen würde, aber natürlich hatte die gnädige Königin für derartige Boshaftigkeiten keinen Platz in ihrem bezaubernden Kopf. Stattdessen wies sie den jungen Mann mit ihrer sanften Stimme schlicht und einfach dazu an, ihre Tochter und deren Gemahl auf ihre Gemächer zu geleiten, und seltsamerweise klangen die Worte aus ihrem Mund nicht wie ein Befehl, sondern wie eine durch und durch freundliche Bitte, der man sich gerade deshalb gar nicht verweigern konnte. "Ich hoffe, eure Unterkunft ist zu eurer Zufriedenheit, Sir Lalit!" lächelte sie dem jungen Weißhaarigen in exakt demselben herzlichen Tonfall zu. Vergeblich suchte er in ihren Augen nach einer Spur von Ablehnung, stattdessen fand er lediglich ein freudiges, zufriedenes Glitzern in den unfassbar reinen, lebendigen Smaragden, dass sie wie von innerem Licht erfüllt strahlen ließ. "Gewiss." Lalit schaffte es nur mit all seiner Selbstbeherrschung, dem warmen Blick der Frau nicht auszuweichen. Er wusste mit einem Mal selber nicht mehr, warum er solch eine Abneigung gegen diese Menschen in sich trug, dass sie beinahe wie eine greifbare Mauer zwischen ihnen die Luft durchtrennte. Ganz offensichtlich hatte sich nicht nur die königliche Familie aus tiefstem Herzen auf ihre Ankunft gefreut, nein, das ganz Schloss schien seine prächtigen Türen und Fenster in stummem Jubel aufzureißen, die weißen Vorhänge wie Siegesbanner im Wind schwenkend, während das Sonnenlicht einen goldenen Teppich auf die Schachbrettböden zauberte. Auch die Dienerschaft war sichtlich gerührt, jene geheiligte Erde küssen zu dürfen, auf die der Schatten ihres ehrwürdigen Porzellanpüppchens gefallen. Jeder einzelne Schlossangestellte, seien es die unzähligen verhuschten Dienstmädchen, die stämmigen Köche oder die Stallburschen unten auf dem Hof, schien wie gebannt von dem wunderschönen Paar, das die Gänge des Schlosses wie ein zarter, reiner Lichtstrahl erhellte. Und in all ihren Augen spiegelte sich dieses Leuchten, wenn sie ehrfürchtig zu ihren Herrschern hinaufblickten, um ein Stückchen von ihrer Pracht und ihrem Glanz für sich zu bewahren. Es schien wie die Erfüllung eines Märchens - zwei junge Liebende, Sie so strahlend und golden wie die Sonne, Er so geheimnisvoll und silbern wie das Licht des Mondes. Wen wunderte es da, dass sogar die Natur sich an diesem Freudentag in ihrem schönsten Gewand zeigte? Der Schnee, der unter dem perfekt blauen Himmel noch ein bisschen heller und kostbarer glitzerte als sonst, und das schillernde, triumphale Gezwitscher der Vögel, die ihre Freude in überschwänglichen Trillern der strahlenden Sonne entgegenschickten. In diese kollektive Rhapsodie fiel die junge Prinzessin mit einem übermütigen Kichern ein, als sie sich ein letztes Mal von ihrer Familie verabschiedete, so als lägen Jahrhunderte zwischen ihrer nächsten Begegnung, unüberwindliche Gebirge und noch ungleich vernichtendere Schneestürme als auf ihrer Anreise. Lalits kalte goldene Augen wichen dem auf eine bizarre Art und Weise endgültig wirkenden Szenario aus - und streiften dabei Alans Gesicht. Der blonde Kronprinz musste ihn seinerseits schon deutlich längere Zeit lang angesehen haben, dennoch wich er Lalits Blick nicht aus, als dieser dessen stille Musterung bemerkte. Der Weißhaarige konnte nicht einmal genau sagen, was es war, aber irgendetwas an dem Ausdruck in Alans Augen gefiel ihm nicht. Dalias Bruder lächelte, aber gerade dieses Lächeln wirkte feindseliger, als jede andere, noch so finstere Mimik es hätte sein können. Lalit antwortete mit einem nichts sagenden, vollkommen emotionslosen Blick und wandte sich von dem letzten, verschwindenden Wall der Ablehnung wieder der Flut aus warmen, lautlosen Willkommensrufen zu, die wie schneeweiße, glühende Nebelschwaden durch die Korridore des Schlosses zogen. Das Königspaar lächelte ihm zum Abschied noch ein letztes Mal zu, doch die Wärme dieser verabschiedenden Geste schien im Grunde genommen nichts anderes zu sein als die Einladung zu einem baldigen Wiedersehen. Lalit konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sie von ihrem Schweigersohn eigentlich hielten, aber in ihren Augen las er lediglich dieselbe einladende Freude, wie sie auch der Rest der versammelten Schlossbevölkerung mitsamt Vorhängen, Vögelchen und Frühlingshimmel an den Tag legten. Und dennoch fühlte sich Lalit so fehl am Platze, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Die Nacht lag wie geschmolzenes Blei auf dem schlafenden Prachtbau, der mit gelassener, wohlwollender Erhabenheit auf die silberne Stadt zu seinen Füßen hinabblickte. Hier und dort hallte das Kichern und Wispern der jungen Dienerinnen durch die weiten Gänge, die vom flackernden Widerschein der Fackeln selber in weißes Feuer verwandelt zu werden schienen. Nur noch vereinzelt huschten geschäftige Gestalten über das blanke Schachbrett, vorbei an den seidenen Vorhängen, die durch das blitzende Glas der Fenster sehnsüchtig zum kalten Nachtwind hinausblickten. Lalit interessierte sich in diesem Augenblick jedoch reichlich wenig für Winde, Schlossgänge oder die unerfüllten Sehnsüchte der schimmernd weißen Stoffbahnen. Er saß an dem kleinen, schneeweißen Tischchen, dessen verschnörkelte Beine nur leicht schwankend auf dem weinroten Teppichboden Halt fanden. Ein dreiarmiger silberner Kerzenleuchter tauchte den Raum in warmes, leicht unscharfes Licht. In der Hand des jungen Thronfolgers ruhte schon seit geraumer Zeit ein weiß-goldener Federkiel. Das Tintenfässchen, das sich Wärme suchend an den kantigen Fuß des blitzenden Lichtbringers schmiegte, war unberührt. Der Weißhaarige seufzte leise. Seine kalten goldenen Augen tasteten die schneeweißen Wände des Zimmers ab, deren sterile Helligkeit im schummrigen Kerzenschein zu einem weichen, konturlosen Orangegelb verschwamm. Ein detailliertes Gemälde des Schlosses stand seinem breiten, mit weißem Samt und roten Kissen bedeckten Bett gegenüber. Der goldene, reich verzierte Rahmen der prunkvollen Schlafstätte wirkte im heimeligen Halbdunkel matt und glanzlos. Sei gegrüßt, Kieran Wie in einer plötzlichen, hinterhältigen Attacke schnellte die Feder nach vorne, bohrte sich tief in das schwarze Blut des Tintenfasses und raste dann in feinen, geschwungenen Linien über das leicht gelblich weiße Papier. Lalit zog eine Augenbraue hoch, begutachtete die drei unscheinbaren Worte und setzte dann weitaus langsamer Datum und Aufenthaltsort über das noch beinahe leere Blatt. Wie angekündigt erhältst du hiermit mein erstes Schreiben. Der junge Thronfolger betrachtete die Worte mit unverhohlener Feindseligkeit. Er hatte sich zwar vorgenommen, in den Briefen stets eine sachliche, gewählte Ausdrucksweise zu bewahren, aber dennoch erschien ihm diese hölzerne Förmlichkeit mehr als nur unangebracht. Tausend Dinge rasten wie kopflose Kutschpferde in seinem Kopf herum, dass ihm