Das Mädchen vom Meer von Coronet (Finnicks Sicht auf die 70. Hungerspiele) ================================================================================ Kapitel 1: Die Ernte -------------------- Heute ist also wieder der große Tag. Der Tag, an dem zwei Kinder zum Tode verurteilt werden. An solchen Tagen wie heute fällt es mir besonders schwer aufzustehen. Nicht nur, dass heute zwei Tribute aus meinem Distrikt bestimmt werden, nein, ich werde auch zurück in das Kapitol gebracht. Zurück zu den Leuten, die nur meinen Körper wollen. Zu den Leuten, die mich seit 4 Jahren verkaufen. Ich sitze auf der Bettkante und blicke aus dem kleinen Fenster meines Schlafzimmers. Vom Dorf der Sieger aus hat man einen einzigartigen Blick auf das Meer. Heute Morgen ist es von einem strahlenden Türkis und völlig glatt. Die ersten Fischerboote sind bereits wieder zurück und das Leben in Distrikt 4 hat bereits angefangen. Es wird Zeit, dass auch ich aufstehe. Noch immer ein wenig müde stehe ich auf um mich frisch zu machen. Die Albträume haben mich auch heute Nacht nicht schlafen lassen. Immer wieder sehe ich sie vor mir, die Frauen des Kapitols. Ich bin zusammen mit ihnen in der Arena eingeschlossen und kann ihnen nicht entkommen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Dass ich in der Arena töten musste, oder dass mein Körper verkauft wird. Beides verfolgt mich seit 4 Jahren. Aber ich darf mich nicht unterkriegen lassen. Ich muss jedes Jahr den zwei Tributen aus Distrikt 4 wenigstens Hoffnung spenden. Auch, wenn noch nie einer von ihnen gewonnen hat. Nicht einmal die Freiwilligen von ihnen. Der Blick in den Spiegel zeigt zum Glück nicht, wie ich mich innerlich fühle. Bis auf leichte Augenringe bin ich immer noch der hübsche Sieger aus Distrikt 4. Wie ich es hasse. Manchmal wünsche ich, dass sie mir wenigstens meine Wunden aus der Arena gelassen hätten. Aber alles haben sie geflickt. Mich neu zusammengesetzt, so hat es sich angefühlt. Denn im Kapitol zählt der Schein mehr als das Sein. Alles muss eine schöne äußere Hülle haben, egal wie das verdorbene Innere ist. Verdorben, das sind die meisten von ihnen. „Wenigstens erzählen sie mir immer schöne Geschichten“, denke ich sarkastisch. Eigentlich sollte ich mich direkt auf den Weg zum Rathaus machen, wo sie gerade die Ernte vorbereiten, doch ich mache wie jedes Jahr einen Umweg. Denn wer weiß schon, wann ich das Meer wiedersehe? Salzwiesenblüten rascheln unter meinen Füßen, als ich mich der kleinen, abgeschiedenen Bucht nähere, in der ich vor allem früher saß und nachgedacht habe. Wann immer ich Ärger oder Stress hatte bin ich hierher geflohen. Bis auf die Menschen aus den Hütten von hier unten kommt hier nie jemand her. Ich nehme mir einen der glatten Steine, die überall verteilt liegen und lasse ihn mit einiger Wucht über das Wasser ditschen. Stumm sehe ich zu, wie er ein paar Mal über das Wasser hüpft um dann unterzugehen. Ein letztes Mal sauge ich die salzhaltige Luft auf. Lasse den Sand durch meine Hand rieseln. Dann wird es auch schon Zeit zu gehen. Auf meinem Rückweg sehe ich ein Mädchen oben an der Salzwiese. Sie sitzt auf einem Stein und scheint zu warten. Ihre langen braunen Haare glänzen im frühen Sonnenlicht. Ein Hauch von Lebensfreude umgibt sie, wie sie so dasitzt und einen kleinen Kranz aus Blumen flechtet. Sie ist ziemlich hübsch und ich frage mich, ob sie wohl noch an der Ernte teilnimmt. Es wäre wirklich eine Schande, jemanden wie sie in die Arena zu schicken. Es ist um jeden Tribut der fällt traurig. Aber bei denjenigen, die gezogen wurden fällt es noch schwerer, als bei denen die freiwillig gegangen sind. Die anderen ehemaligen Sieger warten schon im Rathaus. Wieder einmal bin ich der letzte. Seufzend lasse ich mich auf eine übergroße Couch fallen. Das Warten auf den Beginn der Ernte zehrt bereits an unseren Nerven. Die meisten haben immer Mitleid mit den Tributen, doch niemand fragt, wie es ist, jedes Jahr zwei von ihnen zu betreuen und anschließend sterben zu sehen. Fast bin ich dankbar, als Cecilia, genannt Cece, kommt um gemeinsam mit uns die Bühne zu betreten. Der ganze Distrikt steht versammelt auf dem Hauptplatz, einige haben gerade noch Platz in den Nebenstraßen gefunden, da wir so viele sind. Als wir die Bühne betreten ist es mucksmäuschenstill. Der Bürgermeister hält wie jedes Jahr seine theatralische und überzogene Geschichte, bei der man versuchen muss, nicht einzuschlafen. Danach kommt auch schon der Höhepunkt einer jeden Ernte. Cece tritt nach vorne und begrüßt das Volk. „Fröhliche Hungerspiele! Und möge das Glück stets mit uns sein!“ Zuerst tritt sie nach vorne um einen Jungennamen zu ziehen. Bilder von meiner eigenen Ernte steigen in mir hoch. Wie sie meinen Namen gerufen hat. Die fast schon erfreuten Blicke einiger anderer, deren Namen nicht gezogen wurden. Die, die verschont wurden. Die Augen der Menge auf mir, als wir Tribute uns die Hand reichen mussten und abgeführt wurden. Ich besinne mich lieber zurück auf die Gegenwart. „Pon Amberson!“ Ein mutiger 12-Jähriger erklimmt die Bühne. Mein Herz sackt in die Hose. Wie soll der Kleine nur gewinnen können? Nun geht sie zum Glas mit den Mädchennamen. Cece zieht ihre Hand mit dem Loszettel zurück. Obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen kann, kann ich mir ihren erfreuten Gesichtsausdruck vorstellen, als sie das Los entfaltet und den Namen aufruft. „Annie Cresta!“, hallt es über den Platz. Ich erkenne sie sofort wieder. Es ist das Mädchen von der Salzwiese, das heute Morgen noch so fröhlich einen Kranz geflochten hat. Jetzt steht ihr der Schock ins Gesicht geschrieben. Ich merke, wie einmal mehr die Wut in mir aufsteigt, angesichts der zwei Tribute, die wir dieses Jahr bekommen haben. Zwei unschuldige junge Leben. Und ich werde verantwortlich sein dafür, dass sie sterben. Ich hasse meinen „Job“. 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