Demon Girls & Boys von RukaHimenoshi ================================================================================ Prolog: Prolog --------------   Prolog       „Es ist so dunkel... Wo bin ich? Hallo?! Kann mich jemand hören?“ Verzweifelt versuchte sich Laura voran zu tasten. „Was ist das für ein Ort?“, fragte sie sich ängstlich und sah sich um. Sie war mitten im Nichts. Sie sah nichts, roch nichts und hörte nichts außer ihrer eigenen Stimme. Sogar der Boden unter ihren Füßen war nicht zu spüren. Eine Weile irrte Laura orientierungslos in diesem Nichts umher, aber ihr kam es wie eine halbe Ewigkeit vor. Dann, endlich sah sie etwas. Ein kleiner Lichtfunke strahlte sie aus weiter Entfernung einladend an. Langsam ging Laura auf diesen Funken zu, als noch einer, direkt neben dem Anderen auftauchte. Sie strahlten eine solch angenehme Wärme aus, dass Lauras Beine auch ohne ihren Befehl direkt auf sie zugingen. Eine Wärme, die an das gemütliche Flackern eines Kamins erinnerte. Ein Gefühl von Zuhause. Von Geborgenheit. Je näher sie ihnen kam, umso mehr formten sie sich, schienen Gestalt anzunehmen. Schließlich war Laura nur noch ein paar Schritte von ihnen entfernt als sie die Gestalten genau erkennen konnte. Sie kannte sie nur zu gut, es war ein sechzehn jähriger Junge mit dunkelroten Haaren und ein vier jähriges Mädchen, mit hellroten, fast honigfarbenen Haaren. Ihre Augen waren dunkel und hatten nach wie vor dieses fröhliche, einladende Strahlen, wie zuvor die Lichtfunken. Doch für Laura fühlte es sich wie ein Stich ins Herz an. „Lucia! Luciano!“, schrie sie und rannte auf die beiden zu. Aber sie schien ihnen nicht näher zu kommen. Im Gegenteil! Sie entfernten sich immer mehr! Keuchend blieb Laura stehen, von dem kurzen erfolglosen Sprint bereits aller Kräfte beraubt. Von weitem sah sie, wie eine unheimliche Finsternis die beiden umwickelte. Schwarzer, wabernder Rauch wandte sich um ihre Körper… bis er sie schließlich verschlang. „Bleibt hier!“, rief Laura verzweifelt. Sie streckte die Hand nach der Stelle aus, an der die zwei vorhin noch gestanden hatten. Wissend, dass diese Geste sinnlos war. Dass es nichts gab, was ihr die beiden jemals wieder würde zurückbringen können. Und doch weigerte sich irgendetwas in Laura, diese Tatsache zu akzeptieren. Energisch ballte sie die Hand zur Faust, kleine Tränen glitzerten in ihren Augen. „Was treibt ihr da für Spielchen?! Kommt her, das ist nicht lustig!“, schrie sie verzweifelt in das Nichts, in der Hoffnung, sie könnten sie hören. Von weit her kam ein Kichern. Es war eine helle und klare Stimme, die an die fröhliche Musik eines Windspiels erinnerte. Angestrengt sah Laura in die Richtung, aus der das Kichern kam. Aber da war nichts. Wieder kicherte diese Stimme, dieses Mal hinter ihr. So schnell wie möglich drehte sich Laura um. Vor ihr, nicht weit entfernt, stand das Mädchen mit den roten Haaren und lächelte sie an. „Komm her.“, forderte das Mädchen Laura mit ihrer Glöckchenstimme auf. „Komm her und lass uns spielen.“ Kichernd hielt sie ihr die Hand entgegen. Vorsichtig, in der Angst sie könne doch wieder verschwinden, streckte Laura ihre Hand nach dem Mädchen aus. Doch wieder tauchte diese flammende Finsternis auf und wieder wollte sie das Mädchen verschwinden lassen. Schnell griff Laura nach ihrer Hand, bekam aber nur Leere und schwarzen Rauch zufassen. Erschrocken wich sie zurück. Da, wo eben noch das Mädchen stand, waren nun zwei riesige, katzenartige Augen. Ein unheimlicher Blick, der direkt in ihr Herz zu schauen vermochte. Schmerzhaft bohrte er sich durch sie hindurch. Laura krümmte sich. Das Stechen in ihrer Brust war unerträglich. Es versuchte sie zu Boden zu reißen, hinein in dieses Nichts. Aber Laura wollte nicht! Sie wollte nicht im Nichts versinken!!! Sie kämpfte dagegen an, wehrte sich mit aller restlichen Kraft, die ihr noch blieb. Doch ihr Kampf war vergebens. Und in einem stummen Schrei entwich ihr letzter Atem. Kapitel 1: Worte der Verzweiflung ---------------------------------   Worte der Verzweiflung       Ein gedämpftes Klopfen drang durch die Tür in das große Zimmer. „Junges Fräulein?“, fragte eine klare und trotzdem kräftige Stimme. Ohne überhaupt auf eine Antwort zu warten, trat die Besitzerin dieser Stimme ein. Schlaftrunken rieb sich Laura die Augen. „Guten Morgen, Rebecca.“ Rebecca seufzte. „Wie könnt Ihr nur immer so lange schlafen? Na los, aufstehen!“ Mit einem schwungvollen Wusch zog sie die schweren, dunkelroten Samtvorhänge zur Seite. Grelles, ungemütliches Licht fiel ins Zimmer und brannte sich in Lauras Augen. Stöhnend zog sie ein Kissen über ihr Gesicht. Das Licht blendete sie und aufstehen wollte sie auch nicht. „Na los.“, drängte Rebecca Laura und nahm ihr das Kissen weg. „Selbst am letzten Ferientag schlaft Ihr bis um zehn durch und fertig gepackt habt Ihr auch noch nicht. Um zwei müssen Sie bereits im Flieger sitzen, Hime-Sama. Oder wollt Ihr etwa zu Fuß gehen?“ „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du diese blöde Höflichkeitssprache bitte lassen sollst?“, grummelte Laura, während sie sich nun doch etwas im Bett aufrichtete, um sich zu strecken. „Und wie oft habe ich Euch erwidert, dass Ihr verehrter Vater mich hochkant rauswerfen würde, wenn er mitbekäme, wie ‚respektlos‘ ich seine verehrte Tochter behandele, die Prinzessin der Yami-Region und Erbin des Vorsitzes des Siebenerrates.“ Laura war sich nicht sicher, ob Rebecca mehr Sarkasmus in das Wort ‚respektlos‘ oder in ihren Titel gelegt hatte. Sie warf ihr einen mürrischen Blick zu, wissend, dass Rebecca genauso gut wie Laura selbst wusste, wie fehl am Platz sie sich in dieser erhabenen, adeligen Rolle fühlte. Und sich niemals zutrauen würde den Erwartungen ihrer Familie gerecht werden zu können. Rebecca erwiderte ihren Blick mit einem schwachen und doch liebevollen Lächeln. „Jetzt komm, steh auf.“  Seufzend mühte sich Laura aus ihrem Himmelbett mit den gleichen Samtvorhängen, die auch die Balkontür zierten. Ihr Körper fand diese Idee trotzdem nicht so prickelnd und machte ihr das mit einem leicht aufkommenden Schwindel klar. Mit einem Mix aus Grummeln und Gähnen streckte sich Laura erneut in alle erdenklichen Richtungen, während Rebecca ihre Dehnübungen amüsiert beobachtete. „Du bist definitiv kein Morgen-Mensch. Wie lange hast du gestern Abend denn noch gelesen?“ Laura warf einen Blick hinter sich auf das Bett, was eine nach wie vor viel zu kuschelige Ausstrahlung hatte, um dieser widerstehen zu können. An dessen Rand stapelten sich mehrere Bände einer Manga-Reihe, die Laura momentan las. „Es war halt spannend…“ Sie schaute auf. Erneut blendete sie das durch die Balkontür einfallende Licht, sodass Laura die Augen zusammenkniff und rüber ging, um einen Blick auf den Garten werfen zu können. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten und sie erkannte, dass die gesamte Landschaft aus frischem, weiß glitzerndem Schnee bestand. Die Kälte hatte das Wasser des Springbrunnens eingefroren, kleine Eiszapfen hingen an den Rändern der Mauer, deren schwungvolles Dach ebenso wie die angrenzenden Büsche mit einer weißen Puderschicht überzogen war. Laura seufzte. „Wie schön…“ „Das stimmt. Dieser Winter war bisher viel zu warm und trocken gewesen, noch nicht einmal eine weiße Weihnacht war uns vergönnt worden.“ „Der wievielte ist heute eigentlich?“, fragte sie Rebecca. Diese strich sich ihre kurzen dunkelbraunen Haare zurück und zupfte an ihrer Zofenschürze herum. „Der vierzehnte Januar. Das ist übrigens ein Sonntag und dein letzter Ferientag.“ Ruckartig drehte sich Laura um. „Schon?!“ Belustigt klopfte Rebecca ihr auf den Rücken. „Ja. Und jetzt ziehst du dich besser an. Deine neue Schuluniform ist letzte Woche bereits gekommen und liegt da hinten.“, meinte sie und verließ anschließend das Zimmer. „Oh, äh, danke Rebecca!“, rief Laura ihr hinterher und vernahm nur noch ein amüsiertes Kichern. Allmählich wachte auch Lauras Gehirn auf. Ab diesem Jahr ging sie auf die Coeur-Academy, einem Eliteinternat für Menschen mit einer speziellen Begabung für Magie oder Kampfkünste. Es gab nur sehr wenige Menschen mit dieser Art ‚Talent‘ und daher war die Coeur-Academy sowohl sozial als auch politisch und militärisch sehr angesehen und es war eine große Ehre dort aufgenommen zu werden. Bei dem Gedanken, dass Laura zur Elite gehören würde, lachte sie in sich hinein. Nicht weil sie stolz darauf war. Sondern eher, weil es ihr so unrealistisch vorkam zu den mächtigen Kämpfern zu gehören, die bei einer gewöhnlichen Kneipenschlägerei mit derselben Belustigung zuschauen würden, wie wenn ein Löwe zwei um einen Käse zankende Mäuse beobachtete.  Aber im Ernst: Wer hätte denn bitte schön Angst vor einem kleinen, schüchternen Mädchen? Viele. Zumindest Laura wurde von vielen so gut es geht gemieden. Sie wusste noch nicht einmal, wieso. Ja okay, sie war eine Prinzessin. Aber das spielte doch keine Rolle! Sie war ein Mensch, wie jeder andere auch! … Oder auch nicht. Sie war nun mal nicht ein Mensch, wie jeder andere auch. Und selbst unter den Kampfkünstlern war sie nicht normal. Oh nein, ganz und gar nicht. Eigentlich war es ein Geheimnis. Ein Geheimnis, in das nur ganz wenige eingeweiht waren. Ein Geheimnis, in das nur ganz wenige eingeweiht sein durften. Nur diejenigen, die ihr am nächsten standen und denen sie vertrauen konnte. Und dieses Geheimnis war schuld daran, dass es ihr so schwer fiel Anschluss zu finden. Dieses Geheimnis war die Ursache, warum sie so anders war. Warum sie eben nicht normal war. Das Geheimnis hieß der ‚Schwarze Löwe‘. Ein göttlicher Dämon, auch Herrscher der Finsternis genannt, der aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen ausgerechnet sie als seine Dämonenbesitzerin auserwählt hatte und ihr somit einen Teil seiner Kräfte gegeben hatte, um sich wie ein Parasit in ihren Körper einnisten zu können. Laura schnaubte spöttisch. Mancher würde das vielleicht sogar als große Ehre sehen aber Tatsache war, dass ihr der Schwarze Löwe fast zwölf Jahre lang nun schon mehr Ärger und Schmerz bereitet als dass er sich irgendwie als nützlich erwiesen hatte. Und dabei war diese ganze Geheimniskrämerei noch das geringste Übel. Sie ging in das Bad nebenan, welches sie ganz für sich alleine hatte, und stieg unter die Dusche. Das warme Wasser, das auf sie herabprasselte und über in kleinen Perlen an ihrem Körper hinunterlief, tat unglaublich gut. Es war wie als wäre es dazu in der Lage all die Sorgen wegzuwaschen, all die unliebsamen Gedanken der letzten Minuten. Es befreite ihren Körper von ihrem Schweiß des Albtraums, als würde es sie nicht nur von außen sondern auch in ihrem Inneren reinigen können. Entsprechend verbrachte Laura viel zu viel Zeit im Bad, und es kostete sie viel Überwindung, in die kalte Außenwelt zurückzukehren und ihre Schuluniform anzuziehen. Kritisch betrachtete sie sich in dem Silber umrahmten Spiegel in ihrem Zimmer. Sie sah eigentlich so aus wie immer. Ihre schokoladenbraunen Augen wirkten im Vergleich zu ihrem blassen Gesicht besonders dunkel. Beobachter würden sie mit der geraden, schmalen Nase, den geschwungenen Lippen und feinen Proportionen ihres Gesichts vermutlich am ehesten als ‚süß‘ beschreiben. Und sogar Laura selbst musste sich eingestehen, dass sie mit ihrem honigblonden bis rötlichen Haar, welches wie ein langer Schleier bis zu ihrer Taille fiel, eigentlich ganz hübsch aussah. Laura strich über die bordeauxrot glänzenden Nähte ihrer weißen, langärmligen Bluse, die für ihren zierlichen Körperbau wie maßgeschneidert schien. Schön figurbetont und weder zu lang, noch zu kurz. Auch der etwas kürzere, schwarze Faltenrock, unter dem sie eine schwarze, warmhaltende Strumpfhose trug, hatte genau ihre Größe. Nur die dunkelbraunen Lederschuhe drückten etwas. Laura knöpfte sich die silbernen Knöpfe ihrer Bluse zu, auf denen das Schulwappen abgebildet war, ein Zauberstab und ein Schwert die sich überkreuzten. Als nächstes zog sie sich das schwarze Samtjackett über, das zwar sehr schön, mit den wieder bordeauxroten Nähten war, aber leider auch sehr dünn und weshalb es nicht wirklich warmhielt. Deshalb war zum Überziehen noch ein brauner Mantel mitgeliefert worden. Die mal wieder bordeauxrote Schleife würde sich Laura am liebsten erst später umbinden, aber dann würde sie sie unter Garantie hier vergessen. Also beugte sie sich ihrem Schicksal. Nachdem sie nun endlich fertig war, ging sie in den Speisesaal. Inzwischen war es schon Zeit zum Mittagessen. Wie sollte das nur in der Coeur-Academy werden? Hoffentlich würde ihre Zimmergenossin sie noch rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn wecken.  „Guten Morgen, mein Schatz. Oh, ist das die neue Schuluniform? Sie steht dir wundervoll, du siehst bezaubernd aus!“, begrüßte Lauras Mutter sie und musterte ihre Tochter begeistert. „Nur die Schleife… die sitzt nicht ganz richtig. Komm her meine Liebe, ich binde sie dir.“ Lauras Mutter Yuki war eine typische Bewohnerin der Yami Region. Sie sah für ihr Alter recht jung aus und hatte schwarze Haare und dunkle Augen, die einen starken Kontrast zu der Blässe ihrer Haut bildete, welche in Yami als fein und elegant galt. Und genau das war ihre Rolle, fein und elegant zu sein. Das Vorzeigebild einer guten Ehefrau, bei der alles perfekt aussah. „Ohayô, O-Kaa-sama.“, grüßte Laura zurück und leistete zwar wenig begeistert aber ohne Widerworte der Aufforderung ihrer Mutter folge und ließ sich von ihr erneut die Schleife binden. Es war ja nicht so, dass Laura selbst mindestens sechs Versuche damit verbracht hatte dafür zu sorgen, dass die Schleife möglichst hübsch fiel und die Enden auf gleicher Höhe waren. Aber scheinbar war es doch nicht gut genug gewesen. Mal wieder… „Guten Morgen ist wohl unpassend. Eher guten Tag. Du weißt schon, dass Du morgen um punkt sechs Uhr wach sein musst?“, fragte Lauras Vater, aber man erkannte sofort, dass es eine rhetorische Frage war. „Ja, O-Too-sama.“, antwortete Laura trotzdem. Lauras Vater war das Oberhaupt des Siebenerrats der Yami-Region und damit so etwas wie deren König. Er war groß, hatte dunkelblonde Haare und hatte ein sehr konservatives Weltbild. Das einzige was ihn interessierte, war die Politik und er machte sich ständig Sorgen darum, was wohl aus Yami wird, wenn Laura seinen Platz später mal einnehmen würde, die von Politik nicht den leisesten Schimmer hatte. Eigentlich hätte ja ihr zwölf Jahre älterer Bruder Luciano den Platz einnehmen sollen, doch an jenem schicksalhaften Tag vor elfeinhalb Jahren hatte er das Reich der Lebenden verlassen müssen... Genauso wie Lucia, ihre ältere Zwillingsschwester... Und an allem war dieses verfluchte Monster schuld, das angeblich die Welt von allen schlimmen Sündern befreit. Einfacher Unsinn, um die kleinen Kinder zu trösten, dachte Laura wütend. „Schatz, hast du keinen Hunger? Spaghetti magst du doch so gerne.“ Ihre Mutter musterte sie besorgt. Sie war immer sehr lieb und rücksichtsvoll mit ihr umgegangen. Besonders wegen dieser Krankheit, an der Laura eigentlich in jungen Jahren bereits hätte sterben müssen. Doch seit dem Tod von Lauras älteren Geschwistern litt sie unter Depressionen, welche sie aber vor Laura und dem Rest der Welt mit ihrer fröhlichen, perfekten Fassade zu verbergen versuchte. Doch ihrer Tochter konnte sie nur schwer etwas vormachen. Und der Tod der beiden war bald zwölf Jahre her... Laura ließ ihre Gabel sinken. „Deswegen...“, murmelte sie. „Was hast du gesagt, Schatz?“, fragte ihre Mutter mit dem gespielt fröhlichen Ton, welchen Laura längst durchschaut hatte. „Nichts, O-Kaa-sama.“, antwortete Laura. Sie wollte ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten. „Entweder Du sagst was, oder Du bleibst still. Stell Dir vor, jemand aus dem Siebenerrat hätte Dich eben gefragt. Denke an den guten Ruf der Familie.“, predigte ihr Vater ihr. Laura seufzte. „Ja, O-Too-sama.” Genau. Das Ansehen der Familie war das zweitwichtigste für ihn. „Und jetzt setze Dich gerade hin und esse Deine Nudeln. In einer viertel Stunde musst Du los.“, drängte er sie. Laura gehorchte. Was blieb ihr auch anderes übrig? Egal, in einer viertel Stunde war sie die beiden endlich los. Nicht, dass sie ihre Eltern nicht mochte, aber hielt all das hier nicht mehr aus. All diese erdrückenden Erwartungen und eine Form der Einsamkeit, die selbst dann noch vorhanden war, wenn man sich eigentlich bereits in der Gesellschaft von Menschen befand. Sie wollte weg von hier. An einen neuen Ort, neue Menschen kennenlernen. Sie brauchte Abstand von alldem. Und diese neue Schule würde ihr das endlich ermöglichen. Laura schlang ihre Spaghetti regelrecht runter, unter den Protesten ihres Vaters, sie solle doch an ihre Tischmanieren denken. Nachdem sie ihren Koffer mit allen möglichen Habseligkeiten, Kleidungen und sonstigem Zeug zum Überleben geholt hatte, fuhr die ‚kleine Sonntagslimousine‘ vor. „Tschüss, O-Kaa-sama. Tschüss, O-Too-sama.“, verabschiedete sich Laura und umarmte ihre Eltern kurz. „Pass auf dich auf, Schatz.“, sagte ihre Mutter besorgt und ihr Vater fügte hinzu: „Also dann, lern schön, sei fleißig, denke an deine Manieren und mach uns stolz. Du weißt: Du übernimmst die Position Deines Bruders und repräsentierst Deine Familie.“ Bla, bla, bla, ... Laura kannte die ganze Moralpredigt ihres Vaters schon nahezu auswendig. Aber sie würde sich trotzdem bemühen. Nicht für den Ruf ihrer Familie, sondern für ihre Geschwister. Schnell stieg sie in die Limousine ein, wo Rebecca bereits auf sie wartete. Ihr Kindermädchen begleitete Laura seit sie denken konnte schon überall hin und war mehr eine große Schwester, mit der sie so gut wie über alles reden konnte. Daher war das Wissen nun ohne sie auskommen zu müssen umso schmerzhafter. Und ja, bei dieser Erkenntnis kroch ein unangenehm flaues Gefühl der Angst in Laura empor. Würde sie das wirklich alleine schaffen? Oder würde sie sogar in der neuen Schule wieder nur in der Rolle der Außenseiterin landen? Von allen gemieden, niemand der sich mit ihr abgeben wollte, weil sie eine so anstrengende, emotionale Person sein konnte. Vielleicht war ja sogar ihre Zimmergenossin genervt von ihr! „Ist alles okay?“, erkundigte sich Rebecca besorgt. Scheinbar war ihr die Teufelsspirale in Lauras Kopf nicht entgangen. „Ja, ja.“, erwiderte Laura bloß, wissend, dass Rebecca wusste, dass eben nicht alles okay war. Aber wann war bei ihr jemals ‚alles okay‘ gewesen? Schließlich seufzte Laura und startete doch ein Gespräch. „Ich habe wieder von Lucia und Luciano geträumt…“ Rebecca hob eine ihrer fein gezupften Augenbrauen. Da Laura jetzt wegging, hatte sie nun eine Art Pause und nutzte diese Gelegenheit, um ihre Familie in der Monde-Region zu besuchen. Deshalb hatte auch sie ihre Koffer im Kofferraum gelagert. „Schon wieder? Laura, so geht das nicht weiter. Die beiden sind seit fast zwölf Jahren tot. Ja, jeder braucht seine Zeit zum Trauern. Aber wenn es dich nach wie vor so sehr zu belasten scheint, dass du sogar Albträume bekommst… Meinst du nicht, dass es dann vielleicht doch besser wäre, sich Hilfe zu holen, um das aktiv zu verarbeiten?“, meinte sie besorgt. „Lucia war meine Zwillingsschwester, Rebecca. Überall wird Zwillingen doch eine Art magische Verbundenheit nachgesagt. Mit ihr hat der Schwarze Löwe auch einen Teil von mir getötet.“ Rebecca seufzte. „Laura, du bist du. Niemand kann dir das wegnehmen und du bist nicht weniger du selbst, weil die Person, mit der du gleichzeitig auf die Welt gekommen bist, nun nicht mehr an deiner Seite sein kann. Ich will nicht sagen, dass du aufhören sollst deine Schwester oder deinen großen Bruder zu vermissen. Aber ich habe den Eindruck, dass du viel zu sehr versuchst das Leben von drei Personen zu leben anstatt das von dem Menschen, der für dich am wichtigsten sein sollte. Es ist dein Leben. Nicht das von Lucia und genauso wenig das von Luciano.“ Seufzend wandte sich Laura ab und nickte bloß. Eine Zustimmung, die mehr der Höflichkeit als wahrer Überzeugung diente. Da fiel ihr wieder die Sache mit den zwölf Jahren ein, welche sie schon beim Mittagessen bemerkt hatte. “Ich hatte übrigens auch von ihm geträumt.“ „Wem? Meinst du vielleicht diesen süßen Jungen, der immer auf dich aufgepasst hatte? Wie hieß der noch mal? Ben oder so.“ Rebecca grinste und die Verlegenheit jagte die Hitze in Lauras Wangen. „Fast, er heißt Benni. Und ich hab nicht von ihm geträumt!“, erwiderte sie mit hochrotem Gesicht, wurde bei dem Gedanken an Benni aber auch etwas traurig. Rebecca lachte. „Da scheint wohl jemand verliebt zu sein. Was ist eigentlich mit dem? Ich habe seit einem Jahr nichts mehr von ihm gehört. Lebt der überhaupt noch?“ Laura lächelte beschämt. „Glaub mir, so leicht lässt der sich nicht umbringen. Aber ich habe seit seinem Schulwechsel auch nichts mehr mitbekommen…“ Benni war ein Jahr und ungefähr vier Monate älter als Laura und war daher auch ein Jahr früher als sie von der Mittelschule abgegangen. Nach ihrem Abschluss gingen die meisten Schüler auf eine Oberschule oder in Lauras Fall auf die Coeur-Academy. Nur wenige aus den höheren Schulzweigen machten eine Ausbildung oder ähnliches. Was Benni nach seinem Abschluss gemacht hatte, wusste Laura nicht so genau. Leider war wenige Monate davor vom einen auf den anderen Tag der Kontakt abgebrochen… Rebecca seufzte: „Echt schade, dass ihr euch gestritten habt. Was war da eigentlich passiert?“ „Keine Ahnung.“, meinte Laura. Sie hatte schon öfter versucht sich an den Streit zu erinnern, hatte aber alles was damit zusammenhing komplett vergessen, wie als hätte jemand auf die Löschtaste gedrückt. Trauriger Weise. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie diesen Streit angefangen hatte und das machte es umso schlimmer. Wie würde sie Benni je wieder unter die Augen treten können? Falls sie ihn überhaupt jemals wieder zu Gesicht bekäme… „Aber, wenn du nicht von Benni geträumt hast, wen meinst du dann?“, kam Rebecca zurück zum eigentlichen Thema. Laura schluckte einen Kloß im Hals herunter. Ein schmerzhaft schweres Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus. „Ich meinte den Schwarzen Löwen...“, antwortete sie schließlich. „Ach so...“ Mehr sagte Rebecca nicht dazu. Sie wusste ganz genau, dass es sich hierbei um einen wunden, nein, blutenden Punkt handelte. Laura fragte sich, warum sie überhaupt dieses Gespräch gestartet hatte. Schließlich wusste sie, dass dieses Thema immer in bedrücktem Schweigen endete. Aber irgendwie hatte sie doch das Bedürfnis, sich all das von der Seele zu reden. Sich jemandem anzuvertrauen, vor dem sie keine Geheimnisse haben musste. Der einfach nur zuhören und für sie da sein würde. Rebecca war eine wunderbare Gesprächspartnerin, keine Frage. Aber trotzdem hatte Laura nicht das Gefühl, wirklich verstanden zu werden. Aber wer würde schon verstehen wie es war, mit der gesamten Existenz an einen Dämon gebunden zu sein und das vor aller Welt geheim halten zu müssen? Wer könnte nachvollziehen wie fehl am Platz und anders sich Laura fühlte, als habe man sie auf dem falschen Planeten abgesetzt? Die Limousine hielt an und Laura und Rebecca stiegen aus. Der Chauffeur reichte den beiden jeweils ihr Gepäck und verabschiedete sich mit einer japanischen Verneigung. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, dachte Laura, während sie dem davonfahrenden Auto hinterherschaute, nun doch etwas wehmütig. Die Abenteuerlust war inzwischen gänzlich verflogen und machte der Angst vor dem Unbekannten die Bühne frei. Glücklicherweise waren die Hallen der beiden Flüge nebeneinander, sodass Laura noch nicht ganz alleine war und Rebecca ihr noch etwas versuchen konnte gut zuzureden. Aber leider hielt das Glück nicht lange an, denn Rebeccas Flug kam eine Stunde früher, als Lauras. „Viel Glück und Spaß. Und keine Sorge, alles wird gut. Glaub mir, du bist viel stärker als du dir jemals zutrauen würdest. Und ich bin der festen Überzeugung, dass du das früher oder später auch noch herausfinden wirst.“ Bedrückt lachte Laura auf. „So wie ich mich kenne klingt das eher nach ‚später‘.“ Auch Rebecca musste darauf hin schmunzeln und zog sie zum Abschied in eine Umarmung. „Du schaffst das.“ Ein schmerzhaftes Stechen quälte sich durch Lauras Herz, als sie von ihrem Kindermädchen ein letztes Mal fest an sich gedrückt wurde. Zitternd atmete sie aus, erwiderte die Umarmung und krallte ihre Finger in Rebeccas Pulli. „Danke für alles.“ „Hey, das ist kein Abschied für die Ewigkeit. Aber trotzdem: Immer gerne.“ Die nächste Stunde war für Laura sehr unangenehm und sie versuchte ihre Umgebung so gut wie möglich mit Musik und Mangas auszublenden. Sie fühlte sich beobachtete. Keine Ahnung ob das der Wahrheit entsprach oder nicht, doch irgendwie hatte sie immer den Eindruck angestarrt zu werden. Von irgendetwas oder jemandem. Waren es die Menschen im Flughafen, die eventuell die Uniform der Coeur-Academy an diesem zierlichen Mädchen erkannten? Waren es Agenten, die vielleicht aus Sicherheitsgründen die Prinzessin der Yami-Region beobachteten? Spione die ihr böses wollten? Oder war es irgendetwas Übernatürliches, allgegenwärtig, was sie bei jedem Schritt, bei jedem Atemzug begleitete, seit bald zwölf Jahren schon? Endlich war das Flugzeug startbereit und immerhin hatte Laura in der ersten Klasse sogar einen ganzen Sitzbereich für sich, sodass sie gespannt die Landschaft beobachten konnte, während das Flugzeug sich in die Lüfte erhob. Kapitel 2: Ein neuer Anfang ---------------------------   Ein neuer Anfang       Endlich war der Flug vorbei. Nun befand sich Laura in der Cor-Region, die fast zweitausend Kilometer nördlich von der Yami-Region lag. Mit dem Bus fuhr sie aus der Stadt heraus, hinein in eine wunderschöne Schneelandschaft. Bei ihr befanden sich weitere Schüler, die auch auf die Coeur-Academy zu gehen schienen und aus den Weihnachtsferien kamen. In Damon begann das neue Schuljahr immer zu Neujahr nach den Ferien und endete vor Weihnachten. Das war dann immer ein Spaß mit den Zeugnissen… Der Bus hielt an und die Schüler stiegen aus. Lauras Glück war, dass sie aus allen möglichen Regionen kamen und daher niemand sie kannte. Ich muss diese Löwensache hier unbedingt geheim halten, dann kann ich für die letzten vier Monate meines Lebens vielleicht doch noch eine schöne Zeit haben, nahm Laura sich gedanklich vor. Gemeinsam mit den anderen ging sie durch ein sehr schwer wirkendes Holztor, das mit verschnörkelten Symbolen verziert war. An der Spitze des Torbogens prangte in leuchtendem Silber das Zeichen der Coeur-Academy, der Zauberstab und das Schwert, die sich überkreuzten. Der Campus dahinter war riesig! Der Weg den sie entlanggingen war mit weißen Steinen gepflastert und unterschied sich somit kaum vom Schnee, der die weitlaufende Wiese bedeckte. Alle paar Meter kam sie an hübschen weißen Laternen vorbei, deren Spitze sich vor Schnee kaum retten konnte. Das muss wohl der große Platz sein, überlegte Laura. Der Name passte immerhin. In der Mitte des runden Platzes war ein Springbrunnen dessen Wasser allerdings genauso gefroren war wie das in dem Brunnen, der im Garten ihres Zuhauses stand. Das große Gebäude, auf das alle zusteuerten war wie der Rest des Campus im Barock Stil gehalten. In der Mitte ragte ein riesiger Turm empor und die Seitenflügel schienen die Schüler wie ein Mensch mit offenen Armen zu empfangen. Außerdem hatte Laura noch nie eine Schule mit so schönen Fenstern gesehen. Es waren hohe Bogenfenster, auch aus dem Barockzeitalter. Irgendwie fühlte sich Laura fast wie eine Prinzessin, die in ihr Schloss ging. Was ziemlich ironisch war, wenn man bedachte, dass sie ja tatsächlich eine Prinzessin war, die allerdings nicht in einem prunkvollen Schluss, sondern ‚nur‘ in einer Villa lebte. Und genau da trat sie durch die dunkle Holztür. Sie hatte das Gefühl, durch ein Zeitloch zu gehen. Von dem romantischen Barockgarten und Schloss zum prunkvollen Goldpalast. Die Wände, die Decke und sogar der Boden, alles hatte eine goldene Farbe. Was davon ist wohl echt?, überlegte Laura. Auf dem Boden war ein schwarzer Teppich mit glänzenden, (natürlich) bordeauxroten Stickereien und an den Wänden hingen auch schwarze, verschnörkelte Kerzenhalter mit dunkelroten flackernden Kerzen. Laura spähte in die Gänge links und rechts, die die Kerzenhalter und der schwarze Teppich entlanggingen. Hin und wieder kam eine dunkle Holztür oder eine Vitrine, in der garantiert Urkunden, Meisterwerke der besten Schüler, Trophäen und andere wertvolle Schätze waren. Wie ein Schloss halt. Wieder ging sie durch eine große Holztür und kam in den riesigen Turm, den man von außen nicht hatte übersehen können. Dieser Ort war unter Garantie nichts für Leute mit Höhenangst. Eine Treppe wandte sich an der Wand entlang, den gesamten Turm hinauf. Alle circa zehn Stufen kam eine Plattform mit einem teuer aussehenden Holztisch, der von neun dazu passenden Stühlen umrundet wurde. Warum ist eigentlich immer alles aus Holz? Müssen die sich um den Brandschutz hier keine Gedanken machen? Diese Frage beschäftigte Laura, während sie die Treppe zu den Plattformen hinaufstieg. Sie kam an einer Reihe von Mosaikbildern vorbei, die irgendeine Geschichte erzählten und bis zur allerletzten Plattform reichte, welche aber nicht mit dieser Treppe erreicht werden konnte. Die zweite Treppe war gegenüber von der, die Laura genommen hatte. Doch diese schien niemand zu benutzen und Laura war lieber sicherheitshalber den anderen Schülern hinterhergegangen, als am Ende zwar nicht als die ‚kleine, dumme Prinzessin‘, aber dafür als ‚verpeilte Erstklässlerin, die die falsche Treppe benutzt hatte‘ bekannt zu werden. Das würde O-Too-sama garantiert gefallen. Laura grinste und eine süße Verlockung überkam sie, doch noch mal runter zu gehen und die andere Treppe zu nehmen. Aber nein, auf so viele Stufen hatte sie keine Lust. Laura setzte sich an einen komplett leeren Tisch und schaute nach unten. Sie hatte sich zwar keinen so hohen Platz ausgesucht, war aber trotzdem dankbar, keine Höhenangst zu haben. Es war jetzt schon ein eigenartiges Gefühl und Laura beschloss, der höchsten Plattform niemals zu nahe kommen zu wollen. „Entschuldigung? Ist der Platz neben dir noch frei?“ Erschrocken blickte Laura auf. Die Frage kam von einem hübschen Mädchen mit hellbraunen, schulterlangen Haaren, welche je nach Lichteinfall einen rötlichen, blonden oder braunen Schein hatten. Die Stirn wurde von einem Pony bedeckt und auf ihrer Nase waren trotz der Jahreszeit leichte Sommersprossen zu sehen, die sie frech wirken ließen. Ihre braun-grünen Augen hatten einen freundlichen Blick, bei dem sich Laura sofort wohl fühlte, ohne überhaupt zu wissen wer sie war. „Klar, setz dich ruhig.“, antwortete Laura und das Mädchen ließ sich auf den Stuhl nieder. „Uff, danke, du bist echt nett. Vorhin war ich etwas weiter oben und eine Zickengruppe hat mich sofort verscheucht. Nur weil die älter sind und glauben sich etwas darauf einbilden zu können…“, seufzte sie und stellte sich kurz darauf vor: „Ich heiße übrigens Ariane Leger und du?“ „Lenz, Laura.“, antwortete Laura. Ariane dachte nach. „Lenz… Irgendwo hab ich das schon mal gehört. Sag mal, aus welcher Region kommst du?“, fragte sie Laura, die antwortete: „Yami-Region. Wieso?“ Zufrieden schnipste Ariane mit dem Finger. „Wusst’ ich’s doch! Du bist aus dieser Königs- oder Regentenfamilie in der Yami-Region. Dein Vater kam mal in einem Powi-Test vor. Wobei… Wie heißt er denn wirklich? Leon Lenz oder Lukas Lenz?“ „Leon Lenz. Lukas Lenz ist mein Cousin. Wieso?“, fragte Laura, verwirrt dass so etwas in anderen Regionen scheinbar sogar in einer Prüfung vorkommen konnte. Plötzlich war Ariane aufgesprungen. „Und meine Lehrerin hatte mir bei Leon Lenz einen Punkt abgezogen und behauptet er hieße Lukas! Na der werd ich’s zeigen, neue Schule hin oder her. Mit diesem Punkt hätte ich eine eins bekommen und damit eine zwei im Zeugnis!“, regte sie sich auf und Laura unterdrückte ein Kichern. Ariane war ihr von Anfang an sympathisch. „Was ist daran so lustig? Man darf doch wohl für seine Rechte kämpfen?!“, schmollte sie und fügte hinzu: „Du weißt ja nicht, wie das mit den Lehrern ist. Garantiert bist du Musterschülerin und hattest Privatunterricht bei einem voll süßen Typ, wie es in allen Romanen der Fall ist.“ „Quatsch. Ich bin auf ein ganz normales Privat-Gymnasium gegangen und mein Durchschnitt liegt bei ungefähr 1,8.“, sagte Laura kopfschüttelnd Ariane warf ihr einen kritischen Blick zu. „Privatschule. 1,8. Könntest du bitte noch meinen letzten Punkt bestätigen?“ „Ähm…“ Nun war Laura doch etwas verunsichert. Denn tatsächlich hatte ihr Kindheitsfreund Benni sie damals in die Basisfertigkeiten der Kampfkunst eingewiesen. Und Benni war tatsächlich jemand, den man als ‚süßer Typ‘ bezeichnen würde… „Und? Ich warte.“, beharrte Ariane auf eine Antwort. „Aber das tut sie doch gerade sowas von. Vermutlich zieht sie ihren ‚süßen Typen‘ gerade sogar gedanklich aus.“, meldete sich eine amüsiert klingende Stimme zu Wort. Bei dem plötzlichen Kopfkino schoss das Blut in Lauras Wangen, woraufhin die Verursacherin dessen zu lachen begann. „Ich wusste es doch!“ Ariane und Laura hatten gar nicht mitbekommen, dass sich zwei weitere Mädchen an den Tisch gesetzt hatten und das ganze Gespräch mitverfolgten. Das Mädchen, das sich eben zu Wort gemeldet hatte, hatte schwarze lockige Haare, die sie zu zwei Zöpfchen zusammengebunden hatte. Ihre Augen hatten einen wunderschönen blau-grün Ton, der an das rauschende Meer an den Küsten Damons erinnerte. „Ach Lissi, bring die arme doch nicht so in Verlegenheit.“, seufzte das andere Mädchen. Sie sah der ersten zum Verwechseln ähnlich, außer, dass sie sich an die Kleiderordnung hielt und die schwarzen Haare in hübschen Locken über ihre Schultern fielen. Sie sah aus wie Schneewittchen, nur dass ihre Lippen nicht rot wie Blut waren, sondern eher das sanfte Rosa einer Rose besaßen. Laura war überrascht, wie verschieden die beiden Mädchen wirkten, obwohl sie eigentlich ein komplett identisches Aussehen hatten. „Seid ihr Zwillinge?“, startete Ariane eine Unterhaltung. „Das müsste man eigentlich sehen können, oder?“, erwiderte das Mädchen mit den Zöpfen sarkastisch. Ihre Schwester lächelte. „Ich bin Susanne und das ist Lissi. Freut mich, euch kennenzulernen.“ „Die Freude ist ganz meinerseits, ich bin Ariane.“ „Laura.“, nannte Laura nur knapp ihren Namen und betrachtete stattdessen weiterhin eindringlich die beiden Mädchen. Genauso wie Ariane hatten sie irgendetwas, was Laura faszinierte. Besonders diese Lissi. Während Susanne ruhig und unglaublich liebevoll wirkte, schien ihre Zwillingsschwester… unberechenbar. An Susanne konnte man sofort erkennen, dass sie unglaublich hilfsbereit war und es liebte, für Menschen da zu sein und ihnen eine Freude zu bereiten. Lissi dagegen… einerseits wirkte sie mit den Zöpfchen wie ein Kind. Ein ungestümes und dickköpfiges Kind. Andererseits konnte man an der Art wie sie sich schminkte und wie sie ihre Schuluniform trug ziemlich deutlich erkennen, dass sie genau wusste, wie sie ihre Schönheit einsetzen konnte, um das zu bekommen, was sie wollte. … Es war verwirrend. An den Tisch setzten sich noch drei weitere Mädchen, doch zum Vorstellen blieb keine Zeit, da die Direktorin anfing zu reden. „Herzlich willkommen in der Coeur-Academy. Ich hoffe ihr hattet erholsame Ferien und könnt nun mit neuer Energie in das diesjährige Schuljahr starten. Besonders möchte ich die neue erste Stufe hier willkommen heißen. Ich bin Kyurina Bôss und gemeinsam mit meinem Mann Arion, der zurzeit aufgrund geschäftlicher Tätigkeiten nicht anwesend sein kann, leite ich die Coeur-Academy.“ Bla, bla, bla. Laura hasste Reden. Die waren immer so langweilig. Deshalb nutzte sie die Gelegenheit, um die anderen drei Mädchen genauer unter die Lupe zu nehmen. Eine trug eine Brille, hatte eine recht dunkle Haut, dunkelbraune gelockte Haare und blaue Augen. Von allen hatte sie die erwachsenste Ausstrahlung und ihre langen, schwarzen Wimpern ließen sie sehr weiblich wirken. Außerdem hatte sie irgendwie was Temperamentvolles an sich, doch eben legte sie, nicht sehr temperamentvoll und wohl genauso gelangweilt wie Laura ihren Kopf auf den Tisch als wolle sie schlafen. Das nächste Mädchen hatte, genauso wie Ariane, hellbraune Haare, diese waren allerdings ziemlich kurz geschnitten als hätte ihre Frisur eher pragmatische statt modische Gründe. Ihre Augen waren blau wie die Nacht und sie hatte einen sehr trainierten und doch auch weiblichen Körperbau. Auch ihre Haut hatte einen ziemlich dunklen Farbton, was einen sehr interessanten Kontrast zu den helleren Haaren bildete. Die Hautfarbe erinnerte Laura an das Wüstenvolk in Dessert. … Und irgendwie kam sie ihr sogar bekannt vor, obwohl Laura eigentlich niemanden aus Dessert kannte. Das dritte Mädchen hatte blonde Haare mit einem Pony, welches nur knapp über ihren himmelsblauen Augen endete. Sie war extrem dünn, sogar noch dünner als Laura. Was eigentlich sehr besorgniserregend war, denn sogar Laura war bereits im untergewichtigen Bereich. Trotzdem hatte das Mädchen extrem süße Gesichtszüge, wirkte allerdings ziemlich schüchtern, so wie sie jeglichen Augenkontakt zu vermeiden versuchte, und erschien mit ihrer blassen Haut sehr zerbrechlich. Dennoch kam Laura nicht drum herum zu erkennen, dass die Mädchen, die hier bei ihr am Tisch saßen, alle auf ihre Art und Weise wunderschön waren. Sie konnte nicht sagen, was genau es war, das ihr diesen Eindruck vermittelte. Aber die Gruppe stach aus irgendeinem Grund aus der Menge heraus. Man könnte glatt behaupten, dass sie eine regelrecht mächtige Aura um sich zu haben schienen und doch war es nicht greifbar, wieso man das dachte, wenn man diese Mädchen sah. Als Laura wieder aufmerksam wurde, stellte die Direktorin die Schülervertretung von letztem Jahr vor. „Es gibt immer zwei Schulsprecher und Vertrauensschüler. Darunter immer jeweils ein Junge und ein Mädchen und in jedem Amt und Geschlecht ist jeweils einer davon Magier und der andere Kampfkünstler. Jedes Jahr wird die Schülervertretung über Empfehlungen von der des Vorjahres und den Direktoren ausgewählt. Dazu müssen einige Regeln beachtet werden, wie zum Beispiel, dass nur Schüler aus dem zweiten Jahrgang in die Schülervertretung können, während die vorherige immer noch in beratenden Tätigkeiten unterstützt. Doch jetzt stellt sich erstmal die ehemalige Schülervertretung vor, die ihre Aufgaben letztes Jahr mit Bravur erfüllt hat.“ Die Schüler applaudierten und vier Jugendliche, alle zwei Jahre älter als Laura, kamen die andere Treppe hoch auf die Plattform. War also doch gut, dass Laura sich nicht dazu überwunden hatte, diese Treppe zu erkunden. Die vier Schüler stellten sich nebeneinander auf. Wie angekündigt zwei Kampfkünstler und zwei Magier, immer jeweils ein Junge und ein Mädchen. Der größte, ein braunhaariger Junge mit einer Brille, trat vor und begann zu sprechen. Er stellte sich als Maximilian, den ehemaligen Schulsprecher vor und erzählte etwas über die Schülervertretung. Laura hörte auch hier wieder nur mit halbem Ohr zu und wurde erst wieder etwas aufmerksamer, als die neue Schülervertretung von ihren Vorgängern offenbart wurde. Vertrauensschüler waren eine gewisse Nadja und János. Die Schulsprecherin hieß Sarah und der neue Schulsprecher… Eiskalter Engel? Verwirrt schaute Laura auf, aber sie hatte sich unter Garantie nicht verhört. Der ehemalige Schulsprecher hatte tatsächlich ‚eiskalter Engel‘ gesagt und als wäre das nicht genug, begann der ganze Turm auf einmal begeistert zu jubeln. Wer zum Henker heißt bitte schön eiskalter Engel?! Neugierig betrachtete Laura den Jungen, der zu dem Rest der Schülervertretung auf die Plattform trat. Sie bemerkte gar nicht, dass sie aufgesprungen war und wie gebannt auf diesen Jungen starrte. Was hatte das zu bedeuten?! Laura wusste zwar, dass Benni die Schule gewechselt hatte, aber nicht, dass er auf die Coeur-Academy gegangen war… Auch wenn es eigentlich nicht verwunderlich war, dass er auf eine Eliteschule für antike Begabung ging. Schließlich war er ein sehr begnadeter Kampfkünstler. Benni begann mit ruhiger und trotzdem fester Stimme zu sprechen. „Hallo. Mein Name ist Benedict Ryū no chi und ich bin in der 2aK. Ich hoffe, dass ich meinen Pflichten als Schulsprecher gerecht werde.“ Die Schüler und besonders die Mädchen jubelten noch lauter. Benni ist aber ganz schön beliebt, dachte Laura und war aus irgendeinem Grund nicht sonderlich erfreut über diese Erkenntnis. Als sich sein Blick plötzlich genau auf sie richtete. Der Schreck presste Laura die Luft aus den Lungen, während sie nicht anders konnte als seinen Blick zu erwidern. Er sah nicht wirklich freundlich aus. Na ja, auch nicht böse. Eher gleichgültig, und Laura hatte das Gefühl, durch sein schwarzes Auge in einen tiefen Abgrund zu blicken. Ja, nur ein Auge. Das andere, sein rechtes, hatte Benni so gut wie immer hinter seinen hellblonden, nahezu weißen Haaren verdeckt, da es blutrot war. Das Zeichen eines ‚Dämonengesegneten’. Was das war, wusste Laura selbst nicht genau. Nur, dass er in einer fast so mächtigen Verbindung mit einem Dämon stand wie sie selbst. Schließlich wandte Benni den Blick ab, als er von Maximilian eine Nadel gereicht bekam, die ihn als Schulsprecher auszeichnete. Während alle möglichen Mädchen, darunter insbesondere Lissi, ihm nachschwärmten, ging er mit Maximilian zu dem Rest der Schülervertretung, die weiter oben ihre eigene Plattform hatte. „Hach, der ist sooo süüüß.“, seufzte das Mädchen mit der Brille, als im Turm langsam die Unterhaltungen anfingen. „Und wie! Und was für einen tollen Körper er hat. Groß aber nicht zu groß und durchtrainiert. Den will ich unbedingt mal im Sommer sehen, wenn man nur kurzärmlige Hemden trägt… Ach was nein, am besten gleich oben und von mir aus auch gerne unten ohne.“, kicherte Lissi begeistert und die Mädchen sahen sie schräg an. Susanne seufzte. „Du bist wirklich unmöglich, Lissi. Außerdem hättest du mal auf seine Augen achten sollen. Oder jedenfalls das Auge, das man sehen kann. Pechschwarz und ohne irgendwelche Lichtfunken.“ „Ich weiß!“, quietschte Lissi, „Er ist so sexy, nicht wahr?! Und das mit den Haaren vorm Gesicht lässt ihn noch mystischer wirken, als hätte er irgendein dunkles Geheimnis zu verbergen. Den will ich haben!“ Ariane stützte ihren Kopf mit einer Hand ab. „Vergiss es. Der hat garantiert schon eine.“ „Ne, das glaub ich nicht. Der sieht so aus, als ließe er niemanden an sich ran.“, widersprach Lissi. „Und deshalb denkst du, ausgerechnet du bekommst ihn?“, meldete sich die Kurzhaarige zu Wort, klang aber eher genervt als wirklich interessiert an der Unterhaltung. „Warum nicht?“, meinte Lissi schulterzuckend. „Jetzt reicht’s aber mal!“, regte sich Laura auf. Ihr passte es nicht, dass einige Mädchen schon Pläne schmiedeten, wie sie ihren Sandkastenfreund um den kleinen Finger wickeln könnten. „Ui, ungeahnte Konkurrenz.“, grinste Lissi selbstbewusst. „Vergiss es Süße, bei deiner Oberweite hast du eh keine Chance.“ „Was war das eben eigentlich für ne Aktion?“ fragte Ariane Laura, die daraufhin rot wurde. „Keine Ahnung.“, meinte sie nur und versuchte sich nicht über Lissis Bemerkung aufzuregen. „Gib‘s zu du stehst auch auf ihn.“ Das Mädchen mit der Brille grinste. „Äh…“ Laura bemerkte, wie sie genauso dunkelrot anlief wie das Brillengestell ihrer Gesprächspartnerin. Natürlich hatte sie Benni schon immer sehr gemocht. Aber nur als guten Freund! So Sachen wie Herzklopfen hatte sie bei ihm noch nie gespürt gehabt. Zumindest bis auf heute. … Oder? Könnte da tatsächlich irgendwie mehr gewesen sein? Laura begann an ihren eigenen Erinnerungen zu zweifeln. Schließlich war er bis vor einem Jahr immer an ihrer Seite gewesen, sowas hätte sie dann doch bemerken müssen! Selbstverständlich hatte sie ihn im vergangenen Jahr trotz des mysteriösen Streites total vermisst und sie musste sich eingestehen, sogar sehr häufig deswegen geweint zu haben. Aber so richtig… verliebt? Nein, das war sie noch nie gewesen. Weder in Benni noch in jemand anderes. „Und? Du bist auch verknallt. Volltreffer?