beinahe schwindlig davon wurde, aber seine Finger formten mit kühler Distanziertheit leicht verlaufende Striche auf dem Papier. Er atmete tief durch und strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Es war gut, so wie es war. Er durfte sich nicht zu irgendwelchen gefühlsduseligen Dummheiten hinreißen lassen. Dies war ein Bericht, sein letzter Kontakt zu seiner Heimat, und somit eine unersetzliche Informationsquelle, die er dementsprechend nutzen musste. Wir sind nun im Schloss von Chaela, Fuyubis Hauptstadt angekommen. Die Reise verlief bis auf kleinere Zwischenfälle problemlos. Auch Dalia ist wohlauf, wenn auch noch ein wenig erschöpft, was mir wiederum Gelegenheit dazu verschafft, diesen Brief zu verfassen. Lalit konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie Kieran diesen letzten Satz auffassen würde - in jedem Fall aber ganz bestimmt nicht so, wie er ihn tatsächlich gemeint hatte. Der junge Kronprinz traute seinem Diener vielleicht mehr zu, als dieser tatsächlich vermochte, aber auf keinen Fall die durchaus erheiternde Einsicht, dass Dalia aufgrund der anstrengenden Reise noch einige Tage in ihrem eigenen Zimmer verbringen wollte und solange schweren Herzens auf ihre ehelichen Pflichten verzichtete. Der Weißhaarige spürte eine leichte, diffuse Übelkeit in sich aufsteigen und wandte sich hastig wieder seinem Schreiben zu. Das Schloss ist sehr Er überlegte einige Sekunden. reizvoll, ebenso wie die königliche Familie. Uns wurde ein herzlicher Empfang bereitet. Es ist kälter als in Belicia, die Landschaft ist jedoch überaus schön. Ich hoffe auf eine Gelegenheit, in Kürze die Stadt besichtigen zu können. Die Feder hob sich langsam vom Papier und verharrte regungslos in der Luft. Lalits Blick verschmolz für einen Augenblick mit dem Feuer der Kerzen, deren intensiv rotes Wachs sich an den Rändern des Leuchters zu bizarren, formlosen Gebilden auftürmte. In seinem Kopf herrschte trotz der unzähligen, nicht greifbaren Gedankenfetzen eine merkwürdige Leere. Er wusste nicht, was er noch schreiben sollte. Die schmalen Zeilen verschwanden förmlich auf dem übermächtigen weißen Viereck, das gierig nach weiterer Tinte lechzte. Der Anblick war lächerlich. Von den genaueren Umständen werde ich in meinen künftigen Schreiben Bericht erstatten, wenn ich näher mit den Örtlichkeiten vertraut bin. Ich erwarte eine baldige Antwort. Vor Lalits geistigem Auge setzte sich ein trostloses Bild zusammen, das Kieran in seinem kleinen Kämmerchen zeigte, wie er auf seinem Bett saß und sich die wenigen kümmerlichen Sätzchen zu Gemüte führte. Der Brief schien dabei jedoch eine seltsame Art von Eigenleben zu entwickeln, er erhob sich, baute sich vor dem jungen Diener auf und sprach zu ihm mit gestrenger Stimme: "Ich erwarte eine baldige Antwort!" Lalit konnte sich lebhaft vorstellen, wie Kieran unter dem Befehlston des autoritären Stücks Papier zusammenzuckte wie unter einem Peitschenhieb, wie seine türkisfarbenen Augen dem erhobenen Zeigefinger seines imaginären Herren auswichen und er sich schließlich wie ein geprügelter Hund an ein niedriges Tischchen trollte, um der Anordnung ihrer Majestät unverzüglich nachzukommen. Der junge Weißhaarige schüttelte in einem Anflug schwermütiger Resignation den Kopf, setzte seinen Namen unter das Geschriebene und faltete den Brief zusammen. Er steckte das Papier in einen Umschlag, versiegelte ihn und schrieb in förmlichen Lettern den Namen Lyras darauf. Ein lautloser Seufzer hob seine Brust. Der erste Schritt war getan. Nun konnte er nur noch den Boten befehligen, warten und hoffen, dass sein Schreiben sicher und unversehrt die Mauern seines Schlosses erreichen würde, ohne auf dem langen, beschwerlichen Weg einem Schneesturm, Banditen oder anderen unvorhersehbaren Hindernissen zum Opfer zu fallen. Lalit stand auf, zog kurz die Schultern hoch, um seinen leicht, aber äußerst hartnäckig schmerzenden Nacken zu entspannen und ließ sich dann auf seinem herrschaftlichen Bett nieder. Dort streifte er sein Obergewand ab, löste das schwarze Band aus seinen Haaren und sank dann rückwärts in den schimmernden Berg aus Decken und Kissen. Er schloss seine Augen und lauschte auf das gleichmäßige Geräusch seiner Atemzüge, um sich kurz zu vergewissern, dass er auch wirklich noch am Leben war. Der glatte, weiche Stoff strich ihm angenehm warm über den Rücken. Er vergrub seine Finger darin und lehnte den Kopf zurück. In diesem Augenblick begriff Lalit zum ersten Mal, dass die Geschehnisse der vergangenen Stunden und Tage kein Traum gewesen waren. Die unwirkliche Reise durch das glitzernde, weiße Nichts, die überirdische Schönheit der Stadt, das durch und durch von Licht erfüllte, prächtige Schloss... die perfekte kleine Familie seiner wundervollen Gattin... all das war nicht einfach nur als innerer Film an ihm vorbeigezogen - im Gegenteil. Es war weitaus realer, als ihm lieb war. Er war in einem fremden Land, an einem grauenhaft schönen Ort, unendlich weit von seinem verlorenen Geliebten entfernt. Und er war gerade erst seit einigen Stunden hier. Diese scheinbar so endlos langen Augenblicke waren so verschwindend kurz, geradezu lächerlich im Angesicht der Zeitspanne, die er noch in den weißen, freundlichen Mauern von Chaelas Schloss verbringen sollte. Ein Jahr? Zwei Jahre? Er wusste es nicht. Im Grunde genommen wusste Lalit trotz der plötzlichen Einsicht in jener stillen, friedlichen Nacht überhaupt nichts mehr. Bis auf die Tatsache, dass er Dalias Bruder in seinem ganzen Leben nie wieder begegnen wollte. In den folgenden Tagen begann Lalit, das Schloss und seine Umgebung bewusst zu erkunden, ohne dessen Bewohnern bei diesen Streifzügen allzu nahe kommen zu müssen. Er mied die Gesellschaft der königlichen Familie so weit es eben möglich war, ohne dabei unhöflich zu wirken. Allerdings schien Dalia auch gar keinen allzu großen Wert darauf zu legen, ihren Gemahl bei den familiären Treffen bei sich zu haben, sondern schien ihn im Gegenteil eher davon fernhalten zu wollen, was Lalit alles andere als traurig stimmte, wenn auch ein wenig verwunderte. Im Laufe der Zeit lernte der Weißhaarige einiges über seine vorläufig neue Heimat, aber auch über die Menschen, die sie bevölkerten. Das Schloss schien mit jedem Mal, in dem er es durchquerte, noch ein klein wenig schöner zu werden. Es war zu jeder Tageszeit und bei jedem Wetter unverändert freundlich und offen, ein Ort der Begegnung, an dem sich jedermann schlicht und einfach wohl fühlen musste. Dennoch gab es nicht viele Plätze, die Lalit wirklich mochte. Am besten gefiel ihm mit großem Abstand der Blick auf Chaelas blitzende Dächer. Der junge Thronfolger konnte Stunden damit verbringen, am Rande des Abgrunds, direkt neben dem Wasserfall zu stehen, zuzusehen, wie sich die türkisblauen Kristallfluten auf den Häuserteppich hinabstürzten und das Gewirr