Der Rebell von Niekas ================================================================================ Kapitel 2: Weit unten --------------------- Eduard hat schon Routine. Er kommt rein, löffelt mir das Essen in den Mund und ist sofort wieder verschwunden. Raivis lässt sich nicht mehr blicken – entweder ist er zu verschreckt von meinen Essens-Attacken, oder von der Aktion von Toris. Ich meine, Eduard ist ein Statist. Toris ist derjenige, welcher. Derjenige, der immer noch kommt und versucht, mit mir zu reden, ein paar unverfängliche Worte, auf die ich nie reagiere. Derjenige, der mir das letzte beschissene bisschen Würde genommen hat, das ich noch hatte. Weggefetzt und in den Dreck getreten. Ich hasse ihn. Ich hasse sein Lächeln und seine Stimme und seine Finger um den Löffel mit dem Haferschleim. Jedes Mal bin ich hin und her gerissen, wenn er kommt. Einerseits habe ich wenig Lust, mich schon wieder zu meinem Glück zwingen zu lassen, und ich habe Hunger. Andererseits ist meine Kehle jedes Mal wie zugeschnürt, wenn er da ist. „Sag mal, Lorinaitis.“ Er hockt vor mir auf dem Boden, hat sein Sprüchlein aufgesagt und es irgendwann aufgegeben, mit mir reden zu wollen. Ich habe schon die halbe Schüssel geleert. „Ja?“ „Was ist nun mit Braginsky?“ Noch ein Löffelchen. Nicht würgen, so schlecht schmeckt es auch wieder nicht. Ich sollte meinen verletzten Stolz für eine Weile beiseite schieben und mich auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist – wie ich wieder hier heraus komme. Aber es ist so verdammt schwer. „Was soll mit ihm sein?“ Toris hebt eine Augenbraue. „Interessiert er sich eigentlich noch dafür, was ich tue?“ „Ich erstatte ihm manchmal Bericht.“ „Aber selbst herunterkommen wird er nicht?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ Er lächelt nur, beinahe mitfühlend, und schiebt den nächsten Löffel hinterher. „Also berichtest du ihm von mir?“ „Neulich wollte er wissen, wie es um deine Gesundheit steht. Er war beruhigt, als ich ihm gesagt habe, du hättest keine besonderen Beschwerden.“ Doch, die habe ich. Ich möchte sofort den Personalchef sprechen und mich über den Zimmerservice in dieser Einrichtung beschweren. „Von Raivis hast du ihm nichts gesagt?“ „Nein“, antwortet Toris, den Blick auf die Schüssel gerichtet anstatt auf mich. „In Raivis' Interesse habe ich ihm den gesamten Vorfall verschwiegen. Ivan hat sehr altmodische Erziehungsmethoden. Da sie in seinen Augen seit Jahrhunderten funktionieren, sieht er nicht ein, etwas daran zu ändern.“ „Altmodisch? Du meinst, weil er selbst als Kind zu viele Prügel kassiert hat und daraufhin zu dem ausgeglichenen und normalen Kerl herangewachsen ist, den wir alle kennen und lieben, macht er es einfach bei Galante genauso?“ „Hör sofort auf, über Dinge zu sprechen, von denen du nichts verstehst. Ich kann dir nur zugute halten, dass du nicht weißt, was du hättest anrichten können.“ Soll er mir doch zugute halten, was er will. Aber ihm halte ich es nicht zugute, dass er nicht weiß, was er angerichtet hat. Mein kleines Häufchen Würde rollt sich mit Nasenbluten in einer Ecke zusammen und winselt. Wie soll ich mich unter diesen Umständen darauf konzentrieren, Ivan zu mir zu locken und hier heraus zu kommen? Mein Stolz pocht darauf, lieber einen Weg zu finden, wie ich Toris seine Demütigung heimzahlen kann. Moment. „Warum willst du Ivan eigentlich sehen?“ „Weil er hier das Sagen hat. Was nützt es mir schon, mich mit seinen Leibeigenen herumzuschlagen? Ich will, dass die drei zu ihm laufen und ihm sagen, dass sie mit mir nicht fertig werden und dass er das in die Hand nehmen muss.“ „Und das wünschst du dir? Dass Ivan kommt und dir Manieren beibringt?“ „Ich will ihn sehen. Wenn er glaubt, dass er mich hier unten platzsparend abstellen und vergessen kann, hat er sich geschnitten. Ich lasse mich nicht ignorieren.“ „Wer weiß, wohin das führen wird.