“, vermutete die Brillenträgerin. Laura schwieg und wurde zur Antwort wieder rot im Gesicht. Das musste es wohl sein. … Na toll, das war ja klar. Ihre Gefühle waren halt prädestiniert dafür, ihr das Leben schwer zu machen. ‚Streite dich mit deinem Sandkastenfreund wegen etwas, woran du dich nicht einmal mehr erinnern kannst und verliebe dich in ihn, sobald du ihn auch nur kurz wiedersiehst.‘ Genialer Plan! Sie hatte ja noch nicht genug Drama in ihrem Leben!  „Süße, mach dir deswegen doch keine Vorwürfe. Ich kann‘s ja verstehen, dass du meinen zukünftigen Freund anhimmelst.“ Lissi grinste sie herausfordernd an. Von wegen, zukünftiger Freund, dachte Laura, ganz eindeutig eifersüchtig. „Lissi, jetzt reicht es aber wirklich.“, seufzte Susanne. „Hey, darf man nicht schwärmen? Es gibt selten Menschen, die so perfekt sind.“, beschwerte sich Lissi. Ariane grinste. „Also ich finde uns alle auch so gut wie perfekt.“ Laura fiel auf, dass sie tatsächlich alle gesagt hatte. „Unsinn. Es liegt doch auf der Hand, dass Laura nur einen A-Cup trägt. Aber was mich betrifft,“ Lissi warf die Haare zurück und Ariane einen Luftkuss zu „so gebe ich dir völlig Recht, Schätzchen.“ Was für ein Selbstbewusstsein..., dachte Laura und bemühte sich umso mehr, bei Lissis Kommentaren nicht völlig durchzudrehen. Vielleicht war das ja auch nur eine Maskerade und in Wahrheit war Lissi total verunsichert und hatte Minderwertigkeitskomplexe? … Oder sie hatte tatsächlich einfach nur Spaß dabei, andere Leute zu ärgern. Wer weiß das schon. „Na und dann hat Laura halt keine Monsteroberweite. Dafür hat sie tolle lange, rote Haare.“, nahm Ariane Laura in Schutz, die darauf allerdings nicht wirklich zu reagieren wusste. Dafür wurde nun Susanne auf sie aufmerksam. „Ach so, was ich dich noch fragen wollte, Laura… Kennst du den Schulsprecher irgendwie? Du sahst so überrascht aus und außerdem hatte er genau dich angeschaut.“ Susanne schien auch rein gar nichts zu entgehen. Aber in diesem Moment tauchten plötzlich alle möglichen fliegenden Speisewagen auf, die das Essen brachten. Wenn man genauer hinsah, konnte man die kleinen Elfen erkennen, die die Wägen mit Telepathie bewegten. „Wie putzig die sind!“, rief Ariane begeistert und schnappte sich eine Elfe, die gerade vorbei flatterte. „Ariane nicht! Manche Elfen mögen es gar nicht, wenn man sie streichelt und dann…“, wollte Susanne sie warnen, aber zu spät. In der nächsten Sekunde lief das Wasser von einem der Trinkkelche an Ariane runter. Die Mädchen brachen allesamt in schallendes Gelächter aus, sodass einige irritiert zu ihnen rüber schauten. „Komm, ich helfe dir.“, kicherte die mit der Brille und begann Ariane mit Hitzemagie zu trocknen. Laura war für den Zwischenfall sehr dankbar und tat so, als hätte sie einen riesen Hunger, obwohl sie eigentlich immer nur sehr wenig aß, um bloß der Antwort, die sie Susanne noch schuldete zu entkommen. Das restliche Essen verlief ohne weitere Zwischenfälle und sogar Lissi blieb endlich mal ruhig. Danach ging die kleine Gruppe über den großen Platz zum Mädchen-Wohnheim. Auch dieses Gebäude schien aus dem Barock Zeitalter zu kommen, jedenfalls von außen. Innen war es genauso wie im Hauptgebäude. Gold und rot aber dieses Mal mit hellbraunen Türen. Gemeinsam gingen sie die Wendeltreppe nach oben. Jede Stufe hatte eine eigene Etage für sich und die in diesem Jahr hatte die des letzten Abgangsjahres ganz oben abbekommen. „Und wie viele Stufen sind’s?“, fragte das kurzhaarige Mädchen aus Dessert, die sich während des Essens als Anne vorgestellt hatte. „Sechzig. Und wenn man die vor dem Haus auch noch mitzählt fünf und sechzig.“, antwortete Ariane grinsend. „Na toll.“, stöhnte die Brillenträgerin namens Öznur erschöpft. „Stell dich nicht so an. So viele sind’s nun auch wieder nicht.“, redete Anne Öznur ein. „Ich bin Magierin und kein Kampfkünstler wie du.“, widersprach diese. „Wie wäre es, wenn wir erst einmal unsere Zimmer suchen.“, schlug Susanne vor. „Gute Idee!“, meinte Ariane, scheinbar dauerhaft gut gelaunt. Die Mädchen gingen den langen Goldflur entlang und blieben an eine der hellbraunen Holztüren stehen. „Das ist mein Zimmer. Hey Öznur, ich teile es mir mit dir!“, rief Anne und Öznur grinste. „Cool.“ „Hier ist unser Zimmer, Laura.“, sagte Ariane bei der Tür direkt nebenan. „Echt, ihr auch?“, staunte Susanne und zeigte auf ihre Tür gegenüber von den Zimmern von Laura, Ariane, Anne und Öznur. Auf ihr standen in gewundener Goldschrift die Namen der übrigen drei. „Das ist unheimlich. Fast so als hätten die Lehrer gewusst, dass wir uns treffen werden.“, meldete sich zum ersten Mal das blonde Mädchen zu Wort, das sich in der Mensa nur kurz als Janine vorgestellt hatte und deren Existenz ansonsten kaum jemandem so wirklich aufgefallen war. Laura musste zugeben, dass sie Recht hatte, auch wenn sie weitaus unheimlichere Dinge kannte. Da musste man nur mal kurz an den Schwarzen Löwen denken. Wenig berührt von dieser Offenbarung zuckte Anne mit den Schultern. „Also dann, bis morgen.“ „Gute Nacht.“, verabschiedete sich auch Öznur und Lissi rief viel zu laut mit einer Singsang-Stimme in die Runde: „Feuchte Träumchen!“ Schließlich verschwanden alle in ihren Zimmern. „Wooow!“, staunte Ariane und ließ sich sofort auf das Himmelbett mit den bordeauxroten Vorhängen fallen „Ist das schön hier!“ Im Gegensatz zu Ariane hängte Laura ihren Mantel erst einmal an einen der Kleiderhaken neben der Tür. Sie war den ganzen Luxus ja auch schon gewöhnt. „Diese Lissi hat echt ’nen Knall.“, meinte Ariane schließlich, während sie fasziniert die Bettvorhänge betastete. „Und wie.“, gab Laura ihr Recht. „Also?“ „Was also?“ „Ist tatsächlich was zwischen dir und dem Schulsprecher? Du bist mir ohnehin noch eine Antwort schuldig was den ‚süßen Typen‘ betrifft.“, erklärte sie mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen. „Äh… Nun ja…“, stotterte Laura und mit einem Schlag, wie als wäre sie von einem Blitz getroffen worden, fiel ihr wieder ein, was sie die ganze Zeit vergessen hatte. „Oh nein!“ Sie schlug sich mit der Hand auf die Stirn. „Ich Depp!“ „Was ist denn?“, fragte Ariane besorgt. „Ich hab was ganz wichtiges vergessen!“, rief sie frustriert aus. „Oha, das klingt gar nicht gut. Was denn?“ „Es ist…“ Laura stockte. „… Meine… Zahnbürste.“ Zahnbürste?! Ne blödere Ausrede ist dir nicht eingefallen?! Sie wollte Ariane nicht sofort über alles informieren, schließlich kannten sie sich ja eigentlich noch gar nicht. Aber im ernst, eine bessere Geschichte hätte ihr trotzdem in den Sinn kommen können. „Aha… Na morgen haben wir wegen dem Neujahrsball eh noch frei, da kannst du ja in die Stadt gehen und dir eine kaufen. Geld hast du ja wahrscheinlich genug.“, meinte Ariane, sichtlich enttäuscht, dass es nur so was war. Laura nickte bloß, ging raus und holte ihren schwarzen Koffer, um irgendwie diese komische Situation zu überspielen. „Bringst du mir meinen mit? So schwer ist der nicht!“, rief Ariane aus dem Zimmer. Also brachte Laura auch ihren Koffer mit, der tatsächlich fast nichts zu wiegen schien. Mit einem scheinbar notorisch gutgelaunten Dank nahm Ariane ihn an sich und begann, ihre Sachen in den Kleiderschrank auf ihrer Seite des Zimmers einzuräumen. Laura fiel auf, dass Arianes Klamotten im Gegensatz zu ihren eigenen schön bunt waren. Auch Laura räumte daraufhin ihre Kleidung ein. „Du scheinst ja schwarz ganz schön zu mögen.“, behauptete Ariane und Laura nickte. Sie trug etwas, dass leicht in die Richtung Gothic ging und gleichzeitig an die Figuren aus Lauras Mangas erinnerte. Also die schwarz gekleideten Figuren. Ariane schien eher einen Mix aus sportlich, ein bisschen sexy und süß zu tragen. Kurz darauf machten sich die Mädchen auch schon fürs Bett fertig. „Einen Tag hältst du doch mal ohne Zähneputzen aus, oder?“, spottete Ariane. „Äh… ja, klar.“, meinte Laura, die ihre Zahnbürste ja eigentlich dabei hatte. Also kein Zähneputzen heute, dachte Laura. „Dann mal gute Nacht.“, sagte Ariane, kuschelte sich in ihr Bett und schien kurz darauf auch schon eingeschlafen zu sein. Unruhig wälzte sich Laura umher. Viel zu viele Gedanken jagten durch ihren Kopf, die so etwas wie Schlaf unmöglich machten. Was sollte sie nur machen? Morgen hatte Benni immerhin Geburtstag! Dass sie das vergessen konnte… Ärgerlich über sich selbst stand Laura auf und schlich zu dem schönen, verschnörkelten Gitterfenster. Von ihrem Zimmer aus, konnte man über den großen Platz zum Jungenhaus sehen. Es war natürlich wie der Rest der äußerlichen Schule im Barockstil. Ein Hauch der Verzweiflung kam in ihr hoch. Na toll und jetzt?! Wie konnte ich nur so blöd sein und Bennis Geburtstag vergessen?! Das wäre eigentlich die perfekte Gelegenheit sich zu entschuldigen, aber… wie soll ich mich für etwas entschuldigen, woran ich mich noch nicht einmal erinnern kann?! Im Gegensatz zu ihr schien er den Streit wohl nicht vergessen zu haben… Schaudernd erinnerte sich Laura an seinen eiskalten Gesichtsausdruck. Ob er deswegen eiskalter Engel genannt wird? Während ihre Gedanken immer weiter und weiter darum kreisten, wie sie diese verzwickte Situation mit Benni nur lösen könnte, schlief auch Laura irgendwann ein. Kapitel 3: Ein Geschenk und eine Erinnerung -------------------------------------------   Ein Geschenk und eine Erinnerung       Verzweifelt rannte Laura durch die dunklen Gassen in den Wald. Ihre Haare schienen in dem starken Gegenwind regelrecht zu fliegen und unter ihren Füßen raschelte das Laub. Irritiert blieb Laura stehen. War nicht gestern noch Winter? Und wovor lief sie eigentlich weg? Außer Atem drehte sie sich um, um es herauszufinden. Dabei ging ein stechender Schmerz durch ihr linkes Knie. Vier Jungs kamen auf sie zu. Zwei von ihnen lachten schadenfroh, einen schien das alles gar nicht zu interessieren und der vierte und nebenbei der jüngste der Gruppe, sah eher verunsichert aus. Laura kamen die Typen von irgendwoher bekannt vor, aber von wo? „Na, hat das Fangspiel endlich ein Ende?“, fragte der vorderste der vier sie. Er hatte orange gefärbtes Haar und Augen in dem gleichen, ungewöhnlichen Farbton, die mordlustig funkelten. „Lasst mich in Ruhe!“, schrie Laura, obwohl sie noch nicht einmal wusste, was die Kerle von ihr wollten. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es nichts Gutes war. Trotz ihrer Warnung kamen die Jungs immer näher auf sie zu. Ängstlich wich Laura einen Schritt zurück. Da tauchte ein weiterer Junge zwischen den Bäumen auf. „Hast du nicht gehört was sie gesagt hat?“, sagte er mit einem unheimlich bedrohlichen Ton. „Benni!“, rief Laura erleichtert, aber zu ihrer Überraschung klang ihre Stimme eher so, als würde sie ihn umbringen wollen. Auch der orangehaarige Typ schien das bemerkt zu haben. „Warum nimmst du sie in Schutz, wenn sie dich eh nich leiden kann?“, fragte er mit einem breiten, schadenfrohen Grinsen auf dem Gesicht. Benni antwortete nichts darauf. Was bedeutet das, nicht leiden können? Laura verstand die Welt nicht mehr. „Als du gestern, oder eher heute früh zurückkamst sahst du ziemlich fertig aus. Ich wette sie hatte dir noch nich mal zugehört. Weißt du wat? Ich mach dem ein Ende, die Kleine hat dich eh nich verdient. Außerdem gibt’s Mädels mit noch viel mehr Sexappeal als die da.“, mit diesen Worten zog der Typ eine Pistole aus seiner Jackentasche, die Laura sofort an ihrer glänzend silbernen Farbe erkannte. Sie war ganz anders, als die üblichen Pistolen. „Die gehört doch-“, sagte sie, brach aber ab, als sie verstand, was er damit vorhatte. Auch Benni erkannte sie sofort. „Max, woher hast du…“ „…deine Pistole? Die hattest du gestern vergessn, als du unserem Püppchen hier hinterher bist, nachdem sie uns belauscht hatte. Sieht dir eigentlich gar nich ähnlich, diene gefährlichste Waffe zu vergessn, aber nach allem wat passiert is kann ich’s ja verstehn.“ Max lachte. „Wage es nicht, ihr auch nur ein Haar zu krümmen.“ Bei Bennis Ton lief Laura ein kalter Schauer über den Rücken. Er klang immer noch total beherrscht und dennoch schwang eine eisige Kälte in seiner Stimme mit. Laura konnte allerdings immer noch nicht verstehen, was da gerade vor sich ging und warum dieser Max sie umbringen wollte. Wie aus heiterem Himmel war ein lauter Knall zu hören, bei dem Laura vor Schreck aufschrie. Benni sackte auf die Knie und stützte sich auf dem Boden ab. Aus seinem rechten Schienbein floss Blut. „Seit wann bist du so schnell?“, fragte er Max mit zusammengebissenen Zähnen. Es kostete ihn offensichtlich viel Mühe, sich nicht vom Schmerz übermannen zu lassen. Deswegen hatte Benni diese Waffe wenn dann nur sehr selten benutzt. Weil der Schmerz irgendwie tausendmal stärker war, als bei einer herkömmlichen Pistole. Max lachte laut. „Tja, der Unzerstörbare is halt auf meiner Seite. So, jetz aber weiter im Text. Leb wohl Püppchen!“, rief Max und richtete Bennis Pistole auf Laura. Eine purpurne Aura umgab sie und Max drückte ab…   Mit einem erschrockenen Keuchen wachte Laura auf. „Guten Morgen! Ist ja ne ganz neue Methode. Schläfst du in Yami auch immer auf der Fensterbank, oder schlafwandelst du?“, wurde sie von einem Mädchen mit hellbraunen Haaren, Sommersprossen und hübschen grün-braunen Augen begrüßt. „Ähm…“ Laura blinzelte irritiert. Das war nicht Rebecca. Schlaftrunken rieb sie sich die Augen und brauchte eine Weile sich zu orientieren. Das hier war nicht ihr Zimmer in Yami. Sie befand sich in ihrem neuen Zimmer, das in der Coeur-Academy, welches sie mit ihrer neuen Mitbewohnerin Ariane teilte. „Ach so, äh… Nein, ich konnte gestern nur nicht einschlafen und bin noch mal zum Fenster gegangen…“, meinte Laura, als ihre Erinnerungen wieder etwas zuverlässiger wurden. „Wie dem auch sei, hattest du ’nen Albtraum?“ Ariane musterte sie besorgten Blickes. „Keine Ahnung. Ich bin mir nicht sicher, was ich geträumt hab.“ Laura gähnte und streckte ihren Körper, der durch die eigenartige Schlafposition nun unangenehm verspannt war. Dieser komische Traum… er kam ihr irgendwie zu real vor, um einfach nur ein Traum gewesen zu sein. Ariane zuckte mit den Schultern. „Na gut… Das Bad ist jedenfalls nun frei, also lass dir so viel Zeit wie du magst. Den Weg zur Mensa kennst du ja noch, oder?“ Laura nickte übermüdet. Schnell duschte sie sich und zog sich an. Im Flur traf sie auf Öznur und Janine. „Morgen Laura.“, grüßte Öznur sie und Janine lächelte ihr kurz zu. Laura war erleichtert, dass die beiden noch da waren, denn auch wenn der Weg zur Mensa zwar ganz einfach war, war ihr trotzdem unwohl bei dem Gedanken gewesen, alleine über das Schulgelände gehen zu müssen. Die drei verließen das Mädchenhaus und gingen über den großen Platz, der wie leergefegt schien. Scheinbar waren alle momentan beim Frühstück. Als sie an dem gefrorenen Springbrunnen vorbeikamen, öffnete sich die große Tür und Benni kam heraus. Laura vergaß das Atmen. Sie merkte wie Öznurs Körperhaltung aufrechter wurde und Janine im Gegensatz dazu ihren Kopf senkte. „Mo-Morgen.“, begrüßte Laura ihn, aber Benni nickte der Gruppe nur kurz zu und ging an ihnen vorbei. „Cool. Hautnah am Schulsprecher vorbei. Und er hat mir zugenickt.“, schwärmte Öznur. Kurz bevor sie durch die Tür gingen, drehte sich Laura noch mal um, konnte ihn aber nicht mehr sehen. Er ist tatsächlich noch sauer, dachte sie traurig, als sie plötzlich an ihren Traum denken musste. Der Tag nach dem Streit, schoss es Laura durch den Kopf. In der Mensa warteten die übrigen Mädchen schon und Öznur begann natürlich sofort, von der Begegnung zu erzählen. „Der Schulsprecher ist direkt an uns vorbeigegangen und hat uns sogar zur Begrüßung zugenickt.“, schwärmte sie. „Echt?! Oh, ich wär zu gern dabei gewesen.“, quietschte Lissi. „Damit du ihn anmachen kannst.“, vermutete Ariane unbeeindruckt. „Natürlich, was denn sonst?“ Lissi warf wie in den Hollywoodfilmen ihr Haar zurück und zwinkerte Ariane verführerisch zu. „Aber Laura war voll mutig. Die hat ihn sogar begrüßt.“, erzählte Öznur weiter. Das verstehen die unter mutig?, fragte sich Laura. Okay, aufgeregt war sie irgendwie schon gewesen, aber jemanden zu begrüßen war doch normal, oder? „Genau, das wollte ich dich noch fragen. Kennst du den Schulsprecher nun?“, meldete sich Susanne zu Wort. Ariane winkte ab. „Garantiert nicht. Falls du das vergessen hast, Laura ist aus einer Adelsfamilie. Ihre Eltern lassen sie sicher nur zu genauso reichen Leuten.“ Laura wusste nicht warum, aber sie nickte. Aus irgendeinem Grund wollte sie einfach nicht, dass die Mädchen was davon erfuhren. Genauso wenig, wie von dem Schwarzen Löwen. Susanne seufzte und ließ das Thema in Ruhe. „Na los, lasst uns danach shoppen gehen!“, rief Lissi plötzlich voller Enthusiasmus. „Wie kommst du denn jetzt da drauf?“, seufzte Ariane. „Heute ist doch dieser Neujahrsball. Dafür will ich noch ein Kleid kaufen.“, erklärte Lissi. „Ich habe nichts dagegen, aber Lissi, dein Schrank platz fast vor Klamotten.“, meinte Susanne. „Ach nö, ich hab keinen Bock auf Shopping und ein Kleid kann ich schon irgendwie auftreiben.“, meckerte Ariane. „Also ich komm auf jeden Fall mit!“, rief Laura begeistert. Ein Kleid brauchte sie nicht, in ihrer Familie war es Brauch, bei wichtigen Veranstaltungen einen Kimono zu tragen. Aber so konnte sie jedenfalls ein Geschenk für Benni kaufen. Zum Geburtstag und als Entschuldigung. Auch wenn sich Laura immer noch nicht an diesen doofen Streit erinnern konnte, wusste sie, dass sie damit überhaupt angefangen hatte. Dieser Max hatte in ihrem Traum immerhin auch so was in die Richtung behauptet. „Tut mir leid, aber ich kann nicht mitkommen.“, entschuldigte sich Janine und war sichtlich dankbar, dass niemand weiter darauf einging und sogar Lissi mal still blieb. Nachdem sie gegessen hatten, gingen die Mädchen also auf ihre Zimmer um ein paar Habseligkeiten zu holen und machten sich dann mit Ariane im Schlepptau auf zur Bushaltestelle. Einmal pro Stunde fuhr dort ein Bus ins Stadtzentrum von Jatusa, der Hauptstadt der Cor-Region. Nach zwanzig Minuten waren sie da. „Wahnsinn, wie riesig!“, staunte Öznur begeistert. „Echt schade, dass Janine nicht mitgekommen ist.“ „Habt ihr vielleicht eine Ahnung, warum?“, fragte Ariane neugierig. „Ist nur ne Vermutung, aber kann es sein, dass sie aus der Mur-Region stammt?“, überlegte Anne. „Ja, sie hatte gestern Abend tatsächlich etwas in die Richtung angedeutet.“, überlegte Susanne und atmete bedrückt aus. Besorgte Züge zeichneten sich auf Arianes Gesicht ab. „Ihr klingt ja so als wäre es dort tatsächlich so schlimm, wie man es uns in der Schule erzählt hat.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Kann sein, aber so genau kann das wohl niemand sagen, der Mur nicht gesehen hat. Und zumindest ich weiß von keinem, der diese Region jemals betreten oder verlassen hat. Und das, obwohl die Mur-Region mein Nachbarsreich ist und man eigentlich immer, besonders mit seinen Nachbarn, eine besondere Verbindung pflegen müsste.“ „Je nachdem welches Verhältnis du meinst. Ich komm mit dem alten Knacker nebenan nicht so gut klar.“, warf Öznur ein. „Ich meine ein geschäftliches. Von denen hört man fast nichts und wenn, dann nur Schlechtes.“ Laura seufzte. „Ach ja, stimmt, wegen der Diktatur.“ Eigentlich müsste sie politisch immer auf dem neusten Stand sein, aber bei ihrer Begeisterung für Politik… Wie sollte das nur später werden? Anne nickte. „Genau deswegen. Davor war Mur angeblich eine Region, die insbesondere aufgrund des Ölhandels eigentlich sehr wohlhabend war. Und dann kam dieser eine Vollidiot daher, ermordete die Königsfamilie und setzte sich selbst auf den Thron. Seitdem leidet das Volk von Mur Tag ein Tag aus. Ehrlich gesagt wundert es mich, dass es überhaupt jemand von dort lebend bis hierher geschafft hat.“ „Und deswegen kann Ninie nicht hier shoppen gehen?“ Öznur verstand es immer noch nicht. „In der Mur-Region herrscht seit der Diktatorenzeit große Armut.“, erklärte Laura es ihr genauer. „Das ist wirklich krass… Kein Wunder, dass Ninie so extrem dünn ist.“, stellte Ariane betroffen fest. „Auch schon bemerkt.“, sagte Anne daraufhin sarkastisch. Öznur grinste „Hört, hört, die Prinzessinnen haben gesprochen.“ „Was?!“, beschwerten sich Laura und Anne gleichzeitig. „Jetzt tut doch nicht so unschuldig, eure Hoheiten. Liegt doch auf der Hand, dass ihr beide aus Adelsfamilien kommt.“, blaffte Öznur. „Was hat das damit zu tun?“, fragte Anne zischend. Während Laura ein katzenartiges Fauchen von sich gab. Das war ihre typische Reaktion auf Sachen, die ihr nicht gefielen. Mist, das muss ich mir abgewöhnen, wenn ich nicht will, dass die anderen diese Schwarze-Löwen-Sache erfahren, ärgerte sie sich. Zu ihrem Glück schienen die Mädchen das gar nicht erst bemerkt zu haben. Nachdem sich Lissi trotz des Platzmangels in ihrem Zimmer mindestens sieben Oberteile, drei Miniröcke, vier Hosen, ein Paar Ohrringe und einen BH gekauft hatte, waren sie endlich an dem Abendmodegeschäft W&B, ‚For Weddings and Balls‘, angekommen. Während die Mädchen also die verschiedensten Kleider anprobierten und sich gegenseitig berieten, setzte sich Laura auf die Ledercouch. Ein Kleid brauchte sie immer noch nicht, aber Schlaf, den sie wegen des Albtraums kaum bekommen hatte. Jetzt war die Gelegenheit, ihn nachzuholen.   Leise schlich Laura durch die dunklen Gänge, eines kleinen Hauses. Das gelbe Licht einer Lampe schien durch einen Türspalt, aus dem Stimmen kamen. Neugierig tastete sich Laura zu der Tür und spähte durch den Spalt. In dem Raum waren fünf Jungs, alle mindestens ein Jahr älter als sie. Die Gruppe war komplett in schwarz und allesamt trugen einen eher rockigen Kleidungsstil. Vier von ihnen hielten Bierflaschen in der Hand. Ihre Haare waren… bunt. Einer hatte rote, der nächste lilafarbene, ein weiterer blaue und der vierte orangefarbige Haare und dazu noch die Augen in der passenden Farbe. Laura kannte diese Jungs, besonders der orangehaarige kam ihr bekannt vor und ein unangenehmes Prickeln breitete sich auf ihren Armen aus. An die Namen konnte sie sich aber nicht mehr erinnern. Nur den fünften Jungen, der abseits an der Wand lehnte und sich weder an der Unterhaltung noch am gemeinsamen Betrinken beteiligte, kannte sie beim Namen. Laura hielt die Luft an. Was macht Benni denn hier? Benni warf ihr durch den Spalt einen warnenden Blick zu und Laura wich erschrocken zurück. Natürlich hatte er sie kommen hören. Seine Sinne waren übernatürlich gut. Selbst bei vielen Metern Entfernung war er dazu in der Lage ein Gespräch zu verfolgen, wenn er sich konzentrierte. Da war das hier eine Kindergartenaufgabe für ihn. Laura atmete tief durch, ging wieder zu dem Spalt, um Benni einen störrischen Blick zuzuwerfen. Der seufzte kaum merkbar und wandte sich ab. „Leute, dieser Rektor geht mir langsam aber sicher auf die Nerven.“, seufzte der blauhaarige. „Yo. Immer wieder brummt der alte Sack uns Strafarbeiten und anderen Sozischeiß auf. Langsam reicht’s.“, gab ihm der lilahaarige Recht. Der rothaarige schüttelte den Kopf. „Das wundert mich nicht, nachdem, was ihr so alles angestellt habt.“ Der blauhaarige lachte. „Was is denn mit dir los? Wir haben noch nicht einmal die Hälfte aller Fensterscheiben eingeworfen. Und du musst zugeben, dass die Mädels die wir beim Duschen gefilmt hatten echt sexy waren. Und was können wir dafür, wenn wir unbedingt an Geld kommen müssen, wenn unser Maxi die ganze Kohle für seine Drogen ausgibt?!“ Der Blick des rothaarigen Jungen zeigte deutliche Sorge um seine Freunde, was den Blauhaarigen umso mehr zu amüsieren schien. „Im Ernst, seit wann bist du so ‚ne Memme?“ Die drei ‚unvernünftigen‘ Jungs begannen laut zu lachen. Laura zog scharf die Luft ein. Auf was für eine Bahn war Benni da nur geraten? Sie musste ihn unbedingt zur Rede stellen. Rauchen, Trinken, Drogen nehmen und dieser ganze Unsinn… das hätte sie von einem Einzelgänger wie er es war nicht erwartet. „Oh Mann, was habt ihr denn alle?!“, rief der rothaarige Junge verzweifelt aus. „Seit diesem komischen Ausflug verhaltet ihr euch nicht mehr wie ihr selbst! Was ist passiert?!“ „Wir haben gar nix, du kleiner Schisser! Was is?! Bist du vielleicht doch noch zu klein, um mit den großen Jungs spielen zu können?!“, provozierte der orangehaarige ihn und mal wieder brachen die drei in schallendes Gelächter aus. „Hör mit diesem Unsinn endlich auf. Das ist nicht mehr lustig!“ „Das seh’ ich aber anders.“ Der blauhaarige sah ihn schadenfroh an, doch der rothaarige ließ sich davon nicht beirren. Entschlossen stand er auf. „Leute, ich meine es ernst! Was ist passiert?! Hört endlich mit diesem Scheiß auf, ich mache mir Sorgen um euch! Außerdem was wollt ihr denn bitteschön gegen den Rektor ausrichten? Ihn töten oder was?!“ „Halt endlich die Fresse, du kleiner Hurensohn!“ Der blauhaarige sprang auf, packte den hilflosen Jungen an der Kehle und stieß ihn auf den harten Holztisch, um einen umso besseren Griff um seinen Hals zu haben. Laura verfolgte das Geschehen atemlos mit, doch so sehr wie ihr Körper zitterte, schaffte sie es nicht irgendwie eingreifen zu können. „Bleib cool, Alter. So Unrecht hat unser kleines Küken nich.“, meldete sich der orangehaarige zu Wort und tatsächlich ließ der Kerl den armen Jungen los, der keuchend die Druckspuren an seinem Hals verbarg. Sein stacheliges rotes Haar fiel in einzelnen Strähnen über sein erschöpftes, immer noch blasses Gesicht. „Was meinst du damit?“, fragte der Typ mit den langen blauen Haaren seinen Komplizen, der so was wie der Anführer zu sein schien. „Na ganz einfach: Der alte Pauker wird uns immer weiter auf die Eier gehn, solange er lebt. Also müssen wir dem ein Ende setzen.“ „Du meinst…“ „Logo! Denkst du etwa ich lass mir das ewig gefalln? Da kennste mich aber schlecht, Alter.“ „Geil.“ Zu mehr brachte der langhaarige es nicht und er schien sichtlich zufrieden zu sein. „Das ist doch ein Witz… oder?“ Während sich der Junge immer noch den Hals rieb sah er seine ‚Freunde‘ verzweifelt an. Die aber lachten. „Denkst du, ich mach über so was Witze? Du selbst hast doch so was in der Art gesagt. Oder willst du dich gegen uns stellen?“ Der Anführer kam bedrohlich auf ihn zu. Mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck wandte der rothaarige Junge den Kopf ab. Zufrieden grinste dieser widerliche Typ und meinte: „Dann is ja alles guat. Aaaalso? Wann schicken wir den Pauker endlich zum lieben Gott?“ „Was!?!“, schrie Laura auf und hatte total vergessen, dass sie das alles eigentlich nur belauscht hatte. „Hey hey hey! Sieh einer an, wer uns so spät noch besuchen kommt! Unser Püppchen!“, rief der blauhaarige. Alexander! Mit einem Schlag fiel Laura sein Name wieder ein. Verängstigt und wütend bis zum geht nicht mehr trat Laura ein. „Hallo Püppchen! Setz dich doch zu uns.“, begrüßte der rothaarige namens Jannik (Jan-Niklas), der eben beinahe umgebracht wurde, sie erfreut und deutete auf den Platz neben sich. Laura warf einen prüfenden Blick auf Benni, der immer noch teilnahmslos an der Wand lehnte und dem das alles egal zu sein schien. Trotzdem blieb sie in der Türschwelle stehen. „Was is los, Püppchen? Deine Porzellanhaut is noch blasser als sonst.“, meinte der lilahaarige, Kevin. „Was los ist?! Ihr trinkt, kifft, greift einen eurer Freunde an, plant wie ihr den Direktor umbringen könnt und dann fragt ihr mich ernsthaft was los ist?!? Na dreimal dürft ihr raten!!!“, schrie Laura entgeistert die Gruppe an. „Wowowow, Püppchen! Immer mit der Ruhe! Das is doch alles nur Spaß, nix weiter. Und die Sache mit ’m Rektor is nötig. Du weißt doch, was für ’ne Schwuchtel das is“, sagte dieser Anführer, Max, in einem ‚beruhigenden‘ Ton, der Laura alles andere als beruhigte. „Was bildet ihr euch eigentlich ein?! Wie könnt ihr so über den Direktor reden?! Das ist der freundlichste Direktor den unsere Schule jemals hatte und ihr wollt ihn töten?!“ „Äh, jup.“, meinte Max in einem unschuldigen Ton. In Laura kochte der Zorn auf. Und mit ihm spürte sie eine ungeheuerliche Macht in ihrem Inneren. Eine Macht, die ihren Körper verlassen wollte. Die ihr genug Kraft gäbe um dieser Ungerechtigkeit die Stirn bieten zu können. Die Finsternis-Energie des Schwarzen Löwen. „Oh oh. Püppchen geht in die Luft.“, spottete Alexander, was Laura nur noch mehr in Rage versetzte. Sie konnte das nicht länger mitansehen. Sie setzte die Finsternis-Energie frei. Schwarzer Rauch loderte um ihren Körper und ließ die Jungs verängstigt zurückweichen. Laura spürte, dass sie die Kontrolle über diese Macht zu verlieren drohte, aber das war ihr egal. Diese Typen hatten es nicht anders verdient! Zum ersten Mal wurde Benni aktiv. Ganz ruhig streckte er seine Hand nach ihr aus und war kurz von einer ebenfalls schwarzen Aura umgeben. Daraufhin verschwand dieser unheimliche Rauch um Laura wieder in ihrem Inneren. Langsam senkte Benni seine Hand wieder und Laura sah ihn erschöpft an. „Warum hast du das gemacht?!“, fragte sie ihn, erschöpft, aber nach wie vor wütend. „Das weißt du selbst.“, antwortete Benni mit seiner für ihn typisch ruhigen Stimme. „Nein, weiß ich nicht. Warum hast du die Energie aufgehalten?! Diese Typen hätten es verdient!“ „Wir hätten es verdient? Oh Püppchen, du bist so verletzend.“ Max machte ein gespielt trauriges Gesicht. „Klappe jetzt!“, schrie Laura. Max und Alex hoben die Augenbrauen, blieben aber still. „Ihr seid solche Idioten! Ihr wisst ganz genau, dass der Direktor noch nie mit Schulverweis gedroht hat! Ich will gar nicht erst wissen, was ihr alles angestellt habt, damit er so weit gehen musste und dann wollt ihr ihn auch noch töten?! Obwohl er sonst die ganze Zeit so nachsichtig mit euch war? Nur so zur Info: Ein anderer Lehrer hätte euch nicht nur von der Schule geworfen, sondern ohne wenn und aber gleich noch ins Gefängnis geschickt!“ Laura atmete tief durch. So Wutausbrüche sahen ihr eigentlich gar nicht ähnlich und sie zehrten umso mehr an ihren Kräften. Die Jungs standen wie gelähmt da, nur Benni schien wie immer unbeeindruckt. „Beruhige dich erst einmal.“, sagte er, wie immer mit seiner ruhigen Stimme. „Sei du lieber mal still! Du bist genauso schuldig, wie alle anderen und jetzt sag mir nicht, dass du sie von ihrem Vorhaben abbringen wolltest, so desinteressiert, wie du warst.“, schnauzte Laura ihn an. Die anderen Jungs lachten. „Hey Benni, Püppchen is böse auf dich!“, rief Alexander. Benni warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Der war scheinbar bedrohlich genug, dass Alexander sofort wieder still wurde. Dafür, dass Laura bei sowas sofort überreagieren würde, blieb Benni immer noch erstaunlich ruhig. Aber das war typisch für ihn. Dann wandte er sich an Laura. „Und was dich betrifft, denkst du wirklich, ich hätte einfach zugesehen?“ „Na ja, bei Jannik hast du’s.“ Dieses Mal mischte sich Jannik ein. „Laura, wenn es ernst geworden wäre, hätte Benni mir natürlich geholfen. So hinterhältig wie Max und Co würde er niemals sein und das weißt du auch. Sogar noch besser als wir.“ „Halt bloß die Fresse Knirps! Pah wir und hinterhältig.“, meinte Max und boxte Jannik in die Seite. „Genau das meine ich! Jannik oder jemand anderes wird verprügelt, aber du stehst immer nur als Zuschauer da rum und hilfst dieser Person nicht. Du bist so was von egoistisch!“, schrie Laura Benni wieder an, der immer noch unbeeindruckt meinte: „Du übertreibst.“ „Genau. Abgesehen von heute, wann haben Max, Alex oder Kevin jemals jemanden verprügelt? Nie.“, gab Jannik, eindeutig der friedlichste von allen, Benni Recht. „Ach vergesst es, ich gehe!“, sagte Laura mit ihrer fauchenden Stimme, die an eine wütende Katze erinnerte. Okay, eher ein wütendes Kätzchen. Sie drehte sich um und ging raus. „Laura, warte.“, rief Benni ihr hinterher, aber Laura ignorierte ihn, stürmte aus dem Haus raus und rannte den Weg entlang. Während sie verzweifelt versuchte, etwas von dem unbeleuchteten Pfad zu erkennen, trugen ihre Beine sie immer tiefer in den Wald hinein. Kurz blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Ahnungslos schaute sich Laura um. Wo war sie? Gehörte dieser Teil noch zu Yami oder war sie schon in Obakemori gelandet? Egal. Entschlossen rannte sie weiter. Doch ihr Weg endete abrupt, als sie dabei eine Wurzel übersah. „Aua~“, stöhnte Laura und versuchte sich aufzurichten. Eine warme Flüssigkeit lief an ihrem Knie runter. Na toll. Ich war natürlich mal wieder so schlau und bin auf den einzigen Stein weit und breit gefallen. Der Versuch aufzustehen schlug fehl und Laura sackte nach Luft schnappend zurück auf den Boden und hoffte, der Schmerz würde zumindest etwas verblassen. „Laura!“, rief eine vertraute Stimme und Laura konnte eine dunkle Gestalt erkennen, die in schnellen Schritten auf sie zu kam. Natürlich hatte Benni kein Problem damit, sie einzuholen. Laura war so langsam wie eine Schnecke und hatte noch dazu eine grottenschlechte Ausdauer. Benni war im Gegensatz dazu super schnell und hatte eine Millionen Mal bessere Ausdauer als sie. „Lass mich!“, schrie Laura, immer noch wütend. Benni schien ihren Kommentar zu überhören und bückte sich zu ihr runter. „Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich und wollte ihr hoch helfen. Laura fauchte und wich vor ihm zurück. „Fass mich nicht an!“ „Ganz ruhig, ich will dir nur helfen.“, meinte Benni seufzend, aber nach wie vor unglaublich ruhig. Laura selbst reagierte mal wieder über. Trotz ihren verzweifelten Abwehrversuchen half er ihr auf die Beine. Eingeschnappt löste sich Laura aus seinem stützenden Griff und taumelte ein paar Schritte zurück, benommen von dem Schmerz der wieder durch ihr Knie stach. „Ich kann laufen.“, sagte sie schnell, bevor Benni etwas dazu äußern konnte. Sie wollte einfach nur weg von ihm und Benni schien das auch zu bemerken. „Hör mir doch einfach zu.“ „Wieso sollte ich? Du wirst mich doch eh nur anlügen.“, fauchte Laura. „Warum sollte ich das? Wieso vertraust du mir eigentlich nicht?“ Benni klang leicht verletzt, das merkte Laura sogar, obwohl seine Stimme immer noch sehr beherrscht klang. „Warum sollte ich dir vertrauen, wenn du mich doch nur anlügst?! Ich weiß, wie gut du schauspielern kannst.“ „Du weißt auch, dass ich nicht lügen kann.“, widersprach Benni ihr, aber Laura schüttelte den Kopf. „Das könnte auch nur eine Lüge sein. Nachdem ich erfahren hab, wie deine Freunde wirklich sind… Da kann ich dir nicht mehr vertrauen. Garantiert drehst du auch so krumme Dinger. Und jetzt lass mich in Ruhe!“, schrie Laura. Sie drehte sich um und wollte gehen, als Benni sie plötzlich am Handgelenk festhielt. Er hatte einen starken Griff und seine warme Hand fühlte sich eigentlich sehr angenehm auf ihrer unterkühlten Haut an. Laura spürte, wie sie ruhiger wurde. Sie war es gewohnt, sich in Bennis Gegenwart sicher und geborgen zu fühlen. Doch die jüngste Erkenntnis, mit welcher Art von Menschen er zu tun hatte… diese Zweifel, ob er selbst tatsächlich ein guter Mensch war, wie sie all die Zeit geglaubt hatte, oder ob er nicht doch insgeheim einer von ihnen war… Ihr Arm, den Benni immer noch festhielt, verspannte sich. „Lass mich los. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“, sagte Laura, den Kopf immer noch abgewandt. Sie spürte, wie Benni seinen Griff lockerte. Laura zog ihre Hand zurück und rannte fort. Einfach nur fort von ihm. Sie spürte einen Regentropfen auf ihrer Nase, dann auf der Wange. Langsam durchbrachen immer mehr Tropfen die Wolkendecke. Ohne zu Benni zurückzuschauen rannte sie weiter, trotz des Schmerzes in ihrem Knie. Inzwischen war der Regen stärker geworden und er peitschte ihr ins Gesicht, neben die Tränen, die über ihre Wangen liefen. … Warum weinte sie? Hätte sie sich das nicht eigentlich denken können? „Laura!“, hörte Laura eine Stimme ihren Namen rufen, aber es war nicht Benni. Sie schien ganz weit entfernt, wie als würde sie mit dem Regen aus den Wolken kommen. Wieder hörte Laura sie. „Laaaaaaaaaaauraaaaaaaaaaaa, wach auf!“   Schlaftrunken öffnete Laura die Augen. „Endlich bist du wach. Ich hätte eigentlich erwartet, dass ich einschlafe, aber nicht du.“, sagte Ariane und strich sich ihr schulterlanges Haar zurück. „Ich kann ja verstehen, dass du eingeschlafen bist, aber Lissis Modenschau ist jetzt endlich vorbei. Nach einer Stunde.“, grinste Öznur. „Haha, sehr witzig. Es war eine Stunde, siebzehn Minuten und neununddreißig Sekunden wertvolle Lebenszeit.“, berichtigte Anne sie genervt, mit einer Stoppuhr in der Hand. „Ja ja ja, ich hab’ s ja kapiert. Los Lauch, jetzt suchen wir noch eins für dich.“, drängte Lissi. Langsam kehrte Laura wieder zurück in die Realität. „Äh, ich hab schon ein Kleid. Also… einen Kimono.“ „Hääääääääääääääääääääääääääääää? In so ’nem unsexy Fummel willst du auf ’nen Ball??? Das geht ja gar nicht! Na los, jetzt suchen wir mal was Richtiges.“ Lissi zog sie auf die Beine und stürmte sofort auf ein Regal mit krass ausgeschnittenen Kleidern zu. „Ähm Lissi, ich muss einen Kimono tragen. Das ist Vorschrift in meiner Familie.“ „Kann man da denn keinen Kompromiss schließen? Wie zum Beispiel ein Kleid, das nur so ähnlich wie ein Kimono ist aber trotzdem eher in etwas wie einen Ball passt?“, fragte Öznur sie. „Keine Ahnung… Vielleicht?“, überlegte Laura. „Aber wo sollen wir denn sowas finden?“ Lissi grinste. „Überlass das mir, Süße.“ Zwar war Laura etwas unwohl bei der Sache, dass Lissi ihr ein Kleid suchen würde, welches diese Eigenschaften und Lauras Ansicht von tragbar erfüllte, aber zur Überraschung aller Anwesenden fand sie tatsächlich ein perfektes Kleid für Laura, sogar in schwarz. „Okay, jetzt können wir doch endlich zurückgehen, oder? Ich bin am Verhungern!!!“, meckerte Ariane. Anne seufzte. „Du hast doch sogar das größte Stück Pizza bekommen, wie kannst du da am Verhungern sein?“ „Das ist doch egal! Ich hab halt huuuuuunger!“ „Schon gut, schon gut. Also lasst uns jetzt gehen, bevor Nane noch vor unseren Augen stirbt.“, meinte Öznur. „Geht doch schon mal vor, ich hab noch was zu erledigen und komme später zurück.“ In letzter Sekunde fiel Laura der eigentliche Grund ein, warum sie überhaupt mitgekommen war. „Na gut, kauf dir deine Zahnbürste. Aber komm pünktlich zum Umziehen zurück.“, meinte Ariane. Laura winkte den Mädchen kurz zu und ging. Anne fragte Ariane, was das mit der Zahnbürste auf sich hatte, dann waren sie außer Hörweite. Laura schlenderte in Gedanken versunken die Einkaufsstraße entlang. Was sollte sie Benni denn bloß schenken? Besonders jetzt, da sie endlich wieder wusste, was es mit dem Streit auf sich hatte. Ich hatte mich echt behindert verhalten und ihm noch nicht mal zugehört. Kein Wunder, dass er sauer ist…, dachte Laura traurig. Das Dumme an der Sache war, dass das typisch für sie war. Sie neigte immer dazu, so extrem zu reagieren. Und sie konnte sich diese dämliche Eigenschaft auch einfach nicht abgewöhnen! Während sie überlegte, was sie Benni bloß schenken sollte, ging sie fast schon intuitiv zu einem kleinen, altmodisch aussehenden Laden im Eck. Er hatte einen japanischen Stil und irgendetwas sagte ihr, dass sie da rein sollte. Laura drängte sich an mehreren Menschenmengen vorbei, bis sie den Laden endlich erreicht hatte. Auf einem Holzschild stand über der Tür: -Yamische Wertstücke und Souvenirs-, einmal in normalen Buchstaben und einmal auf Japanisch, der Regionssprache von Yami. Ein wohliges Gefühl umschloss Lauras Herz, als sie an ihr Zuhause dachte. Vielleicht hatte sie ja doch ein bisschen Heimweh… Ihrem Gefühl folgend beschloss Laura, den Laden zu betreten. Ein Windspiel erklang beim Öffnen der Tür und eine schwarzhaarige Frau im Kimono grüßte sie: „いらっしゃいませ.“  Laura sah sich in dem Laden um. Es war ein Mix aus Bücherladen und Antiquitätengeschäft und sah auch von innen sehr traditionell aus. Die Bücherregale waren das erste, auf das sie zusteuerte. Sie nahm eines der Bücher heraus und betrachtete es.  -Die Legenden des magischen Krieges- Ein trauriges Lächeln umspielte Lauras Lippen und als sie aufschaute und das vollgepackte Regal sah, breitete sich eine unglaublich schmerzhafte Schwere in ihrem Herzen aus. So schmerzhaft, dass ihr Tränen in die Augen traten. Diese ganzen Bücher erinnerten sie an Carsten. Carsten war seit Kindestagen an Bennis und ihr bester Freund und sie hatten sehr viel Zeit miteinander verbracht. Zumindest, bis er mit zehn Jahren von seinen Eltern auf ein Besserungsinternat geschickt worden war. Seitdem hatte sie ihn nie wieder zu Gesicht bekommen… Warum er dort war, konnte Laura überhaupt nicht nachvollziehen. Aufgrund seiner Schüchternheit schätzte man ihn anfangs vielleicht falsch ein, doch eigentlich war Carsten der freundlichste und hilfsbereiteste Mensch, den sie je kennenlernen durfte. Aber Laura war sich sicher, dass Carstens älterer Halbbruder Eagle daran nicht ganz unbeteiligt gewesen war. Es würde sie jedenfalls nicht wundern, denn Eagle hatte Carsten seit dem Tage seiner Geburt an abgrundtief gehasst. Und das hatte er auch häufig genug mitgeteilt, sowohl mit seinen Worten als auch mit seinen Taten. Eagles und Carstens Vater war der Häuptling der Indigo-Region, ein verhältnismäßig kleines Gebiet, das westlich an der Yami-Region angrenzte. Carsten hatte das typische pechschwarze Indigonerhaar und magisch wirkende lilafarbene Augen, die meistens ein lebensfrohes Leuchten hatten, trotz der Einsamkeit, die ihn irgendwie immer umgab. Indigoner hatten eine ähnlich dunkle Hautfarbe wie Öznur und Anne, doch da Carsten seine Freizeit am liebsten in den Traumwelten seiner vielen Bücher verbrachte, war er immer ein kleines bisschen blasser gewesen als der Rest seines Volkes. Lauras Blick fiel wieder auf das Buch. In etwas mehr als einem Monat hatte Carsten Geburtstag und sie wusste, dass ihn Sagengeschichten schon immer fasziniert hatten. Das wäre jedenfalls das perfekte Geschenk für ihn, aber ob der Direktor in dieser Besserungsanstalt ihm überhaupt das Geschenk weiterleiten würde, war höchst unwahrscheinlich. Immerhin herrschten dort nicht nur strenge, sondern auch grausame, um nicht zu sagen unmenschliche Sitten. Wenn man zum Beispiel nur für einen Moment im Unterricht nicht aufpasste und vom Lehrer erwischt wurde, bekam man drei Tage nichts zu Essen. Zumindest hatte Benni ihr das mal erzählt gehabt… Bei dem Gedanken an Essen, knurrte Lauras Magen. Sie hatte das kleinste Pizzastück von allen bekommen. Trotzdem hatte sie ein seltsames Gefühl, also entschied sie sich, das Buch zu kaufen. Falls aus dem Verschicken nichts wurde, könnte sie es auch behalten, immerhin klang es recht spannend und den magischen Krieg würden sie sowieso im zweiten Jahr in Geschichte durchnehmen. Aber für Benni hatte sie immer noch nichts gefunden. Suchend sah sie sich um, bis ein älterer Mann sie ansprach. „Suchen sie etwas Bestimmtes, junge Dame?“ Er schien der Besitzer dieses Ladens zu sein und hatte eine irgendwie weihnachtsmannartige Ausstrahlung. Der Mann war etwas dicklich, als hätte er eine besondere Vorliebe für Plätzchen. Außerdem hatte er einen langen, weißen Bart, weiße Haare und trotz der eisblauen Augen war sein Blick gemütlich und warm. Vielleicht lag seine Ausstrahlung auch nur an den rotweißen Sachen, die er trug? Aber das war nur eine Vermutung, die Laura aufstellte, um der Tatsache zu entkommen, dass er ebenso gut der Weihnachtsmann sein könnte, wenn er jetzt in Bermudashorts und Hawaii-Hemd mit Blumenkranz vor ihr stehen würde. „Nun ja… also… Ich suche ein Geburtstagsgeschenk.“, sagte Laura. Der weihnachtsmannartige Ladenbesitzer legte den Kopf schief und fragte: „Für einen Verwandten?“ „Äh nein, für einen Freund.“, meinte Laura kopfschüttelnd und merkte, wie ihre Wangen einen leicht rötlichen Farbton bekamen. „Also für jemand ganz Besonderen.“, bemerkte er. Aus dem leicht rötlich, wurde nun richtiges Rot. Verlegen nickte Laura. „Ihr seid Laura Lenz, die Tochter des Siebenerrats-Vorstandes, richtig?“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Verwirrt sah Laura ihn an. Der Mann nickte. „Ich habe es mir doch gedacht. Heißt diese besondere Person vielleicht Benedict Ryū no chi?“ Wieder eine Feststellung. „Woher kennen Sie Benni?“, fragte Laura ihn irritiert. Der Mann lachte. „Ich bin schon seit dreißig oder mehr Jahren mit seinem Sensei befreundet.“ „Dann sind Sie also Nicolaus Weihe? Benni hatte mir schon oft von Ihnen erzählt. Freut mich, Sie endlich mal persönlich zu treffen.“ „Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, junge Dame. Ich wollte schon immer die Besitzerin des Schwarzen Löwen treffen.