aus schneebedeckten Dächern und geschäftigen Menschen mit glitzernden Fäden durchsponn. Lalits goldene Augen ruhten starr und ausdruckslos auf dem gewaltigen Naturschauspiel, und manchmal verdrängte all das Funkeln und Rauschen und Tosen für kurze Zeit jeglichen Gedanken aus seinem Kopf. Es war wie eine Erlösung. Erst, wenn der Anblick ihm allzu schön erschien, wenn er sich plötzlich wünschte, Kieran diesen Ort zeigen zu können - nein, ihn sich von Kieran zeigen zu lassen, den farbenfrohen, lebendigen Erzählungen seines Geliebten zu lauschen und dabei in seine leuchtenden Augen zu sehen, die noch viel intensiver glitzerten als das reine Wasser, verließ er das kleine Stück Paradies und kehrte ins Schloss zurück. Der zweite Ort, den Lalit mochte, war eine kleine runde Kapelle, die sich an den Palastkomplex anschloss. Das spitzbogige Tor der Tempelstätte erschien beinahe wie das Tor in eine andere, dunklere Welt. Wie Lalit erfahren hatte, war dieser Gedanke gar nicht so abwegig, denn die Kapelle war lange vor dem übrigen Teil des Schlosses errichtet worden. Ihre Wände bestanden aus grauem, blankem Stein, in den jedoch eine Unzahl von Verzierungen und kleinen Figuren gemeißelt worden war. Spitze Bögen zogen sich zur niedrigen Decke hin. Zwischen den steinernen Sitzbänken schwebte stets jener unverkennbare Duft, der sämtlichen Gotteshäusern anhaftete, eine angenehme Mischung aus Weihrauch, verbranntem Kerzenwachs und warmer Vermoderung. Die einzige Lichtquelle des Raumes war ein kreisrundes, von sternförmigen Steinverstrebungen durchbrochenes Fenster aus blauem Glas, durch das weiches, unwirkliches Licht fiel und das Bildnis der kindlichen Schneegöttin Níva hinter dem steinernen Altar zum Leben erweckte. Wenn Lalit seine Zeit nicht gerade auf einer der Bänke der alten Kapelle oder hoch über den Dächern Chaelas verbrachte, lief das Leben mehr oder weniger Ereignislos an ihm vorbei. Stunden kamen und gingen, Tage reihten sich aneinander, während die Nächte von einer gierigen, Blut saugenden Puppe beherrscht wurden, die mit unerbittlicher Sanftheit Abend für Abend die Türe des prachtvollen gemeinsamen Schlafzimmers hinter sich verschloss. Der junge Weißhaarige hörte irgendwann auf, die Sonnenaufgänge zu zählen, denen er jeden Morgen mit leeren Augen entgegenblickte. Er genoss jede Nacht, die er in seinem eigenen Zimmer verbringen konnte, allein, ohne die entzückende Herrin der Finsternis, an die er durch ein blaues Band in alle Ewigkeit gekettet war, aber dennoch begann er, seine Situation zu akzeptieren. Umso überraschter war er, als eines Tages ein Brief auf seinem Schreibtisch lag. Sein immer noch anhaltender Zustand irgendwo zwischen Träumen und Wachen hatte ihn jegliches Gespür für den Fluss der Zeit gekostet. Waren denn wirklich schon so viele Tage vergangen, seit er seine letzten, unbeholfen höflichen Zeilen in seine ferne Heimat geschickt hatte? Selbst wenn Kieran augenblicklich geantwortet hatte - und daran zweifelte Lalit nicht im Geringsten - war es doch eine beachtliche Strecke nach Belicia und wieder zurück. Der junge Thronfolger seufzte leise. Konnten die Wochen und Monate bis zu seiner Heimkehr nicht ebenso schnell vorüber gehen? Mit heftig klopfendem Herzen setzte sich Lalit auf sein Bett, angelte nach einem Brieföffner und befreite endlich das Antwortschreiben aus seinem schneeweißen Gefängnis. Eure in höchstem Maße geehrte Majestät, auf euer Geheiß schicke ich euch hiermit eine Antwort. Lalit konnte sich ein amüsiertes Kopfschütteln anhand der leicht zittrigen, krampfhaft um gewählte Ausdrucksweise kämpfenden Zeilen nicht verkneifen. Er meinte beinahe, Kierans ängstliche, demütige Stimme hören zu können, der es nur mit höchstem Widerwillen und äußerst unsicher wagte, das Wort an seinen gottgleichen Herren und Meister zu richten. Ich bin sehr erfreut über eure wohlbehaltene Ankunft. Die Dinge am Schloss verlaufen gut. Es hat wieder zu schneien begonnen. Der Sommer ging in diesem Jahr sehr früh zu Ende, aber bislang gab es noch keinerlei Stürme. Ich hoffe, ihr seid bei Gesundheit und ich konnte meine Aufgabe zu eurer Zufriedenheit ausführen. Ehrfürchtigst, euer Diener Zweimal, dreimal flogen Lalits goldene Augen über den äußerst seltsamen, unbeholfen formulierten Brief. Er spürte ein seltsames Gefühl von Leere in seiner Brust aufsteigen, ein erdrückendes, schmerzhaftes Nichts. War er etwa enttäuscht? Was hatte er denn auch von dem Schreiben seines ehrfürchtigst grüßenden Dieners erwartet? Der Weißhaarige strich mit den Fingerkuppen über das leicht raue Papier. Dann drückte er das Schriftstück für einige Sekunden an seine Brust, bevor er aufstand, den Brief auf sein Tischlein legte und dann das Zimmer verließ. Er würde Kieran noch an diesem Abend antworten. Wie mechanisch bewegten sich Lalits Füße dem großen Balkon entgegen, der nebst etlichen kälteunempfindlichen Pflanzen und seidenen Paravents, über die sich exotische Blütenmuster rankten, auch einen atemberaubenden Blick auf den riesigen See und die scheinbar unendlich weit entfernte Stadt bot. In seinem Kopf formten sich Sätze zusammen, bewegte Wortpuzzles, die von der unfassbaren Schönheit Chaelas berichteten. Wenn irgendwo in Kieran noch etwas von seiner alten Abenteuerlust erhalten geblieben war, schoss es Lalit durch den Kopf, während er an das vergoldete Geländer trat, dann könnte es ganz gewiss von nichts anderem besser erweckt werden, als von den Erzählungen eines Märchenlandes, das der junge Diener vor langer Zeit selbst einmal bereist und geliebt hatte. Lalit würde von dem Silberteppich berichten, den Chaela aus der Vogelperspektive betrachtet vor einem ausrollte, von dem glitzernden Wasserfall und dem See, der dem Himmel so nah war, dass er sein intensives Türkis wie ein wertvoller Edelstein widerspiegelte. Auch von dem Schloss wollte er schreiben, von seiner Oase der Ruhe, der kleinen Kapelle. Kieran hatte Tempel jeglicher Art geliebt, vor allem die alten, die noch voll von Schatten, von Dämmerlicht und einer ganz besonderen, düsteren, aber doch unendlich friedlichen Atmosphäre waren. Er würde den Garten des Schlosses beschreiben, mit all seinen kunstvoll geschnittenen Bäumen, vollkommen symmetrisch angelegt, mit seinem Labyrinth aus immergrünen Hecken und weißem Schnee. Lalit war so in Gedanken versunken, dass er die Schritte zunächst noch gar nicht wahrnahm, die sich langsam von hinten näherten. Erst, als sich ihm eine Hand auf die Schulter legte, riss der Strom in seinem Kopf ab und schleuderte ihn äußerst unsanft in die blendend helle Realität zurück. Leicht erschrocken und gleichzeitig wütend über seine eigene Schreckhaftigkeit drehte er sich um. Hinter ihm stand Alan. "Ihr genießt den Anblick unserer wunderschönen Hauptstadt?" Der blonde Prinz strich sich durch sein welliges Haar. Er lächelte, aber irgendetwas an dem Blitzen in seinen Augen gefiel Lalit nicht. Der Weißhaarige antwortete nicht, deutete stattdessen nur ein leichtes Nicken an und wandte sich dann wieder dem himmelsfarbenen See zu. "Ich hatte noch nie die Gelegenheit, mich allein mit Euch zu unterhalten", fuhr Alan ungerührt fort und blickte seinerseits auf die in schwachem Dunst liegende Stadt hinab. "Wie gefällt es euch hier am Schloss?" Lalit schwieg einige Augenblicke, und als er endlich zu einer Antwort ansetzte, sah er Dalias Bruder dabei nicht an. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich mit dem Blondschopf zu unterhalten, und er sah auch absolut keinen Grund, jegliches Interesse vortäuschen zu müssen. "Chaela ist in der Tat sehr schön", sagte er mit vollkommen kalter Stimme. "Ebenso das Schloss." "Schöner als euer Schloss in Belicia?" "Nein." Erst jetzt begriff Lalit, dass seine offensichtlich dargelegte Ablehnung in Wirklichkeit ein großer Fehler gewesen war. Hatte er sich nicht selber denken können, dass Alan das Gespräch mit ihm nicht suchte, weil ihn die Meinung des Weißhaarigen Interessierte? So kindisch und abstoßend ihm der Gedanke auch erschien, aber der Prinz Fuyubis schien einzig und allein darauf aus zu sein, ihm auf die Nerven zu gehen - und sich über ihn lustig zu machen. "Nein?" "Es ist zu... neu." Mit einigem Widerwillen riss sich Lalit von der friedlichen Aussicht los und sah Alan direkt in die dunkelblauen Augen. "Ein klein wenig zu, verzeiht mir den Ausdruck, protzig." "In Belicia scheint man düstere, alte Gemäuer ja ganz offensichtlich vorzuziehen." Der Blondschopf stieß einen theatralischen Seufzer aus. "Ich habe das belitische Schloss auch schon einmal gesehen. So weiß, mit all diesen Türmchen und Gängen und Winkeln... durchaus nett zu betrachten, aber nicht gerade ein Musterbeispiel an Wohnlichkeit und... Komfort." "Komfort..." Lalits Stimme klang so emotionslos wie immer, dennoch schien es, als müsse er den Namen einer grauenvollen Seuche über die Lippen bringen. Ein leicht abfälliger Zug spielte um seine Mundwinkel. "Welch ein Glück, dass die fuyubischen Architekten von solchen Dingen offensichtlich mehr verstehen. So ein perfektes kleines Schlösschen." "Perfekt? Mag sein!" Alan lachte. "Fast so perfekt wie unser bezauberndes Prinzenpaar. Vater und Mutter sind überglücklich, Euch hier am Hofe haben zu dürfen." "Es ist mir eine Ehre." Eine Woge von Misstrauen stieg in Lalits Brust auf. Ihm gefiel die Richtung, in der Dalias Bruder das Gespräch nun lenkte, ganz und gar nicht. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und sich in seine Gemächer zurückgezogen, zu seinem Papier, seiner Feder und den Gedanken, die er auf diesem Wege seinem Geliebten senden würde, weit entfernt von dem nichts sagend lächelnden Blondschopf - den er bei dieser Gelegenheit bedauerlicherweise über das Geländer gestoßen hatte, wie der junge Weißhaarige nicht ohne eine gewisse Genugtuung im Geiste hinzufügte. "Aber natürlich!" Der leise Spott in Alans warmer Stimme war nun nicht mehr zu überhören. "Es ist solch eine Freude, eure tiefe Verliebtheit und Verbundenheit spüren zu können!" "Ist es das?" Lalit strich sich eine seiner weißen Haarsträhnen aus dem Gesicht. "Und wie!" Ein leichter, unterschwelliger Anklang von Wut schien mit einem Mal in den Worten des Blondschopfes zu liegen. Es war nicht wirklich sein Tonfall, der sich verändert hatte, aber ganz plötzlich war es, als hafte jedem seiner Worte ein schwaches, aber doch unüberhörbares Zittern an. "Ich liebe sie nicht." Lalit bereute seine Worte, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. Er wusste selber nicht, warum er Alan herausforderte, provozierte und für einen Moment erschreckte er sich sogar vor seiner eigenen Kaltschnäuzigkeit. Als er dann jedoch sah, wie die lächelnde Maske des fuyubischen Prinzen mit einem Schlag zerbrach und einem Ausdruck vollkommener Fassungslosigkeit Platz machte, wischte ein kurzer, aber heftiger Adrenalinschub seine letzten Zweifel fort. "Ja... ja, aber..." "Ich liebe sie nicht, und das wisst Ihr, sonst hättet Ihr mich doch nicht angesprochen." Die Lippen des Weißhaarigen verzogen sich zu einem eiskalten Lächeln. "Ich habe sehr wohl begriffen, worauf Eure lachhaften kleinen Anspielungen bezogen waren. Warum erschreckt es Euch nun so sehr, das Thema auf den Punkt zu bringen?" "Wie könnt Ihr so etwas sagen?" Der wütende Unterton in Alans Stimme war einem zornigen Beben gewichen. Seine Augen blitzten, aber diesmal war es nicht mehr die spöttische Freude, die das tiefe Blau zum Funkeln brachte. "Ihr meint, wie kann ich Euch etwas ins Gesicht sagen, das ihr ohnehin schon wisst?" Lalit warf sich sein langes Haar über die Schulter. "Es ist ganz einfach. Ich lüge nicht gerne, und dennoch muss ich es viel zu oft tun. Seid Ihr etwa wirklich so naiv zu denken, ich hätte Euer Schwesterchen aus Liebe geheiratet? Die Wahrheit ist: Ich hatte keine Wahl. Ich konnte es mir nicht aussuchen, glaubt mir, sonst hätte ich sie eher in ein Spielzimmer als in mein Bett gelassen." "Ihr... Ihr..." Alans Hände zitterten. Er krallte sie um das kalte Geländer, wie um krampfhaft die Beherrschung zu wahren. "Ihr seid abscheulich! Von überall drang die Kunde Eurer prachtvollen Hochzeit zu unserem Hof. Man sagte mir, ihr wärt das schönste Paar, das die ragnarischen Königshäuser seit langem gesehen haben! Und jetzt..." "Was ist jetzt?" Lalit hob den Kopf ein Stück weit an und sah dem etwas größeren Prinzen nun direkt in die Augen. Ein seltsames, berauschendes Kribbeln jagte wie Stromstöße durch seinen Körper. Er begriff schon lange nicht mehr, warum er sich auf dieses grausame Spiel mit dem Blondschopf eingelassen hatte, aber er musste sich eingestehen, dass es ihm Spaß bereitete, auf eine absurde, boshafte Art und Weise. "Findet Ihr Eure Schwester jetzt etwa nicht mehr schön?" "Ich glaube das einfach nicht!" Alan stieß ein irgendwo zwischen Hilflosigkeit, Wut und Hysterie schwankendes Lachen aus. "Wie könnt Ihr nur so unglaublich gefühllos sein? Meine Schwester liebt Euch! Sie hat mir schon in ihren Briefen vorgeschwärmt, wie unglaublich schön ihr seid! Mutter hat geweint vor Glück, als sie von der Hochzeit und allem erfahren hat und sie haben sich beide so auf dieses Zusammentreffen gefreut... wie könnt Ihr es wagen, sie so zu behandeln?" "Eure heile Familie rührt mich zutiefst, aber ich habe niemals darum gebeten, auf dieses Schloss zu kommen. Ich habe auch nicht darum gebeten, mich mit Euch zu unterhalten, also entschuldigt mich jetzt." Ohne den Blondschopf eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte Lalit sich von ihm ab und ging langsam auf die verglaste Türe zu, die ihn zurück in die strahlende Welt aus Schachbrettfliesen und weißen Vorhängen bringen würde. Er legte seine Hand auf die kalte Metallklinke, öffnete das gläserne Portal