“ „Ich weiß es nicht“, sage ich. „Aber dafür weiß ich jetzt, wie ich Bewegung in die Sache bringen kann.“ „Wie denn?“ „Abwarten, Westen. Aber lass mich dir eins verraten: Toris wird nicht gut wegkommen dabei.“ „Deine Obsession mit Toris wird kein gutes Ende nehmen, Gilbert, denk an meine Worte.“ „Vermutlich. Für ihn jedenfalls wird sie kein gutes Ende nehmen.“ Meine hinter dem Rücken gefesselten Hände fühlen sich mittlerweile an wie abgestorben. Es tut höllisch weh, sie zu bewegen, aber ich habe es trotzdem getan, die Finger gekrümmt und entspannt, bis wieder ein bisschen Gefühl in sie gekommen ist. Jetzt kommt der entscheidende Teil. Die Seile müssen sich im Laufe der vergangenen Tage gelockert haben, denn mit meiner Bewegungsfreiheit sieht es besser aus als erwartet – wenn es nur nicht so verflucht wehtun würde. Durchblutung ist ein Arschloch. Ich zerre an den Seilen, weil an bedächtiges Aufknoten nicht zu denken ist. Dafür sind meine Finger noch zu steif und ungelenk, und sehen kann ich auch nichts. Mir bleibt also keine Alternative, als es mit roher Gewalt zu versuchen, obwohl die Fesseln in meine Handgelenke schneiden. Zähne zusammenbeißen und an das Ziel denken, Gilbert. Das Ziel. Das Seil rutscht zu meinem Daumengelenk hoch. Einige Sekunden lang zerre ich noch daran, dann bin ich durch, starre meine befreite Hand an und weiß, dass ich glücklich sein sollte. Interessanterweise spüre ich nichts als eine kühle Genugtuung. So weit der erste Teil des Plans: Entfesselung und erneuter Beweis meiner Großartigkeit. Der zweite Teil hängt davon ab, wer als nächster herein kommt. „Warum willst du das tun, Gilbert?“ „Warum nicht?“, frage ich mit heißen Wangen. „Es ist ein Plan!“ „Wohin soll dieser Plan führen?“ „Er wird für Verwirrung sorgen, für einiges Durcheinander. Mein Plan wird den von Ivan gehörig durcheinander werfen, und er wird darauf reagieren müssen.“ „Wahrscheinlich bringst du hiermit nicht nur dich in Schwierigkeiten“, sagt Ludwig. „Genau das ist der Plan, Lutz. Hatte ich das noch nicht erwähnt?“ Der Erste, der hereinkommt, ist Raivis – perfekt. Er öffnet die Tür und kommt auf mich zu, bleibt aber ruckartig stehen, als er sieht, dass ich nicht mehr gefesselt bin. „Hey, Galante“, sage ich und grinse breit. „W-was hast du gemacht?“, fragt er und deutet zitternd auf die Seile vor mir. „Wie hast du das geschafft?“ „Oh, das... das ist gar nichts“, erwidere ich beiläufig. „Hast du Essen?“ „Wie hast du den Knoten aufbekommen?“ „Das war ich nicht, das war To...“ Ich breche ab. Raivis macht große Augen. „Toris?“ „Nein, nicht Toris.“ Ich versuche, es so offensichtlich wie möglich nach einer Lüge klingen zu lassen. „Warum hat Toris dich losgebunden?“, fragt Raivis und zittert noch heftiger. „Du bist doch viel zu gefährlich so.“ „Toris will mir helfen, hier heraus zu kommen“, sage ich gespielt widerwillig. „Deswegen hat er mir die Fesseln abgenommen. Er will natürlich nicht, dass Ivan herkommt und von unserer kleinen Abmachung erfährt – ich könnte mich ja verplappern, weißt du? Deswegen hat er Ivan nicht gerufen, auch nicht, als ich dich angespuckt habe.“ Zitternd sieht Raivis mich an. „Wirklich?“ „Ja, sicher. Natürlich wäre es gut gewesen, Ivan Bescheid zu sagen, als ich dich angespuckt habe, denn Ivan wäre sicher wütend geworden... es hat dich verletzt, oder? Ivan hätte mich sicher dafür bestraft, das getan zu haben. Aber das wollte Toris nicht, weil er mir hilft und mich befreien möchte. Und... naja, wo du dabei bleibst, ist ihm ziemlich egal.“ Tränen steigen in Raivis' Augen. „Das ist nicht wahr!“ „Natürlich ist es wahr.“ „Du lügst doch! Toris hat Ivan nichts gesagt, um mich zu beschützen! Er tut das nicht für dich!“ „Aber er hat mir die Fesseln abgenommen“, betone ich noch einmal. „Er hilft mir.“ „Das ist nicht wahr“, flüstert Raivis. „Doch. Und es ist gut, dass Ivan nichts von alledem weiß... sonst hätten Toris und ich ein ganz schönes Problem.