“ Nicolaus reichte ihr die Hand. „Woher wissen Sie-“ Laura brach ab. Natürlich wusste er Bescheid. Immerhin war Bennis Lehrmeisterin Eufelia-Sensei auch eine Dämonenbesitzerin. Nicolaus nickte. „Ich weiß ein gutes Geschenk für Benedict. Komm bitte mal mit.“ Laura folgte ihm in einen kleinen Hinterraum und staunte nicht schlecht. In Regalen an den Wänden, auf niedrigen Schränken… Egal wo man hinschaute, alle möglichen Arten von Waffen tummelten sich im Hinterzimmer dieses unscheinbar wirkenden Ladens. Von altertümlichen Antiquitäten bis hin zu den neusten Modellen an Schusswaffen. … Was hatte das im Hinterzimmer eines Antiquitäten- und Souvenir-Geschäftes zu suchen?! „In meiner Jugend habe ich mich, genauso wie du, viel mit der Kampfkunst beschäftigt. Aber ich bin ein alter Mann und mein Knie arbeitet nicht mehr ganz mit. Einige dieser Waffen sind Antiquitäten aus dem magischen Krieg und für mich nur noch eine Erinnerung, an die gute alte Zeit. Darunter gibt es eine bestimmte Art von Waffe, die weder ich noch sonst jemand je hatte benutzen können.“ Nicolaus wies auf ein Samuraischwert, das in der Mitte der gegenüberliegenden Wand an einer Halterung befestigt war. „Warum?“, fragte Laura verwirrt. Es sah wie ein ganz normales Schwert aus. Nicolaus nahm es aus seiner Halterung und reichte es Laura, die es neugierig betrachtete. Auf der Scheide waren seltsame Tiere in allen möglichen Farben eingraviert. Dämonen, schoss es Laura sofort durch den Kopf. „Du hast es richtig erkannt. Das ist die ‚Demonblade‘, eine Waffe, welche nur von Leuten, die mit einem Dämon verbunden sind, geschwungen werden kann. Bei normalen Menschen hat sie ihren eigenen Willen. Sag mal, was weißt du eigentlich alles über Dämonenverbundene?“ „Ähm… Nicht viel…“ Eigentlich wusste Laura nur etwas über die Dämonenbesitzer. Immerhin war sie selbst einer. Was Benni genau war, wusste sie nicht und gab es noch mehr Dämonenverbundene? Nicolaus nickte. „Nun gut, du hast doch garantiert schon von der Dämonenpyramide gehört, oder? In ihr sind alle Dämonenverbundenen der Stärke nach aufgelistet. Ganz oben, an der Spitze sind die freien Dämonen. Außerhalb eines Körpers, der sie und ihre Kräfte bannt, sind sie immer noch am stärksten.“ „Von denen habe ich schon gehört.“, meinte Laura. „Jeder Dämon war mal ein freier Dämon.“ „Ganz richtig. Unter den freien Dämonen stehen die Dämonenbesitzer, also jemand wie du, oder Eufelia-san.“ Davon hatte Laura auch schon gehört. Neben Eufelia kannte sie noch einen weiteren Dämonenbesitzer. Leider. Dieser war nämlich Carstens Halbbruder Eagle, der Besitzer des Grauen Adlers. „So. Nach den Dämonenbesitzern kommen die Dämonengesegneten, die kennst du noch nicht, oder?“ Laura schüttelte den Kopf „Ich weiß nur, dass Benni einer ist. Aber nicht, was genau das sein soll.“ Nicolaus nickte und begann zu erklären: „Ein Dämonengesegneter hat die Kraft gebannte Dämonen zu kontrollieren und beherrscht auch die Energie. Die kennst du ja, man kann sie sich ein bisschen vorstellen wie Magie, nur dass man dazu keine Zaubersprüche braucht und kein Magier sein muss. Energien beherrschen neben den eigentlichen Dämonen nur die Dämonenbesitzer und –gesegneten. Für gewöhnlich erkennt man letztere anhand ihrer blutroten Augen.“ Laura stutzte. „Aber Benni hat nur ein rotes Auge.“ „Dazu komme ich jetzt. In der Dämonengesegnetenspalte gibt es noch eine Aufteilung, nämlich die primären- und sekundären Dämonengesegneten. Die primären Gesegneten sind von ihrer Kontrollkraft auf nur einen Dämon beschränkt, nämlich den, der sie gesegnet hat und haben nur ein rotes Auge. Aber dafür können sie mehr Energien beherrschen und sind auch sonst viel stärker als die sekundären, die dafür alle gebannten Dämonen kontrollieren können und zwei rote Augen haben. Was denkst du, zu welcher Kategorie Benedict zählt?“ Laura überlegte kurz. Eigentlich hatte er bisher nur den Schwarzen Löwen kontrolliert, wenn Laura dazu nicht im Stande war und er hatte auch nur eines dieser roten Augen. „Ich denke mal, zu den primären, oder?“ „Genau. Weißt du eigentlich, was sein Name bedeutet?“, fragte er sie, aber da er sowieso wusste, dass Laura die Antwort nicht kannte, ergänzte er gleich darauf: „Gesegneter.“ „Also leitet sich sein Name von Dämonengesegneter ab?“ „So ist es. Die letzten in der Pyramide sind schließlich die Dämonengezeichneten. So jemanden kennst du übrigens auch.“ Laura legte den Kopf schief. „Echt?“ „Natürlich, immerhin ist er dein bester Freund.“ „Carsten?!?“ Laura konnte es nicht glauben. Seit wann war Carsten denn ein Dämonengezeichneter? Nicolaus schien ihre Gedanken gelesen zu haben. „Erinnerst du dich an den Unfall vor ungefähr zehn Jahren? Wo der Schwarze Löwe deinen Körper verlassen und Carsten kurz darauf angegriffen hatte?“ Als würde Laura das je vergessen. Deswegen hatte sie die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen, wenn sie die drei diagonal verlaufenden Narben auf seinem Gesicht sah. „An diesem Tag wurde er ‚gezeichnet‘. Ein Dämonengezeichneter beherrscht keine Energien, aber die Kampf- oder Magierkraft wird erhöht. Es handelt sich bei den Gezeichneten also um unglaublich mächtige antik Begabte.“ Nicolaus machte eine kurze Pause und sagte dann: „Das ist die ganze Pyramide. Normale irdische Wesen, wie normale Menschen, antik Begabte, also Magier und Kampfkünstler, oder Wesen wie Vampire, Elben, Feen und so weiter zählen nicht mehr dazu. Hast du alles verstanden?“ Laura nickte. „Und dieses Schwert kann nur von Wesen, die mit Dämonen verbunden sind, eingesetzt werden.“ „Genau so ist es. Versuch es mal.“, forderte Nicolaus Laura auf. Zögernd zog sie die Demonblade aus ihrer Saya. Erst war die Klinge silberfarben, aber kurz darauf war sie von einer dunklen Aura umgeben, die sie wie ein schwarzes, flackerndes Feuer einhüllte. Es war ein imposanter Anblick, wunderschön und bedrohlich zugleich. „Wow…“ mehr brachte Laura nicht zustande. Das war kein einfacher Zauber, da war Dämonenenergie am Werk, das konnte sie spüren. Nicolaus lächelte ein warmes, weihnachtsmannartiges Lächeln und sagte: „Du kannst es einfach so behalten, ich will kein Geld. Nur eine Bitte habe ich noch.“ Laura konnte nicht verstehen, dass er für so was Mächtiges kein Geld verlangte. Immerhin könnte es ein Vermögen wert sein! Fast so wie der Weihnachtsmann, überlegte sie. Was denke ich denn da?!? „Klar, was für eine Bitte denn?“, fragte sie. Das war immerhin das mindeste, was sie für ihn tun könnte. „Bitte vertrage dich wieder mit Benedict.“ „Woher wissen sie denn, dass wir uns gestritten haben???“ Laura wurde es langsam unheimlich, dass er so viel über sie wusste. Nicolaus lachte. „Ich bin immer noch mit seiner Lehrmeisterin befreundet.“ Erleichtert atmete Laura aus. Dem Weihnachtsmann würde so was auch nicht entgehen und langsam aber sicher, lief sie auf die Gefahr zu, doch wieder an ihn zu glauben,. Laura war sich immer noch nicht sicher, wie sie mit Benni reden sollte, aber trotzdem würde sie sich bemühen, sich endlich wieder, nach einem Jahr, mit ihm zu versöhnen. Da Nicolaus ihr das Schwert einfach so überließ, musste sie nun nur noch das Buch bezahlen. “Ich bin mir sicher, es wird Benni gefallen. Die Demonblade hat einen genauso dickköpfigen Charakter wie du.“ Nicolaus lachte und Laura hätte schwören können, tatsächlich ein „hohoho“ herausgehört zu haben. Sie verabschiedete sich von ihm und verließ den Laden. Die schwarzhaarige Frau sagte zum Abschied: „ありがとうございました." Wieder erklang beim Öffnen der Tür das Windspiel. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus, als dieser Klang sie an Lucias Stimme erinnerte. Fröstelnd kuschelte sich Laura in ihren schwarzen Schal und schaute in den wolkenverhangenen Himmel, aus dem inzwischen Schneeflocken sanft auf sie herabrieselten. Mit der Tüte mit dem Kimoleid, so hatten Ariane und Öznur Lauras Kleid getauft, in der rechten und der Tüte mit dem in schwarzen Stoff eingepackten Schwert und dem Buch in der linken Hand, ging Laura zur Bushaltestelle und fuhr zurück zur Coeur-Academy.   „Da bist du ja endlich wieder!“, rief Ariane vergnügt, als sie Laura im Flur des Mädchen-Gebäudes traf. „Hi.“, grüßte Laura sie und biss von einem belegten Brötchen ab, das sie sich zuvor noch in der Mensa geholt hatte. „Hat es so lange gedauert, bis du eine Zahnbürste gefunden hast?“, fragte Anne kritisch. Laura fiel ihre Ausrede erst jetzt wieder ein und natürlich hatte sie sich keine Zahnbürste gekauft. Öznurs Blick fiel auf das in Stoff eingewickelte Schwert und sie richtete ihre rot umrahmte Brille. „Das ist aber eine ganz schön große Zahnbürste.“ „Das ist keine Zahnbürste, das ist…“ Dieses Mal fiel Laura so schnell keine Ausrede ein und sie beschloss, den Mädchen einen Mix aus Wahrheit und Lüge zu erzählen. „Das ist ein Schwert, das mir meine Eltern vorhin geschickt hatten. Ich habe es eben bei der Postverwaltung neben dem Lehrerzimmer abgeholt.“ „Wahnsinn, deine Eltern schicken dir Waffen? Solche hätte ich auch gerne und keine Stiefmutter, deren Leben nur aus Shopping besteht.“, seufzte Ariane. „Was ist denn daran so schlimm?“, mischte sich Lissi ein. Ariane winkte ab und Öznur meinte: „Ist jetzt auch egal, wir müssen uns Umziehen. Ich will unbedingt beim Eröffnungstanz dabei sein. Angeblich kann die Schülervertretung jede x-beliebige Person auffordern.“ „Dann könnte Bennlèy also auch mich auffordern und dann werde ich mich so richtig an ihn kuscheln! Vielleicht küsst er mich am Ende sogar!!!“, quietschte Lissi. „Auf gar keinen Fall“, fuhr Laura sie an. Ariane überhörte Lauras fauchenden Ton. „Bennlèy?“ „Hihihi, ja. Das ist sein Kosename.“ „Boah ey, die hat ja nicht mehr alle Tassen im Schrank.“, flüsterte Anne Öznur zu, die zustimmend nickte. Kurz darauf verschwanden die Mädchen in ihren Zimmern, um sich für den Ball fertig zu machen. Kapitel 4: Erst das Vergnügen, dann die Arbeit ----------------------------------------------   Erst das Vergnügen, dann die Arbeit       „Hat jemand meinen Lipgloss gesehen?!“, schrie Lissi durch alle Räume und einige Schüler die vorbeikamen warfen irritierte Blicke in Richtung ihres Zimmers. „Oh, und meine Wimperntusche, die Kette mit dem Saphir, meine Bürste, die Zimtkaugummis und vielleicht meinen neuen BH?!“ „Oh Lissi. Du bist selbst schuld, wenn du deine Sachen verschlampst. Und denk daran, der Saphir war sehr teuer.“, seufzte Susanne. Sie hatte es offensichtlich noch nie leicht mit ihrer Zwillingsschwester gehabt. Lissi zog einen Schmollmund. „Ich verschlampe meine Sachen nicht! Ich verlege sie nur!“ Es war kurz vor dem Beginn des Balls und nach und nach versammelten sich die Mädchen in dem golden glänzenden Flur. Als erste waren Ariane und Janine fertig.  Ariane trug ein weißes Kleid, welches hinten im Nacken zusammengebunden war und ihr bis zu den Knien reichte. Dazu hatte sie weiße Lackschuhe mit kleinen Absätzen. Geschminkt war sie kaum und mit ihren Haaren hatte sie auch nichts groß angestellt. Janine hatte ein hellgelbes Sommerkleid mit blauen Blumen an, war gar nicht geschminkt und trug nur einen blauen Haarreif in ihren blonden Haaren. Warum sie kein richtiges Ballkleid hatte, hinterfragte niemand von ihnen. Sie konnten es sich dank Annes Aufklärung schon denken. „Hey, ihr beiden!“, grüßte Öznur sie freudig, gefolgt von Anne. Öznur sah in ihrem roten, langen und sehr figurbetonten Kleid unglaublich elegant aus. Ihre gelockten Haare hatte sie hochgesteckt und statt der Brille mühte sie sich mit Kontaktlinsen ab. Anne wiederum trug einen edel aussehenden grünen Hosenanzug, der unter Garantie maßgeschneidert war. Ansonsten hatte sie sich allerdings nicht sonderlich herausgeputzt. „Wann ist Lissi endlich fertig? Die braucht ja ewig.“, stöhnte Anne genervt. Auch Susanne kam zu der Gruppe. „Sie hilft Laura noch bei ihrer Frisur. Sie wollte sich eigentlich die Haare hochstecken, aber bei ihrer Haarpracht erwies sich dies als etwas schwierig.“ „Ach, Lissi hilft ihr?“, fragte Anne ungläubig. Wütend stemmte Susanne ihre Hände in die Hüften. „Na hör mal, Lissi hat zwar einen unglaublichen Dickkopf, aber das heißt nicht, dass sie egoistisch ist!“ Auch Susanne sah umwerfend aus. Sie trug ein elegantes rosafarbenes Kleid ohne Träger und ihre Haare waren wie immer offen, mit schönen, natürlichen Locken. „Juhuuuuuuu! Endlich fertig!“, rief Lissi und kam mit Laura im Schlepptau angestöckelt. Auch Lissi sah einfach nur atemberaubend aus. Sie trug wie ihre Schwester ein trägerloses Kleid, nur der Unterschied war, dass es dunkelblau und geschnörkelt war und deutlich mehr Dekolletee zeigte. Um ihren Hals trug sie eine Kette mit einem kleinen Saphir, die sie offensichtlich doch noch gefunden hatte. Man musste sich einfach immer wieder eingestehen, dass Lissi es blendend verstand, sich in Szene zu setzen. Sie brabbelte natürlich wieder sofort drauf los. „Ihr könnt euch nicht denken, wie kompliziert es ist, ihre Haare so bändigen zu können, dass es noch hübsch aussieht. Ich wusste am Anfang gar nicht, wohin damit! Mein Tipp: Nächstes Mal einfach offen lassen. Das passt eher zu so einer Löwenmähne. Hm, da fällt mir auf, sogar die Farbe passt…“ Laura schreckte bei ‚Löwenmähne‘ hoch. War das etwa eine Andeutung, dass sie es erfahren hatte? Nein... Lissi garantiert nicht. Und selbst wenn, dann hatte der Schwarze Löwe sicher nicht ihre Haare beeinflusst. Und die Farbe erst recht nicht. Lucia hatte damals genau die gleiche. Lauras schwarzes Kimoleid war um die Taille figurbetonter als ein Kimono und um die Beine herum eher wie ein bauschiger, knielanger Rock. Um ihrem Hals hing eine schwarze Kette mit einem Sichelmond, das Zeichen der Yami-Region. Laura musterte Lissis Experiment mit ihren Haaren im Spiegel. Eigentlich war ihr Lauras Frisur sehr gut gelungen, aber ihre Haare waren immer noch so lang, dass sie über ihre Schultern fielen. „Können wir jetzt endlich gehen?“, drängte Öznur die Gruppe. „Ja! Los, lasst uns feiern!“, rief Lissi begeistert, machte auf dem (hohen) Absatz kehrt und ging voran. Die anderen Mädchen folgten ihr. Laura warf noch mal einen Blick zurück in ihr Zimmer. Das Schwert konnte sie unmöglich mitnehmen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Sie musste es später, im Verlauf des Abends holen und dann Benni geben. Er ist garantiert immer noch sauer…, dachte Laura traurig.   Auf dem Weg zum Ballsaal, der abgelegen von den anderen Gebäuden auf dem Sportplatz lag, beobachtete Laura die anderen Schülerinnen. Sie alle trugen schöne, elegante Kleider. Die meisten Jungs wiederum hatten einfach nur ihre Schuluniform an und manche Ausnahmen trugen einen Anzug. Die haben keine Probleme mit: ‚Was ziehe ich an?‘, überlegte Laura und kam zu dem Entschluss, dass Jungs es in Sachen Abendmode deutlich leichter hatten als die Mädchen. Der Weg war trotz des fallenden Schnees komplett frei geräumt und zeigte das steinerne weiße Pflaster. Den Ballsaal, oder eher –Turm, konnte Laura schon aus weiter Entfernung erkennen. Er erstrahlte in einem warmen Lichtermeer und machte den schon stockdunklen Abend an dieser Stelle zum Tag. „Oooh, ich hoffe mein Bennlèy wird mit mir tanzen. Das wäre ein Traum.“, schwärmte Lissi vor dem Eingang. Öznur seufzte genervt. „Jetzt fang nicht wieder damit an! Weiß Gott, wen er auffordern wird.“ „Ich glaube eher eine aus der Schülervertretung.“, mischte sich Susanne ein. Laura starrte sie mit großen Augen an. „Wieso?“ Susanne zuckte mit den Schultern. „Na ja, er sieht mir nicht wirklich offen aus. Ich glaube nicht, dass er schon eine Freundin hat oder hatte, oder dass er einfach so irgendein fremdes Mädchen, das ihm sympathisch vorkommt, auffordert.“ Gut beschrieben. Laura schauderte. Ihr war Susannes Scharfsinn unheimlich. Und sie wirkte trotz ihrer Intelligenz weder eitel noch überheblich, im Gegensatz zu ihrer Schwester, die vor Selbstvertrauen nur so strotzte. „Abgesehen davon, dass Leute wie du eher erst einmal von solchen wie ihm umgangen werden.“, meldete sich nun auch Janine zu Wort. Lissi schnaubte. „Werden wir ja sehen. Wetten, dass ich heute Abend mindestens einmal mit ihm tanzen werde?“ Ariane sprang fröhlich in die Luft. „Ja! Lass uns wetten!“ Lissi grinste sie herausfordernd an und strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Um was? Kein Geld, das ist zu langweilig.“ „Na schön, um… hm… Ha! Ich hab’s! Der Verlierer muss in den ersten drei Schulwochen vorne sitzen, direkt vor dem Lehrerpult!“ „Die Wette gilt.“ Die Mädchen brachen in schallendes Gelächter aus und einige der Schüler sahen sie erst irritiert an, mussten aber dann doch grinsen.   Immer noch gut gelaunt traten sie in den Ballturm. Er ähnelte der Mensa, nur, dass er keine Treppen hatte. Man konnte in diesem riesigen Gebäude bis zur Spitze sehen, ihr aber in keiner Weise näherkommen. Und da war er. Mit einem Schlag konnte Laura nur noch in eine Richtung sehen. Die Schönheit des Saales verblasste in ihren Augen völlig und sie hatten nur noch Platz für einen. Benni stand bei der Schülervertretung und der Direktorin und hörte ihr abwesend zu, was sie zu sagen hatte. Das war mal wieder typisch er. Und da erwiderte Benni ihren Blick auch schon. Hatte er ihr rasendes Herz gehört? Oder wie sie sich mit den Mädchen draußen unterhalten hatte? Laura lief ein kalter Schauder über ihren Rücken. Sein Blick war derselbe, wie am Tag zuvor. Weder freundlich, noch böse. Einfach nur kalt. Hatte sie sich echt so bescheuert verhalten, dass er es ihr seit über einem Jahr noch übelnahm? Vorwerfen konnte sie es ihm eigentlich nicht. Sie hatte ihn noch nicht einmal die Sache erklären lassen und war einfach gegangen. Und als er ihr trotzdem noch zu Hilfe kam, war sie nicht gerade netter gewesen. „Laura?“, riss Ariane sie mal wieder aus ihren Gedanken. „Hä? Was? Wie?“ „Kommt es mir nur so vor, oder bist du echt in den eiskalten Engel verknallt?“ Laura wurde rot. „Nein! Und nenn ihn nicht so! Er ist kein eiskalter Engel!“ Die Mädchen sahen sich an. „Total verknallt.“ Laura grummelte genervt. „Lasst das.“ In diesem Moment wandte sich die Schülervertretung an die Schüler und es wurde sofort mucksmäuschenstill. Bennis ruhige Stimme füllte nun den ganzen Saal. „Herzlich Willkommen zu dem diesjährigen Neujahrsball. Bei dieser Feier werden die neuen Schüler offiziell in die Gemeinschaft der Coeur-Academy aufgenommen und bekommen die Gelegenheit, Bekanntschaft mit ihren Mitschülern zu machen.“ Nun fuhr die neue Schulsprecherin fort: „Wie sonst auch, beginnt die Schülervertretung mit dem Eröffnungstanz, bei dem alle Tanzpaare recht herzlich dazu eingeladen sind, mit einzusteigen.“ In der Schülermenge brach Applaus aus, dass sich schnell in ein angeregtes Murmeln verwandelte. Viele der Mädchen schienen so bald wie möglich tanzen zu wollen, während viele der Jungs beteten, so wenig wie möglich tanzen zu müssen. Laura beobachtete die Leute, die auf die Tanzfläche gingen. Erst kamen die ehemaligen Vertrauensschüler, die schon sehr vertraut wirkten. Die ehemalige Schulsprecherin zog einen Jungen aus dem dritten Jahr, höchst wahrscheinlich ihren Freund, auf die Tanzfläche und der ehemalige Schulsprecher kam auch mit einem Mädchen aus den Reihen der ‚normalen‘ Schüler. Die Vertrauensschüler gingen auch gemeinsam auf die Tanzfläche, wobei einige bei dem Größenunterschied kichern mussten, denn der Vertrauensschüler war viel kleiner als die Vertrauensschülerin. Laura faltete die Hände zusammen und betete, dass Benni zu ihr kommen würde. Doch sie wartete vergebens. Enttäuscht musste sie zusehen, wie er mit der Schulsprecherin auf die Tanzfläche ging. In diesem Moment hatte Laura das Gefühl, die Welt um sie herum würde in Flammen aufgehen und es blieb nur noch die einsame Asche übrig, auf der man sie allein ließ. Warum? Wieso hatte sie ernsthaft insgeheim diese Hoffnung gehabt, dass Benni doch sie auffordern würde?! Es war doch eigentlich klar gewesen, dass er ganz pragmatisch mit der Schulsprecherin tanzen würde. Also warum hatte sie dennoch gehofft?! Wie benommen stand Laura da, doch der Schmerz in ihrer Brust wurde zu stark. Sie löste sich aus der Gruppe und ging zu dem reichlich bedeckten Buffet. Eigentlich wollte sie nichts essen, aber trotzdem nahm sie sich eines der kleineren Häppchen. Von ihrer sicheren Seite beim Essen, beobachtete sie die anderen Mädchen. Sowohl Öznur als auch Lissi wurden sofort zum Tanz aufgefordert, kurz darauf auch Susanne. Laura wünschte sich auch so eine Anziehungskraft auf Jungs, aber das war noch nie so gewesen. „Hey, warum so mies gelaunt?“, fragte Ariane sie. Laura schreckte hoch. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Ariane gemeinsam mit Anne und Janine auch zum Buffet gekommen war. „Oh, ähm... nichts.“ Ariane legte ihren Kopf schief. „Du denkst doch nicht ernsthaft, dass ich dir das abkaufe, oder?“ „Äh... ich hab’s gehofft?“ Anne warf ihr einen drohenden Blick zu. „Sag doch einfach, was los ist.“ Laura wich eingeschüchtert zurück. „Oh Mann, Anne, hast du ’nen Knall? Wenn Laura es uns nicht erzählen will, dann lass sie doch einfach und mach ihr nicht solche Angst. Ist ja fast dämonisch.“, nahm Ariane Laura in Schutz. Dann wandte sie sich an diese. „Und was dich betrifft: Ich akzeptier ja, dass du deine Geheimnisse hast, aber wenn irgendjemand von uns dir helfen kann, dann musst du es uns auch sagen, okay? Selbst die Magier unter uns können keine Gedanken lesen.“ Laura schüttelte den Kopf. „Vielen Dank, aber… niemand kann mir helfen. Ich alleine bin dafür verantwortlich und muss auch alleine damit klarkommen.“ In dieser Sekunde hatte sie nicht nur an Benni gedacht, sondern auch an das andere Problem, dass ihr vielleicht nur noch vier Monate das Leben zur Hölle machen würde. Ariane seufzte: „So ist das nun mal...“ „Also… äh… Ich hab noch was vergessen.“, sagte Laura und lief zu der großen Tür. Verwirrt schauten die anderen drei Mädchen ihr nach. So schnell sie konnte rannte Laura über den Hof. Eiskalte Schneeflocken schlugen gegen ihr Gesicht und in kürzester Zeit schon begann Körper zu frieren. Die Abendsonne war gerade dabei, hinter den Bäumen zu verschwinden und tauchte das Schneeschloss in ein einerseits schönes, aber andererseits auch unheimliches orange. Mit der Sonne im Rücken ging sie durch die schmalen, märchenhaften Gassen am Lehrergebäude vorbei zum Mädchenwohnheim. Bei den Stufen rutschten Laura die Beine weg, und sie fing sich noch in letzter Sekunde an einer Säule am Treppenende auf, die nicht gerade warm war. Endlich im Gebäude, musste Laura erst einmal um Atem ringen. Ihre Ausdauer war schon immer grottig gewesen, doch heute war es noch schlimmer. Sie wusste nicht warum, aber die ganze Sache machte sie unglaublich nervös. Obwohl es doch etwas ganz Normales war, einem Freund zum Geburtstag zu gratulieren und sich nach einem Streit zu entschuldigen und wieder zu vertragen. Aber trotz allem hatte Laura Angst vor Bennis Reaktion. Würde er ihr überhaupt seine Aufmerksamkeit schenken? Oder würde er sie nur wieder mit diesem kalten, abweisenden Blick ansehen? Laura atmete tief durch und ging die sechzig Stufen hoch zu ihrem Zimmer, bei denen Öznur behauptete, sie würde sich nie dran gewöhnen. Ihre Schuhe mit den kleinen Absätzen hallten in dem goldenen Flur, den sie in schnellen und trotzdem zögernden Schritten entlangging. Endlich in ihrem Zimmer angekommen, fiel Lauras Blick sofort auf ihr Bett, auf dem sowohl das Schwert als auch das Buch noch in der Tüte lagen. Laura fischte das Schwert aus der Plastiktüte, dabei fiel auch das Buch für Carsten heraus. Traurig seufzte sie. Wie es ihm wohl ging? Kam er mit seinen Mitschülern aus? Immerhin waren die alle wirklich schwer erziehbare Jungs… Ob Benni etwas über ihn wusste? Vielleicht sollte sie ihn fragen, zumindest schien er irgendwie noch gelegentlichen Kontakt zu Carsten zu haben. Aber dafür müsste sie sich erst einmal bei ihm entschuldigen… in der Hoffnung, dass er mit sich reden ließe und ihr tatsächlich verzieh. Mit einem unguten Gefühl im Magen kam Laura zurück in den Ballsaal, wo Ariane sie schon ungeduldig erwartete. Kaum hatte Laura den Saal betreten, stürmte sie schon auf sie los. „Na endlich. wo warst du denn?“ Mal wieder entschied sich Laura, Ariane vorerst nicht die Wahrheit zu sagen. „Auf der Toilette.“ Ariane musterte sie kritisch und natürlich fiel ihr Blick sofort auf das Schwert. „Aha, und du hast dir gleich eine Ladung super dünnes Klopapier mitgenommen, oder wie.“, meinte sie sarkastisch. „Oder gibt es in Yami spezielle Rituale, bei denen man ein Schwert auf dem Klo braucht?“ „Nein! Das ist- äh…“ Nun fiel Laura keine Ausrede mehr ein. Natürlich musste Ariane bemerken, dass sie etwas verheimlichte. Das war inzwischen garantiert jedem aufgefallen, vielleicht sogar Lissi, die vermutlich schon mit dem zwanzigsten Jungen tanzte und herum flirtete. Ariane seufzte. „Du bist echt eine schwierige Erdbeere…“ „Wieso denn Erdbeere?“, fragte Laura verwirrt. Ariane lachte. „Weil Erdbeeren meine Lieblingsfrüchte sind! Neben Kirschen, Trauben, Bananen, Melonen oh und natürlich Äpfeln und…“ Ariane hätte sicher alle Früchte die es gab aufgezählt, wäre nicht Öznur zu ihnen gekommen. „Hey, ihr beiden. Warum steht ihr eigentlich hier so teilnahmslos herum? Ein Ball ist dazu da, neue Leute kennen zu lernen und nicht, um eine Festung namens Buffet einzunehmen.“ Ariane lachte. „Das kann ich auch noch im Unterricht machen. So lange der Burgherr nicht darauf aufpasst, ist es meine ritterliche Pflicht, die Festung mit Herz, Leben und Magen zu beschützen.“, erwiderte Ariane lachend. Öznur grinste. „Okay, aber jetzt Scherz beiseite. Kommt doch mal mit zu Susanne und Janine, die haben schon Freundschaft mit einigen aus unserer Stufe geschlossen. Anne hängt eben bei so Sportfreaks rum und Lissi… na ja, ich denke mal ihr seht’ s. Und ich hab mich mit diesem Maximilian unterhalten. Eigentlich ist der voll nett, aber trotzdem weniger mein Typ.“ „Ich bin für Susanne und Janine.“, entschied sich Ariane. Öznur nickte. „Hätte ich dir auch am ehesten geraten.“ Kurz bevor die beiden gehen wollten, drehte sich Ariane noch zu Laura um. „Kommst du nicht mit?“, fragte sie verwundert. Laura schüttelte den Kopf. „Ich ähm… hab was Anderes vor.“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Na dann, viel Spaß. Aber komm bitte um Mitternacht zurück, denn dann will ich schlafen. Wenn nicht, dann sei wenigstens leise und gröhl nicht betrunken herum.“ Laura lächelte verunsichert. „Ich habe sowieso nicht vor noch allzu lange zu bleiben. Solche Abendgesellschaften sind einfach nicht mein Ding.“ Amüsiert lachte Ariane auf. „Kann ich gut verstehen. Also, bis später.“ Die beiden Mädchen winkten ihr noch kurz zu, dann waren sie auch schon in den Schülermassen verschwunden. Laura kam Öznur gerade recht. Aber nun hatte sie ein anderes Problem. Wie sollte sie Benni denn in diesem ganzen Gewusel finden? Eigentlich stach er durch sein strahlend helles Haar und seine irgendwie unheimliche Ausstrahlung besonders heraus, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Große Menschenmassen mied er eigentlich so gut es ging, das war Laura klar. Aber wo sollte er denn sonst sein? Früh ins Bett gehen sah ihm auch nicht ähnlich. Also blieb ihr nur noch der eisige Campus. Schon allein beim Gedanken fröstelte es Laura und eine Gänsehaut überzog ihre vom Kimoleid bedeckten Arme. Aber ihr fiel kein anderer Ort ein. Fast automatisch, als wäre eine andere Kraft am Werk, richtete sich ihr Blick auf die Terrassentür auf der anderen Seite des Ballsaals. Ohne zu registrieren, was sie da tat, liefen ihre Beine zielgerade auf diese Tür zu. Da war wieder dieses flaue Gefühl im Magen. Ein metallischer Geschmack war nun auf ihrer Zunge, den sie nicht einfach runterschlucken konnte. Ihr ganzer Körper zitterte schon, bevor sie die Glastür öffnete und sie der eisige Wind samt seiner Schneeflocken umtanzte. Von selbst fiel die Tür wieder in die Angeln und Laura fühlte sich, wie ganz allein in der Welt. Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Körper und versuchte, nicht mit den Zähnen zu klappern. Der Wind sang zwischen den Bäumen sein eigenes Lied, ganz anders, als die Musik, die aus dem Ballsaal dröhnte. Laura mochte diese Melodie nicht. Sie erinnerte sie an das Leiden der Menschen, die durch den bitter kalten, erbarmungslosen Winter ihren Tod fanden. Warum sie das so empfand, wusste Laura selbst nicht. Durch den Schwarzen Löwen verband sie so vieles mit Leiden und Tod. „Was willst du hier?“, hörte Laura eine bekannte Stimme fragen. Sie klang so kalt wie der Wind, der immer noch seine Pirouetten um sie drehte und gleichzeitig so stechend wie die eisigen Flammen, die sich in ihre Haut brannten. „Ähm… ich…“ Mehr brachte Laura nicht zu Stande. Ihr Herz fühlte sich leicht und fröhlich, und schwer und verlassen zur gleichen Zeit an. Laura atmete tief durch und setzte wieder an. „Ich wollte nur-“ „Geh wieder rein.“ Trotz des Gegenwindes konnte Laura Bennis Stimme klar und deutlich hören. Deutlicher, als ihr lieb war. Hörte sie wirklich diesen Hass in seiner Stimme, oder war sie einfach zu aufgeregt, sodass es ihrer Fantasie ein leichtes war, sie noch mehr zu verunsichern? Stur schüttelte Laura den Kopf. „Bitte hör mir doch wenigstens zu!“ „Wieso?“ „Weil…“ Darauf wusste Laura keine Antwort. Ja, wieso sollte er, wenn sie sich damals auch geweigert hatte, ihm zuzuhören? „Ich kann verstehen, dass du sauer bist… aber… muss das wirklich so weitergehen? Ich weiß, dass ich nicht fair dir gegenüber war, aber das war schon über ein Jahr her. Denkst du nicht, es reicht?“ Von Bennis Seite kam keine Antwort. Laura lachte. Es war ein verzweifeltes, fast hysterisches Lachen. „Seit wann bist du so nachtragend?“ Wieder antwortete Benni nicht. Laura schwitzte und zitterte zur gleichen Zeit. „War ich wirklich so… grausam?“ Immer noch war keine Antwort von Bennis Seite zu hören. Nur der tosende Wind. Laura rieb sich fröstelnd die Arme. „Bitte… Sag doch etwas!“ Es klang mehr wie ein verzweifelter Hilfeschrei, was Laura eigentlich nicht beabsichtigt hatte. Sie merkte, dass es keinen Sinn haben würde. All ihre Versuche würden nichts bringen. Könnten rein gar nichts ausrichten. Sie hatte ihre Chance bei Benni verspielt. Und daran war nur ihre verfluchte Emotionalität schuld! Verzweifelt kämpfte Laura mit den Tränen. Sie wollte nicht vor Benni weinen. Nein, nicht vor ihm. Und schon gar nicht wegen ihm. Laura erschrak, als sie einen knirschenden Schritt im Schnee hörte. Nun erkannte sie Bennis Silhouette. Die Haare wurden vom Wind zerzaust und das offene Jackett folgte dem Tanz der Schneeflocken. „Ist es dir wirklich so wichtig?“, fragte er mit seiner ruhigen Stimme. Laura nickte. „Oder versinkst du nur in Selbstmitleid?“ Laura blickte verwirrt auf. So eine Frage hätte sie von Benni nicht erwartet. „W- Wie meinst du denn das?!?“, fragte sie ihn planlos. „Möchtest du wirklich wieder Frieden? Oder bist du es nur leid, deine neuen Freunde anzulügen?“ Nun verstand Laura ihn. Er dachte, sie würde den Mädchen nur nicht erzählen, dass sie und Benni sich kannten, weil es ihr peinlich wäre ihnen dann auch von dem Streit berichten zu müssen. „Dass du mir überhaupt so etwas zutraust!“, rief Laura empört und ballte die Hände zu Fäusten. „… Ich hatte ganz vergessen, wie sensibel du bist.“ „Was?!? Jetzt hör mal Benni, wenn du dich eh nur über mich lustig machst, dann sag mir doch gleich, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst!“ Laura schrie nun fast. Sie wollte nicht wahrhaben, dass Benni im Grunde genommen recht hatte und dass er sie wohl aus seinem Leben gestrichen hatte. Benni seufzte. Es bedeutete wohl so viel wie: Du hast dich kein Bisschen verändert. „Das habe ich nicht gesagt.“, entgegnete er. „Wie meinst du das? Heißt das, du bist nicht mehr sauer?“, fragte Laura und ein kleiner Funken Hoffnung kam wieder zurück. „Habe ich das je behauptet?“ Laura sah ihn ungläubig an. „Wie jetzt? Warst du etwa überhaupt nicht sauer auf mich?“ „Das hast du gesagt.“ Laura wurde aus Bennis Aussagen nicht schlau. War er nun sauer oder nicht? Nervös zwirbelte sie an einer Strähne. „Red doch mal Klartext, ich versteh rein gar nichts!“ „Ich habe dir deinen Wutausbruch nie verübelt.“, entgegnete Benni tonlos. „Das heißt, wir werden wieder Freunde?!?“ Laura fiel ein Stein vom Herzen. Doch darauf antwortete Benni nichts. Laura senkte die Schultern. Er war schon immer sehr schweigsam, nur dummer Weise war sie zu pessimistisch, um diese Art der Antwort als ein ‚Ja‘ zu deuten. „Ach so…“ Laura fiel das Schwert wieder ein. „Das ist für dich.“ Ihre Hände zitterten, als sie Benni den Stofffetzen entgegenhielt, der sofort von kleinen Flocken bedeckt wurde. „Alles Gute zum Geburtstag…“ Mit seiner linken Hand nahm Benni das Schwert und wickelte den Stoff ab. „Woher hast du das?“, fragte er und Laura hatte das Gefühl, einen Funken Bewunderung zu hören. „Aus einem Antiquitätengeschäft. Du kennst doch noch Nicolaus, oder?“, antwortete Laura. Benni nickte und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Als könnte er auch den Weihnachtsmann vergessen, dachte Laura und musterte die Silhouette, deren Gesicht nur schwach von den Lichtern des Ballturms beleuchtet wurde. Sie konnte weder eine Regung in seiner Mimik, noch sonstige Reaktionen von ihm erkennen. Er war ein einziges Rätsel für sie. „… Gefällt es dir?“, fragte Laura verunsichert. Sie hätte schwören können, Benni leicht nicken zu sehen. „Danke.“, entgegnete er nur. Laura hatte das Gefühl, dass er nichts mehr zu sagen hatte, oder eher, nichts mehr sagen wollte. Das wollte er genauer gesehen so gut wie nie. Daher wären auch alle anderen Versuche, noch ein Gespräch mit ihm anzufangen vergebens. „Ähm… also… ich geh dann mal wieder rein.“, meinte sie. Benni nickte. „Okay… ähm…also dann … bis… irgendwann mal…“ Laura wusste nicht, wie sie das Gespräch hätte anders beenden sollen. Benni drehte sich um und wollte gehen. Kurz wandte er sich noch einmal zu Laura. „Schlaf gut.“, sagte er auf Japanisch. Dann ging er und die Nacht schien ihn verschluckt zu haben.   Eine Weile blieb Laura noch regungslos stehen. Ihr Herz musste kurz Auszeit nehmen nach dem, was es gerade hatte durchmachen müssen. Für Bennis Verhältnisse hatte er sich schon recht normal verhalten. Nur das ‚schlaf gut‘ am Ende hatte sie aus der Fassung gerissen. Damals war es schon normal, dass Benni sich abends so von ihr verabschiedete, aber dass er das immer noch sagen würde? Wieder blies Laura ein eisiger Wind ins Gesicht und sie entschied sich, endlich rein zu gehen. Im Endeffekt erkältete sie sich noch. Neugierig warf sie einen Blick auf die Uhr. Nur noch eine halbe Stunde bis Mitternacht. Ariane wollte ohnehin bald ins Bett gehen und so müde wie Laura war, war sie nicht sonderlich abgeneigt auch jetzt schon zu gehen. Sie durchquerte den Ballsaal. Die Schüler schienen immer noch kaum weniger geworden zu sein. „Süße! WO WARST DU?!?“ Laura hätte sich nicht umdrehen müssen, um zu erkennen, wer da mit ihren High Heels auf sie zu gestöckelt kam. „Auf der Terrasse. Und jetzt gehe ich ins Bett.“, antwortete Laura und wollte gehen. Auf Lissi hatte sie nun wirklich keine Lust. „Jetzt schon? Ach Lauch! Die Party hat noch nicht mal richtig angefangen!“, entgegnete Lissi und wollte sie von dem Holztor wegziehen. Laura, die für ihr zierliches Äußerliches eine überraschende Kraft hatte, befreite sich aus Lissis Klammergriff. „Nein danke, ich bin müde. Und außerdem: Morgen haben wir zum ersten Mal Unterricht. Da will ich immerhin etwas schlafen.“ Lissi seufzte. „Du wirst ganz schön was verpassen, Schätzchen.“ „Ach, ich denke, Laura wird’s überleben.“ Erleichtert sah Laura Ariane an, die auf sie und Lissi zukam. „Nicht du auch noch, Nane-Sahne! Wollt ihr wirklich gehen? Man, seid ihr Langweiler! Genauso, wie meine Schwester, Ninie und Anni-Banani! Na ja, egal. Viel Spaß im Traumland.“ Wütend stapfte Lissi davon. „Ups, wir sind wohl doch nich die ersten, die gegangen sind.“ Ariane lachte. „Die arme Lissi. Vielleicht sollten wir doch noch nicht gehen.“, meinte Laura und senkte mitleidig den Kopf. Ariane sah sie schräg an. „Wie meinst du das denn?“ „Na ja… Wenn wir sie so ganz alleine lassen… das wäre doch nicht fair.“ Ariane schüttelte den Kopf. „Die und alleine?“ Sie zeigte auf die Tanzfläche, auf der Lissi nun schon wieder mit einem anderen Jungen tanzte. „Wenn die so weitermacht, hat sie bald alle Typen auf dieser Schule durch. Fehlt nur noch der eiskalte Engel, aber der ist wie vom Erdboden verschluckt. Das heißt so viel wie: Lissi muss vorne sitzen!“, rief Ariane gut gelaunt und zerrte Laura aus dem Ballsaal. „Hast wohl Recht.“ Laura lachte. „Hab ich das nicht immer?“ Ariane zog Laura regelrecht über den frei geräumten Weg, an den Sportplätzen vorbei, durch die kleinen Gassen, die nun durch einige Laternen, die an den Gebäuden hingen, freundlich erhellt wurden und schließlich rein in das Mädchen-Wohnheim. Erst dort ließ sie Lauras Ärmel wieder los. „Sag mal… Du bist ja so kalt wie der Tod! Warst du die ganze Zeit auf der Terrasse?“ Natürlich. Als wäre Ariane das nicht aufgefallen. Stumm nickte sie zur Antwort. „Wehe du holst dir eine Erkältung ein und ich muss alleine mit Lissi und Anne in den Unterricht! Dann kannst du was erleben.“, drohte Ariane ihr, als sie die Treppen zu dem Stockwerk der ersten Stufe hochgingen. Laura grinste. „Was würdest du denn tun, wenn es so wäre?“ „Das willst du nicht wissen. Es wird nichts Schönes, falls du das denkst.“ Als wäre das Lauras Stichwort, überkam sie ein starker Hustenanfall. Ariane seufzte. „Da haben wir den Salat. Was hast du denn da draußen überhaupt gemacht?“ Laura atmete tief durch und räusperte sich. „Nichts. Nur in die Dunkelheit geguckt.“ Ariane schüttelte den Kopf und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. „Vampirchen. Das Licht der Sonne ist tausendmal schöner.“ „Nö, find ich nicht. Sonnenanbeter.“ Laura zuckte mit den Schultern. Ariane sah sie schräg an und begann kurz darauf los zu lachen. „Das gibt’s nicht! Ernsthaft, wir sind so verschieden wie Licht und Finsternis!“ Laura bekam ein mulmiges Gefühl. Wenn Ariane es doch herausfand? Nein, ganz sicher nicht. Sie musste nur besser aufpassen. Viel besser. Dann würde sie in ihren letzten vier Monate verschont bleiben. „Wer soll zuerst ins Bad?“, fragte Ariane, nach dem sie sich wieder halbwegs eingekriegt hatte. „Mach du, ich wollte eigentlich noch daheim anrufen.“, antwortete Laura. „Um Mitternacht?“, fragte Ariane verdutzt und holte ein weißes Handtuch mit roten Punkten aus ihrem Schrank. „Oh, stimmt ja. Mist. Ich hatte es gestern schon vergessen.“, ärgerte sich Laura. Wegen dem Tod ihrer Geschwister war ihre Mutter immer sehr besorgt um sie. Sie hatte Laura gebeten, immer wenn es ihr möglich war, zu Hause anzurufen und ihr zu sagen, dass es ihr gut ging. Ariane zuckte mit den Schultern. „Morgen ist auch noch ein Tag.“ Laura nickte. Ihr blieb wohl nichts Anderes übrig. Als Ariane im Bad verschwand kramte Laura ihr Handy heraus… und stutzte. 31 Anrufe in Abwesenheit und mehrere neue Nachrichten. Um ihren Anrufbeantworter abzuhören war sie zu müde. Daher las sie nur die Nachrichten durch. Die erste war von ihrer Mutter.   Iallo schatz, ich weis, dasr du dhe neue schuje und umgebung garantiert ganz toll findets, aber ruf mich doch bittd bald an. hab dibh lideab.   Laura seufzte. Ihre Mutter hatte so einige Probleme, was das SMS schicken betraf. Besonders mit der Tastatur am Handy kam sie nicht klar. Die zweite SMS war wieder von ihrer Mutter.   Laura, lieblimg, bitse ruf doch an oder rcheibe mir eind sms. ibh mache mis grose sorhen.   Seufzend drückte Laura auf löschen. Als würde sie das wirklich interessieren. Die nächste SMS war von Rebecca und endlich mal etwas Lesbares.   Hi Laura. Deine Mutter macht sich große Sorgen, sie hat eben bei mir angerufen und mir die Ohren voll geredet! Schreib doch jedenfalls mal zurück. Und jetzt sag nicht, dass du dein Handy vergessen hast! Das wäre mal wieder so typisch für dich! Viel Spaß noch in Cor. ;)   Wieder löschte Laura die SMS. Ja, sie hatte ihr Handy auf stumm geschaltet und natürlich nie drauf geschaut. Das kam also davon. Laura schluckte einen Kloß herunter. Diese SMS kam nun von ihrem Vater. Wenn der mal was schrieb… Moment, das hatte er noch nie getan. Dass er überhaupt ihre Handynummer hatte wunderte Laura.   Junge Dame. Wenn Du nicht unverzüglich anrufst, wird es das erste und letzte Mal sein, dass wir Dich ohne Begleitung aus dem Hause gehen lassen. Deine Mutter macht sich große Sorgen und denke daran, dass es unhöflich ist, jemanden warten zu lassen. Ich hoffe, bald von Dir zu hören.   Laura stieß einen leisen Fluch aus. Das musste jetzt natürlich passieren. Ihr Vater würde die Drohung höchst wahrscheinlich nicht wahrmachen, aber trotzdem musste sie aufpassen. Sie entschloss sich ihrer Mutter eine Nachricht zu schicken, in der Hoffnung, dass das ausreichen würde.   Hallo O-Kaa-sama. Mir geht’s gut, wirklich. Du musst mich nicht täglich anrufen oder so. Ich komme super zurecht. :D Mit meiner Zimmergenossin versteh ich mich prima und ich hab auch schon andere nette Mädchen getroffen. Also keinen Grund zur Sorge. ;) Gestern war nichts groß los und heute war ich mit einigen Mädchen in der Stadt. Übrigens ist Frau Sultanas Tochter, Anne, auch auf der Coeur-Academy. Wie verstehen uns gut. :D Eben war ich auf dem Willkommensball und konnte dich daher nicht anrufen. Es tut mir so so so so so so schrecklich leid! Wirklich! Wie wäre es, wenn ich dich jeden zweiten Tag anrufe? Wäre das ok? (Morgen ruf ich natürlich noch mal an ;) ) Also, bis morgen. Hab dich lieb, Laura. Ach so, ich hab übrigens Benni wieder getroffen ;D   Laura hielt kurz inne und löschte den letzten Satz. Ihre Mutter würde es hundertprozentig ihrem Vater erzählen und der hatte ein großes Problem damit Benni zu akzeptieren. Warum genau konnte sich Laura nicht erklären. Aber die beiden konnten sich einfach nicht über den Weg laufen, ohne dass ihr Vater ihn mit überspitzter Höflichkeit ansprach, oder Benni ihm einen abweisenden, kalten Blick zuwarf. Dieser war noch kälter, als der, den Laura zu spüren bekommen hatte. Seufzend verschickte Laura die Nachricht und legte ihr Handy weg. In diesem Moment kam Ariane aus dem Badezimmer. „Also, du kannst jetzt.“ Laura nickte und ging ins Bad. Die Dusche taute ihren regelrecht eingefrorenen Körper wieder auf und wusch das Haarspray, von dem Lissi tonnenweise Gebrauch gemacht hatte, aus ihren total vom Wind verzottelten Haaren. Komplett trocknen wollte sie sie nicht mehr, also föhnte sie nur so lange, bis jedenfalls die Haare am Ansatz trocken waren. Als sie dann endlich fertig fürs Bett war, schlich Laura wieder zurück ins Zimmer. Ariane schlief schon tief und fest. Laura stolperte im Dunkeln ins Bett und war froh, es sich endlich zwischen den weichen Kissen und Decken gemütlich zu machen. Ärgerlich fiel ihr wieder ein, dass sie Benni eigentlich noch nach Carsten hatte fragen wollen. Bedrückt atmete sie aus und musste sich selbst davon überzeugen, dass das auch noch bis morgen Zeit hatte. Dennoch hielten die Gedanken an ihren besten Freund sie noch eine ganze Weile wach. Sie vermisste ihn so sehr… Kapitel 5: Ein Traum von Freiheit ---------------------------------   Ein Traum von Freiheit       Ein krächzender, lauter Trompetenton ließ Carsten hochschrecken. Schlaftrunken rieb er sich die Augen und mühte sich aus dem Bett. Es war vier Uhr morgens. Das grenzte schon an Menschenrechtsverletzung! Schlecht gelaunt stieg er aus dem harten, ungemütlichen Bett und schlurfte in das kleine Badezimmer. Übermüdet stützte er sich am Rand des ehemals weißen, nun verkalkten Waschbeckens ab. Seine Hände hatten immer noch die Schürfwunden von vor einer Woche, als er mit einigen anderen Schülern Steine für irgendeinen Bau hatte schleppen sollen. Da er sie nicht desinfizieren konnte, weil es hier keine Krankenzimmer oder ähnliches gab, hatten sie sich entzündet und begannen sofort zu brennen, als er den Wasserhahn öffnete und das Wasser mit unnormal hohem Druck raus geschossen kam. Eigentlich hätte er sich schon an so einen Tagesbeginn gewöhnen müssen, aber es war von Tag zu Tag eine neue Qual. Mit den nassen Händen wischte er sich die Stirn ab. Auch sie hatte noch einige Kratzer von den kleineren Steinen, die nicht zum Schleppen sondern zum Werfen benutzt wurden. Dass die Lehrer nie einschritten… war normal. Leider Gottes.  