und trat ein. Genauer gesagt wollte er es tun, aber noch bevor er einen Fuß über die golden blitzende Türschwelle setzen konnte, packte ihn eine Hand äußerst unsanft am Arm und riss ihn herum. Dann warf Alan die Türe geräuschvoll wieder ins Schloss und stieß Lalit mit dem Rücken an die eisige Glasscheibe. Seine zweite Hand hielt das Kinn des Weißhaarigen äußerst unsanft fest und zwang ihn so dazu, dem fuyubischen Prinzen direkt in die hasserfüllten blauen Augen zu sehen. "Jetzt hör mir mal gut zu!" Zischend wie Schlangen krochen die Worte zwischen den Zähnen des Blondschopfes hervor. Einige Strähnen seines Engelshaares hatten sich bei der heftigen Bewegung gelöst und hingen ihm nun wirr ins Gesicht. "Ich lasse nicht zu, dass du meiner Schwester Weh tust, hast du das verstanden?" "Warum... so unhöflich?" Lalits Gesicht blieb vollkommen ungerührt, während er innerlich verzweifelt um seine Fassung kämpfte. Auch wenn er sich dafür verfluchte, rief Alans fester Griff wieder einmal Bilder in ihm wach, die er am liebsten auf ewig aus seinem Gedächtnis verbannt hätte, und die ihn doch wieder und wieder einholten. Er ballte eine seiner Hände zu einer verkrampften Faust, bis ihm seine Fingernägel wie stumpfe Nadeln in die kalte Haut stachen. Der Schmerz ließ seine unweigerliche Angst zwar nicht verschwinden, aber er half ihm dabei, sich zu kontrollieren. "Warum? Warum? Weil dein... weil Euer Gesicht mich krank macht, darum!" Der Druck an Lalits Schulter verstärkte sich. "Ihr konntet mich doch vom ersten Augenblick an nicht leiden, ist es nicht so?" Der Weißhaarige stieß ein verächtliches Lachen hervor, was angesichts der erschwerten Bedingungen allerdings eher wie ein ersticktes Keuchen klang. "Ja, so ist es! Ich verstehe nicht, wie meine Schwester so jemanden wie Euch lieben kann! Ihr habt sie nicht verdient... Ihr... Ihr wisst doch wahrscheinlich gar nicht, was Liebe ist!" "Wie pathetisch Ihr sein könnt..." Lalit ignorierte den quälenden Stich, der sich wie ein giftiger Pfeil direkt in sein Herz bohrte. Er dachte an den Brief, der auf dem kleinen weißen Tischchen in seinem verlassenen Zimmer lag. Der Brief, dessen Papier immer noch den Duft von Kierans pechschwarzem Haar und seiner hellen, weichen Haut zu verströmen schien, obwohl das nach seiner langen Reise durch Schnee, durch Wind und Stürme natürlich nicht möglich war. Er dachte an Kierans Lachen, an eine warme Gaststube im Kerzenschein, und diesmal war er beinahe froh, dass der feste Griff von Alans Fingern ihn kurz und schmerzhaft in die Realität zurückzerrte. "Ich meine es ernst, verdammt noch mal!" "Das... kann ich mir durchaus vorstellen. Aber was wollt Ihr jetzt tun?" Erneut stahl sich ein kaltes Lächeln auf Lalits bleiche Lippen. "Wollt Ihr etwa zu... zu eurer Mutter rennen? Meint Ihr nicht, sie wäre enttäuscht, wenn Ihr einfach so ihre schöne kleine Illusion des strahlenden Paares zerschlagen würdet?" "Wenn Ihr wüsstet, was ich am liebsten zerschlagen würde..." Alans Augen flackerten. Ein fortwährendes Beben lief durch seine Unterlippe, dass ihm mit einem Mal eine groteske Ähnlichkeit mit seiner jüngeren Schwester verlieh. "Natürlich... werde ich nicht sagen, was für ein gefühlloser, arroganter Mistkerl ihr seid! Aber... aber glaubt mir... wenn ihr Mutter enttäuscht, oder wenn ihr Dalia zum Weinen bringt..." Seine Finger schlossen sich enger um Lalits Hals und raubten ihm für einen Augenblick die Luft zum Atmen. "... dann bringe ich euch um!" Er hielt den würgenden Griff für einige Sekunden aufrecht, dann stieß er Lalit mit einer wütenden Bewegung zurück - so fern das die Türe in seinem Rücken überhaupt noch erlaubte - und stapfte wutentbrannt von dannen. Doch erst als seine hoch gewachsene Gestalt in einem der vielen anderen gläsernen Durchgänge verschwunden war, schien der drückende Bann von dem Körper des Weißhaarigen abzufallen. Das Zittern, dass er die ganze Zeit über so krampfhaft unterdrückt hatte, brach nun mit aller Macht über ihn herein und ließ ihn wie einen tödlich Verwundeten an dem glatten, kalten Glas hinabrutschen. Er versuchte vergeblich, sich abzufangen, aber seine Arme und Beine gehorchten ihm nicht mehr. Lalit ließ seinen Kopf in den Nacken fallen, schloss seine Augen und schnappte nach Luft. Immer noch schien eine unsichtbare Hand fest um seine Kehle gelegt zu sein, die ihm das Atmen beinahe unmöglich machte und die kalte Luft in seinen Lungen schmerzen ließ. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und wartete darauf, dass sich sein rasender Herzschlag irgendwann wieder beruhigen würde, während ein einziger, hilfloser Gedankenfetzen durch seinen Kopf raste. Oh bitte, ihr Götter, lasst jetzt niemanden durch diesen verfluchten Gang hinter meinem Rücken gehen. Es dauerte lange, bis Lalit wieder die Kraft und die innere Ruhe fand, sich auf die Beine zu ziehen und den Balkon zu verlassen. Er wusste nicht, ob seine stummen Gebete erhört worden waren, doch bevor er sich wieder in das freundliche, wenn auch wahrhaft recht protzige Schloss zurückwagte, blieb er vor der Glastüre stehen und betrachtete sein Spiegelbild. Im Grunde genommen sah er aus wie immer. Sein Haar war etwas unordentlich, ebenso seine Kleidung, aber das war auch schon alles, was auf die Geschehnisse der vergangenen Minuten hinwies. Der junge Thronfolger atmete noch einmal tief durch, ordnete seine Frisur, strich den Stoff seines Oberteiles glatt und tat dann endlich das, woran Alan ihn so unsanft gehindert hatte. Er drehte die goldene Türklinke herum, öffnete geräuschlos die gläserne Pforte und tauchte dann in die angenehme Wärme des Schlosses ein. Der Weg zu seinem Zimmer erschien dem Weißhaarigen heute länger als jemals zuvor. Er achtete nicht auf seine Umgebung, die hier in dem Trakt, in dem die Gemächer der königlichen Familie lagen, sogar noch ein wenig prunkvoller war als sonst. Seine goldenen Augen waren starr auf das vorbeiziehende Schachbrettmuster des Bodens gerichtet. Auch die zahllosen Bediensteten, die sich ehrfürchtig und teils auch überaus entzückt vor ihm verneigten, nahm er nur ganz am Rande wahr. Es war eine ihm mittlerweile nur allzu gut bekannte Stimme, die sich tief in sein Bewusstsein drängte und ihn augenblicklich stehen bleiben ließ. Einen Moment lang begriff Lalit selber noch nicht, warum er so plötzlich angehalten hatte. Er fühlte sich wie ein Schlafwandler, der von irgendeinem unbekannten Geräusch aus seiner träumerischen Rastlosigkeit gerissen worden war und sich nun reichlich verloren auf einem viel zu breiten, viel zu realen Gang wiederfand, ohne sich daran zu erinnern, wie er eigentlich an diesen Ort gekommen war. Sein Blick tastete suchend seine Umgebung ab, doch noch bevor er die halb geöffnete Türe zu seiner Linken bemerkte, verstand Lalit, was ihn aus seinem vermeintlichen Traum gerissen hatte. Es war Alans Lachen. Lalit