“ Er ringt nach Luft und zieht die Nase hoch. Dann fährt er herum und läuft hinaus. Hoffentlich macht er seine Sache gut, denke ich. „Und jetzt?“ „Jetzt warte ich“, sage ich und lehne mich zufrieden zurück. „Mal sehen, wie lange Braginsky braucht, bis er hier auf der Matte steht.“ „Wieso denkst du, Raivis wird es ihm sagen?“ „Er klammert sich unheimlich an Toris und Eduard, sie sind seine Helden. Der Gedanke, dass Toris ihn angeblich hintergangen hat, wird ihn fast wahnsinnig machen.“ „Das ist noch skrupelloser, als ich gedacht hatte.“ „Sag es, wie du es eigentlich meinst, West: Ich bin noch skrupelloser, als du gedacht hattest.“ Die Tür geht auf und endlich, endlich ist Ivan da. Toris, dessen Oberarm er umklammert hat, stolpert hinter ihm her. Ich unterdrücke ein Grinsen bei dem Anblick, beherrsche mich aber. Jetzt nur nichts falsch machen. „Braginsky. Wie überaus nett von dir, dass du...“ „Gilbert“, unterbricht Ivan mich und legt den Kopf schief. „Mir ist da etwas ziemlich... Interessantes zu Ohren gekommen.“ „Ach ja?“ Ich versuche, möglichst überzeugend Unschuld zu heucheln. „Was denn?“ „Ich habe gehört, Toris hätte...“ „Ich habe nichts getan!“, schreit Toris und streckt eine Hand nach mir aus. In seinen Augen blitzen Wut und Angst. „Das ist eine Lüge! Ich habe niemals...“ „Du bist erst einmal still“, tadelt Ivan ihn. „Ich spreche mit Gilbert.“ Toris beißt sich auf die Lippe und verstummt. „Also, Gilbert. Ich habe gehört, Toris wollte dir helfen, zu fliehen.“ Ich mache große Augen. „Toris und mir helfen? Wie kommst du denn auf so eine Idee?“ Verwirrt hebt Toris den Kopf und sieht mich an. Ivan blinzelt nur einmal und verengt dann die Augen leicht. „Raivis sagte, er hätte dir die Fesseln abgenommen.“ „Oh... ha ha... aber das ist doch...“ Ich breche ab und betrachte die losen Seile um mich herum. Das hier ist sogar besser als mit der Hand in der Keksdose erwischt. Viel besser. „Damit habe ich nichts zu tun!“, ruft Toris und wendet sich verzweifelt an Ivan. „Ich habe wirklich nichts...“ Ivan presst achtlos eine Hand auf seinen Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Wie erklärst du das, Gilbert?“, fragt er leise. Ich zögere einen Moment lang und seufze dann tief. „Also... vielleicht hat Toris mir doch geholfen. Ein bisschen zumindest.“ Toris reißt erschrocken die Augen auf, kann aber nicht widersprechen, weil Ivans Hand ihm langsam, aber sicher die Luft abdrückt. „Er hat mir seine Unterstützung angeboten.“ Ich senke den Kopf, damit man mein Grinsen nicht sieht. Zum Grinsen ist es zu früh, aber ich kann nicht anders. „Immerhin seien wir beide auf einer Seite... weil wir beide denselben Feind hätten, hat er gesagt.“ „Denselben Feind?“, wiederholt Ivan gespielt fröhlich. „Und wer sollte das sein?“ „Nun... das ist die große Frage, nicht wahr?“ Ivan lacht düster in sich hinein und lässt langsam die Hand von Toris' Mund sinken. Toris ringt hastig nach Luft. „Das... das sind alles Lügen! Ich habe überhaupt nichts Derartiges gesagt, Ivan, ich schwöre es!“ „Nein. Denn das würdest du mir niemals antun, nicht wahr, Toris? Nie im Leben.“ Ivan starrt ihn an. Ich kenne diesen Blick ganz genau, und wenn ich mir ansehe, wie blass Toris plötzlich wird, denke ich, er kennt ihn auch. „Von Gilbert habe ich ohnehin nichts anderes erwartet, als mich zu hintergehen. Aber von dir, Toris?“ „Er lügt!“, ruft Toris verzweifelt und sieht mich flehend an, als wolle er, dass ich Partei für ihn ergreife. Einen Teufel werde ich tun. „Glauben Sie mir doch, es sind nichts als Lügen! Gilbert denkt sich das alles aus, nur um...“ „Nein“, sagt Ivan und greift nach seinem Kragen. „Du bist es hier, der lügt. Und du weißt genau, was mit Lügnern passiert. Mich hintergehen. Mein Toris.“ „Aber ich habe Sie nicht...