So sah Carsten schon seit sechs Jahren aus. Immer irgendwo verwundet. Nur die drei diagonal über seine Nase verlaufenden Narben waren die einzigen Wunden, die nicht aus dem FESJ stammten, sondern von einem Unfall mit dem Schwarzen Löwen. Er hatte, wie sonst auch, tiefe Augenringe unter seinen lila Augen, war abgemagert und so blass wie der Tod. Wenn er das nicht selbst bald war. Nein, sterben würde er wahrscheinlich nicht. Aber es würde keinen großen Unterschied mehr machen. Dieses Loch war ein Etwas voller Kummer, Verzweiflung und vor allem Hass. Hass auf alles Legale, auf normales und auf anderes. Erst das eiskalte Wasser, welches wohl dieselbe Temperatur wie außen hatte, ließ Carsten richtig aufwachen. Schnell trocknete er sich ab und zog die trostlose, graue Uniform an, die an Gefängnisanzüge erinnerte. Auf dem Nachttisch lag die Kette mit dem ID-Anhänger. Nichts weiter als ein ovales Metallplättchen, auf dem sein Name, eine Nummer, stand. Hier hieß er nicht Carsten Crow Bialek, sondern Nummer 7984. Diese Kette musste er sich, so wenig Lust er darauf auch hatte, umlegen. Nur kurz schüttelte er seine vom Schlaf zerzausten pechschwarzen Haare, die ihm bis zum Ende des Halses reichten, da zum Kämmen nie Zeit bleib. Er war sowieso schon spät dran. Carsten eilte aus seinem winzigen Einzelzimmer und folgte den übrigen Schülern in den Hof des Militärinternats. Dort wartete bereits ungeduldig der Direktor für den Morgenappell. Um zehn nach vier. „So, da die letzten Schüler auch endlich 34 Sekunden nach dem eigentlichen Beginn eingetrudelt sind, können wir beginnen. Nummer 7591…“ Nacheinander rief der Direktor mit seiner rauen, krächzenden Stimme alle Schüler auf. Diese standen auf und bekamen ihre Anweisungen für den heutigen Tag. Und aufgrund der hohen Anzahl der Schüler dauerte das eine Ewigkeit. „Nummer 7984!“, krächzte der Direktor durch das alte Mikrofon. Mühsam stand Carsten auf. Stühle gab es natürlich nicht auf dem Hof, also durften sich die Jungs in den schönen weißen Schnee setzten. Aber das war das einzige, dass sie von der Außenwelt noch hatten. „Sie helfen heute Morgen wieder in dem Steinbruch. Nach dem Unterricht übernehmen Sie den Küchendienst für Abteil B und am Abend müssen Sie in die Metallfabrik.“ Küchendienst! Immerhin etwas! Auch Carstens Mitschüler aus Abteil B (in diesem Abteil lebten alle ungeraden Zahlen) schienen erleichtert. Denn wenn Carsten kochen musste, dann war es essbar und auch leckerer, als wenn das irgendwelche Lehrer übernahmen. Carsten hatte schon immer eine Leidenschaft für Kochen und konnte das auch sehr gut. Jedenfalls laut den anderen. Auf dem FESJ war es das einzige, was wirklich Spaß machte, wobei die Zutaten zu wünschen übrig ließen. Mit hängenden Schultern folgte Carsten seinen Mitschülern in den Steinbruch nördlich des Wohnheims des FESJ. ((Internat)- für erziehungsschwache Jungs) Alles sah so aus wie immer. Der graue Betonboden wurde von dem schmutzigen Schnee verdeckt, welcher auch die Mauer mit dem Stacheldrahtzaun, die sie von der Außenwelt absperrte, bedeckte. Pflanzen gab es in diesem Metall- Beton Gefängnis nicht. Alles war grau und wirkte erdrückend. Carsten nahm sich eine der alten, schon längst abgenutzten Spitzhacken und begann, Steine von der Felswand abzuklopfen, die zu einem hohen Berg wurde, an dessen Spitze wieder die Mauer mit dem Stacheldrahtzaun entlanglief. Carsten zuckte zusammen, als ein Stein seinen Hinterkopf traf. Genervt drehte er sich um. Vor ihm standen drei lachende Jungs, alle mindestens ein Jahr älter als er. „Na, Indigoner-Bubi? Hat’s aua gemacht?“, sagte der Junge ganz rechts. Er hatte ganz kurzes, braunes Haar. Daran erkannte man, dass er hier neu war, denn bei der ‚Einlieferung‘ bekam man die Haare nahezu kahlgeschoren. Carsten ignorierte ihn und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Doch das half nichts. Dieses Mal traf der Stein seinen Rücken, auf dem auch noch einige, nicht verheilte Wunden waren. „Habt ihr nichts Besseres zu tun?“ Carsten kannte die Antwort schon, auch wenn er fragte. Es hatte keinen Sinn, sich irgendwie aufzuregen. Der Junge in der Mitte lachte schadenfroh. Seine orangenen Haare waren recht lang, dafür, dass er erst seit einem und einem viertel Jahr hier war. „Nein, haben wir nicht.“ Das hatte Carsten sich schon gedacht. Aber was konnte er tun? Nichts. Ihm blieb nichts weiter übrig, als sie zu ignorieren. „Was haste denn? Hat dich der Schnee eingefrorn? Du bis einfach nich gemacht für diese Welt. Kleiner Schwächling.“, blaffte der orangehaarige. „Sehr witzig, 9510.“, entgegnete Carsten nur und versuchte sich nicht weiter ablenken zu lassen. So schwach war auch nun wieder nicht. Aber drei gegen einen? Total fair. „Hey, Spaßt! Hör mir gefälligst zu!“, rief 9510, packte Carsten und schlug ihm mitten ins Gesicht. Einige Schüler, die das mitbekommen hatten, hörten mit ihrer Arbeit auf und beobachten lachend, wie Carsten zurücktaumelte und sich etwas Blut von der Nase wischte. Unsanft packte 9510 ihn am Kragen. „Mich einfach so zu ignorieren! Ich werd dir schon Maniern beibringn!“, schrie er, schlug Carsten mehrmals ins Gesicht und stieß ihn schließlich mit dem Kopf gegen die Steine, die sie eigentlich bearbeiten sollten. Carsten fasste sich an die Schläfe. Blut lief an seinem Auge vorbei, über die Wange und tropfte von seinem schmalen Kinn auf den Hals hinunter. Wieder setzte 9510 zum Angriff an. Aus Reflex duckte sich Carsten und 9510s Faust traf auf die harten, vereisten Steine. „Pff, na guat. Für heut lassn wir’s.“, meinte er, rieb sich seine Hand mit den neuen Schürfwunden und verschwand mit seinem Gefolge. Carsten stützte sich an einem Vorsprung ab und mühte sich wieder auf die Beine. Da kam der Aufseher. „Was zum Teufel geht hier vor sich!?!“, brüllte er und blieb direkt vor Carsten stehen. „Aha, wie ich sehe, setzt sich da jemand lieber hin, als seine Arbeit auszurichten. Nun denn, komm bitte mal mit. Ich werd dir den Ehrgeiz schon einbrennen.“ Das kann doch nicht wahr sein! In Gedanken stieß Carsten einen Fluch aus, aber ihm blieb nichts weiter übrig, als dem Aufseher zu folgen. Die Wahrheit interessierte den sowieso nicht. Gerechtigkeit gab es hier nicht. Carsten ging wie immer mit zwei Metern Abstand hinter dem Aufseher her. Dieser bog in den Strafraum ein, welchen die Schüler Folterkammer getauft hatten. Er holte ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber aus einer Schublade welche in eine der Wände neben einer eisernen Jungfrau, die da angeblich nur zur Zierde stand, eingebaut wurde und kritzelte etwas drauf. Dann schob er es Carsten zu. „Bitte hier einmal unterschreiben.“ Carsten warf einen Blick auf das Blatt, aber es war überflüssig. Er wusste bereits was da stand.   7984 hat sich während des Sozialdienstes unerlaubt von seiner Arbeit abgewandt. Daher erteile ich, Aufseher Torsten Lothar Zanotiw ihm die Strafe „Brandkessel“. Torsten Lothar Zanotiw Unterschrift des Aufsehers                                                             Unterschrift des Schülers   Seufzend nahm Carsten den Kugelschreiber in die verkratzte Hand und unterschrieb mit seinem Nummernamen. Grinsend zog der Aufseher das Blatt weg und verstaute es in seiner Westentasche. „Nun denn, bereit?“, fragte er und Carsten konnte die Schadenfreude regelrecht spüren. Dieser Sadist schien es zu lieben, wenn seine Schüler das gerade aus dem Ofen kommende Metall auf den Rücken gepresst bekamen. Widerwillig nickte er. Was sollte er auch sonst machen? Abhauen war keine schlaue Alternative. Er folgte dem Aufseher durch die linke Tür, die in einen kochend heißen Raum führte. Dafür wurde die Wärme natürlich benutzt. Für die Strafen. Und nicht für eine mal angenehme Dusche. Der Aufseher drehte eine Zange zwischen seinen Fingern. „Zieh dein Oberteil aus.“, befahl er Carsten. Dieser gehorchte. Auch über seiner Brust und auf seinem Rücken waren mehrere Kratzer. Doch die sollten nicht alleine bleiben. Carsten beobachtete, wie der Aufseher ein ungefähr kopfgroßes Metall aus dem Ofen holte und kniff bei dem Anblick dieses rot glühenden Horrors die Augen zusammen. „Umdrehen.“, sagte der Aufseher belustigt und schien sich bereits auf das Kommende zu freuen. Wieder gehorchte Carsten. Ohne irgendeine Vorwarnung, stemmte der Aufseher das Metallstück gegen Carstens Rücken. Sofort breitete sich ein brennender Schmerz in Carstens Körper aus. Ein Schmerz, der ihm den Atem raubte, ihn komplett zu übernehmen schien. Ein unmenschlicher Schmerz. Er nahm Carsten alle Hoffnung und Träume an die Zukunft. Gab ihm das Gefühl, ganz allein auf dieser Welt zu sein. Ein Nichts. Ein Haufen Elend. Schmerzverzerrt biss sich Carsten auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Nein, er würde nicht schreien. Diesen Triumph gönnte er dem Idioten nicht. Nach fünf endlosen Sekunden befreite er Carsten von dem glühenden, unmenschlichen Etwas. Das war weg, doch es hinterließ diesen stechenden Schmerz und den widerlichen Gestank verbrannter Haut. Carsten sackte auf die Knie. Er versuchte zu atmen und dabei einen Würgereflex zu verhindern. Ihm war kotzübel. Und das Metallteil schien auch nicht wirklich weg zu sein. Es war immer noch da, um seinem Rücken weiter zu schaden. Beinahe hätte sich Carsten vergewissern wollen, ob es wirklich in dem Eimer mit Eiswasser lag und zufrieden mit seiner Tat vor sich hin zischte. „Los, aufstehen. Und dass du mir dieses Mal nicht auf die Idee kommst, zu faulenzen.“ Unsanft zog der Aufseher Carsten wieder auf die Beine und warf ihm sein Oberteil zu. Benommen zog Carsten es über und versuchte dabei, nicht an der frischen Wunde zu scheuern, was sowieso keinen Sinn machte. Es würde garantiert fünf Monate dauern, bis er das Brennen nicht mehr spürte. Wenn er nicht etwas nachhelfen würde… Aber das war verboten. „Auf, an die Arbeit!“ Der Aufseher stieß Carsten nach vorne und traf natürlich genau die Brandwunde. Carsten funkelte ihn aus den Augenwinkeln noch mal an und verschwand dann taumelnd aus der Folterkammer. Er war einfach zu feige, sich Befehlen zu widersetzen. Er konnte sich einfach nicht rebellisch verhalten, auch wenn sein bester Freund in diesem Fach ein Meister war. Da fiel ihm ein Zettel in seiner Hosentasche ein. Er hatte es gestern völlig vergessen! Schnell rannte er wieder in die Folterkammer, wobei er Mühe hatte, nicht gleich umzukippen und reichte dem Aufseher den Zettel. „Hm, na gut. Aber denk dran, nur zwanzig Minuten. Und danach geht es sofort zur Arbeit!“ Seufzend nickte Carsten und rannte in das Hauptgebäude des FESJ, zu den Telefonzellen. Er brauchte jetzt einfach mal eine Abwechslung von diesem hoffnungslosen Alltag. Wollte einfach mal von etwas anderem hören als nur Arbeit und Strafe. Er tippte die Nummer ein und nach noch nicht einmal zwei Sekunden wurde auf der anderen Seite der Hörer abgenommen. „Danke. Du hast meinem Wecker die Arbeit erspart.“, meldete sich eine sarkastische und trotzdem ruhige Stimme am anderen Ende der Leitung. „Entschuldige, habe ich dich geweckt?“, fragte Carsten und bereute seinen Anruf fast. „Hab ich dir doch gesagt.“ Die Stimme klang nicht vorwurfsvoll und auch nicht verschlafen, aber das konnte täuschen. Trotzdem, wenn Carsten diese Stimme hörte, hatte er das Gefühl, seinem Zuhause, seinem wahren Zuhause, viel näher zu sein. Doch er hatte ein schlechtes Gewissen. Es war erst halb sechs. „Tut mir leid.“, entschuldigte er sich. „Du bist noch schlimmer als Laura.“ Carsten wusste sofort, dass Benni auf der anderen Seite der Leitung die Augen verdrehte, ohne es überhaupt sehen zu müssen. „Wie geht’s dir?“, fragte Benni besorgt. Carsten lachte. Einerseits klang es verzweifelt, andererseits aufgemuntert. „Seit wann machst du dir Sorgen um mich?“ „Du hast das letzte Mal vor vier Monaten angerufen.“ „Ich darf nur einmal im Monat telefonieren.“, widersprach Carsten, aber ihm fiel auf, dass er in den letzten vier Monaten nur einmal seine Mutter angerufen hatte. Sonst nutzte er seine Chance nie. Warum eigentlich? „Eigentlich wollte ich dir zum Geburtstag gratulieren… nachträglich. Alles Gute.“, sagte Carsten. Von Bennis Seite kam keine Reaktion, aber das kannte Carsten nur zu gut. Benni war kein Mensch vieler Worte. Carsten lächelte. „Du hast dich nicht verändert.“ „Sollte ich?“ „Etwas freundlicher wäre nett. Du sitzt immerhin nicht in diesem Gefängnis fest.“ „Keinen Bock. Und was das Gefängnis betrifft, da kommst du in den nächsten Wochen raus.“ Carstens Augen weiteten sich. „Wie willst du das denn anstellen?“ „Ich werde nichts machen.“, antwortete Benni. Warum hatte Carsten das Gefühl, dass er nicht der einzige war, der aus Bennis Antworten nicht schlau wurde? Carsten seufzte. „Hast du nicht genauere Informationen?“ Aber Benni wechselte das Thema. „Haben die dir wieder eine Metallplatte aufgedrückt?“ Wieder seufzte Carsten. Natürlich bemerkte Benni es. Bei seinem Scharfsinn… Nur, dass er so genau wusste, welche Strafe es war, wunderte Carsten. Aber er hatte nicht vor, zu fragen. Er bekäme ja doch keine klare Antwort drauf. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Zähler. Noch zwölf Minuten. Es war gar nicht mal so schlecht, dass sich Benni immer kurz hielt. Aber da war noch eine Sache, die er unbedingt von ihm wissen musste. „Was ist jetzt eigentlich mit Laura?“ „Was?“ Benni schien nicht sonderlich gut darauf anzusprechen sein, aber auch das wusste Carsten bereits. „Du weißt, was ich meine. Und gib dieses Mal eine klare Antwort!“ „Sie ist auch auf dieser Schule.“ „Das ist keine klare Antwort. Benni, ich hab nicht viel Zeit!“ „Mehr gibt’s nicht.“ Meinte Benni damit, mehr würde er nicht erzählen, oder es gibt nicht mehr erzählenswertes? „Benni… Bitte!“, flehte Carsten. Noch zehneinhalb Minuten. „Es geht…“ Das war Bennis Antwort. Aber es hieß wohl, dass sie sich so mehr oder weniger doch endlich vertragen hatten. Carsten schreckte auf, als schnelle Schritte den Gang hinunter kamen. Vorsichtig spähte er aus einem kleinen Glasfenster, welches für das einzige Licht in der Telefonzelle sorgte. „Verdammt“, zischte er, unbeabsichtigt auf Indigonisch, seiner Muttersprache. Warum musste 9510 ausgerechnet jetzt kommen? „Ähm Benni, ich habe da gerade ein Problem…“ Benni schien es schon verstanden zu haben, bevor Carsten die Schritte überhaupt bemerkt hatte. „Wozu bist du Magier?“ „Aber ich- ich darf hier doch nicht einfach-“ „Gutmütiger Trottel.“ „So krass musst du mir das nicht sagen!“ „…“ Mal wieder keine Reaktion von Bennis Seite. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und 9510 trat ein. „So mein Lieber, deine Zeit ist nun abgelaufen.“ „Zisch ab, hier gibt es genug Telefone.“, antwortete Carsten schroff. Benni hatte Recht, er durfte sich das alles nicht einfach gefallen lassen. „Ich will gar nicht telefonieren.“ Carsten schauderte. Leute zu verprügeln war wohl sein einziges Hobby. Besonders dann, wenn sie eigentlich schon genug gelitten hatten. Carsten warf noch einen Blick auf den Zähler. Knapp über fünf Minuten blieben ihm noch. „Du bist immer noch ein Magier.“, kam es von dem Ende der Leitung auf Indigonisch. Carsten atmete tief durch. „Venaterukhironera!“ Aus dem Nichts tauchte ein mächtiger Windstoß auf und ließ den Deppen den ganzen Weg den er gekommen war zurückfliegen. So stark wollte Carsten ihn eigentlich nicht machen. Erleichtert atmete er auf. „Danke, diese Ein-Wort-Standpauke habe ich gebraucht.“ „Ich kann dir nicht immer Schimpfwörter an den Kopf knallen, wenn du Probleme hast…“ …Aber Spaß machen würde es schon, beendete Carsten in Gedanken Bennis Satz. „Ich kann nicht nach Lust und Laune zaubern! Und schon gar nicht hier!“ „Weichei.“ „Ja, gut, ich hab’s kapiert.“ „Hoffe ich doch…“ Na toll, noch eine Minute. „Ähm… Benni, ich hab kaum mehr Zeit.“ „Okay. Noch zwei Wochen, das müsstest du ohne Probleme schaffen.“ Ein Klack war zu hören. Benni hatte aufgelegt. Carsten wurde einfach nicht schlau aus ihm. Aber ihm reichte die Gewissheit, bald von hier verschwinden zu können. Weiß Gott, wie. Er glaubte Bennis Worten einfach mal. Was sollte ihm auch anderes übrigbleiben? Ohne Hoffnung und einen Glauben an die Zukunft war man hier verloren. Genauso, wie wenn man eigentlich nicht von der eher gewalttätigen Seite kam. Doch all die Kraft die er am Anfang noch hatte, wurde von Tag zu Tag, von Strafe zu Strafe schwächer. Er konnte nichts mehr ausrichten. Nur noch zusehen, wie er sich immer mehr dem Drang hingab, einfach sein Leben zu beenden. Carsten schüttelte seinen Kopf und rief sich Bennis Stimme in Erinnerung. Angsthase, würde dieser jetzt garantiert sagen. So war Benni halt. Aber er wollte damit nie was Schlechtes. Es war wie ein Schlag auf den Hinterkopf, der Carsten an das Licht in der Welt erinnern sollte, für das es sich lohnte zu kämpfen und hin und wieder mal einige Regeln zu brechen. Licht… Warum übermittelte Benni Carsten dieses Gefühl und glaubte selbst nicht daran? Hoffnung, Liebe, Freude… Das alles waren für ihn Fremdwörter. Er verstand sie nicht. Aber warum denn? So schwer war das doch nicht! Carsten zuckte zusammen. Er hatte die Brandwunde doch tatsächlich vergessen! Und auch seine Arbeit! Wenn er sich nicht beeilte, würden die vielleicht doch mal die eiserne Jungfrau benutzen, die angeblich noch nicht mal im magischen Krieg angewandt wurde, sondern nur dazu diente, den Gefangenen Angst und Schrecken einzujagen. Mit schnellen Schritten ging Carsten zurück zu dem Steinbruch. Sein Körper war immer noch wie gelähmt und wollte nicht so recht mit dem Arbeiten fortfahren. Doch Carstens Verstand übermannte ihn.   Erleichtert, dass er sogar die ersten Unterrichtsstunden überlebt hatte, obwohl ihn der Schmerz immer noch quälte, ging Carsten in die Pause. Er hatte sich seinem Regelbefolgerdrang widersetzt und auf Bennis Frage Wozu bist du ein Magier? mit einem starken Heilzauber geantwortet. Heilungen waren Carsten ein Leichtes. Bennis Lehrmeisterin war sowohl eine Meisterin der Kampfkunst als auch der Magie. Eigentlich unmöglich, doch so war es nun mal. Während es Benni durch ihr Training bereits im Grundschulalter mit den wahren Profis aufnehmen konnte, unterrichtete sie Carsten in allen möglichen Formen der Magie. Seien es Angriffszauber, Verwandlungen, Tränke oder Heilmethoden. Letztere lagen Carsten am meisten und er half seiner Mutter immer im Krankenhaus. Bis sein Bruder sich dann durchgesetzt hatte, weil er Carstens Glück nicht hatte ertragen können. Und das war die Folge davon. Das FESJ, das Gefängnis, die Hölle auf Erden. Wieder zurück in der höllischen, realen Welt, musste sich Carsten eingestehen, dass er sich nicht so in seinen Traumwelten verlieren durfte. Die Pausen waren die gefährlichste Zeit des ewigen Tages, da seine Feinde hinter jeder Ecke, hinter jedem Schüler oder gar hinter ihm lauern könnten. Unsicher drehte sich Carsten um, aus Angst, jede Sekunde würde ihn jemand auf seinen verbrannten Rücken schlagen. Trotz des Heilzaubers tat er immer noch schrecklich weh. „Na du? Suchste was? Vielleicht deine Eier?“ Ein brutaler Schlag raubte Carsten den Atem. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er wieder das rot glühende Metall vor Augen. Er bemühte sich, gerade stehen zu bleiben und sich nicht vor Schmerz zu krümmen. „Wir müssn ma redn.“, sagte 9510 und zerrte Carsten zu einem kleinen Schülerkreis. Alle hatten Zigaretten oder sonst was in der Art zwischen den Lippen oder hielten hochprozentigen Alkohol in der Hand. Bei dem Geruch von Gras wurde Carsten wieder schlecht und er versuchte hustend, den Rauch weg zu fächeln. „Oh, kann unser Bubi Drogen nich leidn? Das tut mir aba Leid, ich wollt dir was anbietn.“ 9510 strich sich mit einer unbenutzten Kippe eine seiner orangenen Strähnen aus dem Gesicht. „Nein danke, ich kiffe nicht.“, sagte Carsten und versuchte das Zittern in seiner Stimme so gut es ging zu überspielen. 9510 seufzte. „Schade. Vielleicht eine Zigarette?“ Carsten schüttelte entschlossen den Kopf und sah 9510 stur an. „Wat soll dat? Imagewechsel? Seit wann biste denn so rebellisch?“ der Junge mit den ganz kurzen, fast rasierten braunen Haaren lachte. Der restliche Kreis um Carsten herum begann es ihm gleich zu tun. 9510 grinste. „Scherz beiseite. Kommen wir zum eigentlichn Grund.“ Carsten wollte es schon gar nicht wissen. Warum suchte der eigentlich einen Grund, um ihn zu verprügeln? Eigentlich war das doch überflüssig. Jedenfalls für jemanden wie 9510. „Ich will, dass du die nächsten zwei Wochen unterrichtsunfähig bist.“, sagte er. Carsten legte den Kopf schief. Warum denn das?, fragte er zweifelnd. „Mehr musste nich wissn. Aba eins sag ich dir, wenn du es morgen wagst, zu kommen, bist du mehr als krankenhausreif.“ „Ich möchte wissen, warum.“, sagte Carsten entschlossen. Die Sache mit auf Krank machen, brachte ihn zwar in Versuchung, aber da gab es hundertprozentig einen Haken. Wie könnte es auch anders sein? „Ich sag dir nur eins. Ich will hier raus, und du hinderst mich dran.“, antwortete 9510. Wie jetzt? Ich helfe ihm, hier raus zu kommen, wenn ich nicht in die Schule gehe? Carsten verstand nicht, was er damit meinte, als ihm Bennis Worte wieder einfielen. ICH werde nichts tun. Das hieß vielleicht so viel, dass Benni selbst nichts ausrichten konnte, aber Carsten sehr wohl. Doch Benni schien zu wissen, dass er es schafften würde. „Hey, hörste mir zu?! Also? Ab morgn kein Unterricht mehr für dich.“ 9510 boxte Carsten ins Gesicht, als wäre es eine Vorwarnung, was passieren würde, wenn Carsten doch käme. Benommen taumelte Carsten einige Schritte zurück und nickte. 9510 ging lachend davon. „Was für ein Angsthase!“, rief er als er und seine Gruppe ihn alleine zurückließen. Trotzig rieb er sich die Nase. Als würde er tatenlos zusehen, wenn ein wahrer Verbrecher, wie 9510 frei kam und er weiterhin in der Hölle festsaß. Über 9510 erzählte man sich viele Gerüchte. Die meisten waren nur aus Langeweile und vor der Flucht vor dem trostlosen Alltag entstanden, aber an einem war wirklich etwas dran. Mehrere Mordversuche und beinahe tödlich endende Prügeleien. Das passte zu ihm wie angegossen. Der Tag verging genauso trostlos, wie alle anderen Tage bisher. Sogar der Küchendienst konnte Carsten nicht wirklich aufheitern und durch die Brandstrafe schlief er auch nicht gut. Mal wieder verschlafen und von dem krächzenden Trompetenton geweckt, rannte Carsten zu dem Morgenappell und versuchte, weder 9510 noch seinen Anbetern über den Weg zu laufen. Wie immer stand der Direktor gelangweilt auf seiner kleinen Bühne und wartete, bis sich jeder in den nun durch die Schuhe matschig gewordenen Schnee setzte. Angeekelt setzte sich Carsten nicht wie die anderen in den Schneidersitz, sondern auf die Knie, während der Direktor zu sprechen anfing. „Bevor ich euch eure heutigen Aufgaben verteile, habe ich etwas Wichtiges anzukündigen. So wie alle acht Jahre, führt unsere Schule dieses Jahr, zu Beginn des neuen Schuljahres die FGDW/ Freigesprochen durch Wissens-Prüfung aus, welche nächste Woche Freitag stattfindet. Derjenige mit der höchsten Punktzahl wird von seiner Anklage freigesprochen und darf eine Staatsschule besuchen. Wenn die Punktzahl sogar weit über der Durchschnittsleistung oder gar kaum verbesserbar ist, schreiben wir diesem Schüler sogar eine Empfehlung für eine Eliteschule. Also, möge der Schlauste seinen Lohn erhalten. So und nun zu euren heutigen Aufgaben…“ Carsten konnte es nicht glauben. Das hatte Benni wohl gemeint! Was sonst? Deshalb wollte 9510 auch verhindern, dass er ab heute nicht mehr kam. Doch der würde Carsten nicht mehr aufhalten können. Er würde keine acht Jahre bis zur nächsten Prüfung warten. Ein Feuer loderte in Carsten auf. Nicht das schmerzhafte, quälende vom Vortag. Sein Kampfgeist war erwacht. Carsten fühlte sich so stark wie nie zuvor. Er könnte es nun mit jedem aufnehmen. Keine Brandstrafe der Welt konnte ihn eben davon abhalten. Die Zeit bis zur Pause verging so wie immer. Zu seinem Glück musste Carsten dieses Mal nicht im Steinbruch, sondern außerhalb der Schule, im Atomkraftwerk direkt nebenan arbeiten. Dort war er 9510 los. Doch sein Glück sollte nicht ewig anhalten. Ein schmerzhafter Stoß in die Rippen ließ Carsten hochschrecken. „Du verwichstes Arschloch! Ich hab dir doch gesagt, dass du nich kommen sollst!“, brüllte 9510 Carsten ins Ohr, packte ihn am Kragen und brach ihm mit einem einzigen Schlag seine Nase. Sofort liefen Bluttropfen über seine blassen, nahezu blauen Lippen. Grob befreite sich Carsten aus 9510s Griff. „Dieses Mal wirst du mich nicht aufhalten können.“ 9510 knurrte. „Das werden wir ja sehen.“ Er verpasste ihm einen Schlag in den Bauch und Carsten fing sich noch rechtzeitig mit den Händen ab. Der Schmerz in seiner Nase war kaum zu spüren, aber es fühlte sich trotzdem eklig an. Schmerzhafter war der Tritt ins Gesicht, den 9510 ihm verpasste. Carsten stöhnte auf und versuchte, einen weiteren Tritt abzuwehren. Erfolglos. 9510s Gefolge half nach, Carsten bewegungsunfähig zu machen. Sie packten ihn an den Schultern, so dass er 9510 wehrlos ausgeliefert war. Brutal trat dieser auf Carsten ein. Dabei wiederholte er immer wieder einen Satz. „Du wirst mir nich im Weg stehen!!!“ Und was sollte Carsten jetzt machen? Das schien wohl doch sein Grab zu werden. Gutmütiger Trottel. Wozu bist du Magier?, hallte es in Carstens Kopf. Stimmt. Benni würde zurückschlagen. Als 9510 ihn kurz mit seinen Schlägen verschonte, schrei Carsten: „Fesagatikegacöh!“ Eine strahlende Druckwelle schleuderte 9510 und die beiden, die Carsten gefasst hatten von ihm weg. Atemlos beobachtete Carsten sein Werk. Er hatte ewig nicht mehr gezaubert oder sonst wie gekämpft und war überrascht, wozu er alles in der Lage war. „Sarinjara.“, murmelte er. Die gebrochene Nase war so, als wäre sie nie gebrochen gewesen und auch all seine anderen Verletzungen schienen nie gewesen zu sein. Sogar die Brandwunde war fast überhaupt nicht mehr zu spüren. Langsam bekam Carsten trotzdem Panik. Was, wenn jemand es mitbekommen hatte? In raschen Schritten entfernte er sich von der Stelle, an der er vor einigen Sekunden noch glaubte, er würde hier seinen letzten Atemzug tun. Gedankenversunken strich Carsten über die drei Narben in seinem Gesicht. Bald würde er frei sein. Wieder erklang dieser unschöne Trompetenton, was bedeuten sollte, die Pause war vorbei. Zum ersten Mal seit Jahren, passte Carsten im Unterricht wieder richtig auf. Er hatte nie Probleme, die Themen zu verstehen und zehnseitige Texte konnte er nach höchstens zwei Mal lesen auswendig aufsagen. Daher kannte er auch so viele Mizeroandras, Zaubersprüche der Dryaden welche durch den magischen Krieg zerstört wurden und in Vergessenheit gerieten, ebenso wie ihre Schöpfer. Dryaden waren, soweit Carsten wusste, nur noch ein Mythos. Ausgestorben. Ermordet von Menschen, die ihre Evolution nicht in den Griff bekamen. Die nur zerstören konnten. Seufzend wandte sich Carsten seinen Schulaufgaben zu, die für ihn schon aus der Zeit der Antike zu stammen schienen. Einfach nichts Neues.   Die zwei Wochen vergingen wie im Flug. Carsten bemühte sich, 9510 so oft es ging zu meiden (als versuchte er das nicht immer…) doch hin und wieder trafen sie doch aufeinander, wie ein Meteor, der auf die Erde prallte. Nur dass Carsten zu dem Meteoren wurde. Er würde sich nicht länger an die Regeln halten, wenn das hieße, sein Leben stünde auf dem Spiel und er würde weiterhin hier gefangen bleiben. Der ‚gutmütige Trottel‘ war für diese kurze Zeit mal der ‚sture Rebell‘. Der Tag der Prüfung war anders als sonst. Er durfte endlich mal bis um sechs Uhr ausschlafen! Und keine krächzende Trompete, sondern ein krächzender Wecker ließ ihn aufwachen. Gutgelaunt ging Carsten in die Dusche und drehte das Wasser auf, doch er zuckte bei der Wärme sofort zusammen und stellte sie wieder auf kalt. Warum auch immer, er fand das kalte Wasser viel angenehmer. Nur die Schuluniform, sein Zimmer und der Rest der Schule wirkte immer noch trostlos und streng. Carsten folgte seinen Mitschülern in die Cafeteria, in der die Prüfung geschrieben wurde. Die Tische waren nicht mehr diese Gruppentische, die Carsten so hasste, da er immer einen Platz neben Verbrechern bekam, sondern Einzeltische, die eineinhalb Meter getrennt voneinander standen. Immerhin war in der Cafeteria kein Platzmangel und für jeden war ein Tisch vorhanden. Es blieb sogar einer über. Carsten setzte sich ganz nach hinten und sah sich um. Die Plätze neben ihm waren schon belegt und 9510 sah er auf der anderen Seite der Cafeteria. Carsten atmete erleichtert auf. Jetzt könnte nur noch eine Katastrophe verhindern, dass er den Test schrieb. Alle Lehrer waren anwesend, auch der sadistische Aufseher von vor über einer Woche. Der Direktor teilte die Fragebögen, bestehend aus zehn Blättern, verdeckt auf den Tischen aus und nahm sie Schülern, die bereits auf das erste Blatt gelunst hatten wieder ab. Einmal Regelverstoß und der Traum platzte. Nachdem er alle ausgeteilt hatte, begann er die ‚Prüfung zur Freiheit‘, wie Carsten sie getauft hatte, kurz zu erklären. „Nun denn. Euer großer Tag, euch zu beweisen, ist gekommen. Die Prüfung besteht aus zehn Teilen: Mathematik, Damisch, Deutsch, Latein, Biologie, Chemie, Physik, Erdkunde und Geschichte. Jeder Teil bringt 25 Punkte. Mathematik, Damisch, Deutsch und Geschichte jeweils 50 Punkte. Ihr habt drei Stunden und fünfzehn Minuten Zeit. Versucht so viele Aufgaben wie möglich zu lösen. Ich wünsche euch viel Erfolg.“ Gleichzeitig drehten alle Schüler die Fragebögen um. Nun war nur noch das Rascheln des Papiers und das Kratzen der Stifte zu hören. Hin und wieder ein Seufzen von Schülern, die keine Ahnung mehr hatten, was sie antworten sollten oder ein Lehrer, der einen seiner Sprösslinge beim Spicken erwischte und diesem ohne wenn und aber das Blatt abnahm. Gemeinsam mit anderen Schülern gab Carsten ungefähr eine halbe Stunde vor Schluss ab. Er war zufrieden mit dem Ergebnis. Es gab keine Frage, die er nicht hätte beantworten können und keine Aufgabe, die er zum Haare-Raufen fand. Alles hatte er gelöst, Fragen blieben keine offen. Nun wartete er mit den übrigen Schülern auf dem Schulhof. Was die Korrektur der Arbeiten betraf, so waren die Lehrer darin wahre Meister, das musste man ihnen lassen. Und darunter gab es keine Ausnahmen. Gegen Abend sollte das Ergebnis bekannt gegeben werden, so lange musste Carsten noch ausharren. Bis zum Abend hatten sie zum ersten Mal Freizeit und viele der Schüler nutzten die Gelegenheit, um noch mal ein bisschen zu schlafen oder sie verschwanden in die Raucherecke, die genauer gesehen der ganze Schulhof war. Nur Carsten blieb in der Nähe der Cafeteria. Er sah auf die große, alte Uhr, die garantiert um einiges älter als das Hauptgebäude selbst war. Und das Hauptgebäude war schon im magischen Krieg ein wichtiger Ort für auszubildende Soldaten gewesen. Carsten wusste nicht, wie lange er schon dort im Schnee saß und die grauen Wolken beobachtete, die das blau des Himmels in sich aufgesaugt hatten. Nur, dass es bald so weit war. Die Brandwunde hatte er fast ganz geheilt. Aber da es dieselbe Stelle war wie einst vor sechs Jahren, schien sie dennoch ihre Spuren auf seiner Haut zu hinterlassen… Energische Schritte, die vom Schnee gedämpft wurden, kamen auf ihn zugehastet. Carsten musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer da kam. Wutentbrannt, mit nur noch größerer Lust zu töten. „Du kleiner- Ich hab dich gewarnt!“, brüllte 9510 und packte Carsten an der Kehle. „Ich kill dich, du Arsch!“, schrie er. Carsten versuchte ruhig zu atmen, aber 9510 drückte so fest zu, dass er seine Atemwege blockierte. „Lass los, sonst…“, keuchte Carsten. „Was sonst? Willste mich mit ein bisschen hex, hex und pling, pling in nen Frosch verwandln, oder wie? Spar dir deine Luft. Lang wirste sie nich mehr habn.“ Carsten musste sich eingestehen, dass er Recht hatte. 9510 drückte so fest zu, dass er nicht mehr richtig reden konnte, geschweige denn einen Zauber aussprechen. Was sollte er tun? Ihm fiel nichts ein… 9510 hob seine freie Hand, um zum Schlag auszuholen. Carsten versuchte sich noch einmal zu befreien, aber erfolglos. Sein Griff war zu fest. 9510s Hand schnellte vor und traf direkt Carstens linkes Auge. Aus Reflex kniff Carsten beide Augen zusammen, um den nächsten Schlag nicht sehen zu müssen. Doch in diesem Moment lockerte 9510 seinen Griff etwas. „Agaritai Marilliew!“, rief Carsten schnell, dem nun etwas mehr Atemraum blieb. Eine gewaltige Welle erhob sich über Carstens Kopf und brach auf 9510 ein. Carsten bekam noch nicht mal einen Spritzer ab, doch 9510 lag klitschnass und bewegungsunfähig am Boden. Seine beiden Handlanger kamen dazu gerannt und halfen ihm auf die Beine. Doch in diesem Augenblick kam der Direktor, Boris Adenauer aus der Cafeteria. „Darf ich erfahren, was in Gottes Namen hier vor sich geht?!“, brüllte er, außer sich vor Wut. „Ähm, nun ja…“, setzte 9510 an, schien aber zu benommen, um antworten zu können. Dafür ergriff der Handlanger mit den viel zu kurzen Haaren das Wort: „Meister Adenauer! Nummer 7984 hat unbefugte Gewalttätigkeiten an unserem Mitschüler 9510 ausgeübt.“ Verärgert ballte Carsten die Hände zu Fäusten. Er hätte sich denken müssen, dass diese Idioten zu Gunsten ihres Anführers lügen würden. Was hätte er anderes erwarten sollen? Die Wahrheit? So etwas existierte hier bekanntlich nicht. „So, so. Wie schade… Ich wollte gerade das Ergebnis bekannt geben. Sie 7984, haben mit gewaltigem Abstand das beste Ergebnis! Volle Punktzahl! Aber dieser Vorfall eben… Ich kann keinen brutalen Magier in die Welt lassen, damit würde ich meine Aufsichtspflicht verletzen. Wobei es mich wundert, dass Sie hier überhaupt in der Lage sind zu zaubern… Seltsam… Nun denn, der Aufseher kann sich ja Ihnen annehmen.“ der Direktor seufzte gespielt. „Nun, der mit der zweitbesten Punktzahl würde dann natürlich freigesprochen, und das wäre-“ „Ich habe mich nur gewehrt!“, unterbrach Carsten Herr Adenauer. Als wäre sein blaues Auge nicht Beweis genug. Wieder seufzte Herr Adenauer. „Dazu einfach noch jemanden unterbrechen und lügen. Ich weiß nicht, was später mal aus Dir werden soll, mein Junge.“ „Ich lüge nicht!“, widersprach Carsten, aber sein Kampf war vergebens. Was konnte er schon gegen den Direktor ausrichten? Ein Zucken durchfuhr seine Fingerspitzen und er kam in Versuchung, eine weitere Welle loszuschicken. Herr Adenauer schien genug gehört zu haben. „Torsten?! Ist der Ofen mit den Strafmetallen heiß genug?“ Der Aufseher kam zu dem Direktor gehastet. „Selbst verständlich.“, antwortete er, mit einer tiefen Verneigung. „Wie schön! Dieser junge Mann muss wohl etwas Dampf ablassen. Würdest Du ihn bitte in den Strafraum begleiten?“, forderte Herr Adenauer den Aufseher auf. Wieder verneigte sich dieser. „Selbstverständlich. Los, komm mit!“ Mit einer gewaltigen Kraft packte er Carsten am Handgelenk und zerrte ihn mit sich. Nein! Kann nicht einmal etwas fair sein?!?, schrie es in Carstens Kopf. Sein gesamter Körper zitterte. Er wollte nicht noch einmal diesen Horror spüren. Einmal einige Monate nachdem er ‚eingeliefert‘ worden war und dann vor gerade mal zwei Wochen… Das war mehr als genug. Er konnte nicht mehr! Panisch schnappte Carsten nach Luft. Ein schwummriges Gefühl breitete sich in seinem Kopf aus und ließ seine Sicht unscharf werden. „Seien Sie doch nicht so hart zu dem armen Jungen. Er ist wirklich unschuldig. Ich habe es gesehen, falls Sie einen ehrlichen Zeugen brauchen.“, sagte eine tiefe, ruhige Stimme. Überrascht schaute Carsten auf. Ein sehr großer Mann, mit langen rosaroten Haaren und einem schwarzen Mantel lehnte nicht weit entfernt aus einem Fenster im Erdgeschoss. „Herr Bôss! Wie lange sehen Sie denn zu?“, fragte Herr Adenauer und klang irgendwie eingeschüchtert. Er schien genauso überrascht, wie Carsten. Herr Bôss schwang sich über das Fensterbrett nach draußen zu ihnen. „Lange genug. Sie gehen wirklich nicht gerecht mit ihren Schülern um.“ „I-Ich konnte doch nicht ahnen, dass-“, stotterte Herr Adenauer. „Das habe ich mir gedacht. Ich rate Ihnen, dem Jungen die Empfehlung zu geben. Er hat sie sich reichlich verdient.“ Herr Bôss Worte klangen eher wie ein Befehl und nicht nach einem Ratschlag. „S- Selbstverständlich. Aber welche Schule würde einen Schüler mit einer solchen Akte aufnehmen?“ Herr Adenauer schien Carsten den Triumph nicht wirklich zu gönnen, das war anzumerken. Herr Bôss lachte. „Also ich würde ihn gerne an der Coeur-Academy aufnehmen. Jemanden mit so viel Potential gibt es nicht alle Tage.“ Sowohl Carstens, als auch Herr Adenauers und 9510s Augen weiteten sich zur gleichen Zeit. „In die Coeur-Academy?! Das is doch ‘n Witz! Der auf ner Elite Schule mit so nem hohen Niveau?!?“, schrie 9510. „Denkst du, du würdest da eher hingehören?“, fragte Herr Bôss, aber für ihn war die Sache schon beschlossen. Trotzdem wandte er sich Carsten zu. „Ich möchte dich natürlich zu nichts zwingen. Wenn du unbedingt hierbleiben möchtest, dann werde ich dich nicht aufhalten.“ Herr Bôss klang leicht belustigt. Carsten befreite sich aus dem Griff des Aufsehers. Diese Frage zu stellen war überflüssig. Herr Bôss lachte. „Habe ich es mir doch gedacht. Am besten, du packst deine Sachen, falls du hier überhaupt eigene Sachen besitzen darfst. Wir müssen in zweieinhalb Stunden im Flugzeug sitzen. Das letzte Mal hatte ich meinen Flieger schon verpasst gehabt und meine Frau war alles andere als amüsiert davon gewesen.“ Herr Adenauer stöhnte genervt auf. „Schon gut, schon gut. Nimm ihn mit. Ich habe nichts dagegen. Los, hol deine Sachen.“ Schnell rannte Carsten in sein einsames Zimmer. Er konnte es nicht glauben! Er würde innerhalb der nächsten Stunde frei sein! Frei von dieser trostlosen Hölle! Es war fast wie ein Traum. Doch Carsten wollte nicht aufwachen. Viel hatte er tatsächlich nicht im FESJ haben dürfen. Nur wenige Kleinigkeiten, die er schnell in einer Tasche verstaut hatte. Carsten ging zur Tür und hielt noch einmal inne, um seine ehemalige Zelle ein letztes Mal zu begutachten. Er erinnerte sich nur zu gut an den ersten Tag im FESJ. Wie er in Mitten zweier Polizisten hier ankam. Abgeführt wie ein Verbrecher hatte er sich gefühlt. Als er zum ersten Mal sein kleines, einengendes Zimmer sah, mit dem Gitter vor dem Fenster, der Gestank, der ihm sofort in die Nase stieg und von dem ihm sofort schlecht wurde. Das Essen, ungenießbar und Brechreiz auslösend. Kein Wunder, dass er so mager war. Am Anfang hatte er sich davon immer übergeben müssen und so richtig gebessert hatte es sich nie. Die Schüler, die in ihm von Anfang an den herzlichen Jungen sahen, ihn erst ausnutzten, bis er sich anfing zu wehren und dann zurückschlugen. All das war nun Vergangenheit. Er würde jetzt aus dem Zimmer gehen und es nie wieder betreten müssen. Zum letzten Mal würde er die graue Welt sehen, die ihn so lange von der Zivilisation getrennt hatte. Er konnte es immer noch nicht glauben. Er rannte regelrecht aus dem Wohnheim zu dem Haupttor, an dem Herr Bôss ihn schon mit einem Taxi erwartete. „Nun denn, dann wollen wir mal.“, sagte Herr Bôss. Carsten nickte. Herr Adenauer schüttelte ihm zum Abschied noch die Hand und wünschte ihm viel Glück. Von seinen Mitschülern wollte sich Carsten nicht verabschieden. Er war fast schadenfroh, als sich das schwere eiserne Tor schloss. Mit ihm auf der richtigen Seite. Aber Carsten bereute seine Gefühle sofort. Er konnte sich nicht über das Leid seiner Mitschüler freuen, egal was sie ihm alles angetan hatten. So ein Leben, wie er es nun ganze sechs Jahre geführt hatte wünschte er niemandem. Herr Bôss öffnete den Kofferraum, wo Carsten seine kleine Tasche verstaute. Dann stieg er ein. Er atmete noch ein letztes Mal den Gestank seines alten Gefängnisses ein, bevor sich die Autotür schloss. Er war frei!   Herr Bôss lachte auf. „Du scheinst dich dort ja sehr wohl gefühlt zu haben, hm?“ „Es war der Horror.“, antwortete Carsten. Er genoss nun jeden Atemzug, beobachtete alles Geschehen um ihn herum ganz genau. Ihm war noch nie aufgefallen, wie bunt und farbenfroh die Welt sein kann! Sie saßen im Flugzeug auf dem Weg nach Cor und Carsten hätte lieber die Landschaft, die unter ihnen vorbei zog betrachtet, als den Haufen Anmeldeformulare ausfüllen zu müssen. Schwarz auf weiß hatte er heute genug gesehen. Er wollte lieber die ganzen Farben in sich aufsaugen. Diese neuen Farben, die er alle schon längst vergessen hatte. Herr Bôss schien seine Gedanken zu lesen. „Du kannst dich ruhig auch erst einmal mit etwas Anderem beschäftigen. Diese Formulare sehen zwar viel aus, sind aber schnell ausgefüllt.“ Trotzdem füllte Carsten sie weiter aus. Es fehlten nur noch zwei von circa dreißig Blättern. „Du bist fleißig, dass muss man dir lassen. So einen perfekten Einserschnitt gibt’s selten. … Von den mündlichen Noten mal abgesehen. Bist wohl eher der schweigsame Schüler, hm? Na da kenne ich noch jemanden.“, meinte Herr Bôss, der Carstens Akte durchlas. Plötzlich begann er zu lachen. „Na sieh mal einer an! Mehrfache Arbeitsverweigerung, Prügeleien, Beschädigung des Schuleigentums und weiß Gott was sonst. Warum hab ich das Gefühl, dass du damit nicht wirklich was zu tun hast?“ Carsten seufzte. „Ich werde halt nicht wirklich gemocht…“ Herr Bôss nickte. „Hab ich mir schon gedacht. Mitleid bekommt man geschenkt, aber den Neid hast du dir problemlos erarbeitet.“ Carsten nickte nur und legte die beiden letzten Zettel zur Seite. Er war fertig. „Flott. Kein Wunder, dass du alle Aufgaben lösen konntest.“, meinte Herr Bôss, sichtlich beeindruckt. Carsten hatte noch nie so viel Bewunderung bekommen. Es fühlte sich… seltsam an. Ungewohnt eben. Genauso wie diese Freiheit, die er auf einmal hatte. Jetzt kann es nur noch besser werden, dachte Carsten fröhlich und beobachtete die Landschaft unter ihm. Kleine Dörfer zogen unter ihnen vorbei, Wälder, größere Städte… Und sie waren alle so farbenfroh und fröhlich! Schließlich setzte das Flugzeug zum Landeanflug an. Kapitel 6: Wiedersehen macht Freude -----------------------------------   Wiedersehen macht Freude       Gelangweilt saß Laura im Chemie Unterricht und kritzelte eine Mangafigur nach der anderen in ihren Block. Auf Aufpassen hatte sie keine Lust, dazu war der Unterricht zu uninteressant. Nebenbei war das alles sowieso nur Wiederholung. Frau Reklöv sprach seelenruhig vor sich hin. „So und was die Säure betrifft… Würden Sie meine Worte bitte wiederholen, Miss Lenz?“ Laura schreckte hoch und verbarg ihre Kritzeleien unter ihrem Heft. „Ähm… Also… Die Säure ist… äh… tödlich?“ „Es wäre sinnvoller, Sie würden sich auf Ihre Arbeit konzentrieren, als sich Ihrer… Kunst… zu widmen.“, sagte Frau Reklöv und die Klasse begann zu lachen. Laura seufzte. In ihrer alten Schule waren die Lehrer nicht so aufmerksam. Da konnten die Mädchen mit ihren Handys in sozialen Netzwerken chatten, die Jungs weiß Gott was machen und sie hatte noch ungestört zeichnen können. „Das kommt davon.“, flüsterte Anne ihr schadenfroh zu. Sie und Laura waren nicht gerade die besten Freunde, obwohl sie sich durch ihre Eltern bereits vom Sehen kannten. „Jetzt sei doch nicht direkt so fies.“, mischte sich Ariane ein, die auch nicht wirklich aufmerksam war. Lissi drehte sich um. Da sie die Wette gegen Ariane verloren hatte, musste sie in der ersten Reihe sitzen, aber sie passte noch weniger auf, als Laura es tat. „Ihr Süßen, ihr habt ja Probleme. Denkt doch mal an das eigentlich Wichtige! Heute Abend kommt doch dieser neue Schüler!“ „Stimmt, eigentlich seltsam. Ungefähr zwei Wochen nach dem Schulbeginn. Warum denn?“, fragte Ariane. Frau Reklöv warf der Gruppe einen warnenden Blick zu, aber die ganze Klasse schien nicht wirklich bei der Sache zu sein. Alles drehte sich um den neuen Schüler, der in eine der Magierklassen der ersten Stufe kam. Frau Reklöv seufzte. „Ich werde eure Aufmerksamkeit für die letzten zehn Minuten wohl nicht mehr gewinnen können. Nun gut, bis die Stunde vorbei ist, könnt ihr euch frei beschäftigen.“ Ein Jubel brach unter den Schülern aus, der sich schnell in Gruppengespräche verwandelte. Lissi quasselte sofort los. „Ich bin echt gespannt, wie der aussieht. Hoffentlich ist er hübsch. Was er wohl für einen Körperbau hat?“ „Boah ey, Lissi! Das ist doch völlig egal. Hoffentlich ist er nett!