blickte verstohlen nach Rechts und Links, bevor er näher an die goldene Türe herantrat, hinter der das warme, herzliche Geräusch hervordrang. Der lange Korridor war leer. Die Bediensteten säuberten die Zimmer der Königsfamilie schon in den frühen Morgenstunden und waren den Rest des Tages stets darauf bedacht, ihre gnädigen Herren so wenig wie möglich zu stören. Und so kam es, dass ausgerechnet der schönste Teil des Schlosses nur allzu oft wie verlassen und ausgestorben im goldenen Licht der Sonne schlummerte. Der Weißhaarige näherte sich langsam, schleichend, um kein Geräusch auf dem glatten Boden zu verursachen. Noch ein letztes Mal vergewisserte er sich, dass die Luft auch wirklich rein war, dann schob er seinen Kopf so weit hinter den Türspalt, dass er in das Innere des Zimmers blicken konnte. Und nun verstand er auch, was ihn an Alans Lachen gestört hatte. Er war nicht allein. Das Kichern einer zweiten Person hatte sich über die Stimme des Blondschopfes gelegt. Neben dem Prinzen saß ein zweiter junger Mann auf dem Bett, deutlich kleiner und zierlicher als er selbst, mit dunkler Haut und schwarzen Haaren. Er trug einfache Gewänder, und seine tiefbraunen Augen hingen wie gebannt am Gesicht seines Gegenübers. Alan hatte einen Arm um die Taille des Schwarzhaarigen geschlungen. Sein Blick war noch ein klein wenig sanfter als sonst. Mit einer zärtlichen Bewegung strichen seine Finger über die Wange des Kleineren, spielten kurz mit einer seiner dunkel glänzenden Haarsträhnen und glitten dann langsam in seinen Nacken hinab. Er sagte nichts, aber in seinem Lächeln lag ein Ausdruck solcher Zufriedenheit, solchen Glücks, dass jedes weitere Wort überflüssig gewesen wäre. Ruckartig wandte sich Lalit ab und ging mit schnellen Schritten weiter. Er fühlte sich mit einem Mal unglaublich schäbig. Wie weit war es mit ihm gekommen, wenn er nun schon wie ein Verbrecher oder irgendein perverser Spanner um fremde Zimmertüren herumschlich? Zum zweiten Mal an diesem Tag hoffte er aus tiefstem Herzen, dass ihn niemand bei dieser peinlichen Aktion beobachtet hatte. Der Kronprinz Belicias lauschte an fremden Türen! Es war erbärmlich. Lalit senkte unweigerlich seinen Blick, als ihm eine Gruppe junger, schnatternder Dienerinnen entgegen kam, und beschleunigte seinen Gang so weit es eben noch möglich war, ohne allzu sehr nach einer Flucht auszusehen. Der junge Weißhaarige kam sich plötzlich so vor wie ein kleiner Junge, der irgendetwas ausgefressen hatte und seinen Heimweg nun als reinsten Spießrutenlauf empfand. Das Wort "schuldig" schien ihm mit leuchtend roten Lettern auf die Stirn geschrieben zu sein, und das entzückte Kichern der Mädchen verwandelte sich in seinen Ohren in ein höhnisches, boshaftes Meckern. Dabei, dachte Lalit in einem Anflug von Trotz, hatte er doch eigentlich nichts weiter getan, als kurz in eine unverschlossene Türe zu blicken. Aber vielleicht lag seine seltsame Betroffenheit ja viel eher daran, was er gesehen hatte? Die Situation war mehr als eindeutig gewesen. Die warmen, tiefen Blicke, in denen Alan und der junge Diener gegenseitig versanken wie in eine süßen, berauschenden Strudel, der die gesamte restliche Umgebung wie Regentropfen wegwischte und verblassen ließ. Die vertrauten Gesten, die selbstverständliche und doch elektrisierende Art der Berührungen... Irgendwie, dachte Lalit und konnte sich ein leises, sarkastisches Lachen nicht verkneifen, schien es Ragnaras Fluch zu sein, dass alle seine Kronprinzen schwul waren. Der Weißhaarige stieß die Türe zu seinem Zimmer auf, trat ein und ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf sein Bett fallen. Er fühlte sich wie erschlagen. Es vergingen wiederum etliche Minuten, bis er sich dazu aufraffen konnte, sein weiches Lager zu verlassen und den Posten am Schreibtisch zu beziehen. Dann nahm er Papier und Feder zur Hand, legte Kierans Brief aufgefaltet neben sich und begann zu schreiben. Der Himmel hatte sich im Laufe des Nachmittages bewölkt. Zunächst war nur hier und dort eine fedrige Wolke über den Horizont gezogen, doch nach und nach hatten sich die Federbällchen zu ausgewachsenen Türmen zusammengezogen, nur um schließlich ein grau-weißes, alles verschluckendes Netz über das zartblaue Firmament zu spannen. Die Luft roch nach Regen, aber dennoch war es nicht kalt - im Gegenteil. Eine feuchtwarme Schwüle drückte wie ein Stein auf das Land und ließ die Natur erstarren. Der kühlende Wind der Morgenstunden war verstummt, und sogar die immer fröhlichen Vögelchen schwiegen. Lalit ließ sich von dem plötzlichen Wetterumschwung nicht beeindrucken. Trotz des drohenden Unwetters hatte er die schützenden Wände des Schlosses verlassen und schlenderte wieder einmal durch den weitläufigen Palastgarten. Im hinteren Teil der grünen Oase war ein kleines Wäldchen angelegt worden, das ihn in seiner verträumten Zartheit an die mindestens ebenso schönen, aber weit weniger planvollen Gärten seiner Heimat erinnerte. Der junge Thronfolger ging oft zwischen den dünnen, vereisten Stämmen spazieren, nicht zuletzt deshalb, weil sich nur selten andere Menschen in diesen Teil des königlichen Parks verirrten. Nur hier und dort tauchte plötzlich eine weiße, steinerne Statue zwischen dem Blattwerk auf, wie in der Bewegung zu Eis erstarrt, die leeren Augen gen Himmel gerichtet. Der Weißhaarige mochte die Statuen, aber noch viel mehr gefiel es ihm, wenn der riesige Schlossbau irgendwann von den weißgrünen Baumwipfeln verdeckt wurde, wenn ihn die grüne Mauer des Vergessens umfing und für kurze Zeit an einen weit entfernten Ort brachte, einen Ort, an dem es keine liebestollen Püppchen und selbstgerechten Prinzen mit Schwesternkomplexen gab. An diesem Abend schafften es jedoch weder die immergrünen Bäume, von deren Blättern die Eiszapfen wie kristallenes Kerzenwachs hinab hingen, noch die steinernen Helden und Schönheiten an den Wegesrändern, die düsteren Gedanken des Tages zu vertreiben und mit dem Schleier einer süßen, trügerischen Illusion zu bedecken. Lalit hatte sich von dem Spaziergang einen klaren Kopf erhofft, aber die stagnierende Luft trieb das Sorgenkarussell in seinem Inneren nur noch ein wenig schneller voran. Sei mir gegrüßt, Kieran Ich hoffe, du bist immer noch wohlauf, trotz des frühern Wintereinbruchs. Es hat mich zutiefst erfreut, dass du deine Aufgabe derart gewissenhaft erfüllst. Wie angekündigt werde ich nun mehr über das Schloss und die nähere Umgebung berichten können. Was würde Kieran bei der Lektüre seines detaillierten Berichtes wohl empfinden? Lalit wusste nicht, ob es ihm auch nur ansatzweise gelungen war, die Schönheit seiner Lieblingsplätze in Worte zu fassen. Er war nicht sonderlich geübt in solchen Dingen, und er hoffte inständig, seinen Diener nicht allzu sehr mit seinen Erzählungen zu langweilen. Ob der junge Schwarzhaarige wohl über