“ „Sprich ruhig weiter, Toris, mir ist das gleich. Ich hoffe nur, du weißt, was du dir damit antust.“ Ivan lacht erneut auf diese düstere Art, packt Toris am Arm und zerrt ihn hinter sich her aus dem Raum. Toris verdreht den Hals und sieht sich noch einmal zu mir um. In seinem Blick liegen Wut, Hass und Unverständnis, aber hauptsächlich nackte, panische Angst. Und endlich, endlich erlaube ich mir ein Grinsen, ein sehr breites und wahrscheinlich ziemlich gehässiges Grinsen hinter Ivans Rücken. „Und nun?“ „Und nun?“, wiederhole ich. „Braginsky ist gekommen. Mehr wollte ich erst einmal nicht.“ „Was fängst du jetzt damit an?“ „Mal sehen. Was einmal funktioniert hat, funktioniert auch öfter.“ Ludwig schweigt kurz. „Hast du nie daran gedacht, dass du wirklich eine Abmachung mit Toris hättest treffen können?“ „Nicht im Traum. Erstens kann ich ihn nicht ausstehen, zweitens er mich auch nicht, drittens ist er ein Weichei, viertens hat er zu viel Angst vor Braginsky, und fünftens...“ „Fünftens?“ „Egal, was vorher war – jetzt wird er jedenfalls nicht mehr scharf darauf sein, mir zu helfen.“ Also habe ich Ivan endlich gesehen. Zwar konnte ich ihn nicht fragen, wann ich hier heraus komme, weil er die ganze Zeit geredet hat, aber ich habe eine Möglichkeit gefunden, ihn zu mir herunter zu locken – und wer weiß, vielleicht wird er ja noch einmal kommen, um nach Toris zu sehen. Dieser Teil des Plans hat jedenfalls besser geklappt, als ich es mir hätte träumen lassen. Natürlich konnte ich nicht sehen, was Ivan getan hat, aber hören konnte ich alles. Toris hat geschrien, schrill wie ein Mädchen, bis seine Stimme zerbrochen ist. Ich habe ihn winseln und betteln und seine Unschuld beteuern gehört, aber es klang nicht, als sei Ivan davon beeindruckt gewesen. Das hat er nun davon, denke ich. Wenn er glaubt, mir meine Würde nehmen zu müssen, nehme ich ihm alles, was er hat. Ist mir doch egal. Irgendwie ist das schon eine kranke Scheiße, in der ich hier lebe. „Und?“, frage ich. „Was und?“, fragt Eduard. „Was ist passiert?“ „Glaubst du, das erzählt Ivan mir? Er hat mir nur gesagt, dass du wieder gefesselt werden musst.“ „Du könntest nicht zufällig eine kleine Ausnahme machen?“ „Nein.“ „Aber einen Knoten offen lassen, das könntest du doch vielleicht?“ „Nein“, wiederholt er und steht auf. „Auch nicht aus Versehen?“ „Ich muss mich jetzt erst einmal um Raivis kümmern“, sagt Eduard, ohne mich anzusehen. Das Bemerkenswerteste, was danach passiert, ist, dass nichts passiert. Eine gute Weile lang warte ich noch darauf, dass jemand kommt, um mir mein Essen zu bringen. Es dauert lange, bis ich einsehe, dass niemand kommen wird. Von da an bekomme ich Hunger. Verdammt großen Hunger. Ist das Ivans Rache dafür, dass ich angeblich versucht habe, auszureißen? Er hat zwar gesagt, er hätte nichts anderes von mir erwartet, aber das muss ja lange nicht heißen, dass er mich nicht bestrafen will. Vielleicht ist das hier seine Strafe für mich. Wenn ja, dann bin ich immer noch glimpflicher davongekommen als Toris. Wie auch immer, überlege ich, während ich im Dunkeln sitze und meinen Magen knurren höre – ich hätte mir das hier sparen können. Ich hätte meinen verletzten Stolz einfach schlucken und Ivan auf das eigentliche Problem ansprechen können, nämlich darauf, dass er mich nicht ewig hier lassen kann. Auf lange Sicht wäre das vermutlich klug gewesen. Aber nein, die Sache mit Toris und meinem Stolz war viel wichtiger. Schade eigentlich. „Ich kann nicht schlafen.“ Ludwig sieht mich an, sagt aber nichts dazu. „Wenn ich Hunger habe, ist mir noch kälter als sonst.“ „Man kann auch vor Müdigkeit frieren.“ „Ja. Ich kann vor Hunger nicht schlafen, und vor Müdigkeit friere ich. Wenn ich jetzt vor Kälte nichts mehr essen kann, ist der Teufelskreis perfekt, was?“ Er antwortet nicht, dabei fand ich den Witz gar nicht so schlecht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)