“, meinte Ariane genervt. „Na ich hab da so meine Bedenken. Der ist ein Junge und der Direktor hat ihn auch noch aus irgend so ner Schrottschule aufgegabelt. Der ist garantiert nicht nett.“, widersprach Anne und stützte ihr Kinn mit der Hand ab. „Ich wette, dass er nett ist!“, sagte Ariane energisch. „Genau, Anni-Banani! Abgesehen davon, was hast du denn gegen Jungs?“ Lissi setzte sich aufrecht hin, überschlug die Beine und winkte lächelnd zu einem Jungen rüber, der mit seinen Kumpels über ein Handy gebeugt war und kurz zurücklächelte. „Das sind Arschlöcher! Jungs sind doch alle gleich!“ Anne blitzte mürrisch zu dem Jungen, der wieder über das Handy gebeugt war. „Deine Sache.“, entgegnete Ariane. „Ich wette trotzdem, dass dieser Neue nett ist.“ „Na schön, um was?“, fragte Anne, von Ariane provoziert. Ariane überlegte. „Wie wär’s mit…hm… der Verlierer-“ „Muss den Jungen küssen!“, platzte Lissi dazwischen. „Nein.“, zischte Anne sie an. „Warum nicht? Ich find die Idee gut.“ Lissi setzte ihre Unschuldsmiene auf. „Wir aber nicht. Hm… obwohl… Anne küsst einen Jungen… Doch, ich bin dafür. Aber nicht auf den Mund, das ist bescheuert! Auf die Backe.“ „Du bist dir ganz schön siegessicher, oder?“ Anne schnaubte genervt. „Na gut, die Wette gilt.“ Laura verdrehte die Augen. Sie hatte wirklich andere Probleme. Seit zwei Wochen war sie nun auf dieser Schule, hatte endlich Benni wieder getroffen. Und er ging ihr immer noch aus dem Weg! Also jedenfalls sah sie ihn nur sehr selten. Die letzten vier Monate würde er sie doch noch ertragen können, oder? Laura seufzte. „Was hast du?“, fragte Ariane neugierig. „Nichts. Es ist nur… Keine Ahnung…“ Die Klingel, ein sanfter Glockenton, wies darauf hin, dass die Stunde zu Ende war. Gemeinsam gingen die vier Mädchen in die Cafeteria, warteten mit dem Essen aber auf Susanne, Öznur und Janine, die gemeinsam in einer Magierklasse waren, während Laura, Ariane, Lissi und Anne dieselbe Kampfkünstlerklasse besuchten. Endlich beim Essen, war das Hauptthema natürlich der neue Schüler. „Ich frag mich, wie der wohl so ist.“, überlegte Öznur. Ariane grinste. „Entweder er ist bescheuert, das würde dann Anne zu Gunsten kommen, oder er ist nett und ich hätte gewonnen.“ „Wettest du wieder?“ Susanne schien alles andere als überrascht. „Yo, der Verlierer muss dem Neuen einen Kuss auf die Backe geben.“, antwortete Ariane. „Wie einfallslos.“, sagte Öznur knapp. „Kann sein, es war Lissis Idee. Wobei die wohl etwas mehr verlangt hatte. Und ich wollte Anne nur etwas ärgern.“ Ariane grinste. Laura seufzte. „Du bist echt ganz schön siegessicher.“ „Ich hab noch nie eine Wette verloren und das wird auch nie passieren.“, entgegnete Ariane lachend. Hektisch zuckte Laura zusammen. „Was ist denn los?“, fragte Ariane, doch die Antwort wurde ihr abgenommen. „Ähm… Hi.“, begrüßte Laura Benni, der wie aus dem Nichts erschienen war. Niemand hatte auf die Schüler im Umkreis geachtet, so vertieft waren sie in ihr Gespräch gewesen. „Wie kommen wir zu der Ehre, dass der Schulsprecher persönlich uns einen Besuch abstattet?“ Garantiert hatte Öznur mit ihm geflirtet. Der Blick sagte schon alles. Wenn die wüssten…, dachte Laura wütend. Eigentlich war sie auch nur etwas neidisch auf Öznurs lockere Art. „Die Direktorin hat mich geschickt. Ihr sollt dem neuen Schüler die Schule zeigen.“, antwortete Benni und hielt sich wie immer kurz. „Wirklich? In Ordnung, das ist kein Problem.“ Susanne lächelte ihm kurz zu, aber es war nicht flirtend, wie Öznurs, sondern das typische freundliche, hilfsbereite Lächeln, weshalb Laura Susanne so schnell ins Herz geschlossen hatte. „Gut, um Sieben beim Eingangstor.“, sagte Benni noch und ging wieder. „Na toll, jetzt sollen wir Neuschülersitten.“ Anne schnaubte. „Ist doch gut so, so haben wir immerhin die Sache mit der Wette schnell geklärt.“ Ariane war sichtlich gut gelaunt. Sie konnte den Abend kaum mehr abwarten. „Ihr Süßen, ihr wisst schon, dass wir eben mit dem Schulsprecher, dem eiskalten Engel, meinem Bennlèy gesprochen haben?“, quietschte Lissi. „Mach nicht aus ner Mücke nen Elefanten.“ Anne schüttelte den Kopf. „Abgesehen davon, hab ich noch nie mit jemandem zuvor ein so kurzes Gespräch geführt. Ich bin ja auch kein Fan von Smalltalkt, aber das waren höchstens fünfzehn Sekunden!“, schaltete sich auch Ariane ein. „Nicht jeder ist ein Mensch vieler Worte…“ Irritiert musterten die Mädchen Janine. Sie war eher eine Mitläuferin. Mehr als eine schüchterne Begrüßung bekam man von ihr selten zu hören. Sie war auch nur durch Susanne überhaupt bei den Mädchen, da sich diese von Anfang an sehr gut mit ihr verstand. „Ninie! Dich gibt’s ja auch noch!“, rief Ariane begeistert. Sie war der zweite Grund, warum Janine unbedingt in der Gruppe bleiben musste. Ariane sah Janine als ‚kleines, wehrloses Schwesterchen, was man unbedingt beschützen… oh und natürlich knuddeln muss‘, wie sie sie mal Laura beschrieben hatte. Susanne gab Janine Recht. „Stimmt, nicht jeder ist für Smalltalk zu haben. Oder Flirts.“ Dabei lächelte sie Öznur kurz schulterzuckend an und warf sie Lissi einen warnenden Blick zu. Öznur seufzte. „Ein Versuch war es wert. Ich hatte mir auch nicht wirklich was erhofft.“ „Och Özi-dösi, so jemand passt auch nicht zu dir. Viel zu ernst.“, meinte Lissi. „Aber zu dir passt er natürlich wie angegossen, oder wie?“, blaffte Anne. „Eifersüchtig?“ Lissi lächelte ihr Hollywood Lächeln. „Ich? Nie im Leben.“, entgegnete Anne schroff. Ariane blickte von ihrem Teller auf. „Hey Leute, wie wär’s, wenn ihr mal anfangt zu essen? In fünfzehn Minuten geht der Unterricht wieder los. Ich kann euch auch gerne um euren Nachtisch erleichtern.“ „Mein Schokopudding? Da kannst du lange warten!“, fauchte Laura scherzhaft.   Die beiden Japanisch Stunden gingen wie im Flug vorbei. Immerhin war das ein Fach, für das sich Laura interessierte und was sie recht gut konnte, da Japanisch ihre Muttersprache war. Wobei sie mit den chinesischen Schriftzeichen so ihre Schwierigkeiten hatte. Auch die beiden Freistunden waren schnell um. Während Anne sie immerhin sinnvoll zum trainieren genutzt hatte, war Lissi spurlos mit einem Klassenkameraden verschwunden und Laura und Ariane liefen entweder tatenlos auf dem Schulgelände herum oder hatten ihren Spaß dabei, Öznur, Susanne und Janine während des Unterrichts zu beobachten und sich über irgendwelche belanglosen Sachen zu unterhalten. Schließlich traf sie sich am Ende der Pause mit Anne, damit sie gemeinsam in den Karate-Kurs gehen konnten. Wo die übrigen Mädchen waren, hatte Laura wieder vergessen. Die Sportkurse waren jeden Nachmittag unterschiedlich und insgesamt hatten sie sechs Mal die Woche Sportunterricht. Der einzige Vorteil daran war, dass die drei Stufen gemeinsam Sport hatten, wenn auch mehr oder weniger immer noch getrennt. So kam es, dass Laura und Benni rein zufällig zwei Mal in demselben Sportkurs waren. So wie heute. Seufzend schielte sie zu den Schwarzgurten rüber. Sie fühlte sich mit ihrem orangenen dadurch nur noch schwächer. Der Unterricht wurde durch die Farben der Gurte getrennt. Während Laura beinahe zu den Anfängern zählte, war Benni bei den erfahrensten Profis, die nur auf eine Aufgabe warten mussten. Aber Laura wunderte das nicht. Wenn er schon Kämpfen lernte, seit er seine ersten Schritte ging, war es kein Wunder, dass er auch ohne die Coeur-Academy der ‚stärkste Kämpfer Damons’ war. Auch auf Anne konnte sie in diesem Unterricht nicht zählen. Während Laura ganz einfache Kattas ausführen musste, sahen die Bewegungen der höheren Gurte viel kraftvoller aus. So auch die der Braungurte, zu denen Anne gehörte. Laura war froh, dass die Stunde endlich vorbei war. Noch länger hätte sie es nicht geschafft, ohne einen Hauch von Neid die anderen zu beobachten. Sie schien für das Kämpfen einfach nicht geboren zu sein. Wobei die wenigen Menschen, die Fähigkeiten für eine unmenschliche Körperkraft, Geschwindigkeit und Körperbeherrschung normalerweise wahre Krieger waren. Aber ihre Schusseligkeit schien ihre Fähigkeiten wohl auszugleichen.   Anne wartete am Ausgang der Turnhalle bereits auf sie. „Ernsthaft, wie kann man nur so langsam sein? Du bist mal wieder die Letzte beim Umziehen!“, beschwerte sie sich. „Nicht ganz. Da war noch so ein Zicken-Quartett, das mehr mit lästern als umziehen beschäftigt war.“, widersprach Laura und schlüpfte in ihr schwarzes Jackett, welches sie in der Eile nur schnell geschnappt hatte. Anne hatte einfach keine Geduld. Vielleicht lag es wirklich daran, dass sie adlig war und alles, was sie haben wollte sofort und ohne wenn und aber gebracht bekommen hatte? „Also wie war das? Um Sieben hatte der gesagt. Also können wir noch essen.“, meinte Anne und machte sich auf den Weg zur Mensa, ohne sich überhaupt nur ein Mal umzudrehen und zu schauen, ob Laura mitkam. Doch natürlich folgte Laura ihr, wenn auch mit einem kleinen Sicherheitsabstand. Wie immer, hörte man das Tellergeklapper und Stimmengewirr in der Mensa schon auf dem großen Platz, dessen Schnee immer noch sein strahlendes Weiß hatte. Aber in der Mensa selbst war es nie zu laut. So wie Laura es erwartet hatte, saßen die übrigen Mädchen der Gruppe schon an einem Tisch über das leckere Essen gebeugt, welches von den kleinen Elfen ausgetragen wurde. Nur Ariane stritt mal wieder mit einer der Elfen. Dieses Mal ging es um einen Nachschlag bei der Salami. Schließlich endete es unentschieden und Ariane bekam, gerade als Laura sich setzte, die harte Salami auf den Kopf gedonnert. Öznur lachte. „Die Elfen scheinen dich ja sehr zu mögen.“ „Eigentlich komisch… Wir können uns doch immer so viel nehmen, wie wir wollen. Immerhin bezahlen unsere Eltern auch ganz schön viel Schulgeld.“, überlegte Anne, die natürlich schon über ihr Essen gebeugt war. „Nane nicht. Die Elfen können sie aus irgendeinem Grund nicht ausstehen.“, meinte Susanne nachdenklich. „Höchst wahrscheinlich sind sie neidisch, weil ich eine viel bessere Figur als sie habe.“ Ariane grinste und fummelte kleine Stückchen der weißen Schale aus ihren Haaren. „Oh Gott, Nane. Du klingst schon fast so wie Lissi.“, stellte Öznur schockiert fest. „So ein Unsinn. Und abgesehen davon, müssten sie dann auf uns alle neidisch sein. Okay, außer auf Lauch.“, schaltete sich Lissi ein und richtete einen ihrer schwarzen Zöpfchen. Laura fauchte. „Jetzt fang nicht wieder damit an! Außerdem bin ich gar nicht so…“ „Flach? Wie ein Brett, Süße.“ Am liebsten hätte Laura Lissi den Hals umgedreht. Aber so stark schien sie sich darüber nicht aufzuregen. Immerhin spürte sie noch nicht diese zerstörerische finstere Kraft in ihr aufbrodeln. Laura konnte nicht einschätzen, wie lange sie in der Mensa saßen. Als sie schließlich aufstanden, war nahezu eine Stunde vergangen. „Oh, wir sollten uns vielleicht langsam mal auf den Weg machen.“, bemerkte Ariane. „Ernsthaft, ich find das so was von bescheuert! Warum müssen ausgerechnet wir uns um den Neuen kümmern? Würden nicht die aus der Magierklasse reichen?“ Mal wieder musste sich Anne darüber beschweren. Das war nun schon das wievielte Mal? „Ein paar Kontakte zu Jungs würden dir nicht schaden.“, entgegnete Öznur. Laura fragte sich, wie die beiden so gut befreundet sein konnten. Sie waren komplett verschieden und verstanden sich trotzdem. „Ich will mit solchen Idioten nichts zu tun haben.“, zischte Anne. „Banani, mit dieser Einstellung bekommst du nie einen Freund. Oder stehst du auf Frauen?“ Lissi legte den Kopf schief und klimperte mit ihren langen, schwarzen Wimpern. „Was?!? Wie kommst du denn auf so einen Schwachsinn!?! Jetzt hör mir gut zu, wenn du nicht die Klappe halten kannst, sorg ich persönlich dafür!“ Ein seltsames Zucken ging durch Annes Hände und… bildete sich Laura das nur ein, oder waren ihre Fäuste von Staub umgeben? Kleine gelbbraune Staubkörner schienen wie ein Sturm um sie zu kreisen und ein leichtes Schwindeln überkam Laura. „Anne, beruhige dich. Lissi hat doch nur Spaß gemacht.“, meinte Susanne und legte eine Hand auf Annes Schulter. Auch sie schien leicht benommen. Wieder zischte Anne, stieß Susannes Hand weg und stapfte Richtung Eingangstor. Ariane rieb sich die Schläfen. „Was für eine mörderische Ausstrahlung.“ Janine und Susanne tauschten kurze Blicke aus und folgten Anne schließlich. Auch die übrigen Mädchen machten sich auf den Weg.   Gemeinsam mit den Vertrauensschülern stießen sie zu der übrigen Gruppe der Wartenden. Wie sonst auch, fiel Lauras Blick als erstes auf den abseits stehenden Jungen. Benni erwiderte kurz ihren Blick und Laura stockte sofort der Atem. Sie musste Lissi schon Recht geben. Sexy war er. Ariane stieß ihr den Ellebogen in die Rippen. „Nicht so deutlich.“, flüsterte sie ihr zu. Laura schnaubte. Als hätte Benni es nicht schon längst bemerkt. Wobei es ihr lieber wäre, er würde diesen Scharfsinn nicht haben. Abgesehen davon sahen auch die übrigen Mädchen zu ihm rüber. Alle, außer Anne, die energisch in die andere Richtung starrte. Schließlich richtete sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf das sich gerade öffnende Tor. Ein wahrer Riese trat ein. Er hatte rosarote Haare, trug einen schwarzen Mantel und hatte ein kesses Grinsen auf dem Gesicht. So alt sah er für einen Direktor nicht aus. Höchstens vierzig. Und so streng auch nicht. Er schien das genaue Gegenteil von dem Direktor, den sich Laura für die Coeur-Academy vorgestellt hatte. Gespannt lauschte Laura Ariane, die sich zu Susanne rüberbeugte. „Sag mal, wie groß ist der denn?“, fragte sie sie im Flüsterton. „Genau zwei Meter, glaube ich.“, antwortete Susanne, genauso leise. „Krass…“, kam es, erstaunlicher Weise, von Annes Seite. Ariane grinste. „So, jetzt kommt die Stunde der Wahrheit.“ Alle musterten den Jungen, der neben dem Direktor stand und sich leicht zögernd und verunsichert umsah. Lauras Herzschlag setzte aus. War es tatsächlich möglich? Sie erkannte die etwas längeren pechschwarzen Haare und die magischen lila Augen sofort und doch fiel es ihr schwer zu realisieren, dass da allen Ernstes ihr bester Freund aus Kindheitstagen stand. Tränen sammelten sich in Lauras Augen, als die Realität ihr langsam aber sicher deutlich machte, dass es keine Einbildung war. Dass er tatsächlich dort stand, nur wenige Meter von ihr entfernt. Und doch war es nicht nur Erleichterung und Freude, die sie überkam. Ein unangenehmer Druck breitete sich in ihrem Herzen aus. Er hatte sich verändert. Nicht nur, dass er extrem groß geworden war. Er war viel blasser als früher, sehr dürr und hatte tiefe, dunkle Augenringe. … Was war das für ein Internat gewesen, das ihren besten Freund in einen so derart schlechten Zustand versetzt hatte?! Laura schluckte schwer, versuchte ihre Stimme wieder zu finden. „… Carsten?“ Ihre Blicke trafen sich und Carstens Ausdruck begann sofort zu strahlen. „Laura! Du lebst ja noch!“ Carsten kam sofort auf sie zu und packte sie am Unterarm. In Indigo war dies eine übliche Begrüßungsgeste unter guten Freunden. Laura murmelte ein trauriges „Noch…“, konnte aber keinen Trübsal blasen. Nicht in Carstens Gegenwart. Alleine seine Anwesenheit war schon immer ein Trost für sie gewesen. Und ihn jetzt nach einer so langen Zeit endlich wiedersehen zu dürfen… Doch natürlich hatte Carsten sie gehört. Er lockerte seinen Griff, aber nur, um sie in eine feste Umarmung zu ziehen. „Ich habe dich vermisst…“ „Ich dich auch…“ Laura vergrub ihr Gesicht in seiner Brust, er war wirklich viel größer als sie geworden, und kniff die Augen zusammen wobei ein paar Tränen über ihre Wangen liefen. „Hääääääää???????? Sag mal, kennt ihr euch???“, fragte Ariane. Ihr stand die Verwunderung ins Gesicht geschrieben. Carsten reagierte gar nicht darauf. Er war das Kind, was sich hinter einer vertrauten Person versteckte, sobald es von jemandem angesprochen wurde. Und was auch immer diese Anstalt ihm angetan hatte, Laura bezweifelte, dass er ausgerechnet dort seine Schüchternheit hatte überwinden können. Ohne zu zögern nahm sie ihm deshalb die Begrüßung ab und stellte ihn den Mädchen vor. „Das ist Carsten Bialek. Wir sind Kindheitsfreunde.“ Auch Anne schien aufmerksam geworden zu sein. „Bialek?“ Laura nickte. „Jupp, sein Vater ist der Häuptling der Indigo Region.“ „Also bist du adlig?“, fragte Öznur. Man merkte, dass Carsten sich bei diesem Thema noch unwohler fühlte als es ohnehin schon der Fall war. Verlegen wich er ihren Blicken aus. „Na ja… also… Sagen wir, ich fühle mich nicht wirklich so.“ Ariane runzelte die Stirn. „Wie meinst du das denn?“ Natürlich verstanden nur Insider, was damit gemeint war. Die Direktorin räusperte sich. „Herzlich willkommen in der Coeur-Academy. Da du schon Bekannte gefunden hast, können diese mir sicher die Erklärungen abnehmen. Ich habe nicht viel Zeit. Aber falls du trotzdem noch Fragen hast, kannst du dich gerne an die Schulleitung, oder auch die Schülervertretung wenden.“ Carsten nickte, nach wie vor ziemlich verunsichert von der Situation. Daraufhin gingen die beiden Direktoren, wobei der Direktor Carsten zum Abschied kurz zugrinste. „Hier ist es bei weitem besser, als in dem Loch, stimmt’s?“ Tatsächlich entlockte dieser Kommentar Carsten ein schwaches, dankbares Lächeln. Er schien in den letzten sechs Jahren wirklich sehr viel durchgemacht zu haben. Auch die beiden Vertrauensschüler und die Schulsprecherin stellten sich kurz vor und verabschiedeten sich dann auch schon wieder. Carsten ging auf Benni zu und an seiner Haltung und dem Blick konnte man eine deutliche Veränderung wahrnehmen, als wäre seine Schüchternheit mit einem Schlag nicht mehr existent. „Du hättest mir ruhig etwas Genaueres sagen können.“, beschwerte er sich. „Wieso? Hat doch alles geklappt.“, entgegnete Benni knapp und klappte sein Buch zu. „Sag mal… Das wievielte Mal liest du das denn jetzt?“ Carsten sah Benni ungläubig an, nachdem er einen Blick auf den Titel geworfen hatte. „Keine Ahnung.“, antwortete Benni und begrüßte Carsten mit derselben Geste, wie dieser zuvor Laura gegrüßt hatte. An Bennis Mimik hatte sich zwar nach wie vor nichts geändert, doch Carstens Lächeln zeigte überdeutlich, wie sehr er sich freute ihn wiederzusehen. Und selbst Benni merkte man an, dass seine ansonsten natürliche Distanz zu fehlen schien. „Stopp! Moment mal! Ihr kennt euch? Du kennst den eiskalten Engel???“, platzte Ariane, wie ein unangekündigter Lichtblitz dazwischen. „Klar. Schon von klein auf.“, antwortete Carsten, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. „Eine Sekunde… ‚Eiskalter Engel’?“ Carsten warf Benni einen Blick gemischt aus Kritik und Verwunderung zu. Doch dieser zuckte nur mit den Schultern. „Benni, Schatz! Da bist du ja!“, rief eine aufgebrachte Stimme. Die Blicke aller wandten sich zu einem etwas älteres Mädchen, das arschwackelnd auf die Gruppe zukam. Sie hatte kleine, blasse Augen, gerahmt von langen künstlichen Wimpern. Selbst Lissi hielt sich mehr an die Kleiderordnung als sie. Es gab zwei Arten von Mädchen, die sich sexy kleideten. Die, die es konnten und die, die es nicht konnten. Lissi und Öznur fielen in die erste Kategorie. Sie wussten, dass es nur um Kleinigkeiten ging und dass bei einem kleinen bisschen zu viel das Bild ins genaue Gegenteil umschwingen würde. Und zwar in genau so etwas wie dieses Mädchen. Mit ihrem offenen Jackett, der fehlenden Weste und der Bluse, bei der sie wohl vergessen hatte, einige Knöpfe zuzumachen und dadurch ein knalliger, rosa BH hervorlugte, sah sie aus, als wäre sie direkt von einem Freudenhaus gekommen. Die Strümpfe, die mit Bändern an ihrer Unterhose oder wahrscheinlicher ihrem String Tanga befestigt waren bestätigten diesen Eindruck auf ein Weiteres. Das Mädchen hakte sich bei Benni unter. „Du wolltest mir doch Nachhilfe in Karate geben.“, sagte sie, mit diesem widerlichen schleim-flirt-Ton, der einem die Galle hochkommen ließ. „Los komm schon, ich kann’s kaum erwarten.“ Mit diesen Worten strich sie sich durch das blondierte, am Ansatz dunkelbraune Haar und zog Benni mit sich. Dieser drehte sich noch mal halb um und hob zum Abschied die Hand.   „Also ernsthaft, was bildet sich diese Schlampe ein?!?“, schimpfte Öznur. Auch wenn sie auf dem Rundgang waren, um Carsten die Schule zu zeigen, war das Hauptthema das seltsame Mädchen. Janine überlegte. „Denkt ihr, das ist seine Freundin?“ „Nie und nimmer.“, entgegnete Ariane, offensichtlich auch wutentbrannt. Lissi kicherte. „Willkommen im Club der Eifersüchtigen, Nane-Sahne.“ „Von wegen eifersüchtig. Ich hoffe bloß für ihn, dass er einen besseren Geschmack hat, als vergammelte Flittchen.“, schnaubte sie. Laura seufzte. Hätte sie was sagen sollen? Jeder hatte das Geschehen wortlos beobachtet. Etwas einzuwenden, sei es auch nur ein Hinweis zur Höflichkeit, nicht einfach in ein Gespräch zu platzen, hatte niemand gewagt. Wenn das wirklich Bennis Freundin ist, dann… Tja, was dann? Höchst wahrscheinlich würde sich Laura von Tag zu Tag mehr über sich und ihre Dummheit ärgern. Dieser dumme Streit. Ihr dummer Drang, über zu reagieren. „Ich glaub nicht, dass Benni mit ihr zusammen ist.“, mischte sich sogar Carsten trotz seiner vorherrschenden Schüchternheit ein. „Bist du dir sicher?“ Laura sah ihn flehend an. Carsten nickte und in seinen lila Augen strahlte das Selbstvertrauen, etwas ganz sicher zu wissen. Mit diesem Blick schaffte er es tatsächlich meistens, aufgebrachte Leute wie Laura zu beruhigen. „Wenn doch, dann müsstest du das doch wissen.“ Die Mädchen sahen Carsten ungläubig an. „Du scheinst Laura lange nicht mehr gesehen zu haben. So helle ist die nicht.“, meinte Anne. Ihre Stimme hatte etwas Fieses, Sarkastisches und erinnerte Laura an das Zischen einer Schlange, wenn sie ihre Beute sah. Statt Anne trat Laura Carsten gegen das Schienbein und warf ihm einen warnenden Blick zu. „Was denn?“, fragte dieser irritiert. „Jetzt sag schon, kennst du den Schulsprecher nun, oder nicht?“ Wieder kam Susanne auf das Thema. Arianes Antwort schien sie nicht überzeugt zu haben, obwohl Laura es sofort geglaubt hätte, würde sie es nicht besser wissen. Wie ferngesteuert schüttelte Laura den Kopf. Auch Carsten schien jetzt den Grund ihres Tritts verstanden zu haben, wenn auch nicht, warum sie das geheim hielt. So genau wusste das allerdings noch nicht einmal Laura selbst. Susanne seufzte mal wieder und übernahm stattdessen die Führung, weil sie zum dritten Mal an derselben Stelle angelangt waren. „Du scheinst dir ja ganz schön sicher zu sein.“, meinte Ariane zweifelnd. „Es ist auch so, Nanchen. Wenn Bennlèy eine Freundin hätte, wäre ich die erste, die das wüsste.“, meinte Lissi, mit der Selbstverständlichkeit, dass die Welt rund ist. „Ach komm schon, wann weißt du denn was.“, zischte Anne, „Ich hab doch deinen Test in Geschichte gesehen.“ „Ich weiß halt das Wichtige. Die Lehrer nicht.“, entgegnete Lissi stumpf. Öznur seufzte. „Wie oft kann man eigentlich vom Thema abweichen? Also heißt das, der eiskalte Engel ist noch single?“ Carsten konnte sich das Lachen nicht verkneifen. „Oh Gott, warum beschäftigt euch das denn so? Bei Laura kann ich es ja verstehen, aber ihr seid doch nicht alle ernsthaft in Benni verknallt?!“ „Na ja… Er ist sexy, stark, schlau, hat einen hohen Rang… Was will man mehr?“, meinte Öznur und überlegte nach weiteren Gründen, Benni toll zu finden. Anne schnaubte und einzelne Strähnen ihres kurzen, hellbraunen Haars kitzelte beim nach vorne schwingen ihre dunklen Wangen. „Ich kenn mich in so was ja nicht aus, aber ich würde mal sagen, er sollte sympathisch sein.“ „Endlich mal jemand, der seine Güte in Frage stellt.“ Carsten zwinkerte Laura zu, die verlegen zurücklächelte. Irgendwie hatten die beiden sogar Recht… „Also gut, dein eigentliches Thema: Bennis genervter Gesichtsausdruck als die ihn weggeschleift hat sagt doch alles, oder? Vermutlich hat sie sich im Unterricht nur so blöd angestellt, dass der Lehrer in seiner Verzweiflung jemanden für sie zur Nachhilfe gesucht hatte und irgendwie hat Benni das Talent, immer für sowas herausgepickt zu werden. Er ist sehr gut im Erklären, aber in diesem Fall ist ihm das wohl eher zum Verhängnis geworden.“, meinte Carsten und atmete tief durch, um nicht gleich wieder einen Lachanfall von den Schwärmereien der Mädchen zu bekommen. Nachdem sich die Sache endlich geklärt hatte, konnten die Mädchen sich endlich darauf konzentrieren, Carsten das Schulgelände zu zeigen, das bereits von den Schatten der Nacht umhüllt wurde. Schließlich verabschiedeten sie sich voneinander und trennten sich an dem Brunnen des großen Platzes. Das war inzwischen ihr Lieblingsort geworden. Der Brunnen hatte etwas Beschützendes, Sicheres an sich. Wie ein Retter in der Not. Völlig übermüdet ließ sich Laura ins Bett fallen. Sie könnte sofort einschlafen und würde sich ohnehin am liebsten zu den Winterschläfern gesellen, müsste sich nicht Ariane noch mit ihr unterhalten. „Ach Mist!!!“, begann diese plötzlich loszufluchen. „Was ist denn?“, brachte Laura mühsam hervor. „Ich hab doch glatt die Wette vergessen, Anne muss ihn noch küssen! Wobei er mir da schon etwas Leid tut. Von ihr geküsst zu werden…“ Laura kicherte. „Er wird’s überleben.“ Ariane lachte zustimmend. „Hast Recht. Wenn der nicht nett ist schreibt Lissi in Mathe ne eins.“ „Oh je… Pass auf, was du da sagst. Susanne gibt ihr doch bestimmt Nachhilfe.“ „Da hat die Arme aber viel zu tun…“ Ariane kicherte. Eine Weile war es still. Nun konnte Laura doch nicht sofort einschlafen. „Komisch…“, begann Ariane zu überlegen. Laura sah neugierig auf die gegenüberliegende Seite, wo Arianes Bett stand. „Was denn?“ „Na ja…“, begann Ariane zögernd, „Du bist doch mit diesem… äh… Carsten befreundet. Und er und der eiskalte Engel sind Sandkastenfreunde… Müsstest du ihn dann nicht auch mal getroffen haben? Bei einem Geburtstag oder so? Ich meine… So jemand ist nicht einfach zu übersehen, wenn du verstehst was ich meine.“ Mist, wäre Laura doch bloß eingeschlafen. Aber warum musste sie sich auch immer mehr in die Geschichte reinreiten? Irgendwann glaubte sie selbst es vielleicht auch noch. „Laura?“, fragte Ariane in die Stille. Laura bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Ariane schien ihr ihren gespielten Schlaf abzunehmen. „Na was soll’s, gute Nacht.“ Daraufhin war Ruhe. Schweigend starrte Laura auf die Decke, die sich wie ein schwarzes Loch über ihrem Kopf erstreckte. Sie hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch, als würde man sich einbilden, krank zu sein und sich dann auch tatsächlich so fühlen. Am liebsten würde sie morgen bis mittags ausschlafen, so wie sie es sonst immer an einem Samstag tat, aber stattdessen war Praxis im Kampfkunstunterricht. Und das durfte sie auf keinen Fall verpassen.   Gähnend hörte Laura ihrem Kampfkunstlehrer, Herrn Nunjitsu zu. Sie hätte sich doch krankmelden sollen. Seit der letzten Woche ging es ihr grottenschlecht. Und Faustkampf war auch dort das Thema gewesen und da hatte sie sich noch extra aus dem Bett gemüht. Nur weil es so viele verschiedene Kampfkünste gab. Carsten war inzwischen auch eine Woche hier und wurde sofort Klassenbester, so wie Susanne. Trotz allem waren sie keine Rivalen. Wie auch, wenn man immer volle Punktzahl hatte? Da er Magier und Anne Kampfkünstlerin war, wurde aus Arianes Wettgewinn bisher nichts, da Anne fast nie zu sehen war. Öznur sollte der Gruppe von ihr ausrichten, dass sie sich ihrer Niederlage bewusst war, aber keinesfalls einen Jungen küssen würde. Laura seufzte. Die hat echt Probleme. Was ich alles tun würde, dass Benni mir überhaupt seine Aufmerksamkeit schenken würde. Ihn zu küssen… Als Lauras Wangen bei dem Gedanken daran unangenehm warm wurden, riss sie sich zurück in die reale Welt. Immerhin musste Anne Carsten küssen und nicht Benni. Bei dem hätte sie höchst wahrscheinlich noch mehr Gezeter gemacht. Und selbst wenn Laura eine Wette verlieren würde, bei der es hieß, der Verlierer müsse Benni, den eiskalten Engel, den Schulsprecher, Bennlèy oder wie er sonst noch hieß küssen, wäre sie davor wohl vor Scham umgefallen und bereit für die Notaufnahme. „Heute bist du dran.“, hörte Laura Ariane zu Anne flüstern. „Du klingst ja wie ein Hai auf Beutejagt! Vergiss es!“, zischte Anne mit ihrem fiesen Schlangenton zurück. Kurz bevor Laura doch dazu kam, sich wegen Bauchschmerzen vom Unterricht befreien zu lassen, endete dieser wie auf Befehl. Grob packte Ariane Anne, die sich wieder verdrücken wollte, an den Schultern und schob sie vor sich her. „Hör damit auf, sonst erwürge ich dich!“, schrie Anne, doch zur Ausnahme schien Ariane mal die Stärkere der beiden zu sein. In einem beeindruckenden Tempo brachte sie die zeternde und fluchende Anne in den Mensaturm. Die einerseits neugierigen und andererseits irritierten Blicke ihrer Mitschüler störten sie nicht. Endlich an ihrem Platz angekommen, warteten die Magier bereits. „Anne!!! Schön zu sehen, dass du zu sehen bist!“; rief Öznur lachend. Ihre braunen gelockten Haare waren ordentlich zu einem Hochzopf zusammengebunden, da sie immer scherzte, dass sie sich diese sonst abfackeln würde. Auch wenn zurzeit nicht mit Feuermagie hantiert wurde. Anne schnaubte. „Vergesst es, ich mach das nicht.“ „Was für eine schlechte Verliererin du bist.“, kam nun sogar Janine zu Wort. Öznur klopfte ihr auf die Schulter. „Komm schon, so schlimm wird’s schon nicht.“ „Was ist denn los?“, fragte Carsten. Ihm war nicht bewusst, was da auf ihn zukam. „Los jetzt!“, sagte Ariane und stieß Anne nach vorne. „Ja, ja, ja, gut. Ich mach’s. Dann hab ich jedenfalls endlich meine Ruhe.“ Lissi seufzte. „Da ist doch überhaupt keine Action dabei. Auf den Mund wär viel spannender gewesen.“ Öznur nickte. „Kann sein, aber so ist das nun mal beschlossen.“ „Abgesehen davon, wer würde sich schon seinen ersten richtigen Kuss von Anne nehmen lassen?“, fügte Laura hinzu. Ariane nickte. „Außerdem.“ „Wovon redet ihr denn?“, drängte Carsten, dem bereits unwohl wurde. Natürlich hatte ihn niemand in die Wette eingeweiht. Doch da passierte es auch schon. Für einen kurzen Moment berührten Annes Lippen Carstens Wange. Öznur lachte. „Wie süß! Beide werden rot!“ Laura kicherte und klopfte Carsten auf die Schulter. Er war so süß, wenn er verlegen war und beschämt den Blicken der anderen auszuweichen versuchte. Das mulmige Bauchgefühl, das sie seit dem Abend seiner Ankunft hatte, hatte sie inzwischen völlig vergessen. Ariane grinste. „Das kommt in mein Fotoalbum.“ „Zeig her!“, rief Öznur und beugte sich zu ihr rüber. „OH. WIE. SÜß!!!“ „Woher zum Teufel hast du die Kamera?!“, fragte Anne, immer noch knallrot im Gesicht. Auch Laura wunderte sich, wie schnell Ariane es geschafft hatte, die Kamera herauszuholen und ein Foto zu machen. Anne versuchte verzweifelt, das Foto zu zerstören, was aber sowohl von Ariane und Öznur, als auch von Lissi und sogar Susanne und Janine verhindert wurde. Verlegen berührte Carsten die Stelle, auf die Anne ihn geküsst hatte. „Sag mal… Was war denn das?“, fragte er Laura zögernd. Laura wandte sich an die um die Kamera kämpfende Gruppe. „Darf ich es ihm sagen?!?“, rief sie in das Menschenknäul. „Ja, ja, mach ruhig!!!“, kam von irgendwoher (höchstwahrscheinlich dem Boden) Arianes Stimme. „Also… Ariane und Anne hatten gewettet, ob der neue Schüler, also du, nett ist. Der Verlierer musste ihn küssen.“, erklärte Laura ihm. Ein leichtes Lächeln breitete sich auf Carstens Lippen aus. „Also hat Anne gemeint, ich wäre total lieb.“ Laura gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „So ein Unsinn. Anne dachte, du wärst unausstehlich.“ Carsten packte die lachende Laura und nahm sie in den Schwitzkasten. „Bin ich doch!“ „Entschuldigt, wenn ich euere kleine Gruppenprügelei störe, aber wenn ihr euch schon auf den Boden werfen müsst, dann könntet ihr auch von unserem Platz verschwinden.“, sagte eine widerliche, schleimige Stimme, die Laura schon seit einer Woche im Kopf echote. Carsten befreite sie und das Knäuel löste sich. Die Kamera hatte Ariane immer noch fest in der Hand. „Entschuldigung.“ Janine senkte den Kopf. „Aber was den Platz betrifft, so waren wir zuerst hier.“, fügte Susanne hinzu. Sie saßen um einiges höher als sonst, genau gegenüber von dem Tisch der Schülervertretung. „Mag sein, aber wir sitzen hier immer. Dieser Tisch gehört praktisch uns.“, erklärte das Blondgefärbte Bordellmädchen. „Ich wüsste nicht, dass hier irgendwo eure Namen stehen.“, widersprach Laura. Sie mochte diesen Tisch. Dort hatte sie freie Sicht auf Benni, der nur dummerweise überhaupt nicht auf seinem Platz, am Tischende des Schülervertretungstisches saß. „Sag mal, wie kannst du es wagen der Tochter des Bürgermeisters von Rolexa zu widersprechen?!?“, zickte eine weitere Blondine neben Fräulein Bordell. „Was für’n Ding?“, fragte Öznur. „Rolexa ist eine Stadt in Terra, Cors Nachbar Region.“, antwortete Carsten prompt. Fräulein Bordell fuhr mit einem ihrer künstlichen Fingernägel Carstens Narben nach, welcher bei der plötzlichen Nähe vor Schock erstarrte. „Schlau. Und hübsch noch dazu. Falls mein Freund mit mir Schluss machen würde, was ich bezweifle, wärst du eine gute Zweitwahl.“ „Fass Carsten nicht an.“, fauchte Laura und zog ihren besten Freund aus der Reichweite der Tussi. Alleine von diesem Mädchen berührt zu werden schien ihm tausendmal unangenehmer zu sein als zuvor Annes Kuss auf die Wange. Was bei Carstens intuitiver Menschenkenntnis zwar für Anne, aber dafür auch sehr stark gegen diese Tussi sprach. Und die aufkommende Aggression bei dem Wissen, wen sie mit ihrem ‚Freund‘ gemeint hatte, machte es umso schwerer die Selbstbeherrschung zu wahren. Fräulein Bordell musterte Laura von Kopf bis Fuß. „Niedere Bauerntochter. Denkst du, du hättest auch nur annähernd das Recht, mir gegenüber die Stimme zu erheben?“ Carsten legte seine Hand auf Lauras Schulter. Er merkte, wie schwer es ihr fiel sich und damit auch ihre Kraft zu kontrollieren. Aber wenn nicht, würde es für ihren Umkreis fatal werden. „Als Prinzessin und zukünftiges Oberhaupt des Siebenerrats der Yami-Region hat sie das tatsächlich.“, nahm Susanne Laura in Schutz, die sofort bemerkt hatte, dass diese Tussen nur auf Aussehen und sozialen Status achteten. Fräulein Bordells Augen verrenkten sich zu Schlitzen und wurden noch kleiner als davor. „Das soll die Tochter von dem Herrscher der Yami-Region sein? Die da ist eine Lenz?!?“ Ein Lächeln, wie als wäre der Sieg ihr bereits sicher, breitete sich auf Lauras Lippen aus. „Stell dir vor. Aber wenn du ein Problem mit uns hast, dann lass es uns doch bitte wissen.“ „Na schön, Prinzesschen. Du kannst ja gerne hier bleiben. Aber deine Bauernfreunde sollen gefälligst verschwinden, sie machen hier alles dreckig.“ Mit einem abfälligen Blick funkelte Fräulein Bordell den Rest der Gruppe an. Energisch stemmte Öznur die Hände in die Hüften. Sie als Bäuerin zu bezeichnen war mit der Todesstrafe belegt, so viel stand sicher. „Abgesehen davon, dass Fräulein Bürgermeistertochter einer wahren Prinzessin nicht das Wasser reichen kann, sind unter uns keine Bauern vorhanden, sondern die Tochter der Regentin Desserts und der Sohn des äh…“ „…und der Zweitgeborene des Häuptlings Indigos.“, half Susanne nach. Auch wenn Susanne nur klare Fakten verbessert hat, packte Fräulein Bordell sie am Hals und schlug sie mit dem Kopf gegen das farbenfrohe Mosaikbild an der Wand. Doch bevor sie zuschlagen konnte, ergriff Lissi ihren Arm. Ihrem Blick nach zu urteilen war nun jeglicher Spaß vorbei. Ein aus dem Nichts kommender Wasserfall stürzte auf die Angreiferin herab und stieß sie einige Stufen hinunter. Als sich Fräulein Bordell aufrichtete, war das Wasser allerdings schon spuren- und pfützenlos verschwunden, als hätte es sich nur um eine Täuschung ihrer Sinne gehandelt. „Was zum Teufel war das?!?“, schrie sie. Hundeartig fletschte sie die Zähne. „Du kleine Schlampe!“ Sie wollte sich auf Lissi stürzen, doch dieses Mal packte Anne Fräulein Bordells Arm und warf sie über die Schulter hinweg schmerzhaft auf den Boden. „Hast du endlich genug?“ Diese gab einen weiteren Angriff auf und mühte sich stattdessen hoch, um die Gruppe anzuschimpfen. „Was seid ihr denn für eine Horde Verrückte? Das reicht, ich werde mich bei meinem Freund, dem Schulsprecher, beschweren. Seid froh, dass ich nicht direkt zu den Direktoren gehe. Denn ihn kann ich bitten, Gnade vor Recht walten zu lassen.“ Nun war auch bei Laura die Sicherung geplatzt. „Hör. Endlich. Auf. Benni! Deinen! Freund!!! Zu!!! Nennen!!!“, brüllte sie und mit einem Schlag entwich Unmengen von Energie aus ihrem Körper. Die Finsternis breitete sich aus, Fräulein Bordell und ihre Anbeterinnen kreischten panisch und versuchten, vor den schwarzen rauchartigen Ranken zurückzuweichen. Aber erfolglos. Die Mädchen und Carsten beobachteten das Geschehen atemlos, konnten aber nichts ausrichten, ohne selbst von Lauras Finsternis-Energie verschlungen zu werden. Laura wurde buchstäblich schwarz vor Augen. Sie fühlte sich unendlich mächtig, keiner war ihr gewachsen. Doch gleichzeitig zitterte sie vor Angst. Diese Macht war das Böse, der Untergang und sie konnte sie nicht kontrollieren. Panisch kniff Laura die Augen zusammen, war selbst von dem Kontrollverlust überwältigt. Sie hatte Angst. Sie wollte niemanden versehentlich verletzen! Bitte, mach dass es aufhört!, schrie sie im Geiste, nicht wissend, an wen das überhaupt gerichtet war. Da spürte sie plötzlich wie die Finsternis nur noch ihren Körper einhüllte und schließlich wieder in ihrem Inneren verschwand. Mit einem Schlag verließ sie die Kraft, die sie so stark fühlen ließ. Keuchend sank sie auf die Knie. Sofort war Carsten neben ihr. „Du kannst es immer noch nicht kontrollieren?“, fragte er und Laura bemühte sich, mit einem Kopfschütteln zu antworten. Nein, konnte sie nicht. Das konnte sie nie. „W- Was war das denn?“, fragte Öznur, immer noch atemlos. „Ein unkontrollierter Ausbruch von Energie, wenn ihr Beherrscher die Kontrolle über sich selbst und seine Kraft verliert.“, erklärte Susanne. Ihr schien es gut zu gehen. Als wäre Fräulein Bordells Angriff nie gewesen. „Aber das heißt doch Laura ist…“, setzte Ariane an, beendete ihren Satz aber nicht. „Liebling! Ein Glück das du gekommen bist. Diese Verrückten haben mich angegriffen!!!“, schrie Fräulein Bordell, eilte einige Stufen runter, durch die immer noch erstarrten Mädchen und warf sich Benni an den Hals. Beziehungsweise sie versuchte es, doch Benni blockte sie ausdruckslos mit einer Geste ab, die schon fast wie eine abgeschwächte Karate-Bewegung aussah. „Das sagt die Richtige. Wer hat hier denn Susanne grundlos gegen die Wand geschleudert?!“, beschwerte sich Öznur, als erste die Fassung wiedergewinnend. „Aber- Aber Schatz! Sag doch etwas! Schick sie zur Direktorin, bitte, tu’s für mich!“, brüllte das Mädchen und klammerte sich an Bennis Jackett. Nicht gerade sanft schob dieser sie endlich von sich weg. „Gut, aber nur, weil die Direktorin mich darum gebeten hat.“ „Hä?“ Ariane starrte Benni verwirrt an, als neben ihm die Schulsprecherin auftauchte. „Lisa Rapuko. Also echt, schon alleine dafür, dass du dich die ganze Zeit als Freundin des Schulsprechers ausgibst würde ich dich zur Direktorin schicken wollen. Wie nervig kann Mensch sein?!?“ „Wie bitte? Warum sollte ich mich als seine Freundin ausgeben? Ich bin seine Freundin!“, brüllte Lisa sie an. Sowohl die Schulsprecherin, als auch Benni verdrehten genervt die Augen. „Geht das schon wieder los.“, seufzte Sarah, die Schulsprecherin. „Schicken wir sie jetzt endlich zu einem Seelenklempner?“, fragte Benni trocken. Sarah lachte. „Gute Idee, komm Lisa. Etwas Realität wird dir guttun. Die Vertrauensschüler verzweifeln ja bei dir.“ „Aber-“, schluchzte Lisa, doch Sarah zog sie mit sich. „Also kommt.“ In Bennis Stimme lag kein befehlerischer Ton, aber trotzdem zuckten einige der Mädchen bei dem autoritären Klang zusammen. „Was haben wir denn angestellt? Du selbst hast doch gesagt, dass diese Lisa psychiatrische Hilfe braucht.“, fragte Ariane zögernd, als sie über den in Abendrot getauchten großen Platz gingen. „Nichts. Die Direktorin möchte mit euch sprechen.“, antwortete Benni und bog in eine Seitengasse neben dem Jungenwohnheim ein, wo ein weiteres Barock Gebäude stand. Und auch in diesem Gebäude wurde es zu einem Goldpalast. Zögernd folgten sie ihm, eine Wendeltreppe hinauf zu einer wallnussbraunen Holztür. In silbernen Buchstaben konnte man -Schülervertretung- lesen.  Laura zitterte immer noch am ganzen Körper. Zwar hatte sie sich von der plötzlichen Energieattacke bereits etwas erholt, doch ihr war nun auch klar, dass die Mädchen das erfahren hatten, was sie verzweifelt zu verbergen versucht hatte. Es war keine Frage, dass die Mädchen jetzt über ihr Geheimnis bescheid wussten. Laura hielt inne. Aber nicht nur sie hatte Energie materialisiert. Der aus dem Nichts kommende Wasserfall als Lissi ihre Schwester beschützt hatte… Das war doch auch Energie gewesen! So etwas konnten Dämonenverbundene spüren. Benni öffnete die Tür zum Büro der Schülervertretung und zögernd trat eine nach der anderen ein. Auch Carsten wurde mitgeschleppt, der aber nicht so verstört wie der Großteil vom Rest wirkte. Benni wies mit dem Kopf an eine Wand, wo Holzstühle mit blauem und rotem Samtbezug und schwarze Ledersofas standen. Die Gruppe verteilte sich auf die Sitzmöglichkeiten, während sich Benni hinter einen großen Kirschbaumholztisch setzte und scheinbar gelangweilt die Arme vor der Brust verschränkte. Eine weitere Tür öffnete sich und die Direktorin trat mit dem Direktor und noch einem weiteren Lehrer im Schlepptau ein. Kapitel 7: Geheimnisse ----------------------   Geheimnisse       „Also gut, da seid ihr ja endlich.“, sagte die Direktorin, in einem strengen befehlenden Ton, den nur Lehrer oder Eltern draufhaben konnten und setzte sich auf ein Sofa gegenüber der Gruppe. Der Direktor zwinkerte ihnen nur kurz aufmunternd zu und stützte sich mit den Unterarmen auf der Rückenlehne hinter dem Sofa ab. Laura musterte den dritten Lehrer, ein Wesen mit Männeroberkörper und dem restlichen Körper eines Pferdes. Zentauren waren selten geworden, Laura hatte noch nie zuvor eines dieser edlen Wesen gesehen. „Frau Bôss, wir haben nichts gemacht, wirklich! Oder steht in der Schulordnung, dass Beziehungen zwischen Jungs und Mädchen verboten sind? Das war nur eine Wette, also seien sie doch nicht so streng mit Anne und Carsten, der davon übrigens völlig überrumpelt wurde. An sich war es ja auch meine Idee, wobei Lissi mit der Sache mit dem Küssen dazu kam, also…“, plapperte Ariane drauf los. Der Direktor lachte. „Regt euch nicht so auf, niemand will euch bestrafen. Aber Carsten: Du solltest vielleicht in Zukunft besser aufpassen, ich kenn ja deine Akte.“, scherzte er, worauf hin Carsten mit einem verlegenen und irgendwie auch belustigten Lächeln den Blick senkte. Laura warf ihrem besten Freund einen irritierten Blick zu. Was soll denn bitte in seiner Akte sein, dass Herr Bôss diese als Scherz nutzen konnte? Immer noch mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, begann dieser zu erklären: „Den Grund, warum wir euch rufen ließen habt, ihr inzwischen schon mit euren eigenen Augen gesehen.“ Verwirrt sahen sich einige Mädchen im Raum um. „Ist es diese Sache mit… der Energie?“, fragte Susanne zögernd. Wieder lachte der Direktor. „Hab keine Scheu, es direkt anzusprechen. Natürlich wissen alle Anwesenden hier im Raum darüber bescheid und es wird euch überraschen, wie nah ihr euch seid.“ „Hä?“ Fragend sah Ariane den Direktor an, doch dieses Mal ergriff der Zentaur das Wort: „Euch verbindet die Macht.“ „Häää?“, fragte nun auch Lissi. Der Zentaur seufzte. Er schien nicht erwartet zu haben, wie schwer einige der Mädchen von Begriff waren. „So wie es meine Bestimmung ist, die Sterne zu lesen, so ist es eure Bestimmung, einander zu helfen und die Welt von den Sündern zu befreien, die das Unheil wünschen. Ihr alle seid mit den mächtigsten Wesen aller Galaxien verbunden: Den Dämonen, den gesandten Gottes, die über Damon wachen.“ Die Mädchen sahen einander an. Niemand schien zu wissen, was er sagen sollte. Die Tür ging auf und die Schulsprecherin kam mit einem Stapel Formulare herein. „Ihr habt euch vor euren Gleichgesinnten versteckt. Ihr seid alle Dämonenbesitzer.“, erklärte Sarah es etwas ausführlicher und knallte den Formularstapel auf Bennis Tisch, der ihn nicht sehr erfreut musterte. „Moment mal… Das heißt ich bin nicht die einzige hier mit einem Dämon?