das Ausmaß seines zweiten Schreibens erschrecken würde? Wahrscheinlich würde er zunächst einmal eine endlose Aneinanderreihung von Anweisungen und Befehlen erwarten. Lalit konnte sich sein ängstliches Gesicht beim Anblick des Briefes lebhaft vorstellen. Aber wie würde er erst aussehen, nachdem er die schwarzen Zeilen gelesen hatte? Verzeih, aber ich habe in meinem letzten Brief gelogen. Die königliche Familie ist bei Weitem nicht so perfekt, wie ich zunächst angenommen hatte. Über das königliche Paar vermag ich nichts Schlechtes zu schreiben, ihr ältester Sohn ist jedoch einer der gewichtigsten Gründe, warum ich so rasch wie möglich zurückkehren möchte. Die Bezeichnung Alans als ,gewichtigen Grund' schickte einen dünnen, kläglichen Lichtstrahl der Erheiterung in die bedrückende Finsternis in Lalits Kopf. Er bezweifelte, dass es dem reizenden blonden Engel sonderlicher gefallen würde, in irgendeinem Zusammenhang als ,gewichtig' bezeichnet zu werden, schon gar nicht, wenn ein weitaus boshafteres kleines schwarzes Engelchen in Lalits Gedanken höhnisch kichernd ein ,über' vor das Wort setzte. Die Stimmung des jungen Thronfolgers erhellte sich ein wenig, auch wenn er natürlich wieder einmal mit völliger Sicherheit sagen konnte, dass Kieran das kleine Wortspiel ohnehin nicht bemerken würde. Während Lalits Gedanken immer noch bei dem längst versiegelten und einem Boten anvertrauten Schriftstück hingen, hatte sich der bleierne Himmel über den Baumwipfeln verdunkelt. Mond und Sterne waren unerbittlich hinter einer schwarzgrauen Mauer gefangen. Die kleinen Laternen, die hier und dort in dem mit zarten Eisblumen bedeckten Astwerk hingen und in lauen Nächten den pudrigen Schnee zum Glitzern brachten, waren angesichts des drohenden Unwetters nicht angezündet worden. Das Schweigen der Vögel ließ eine schwere, unruhige Stille zurück, die ebenso schwer auf der eisigen Erde zu lasten schien wie das lauernde Gewitter. Die Finsternis färbte die dünnen, gekrümmten Äste in ein dreckiges Schwarz, über dem sich das verkrustete Weiß der Blätter wie ein zerfetztes Leichentuch ausbreitete. Lalit achtete jedoch nicht auf seine Umgebung. Er dachte vielmehr daran, wie seine Hand die zierliche Feder angehoben hatte, um eine förmliche Verabschiedung und seinen Namen unter den ohnehin schon viel zu langen Brief zu setzen - und dann im letzten Augenblick in der Bewegung erstarrt war. Es war, als hätte sich urplötzlich im Kopf des jungen Weißhaarigen ein Hebel umgesetzt, der irgendeine unvorhersehbare Reaktion in Gang gesetzt hatte. Lalit wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was sich in ihm verändert hatte, und eigentlich konnte er es immer noch nicht mit Gewissheit sagen. Es war wie ein fester, unumstößlicher Entschluss, den irgendein Teil von ihm getroffen hatte, den er selber noch nicht kannte und vielleicht auch nie in seinem Leben finden würde. Und genau in dem Moment, als die ihm unbekannte Entscheidung nun endgültig getroffen, auf einen steinernen Vertrag gemeißelt und mit Blut unterzeichnet worden war, verlor Lalit die Kontrolle über seinen gesamten Körper. Die bleichen Finger des jungen Thronfolgers formten Buchstaben und Linien auf dem Papier, ohne dass er diesen unheimlichen Vorgang beeinflussen oder gar aufhalten konnte. Wie ein stummer, regungsloser Beobachter musste er zusehen, was die schwarze Tinte auf dem dunklen Weiß des Papiers niederschrieb. Ich vermisse dich, Kieran. Nein, schoss es Lalit durch den Kopf, das konnte er nicht schreiben. Das war verrückt! Verdammt, er hatte es die gesamten letzten Jahre seines Lebens geschafft, sich vor seiner Familie, seinem Volk, vor sämtlichen Menschen, die ihn umgaben, stets zusammenzureißen. Wie konnte es da sein, dass er nur anhand eines lächerlichen kleinen Briefes nun die Kontrolle verlor? Ich weiß, dass du mir in Kürze antworten wirst, genau so, wie ich es dir gesagt habe. Aber den größten Gefallen könntest du mir tun, wenn du nur ab und zu an mich denkst. Lalit wusste nicht, was für ein stiller Wahn seinen Körper befallen hatte, derartige Zeilen zu Papier zu bringen, aber noch viel weniger verstand er, warum er diesen Brief tatsächlich versiegelt und abgeschickt hatte. Das unscheinbare Stück Papier sollte in dem kleinen vergoldeten Papierkorb liegen, der sich in der Dunkelheit unter seinem weißen Schreibtisch versteckte, oder noch besser in den glühenden Flammen des nächstbesten Kamins - stattdessen aber trat er nun seine lange, beschwerliche Reise durch die Eiswüste Fuyubis an. Und bei seinem Glück, dachte Lalit bitter, würde das verfluchte kleine Schriftstück natürlich keinem Raubüberfall oder Schneesturm zum Opfer fallen. Ein eiskalter Wassertropfen stahl sich durch das Labyrinth der schneebedeckten Zweige und zerplatzte zielsicher mitten auf der Stirn des jungen Thronfolgers. Er zuckte erschrocken zusammen und blickte auf. Erst jetzt bemerkte er, wie finster es um ihn herum geworden war - und begriff noch im gleichen Augenblick, dass es nicht nur die Dunkelheit der Nacht war, die sich über das Land gesenkt hatte. Mit einem Mal stieg ein ungutes Gefühl in dem Weißhaarigen auf. Er sah sich um, jedoch nur um festzustellen, dass er sich in einem ihm völlig unbekannten Teil des Schlossgartens befand. Sicher, das Wäldchen war nicht besonders groß und im dichten Netz der Schatten glich eine Statue der anderen, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Lalit keine Ahnung mehr hatte, wo er sich befand oder woher er gekommen war. Am allerwenigsten jedoch wusste er, wohin er gehen sollte. Lalit atmete tief durch, um das beklemmende Gefühl in seiner Brust zu vertreiben, und beschleunigte stattdessen seinen Schritte. Der weiße Sand des Weges wurde in der Dunkelheit zu einem leuchtenden Weg, der durch ein Nichts aus lebendiger Schwärze führte. Doch nicht nur die Natur hatte eine stumme, abstoßende Wandlung vollzogen. Auch die steinerne Statuen waren mit einem Mal alles andere als schön und romantisch anzusehen. Ihre Gliedmaßen wirkten in dem gelblich schwarzen Zusammenspiel von Licht und Schatten seltsam verdreht und unförmig. Der helle Stein ließ sie wie Geistererscheinungen zwischen den finsteren Stämmen hervorstechen, mit boshaften leeren Augen und maskenhaft verzerrten, kalten Gesichtszügen. Und dann, von einer Sekunde auf die andere, ging die Welt um Lalit herum in Flammen auf. Ein grelles Licht zuckte über den Himmel, brachte die Konturen der Bäume zum Glühen und ließ die erstarrten Geister in einer Woge gleißenden Lichtes verblassen. Die blendende Helligkeit krallte sich in jedem einzelnen Eiskristall fest, erstarb dann schließlich doch und ließ gelblich flirrende Luft zurück. Auf den Blitz folgte der Donner. Der Himmel brüllte der Erde seinen Zorn entgegen und für einen Moment war sich Lalit vollkommen sicher, dass der Blitzschlag das Schloss getroffen und in tausend Stücke zersprengt haben musste, so ohrenbetäubend laut war das explosionsartige Grollen, dass die dürren Zweige der Bäume erzittern ließ. Vereinzelt fielen kalte Tropfen auf den Boden und färbten den hellen Sand schwarz wie getrocknetes Blut. Der erlösende Regenguss jedoch blieb aus. Und erst jetzt begriff Lalit die Lage, in der er sich gerade befand. Ein apokalyptisches Gewitter war losgebrochen und er befand sich exakt an dem Ort, der in dieser Situation wohl der ungünstigste war: mitten in einem Wald. Ein lähmender Schauer kroch mit quälender Langsamkeit den Rücken des jungen Weißhaarigen hinab. Seine goldenen Augen jagten rastlos über den schwarzen Wall der Bäume und Geisterstatuen, ohne einen vertrauten Punkt ausmachen zu können. Der Weg teilte sich und verschwand nach einigen Metern im hölzernen Meer aus Dunkelheit. Obwohl sich jede Faser in Lalits Körper dagegen sträubte, blieb er stehen und versuchte vergeblich, irgendeinen winzigen Hinweis zu entdecken, der ihm den Weg zurück zum Schloss deuten konnte. Ein weiterer, nicht minder greller Blitz zuckte über den Himmel, und diesmal folgte der rollende Donner sogar noch schneller als zuvor. Lalit atmete tief durch. Er hatte keine Zeit mehr zum Grübeln, und tief in ihm wusste er längst, dass er noch Stunden vor der finsteren Weggabelung stehen und auf die schwarzen Bäume starren konnte, ohne eine plötzliche Eingebung, einen göttlichen Fingerzeig oder sonst irgendetwas zu erhalten, das ihm die Entscheidung abnehmen würde - vorausgesetzt, er würde dann nicht schon längst von einem brennenden Stamm oder einem der Blitze erschlagen worden sein. Der junge Thronfolger wandte sich kurz entschlossen nach Links und schritt noch ein bisschen eiliger aus als zuvor. Schon bald machte sich ein nagendes, unangenehmes Stechen in seiner Seite bemerkbar, aber er zwang sich zu ruhigen Atemzügen und ignorierte den Schmerz. Er konnte sich keine erbärmlichere Todesart vorstellen, als aufgrund von Seitenstechen durch eines der kümmerlichen Bäumchen im Schlosspark Fuyubis in Brand gesteckt zu werden, und so ging er unbeirrt weiter, bis sich schließlich in einigen Metern Entfernung die düsteren, knochigen Stämme lichteten und den Blick in die Nacht hinaus freigaben. Ein stummer Seufzer der Erleichterung hob Lalits Brust. Scheinbar war es ihm nun doch ein einziges Mal an diesem verfluchten Tag gestattet, Glück zu haben. Auch wenn irgendetwas in ihm davor zurückschreckte, auf die freie Ebene hinauszutreten, seinen scheinbaren Schutz aufzugeben, so wusste er im Grunde genommen doch ganz genau, dass die trügerische Sicherheit unter den gefrorenen Baumwipfeln doch in Wirklichkeit eine unglaubliche Gefahr bedeutete. Er verdrängte das leichte, instinktive Zögern in seinem Inneren und legte noch ein letztes Mal an Tempo zu. Als sich dann endlich die Bäume auftaten und den Weg aus dem schwarzen Geisterwald freigaben, hätte Lalit am liebsten vor Schreck und Enttäuschung aufgeschrieen. Wie hatte er auch nur einen einzigen Augenblick lang annehmen können, die richtige Entscheidung getroffen zu haben? Immerhin wusste er nun endlich, wo er sich befand, und gleichermaßen begriff er auch, dass es allein die Dunkelheit der Nacht und die Angst vor dem Gewitter gewesen waren, die seine Umgebung bis zur Unkenntlichkeit verzerrt hatten. Tatsächlich hatte er sich die ganze Zeit über auf einem Weg befunden, den er in den vergangenen Tagen schon unzählige Male entlang geschlendert war, vielleicht sogar öfter als jeden anderen Pfad in dem kleinen Wäldchen. Und gleichzeitig konnte er sogar noch einen großen Irrtum berichtigen, dem er in den letzten alptraumhaften Minuten erlegen war. Der ungünstigste Ort, den ein Mensch bei einem derartigen Gewitter aufsuchen konnte, war keineswegs ein Wald. Es war definitiv der kleine See mitten auf der schmalen Waldlichtung, vor der Lalit nun stand. Das ruhige Wasser, das im Licht der Sonne stets in geheimnisvollem Grün schimmerte, hatte nun die dreckige, grau-gelbe Farbe des Himmels angenommen. Etwas mehr als ein Meter trennte die letzten, niedrigen Bäume von dem schlammigen, von hohen Schilfzäunen umringten Ufer des kleinen Gewässers. Wäre seine Lage nicht so verdammt ernst gewesen, hätte der junge Weißhaarige zum ersten Mal seit unvorstellbar langer Zeit wieder aus tiefstem Herzen lachen können. Die Situation war absurd! Er war praktisch umzingelt von allen nur erdenklichen Dingen, die Blitze irgendwie anziehen konnten. Sicher, er hatte mittlerweile begriffen, dass das Schicksal gegen ihn war, aber musste es dabei immer gleich so sehr übertreiben? Oder waren es vielleicht gar nicht Zufall und Schicksal, die ihn hierher geführt hatten? Kaum hatte Lalit den Gedanken zu Ende gebracht, erschien es ihm auf einmal vollkommen absurd, dass er nicht schon viel eher darauf gekommen war. War es wirklich sein unbestreitbares Pech gewesen, das ihn auf den Pfad zum See oder überhaupt in diesen Wald geführt hatte? Das Gewitter hatte sich schon vor Stunden angekündigt. Konnte man da wirklich noch so vermessen sein und von einer Laune des Schicksals reden, dass er nun im tiefsten Unwetter durch die Finsternis irren musste? Nein, verbesserte er sich in Gedanken. Er war nicht geirrt, und im Grunde genommen hatte er sich auch von Anfang an nicht in dem Wäldchen verlaufen. Viel eher war es wieder einmal der Einfluss jener unbezwingbaren, unterbewussten Macht gewesen, die ihn wie einen Träumenden zielsicher durch das Labyrinth der schwarzen Stämme geführt hatte. Und jetzt, als er unter dem von gleißenden Wunden durchzuckten Bleihimmel am glanzlosen Wasser des Waldsees stand, fügten sich mit einem Mal alle Puzzleteile in seinem Kopf zu einem sinnvollen Bild zusammen. Er verstand nun plötzlich alles. Seine scheinbar so widersinnige, vollkommen unvernünftige Entscheidung, trotz des düsteren Wetters und der stickig schwülen Luft ausgerechnet in diesem Teil des Parks, fernab vom sicheren Schloss spazieren zu gehen. Die Worte, die sich wie von selbst unter seinen Brief geschrieben hatten. Er verstand nun sogar, warum er genau dieses Schreiben nicht einfach wieder zusammengeknüllt und weggeworfen hatte, wie es sein erster Impuls gewesen war. Und nicht zuletzt wusste er auch, was ihn durch die Finsternis des Waldes ausgerechnet zu diesem See geführt hatte. Alles lag ganz klar und deutlich vor ihm, geradezu lachhaft einfach, nun, nachdem er endlich die Entscheidung kannte, die er im Schein der roten Kerzen an seinem kleinen weißen Tischlein getroffen hatte. Das beklemmende, erdrückende Gefühl der kalten Angst war von Lalits Schultern gewichen. Er war auch nicht wirklich glücklich, aber doch erleichtert, als er seine Augen schloss und langsam in das flache, kalte Wasser hineinging. Ende des vierten Kapitels Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)