“, fragte Öznur. Ariane starrte sie an. „Du bist auch eine Dämonenbesitzerin???“ „Mit dem auch meinst du, wir sind alle Dämonenbesitzer!“ Laura ging ein Licht auf. Der Direktor begann loszuprusten. „Ihr solltet mal eure Gesichter sehen! Ich liebe diese plötzlichen Überraschungsmomente! Was denkt ihr, warum ihr euch schon an eurem ersten Tag kennen gelernt habt?“ Susanne überlegte. „Sie meinen, die Dämonen in unserem Inneren haben die Anwesenheit ihrer Gleichgesinnten gespürt und haben uns, ohne dass wir es wussten, zusammengebracht?“ Der Direktor nickte. „Das erklärt aber nicht die Sache mit den Zimmern.“, meinte Janine und alle erinnerten sich an das schaurige Gefühl, als sie sich kennen gelernt hatten und feststellen mussten, dass sie alle in Zimmern nebeneinander und miteinander lebten. „Eine der Lehrerinnen ist Wahrsagerin. Sie hat eure Ankunft gespürt und so konnten wir die Macht, die euch verbindet, stärken.“, sagte die Direktorin. „Das ist doch alles Unsinn! Warum stärken Sie uns, wenn wir Dämonenbesitzer doch von allen gefürchtet werden?!“ Laura schnaubte wütend. Der Direktor seufzte. „Da sieht man es. Warum müssen die Finsternis-Energie-Beherrscher immer so pessimistisch sein?“ Dabei wanderte sein Blick für einen kurzen Moment in Richtung Schreibtisch, wo Benni allerdings nur kurz von dem Blatt aus dem Formularberg aufschaute. Herr Bôss zuckte mit den Schultern. „Wenn ihr nicht stärker werdet, könnt ihr die Sache mit ‚die Welt vor dem Bösen beschützen‘ vergessen.“ Anne warf einen kritischen Blick auf die beiden Schulsprecher. „Was haben die eigentlich noch hier zu suchen?“ „Keine Sorge, die Schülervertretung weiß Bescheid. Aber Sarah: Der Unterricht beginnt gleich wieder.“, sagte die Direktorin und warf Sarah einen warnenden Blick zu. Sarah nickte. „Ja, ja, ich geh ja schon. Ihr im ersten Jahr habt’s gut. Wisst ihr, wie blöd Unterricht samstagnachmittags ist?“ Mit diesen Worten verließ sie das Büro. „Hey eiskalter Engel, du kannst auch ruhig zu uns kommen. Jetzt wird’s lustig.“, rief der Direktor zu Benni rüber, doch der schüttelte den Kopf und bleib auf seinem Platz am Schreibtisch sitzen während er beiläufig das nächste Formular überflog. Der Direktor seufzte. „Typisch.“ „Musst du nicht auch zum Unterricht?“, fragte Ariane, doch Benni schwieg weiterhin. „Der muss hierbleiben, der Lehrer weiß schon bescheid.“, antwortete der Direktor an seiner Stelle. „Also gut, beginnen wir mit einer Sonderstunde Dämonologie.“, sagte der Direktor und blickte rüber zu dem Zentauren. Der nickte. Gespannt lauschten die Mädchen seiner Stimme, die eines Dichters würdig war. „Also gut, die Vorgeschichte Damons müsstet ihr vielleicht schon im Geschichtsunterricht angesprochen haben: Der magische Krieg. Ich möchte eurem Geschichtslehrer nicht den Spaß verderben, euch diesen komplizierten Konflikt zu erklären, doch ihr müsst wissen, er war der Anfang der Dämonenzeit. Vor 179 Jahren endete der Krieg und unsere Welt war nichts als ein Planet, bestehend aus Zerstörung, Tod und Verzweiflung. Gott hatte Mitleid mit den Wesen dieses Planeten, die ihre Strafe bereits erhalten hatten, also stellte er einen Teil der Welt wieder her, wo die Wesen, seinen es Menschen, Tiere oder auch magische Geschöpfe, in Frieden miteinander leben sollten. Als Wächter über den Frieden, der von da an herrschen sollte, sandte er seine mächtigsten Diener, die Herrscher über das Leben und den Tod, auch bekannt als Dämonen, auf diese Welt, damit sie jene bestraften, die es nicht würdig waren, Gottes Gnade zu erhalten. Diese Sünder wurden in Gottes Namen von den Dämonen verbannt, an einen Ort, außerhalb von Zeit und Raum, zwischen der Welt der Lebenden und Toten. Doch die Dämonen konnten sich nicht in ihrer wahren Gestalt zeigen. Die Menschen fürchten das Unbekannte und das Andere, und so begannen sie, ihre Aufgabe im Verborgenen zu erfüllen. Dazu dienen die Dämonenbesitzer, Wesen mit der Gabe für spirituelle oder körperliche Kraft. Die Dämonen spüren die Anwesenheit eines starken Sünders, eines Friedenstörers und handeln durch ihren Besitzer. Doch durch ihre eingeschränkte Kraft, brauchten die Dämonen Hilfe. Diese fanden sie bei weiteren Wesen mit einer der altertümlichen Gaben und durch ihren Segen waren auch sie in der Lage, der Aufgabe der Dämonen nachzugehen. Mit der Energie war es ihnen möglich, ebenso wie die Dämonenbesitzer, Sünder in die Verdammnis zu schicken. Sie sollten mit der Kraft, die sie durch den Dämon bekommen hatten, die Dämonenbesitzer beschützen und sie bei ihrer Aufgabe unterstützen. Nebenbei hatten die Dämonen auch spezielle Lieblinge. Wesen reinen Herzens, die ihre Kraft auch in den Dienst Gottes stellten und durch ein Mal als ehrfürchtige Diener Gottes und Helfer der Dämonen gezeichnet wurden.“ Laura versuchte sich jedes Wort gut einzuprägen. Es war eindeutig, dass dieses Geschöpf Lehrer war. Ohne mit den Wimpern zu zucken hielt er einen Vortrag über die Entstehung der Dämonenbesitzer, -gesegneten und –gezeichneten und sie hatte natürlich alle Mühe, ihm folgen zu können. Nun schien sein Vortrag sich dem Ende zu nähern. „Dass jeder von euch die Macht, die in ihm lebt geheim hält, jedenfalls es geheim zu halten versucht, ist eine Selbstverständlichkeit, damit ihr nicht gefürchtet werdet und ihr eurer Aufgabe, auch wenn ihr sie gar nicht bewusst wahrnehmt, ungestört ausführen könnt.“ „Also noch mal für Dumme: Wir sind alle Dämonenbesitzer.“, schloss Öznur. „Boah, cool! Und ich dachte schon, Susi und ich wären die einzigen Engel!“, schoss es aus Lissi heraus. „Engel ist ein gutes Stichwort, Herrscherin über den Blauen Wolf. Die Dämonenverbundenen erkennt man nämlich an ihrem engelsgleichen Aussehen. Manche vermuten sogar, dass diese Wesen Engel seinen, die unter Irdischen leben.“, erklärte der Zentaur. „Vielen dank für Ihre ausführliche Erklärung, Herr Semikabal.“ Frau Bôss stellte sich wieder hin und wandte sich an die Gruppe, die verteilt auf den Sofas und Stühlen saß. „Vielleicht habt ihr schon selbst einige Charaktereigenschaften, Gesten oder Mimiken eurer Mitdämonenbesitzer gesehen, die euch an einen der Dämonen erinnert. Da haben wir zum Beispiel dich, Fräulein Betz.“ Die Direktorin wies auf Janine. Erschrocken senkte diese den Blick, als sie genannt wurde. Sie schien sich bei so einer geballten Ladung an Aufmerksamkeit sogar noch unwohler zu fühlen als Laura, so wie sie nervös mit der Schleife ihrer Schuluniform zu spielen begann. Die Direktorin sprach ungestört weiter. „Auch, wenn man dich auf den ersten Blick nie mit einer Tarantel vergleichen würde, so sind doch Ähnlichkeiten vorhanden. So wie alle Spinnen bist du eher scheu, doch wenn dir jemand etwas antun möchte, so wartest du, bis er in deinem Netz gefangen ist und deiner Gift-Energie zum Opfer fällt.“ „Ich habe gehört, dass du sogar ein Händchen für Nähen und Stricken hast.“, fügte der Direktor hinzu. „So ein Unsinn! Sie wollen uns weismachen, dass in Janine die Gelbe Tarantel ist? Das ist doch Quatsch! Das einzige was die gemein haben, ist die Haarfarbe und die Vorliebe für gelb!“, widersprach Laura. Sie hatte panische Angst vor Spinnen und konnte es nicht fassen, dass dieses süße Mädchen die Besitzerin des Dämons mit den meisten Beinen war. „Also Laura, Spinnen sind voll süß!“, widersprach Ariane. „Aber trotzdem… Ninie könnte nie jemandem was zu leide tun, warum herrscht sie dann über eine so tödliche Kraft?“ „Jede Kraft bringt sowohl den Tod, als auch das Leben mit sich. Gift kann sowohl des Mordes wegen, als auch zur Heilung als Gegengift benutzt werden. Es ist nur die Frage, welche Eigenschaft man wählt.“, meinte die Direktorin. Janine seufzte. „Ich kann mit dieser Kraft nicht umgehen.“ „Weil du es nie gelernt hast.“, warf der Direktor mit einem sanften Ton ein. „Ich habe Mur nie gesehen, aber mehr als genug darüber gehört. Natürlich wärst du ihnen dort ein Dorn im Auge, wenn du die volle Macht hättest und ‚schlimme Sünder‘ hinrichten würdest. Dort zählen immerhin die wichtigsten Leute dazu.“ Er zuckte mit den Schultern. „Eigentlich ist das eine weitere Verbindung. Spinnen beseitigen das Ungeziefer, doch die Menschen wollen sie trotz allem loswerden.“ Laura schauderte. Ja klar, Spinnen waren ja auch unheimlich! Nun ergriff die Direktorin wieder das Wort. „Leichter haben es diejenigen, denen die Macht schon von Geburt an zugesprochen wurde. Du wirst von deinem Volk respektiert, obwohl du im Besitz der Grünen Schlange bist, so ist das doch, oder Anne?“ Alle Augen richteten sich nun auf Anne, die zwar etwas zögernd, aber trotzdem zustimmend nickte. „Stimmt schon, auch wenn es nur die engsten Bekannten wissen…“, überlegte sie. „Du ähnelst der Grünen Schlange eher durch deine Taten, wie du dich durch das Leben schlängelst, den Konflikten wenn möglich auszuweichen versuchst und bei einer Konfrontation doch immer deinen Kopf durchsetzen musst.“ „Das trifft perfekt auf dich zu.“ Öznur lachte und das Bild, wie Ariane Anne wegen der Wette angeschleift hatte tauchte vor ihrem inneren Auge auf. „Aber Schlangen sind auch sehr leicht reizbar und wie ein Sandsturm, scheust du vor nichts zurück.“, beendete die Direktorin und wandte sich an das nächste Mädchen. „Zu dir, Öznur, muss ich wohl nicht viel sagen. Durch deine temperamentvolle Art und deine Treue zu deinen Freunden bist du wie das Feuer des Roten Fuchses.“ „Und so wie er immer auf Beutejagt.“ Ariane grinste sie an. Öznur lachte. „Ertappt.“ „Das wäre also schnell geklärt. Nun zu dir, Lissi. Ich habe gehört, dass deine Noten nicht gerade die besten sind, aber als Vorfahr des Hundes sind Wölfe intelligente, teamfähige Wesen.“ „Lissi und intelligent? Das ich nicht lache.“, platzte Anne dazwischen. Susanne sah sie vorwurfsvoll an. „Die Sand- und Schlangenbeschreibung trifft ganz schön gut auf dich zu. Lissi ist sehr Teamfähig und wenn sie mal wollen würde, wäre sie in der Schule richtig gut.“ Die Direktorin lächelte. „Zu dir komme ich auch gleich, Besitzerin des Pinken Bärs. Aber du hast Recht, wenn Lissi etwas versteht, dann kann sie das auch. Wie ein Hündchen, dem man einen neuen Trick beibringt. Sie ist ebenso unzähmbar und unberechenbar wie das Meer und handelt nach ihrer Laune raus.“ Die Mädchen überlegten. Lissi hatte sie schon mit ihrer Aktion vorhin sehr überrascht. Wer hätte gedacht, dass sie so schnell eingreifen und dadurch ihre Schwester beschützen würde? „So, jetzt also zu dir, Susanne. So wie die Heilungs-Energie, über die du herrschst bist du meist eine rettende Person, hast immer ein offenes Ohr und hilfst, wo du kannst. Und so wie ein Bär bist du gutmütig und meidest Gewalt, wenn sie nicht nötig ist.“ „So wie Winnie Pooh!“, platzte Ariane dazwischen. Laura unterdrückte beinahe erfolglos einen Lachanfall, aber immerhin gelang es ihr besser als Anne und Lissi, die laut loszuprusten begannen. Auch der Direktor konnte sich sein Grinsen nicht verkneifen. „Aber ihr müsst zugeben, die Metapher stimmt überein.“ Lissi lachte. „Besonders, weil Susi total der Honigfan ist.“ „Echt?!?“ Nun kicherten auch Laura und Ariane. Die Direktorin sprach immer noch mit ihrer ernsten Miene weiter. „Wenn wir schon bei dir sind, Ariane:“ Ariane schluckte. „Ähm, ja… Ich besitze den Weißen Hai, den Herrscher…“ „…über das Licht.“, beendete die Direktorin Arianes Satz. „So wie das Licht strahlst du etwas Besonderes aus, etwas nicht Beschreibbares. Die Leute fühlen sich in deiner Gegenwart wohl und geborgen. Du scheinst ihnen ein Teil deines Lichtes abzugeben. Doch auch wie der Hai kannst du bedrohlich sein. Wenn du mal Blut gerochen hast, verfolgst du es bis zum Ende der Welt.“ Öznur kicherte. „Oder, wenn sie gutes Essen riecht.“ Wieder brachen einige der Mädchen in Gelächter aus. Laura beugte sich, unter einem weiteren Lachanfall zu Carsten rüber. „Stimmt, Ariane liebt Essen. Du solltest mal für sie kochen.“ Carsten lächelte zurück. „Kann ich gerne machen, aber bloß nicht hier in der Schule. Irgendwann in den Ferien.“ Die Direktorin räusperte sich. Im Gegensatz zu dem Direktor war sie leider so, wie man sich eine Direktorin für eine Eliteschule vorstellt. Wobei auch sie relativ jung wirkte und eine extrem gute Figur hatte. Beeindruckende Oberweit, schlanke Taille, und dann wieder kurvig zu den Hüften. Und dann noch die blonden, langen, gelockten Haare, die sie zu einem straffen Zopf zurückgebunden hatte. Und trotzdem war sie so unsagbar streng. Eigentlich war es kaum zu glauben, dass diese strenge Frau mit dem Direktor verheiratet war. „Nun gut, kommen wir zu der letzten Dämonenbesitzerin im Bunde.“ Sie richtete ihren Blick auf Laura. „Ähm… nein, ich bin keine richtige Dämonenbesitzerin. Also, eigentlich… ähm…“, stotterte Laura. „Mag sein, dass deine Zukunft ungewiss ist, doch so, wie du hier und jetzt vor uns stehst, bist du die Besitzerin des Schwarzen Löwen, dem Herrscher der Finsternis.“ Ariane sah Laura forschend an. „Ungewisse Zukunft? Wieso denn?“ Laura schwieg. Sie wollte den Mädchen nicht von ihrer Krankheit erzählen, durch die sie eigentlich schon längst gestorben wäre, wäre der Schwarze Löwe nicht gewesen. Die plötzliche Kälte schüttelte sie, als ihr klar wurde, dass sie das alles vielleicht nie erlebt hätte. Dass sie schon längst nicht mehr leben würde. „Ähm… Laura?“, fragte Ariane. In ihrer Stimme spiegelte sich die Besorgnis. Wie als wäre das Lauras Stichwort, überkam sie ein heftiger Hustenanfall. Ein schmerzhaftes Kratzen durchzog ihre Kehle und es fiel ihr schwer zu Atem zu kommen, doch der Husten schien nicht mehr aufhören zu wollen. Carsten klopfte ihr auf den Rücken. Sein Blick wanderte zu Benni, der wie immer unbeteiligt dasaß. „Ich dachte, das hätte sich gebessert.“, meinte er, doch Benni schüttelte den Kopf. „Das ist normal.“ „Hä? Was denn?“, fragte Öznur, einerseits verwirrt, andererseits, wie Ariane, besorgt. Janine zuckte zusammen, wie als hätte jemand ihr in den Bauch geboxt. „Hat sie etwa…“, sie brach ab. Inzwischen hatte sich Lauras Husten wieder beruhigt und sie räusperte sich, um das Kratzen in ihrem Hals los zu werden. Carsten war aufgestanden und holte von einer schmalen Theke an der Wand ein Glas und eine Flasche stilles Wasser. Als er damit wieder zu ihnen kam, nickte er als Antwort auf Janines Frage. Die senkte mitleidig den Kopf. „Hä? Was denn? Was ist mit Laura los?“, fragte Ariane besorgt. Da wahrscheinlich jeder noch nachfragen würde, beschloss Laura, dass es wohl oder übel doch besser war, es ihnen direkt selbst zu erklären. Ihre Stimme war durch den Hustenanfall immer noch leicht rau und zitterte, obwohl sie sich bemühte, beherrscht zu klingen. „Das Problem ist… Ich habe Karystma, diese Krankheit, die den Körper immer mehr schwächt. Eigentlich wäre ich schon längst… na ja… nicht mehr hier, aber der Schwarze Löwe lässt mich von seiner Kraft leben. Nur es ist halt so, dass er sich bis zu meinem 16. Geburtstag entscheiden möchte, ob ich es wert bin, seine Dämonenbesitzerin zu sein. Wenn nicht, dann…“ Ihre Stimme versagte. Sie musste nicht mit den Tränen kämpfen. Die schienen erst gar nicht kommen zu wollen. Aber sie wusste, hätte sie nicht eben das Glück gehabt, dass ihre Augen seltsam trocken waren, hätte sie sofort losgeweint, wie ein Springbrunnen. Sie merkte entfernt, wie Carsten ihr das Wasserglas reichte und anschließend seine Hand auf ihren Rücken legte. „Das ist doch ein Witz!“, platzte es aus Öznur heraus. „Sag, dass das nicht wahr ist.“ Auch Susanne klang besorgt. Laura seufzte. „Ich wünschte es wäre so…“ „Warum hast du uns das nicht gesagt?“, fragte Ariane. Sie klang weder wütend, noch vorwurfsvoll, aber trotzdem enttäuscht. Und das mochte Laura überhaupt nicht. „Weil ich euch dann auch die Sache mit dem Dämon hätte erzählen müssen und… na ja… ihr habt das ja auch nicht.“, antwortete Laura. Sie wagte einen Schluck und spürte, wie angenehm es war als das kühle Wasser ihren gereizten Hals beruhigte. „Ich denke, wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Ihr habt jetzt sicher einiges unter euch zu besprechen.“, sagte die Direktorin, stand auf und verließ mit Herr Semikabal und dem Direktor, welcher der Gruppe noch ein Mal aufmunternd zuwinkte, das Büro der Schülervertretung. Kurz bevor sie die Tür zu dem Direktorenbüro schloss, warf sie Benni noch einen warnenden Blick zu. „Und du gehst jetzt besser auch zum Unterricht.“ „Wie nett sie zu dir ist.“ Carsten lachte. Gleichgültig zuckte Benni mit den Schultern und stand auch auf. „Ähm… können wir mitkommen?“, fragte Laura zögernd. Ihre Stimme zitterte immer noch etwas. „Wenn’s sein muss…“, meinte Benni und verließ das Büro. Die übrigen folgten ihm. Auf dem Weg zum Sportplatz sagte keiner ein Wort. Jeder musste das alles erst einmal verdauen. Schließlich, als die Stille langsam ungemütlich wurde, ergriff Susanne das Wort. „Carsten, du bist auch mit einem Dämon verbunden, oder?“ Carsten nickte und wie zur Antwort strich er sich gedankenlos über die drei diagonal über seine Nase verlaufenden Narben. Sie waren immer noch sehr gut zu sehen, wie eine erst zu heilen beginnende Wunde, doch sie würden immer so aussehen. „Du bist also ein Gezeichneter.“, stellte Anne fest. Sie schien Carsten tatsächlich mehr als die anderen Jungs zu mögen. … Falls man das schon mögen nennen wollte. Carsten nickte erneut. „Vom Schwarzen Löwen.“ „Kein Wunder, dass die Direktorin dich in unsere Obhut gesteckt hat. Garantiert wusste diese Wahrsagerin Bescheid.“, stellte Öznur fest. „Ich frag mich sowieso, wer das sein könnte.“, überlegte Ariane. „Frau Reklöv?“ „Pfui, die garantiert nich. Das ist ne dumme Kuh. Ich kann sie auf den Tod nicht ausstehen!“ Öznur stieß Ariane den Ellebogen in die Rippen, allerdings mit der ach so atemberaubende Kraft einer Magierin. „Ähm… Der Schulsprecher… ist der auch irgendwie mit einem Dämon verbunden?“, fragte Janine Carsten zögerlich. Der nickte. „Er ist ein Dämonengesegneter.“ „Dann ist er aber ein primärer, oder?“, stellte Susanne fest. „Ja, ist er.“, antwortete Laura und biss sich auf die Zunge. Mit einem Schlag sahen sie alle Mädchenaugen an. „So, Prinzesschen. Jetzt aber raus mit der Wahrheit. Kennst du ihn?“ Öznur warf ihr durch die Brille hindurch mit ihren großen, blauen Augen einen vorwurfsvollen Blick zu. Beschämt nickte Laura. „Also ernsthaft! Dass du das mit dem Dämon verheimlicht hast, können wir alle nur zu gut verstehen. Aber warum hast du uns bei der Sache mit dem Schulsprecher angelogen?! Das kann ich echt nicht verstehen.“ Ariane hatte wieder diesen enttäuschten Ton, den Laura nicht ertragen konnte. „Es ist… ach ich weiß nicht wieso! Ehrlich, keine Ahnung.“ Laura wusste nicht, wie sie sich verteidigen konnte oder ob sie überhaupt das Recht dazu hatte. Hatte Bennis Vermutung, sie wollte es den Mädchen nicht erzählen, weil sie ihnen dann auch beichten musste, dass sie sich mit ihm gestritten hatte, doch einen Funken Wahrheit an sich? Laura schüttelte den Kopf. „Ich weiß echt nicht, wieso.“ Ariane lachte. „Hattest wohl Angst, von Lissi oder Özi ausgequetscht zu werden.“ Carsten grinste. „Kann ich gut verstehen.“ Inzwischen waren sie in der Turnhalle des zweiten Jahres angekommen. Die Gruppe setzte sich auf die Tribüne, während sie Benni bei seinem Training beobachteten. „Der hat’s echt drauf. Was macht der hier in der Schule, wenn er sogar unendlich mal besser als die absoluten Profis ist?“, meinte Öznur. Carsten lachte. „Er hat auch den Titel ‚stärkster Kämpfer Damons‘. Das soll schon was heißen.“ „Aha… und wer ist der zweitstärkste?“, fragte Anne kritisch. Sie war auch sehr stark keine Frage, gehörte aber zu ihrem Ärgernis nicht in die Top fünf. Carsten seufzte. „Mein älterer Bruder. Leider. Aber ihm passt es nicht, nur der zweite zu sein. Das tolle ist, dass er Benni nicht das Wasser reichen kann.“ Laura lachte. „Sehr gut. Der verdient das auch nicht.“ Anne überlegte. „Ist der nicht der zukünftige Häuptling von Indigo?“ „Ja. Was hat sich Gott dabei gedacht?“ Carsten lachte, aber es klang traurig und verbittert. Laura seufzte. Der Arme stand schon immer im Schatten seines Bruders. Doch ihm hatte das nie wirklich was ausgemacht. Zwar war Laura, was das Kämpfen betraf, miserabel, aber falls Eagle oder einer seiner behinderten Freunde auf Carsten losging, war immer Benni zur Stelle und an dem wagte sich keiner vorbei. Und falls Carsten mal alleine war, konnte er sich mit ein paar mächtigen Zaubern auch recht gut verteidigen. Anne überlegte. „Durch meine Mutter weiß ich meistens was bei dem Treffen der Adligen, den sogenannten Abendgesellschaften, so das Hauptthema ist. Auch bei dir…“, sie warf Laura einen kurzen Blick zu, „…habe ich von diesem Drama mit deinen älteren Geschwistern gehört, aber ich war lieber still. Worauf ich hinaus will… ist dieser Eagle nicht auch ein…“ „…Dämonenbesitzer? Ich stelle die Weisheit des Grauen Adlers schon die ganze Zeit in Frage.“ wieder klang Carstens Lachen verbittert, aber es war weitaus normaler, als davor. „Ist er denn so schlimm?“, erkundigte sich Susanne besorgt. „Na ja… durch ihn bin ich, im ähm… in meiner vorherigen Schule gelandet.“, antwortete Carsten. „Diese Besserungsanstalt, von der du gekommen bist?“, fragte Öznur. Dieses Mal antwortete Laura. „Das kann man nicht Besserungsanstalt nennen. Das ist ein Militärinternat.“ „Da sieht man’s mal wieder. Nicht nur an dieser Schlampe von vorhin. Terra ist an sich eine Schrottregion.“ Anne seufzte. Öznur lachte. „Und wie! Aber zum Einkaufen gehen ist es dort ideal. Ich war da vor einem halben Jahr mit meiner Familie in den Sommerferien.“ Niemand wusste, wie lange sie schon dasaßen, als eine Pause für die Schüler begann. Leicht widerwillig gesellte sich Benni zu dem Rest. „Hey, wir haben von deinem Titel gehört. Herzlichen Glückwunsch.“, sagte Öznur. Benni schüttelte den Kopf. „Ist doch alles Schwachsinn.“ „Wie bescheiden.“ Carsten verpasste ihm amüsiert eine Kopfnuss, die Benni aber überhaupt nicht wahrzunehmen schien. „Sag mal... Bist du wirklich ein primärer Dämonengesegneter?“, fragte Janine zögernd. Benni ignorierte die Frage, doch Carsten übernahm für ihn das Wort. „Ist er. Warum fragst du noch mal nach? Ich dachte das wäre geklärt.“ „Dann hast du auch so ein rotes Auge mit Dämonenpupille?“, mischte sich Anne ein. „Oh, zeig her, zeig her, zeig her!!!“, rief Ariane und klatschte in die Hände. In Bennis Blick blitzte für den Bruchteil eines Herzschlags eine absolute Kälte auf. Sofort sank Ariane eingeschüchtert zurück auf die Tribüne und den Rest der Gruppe überlief ein eiskalter Schauder. „Denkt ihr, ich lasse mich wie in einer Freakshow begaffen?“, meinte er, dessen Mimik sich bis auf die unheimliche Austrahlung kaum verändert hatte. Genauso wenig wie seine immer noch ruhige und trotzdem kraftvolle Stimme. Er stand auf und ging wieder zum Unterricht, während die übrigen sich von seiner Finsternis verschlungen fühlten. „Memo an mich selbst: Nie sein rotes Auge ansprechen.“, murmelte Ariane bedeppert. Carsten seufzte. „Ihr müsst bei dem Thema Dämonengesegneter in Bennis Gegenwart behutsam sein. Er ist da einer etwas anderen Ansicht.“ „Wie meinst du das?“, fragte Janine, die sich besonders betroffen fühlte, da sie mit dem Thema überhaupt angefangen hatte. Carsten lächelte sie aufmunternd an. „Keine Sorge, Benni wird niemandem von euch Vorwürfe machen. Glaube ich jedenfalls… Sprecht ihn einfach nicht mehr darauf an, dann ist die Sache geklärt.“ „Wieso denn Freakshow?“, fragte Öznur verdutzt. Laura warf einen mitleidigen Blick auf Benni und beobachtete ihn beim Training, während sie Carstens Erklärung mit halbem Ohr zuhörte: „Wie würdest du dich fühlen, wenn du ein knallrotes, dämonisches Auge hast und dich jeder anstarren würde?“ „Na total verarscht.“, antwortete Anne. Ariane schnippte mit den Fingern. „Ach so, deswegen hat er auch die Haare im Gesicht!“ Lissi schluchzte. „Was hast du denn?“, fragte ihre Zwillingsschwester besorgt. Wieder schluchzte Lissi. „Mein armer Bennlèy. Dieser Dämon hat ihn voll entstellt.“ Laura konnte ihren Augen kaum trauen. Lissi rieb sich doch tatsächlich eine Träne von den stark getuschten Wimpern. Sie warf Benni einen ziemlich eindeutigen Blick zu. „Obwohl… andererseits is das voll geil. Damit wirkt er garantiert noch mystischer.“ Carsten schüttelte den Kopf. „Fangt nicht wieder damit an.“ „Genau!“, gab Laura ihm Recht und Carsten warf ihr einen dankenden Blick zu. Laura hing es schon zum Hals raus, dass Lissi ständig Benni hinterher trällerte. „Ich gebe Laura und Carsten völlig Recht.“, sagte nun auch Öznur, doch sie hatte etwas Anderes im Sinn als Laura. „Wir können nicht die ganze Zeit unseren eiskalten Engel anhimmeln, wenn neben uns ein weiterer süßer Junge sitzt. Außer natürlich, er ist auf unserer Seite.“ Etwas verwirrt erwiderte Carsten ihren Blick. Auch Öznur schien irritiert. „Kennst du diese Redewendung nicht? Damit wollte ich wissen, ob du vielleicht schwul bist.“ „Ach so.“ Carsten schüttelte den Kopf. „Nein, bin ich nicht.“ Öznur grinste. „Sehr gut, dann haben wir sogar noch einen Jungen für uns.“ Carsten verdrehte die Augen. „Man, habt ihr Probleme.“ Lissi setzte ihr strahlendes Hollywood Lächeln auf. „Wir sind halt Mädchen, Süßer. Sogar Anni-Banani kann da nicht widersprechen.“ Laura hätte schon vermutet, dass Anne sich auf Lissi gestürzt und ihr Leben auf qualvolle Weise beendet hätte, aber zu ihrer Überraschung gab sie nur ihr schlangenartiges Zischen von sich. „Pass auf, was du sagst, kleines Flittchen.“ Ebenso überraschend war es, dass sich Susanne wagte, direkt vor Anne zu stellen und damit verhinderte, dass sie Lissi diesen Blick zuwarf, wie wenn eine Schlange ihr Frühstück wählte. „Jetzt hör mal, meine Schwester ist kein Flittchen. Also lass in Zukunft bitte solche vulgären Ausdrücke.“ Zischend stand Anne auf. Sie war größer als Susanne und blickte bedrohlich auf sie herab. Öznur packte sie am Handgelenk und zog sie wieder zu sich runter. „Anne, hör auf! Warum musst du ständig für Streit sorgen? Du hast doch die Direktoren gehört: Sie wollen, dass wir ein gutes Verhältnis haben. Immerhin sind wir alle durch eine göttliche Macht, oder was auch immer, verbunden.“ Widerwillig sank Anne auf die Tribüne zurück und auch Susanne setzte sich. Laura wusste, dass Susanne nie und nimmer auf Anne losgegangen wäre, aber immerhin war sie Lissis Zwillingsschwester. Laura würde Lucia genauso in Schutz nehmen.   Schließlich war der Unterricht für das zweite Jahr vorbei und Anne schien ziemlich beeindruckt davon gewesen zu sein, denn sie kam danach sofort mit einem Mädchen ins Gespräch, das auch sehr sportbegeistert schien. Susanne und Carsten gingen zur Bücherei und Lissi schien spurlos verschwunden. Schließlich wandte sich Janine an Benni. „Ähm… Schulsprecher… Es tut mir leid, dass ich vorhin das mit dem Dämonengesegneten angesprochen habe.“ Schüchtern mied sie den Blickkontakt zu ihm und fummelte an einem Knopf ihres etwas zu kleinen Jacketts herum. Benni schüttelte den Kopf. „Lass gut sein.“ Bei seinem relativ sanften Blick brodelte in Laura die Eifersucht. So sah das also aus. Öznur verpasste ihm einen Ellebogenstoß. „Wow, hätte nicht gedacht, dass der ‚eiskalte Engel‘ auch so sein kann.“ Benni verdrehte die Augen „Typisch Herr Bôss.“ Dann wandte er sich der übrig gebliebenen Gruppe zu. „Nennt mich ruhig Benni.“ Dann hob er kurz die Hand zum Abschied und ging in Richtung des Ostwaldes. Öznur seufzte träumerisch. „Echt hot. Schade, dass ich wohl keine Chance bei ihm hab.“ Ariane zeigte ihr den Vogel. „Du hast doch ’nen Rad ab. Er hatte wie immer sein Pokerface. Was soll daran so zum dahin schmelzen sein?“ Energisch stemmte Laura die Fäuste in die Hüften. „Erstens: Er ist immer zum ‚dahin schmelzen’, und zweitens: Benni ändert nie viel an seiner Mimik. Du musst in seine Augen gucken.“ Ariane wirkte amüsiert. „Wie heißt es so schön? Die Augen sind das Fenster zur Seele. Wobei ich glaube, man braucht schon Unmengen von Übung, so etwas, was du bei ihm ‚Gefühle’ nennst, erkennen zu können. Und abgesehen davon, du klingst schon wie Özi. Oder bist du vielleicht Eifersüchtig?“ „Was?!? Unsinn!!!“, verteidigte sich Laura, erzielte aber keinen Gewinn. Ariane, Öznur und Janine tauschten einen Ich-glaube-dir-so-was-von-gar-nicht-Blick aus. Achselzuckend verabschiedete sich Öznur von den Mädchen, mit dem Vorwand, sie wolle Hausaufgaben machen. Dicke, fette Lüge. Wenn sie nicht in die Stadt gehen würde, würde Laura einen Besen schlucken. Janine ging mit Laura und Ariane auf ihr Zimmer im Mädchentrakt, in dessen Richtung Öznur unverwunderlicher Weise nicht einbog. Ariane ließ sich, wie sie es sonst auch immer tat ins Bett fallen. „Was für ein Tag. Hätte echt nicht gedacht, dass hier so viele Dämonenbesitzer sind.“ „Können wird das wirklich einfach so aussprechen?“, fragte Janine besorgt und sah sich unruhig um. Ariane kicherte: „Ach Ninie, du bist so übervorsichtig. Uns wird schon niemand hören. Aber wisst ihr, was ich komisch finde?“ „Dass wir nur Mädchen sind?“, fragte Janine. „Dass die Direktoren uns trotzdem wie ‚normale’ Schüler behandeln?“, vermutete Laura, wieder in ihrem pessimistischen Tonfall. Ariane verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Das auch… besonders, dass wir hier wirklich nur Mädchen sind! Keine Jungs unter uns. Außer dem Eiskalten Engel äh… Benni und Carsten natürlich. Aber ist euch eigentlich aufgefallen, dass wir alle gleich alt sind?“ Janine und Laura blickten gleichzeitig überrascht auf. „Stimmt…“ Wie so oft, starrte Laura aus dem Fenster raus, auf das Jungenwohnheim. „Ich habe gehört, nach dem Ableben ihres Besitzers wechseln die Dämonen ihn sofort. Oder jedenfalls sobald wie möglich.“ „Denkst du, alle sind gleichzeitig gestorben?“, fragte Janine und ein schauriges Frösteln, wie ein eisiger Windstoß durch das Fenster überkam sie alle. Ariane bemühte sich, gleichgültig mit den Schultern zu zucken, aber ihr Unbehagen war trotz allem in ihrer Stimme zu hören. „Kann sein… Vielleicht ein Putsch, oder so was in der Art auf unsere Vorgänger? Oh man, als Dämonenbesitzer lebt’s sich gefährlich. Gibt’s denn keine Bodyguards für uns?“ Janine lächelte. „Herr Semikabal hatte doch irgendetwas in der Art erwähnt. Die Dämonengesegneten seinen dazu da, den Besitzern bei ihrer Aufgabe zu helfen und sie zu beschützen, oder?“ Laura lachte auf. Wie der Zufall es so wollte, hatte Benni tatsächlich damals, als sie noch ein Kind war, den Auftrag bekommen, sie zu beschützen. Als offiziell angestellter Bodyguard sogar, wobei er das nie wirklich ernst genommen hatte. Jedenfalls sah es nie danach aus. „Wie würde Benni sich denn fühlen, wenn er auf eine Horde wild gewordener Mädchen aufpassen müsste?“ Ariane grinste. „So schwer wird das nicht sein, immerhin folgt ihm die Hälfte schon auf Schritt und Tritt, wie kleine Hundebabys. Aber ich würde mal sagen… total bescheuert.“ Laura grinste ebenfalls. „Hundebabys wären ihm lieber, garantiert.“ Auch Janine lächelte schüchtern. „Der Arme. Ich habe das Gefühl, er wurde unter einem schlechten Stern geboren.“ Wenn Janine wüsste, wie Recht sie hat, dachte Laura traurig. Benni war nie ein Glückspilz gewesen. Auch die Segnung des Schwarzen Löwen betrachtete er eher als einen Fluch. Ariane schüttelte lachend den Kopf. „Wir müssen echt mit unserem eiskal- äh, ich meine Benni-Geschwafel aufhören, wenn Carsten sich weiterhin in unserer Nähe aufhalten soll.“ Laura nickte. „Aber sag das lieber mal Lissi und Özi.“ Ariane seufzte. „Recht hast du…“ Kapitel 8: Harte Schale weicher Kern ------------------------------------   Harte Schale weicher Kern       „Boah ey, die regt mich so auf!!!“ Mit halbem Ohr, hörte Laura Öznur zu, die aus irgendeinem Grund über Frau Reklöv, ihre Chemielehrerin, schimpfte. Irgendwie war sie mit den Gedanken woanders gewesen. „Wie kann die uns nur jede Woche abfragen wollen? Ich hab außer dieser Schule noch ein Privatleben und habe nicht vor, am Valentinstag zu büffeln.“, setzte Öznur ihre Schimpftirade fort. Ach ja, genau. Heute war ja Valentinstag. Kein Wunder, dass Lauras Gedanken bei diesem Thema die Fliege machten. Sie wusste genauso gut wie jeder andere an diesem Tisch, dass Benni kaum Zeit für Freunde oder gar eine feste Freundin hatte, da er als Schulsprecher viel Extraarbeit hatte. So wie heute auch. Es war Valentinstag und er saß da in dem Schülervertretungsraum und kümmerte sich um weiß Gott was, während die anderen Schüler nach der sechsten Stunde Schluss hatten. Aber gleichzeitig war diese Erklärung auch nur eine Ausrede… Eine Flucht vor der Tatsache, dass Benni wahrscheinlich überhaupt kein Interesse an einer Beziehung hatte. Mit niemandem und schon gar nicht mit… „Wir haben sie doch erst in der dritten und vierten Stunde. Du könntest in der Pause davor lernen.“, schlug Carsten in seinem herzzerreißend freundlichen Ton vor. Laura musterte ihren Sandkastenfreund. Carsten hatte sich scheinbar ziemlich schnell von diesem Militärinternat erholt. Seine Hautfarbe hatte wieder den gesunden Braunton und sein einst magerer Körper war zwar nach wie vor schlank, sah nun aber endlich nicht mehr wie ein Skelett mit Haut aus. Laura war unglaublich froh, ihren besten Freund wieder so lebensfroh und munter neben sich am Esstisch sitzen zu sehen. Sie hatte ihn diese sechs Jahre so sehr vermisst und als sie ihn an jenem Tag dann endlich wieder getroffen hatte, sah er eher aus, als wäre er aus einer Folterkammer gekommen. Grummelnd entgegnete Öznur: „Ja, klar. Als könnte ich den Stoff in zwanzig Minuten kapieren, wenn ich ihn noch nicht mal nach zwei Stunden verstanden hab.“ „Was verstehst du denn nicht?“, fragte Carsten geduldig. „Alles!!!“, entgegnete Öznur und es klang wie ein verzweifelter Hilfeschrei. „Ich weiß ja noch nicht mal, was wir überhaupt für ein Thema haben.“ Anne lachte. „Hat es zufälliger Weise etwas mit Redoxreaktionen zu tun?“ Öznurs Augen wurden noch größer, als sie zuvor schon waren. „Woher weißt du denn das?“ Auch Ariane kicherte. „Vielleicht, weil wir auch Frau Reklöv in Chemie haben? Wir müssen ihre Zufallsabfragen auch überleben.“ Öznur verdrehte die Augen und sah selbst mit dieser Mimik noch unglaublich attraktiv und elegant aus. „Wow, was für ein Zufallsgenerator, “, blaffte sie. „Wen nehme ich nun dran, Öznur oder Fräulein Albayrak?“ Carsten schüttelte den Kopf. „Laura hat einen schlechten Einfluss auf dich. So pessimistisch musst du auch nun wieder nicht denken.“ Protestierend hob Laura die Gabel über ihren Kopf. „Ich bin nicht so pessimistisch! Ich kann doch nichts dafür, dass ich bald sterbe oder dass mein Leben an sich beschissen ist!“ Carsten seufzte. „Ich sag’s doch. So pessimistisch muss man auch nun wieder nicht sein.“ „Der Direktor hat schon Recht, was die Finsternis-Energie Beherrscher betrifft. Immer müssen sie schwarzsehen.“, stimmte Susanne ihm zu und strich sich eine ihrer wunderschönen gewellten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Wie gerne hätte Laura auch so schwarze Haare. Ariane umarmte Laura und drückte sie dabei so fest an sich, dass ihr die Luftwege zugepresst wurden. „Ach Laura, dein Leben ist nicht beschissen! Immerhin hast du doch uns!“ „Mag sein, Nane. Aber wenn ich euch schon habe, dann würde ich doch gerne noch ein Weilchen am Leben bleiben.“, entgegnete Laura mit einer leichten Schwierigkeit beim Sprechen. Kichernd befreite Ariane Laura wieder aus ihrer Klammerumarmung. Sie gehörte neben Anne zu den körperlich stärksten der Mädchen und wohl auch aller Mädchen dieser Schule und schien ihre Kraft noch nicht ganz einschätzen zu können. Doch auch wenn Ariane Laura tatsächlich etwas optimistischer denken ließ, hatte sie nichts zu ihrem baldigen Tod geäußert. Was Laura schon etwas kränkte, auch wenn sie ihr keine Vorwürfe machen konnte. Sie war sich sicher, dass jeder der sie kannte und davon wusste so dachte. Bei Carsten und Benni war sie sich nicht ganz so sicher. Aber Benni war, wie Susanne schon sagte, ein Finsternis-Energie Beherrscher und ein richtiger Vorzeigepessimist und Carsten heiterte sie zwar immer auf, widersprach Lauras Zukunftsvorstellungen aber nicht. Seufzend beschloss Laura, sich zu vergewissern. Sie holte tief Luft und fragte: „Denkt ihr wirklich, dass der Schwarze Löwe so entscheiden wird, dass es mir das Leben kosten wird?“ Eine ungemütliche Stille breitete sich aus. Das Tellergeklapper und Stimmengewirr im Turm schien in die Ferne gerückt zu sein. Laura beobachtete ihre Freunde, einen nach dem anderen. Ariane neben ihr gab sich große Mühe, ein nicht mundgeeignetes Stück ihres Steaks zu kauen. Janine betrachtete das Essen auf ihrem Teller und zwirbelte an einer ihrer strahlend blonden Strähnen. Susanne wich ihrem Blick verlegen aus. Lissi musterte ihren Nagellack, wobei sie das ganze wohl überhaupt nicht mitbekommen hatte, da sie Laura erst fragend und dann Lissi-typisch ansah. Anne erklärte Öznur Chemie und Carsten fuhr sich schweigend über die Narben auf seiner Nase. Laura hatte nicht vorgehabt, alle in so eine unangenehme Situation zu bringen. Niemandem machte sie Vorwürfe, immerhin dachte sie selbst ja auch so. Schließlich ergriff Carsten das Wort, um das nicht enden wollende Schweigen zu brechen. Er seufzte. „Ich weiß es nicht. Aber es stimmt schon, es ist leichter, das Schlimmste zu erwarten, als optimistisch in die Zukunft zu schauen, in der Angst vielleicht doch enttäuscht zu werden…“ Öznur nickte. „Ja, so kann man es sagen. Niemand möchte am Ende enttäuscht werden, deshalb-“ „Deshalb geht ihr bei mir auch auf Abstand, oder? Ihr wollt mich nicht allzu sehr mögen, damit ihr dann nicht so traurig seid, oder?“, beendete Laura ihren Satz. Wieder kehrte eine ungemütliche Stille ein. Laura wusste, dass es so war. Anders konnte es nicht sein. Und das beschämte Schweigen der Anderen bestätigte ihre Ansicht. Carsten knirschte mit den Zähnen. „Hör mal…“, setzte er an, schien die richtigen Worte allerdings nicht finden zu können. Seufzend stand Laura auf. „Es tut mir leid, ich wollte euch nicht so vor’s Gericht ziehen… Vergesst das eben einfach, ja?“ Dann ging sie.   Leise vor sich hin fluchend stapfte Laura zurück in ihr Zimmer in das Mädchengebäude, aber nur, um ihr Schulzeug zu holen und dann für die Hausaufgaben in die Bücherei zu verschwinden. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?! Sie hätte echt die Klappe halten sollen. Das war einfach unfair gewesen. Wie sonst auch, stolperte sie über eine Wurzel, wenn sie sich nicht auf den Weg konzentrierte. Ein etwas vulgärer Fluch lag auf ihren Lippen, als sie sich aufrichtete und merkte, dass sie sich ihr Knie aufgeschlagen hatte. Aber da sie eine gute Erziehung genossen hatte, blieb er in ihren Gedanken. Traurig blickte Laura den mittelalterlichen Bücherturm hinauf, der im Wald versteckt abseits der Schulgebäude lag. Das Gemäuer war alt und mit Ranken überwuchert, wirkte aber trotzdem oder vielleicht auch genau deswegen edel und anmutig. Hausaufgaben in einem Meer aus Büchern und alten Schriften. Toller Valentinstag. … Eigentlich klang es tatsächlich toll, würde man das Wort ‚Hausaufgaben‘ weglassen, stellte Laura fest.   Gerade als Laura mal wieder der Quadratischen Ergänzung drohte, sie solle doch einfacher sein, sonst nehme sie sich den Erfinder dieses Schwachsinns vor, tippte von hinten ein dunkler Finger auf die Aufgabe. „+0,25 –0,25. Du musst erst die Binomische Formel ergänzen, und dann den ergänzten Wert wieder abziehen, damit du an der Gleichung an sich nichts veränderst.“ Überrascht drehte sich Laura zu Carsten um, doch der setzte sich wortlos auf den Stuhl neben sie und beobachtete, wie Laura die Aufgabe fertig rechnete. Laura gefiel es nicht, dass ein Musterschüler sie bei der Arbeit beobachtete. Sie müsste sich gerade ja völlig blamiert haben. Voller Unbehagen rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her und klappte schließlich ihr Rechenheft zu. „Was willst du?“, fragte sie Carsten. Zu ihrer Erleichterung klang ihre Stimme so normal, wie sie sich eigentlich kein bisschen fühlte. Falls Carsten ihre Unsicherheit tatsächlich gehört hatte, dann ließ er sich das nicht wirklich anmerken. Aber er klang auch nicht so unbeschwert wie sonst, als er fragte: „Hast du vielleicht Lust mit in die Stadt zu kommen? Oder willst du den ganzen Tag über im Dunklen hocken?“ Als Laura nichts erwiderte, seufzte er. „Dann mach doch wenigstens ein Licht an. Das ist nicht gut für deine Augen.“ „Ach, warum machst du dir denn Sorgen um meine Gesundheit? Ob ich ein paar Monate früher oder später sterbe, macht nun auch keinen Unterschied mehr.“ Innerlich schallte sich Laura für diese Aussage. Sie war ihr einfach über die Lippen gerutscht. So viel zum Thema Verständnis… „Wenn du nochmal sowas sagst, überlege ich mir meine pazifistischen Prinzipien noch einmal.“, stieß Carsten zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Es macht sehr wohl einen Unterschied, wann du stirbst, und sei es auch nur um ein paar Minuten.“ Unsanft biss sich Laura auf ihre Zunge, die ohne ihre Erlaubnis zu arbeiten schien. „Tut mir leid…“, brachte sie schließlich hervor. „Schon gut.“ Verlegen fuhr sich Carsten mit der gesamten Hand über seine Narben. Es war eine typische Geste von ihm und dabei sah er immer und immer wieder zuckersüß aus. Auch wenn es sadistisch klingen mag, die Narben standen ihm verdammt gut. „Warum willst du denn in die Stadt?“, fragte Laura, um das bevorstehende Schweigen zu verhindern. „Hm… lass mal überlegen… Ich habe in den letzten Jahren nur das triste Grau meiner ehemaligen Schule gesehen… Ist ja nicht so, dass ich da mal eine andere Umgebung erkundschaften will.“, meinte er sarkastisch und grinste Laura so an, dass seine strahlend weißen Zähne glänzten. Laura lachte. Natürlich schaffte er es immer noch, sie aufzumuntern. Immerhin hatte er darin auch jahrelange Erfahrung. „Na gut, ich komm mit.“ Ihre Zusage brachte mit einem Schlag ein begeistertes Strahlen in seinen Gesichtsausdruck. „Das ist schön. Endlich können wir zu dritt mal wieder einen Ausflug machen.“ Laura hörte abrupt mit dem Lachen auf. „Zu dritt?“ Achselzuckend entgegnete Carsten: „Klar, was hast du denn anderes erwartet? Benni muss unbedingt mal wieder unter Menschen kommen. Der lebt zurzeit ja noch abgeschotteter als ich in den letzten sechs Jahren.“ Unruhig rubbelte Laura ihren Arm. Mit einem Schlag war ihr eiskalt und kochend heiß zur selben Zeit geworden. Benni mied sie immer noch so gut es ging und sogar in den Sportstunden, die sie gemeinsam hatten, blieb er abgesondert. Carsten hatte schon Recht, ihm täte so ein Ausflug in die Stadt mal ganz gut. Aber würde er sie dann nicht auch weiterhin links liegen lassen? Das war noch schlimmer, als sein kalter Blick, mit dem er sie immer angesehen hatte zu Beginn des Schuljahres. Als habe er ihre Gedanken gelesen, seufzte Carsten. „Ich dachte, zwischen euch sei wieder alles in Ordnung.“ Traurig senkte Laura den Blick. „Von wegen, er behandelt mich wie einen Kochtopf. Ich bin ihm völlig schnuppe.“ Carsten lachte. „Das kann nicht sein. Kochtöpfe würde er einen nach dem anderen in Stücke hacken, wenn er dann nicht für den Schaden aufkommen müsste.“ Laura lächelte, doch ihre Augen erreichte es nicht. „Du übertreibst. Er macht einen großen Bogen um sie, genauso wie bei mir zurzeit.“ Nun senkte auch Carsten den Kopf. „Wenn man überhaupt keine Gefühle entgegengebracht bekommt, dann ist das manchmal sogar noch schlimmer als wenn man unschöne Emotionen zu spüren kriegt, oder?“ Und da war sie wieder, die ungemütliche Stille. Besonders in der unendlichen Ruhe der Bücherei kam sie sehr gut zur Geltung. Laura verstand Carstens Aussage. Er hatte alle möglichen Emotionen zu spüren bekommen. Da war der Hass, von seinem Bruder auf ihn, die verzweifelte Zuneigung seiner Mutter, der Spott seiner kleinen Schwester, die freundschaftlichen Gefühle von ihr und wahrscheinlich auch Benni und den ach so großen Interesse seines Vaters, wie wenn Lissi eine Klassenarbeit betrachtet. So trostlose Gespräche kamen wenn, dann nur selten zwischen den beiden vor und nun lag es an Laura, Carsten etwas glücklicher zu machen. „Ich ziehe mich schnell um, dann können wir losgehen. Das Schlimmste wäre eh, wenn mein Cousin hier auftauchen würde.“ Oh ja, das wäre tatsächlich viel schlimmer. Genauso wie vorhin bei Laura, erreichte sein schwaches Lächeln nicht, dass seine Augen mitstrahlen konnten. Laura schnappte ihre Schulsachen und lief schnellen Schrittes zurück in das Mädchenwohnheim. Vielleicht würde es ja auch gar nicht so schlimm werden, wie sie es erwartete. Abgesehen davon würde sie schon gerne wissen, wie Carsten es geschafft hatte, Benni zu überreden. Mit denselben Argumenten wie bei ihr? Unwahrscheinlich. In ihrem Zimmer traf sie auf Ariane, die von ihrem Bett aus fernsah. Als sie aufsah und Laura erblickte, schien ihr Gesichtsausdruck für den Bruchteil eines Herzschlags etwas planlos, doch dann schaltete sie mit der Fernbedienung auf Pause und kam auf Laura zugestürmt. „Da ist ja unsere Zitrone! Wir haben uns schon gefragt, ob du überhaupt wieder hier auftauchst.“ Laura überraschte immer noch diese Geschwindigkeit und unglaubliche Kraft, mit der Ariane sie kurz an sich drückte. Vermutlich typisch Weißer Hai. Trotz der Früchteart, mit der Ariane Laura beschrieben hatte, musste sie nach Luft schnappend grinsen, bevor sie es schaffte sich aus dem Griff zu befreien. „Ich war in der Bücherei.“, erklärte sie, während sie ihren Kleiderschrank nach etwas sowohl warmem, als auch hübschem durchsuchte. „Dann kam Carsten vorbei und wollte wissen, ob ich mit in die Stadt komme.“ Ariane gab einen empörten Laut von sich. „Also Laura, das geht jetzt aber echt nicht!“ Laura hielt bei einem ihrer Miniröcke inne. „Wieso nicht? Wir schreiben in dieser Woche doch keine Arbeit mehr.“ Laura hörte ein klatschendes Geräusch, was sie als einen Schlag auf die Stirn interpretierte. „Das mein ich nicht! Und außerdem schreiben wir am Freitag Chemie. Da sieht man wieder, wie hass erweckend Frau Reklöv ist. Aber was ich meine ist: Wir haben uns alle schon darauf geeinigt, dass wir den eisk- Verdammt, ich meine Benni, dir überlassen. Okeee, in Ausnahme von Lissi, die das noch nicht ganz bis kein bisschen kapiert zu haben scheint… und wohl nie kapieren wird… Aber jetzt auch noch Carsten? Das geht zu weit du Kirsche.“ Laura lachte auf. „Keine Sorge, ich glaube Carsten will sowieso versuchen, Amor zu spielen und Benni und mich wieder in Einklang zu bringen.“ Ariane ließ sich wieder auf ihr Bett plumpsen. „Süß ist er schon…“ Laura zog den Rock, bei dem sie innegehalten hatte raus. „Ahaaaaaaaa. Das klingt ziemlich eindeutig.“ Ariane lachte auf, und sofort wurde es Laura warm ums Herz, als täten sich nach einem kalten Regenschauer die Wolken auf und sie stünde mitten in strahlendem Sonnenschein. Ariane schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Carsten ist ein total lieber, herzlicher Mensch. So viel steht fest. Aber ich weiß echt nicht, ob er mein Typ wäre.“ „Was wäre denn dein Typ?“, fragte Laura und zog einen Pulli und ihre Lieblingsjacke aus dem Schrank. Zusammen mit Overkneestrümpfen und einer hautfarbenen Strumpfhose. „Hm, gute Frage, keine Ahnung. Vielleicht- Was für eine süße Jacke!“, quietschte Ariane plötzlich auf. Lauras Lieblingsjacke war aus Kunstfell und super flauschig. Sie liebte es, sich an diese Jacke zu kuscheln. Laura lächelte schwach auf, als sie plötzlich ein extremer Husten überkam. Sie hatte das Gefühl, ihre Lunge würde in tausend Teile explodieren und ihr den Atem rauben. Und doch wurde er von Sekunde zu Sekunde die verstrich immer heftiger. Laura bemühte sich, die Augen zu öffnen und erkannte ein paar Blutstropfen auf ihrer Hand. Sie presste den Handrücken gegen ihren Mund, um einen weiteren Hustanfall zu verhindern, doch erfolglos. Ariane war inzwischen zu ihr rübergekommen. „Laura?! Was ist los?!“, rief sie und die Panik in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Verzweifelt klammerte sich Laura mit beiden Händen an Ariane. „Ich hab Angst- Ich will nicht sterben!“ Sie brachte die Sätze kaum hervor. Ihr Husten mischte sich mit Schluchzern und einige Tränen liefen ihre Wange hinunter. Ein weiterer Hustanfall schüttelte sie, und wieder hustete sie etwas Blut in ihren Ärmel. „Ich hab Angst!“, schrie sie heiser. Ihre Stimme klang dem Ende nahe und erstarb in weiteren Schluchzern. Ariane schien mit der Situation ziemlich überfordert, doch Laura war ihr dankbar, dass sie nicht fortging um Hilfe zu holen. Genau in dem Moment flog die Tür auf und kurz darauf hielten sie zwei weitere Arme sicher fest. „Du brauchst keine Angst zu haben. Alles wird gut.“, hörte sie Carsten tröstend auf sie einreden. Mit einer Hand klammerte sich Laura an Carstens Pulli, mit der anderen hatte sie immer noch Arianes Arm. „Ich will nicht sterben…“, schluchzte sie wieder. Der Husten war inzwischen abgeebbt und ließ ihren Tränen nun mehr Freiraum, die durch ihre Wimperntusche wie schwarze Diamanten an ihren Wangen herunterliefen. Laura wurde kochend heiß und vor ihrem inneren Auge sah sie Sterne vorbei zischen. Das letzte, was sie wahrnahm, war ein Schwindel als wäre man die ganze Zeit im Kreis gelaufen wäre und die tröstende Wärme ihrer Freunde.   ~*~   Seufzend hielt Carsten Lauras zitternden Körper fest. So schlimm war es noch nie, entsann er sich. Laura selbst schien das Bewusstsein verloren zu haben. Die Wimperntusche, die sie immer nur dezent auftrug, war von den Tränen verwischt worden und hinterließ schmale, leicht dunkle Spuren auf ihrem Gesicht. Benni, der die ganze Zeit tatenlos auf der Türschwelle stehen geblieben war, kam nun zu ihnen rüber. Carsten konnte es immer noch nicht fassen, dass sein bester Freund so kaltblütig geworden war. Vor sechs Jahren hätte er noch halbwegs so reagiert, wie Carsten selbst. Benni nahm Carsten und Ariane Lauras immer noch vor Angst zitternden Körper ab, hob sie hoch, als hätte sie das Gewicht einer Feder und nicht das eines, wenn auch schmalen und recht kleinen, Mädchens. Behutsam legte er sie auf ihrem Bett ab. Ariane musterte Lauras schlafendes Gesicht, in dem man ihre Angst immer noch sehen konnte. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber kann es sein, dass es noch nie so schlimm gewesen war?“ Gedankenversunken holte Carsten einen nassen Waschlappen aus dem Bad, um Lauras überhitzte Stirn zu kühlen. „Ich glaube nicht. Jedenfalls bezweifle ich, dass sie davor schon Blut gehustet hatte…“ Ariane setzte sich auf die Kante von Lauras Bett. „Ihr seid gerade zur richtigen Zeit gekommen. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte… Woher wusstet ihr das?“ „Benni hat… wie soll ich sagen… übermenschliche… hm, eher vampirische Sinne, die bei ihm wie eine Alarmanlage funktionieren, wenn er sie nicht gerade gezielt einsetzt. Er meinte, Laura ginge es nicht gut.“, erklärte Carsten. Das gab Ariane den Anlass, Benni wütend anzufunkeln. „Warum hast du eigentlich nichts gemacht? Ich glaube, es täte Laura mal ganz gut, auch etwas Zuneigung von dir, gerade von dir, zu erhalten.“ Doch, wie konnte es auch anders sein, gab Benni keine Antwort. Carsten wusste nicht, wie er sein Schweigen deuten sollte. Ariane anscheinend auch nicht, doch sie verwarf seufzend den Gedanken nachzufragen. Stattdessen wandte sie sich an Carsten. „Was macht Karystma eigentlich? Und falls das nochmal passiert, was ich zwar nicht hoffe, aber was zu erwarten ist, was soll ich dann tun?“ „Karystma entstand während des magischen Krieges. Viele Leute glauben, ein Dämon habe diese Krankheit während des Krieges erschaffen, aber direkt nachgewiesen wurde es offensichtlich nicht. Sie greift spezielle Teile des Körpers an, die von Person zu Person unterschiedlich sein können. Bei Laura ist es die Lunge, dass sieht man an ihrem Husten und auch an dem Blut, was dabei war… und an ihrer schlechten Ausdauer, da ihre Lunge bei viel Sport nicht die benötigten Mengen an Sauerstoff aufnehmen kann und sie dann Sauerstoffmangel hat. Wie wir ihr helfen können… Hm, eigentlich hast du alles richtig gemacht. Ich habe schon oft nach Gegenmitteln gesucht aber wenn ich die Ursache der Krankheit, also den Erschaffer und Auslöser nicht kenne, kann ich auch kaum was ausrichten… Das Wichtigste ist also, einfach an ihrer Seite zu bleiben…“, erklärte Carsten. Ariane war inzwischen besorgniserregend ruhig geworden. „Also war es tatsächlich so…“, murmelte sie. Carsten wunderte sich über Arianes ungewöhnlich düstere Stimmung, sagte aber nichts. Wenn er es hätte wissen sollen, dann hätte sie es höchstwahrscheinlich erzählt und ihrer melancholischen Stimmung nach zu urteilen, war es auch kein gern gesehenes Gesprächsthema. Es verging eine viertel Stunde, bis Laura mühselig ihre Augen öffnete.   ~*~   Laura hatte das Gefühl, man hätte ihr die Lunge rausgeholt, als sie tief durchatmen wollte und lauter kleine Bläschen in ihrem Inneren wie Sterne explodierten. Erschöpft sah sie sich um. Verschwommen nahm sie wahr, dass Carsten neben ihr auf der Bettkante saß und Ariane auf der anderen Seite. Nur in Bruchstücken kehrten ihre Erinnerungen zurück und als sie die Erkenntnis übermannte, dass ihre Krankheit tatsächlich zurückkehrte –und das auch noch in dem höchsten Stadium– wäre sie beinahe glatt wieder in Tränen ausgebrochen. Ihr Körper zitterte immer noch, fast so als würde er unter Strom stehen und ihre Arme und Beine schienen eingeschlafen und hatten bei jeder Bewegung, die sie mit ihnen durchzuführen versuchte, dieses widerliche Kribbeln. Carsten musterte sie mit Sorge und zugleich vorsichtig, als habe er Angst, alleine sein Blick könne in ihr den nächsten Hustenanfall wecken. „Wie geht es dir?“, fragte er besorgt. Laura versuchte, sich aufzusetzen, ließ es aber bleiben, als ihre Gliedmaßen wieder so fürchterlich kribbelten. „Dem Tode geweiht.“, antwortete sie. Es sollte eigentlich sarkastisch klingen doch mit ihrer bedrückten Stimmung gelang nur ein schluchzendes Geräusch. Carsten legte einen Arm um ihre Schultern, half ihr sich aufzusetzen und drückte sie an sich. „Selbst wenn, du hast immer noch drei Monate. Die musst du bis aufs kleinste Ausmaß genießen können.“ Ariane lehnte sich nun auch zu ihr rüber. Ihr Gesichtsausdruck wirkte nicht mehr so sorglos wie zuvor, sondern leicht traurig und sogar ein bisschen reserviert. Trotzdem nahm sie Laura auch –auf die sanfte Art– in den Arm. „Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind alle für dich da. Und übrigens: Das was du vorhin in der Mensa gesagt hast, dass mit dem wir würden deshalb auf Distanz gehen, dafür könnte ich dich grün und blau schlagen! Keine Ahnung, was du dir dabei gedacht hast aber ich versichere dir, das ist absoluter Humbug!“ Schwach lachte Laura auf. „Ist schon okay, ich glaube… Ehrlich gesagt glaube ich, dass es eher umgekehrt ist. Dass ich versuche euch auf Distanz zu halten, weil…“ Zitternd atmete sie aus. Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. „Weil ich Angst habe, dass wenn… wenn ich dieses Leben zu sehr genieße und dann…“ Vorsichtig nahm Carsten sie in den Arm. „Ist schon gut.“ Mit einem schwachen Schluchzen vergrub Laura ihr Gesicht in seiner Brust. „Tut mir leid…“ „Ist schon gut.“ Ariane strich ihr über den Arm. „Danke, dass du uns das anvertraut hast.“ Laura spürte, wie alleine die Berührungen der beiden bereits dazu im Stande waren, dass sie sich langsam begann zu beruhigen. Es war nur zögerlich, als fiele es ihrem Körper schwer sich zu entspannen. Aber dennoch löste sich allmählich dieser schmerzhafte Knoten in ihrem Herzen. „… Geht es wieder?“, erkundigte sich Carsten nach einer Weile sanft und lockerte die Umarmung etwas. Schwach nickte Laura. Carsten richtete sich auf. „Am besten du bleibst noch etwas im Bett, um dich noch ein bisschen auszuruhen. Wir können auch ein anderes Mal zu dritt in die Stadt.“, meinte er und rieb sich die Schläfen. Es war ungewohnt ihn so erwachsen zu sehen. Besonders im Vergleich zu den sechs Jahren zuvor, als sie ihn das letzte Mal vor der Zeit im FESJ gesehen hatte. „Aber dann kannst du doch nicht-“, startete Laura, brach aber ab als sie Carstens entschuldigenden Blick sah. „Ich brauche wirklich mal was Anderes zum anziehen, außer die Schuluniformen, die ich über ein halbes Jahrzehnt getragen habe. Die gehen mir langsam auf die Nerven und natürlich hat in Indigo niemand daran gedacht, dass ich irgendwann einmal überhaupt diese Anstalt verlassen würde.“ Laura musterte ihn. Tatsächlich war die Hose von der Schuluniform, aber den Pulli kannte sie nicht. Es war ein eintöniger, schwarzer Kapuzenpulli, der ihm an den Armen etwas zu kurz schien und an sich gar nicht den farbfrohen Geschmack Carstens traf. Wenn Laura drauflosraten müsste hätte sie gesagt, das wäre typisch für Benni, der einfach nie etwas Farbiges trug. Nur schwarz. Als sie sich vergewissern wollte, sagte Carsten auch schon: „Von Benni will ich mir nicht noch mal was ausleihen müssen. Hast du mal in seinen bedürftigen Minikleiderschrank gesehen? Nur schwarz von den Socken bis zu der Jacke, die er trägt. Wie kann man so eintönig herumlaufen?“ „Wie kann man so quietschbunt herumlaufen?“, kam die Gegenfrage. Laura musste darauf achten, dass ihr Mund nicht aufklappte. Benni hatte sie überhaupt nicht wahrgenommen! War er schon die ganze Zeit da?! Mit einem Schlag wurde ihr ihre Panikattacke bei ihrem Hustenanfall unglaublich peinlich. Schließlich war sie wie ein Springbrunnen in Tränen ausgebrochen! Plötzlich schämte sich Laura für ihre Reaktion. Obwohl es doch eigentlich keinen Grund gab, sich zu schämen. So etwas war normal. Aber eben nicht für Benni und sie wollte nicht, dass er sie für einen Waschlappen hielt. „Du könntest ruhig etwas freundlicher gekleidet sein! Weißt du, wie abweisend schwarz wirkt?“, fragte Carsten. Farben waren auch damals schon ein Diskussionsthema der beiden gewesen und wie sonst auch startete Carsten es und zwar immer aus demselben Grund: Bennis Modegeschmack, der nun mal in die Gothic- und Emorichtung ging. Laura beschwerte sich deswegen nie. Die Farbe Schwarz stand ihm besonders wegen seiner hellen Haar- und Hautfarbe und dem nachtschwarzen Auge verdammt gut und auch in diesem Kapuzenpulli mit der weißen Skeletthand, die mit einem Knochenstift das Wort Death schrieb, sah er extrem sexy und an sich verdammt gut aus. An seinen langen Beinen trug er eine schwarze Jeans mit Nietengürtel. Verdammt noch mal, der ist ja echt hübscher, als Gott erlaubt, dachte Laura und sie merkte, dass sich etwas Speichel in ihrem Mund sammelte. Beschämt schluckte sie und versuchte sich zusammenzureißen. Es konnte doch nicht wahr sein, dass er sie so durcheinander brachte! Benni schüttelte auf Carstens Kommentar nur seufzend den Kopf und Carsten ließ das Thema auch ruhen. Und so endeten diese Diskussionen auch immer. Laura fühlte sich fast so, wie vor sechs Jahren, wäre da nicht der stechende Schmerz in ihrer Brust, der sie in der Gegenwart gefangen hielt. Nur zu gerne hätte sie jetzt wie damals über den Meinungsunterschied der beiden gelacht. Meist war Carsten derjenige gewesen, der Benni auf irgendeine Art und Weise zurechtwies und sich damit auf eine gehörige Diskussion mit dem von Natur aus sturen Benni einließ. Doch nie endete eines dieser Gespräche offiziell, da Benni Carstens Ansicht kalt ließ und Carsten Benni nicht wirklich beeinflussen wollte, sondern einfach nur versuchte, ein bisschen an ihm zu rütteln, um vielleicht eines Tages doch etwas zu erreichen. Laura liebte diese Gespräche, da Benni, der eher von der stillen Seite kam, stur auf seiner Ansicht verharrte und so sein rebellischer Charakter besonders gut zur Geltung kam. Und auch, da der sonst so schüchterne und eher rücksichtsvolle Carsten plötzlich ein Temperament zeigen konnte, was man nie und nimmer von ihm erwartet hätte. Und dennoch trugen die beiden diese Diskussionen immer rücksichtsvoll und mit einem leicht neckischen Ton aus. Sie wollten einander nicht verletzen. Niemals. So sehr hätte sich Laura gewünscht, diese Vergangenheit in die Gegenwart zu befördern. Vielleicht konnte sie es ja versuchen? Wenn sie sich schon mit nur noch drei Monaten begnügen sollte, dann sollte sie ihre Zeit so verbringen, dass sie es nicht bereuen würde. „Ähm, ich würde schon gerne mitkommen…“, startete Laura ihren Versuch. Carsten musterte sie kritisch. „Du siehst nicht so aus, als könntest du mitten auf der Straße zusammenbrechen… und selbst wenn, wäre notfalls Benni noch da. Also natürlich.“ Sein kurz distanzierter Blick wandelte sich in ein strahlendes Lächeln. Laura atmete erleichtert auf. Sie hatte schon gedacht, er würde sie dazu verdonnern, tagelang das Bett zu hüten, bis sie sich wirklich besser fühlte. Auch wenn sie dann vielleicht das Glück gehabt hätte, die Chemie Arbeit sausen zu lassen, hätte sie ihm widersprochen und dickköpfig darauf beharrt, mitzukommen. Aber sie wusste, dass Carsten wusste, dass diese Anfälle sie immer nur plötzlich überkamen, wie ein Gewitter, das ohne Vorzeichen auf sie eindonnerte. Sich mit einem Schlag wieder lebendig fühlend, sprang Laura auf und umarmte Carsten so heftig, dass sie schon Arianes Kraft damit Konkurrenz machen konnte. Nachdem sie Carsten befreit hatte, wandte sie sich an Ariane. „Wenn du willst, kannst du auch mitkommen.“ Schließlich war Ariane diejenige gewesen, die Laura tatsächlich die ganze Zeit über beigestanden hatte. Ariane überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. „Sorry, aber mein Freund wartet. Der Fernseher wird schon ungeduldig.“ Mit einem schelmischen Grinsen, zwinkerte Ariane Laura zu, die ihr Lachen nicht hätte verhindern können. „Ich dachte, du wärst mit der Speisekammer zusammen!“ Ariane ermahnte sie dazu, leise zu sein. „Psst, sei still! Sonst, hört der Fernseher das noch!“ Auch Carsten schüttelte lächelnd den Kopf. „Dann zieh dich schnell um. Wir warten außen.“, sagte er schließlich und verließ mit Benni das Zimmer. Erleichtert entledigte sich Laura ihres blutbefleckten Pullis und ihrem Rock, der auch ein bisschen was abbekommen hatte, um sich die Sachen, die sie sich rausgesucht hatte, anzuziehen. Ariane hatte es sich schon wieder auf ihrem eigenen Bett bequem gemacht, ließ den Fernseher aber weiterhin stillstehen. „Laura, es tut mir echt leid, dass ich dich darauf noch mal ansprechen muss, aber ich kann nicht einfach so tun, als wäre das vorhin nicht gewesen…“, begann sie zögernd. „Also vielleicht sollten wir die anderen darüber informieren. Du musst ja nicht dabei sein, ich kann es ihnen auch so sagen, aber damit sie halt was dich und… nun ja… deine Krankheit betrifft auf dem Laufenden sind. Vielleicht sollten wir auch sicherheitshalber die Direktoren informieren.“ Laura hatte beim Anziehen innegehalten. „Ähm… ja, klar. Ich weiß, dass das sein muss. Danke…“, stotterte sie und zog sich fertig an. Als sie ins Bad ging, um sich die Haare zu kämmen, entfuhr ihr ein erschrockener Schrei. Ariane kam, wie als wäre der Tod im Hause, hereingestürmt. „Was ist los?!?“, rief sie besorgt. „Ich sehe ja fürchterlich aus!“, entfuhr es Laura und beobachtete ihr Spiegelbild. Das Gesicht, was ihren Blick erwiderte, war blasser als blass und wurde von einer komplett verwuschelten Haarmähne umrahmt, die in alle Himmelsrichtungen abstand und der Schwerkraft zu trotzen schien. Um die Augen herum war die Wimperntusche, die Laura immer nur dezent verwendete, völlig verwischt und lief in einzelnen Streifen ihre Wangen herunter und zeichneten somit den Weg ihrer Tränen nach, die dort zuvor flossen. Ariane konnte nicht an sich halten und lachte lauthals los. „Ich hätte nicht geahnt, dass das dein größtes Problem ist.“ „Nein! Aber dann hat mich auch Benni so gesehen! Auch wenn ich ihm egal bin, das war ihm sicher nicht entgangen! Wie peinlich…“ Laura funkelte die Wimperntusche wütend an, die friedlich auf einem Regal neben dem Waschbecken stand. Wäre die doch wenigstens wasserdicht gewesen! Arianes Lachen beruhigte sich langsam. „Also ich muss da mal ein Wörtchen mitreden. Es stimmt schon, dass Benni ziemlich distanziert ist, aber so ganz egal würde ich das nicht nennen. Zum Beispiel, als du das Bewusstsein verloren hattest, war er es gewesen, der dich in dein Bett gelegt hatte. Zwar hab ich es nicht ganz mitbekommen, wegen dem Schrecken den du mir eingejagt hast, aber er wirkte schon sehr sanft und fürsorglich. Was ich ihm eigentlich nie zugetraut hätte.“ Laura verbarg das Gesicht hinter den Händen. „Er hat mich ins Bett getragen? Oh Gott… wie peinlich…“ Ariane schnaubte amüsiert. „Wie du es interpretieren willst, bleibt deine Sache. Also gut, ich geh jetzt endlich wieder Fernsehen. Viel Glück bei deiner… äh… Frisur…“ Grinsend verließ sie das Badezimmer. Nach einigen gewaltsamen Kämmakten und nachdem sie auch sonst wieder halbwegs so, wie vorher aussah, schnappte sich Laura ihre Kuscheljacke und verabschiedete sich von Ariane, die ihr „Viel Glück“ wünschte. Tatsächlich warteten Carsten und Benni seelenruhig an dem Brunnen auf dem großen Platz auf sie. Laura entging nicht, dass der größte Teil der Schülerinnen sich zu den beiden Jungs umdrehten und als sie Laura sahen, entweder neidisch oder beneidend dreinschauten. Carsten strahlte ihr schon einige Meter bevor sie sie erreicht hatte entgegen und wirkte dabei fast so wie der kleine Carsten, den sie noch in Erinnerung hatte. „Also, gehen wir.“, meinte er und lief voraus. Laura folgte ihm lachend, während Benni in gemächlichem Tempo hinterher schlenderte. Sie hatte das Gefühl, ein Déjà-vu zu durchleben, jedenfalls was die Rollenverteilung betraf. Wieder wurden Kindheitserinnerungen geweckt. Der lebensfrohe Carsten, dicht gefolgt von Laura, deren Laune von ihm angesteckt wurde und schließlich Benni, der zwar nicht allzu begeistert schien, doch trotzdem dabei war.  Das Timing war perfekt. Kaum waren sie an der Bushaltestelle angekommen, bog auch schon der Bus um die Ecke, der in 60-minütigen Abständen von der Stadt kam. Carsten ergatterte einen vierer Sitzplatz und setzte sich an das Fenster gegen die Fahrtrichtung. Laura setzte sich sofort ihm gegenüber. Sie wunderte sich, dass Benni ihnen so problemlos gefolgt war, obwohl sie und Carsten fast gerannt waren und dass er sich dann auch noch neben sie setzte, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Wobei tatsächlich beides nüchtern erklärbar war. Von Bennis normaler Ganggeschwindigkeit mal abgesehen, mussten Laura und Carsten am Ende des meterlangen Marathonweges erst einmal nach Luft schnappend stehen bleiben und warum er neben ihr saß lag nur daran, dass er kein so großer Fan von Fahrten in irgendeinem geschlossenen Gefährt mit Rädern oder Flügeln war und dort schnell Reisekrank wurde. Da saß er dann zumindest lieber in Fahrtrichtung. Nach der zwanzigminütigen Fahrt stiegen sie an der Haltestelle aus, wo sie schon mit den Mädchen den Bus verlassen hatte und wo noch alles ein Geheimnis gewesen war. Und auch wie einst, bogen sie in die Einkaufsstraße ein. Doch dieses Mal gab es keine Lissi, die Zwischenstops machte und so kamen sie schnell an ihrem Ziel an: Einem Modegeschäft für junge Erwachsene. „Also dann, viel Spaß noch.“, verabschiedete sich Carsten, verschwand in dem Geschäft und ließ eine verwirrte Laura mit Benni zurück. „Ähm… Hä?“, brachte Laura sehr geistreich zustande. Als sie sich nach Benni umdrehte, war dieser schon am Gehen. „Hey, warte mal!“, rief Laura ihm hinterher und packte ihn am Ärmel seines bis zu den Knöcheln gehenden, offenen Mantels. „Wo willst du denn hin?!“ „Einen Bekannten besuchen.“ Laura schnaubte. „Toll. Und ich?“ Benni zuckte mit den Schultern, befreite seinen Ärmel aus Lauras Griff und ging weiter. Laura war nicht wirklich in Einkaufstimmung, also hastete sie ihm hinterher, bis er freundlicherweise seine Schritte verlangsamte und sie ihn einholen ließ. „Weiß Carsten, dass du einfach so weggehst?“, fragte sie, als sie langsam wieder zu Atem kam. Die Nachwirkungen ihres Hustenanfalls waren immer noch nicht ganz verklungen und ihre Ausdauer ließ sie wie immer auch im Stich. Benni nickte. „Wir treffen uns dann im Park.“ Sie gingen eine Straße entlang, die Laura nach einer Weile sogar wiedererkannte. Bei einem kleinen, unscheinbaren Geschäft machten sie halt und betraten es. Wieder erklang das Windspiel, doch die schwarzhaarige Frau, die sie vor fast einem Monat begrüßt hatte, war nicht zu sehen. Sofort ging Laura auf die Bücherregale zu und bewunderte die alt und edel zugleich aussehenden geschriebenen Kunstwerke. Die Legenden vom magischen Krieg sah sie nicht mehr. Vielleicht war es nur einmal im Angebot gewesen. Laura war so vertieft in die Bücher gewesen, dass das freundliche ‚hohoho’ von Nicolaus sie regelrecht hochschrecken ließ. Kaum drehte sie sich um neunzig Grad, sah sie auch schon den etwas rundlichen Mann mit den schneeweißen Haaren und dem langen Bart. Laura bemühte sich, halbwegs normal für ihre Verhältnisse zu wirken, als sie den Weihnachtsmann, zwar ohne rote Bommelmütze aber in einem gemütlichen roten Pulli und schwarzen Hosen sah. „Oh, hallo Herr Wei-he.“ Beinahe hätte Laura Weihnachtsmann gesagt und sie war dankbar, dass Nicolaus’ Name dem so ähnlich war, dass das nicht weiter auffiel. „Wenn das nicht das junge Fräulein Lenz ist. Guten Tag, meine Liebe.“, grüßte Nicolaus sie. Bei der Vertrautheit, mit der er sie ansprach, wurde Laura sofort wieder ganz warm ums Herz. Dann wandte sich Nicolaus Benni zu. „Benedict, wie schön, dich auch mal wieder zu sehen.“ Laura konnte ihren Augen kaum trauen, als Nicolaus tatsächlich mit seiner rechten Hand, die jederzeit ein zweijähriges Kind wohlbehütet und sicher über eine belebte Straße führen könnte, ohne dass dieses Kind auch nur den leisesten Hauch von Angst verspüren würde, dass er mit dieser Hand über Bennis Kopf wuschelte und dabei dessen Haare zerzauste. Ja, er kannte Benni schon, seit dieser noch ein Baby war. Aber dass er so vertraut mit jemandem umging, vor dem man eher Angst haben würde, wunderte Laura schon ein bisschen. In seinem zwar faltigen, aber trotzdem noch hübschen Gesicht lag so viel Liebe und Zuneigung, dass sich Laura wieder wie ein kleines Kind fühlte und sich auf den Schoß des Weihnachtsmannes setzen wollte, um ihm zu erzählen, was sie sich von ganzem Herzen wünschte. Was für ein Pech, dass die Feiertage schon vorbei waren. „Ach so, ich wollte mich noch bei Ihnen für Ihre Hilfe letztens bedanken und- Hier sind auch Mangas?!?!?!“ Kaum fielen die Comics in Lauras Blickfeld, wurde sie sofort abgelenkt. Nicolaus lachte wieder sein warmes Weihnachtsmannlachen. „Das ist ein yamisches Geschäft, was hast du denn anderes erwartet?“ Doch Lauras Aufmerksamkeit war schon voll und ganz zu den Mangas übergegangen. Trotzdem verfolgte sie das Gespräch zwischen Benni und Nicolaus aus Neugierde weiter. Nicolaus lachte wieder. „Ihre Leidenschaft für Manga könnte dir noch zum Verhängnis werden.“ Benni entgegnete wie üblich nichts, aber Laura vermutete, dass er leicht nickte. Sie verbrachte mindestens zwanzig Minuten damit, alle möglichen Mangas durchzustöbern, während Benni Nicolaus im Laden half und die Sachen erledigte, die für einen alten Mann mit Knieproblemen etwas schwierig sein könnten. Schließlich meinte Benni, sie sollten sich langsam zum Park aufmachen, da Carsten schon an der Schlange zur Kasse stand. Seine krassguten Sinne ließen Laura immer wieder staunen. Also trennte sie sich widerwillig von der Mangaecke, ging aber nicht, ohne dass sie sich drei Stück gekauft hatte. Und davon bekam sie einen, dank Bennis Arbeit, geschenkt. „Es ist schön, zu sehen, dass ihr euch wieder vertragt.“, sagte Nicolaus zum Abschied. „Ähm… Nun ja…“, begann Laura wieder drauf los zustottern. Nicolaus lachte sein ‚hohoho’. „Pass gut auf sie auf, sonst gibt’s keine Geschenke mehr für dich.“, scherzte er. Benni verdrehte die Augen, aber Laura riss ihre ganz weit auf. Das mit den Geschenken war ganz offensichtlich ein Scherz, aber wie kam er darauf? Nicolaus klopfte Benni auf die Schultern und verabschiedete sich von Laura mit einem besonders für sein Alter erstaunlich starken Händedruck. „Aber ich meine es ernst, passt gut aufeinander auf.“   Gemeinsam gingen Laura und Benni die Einkaufspassage entlang zum Park, der in dem Zentrum der Stadt lag. Dass sich unterwegs einige Leute zu ihnen umdrehten und sie musterten, war Laura nicht entgangen. Normalerweise hatte sie das Gefühl, die neugierigen Blicke der Bürger wären mit Abfälligkeit überhäuft, doch hier in Cor, wo niemand ihr Gesicht kannte, da das Jugendschutzgesetz so etwas in der Art von den ‚berühmten‘ Kindern verlangte, um sie bis zu ihrer Volljährigkeit vor den Papparazi zu schützen, konnte sie diese Blicke nicht so gut deuten. Irgendwie schienen sie und Benni wohl einfach aufzufallen. Natürlich wusste Laura, dass dieses Klischee Dämonenverbundene seien Engel völliger Schwachsinn war. Aber man konnte nicht leugnen, dass die Dämonen mit ihrem Einfluss die Aura und somit den Gesamteindruck veränderten. Laura warf einen Blick auf Benni, der nicht darauf erpicht schien, ein Gespräch mit ihr zu starten. Wahrscheinlich würde er sowohl mit als auch ohne der Segnung des Schwarzen Löwen so göttlich aussehen… „Wie hatte Herr Weihna- he das eigentlich mit dem ‚keine Geschenke‘ gemeint?“, fragte sie, um einen Grund für ihre Gafferei eben zu haben. Und dabei hatte sie sich doch tatsächlich prompt versprochen. Statt ihr, wie bei einem normalen Gespräch in die Augen zu schauen, blickte Benni einfach nur geradeaus. „Zum Geburtstag war er es immer, der mir was geschenkt hatte.“, entgegnete er nur. „Was?! Heißt das, dass du außer von Carsten, mir und Nicolaus von niemandem sonst was zum Geburtstag geschenkt bekommen hattest?“ „Fast. Sollte es einen Grund geben?“, fragte Benni zurück. Laura runzelte ihre Stirn. „Natürlich. Es ist der Tag deiner Geburt. Und zu Weihnachten?“, löcherte sie weiter, um herauszufinden, ob Nicolaus vielleicht tatsächlich die Rolle des Weihnachtsmanns übernommen hatte. Benni schüttelte nüchtern den Kopf. „Und was soll da bitte der Anlass sein?“ „Na die Geburt von Jesus. Kommt dann nicht auch zu dir der Weihnachtsmann?“, meinte Laura und verglich in Gedanken ihren jährlichen Geschenkhaufen mit Bennis drei bedürftigen Päckchen. „Meinst du diese erfundene Person von Cola?“, fragte Benni und Laura erkannte, dass Feiertage wohl keine große Bedeutung für ihn hatten. Laura schob schmollend ihre Lippe vor. „So ganz erfunden ist er auch nun wieder nicht. Herr Weihe sieht ihm in der allgemeinen Vorstellung zum Verwechseln ähnlich.“ So, jetzt war es raus. Jeder andere hätte wohl losgelacht. Jeder andere halt, aber nicht Benni, der desinteressiert mit den Schultern zuckte. „Magst du Herr Weihe nicht?“, fragte Laura und konnte es sich eigentlich gar nicht vorstellen, dass jemand diesen Opa nicht mögen könnte. „Sollte ich?“, kam die Gegenfrage, die für Benni so typisch und für Laura so Aggressionsauslösend war, wie als würde man mit den Fingernägeln über die Tafel kratzen. Benni schien das zu wissen, da er kurz darauf mit einer menschlicheren Antwort herauskam, die Laura trotzdem überraschte. „Doch.“ Laura lächelte zufrieden. Na also, es ging doch. Nun musste er nur noch lernen, dass Geburtstag, Weihnachten und Ostern toll sind. „Warum stehst du deinem Geburtstag eigentlich so gleichgültig gegenüber? Es ist doch immerhin der Tag deiner Geburt.“, fragte Laura. Wieder verdrehte Benni die Augen. „Du nervst.“ Das war nun wie ein Schlag in den Bauch für Laura, und zwar mit der üblichen Kraft, die Benni bei Kämpfen verwendete und nicht mit der stark abgeschwächten, wie wenn er Carsten eine Kopfnuss oder einen Rippenstoß verpasste. „Tut mir leid-“, brachte Laura betroffen hervor. Er sagte nur dann etwas über seine Gefühle, wenn wirklich alle seine Nerven der Ansicht waren, dass es sein musste. Und das war sogar für die Verhältnisse einer ruhigen Person, die sehr selten Gefühle zeigte, verdammt selten. Also musste sich Laura auch eingestehen, dass sie wirklich zu weit gegangen war. Viel zu weit. Beschämt senkte Laura denk Blick und ließ das Thema in Ruhe. Wieder breitete sich ein Schweigen aus. Doch im Gegensatz zu Carsten, war so etwas bei Benni normal. Inzwischen hatten sie den Park erreicht, ein verschneites Paradies. Laura war sich sicher, dass Carsten den Treffpunkt gewählt hatte und sich nun extra Zeit lies, um den beiden alleine etwas Zeit an diesem romantischen Ort zu lassen. Bei dem Gedanken wurde Lauras Gesicht trotz des kalten Windes, der ihr entgegenpeitschte, kochend heiß. Bei dem Gedanken an Carsten fiel ihr außerdem noch etwas ein, was sie von Benni wissen wollte. „Hey, ähm… sag mal… Kannst du mir eine Frage ehrlich beantworten?“, fragte Laura, auch wenn es nicht die Frage war, die sie stellen wollte. Davor musste sie sich noch vergewissern, dass Benni ihr auch wirklich die Wahrheit sagen würde. „Habe ich dich je angelogen?“, konterte Benni trocken mit einer Gegenfrage. Mit einem unsanften Schlag erinnerte sich Laura an den Herbst vor eineinhalb Jahren. Da war das auch ein Thema gewesen. Und sie hatte ihm nicht vertraut, obwohl er nie log. Wirklich nie, erinnerte sie sich, bei einem Rückblick in ihrem Leben. Ein flüchtiges Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Stimmt…“, dann atmete sie tief durch, um sich auf das bevorstehende vorzubereiten. „Was ich wissen will… ist… denkst du eigentlich… dass der Schwarze Löwe mich… ähm… verlassen wird?“ Erst nach einigen Schritten fiel Laura auf, dass Benni stehen geblieben war. Doch statt sich umzudrehen, blieb sie mit dem Rücken zu ihm gewandt stehen. Sie wollte nicht, dass er doch die Tränen sah, die sich in ihren Augen sammelten. Laura zitterte am ganzen Leib, als Benni mit tiefer, ernster Stimme schließlich antwortete: „Was ich denke, spielt dabei keine Rolle.“ Sie bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu dämpfen. „Ich will es aber trotzdem wissen.“ Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Nein.“ Laura hatte das Gefühl, dass der Boden unter ihren Füßen verschwand, und sie in die Tiefe fallen würde, um mit einem Schreck aufzuwachen. „…Was?“ Unerwarteter Weise wiederholte Benni seine Antwort ausführlicher. „Ich denke, er wird dich nicht verlassen.“ Laura konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Doch nun kamen sie eher aus Freude und Erleichterung. Wie konnte ausgerechnet Benni von allen am optimistischsten denken? War das überhaupt erlaubt?! Schniefend wischte sie sich mit der Hand über die Augen. Laura hörte ein Knirschen im Schnee. Einen kurzen Moment lang schien alles still zu stehen. Bis sie plötzlich von zwei starken Armen umfasst wurde. Ihr Herz begann schneller zu schlagen und in ihrem Bauch breitete sich ein eigenartiges Kribbeln aus. Der Griff war zwar fest, aber nicht erdrückend. Doch trotzdem fiel es Laura schwer, zu Atem zu kommen. Was ging hier vor sich?! „B- Benni? Warum-“ Statt ihre Frage zu beenden, klappte sie ihren Mund wieder zu. Es war angenehm. Gemütlich und warm. Laura wollte nicht, dass Benni sie wieder losließ. Doch genau in dem Moment lockerte er seinen Griff. Immer noch mit rasendem Herz drehte sich Laura um, um ihm wieder ins Gesicht sehen zu können. Zu ihrer Enttäuschung hatte er immer noch den neutralen, ernsten Ausdruck, wie davor. Wie hatte Ariane das mal genannt? Pokerface. Dieses Wort sagte alles über ihn aus. Benni wich allerdings ihrem Blick aus. „Entschuldigung. Deine Jacke ist… sehr flauschig…“ Laura wusste nicht, wie sie hätte reagieren sollen. Hatte er sie etwa nur deswegen umarmt?!? Das konnte doch nicht wahr sein! „… Ähm scho- schon… okay…“ Um ihre Enttäuschung so gut es ging zu überspielen, begann sie ihren Weg im Park fortzusetzen. Bei einem gefrorenen Teich hielt Benni wieder an. „Hier treffen wir uns.“, erklärte er. Laura nickte stumm. Sie war immer noch von Enttäuschung zerfressen. Sie beobachtete, wie Kinder jubelnd und voller Freude über das Eis rannten, ausrutschten und ihre Gleichgesinnten jagten. Dabei fiel Lauras Blick besonders auf einen kleinen blondhaarigen Jungen, etwa in der vierten Klasse. Schließlich sah er auch zu ihr rüber. Und für eine Weile schien die Zeit stehen zu bleiben. Er hatte ein süßes Gesicht, mit noch kindlichen Zügen. Aber in seinen braun-grünen Augen war ein seltsames Funkeln, was ihn für sein Alter schon sehr mächtig und weise wirken ließ. Lauras Aufmerksamkeit schien ihn etwas abgelenkt zu haben, denn er kam ins Wanken, fasste aber schnell wieder Fuß und grinste Laura kess an, bevor er auf seinen Schlittschuhen weiter zischte. „Dieser Junge dort, er ist… seltsam.“, sagte Laura zu Benni. Dieser warf einen kurzen Blick auf die Eisfläche und wusste sofort, wen Laura gemeint hatte. „Energie.“, entgegnete er nur. Laura sah ihn verwirrt an. „Was?“ „Hier sind zwei weitere Quellen, von denen Energien ausgehen.“, antwortete er, „Die eine ist der Junge. Die andere…“ Kritisch schaute er sich um. Genau da knackste es vor ihren Füßen. Erschrocken wich Laura zurück, als das Eis zu brechen begann. Risse breiteten sich krachend auf der Oberfläche aus und zerteilten sie in wankende Eisschollen, an deren Rändern das Wasser emporschwappte. Schreiend flohen die Kinder von der Eisfläche zurück zu ihren Eltern, rechtzeitig bevor sich auch die letzte Scholle von dem Festland löste. Atemlos beobachtete Laura das Geschehen auf dem Teich. Diese Risse sahen seltsam aus. Sie waren viel zu gezielt, als schien die Natur ein Symbol aus Wasser und Eis formen zu wollen. Ein panischer Aufschrei löste Lauras Blick vom Boden. Der Junge von vorhin stand in der Mitte des Teiches. Es war nur noch diese einzige Scholle übrig, auf der man sicher stehen konnte. Umgeben von Wasser. Vom Rand aus waren verzweifelte Rufe zu hören, höchst wahrscheinlich von seiner Familie. Ein eisiger Wind erfasste Lauras Haare. Ein Tornado, der in einem immer enger werdenden Kreis um den Teich stürmte und das Wasser zu einem unbarmherzigen Strudel formte. Wie gelähmt beobachtete Laura, wie der Strudel alle Schollen verschluckte. Und den Jungen mit ihnen. Sie wusste nicht, was sie tat, als sie in den Sturm schrie: „Mach doch irgendetwas!!!“ Auch wusste sie nicht, für wen diese Aufforderung eigentlich bestimmt war, bis ihr Benni plötzlich seinen Mantel in die Hand drückte und mit einem souveränen Kopfsprung in das bitterkalte, tosende Wasser eintauchte. Kurz darauf ebbte der Sturm ab, doch sowohl von Benni als auch dem Jungen fehlte jegliche Spur. Das aufgebrachte Gemurmel nahm Laura kaum wahr, auch nicht das verzweifelte Geschrei der Mutter des Jungen. Sie stand nur da, starrte auf die Stelle, in die Benni eingetaucht war und klammerte sich an seinen Mantel, als könne dieser verhindern, dass sie zusammenbräche. „Laura, was ist denn hier los?!?“ Wie aus einem Traum gerissen, drehte sich Laura um und sah Carsten, gefolgt von Öznur. Beide kamen mit schnellen Schritten auf sie zu. „Tut mir leid, dass es länger gedauert hat. Unterwegs hatte ich Öznur getroffen, die mich unbedingt noch in irgendeinen besonderen Laden mitschleppen musste.“, erklärte Carsten. Schwer atmend stützte sich Öznur auf ihren Knien ab. „Hey, du musst zugeben, dass du etwas Beratung gebraucht hast. Nur so Hemden kannst du nicht tragen.“ Laura warf einen Blick auf die Unmengen von Tüten, die Carsten in den Händen hielt. Da Öznur keine einzige trug, schlussfolgerte sie, dass er ihr wohl auch ihre Tüten abgenommen hatte. Trotz der gegenwärtigen Situation, musste Laura in sich hineinlachen. Carsten war nun mal ein Gentleman. Darauf konnte auch das FESJ keinen Einfluss nehmen. Carstens Blick wanderte von Lauras immer noch aufgebrachtem Blick zu ihren Händen, die sich immer noch an Bennis Mantel klammerten. „Warum hast du Bennis Jacke? Und wo ist der überhaupt?“, fragte er verwundert. Mit aufgewühlter Stimme erzählte sie Carsten und Öznur, was passiert war und dass Benni irgendetwas mit Energie erwähnt hatte. Während Öznur fast ebenso aufgebracht reagierte wie sie, mit „Das ist ja schrecklich!“ und „Wie kann so etwas passieren?!?“, ging Carsten das alles erstaunlich ruhig an. „Ich glaube nicht, dass sie ertrunken sind. Sie scheinen… wie vom Erdboden verschluckt.“, meinte er. Laura seufzte. „Und jetzt?“ Sie beobachtete, wie Polizisten ankamen und begannen, die Zeugen zu verhören. Einer mühte sich damit ab, die Mutter des Jungen zu beruhigen, ein weiterer, älterer kam auf die Gruppe zu. „Abwarten und Fragen beantworten.“, antwortete Carsten. „Auf jeden Fall müssen wir hierbleiben.“, sagte er, aber eher mit einem warnenden Ton an den Polizisten gewandt, der nur zwei Meter von ihnen entfernt war. „Ich habe das Gefühl, dass wir nichts Anderes machen können, als geduldig zu bleiben.“ Carsten hatte wieder diese überzeugende, autoritäre Stimme, die verriet, dass er es zweihundertprozentig wusste. Der Polizist nickte und ging zu einem seiner Kollegen. Laura wunderte sich, dass Carsten sogar einen erwachsenen Mann überzeugen konnte. Insbesondere, da er doch eigentlich so schüchtern war. Aber sie hatte nichts dagegen, auf ein Verhör konnte sie nur zu gut verzichten. Sie wusste selbst nicht wirklich mehr, als die übrigen und wer würde ihr schon abkaufen, dass Energie mit im Spiel war? Jedenfalls, ohne sich dabei selbst zu verraten. Öznur ließ mit ihrer Feuer-Energie den Schnee unter ihnen schmelzen und die nun zum Vorschein kommende, strahlend grüne Wiese aufwärmen. Auf diesen Platz setzten sie sich und taten das, was Carsten vorgeschlagen hatte. Abwarten. Kapitel 9: In den Tiefen Damons -------------------------------   In den Tiefen Damons       Benni folgte der Strömung und gelangte nahezu automatisch zum Zentrum des Teiches, in welchem alles von der Stärke des Strudels aufgesogen wurde. Die Kälte des Wassers behinderte seinen Körper mit seiner lähmenden Grausamkeit. Ohne die Feuer-Energie, die ihn mit ihrem warmen Schleier schützte, wäre er bereits erbärmlich erfroren. Die Zeit und die Zivilisation schienen bereits in endlose Ferne gerückt, statt nur einen halben Kilometer über ihm entfernt. Während er den Jungen mit wachsamen Augen suchte, tauchte er immer tiefer in den gähnenden Schlund des Teiches, bis er nach einer unermesslichen Ewigkeit seinen Grund erreichte. Es war stockfinster und kein Funken Licht von der Oberfläche drang in diesen Abgrund. Nur durch Gefühl konnte Benni seine Umgebung erahnen. Kantige Steine lagen träge zwischen Seeanemonen und Algen, die gierig nach ihm zu schnappen schienen. Er konzentrierte sich darauf irgendeine Energie zu finden, die der Junge ausgestrahlt hatte. Doch stattdessen vernahm er eine andere Energie. Eine zerstörende, die alles um sich herum brutal vernichten könnte. Je näher er ihr entgegen schwamm, desto lauter schien sie ihn zu rufen. Einerseits, um ihn mit ihrer zerstörenden Macht zu tyrannisieren, andererseits um ihn zu empfangen, wie ein Vogel seine Gleichgesinnten, um mit ihm in wärmere Länder zu ziehen. Sie sang ihr betörendes Lied des Schmerzes. Und Benni gefiel es. Er hatte das Gefühl, ohne sie nicht mehr existieren zu können, gar, dass seine gesamte Existenz von ihr abhing. Angeekelt verwarf er diese widerwärtigen Gedanken und konzentrierte sich einzig auf die Ursache der Energie, während ihm der Sauerstoff immer weiter abhandenkam. An einer Stelle war die Energie am stärksten, sie schien ihn durch das Gestein zerren zu wollen, an den messerscharfen Algen vorbei, an einen Ort, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Und den er auch nie würde sehen wollen. Benni ließ sich auf diese Kraft ein. Es war ihm überall recht, wenn er nur endlich wieder atmen könnte. Er verband ihre Energie mit seiner. Kurz darauf öffnete sich ein dunkles Loch. Dunkler, als die Finsternis dieses Teiches je sein könnte. Ein schwarzes Loch, was darauf wartete, ihn für immer in sich gefangen zu halten. Benni ging dieses Risiko ein und ließ sich von dem Loch, gleich eines zweidimensionalen Strudels, verschlucken.   Mit einem Mal wurde die Schwerkraft wieder aktiv und er fiel durch den Grund des Teiches hindurch und noch tiefer unter die Erde. Gerade rechtzeitig fing er sich an einem Vorsprung auf und hievte sich auf den festen Boden. Hinter ihm öffnete ein riesiges Monster von Abgrund seinen Schlund und wartete darauf, alles Fallende zu verschlingen. Wenn der Junge keine Hilfe hatte, wäre jede Rettung für ihn zu spät gekommen. Doch Benni bezweifelte dies. Er warf einen Blick nach oben und sah den Strudel, aus dem er gekommen war und den Grund des Teiches, der ihn nun gefangen hielt. Die Umgebung bestand aus kalten Felsen, die alles und jeden aufspießen könnten, sich über den gesamten Horizont erstreckten und einen Schatten in dem nicht vorhandenen Licht warfen. Es gab wirklich kein Licht, doch trotzdem war der einzige Schmuck dieses Ortes, die Felsen, ganz genau zu erkennen. Flink kletterte Benni einen dieser Felsen empor, darauf bedacht, sich nicht an seiner scharfen Oberfläche zu schneiden, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Wie vermutet, war die Umgebung ein einziges Mosaik aus Felsen, doch in einer Entfernung von zehn Meilen war ein Dorf oder eher eine kleine Stadt zu erkennen, bei der die Felsen wichen und sie nur noch von oben überragten, wie als wollten sie die Stadt und ihre Insassen mit ihren Spitzen gefangen halten. Benni musterte die Stadt etwas genauer. Die Mauer die sie umgab um ungebetene Gäste fern zu halten, oder sie in sich einzusperren, war alt und bröckelig, als sei sie einer verhängnisvollen Schlacht zum Opfer gefallen und seitdem keiner Beachtung mehr gestattet worden. Trotzdem war sie noch etwa vierzig Fuß hoch und trotzte ihrem Schicksal zusammenzufallen. An einer Stelle brach die Mauer ab und wurde durch ein etwa sechzig Fuß hohes hölzernes Tor ersetzt. Es wirkte träge und schien sich nicht durch normale, menschliche Kraft öffnen zu lassen. Vor dem Tor postierten zwei seltsame Wesen Wache, die es auf der Oberfläche nie hätte geben können. Ihre Beine und Füße waren die eines Raben, sowie ihre knochigen Flügel die Form eines toten Schmetterlingsflügels hatten. Anstelle von Händen waren an den Enden der Flügel Hundepfoten, die einen Speer in Richtung Tormitte hielten, welcher schon viele Schlachten schien bestritten zu haben. Die Stadt an sich hatte Häuser, die von ihrer Beschaffung der Mauer ähnelten. Schlichte Strohdächer anstelle von Ziegelsteinen und der Rauch entwich offenen Fenstern in die düstere Freiheit. Trotzdem wirkte die heruntergekommene, mittelalterliche Stadt auf unbeschreibliche Weise recht modern. Von der Stadt weg führte ein Weg aus anderer Steinart, als der Rest der Bodenbeschaffung. Auf diesem Weg waren drei kleine Wesen zu erkennen. In der Mitte sah Benni den blonden Schopf des Jungen. Die äußeren Wesen waren kaum größer als der Kleine und bestanden aus nichts Weiterem als Knochen und Hautfetzen, die nur von einer zerrissenen Tunika verborgen wurden. Benni konzentrierte sich auf die Stimme des Jungen. Immer wieder schrie er: „Was wollt ihr?!?“ „Wohin bringt ihr mich?!?“ „Wenn ihr mich nicht gleich loslasst, gibt’s eins auf den Deckel!“ Doch die Zombies entgegneten nichts, blieben immer noch in ihrem stummen Roboterdasein. Mit einem Satz sprang Benni von der Spitze des Felsens und machte sich auf, dem Jungen und seinen unerwünschten Begleitern unauffällig zu folgen. Innerhalb weniger Minuten hatte er sie bereits eingeholt. Trotzdem hielt er sich im Verborgenen. Er war sich sicher, dass die Zombies einen Anführer hatten, der den zerstörerischen Sog auf der Oberfläche verursacht und sie als seine privaten Boten losgeschickt hatte, um zu verhindern, dass der Junge gemeinsam mit den Überresten des Eises in die Tiefe stürzte. Nur wer hatte die Macht, so etwas zu verursachen? Wer? Benni kannte kein Wesen welches zu so etwas im Stande wäre. Außer die Dämonen vielleicht. Doch diese waren alle gebannt in den Körpern ihrer Auserwählten. Gemeinsam mit dem zeternden Jungen passierten die Zombies das Holztor, welches sich wie von Geisterhand auftat, um sich hinter ihnen wieder zu verschließen. Aus dem inneren der Stadt hörte Benni den Jungen fragen: „Jetzt antwortet doch endlich mal ihr doofen magersüchtigen Truthähne! Was wollt ihr von mir und wo bin ich hier eigentlich?!?“ Dieses Mal antwortete einer der Zombies mit seiner rauen Stimme, gleich einer Kettensäge: „Unser Meister will dich sehen. Oh und willkommen in Moringo, dem beliebtesten Reiseziel der Unterwelt.“ Beide der Zombies brachen in ein Gelächter aus, welches an das Kratzen an einer Tafel erinnerte. Wundervoll, hier will ich auch Urlaub machen, dachte Benni ironisch. Im Endeffekt hätte Carsten ihn tatsächlich noch hierhin geschickt, mit dem Vorwand, er würde mit seiner Vorliebe für schwarz doch perfekt hineinpassen. Benni wandte sich gedanklich wieder dem Tor mit den Wachen zu. Dass er sich in der Unterwelt befand, hatte er bereits erahnen können. Es wäre leichtsinnig, einfach an den Wachen vorbei zu spazieren, aber auch, wenn er sie angreifen würde. Sie schienen nicht direkt etwas mit dem Geschehen zu tun zu haben, also würde Benni Unschuldige töten und das wäre gegen jeden gesunden Verstand, den Wesen haben könnten. Es wäre unehrenhaft und peinlich. Also entschied Benni, die Wesen zu umgehen und über die Mauer in die Stadt zu gelangen. Dies war nicht weiter schwierig. Wie eine Katze auf Beutejagd schlich Benni in einigen Metern Entfernung an den Wachen vorbei und sprang mit einem einzigen Satz über die Mauer, die ihn eigentlich hätte aufhalten sollen. Den Jungen auf der anderen Seite wieder aufzuspüren war ebenso simpel. Man hätte ihn auch ohne besondere Sinne von der anderen Seite der Stadt zetern hören. Weiterhin hob sich sein frischer, kindlicher Geruch von der Masse der Untoten ab, so dass Benni nur seiner Nase hätte folgen müssen. Ohne weiteres mischte sich Benni unter das Volk, welches sich auf den Straßen herumtummelte. Vampir- und Zombiemädchen verschwanden in Häusern, die als Läden zu verstehen waren, oder kamen mit ausgefransten Tüten wieder heraus, nur um das nächste Geschäft aufzusuchen. Aus einem Restaurant war viel Tumult zu hören, da sich die Werwölfe um das All you can eat Buffet prügelten und um einen alten, makaber verzierten Brunnen in der Mitte eines runden Platzes standen untote Pärchen, um sich gegenseitig Süßigkeiten zu schenken und lachend eine Münze in den Brunnen zu werfen, die von irgendetwas verschlungen wurde, was dort im Wasser herumschwamm. Der gepflasterte Weg unter ihm hatte Risse und Schlaglöcher, in denen man sich ohne weiteres den Knöchel verstauchen könnte, wenn man seine Aufmerksamkeit woanders hin schweifen ließ. Die Unterweltler schienen ihm keinerlei Beachtung zu schenken, nur einige jünger wirkende Mädchen grinsten ihn beim Vorbeikommen an. Doch Benni konzentrierte sich einzig und allein darauf, die Fährte des Jungen zu verfolgen. Sie endete bei einem der verwegenen Häuser, welches jedoch weniger alt und modrig wie seine Nachbarn wirkte. Das Dach hatte, wenn auch heruntergekommene, Ziegel und die Fassade war mit einem knorrigen Fachwerk übersehen. Benni schlich unbeobachtete in den Hinterhof des einstöckigen Hauses, um von dort über das Fachwerk auf das Dach zu klettern. Auf einer der Seiten befand sich ein Bullauge, durch welches Benni ungehindert in das einzige Zimmer des Hauses sehen konnte. Die Einrichtung war genauso bedürftig wie die einer Gefängniszelle. Nichts Weiteres als ein verbeulter Holztisch und ein dazu passender Schemel schien noch in Takt zu sein. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein ehemaliges Strohbett, dessen Auspolsterung nun in alle Winde verstreut lag, nur nicht mehr dort, wo das Bett sein sollte. Eine Toilette oder sonstige lebensbedürftige Utensilien, wie Nahrung schien es nicht zu geben. Die Tapeten, an deren Wände abgebrannte Kerzen hingen, waren zum größten Teil heruntergerissen. Dafür, dass so wenig in dem Zimmer vorhanden war, war ein ziemlich großer Saustall zu sehen. Auf der Türschwelle standen die Knochenmänner und zwischen ihnen schimpfte und fluchte immer noch der Junge. Ihnen gegenüber stand ein junger Mann mit blau gefärbten Haaren und einer Brille, die an einer Seite bereits einen Schlag hatte. Die braunen Augen und die längliche Narbe an seiner linken Schläfe erkannte Benni sofort. Es war Lukas, Lauras nicht gerade bei ihr beliebter Cousin. Ein ziemlich gehässiges Miststück. Die Zombies schoben den Jungen vor sich her, bis sie etwa in der Mitte des Raumes standen. Dank seiner Vampirsinne war es Benni möglich, unerkannt das Gespräch zu verfolgen. „Ach wie schön, ein Gast!“, hieß Lukas den Jungen mit seiner abstoßenden Schleimerstimme willkommen. Er warf einen prüfenden Blick auf seine Gefolgschaft. „Seid ihr euch sicher, dass der Winzling der Dämonenbeherrscher ist? Mein Cousinchen ist immerhin fünf Jahre älter. Durch den Anschlag müssten sie doch alle etwa gleich alt sein, oder?“ „Unausgeschlossen, mein Meister. Der Unzerstörbare selbst hat ihn her befördert.“, antwortete der linke Zombie mit seiner Kettensägenstimme. „Was wollt ihr komisch guckenden Aasgeier von mir und Willie?“, platzte der Junge dazwischen. Lukas konnte sich wohl nicht mehr beherrschen und lachte lauthals los. Die Zombies stimmten mit in sein Gelächter ein und zusammen ergaben sie ein schrilles Trio des Grauens, das mit seinen sich reibenden Sekunden einem einen Schauer über den Rücken jagen konnte. Dass der Junge sie eben auf spezielle Weise beleidigt hatte, schien ihnen entgangen zu sein. „Was? Willie?!? Du hast deinem Dämon einen Namen gegeben?!?“, fragte Lukas und prustete wieder los. Von dem Geschehenen unbeeindruckt verdrehte Benni die Augen. Das ist ein Kind, was erwartest du? Wobei Laura als sie jünger war dem Schwarzen Löwen keinen Kosenamen gegeben hatte. Aber das war wohl auch den Umständen bedingt. Störrisch trat der Junge mit dem Fuß auf. „Du bist eine Schweinebacke, du dummer Onkel!“, brüllte er Lukas an. Ein unerklärlicher, eisiger Unterton übertönte die eigentliche Stimme des Jungen mit etwas unbeschreiblich Mächtigem. Es klang so, als würden zwei Stimmen aus einem Mund sprechen. Die eine war die noch kindliche, strahlende Stimme des Jungen, die andere die Macht höchst persönlich. Diese Macht ließ Lukas verstummen. „Wahrhaftig, ein Dämonenbesitzer. Nicht nur das, der Junge ist sogar bereits ein Halbdämon…“ „Dummer Onkel!“, brüllte der Junge wieder aus voller Kehle und die Macht in seiner zweiten Stimme ließ die Wände und den Boden unter ihm erzittern. Aus dem Nichts materialisierte sich eine riesige Schneelawine und begrub Lukas unter ihrer eisigen Decke. Kurz darauf waren die Zombies einzige Eiszapfen und der Junge floh zurück zur Tür. Doch wie sehr er auch rüttelte und schüttelte, das eiserne Tor öffnete seine Pforten nicht nach außen. Benni vermutete, dass es auch besser so war. Denn vor dem Haus versammelte sich bereits eine Horde Unterweltler und diese hätten den Jungen wohl vollkommen überrumpelt. Doch hinter dem Jungen mühte sich Lukas bereits wieder aus seiner Schneefalle heraus und zog seine Pistole. Dem Kind setzten die Gliedmaßen aus. Es stand nun regungslos wie eine Statue da und starrte auf die Waffe. Das einzige, was sich an ihm bewegte, war ein leichtes Zittern seines kleinen Körpers. Mit einem widerlichen Grinsen entsicherte Lukas sein Todeswerkzeug. „So, und jetzt kommst du mal schön brav her. Und stell meine Geduld lieber nicht auf die Probe, sonst könnte es schmerzhaft werden. Der Unzerstörbare will nur dich und deinen Dämon. Ihm ist es völlig gleich, ob du nur mit einem Auge sehen kannst, oder nur mit einem Ohr hören und deine Nase wirst du bei ihm auch nicht mehr benötigen. Also? Na los!“, befahl er mit heiserer Stimme, in der auch eine Prise Wahnsinn mitschwang. Ängstlich ging der Junge einen Schritt auf ihn zu. Doch Benni ahnte, dass er nun keine weiteren Informationen mehr erfahren würde. Also entschloss er, einzugreifen. Einzig mit einem Fausthieb zerschmetterte er das Bullauge und dessen nächste Umgebung und sprang durch die nun entstandene Lücke zwischen Lukas und den Jungen mit einem Schauer aus Glassplittern und zerstörten Ziegelsteinen, die neben ihm krachend zu Boden stürzten und dort in einzelne Teile zersprangen. Wortlos richtete er sich auf, nachdem er seinen Sprung abgefedert hatte und zog seine eigene Pistole, ohne die er das Haus nie verließ, und richtete sie auf Lukas. Erschrocken von dem unerwarteten Auftritt stolperte Lukas einen Schritt zurück und stürzte Rücklings in den Schneeberg. Hinter Benni lachte der Kleine schadenfroh. Mit einem Fluch, garantiert nicht für Kinderohren bestimmt, richtete sich Lukas wieder auf, doch nur um Benni einen hasserfüllten Blick zuzuwerfen. „Benedict Ryū no chi wie komme ich zu der Ehre, dass du mir in meinem bescheidenen Ferienwohnsitz einen Besuch abstattest?“, fragte er und schien jedes Wort regelrecht auszuspucken. Auf diese sarkastische Frage würde Benni nicht antworten. Es war auch keine erforderlich. Lukas schnaubte. „Ich hoffe für dich, dass du die Reparaturkosten bezahlst.“ Innerlich stöhnte Benni genervt auf. Lukas war ziemlich sarkastisch. Und es war einfach nur lästig. „Und wenn nicht?“ Ein weiteres Mal schnaubte Lukas. „Weißt du was, ich hab keine Lust, mit dir zu spielen.“ Hatte ich noch nie, entgegnete Benni in Gedanken. Auch wenn er sonst immer der Gewinner war. Geschwind zielte Lukas mit seiner Pistole auf Bennis Herz. Der Junge hielt sich mit einem Aufschrei bei dem lauten Knall die Ohren zu. In hohem Bogen flog Lukas‘ Waffe davon, an den Innenseiten seiner Finger zeichneten sich blutige Kratzer von dem Streifschuss. „Ist dir eigentlich klar, dass deine ‚Black Death’ bei einem Treffer höllische Schmerzen verursacht?!?“, zischte Lukas zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Benni entgegnete nichts. Natürlich wusste er das. Als Max ihm mit der ‚Black Death’ ins Schienbein geschossen hatte, war das auch nicht gerade angenehm gewesen, auch wenn er eigentlich recht schmerzresistent war. Im Gegensatz dazu waren die Splitter, die sich bei seinem Einbruch vorhin in sein Fleisch geschnitten hatten und nun dort für ein blutiges Gemälde sorgten, wie eine Liebkosung mit einer Feder. Da Lukas nun mehr oder weniger außer Gefecht gesetzt worden war, schob Benni das Kind mit zur Tür und wappnete sich schon mal auf das Kommende mit den Unterweltlern. Er hörte, wie Lukas hinter seinem Rücken seine Pistole zu schnappen versuchte, doch er war ihr nicht einmal einen Schritt nähergekommen, als wieder ein ohrenbetäubender Knall Lauras Cousin mit schmerzverzerrter Mimik zusammensacken ließ. Nur zu gerne hätte Benni ihm das Herz aus der Brust geschossen. Doch er hatte zu seinem Bedauern nicht das Recht dazu, einen Mann mit seiner Position in der Gesellschaft zu richten. Das würde zu einigen Komplikationen mit den hohen Tieren der Regionen führen und auf so etwas konnte er nur zu gut verzichten. Diese Treffen waren mit oder ohne Mord todlangweilig. Da die Tür verschlossen war, trat Benni sie auf. Mit einem eisernen Scheppern flog sie aus den Angeln. Wie erwartet hatten sich unzählige Unterweltler auf dem Platz vor Lukas’ ‚Ferienwohnung’ versammelt. Der Junge gab ein entsetztes Quietschen von sich. Er hatte tatsächlich nicht damit gerechnet, dass es zu einem Hinterhalt kommen würde. Einer der Vampire aus den Reihen der Angreifer trat vor. Seine blutroten Augen flackerten mordlustig, als er sagte: „Überlass uns den Dämonenbesitzer und wir lassen dich in Frieden gehen.“ Benni schüttelte wortlos Kopf. Der Vampir fletschte die spitzen Zähne und ließ dabei seine Todeswerkzeuge aufblitzen. „Schade um einen unserer Gleichgesinnten.“, spottete er und als wäre das das Kommando zum Angriff gewesen, stürzten sich die gesamten Unterweltler auf ihn und den Jungen. Der war, wie zuvor schon, wieder in seiner Starre und wusste sich nicht recht zu verteidigen. Benni schüttelte seufzend den Kopf. Mit zwei Fausthieben schlug er die Angreifer, die es auf den Jungen abgesehen hatten nieder und beendete das Leben eines weiteren, indem er ihm mit einem Tritt das Genick brach. Man könnte meinen, dass Benni wehrlos wäre, wenn er einem Wesen gegenüberstände, welches Menschen zu seinem Frühstück verspeiste. Doch dem war nicht so. Mit einzelnen, leichten Schlägen machte er seinen Widersachern den Garaus, ohne auch nur irgendeine Waffe, die nicht sein Körper war, zu benutzen oder von seinen Gegnern getroffen zu werden. Es war kein epischer Kampf. Es gab keine dramatischen Angriffe oder Sprünge. Es ging um Effizienz. Kurze, schnelle Bewegungen, die ihren Zweck erfüllten und nicht zur Show dienten. Alles andere verbrauchte unnötig Energie. Und war somit lebensbedrohlich. Innerhalb weniger Minuten war die Schlacht vorbei. Die einzigen Überlebenden waren Benni und der kleine Junge, der seinen Beschützer mit einem Blick gemischt aus Kritik und Bewunderung betrachtete. Benni verstand nicht, was es am kalten Abschlachten einer gesamten Stadt zu bewundern gab. Seufzend sah er sich auf den Platz, der einem Friedhof glich, um. Die ganze Stadt schien es zum Glück nicht gewesen zu sein. Seine Gegner sahen eher wie ausgebildete Krieger aus, die die eigentlichen Bewohner in ihre Häuser geschickt hatten, um den Auftrag, den sie von Lukas bekommen hatten, in die Tat umzusetzen. Der Junge zog an Bennis immer noch von dem Eiswasser nassen Kapuzenpullover, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. „Danke, dass du mich gerettet hast, Onkel.“, sagte der Kleine, der Benni etwa bis zu den Hüften reichte. Benni schüttelte den Kopf. Wie hatte der Zwerg ihn genannt? „Keine Ursache. Ich heiße Benni.“ Der Junge hüpfte von einem Bein auf das andere. Ihm schien das Gespräch zu gefallen. „Ich heiße Johannes. Nett dich kennen zu lernen, Onkel!“ Benni seufzte. Johannes schien sich nicht dafür zu interessieren, dass Benni bei dem Spitznamen nicht gerade Begeisterung zeigte. Aber er ließ es einfach bestehen. Es existierten schon so viele Kosenamen, die ihn nicht gerade ansprachen, dass einer mehr oder weniger auch kein Beinbruch wäre. Johannes hüpfte und sprang herum, bis er wieder vor Benni zum Stehen kam und ihn ein weiteres Mal musterte. „Wenn dieser dumme Onkel böse ist, dann bist du der Liebe!“ Benni genierte sich, das ‚Lob’ des Kleinen anzunehmen. Wie konnte so etwas überhaupt über seine Lippen kommen, wenn Benni vor seinen Augen einen Massenmord begannen hatte? „Ich bin nicht lieb.“, widersprach er. Johannes begann wieder wie ein kleines Reh herumzuhüpfen. „Klar bist du lieb! Du hast mich gerettet!“ „Wie kannst du so etwas sagen, wenn ich doch eben vor deinen Augen hunderten Unterweltlern das Leben gestohlen habe?“ Johannes hüpfte in einem Kreis um Benni herum und kam wieder vor ihm zum Stillstand. „Du hast mich gerettet. Die waren böse. Du bist lieb, Onkel!“ Grummelnd zog Benni Johannes mit sich, um aus der Stadt zu verschwinden, ehe ihre Bewohner wieder auf den Straßen herumwuselten. „Ich bin nicht lieb.“, verharrte er auf seiner Meinung. Johannes kicherte, entgegnete aber nichts weiter. Schließlich fragte er: „Hey Onkel, du warst doch vorhin bei dieser Tante, oder? Diese hübsche Tante mit den roten Haaren.“ Natürlich hatte er Laura gemeint, doch Benni wurde bei dem Thema unwohl in seiner Haut. „Sag mal, Onkel, bist du mit Tantchen verheiratet?“ Diese Frage ließ Benni hochschrecken. „Nein.“, entgegnete er. Dieses Kind war verdammt dreist. „Dann seid ihr verlobt!“, hakte Johannes nach. „Nein!“, entgegnete Benni wieder. „Dann seid ihr zusammen!“ „Nein!!!“ Wenn der Zwerg nicht gleich die Klappe hielt, würde er das mit dem ‚lieb’ doch noch einmal überdenken. Johannes blieb direkt vor ihm stehen. „Du wirst aber rot! Das heißt, du magst sie!“ Benni entgegnete nichts mehr. Er wusste selbst nicht, was er über Laura dachte oder wie er für sie empfand. Auch vorhin in dem Park. Er wusste nicht, was in diesem Augenblick mit ihm los war. Als er einen Blick auf ihre zierliche, zitternde Gestalt geworfen hatte, überkam ihn ein so drängendes Gefühl, dass er sie einfach umarmen musste. Es war traurig, dass sie ihm die Sache mit der Jacke so mir nichts dir nichts geglaubt hatte. Gelogen hatte er nicht, nein, die Jacke war tatsächlich so weich wie das gepflegte Fell eines glücklichen Lamms. Aber es war nun mal nicht der eigentliche Grund gewesen, der ihn dazu geführt hatte. Oh nein. Eine seltsame Kraft in ihm, ein Drang, für den es keine Worte gab, um ihn auch nur annähernd zu beschreiben, dies zwang ihn, ihren zerbrechlichen Körper unter der Jacke zu spüren, die sie umgab als wolle sie verhindern, dass man ihn zerbrach. Er wollte den Duft nach Rosen, der von ihren seidigen Haaren ausging riechen, wollte, dass ihre Rehaugen nur das Schöne der Welt sahen, anstelle des Leides, welches sie tagtäglich mit sich herumschleppen musste. Benni schüttelte den Kopf, um seine absurden Gedanken zu verscheuchen. Was verdammt noch mal war mit ihm los?! Johannes schien ihn die ganze Zeit beobachtet zu haben. „Du magst sie.“, kicherte er. Benni entgegnete nichts mehr. Kurz vor dem geschlossenen Holztor, das sich vor ihnen wie ein Riese aufbaute, kam ihnen eine Gestalt entgegen, deren Silhouette von einer ungewöhnlich mächtigen Aura umgeben wurde. Johannes schrie voller Schreck auf und klammerte sich ein weiteres Mal an Bennis Pullover. Der junge Mann begann zu lachen. Er hatte eine klare Stimme mit einem mächtigen Unterton, der auf entfernte Weise Johannes zweiter Stimme ähnelte, die auch bei den normalen Gesprächen wie ein Flüstern, ein ganz leises Echo, zu hören war. „Na sieh einer an, und ich habe mich schon gefragt, welcher Mensch mich mit seinem verführerischen Blut ärgern will. Das nennt man übrigens Mobbing, Benni.“, meinte die Stimme, von ihrem Echo der Macht verfolgt und der Vampir entblößte bei einem Lächeln seine spitzen, glänzenden Eckzähne. Benni hätte den Vampir auch ohne seine Stimme oder sein Äußeres erkennen können. Ein vertrauter Geruch stieg ihm in die Nase. „Was machst du hier, Konrad?“, fragte Benni unüberrascht. Er hatte Konrad schon auf weite Entfernung gewittert, hatte sich aber eher mit der kleinen Nervensäge auseinandersetzen müssen, die den Vampir nun mit denselben kritischen Augen musterte, wie sie zuvor Benni betrachtet hatte. Konrad lachte wieder. „Urlaub.“, antwortete er, was in etwa dieselbe Bedeutung hatte wie: ‚Ich bin mal wieder im Auftrag des Senats unterwegs und hab eigentlich überhaupt keinen Bock. Aber da es nun mal mein Job ist, bin ich jetzt hier.‘ Konrad musterte das Schaubild, welches Bennis blutende Hand zu bieten hatte. „Und du willst Stress abbauen, oder wie?“ Benni schüttelte den Kopf. „Lukas war hinter ihm her.“ Konrads Blick fiel auf den zitternden Knaben, der immer noch an Bennis nasskaltem Pullover gekrallt, störrisch seinen Blick erwiderte, als sei er zu jeder Zeit auf einen Kampf gefasst. Konrad seufzte. „Dann macht Lukas also immer noch Jagd auf die Dämonen und ihre Besitzer…“, stellte er fest und warf einen Blick in die Richtung, aus der Benni und der Junge hergekommen waren. Für den Bruchteil eines Herzschlags loderten seine roten Augen blutig auf. „Das ist typisch für dieses Arschloch. Er sucht sich immer die Schwachen aus. Er war ja auch hinter seiner Cousine her, als diese noch jünger war.“ Johannes war inzwischen auf leisen Sohlen zu dem Vampir rüber geschlichen und zupfte nun an dessen Baumwollhemd. „Du, großer Onkel, bist du auch ein Dämonenbesitzer?“, fragte er in einer kleinlauten kindlichen Stimme, die sich voll und ganz mit ihrem Echo widersprach und doch mit ihm harmonierte. Konrad lachte. „Ja, in meinem Körper macht es sich die Petrole Fledermaus bequem, die Herrscherin des Blutes. Blut-Energie und Vampir, das passt doch, oder?“ Wie zur Bestätigung wurde der echoende Ton in seiner Stimme automatisch stärker. Er klang etwas weiblicher, als der Unterton des Dämons von Johannes. Die großen Augen des kleinen Jungen begannen freudig zu glitzern. „Wie schön! Ich hab Willie, den Lila Killerwal!“ Im Gegensatz zu Lukas, war Konrad in der Lage, bei der Erwähnung des Spitznamens nicht gleich laut loszulachen. „Willie heißt er also. Nun, freut mich, dich kennen zu lernen, Lila Killerwal.“ Aus Johannes Mund kam ein erfreutes Quietschen, so mächtig wirkend, dass Konrads Lächeln auf unerklärliche Art noch breiter wurde, als es zuvor schon war. Es war offensichtlich, dass sich hier der Lila Killerwal persönlich zum Quietscher gemeldet hatte. Neugierigen Blickes sah Johannes an Benni hoch. „Bist du eigentlich auch ein Dämonenbesitzer, Onkel?“ Konrad verlor vor Lachen beinahe die Beherrschung. „Nein Kleiner, Onkel ist kein Dämonenbesitzer.“ Kopfschüttelnd meinte Benni: „Wir sollten langsam zurück.“ Johannes begann wieder herumzuhüpfen. „Ja! Jetzt geht’s heim! Jetzt geht’s heim! Zur sonnigen Oberfläche, nach Hause!“ Benni verdrehte die Augen, während Konrad von all dem eher amüsiert wirkte. „Falls ihr nichts dagegen habt, begleite ich euch bis zum Ausgang. Hier scheint es ja nichts mehr zu geben, was ich dem Senat sonst noch berichten könnte.“ Benni zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wie bist du eigentlich an den Wachen vorbeigekommen? Ohne Ausweis lassen die hier keinen rein.“, fragte Konrad irritiert. Benni ging eine halbe Meile die Mauer entlang, bis die Wachen wohl nicht mehr allzu viel mitbekommen würden und blickte dann ihr steiniges Antlitz hinauf. Konrad und Johannes waren ihm gefolgt. Misstrauisch schätzte Konrad die Entfernung zum Tor ab. „Die Wachen sind solche Trantüten.“, kam er zum Entschluss. „Das ist sooo hoch. Wie kommen wir da rüber?“, fragte Johannes und stellte sich auf die Zehnspitzen, als würde ihn das weiterbringen und den Aufstieg erleichtern. Konrad grinste Benni an. Zwischen seinen Rückenblättern schoss ein Fledermausschwingenpaar hervor und kaum entfalteten sie ihre gesamte Größe, stieß sich Konrad gen Untergrund der Oberwelt. Mit einem Jauchzen vollbrachte er einige Loopings und weitere Manöver in den Lüften und landete schließlich auf der anderen Seite der Mauer. Johannes hüpfte. „Ich will auch fliegen können!“ „Du hättest ihn ruhig mitnehmen können.“, sagte Benni gegen die Wand. Von der anderen Seite war ein belustigtes Kichern zu hören. „Nix da, keine Passagiere. Um den Kleinen musst du dich schon selbst kümmern.“ „Dann gib nicht so an.“, entgegnete er. Ohne ein weiteres Wort nahm er Johannes Huckepack und sprang mit ihm, wie bei seiner Ankunft in der Unterwelt, mit einem einzigen Satz über die Mauer. Als er Johannes auf der anderen Seite wieder auf dem Boden absetzte, rannte dieser im Kreis herum und rief „Noch mal, noch mal!“ bis er taumelnd zum Stillstand kam. Nach einigen Metern Sicherheitsabstand zu den Wachen, um ja nicht gesehen zu werden, gingen sie wieder den Weg entlang, wieder in das von Felsen regierte Gebiet, weg von der alten Stadt mit ihrer bedrückenden Dunkelheit. „Wie bist du überhaupt hierhergekommen?“, fragte Konrad Benni, das Misstrauen in seiner Stimme nicht überhörbar. „In einem Parkteich von Jatusa war ein Portal.“, erklärte Benni und hielt sich dabei so kurz wie eh und jäh. „War ja klar, dass du das ausgerechnet im Winter entdeckst.“ Konrad lachte. „Er wurde dort von einem Strudel erfasst.“, erklärte er. Benni entging nicht, dass einige ihn für ‚verrückt’ oder ‚lebensmüde’ hielten, aber er tat einfach, was er tun musste. Trotzdem, bei minus acht Grad im Freien schwimmen zu gehen würde er nicht freiwillig wagen. So viel Verstand war ihm noch garantiert. Konrad atmete sichtlich erleichtert aus. „Na, ist ja alles gut gelaufen… Für die jetzigen Verhältnisse jedenfalls.“ „Was hat eigentlich der eine Vampir mit ‚Gleichgesinnten’ gemeint?“, fragte Benni nach einem Moment des Schweigens. Ihm war der Grund nicht klar, warum er so bezeichnet wurde. Konrad, der natürlich mit seinen Vampirohren dem gesamten Geschehen gefolgt war, lachte. „Ach so, der: ‚Schade um einen unserer Gleichgesinnten’, oder?“, vergewisserte er sich und imitierte gekonnt die hasserfüllte Stimme des Vampirs, welcher Benni zum Kampf herausgefordert hatte. Ein weiteres Mal musste Konrad lachen. „Er hat dich für einen Vampir gehalten. Schwarzes Auge hin oder her, ich glaube, jeder hat dich für so ein Geschöpf wie ich es bin gehalten.“ Benni schnaubte. Ich wäre ein Vampir. Klar. Was für ein schlechter Witz. Inzwischen hatten sie den Abgrund wieder erreicht. Johannes reckte den Hals nach oben, um das Portal zu begutachten und wanderte dann mit dem Blick hinunter in den bodenlosen Abgrund. „Wie kommen wir jetzt hoch?“, fragte er verunsichert und sah dabei Konrad mit seinen großen Kulleraugen an. Dieser hob wie zur Abwehr die Hände. „Oh nein, ich flieg dich da nicht hin. Ich nehme lieber das Portal nach Spirit.“ „Und wie sonst?“, fragte Johannes neugierig. „Kannst du auch fliegen, Onkel?“ Benni schüttelte den Kopf, warf einen Blick auf den steinernen Boden, der kurz vor seinen Füßen endete und streckte die Hand aus. Langsam begann die Seite des Abgrundes bei ihnen zu beben. Erst nur schwach, dann immer stärker. Johannes suchte schreiend Halt an Konrads Arm, der selbst ins Wanken geriet. Benni stand in der Zeit felsenfest kurz vor der ewigen Finsternis. In seinen Gedanken ließ er einen weiteren Felsen entstehen. Er war wie seine Brüder und doch war er anders. Er bestand aus Erd-Energie. Benni formte den Felsen in seinen Gedanken wie ein Töpfer sich seine Vasen vorstellte, oder ein Künstler sein Werk erschuf ohne es auf Papier zu bringen. So erschuf Benni seinen Felsen, gab ihm einen festen Halt und Stufen, um zu dem Portal empor zu steigen. Und genau so, wie sich Benni den Felsen vorgestellt hatte, wuchs er auch. Er gedieh auf der öden Landschaft und stieg mit einer rasanten Geschwindigkeit in die Höhe. Nachdem das Beben abgeklungen war, grinste Konrad Benni an. „Energie ist ganz schön praktisch, oder? Mit ein bisschen Vorstellungskraft bekommt man alles hin, was in der Macht seiner Energieart steht und der Kraftaufwand ist minimal, wenn man nicht gerade Unmögliches versucht.“ Benni nickte zustimmend. Beherrscher einer oder in seinem Falle mehrer Energien waren in der Lage, Atome und Moleküle entsprechend seiner Kraft entstehen zu lassen und so seine Energie, wie diese Kraft genannt wurde, aus dem Nichts zu materialisieren. So konnte man auch ohne Schwierigkeiten mithilfe der Erd-Energie einen Felsen wachsen lassen. Johannes guckte neugierigen Blickes nach oben zu dem Grund des Parkteiches. „Und da müssen wie jetzt hin?“, fragte er wenig begeistert. Benni nickte. „Oder willst du hierbleiben?“ Mit einigen Sätzen sprang Johannes bis zur Mitte der Treppe. Sie hielt sein Fliegengewicht ohne jegliche Probleme aus. „Nö! Ich will endlich heim!“ Nun machte sich auch Benni auf zum Aufstieg. „Wenn du das Portal passiert hast musst du sofort nach oben schwimmen. Keine Erkundungsausflüge.“, ermahnte Benni den Kleinen, da er befürchtete, dass der Zwerg erst noch auf Entdeckungstour am Teichboden unterwegs sein würde und ihn dann noch mal aufzugabeln, darauf konnte Benni nur zu gut verzichten. Johannes nickte seufzend. Er hatte es doch tatsächlich wagen wollen. Schließlich zuckte er mit den Achseln. „Na, was soll’s. Tschüss großer Onkel!“, rief er Konrad zu und hüpfte durch das schwarze Loch. Konrad lachte. „Der Kleine hat’s echt faustdick hinter den Ohren.“ „Mag sein. Grüß Rina von mir.“, sagte Benni in seinem normalen Tonfall der Parteilosigkeit. „Mach ich. Ach so, Benni, kannst du das Portal verschließen, wenn du durch bist? Auch wenn in jeder Region eins ist, sind nur die in Spirit und Yami offiziell und da wäre es nicht so toll, wenn es Vermisste in ’nem Parkteich gibt, die durch das Portal gefallen sind…“ Benni nickte und ließ sich von dem schwächlichen Sog des Portals zurück in die Oberwelt geleiten. Kapitel 10: Eiskalte Wärme --------------------------   Eiskalte Wärme       Tatenlos und doch von Angst zerfressen starrte Laura auf den Teich des Parks, wo vor mehr als einer halben Stunde Benni und der Junge verschwunden waren. Auf Carstens Anweisungen hin gab es keine Unterwassersuchtruppen, unter dem Vorwand man könne sowieso nichts ausrichten. Obwohl Carsten noch nicht einmal als erwachsen galt schenkte man seinen Hinweisen erstaunliche Beachtung. Doch auch die Polizei wurde nun unruhig und meinte, sie würde keine weiteren vierzig Minuten schweigend das nicht geschehende Geschehen beobachten. Laura konnte die Polizisten nur zu gut verstehen. Wäre sie im Schwimmunterricht nicht immer eine absolute Niete gewesen, wäre sie garantiert Benni gefolgt. Aber so lange Unterwasser… Das überlebt doch kein Mensch, dachte sie traurig und trotz ihres Vorhabens nicht zu weinen, kullerte bereits eine Träne über ihre Wange. Carsten schien ihre mehr als bedrückte Stimmung bemerkt zu haben, was Laura aber eher peinlich als erleichternd fand. Trotzdem klopfte er ihr aufmunternd auf die Schulter. „Das wird schon, vertrau mir. Wenn wirklich Energie mit im Spiel war, wie du vermutet hast, dann werden die beiden wieder zurückkommen. Ganz sicher.“ Und wieder war da sein unbeabsichtigter Tonfall, es ganz genau zu wissen. Und ob Laura wollte oder nicht, er beruhigte sie immer wieder. Kleine Wellen, die etwa in der Mitte des Teiches entstanden und sich sanft schwingend an den Rand bewegten, ließen alle um ihn stehenden Leute neugierig aufblicken, aus Verwunderung, Ungläubigkeit und auch Hoffnung. Kurz darauf tauchte der patschnasse Kopf des Jungen, der in den Fluten versunken war, nach Luft schnappend auf. Riesiger Jubel brach aus, als kurz darauf auch Benni auftauchte. Einige Polizisten, die mit einem Boot die ganze Zeit lang über planlos auf dem Teich herumgekurvt waren, hoben nun den vor Eiswasser triefenden Jungen aus dem Wasser und ließen Benni sich über die Reling schwingen. Unter dem ohrenbetäubenden Jubel der Beobachter fuhren sie zurück zum Festland. Gemeinsam mit Laura kamen auch eine Frau mittleren Alters und ein junges Mädchen, etwa ein Jahr jünger als Laura auf das Boot zu gerannt und fingen die beiden patschnassen Jungs ab. „Johannes! Oh mein Gott, geht es dir gut?!? Hast du dich verletzt?!? Wie konnte das nur passieren?!?“ Die Frau drückte das Kind an sich und schien den Knaben nicht mehr loslassen zu wollen. „Mir geht’s blendend Mama! Ich war an einem Halloweenort, habe alle möglichen Monster gesehen, einen Kampf beobachten dürfen, mich mit einem voll coolen Vampir angefreundet und durfte über eine riiiiiiiiiiesige Mauer hüpfen!“, erzählte der Junge, Johannes, als er sich aus dem Klammergriff seiner Mutter befreit hatte, mit wilden Gestiken und völlig aufgebrachter Stimme. Dann zupfte er an Bennis durchnässtem Pullover. „Und Onkel hat mich vor den Halloweenmonstern und dem komischen Mann gerettet.“ Johannes Mutter warf einen Blick auf Benni. „Vielen dank, dass Sie meinen Sohn gerettet haben. Wie kann ich mich nur dafür revangieren? Und entschuldigen Sie bitte seine etwas… eigentümliche Art Geschichten zu erzählen. Ach, wie kann ich mich nur bei Ihnen bedanken?“ Benni schüttelte den Kopf. „Lassen Sie gut sein.“ Doch die Frau verharrte auf ihrer Meinung. „Das geht nicht, ich kann Sie doch nicht einfach so unbeachtet lassen! Sie haben meinem Sohn das Leben gerettet!“ „Sie müssen nichts für mich tun.“, antwortete Benni wieder. Johannes zupfte wieder an seinem Pulli. „Komm mich doch irgendwann mal besuchen, Onkel!“ Seine Mutter klatschte in die Hände. „Das ist eine sehr gute Idee!“ Hastig wühlte sie einen Zettel aus ihrer Tasche und kritzelte einige Zahlen und Buchstaben auf ihn. „Hier ist unsere Telefonnummer und Adresse. Falls Sie Zeit haben, rufen Sie doch bitte einfach an.“ Ausdruckslos nahm Benni den Zettel entgegen. „Danke.“ Die Frau lächelte ihn mit ihrem warmherzigen Mutterlächeln an. „Ich habe zu danken.“ Ein paar Polizisten brachten dem Jungen und Benni Handtücher. Benni lehnte ab, während die Frau begann, Johannes’ Wuschelschopf trocken zu rubbeln. Laura, die die ganze Zeit ungeduldig darauf gewartet hatte, bis die Frau endlich mit ihren Danksagungen aufgehört hatte, um bloß nicht unhöflich zu erscheinen, begann damit, Benni aufgebracht in den Bauch zu boxen. „Du Idiot! Weißt du eigentlich, was für Sorgen ich mir gemacht hab?!? Tu so was nie wieder!“ Unbeeindruckt von Lauras Schlägen, packte Benni sie an beiden Handgelenken, was ihn aber nicht vor ihrem aufgewühlten Blick schützen konnte. „Du hast doch gesagt, tu doch etwas.“, erwiderte er daraufhin. Laura riss sich aus seinem lockeren Griff. „Aber das hab ich nicht zu dir gesagt!“, brüllte sie ihn an und überforderte Benni (und sich selbst) vollkommen mit einer spontanen, stürmischen Umarmung. Nun verschwand Lauras Aufregung allmählich und ersetzte sie durch Sorge. „Kannst du mir bitte verraten, warum du noch lebst? Kein Mensch hält so lange Unterwasser durch. Und was verdammt noch mal hast du mit deiner Hand gemacht?!?“ „Beruhige dich.“, antwortete Benni nüchtern. Dieses Mal meldete sich Carsten zu Wort. „Laura war krank vor Sorge, wie soll sie sich da so schnell beruhigen? Ich kann es nur zu gut verstehen. Was du gemacht hast war lebensmüde.“ Benni löste sich aus Lauras Umarmung. „Ihre Sorge war überflüssig.“ Nur zu gerne hätte Laura ihm nun eine gescheuert. Wie zum Teufel konnte man nur so denken?!? Stattdessen schrie sie: „War sie nicht! Jedes normale Wesen macht sich um die, die ihm wichtig sind Sorgen, wenn ihnen etwas passiert! Sei es Mensch oder Vampir oder was es sonst noch gibt!“ Wütend drückte sie ihm seinen Mantel in die Hand machte auf dem Absatz kehrt und stampfte zu Öznur, die das Geschehen bislang nur beobachtet hatte. „Jetzt weiß ich, was Carsten mal mit Güte gemeint hatte… Ich geb’ dir mal ’nen Tipp von ’ner Expertin: Nimm Rücksicht auf die Gefühle anderer. Das würde dich nicht nur äußerlich zum Schatz machen.“ Benni erwiderte jedoch nichts darauf. Energisch schob Öznur Laura wieder in seine Richtung und packte Carsten am Ärmel seiner, beziehungsweise Bennis Jacke. „Es gab da noch einen Laden, in den ich Carsten mitnehmen wollte. In einer dreiviertel Stunde treffen wir uns an der Bushaltestelle zur Schule. Bis dahin will ich, dass ihr das geklärt habt. Wenn nicht, dann will ich euch erst wieder in der Schule treffen, wenn ihr es geklärt habt!“ Carsten stöhnte auf. „Nicht noch ein Laden.“ Doch Öznur zog ihn mit sich und ließ Laura und Benni alleine zurück. Ein Polizist tippte Benni auf die Schulter. „Cor-Kriminalamt. Falls Sie nichts dagegen haben, würde ich Ihnen gerne noch einige Fragen zum Vorfall stellen.“ „Da gibt es nicht viel zu berichten.“, meinte Benni. „Aber- wir müssen doch den Fall aufklären. Haben sie denn nichts Verdächtiges bemerkt? Einen Anhaltspunkt für unsere Nachforschungen?“ Bennis Tonfall wurde leicht schroff und die unheimliche, fast königliche Autorität in seiner Stimme ließ den Polizisten zusammenschrecken. „Hören Sie, ich kenne den Grund für diesen Strudel nicht und das, was ich weiß, werden Sie mir sowieso nicht glauben. Also lassen Sie mich damit in Ruhe.“ Eingeschüchtert nickte der Polizist und zog sich zurück. Laura erkannte ihn wieder, es war derselbe, der auch von Carsten zurechtgewiesen wurde, allerdings auf eindeutig sanfterem Weg. „Das war ganz schön respektlos.“, bemerkte Laura und wich einen Schritt vor diesem unheimlichen Jungen zurück. Er schien nicht gerade bester Laune. Doch Bennis wilde fast mörderische Ausstrahlung legte sich wieder und er bekam wieder seinen ruhigen Ausdruck. Für den Bruchteil eines Wimpernschlags schien Benni in einer lodernden Flamme zu stehen und mit einem schaurigen Zisch verdunstete das Wasser auf seiner Haut und die wie kleine Diamanten glitzernden Tropfen in seinen Haaren. Er war komplett getrocknet. Trotzig drehte ihm Laura den Rücken zu, damit er nicht den Hauch von Bewunderung sehen konnte, den sie für seine so gezielte Beherrschung der Feuer-Energie hatte. Gerade war sie zu sauer auf ihn. Eine Weile lang sagte niemand mehr etwas. Die Polizei machte immer noch ihre Untersuchungsarbeiten und sperrte nun den gesamten Teich ab, hielt aber einen Sicherheitsabstand zu ihr und Benni ein. Die Schaulustigen waren alle schon längst verschwunden und nichts konnte das Schweigen brechen. „Wenn das so weitergeht, werden wir nie in die Schule zurückkommen können.“, bemerkte Laura und verschränkte dickköpfig die Arme vor der Brust. „Entschuldige dich doch einfach bei mir und die Sache ist gegessen. Oder erlaubt das dein Stolz nicht?“ Vielleicht klang sie etwas zu gemein, doch Laura war stinksauer und hatte keine Lust, mit Benni zu diskutieren. Da dieser auch so etwas meistens umging, hoffte sie, dass die Sache so schnell wie möglich geklärt war. Außerdem bekam sie Hunger, was bei einem Streit alles andere als hilfreich war. Doch Benni schwieg weiterhin. „Also ist es doch dein Stolz.“, stichelte sie weiter. Entweder die Diskussion würde sich doch ziehen, oder sie schaffte es damit, ihr Ziel schneller zu ereichen. Laura hoffte Zweiteres. Doch Benni sagte immer noch kein Wort. „Weißt du eigentlich, wie kindisch du dich benimmst?!?“, brüllte Laura in die entgegengesetzte Richtung. Sie bezweifelte, dass er aus Trotz handelte -oder besser gesagt nicht handelte- doch ihr fiel keine andere Beschreibung ein. Als Benni wieder nichts erwiderte, platzte Laura der Kragen. Wutentbrannt stapfte sie auf ihn zu, hob die Hand und legte ihre gesamte Kraft in den Schlag. Ein lauter Knall echote in dem Park und für einige Sekunden schien die Zeit in Dunkelheit verschluckt zu sein. Laura hatte in Filmen schon oft gesehen, wie Mädchen Jungs geohrfeigt hatten und sie hatte es schon immer fasziniert, wenn ein Mädchen jemanden schlug, der größer und bei weitem stärker als es selbst war. Doch in diesen Sekunden erschrak sie vor sich selbst, hielt sich für eine Bestie. Man konnte nicht einfach der Person, die man mochte, eine runterhauen. Und sie erst recht nicht. Benni hatte noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt und obwohl Laura wirklich erstaunlich viel Kraft für ihre Verhältnisse benutzt hatte, färbte sich die getroffene Wange kaum rot. Betroffen wich Laura einen Schritt zurück und senkte den Blick, als hätte sie den Schlag abbekommen und nicht er. Was war nur mit ihr los gewesen?! Benni stand weiterhin gelassen da. Was auch immer zu diesem Zeitpunk in ihm vorging, er überspielte es meisterhaft. Laura im Gegensatz dazu überhaupt nicht. „I-ich…“, stammelte sie, war aber kaum dazu in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Mal wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen. „Tut mir…“ Bennis ruhiges Dasein machte sie nur noch nervöser. Was dachte er gerade? Wie fühlte er sich? Es schien wie die Ruhe vor dem Sturm. Schließlich hielt Laura dem nicht mehr stand. „Mach doch irgendetwas…“, bat sie und kniff die Augen zusammen, als erwarte sie einen Schlag mitten ins Gesicht. „Was denn?“ Es war erstaunlich, wie normal Bennis Stimme klang, dass sie überhaupt zu hören war. Laura hätte erwartet, er wäre einfach gegangen und hätte sie alleine zurückgelassen. Oder er hätte ihr tatsächlich eine rein gehauen. Aber nicht diese Bennitypische Gegenfrage. Darauf hatte sie sich nicht vorbereitet. „Keine Ahnung… Warum fragst du mich das?“ „Warum nicht?“ „Weil… Ach was weiß ich. Mach einfach irgendetwas!“ Laura hielt die Anspannung, die sich in ihr aufgebaut hatte nicht mehr aus. Irgendetwas schnürte ihren Hals zusammen und ein eisiger Windstoß ließ sie frösteln. Was erwartete sie nun? Sie wusste es nicht. Stoff raschelte, ein quadratisches Etwas wurde ihr in die Hand gedrückt. Irritiert schaute Laura auf, doch Benni mied ihren Blick. Die Schritte knirschten im Schnee, als er an ihr vorbei ging und sie wurden immer leiser, je weiter er sich von ihr entfernte. Ihr Herz fühlte sich an als wäre es ein einziger Backstein. Sie war so ein Idiot… Vorhin noch ist sie von Benni an dieser Stelle umarmt worden und eine Stunde später verpasste sie ihm eine Ohrfeige?! Nur, weil er nicht verstand warum sich ein Mensch Sorgen um jemand anderen machen konnte?! Bedrückt betrachtete sie das Schächtelchen, was Benni ihr gegeben hatte. Eigentlich hatte sie nicht verdient, es zu öffnen. Außer, ihr würde eine Wolke Giftgas oder Menschen fressende Minimonster daraus entgegen kommen. Doch die Neugierde übertraf schließlich doch noch ihre Gewissensbisse. Laura atmete tief durch. Und hob den Deckel. Der Inhalt bestand wenig überraschend weder aus giftigem Gas noch irgendwelchen abstrusen Gestalten, die sie sich in ihrer Fantasie zurechtgedacht hatte. Zum Vorschein kam eine Kette. Vorsichtig nahm sie die Kette heraus, was sich als ziemlich schwierig herausstellte, da ihre halb erfrorenen Finger sich kaum bewegen ließen aber Laura andererseits große Angst hatte, dass sie in den Schnee fallen und verloren gehen könnte. Als sie es schließlich doch geschafft hatte, hielt sie die silberne Kette mit ihrem Anhänger in die Höhe und betrachtete sie. Das Kreuz hatte ein silbernes Glänzen und an seinen Enden waren je drei Halbkreise, die wie sich öffnende Blumen geformt waren. Laura erkannte es sofort. Das etwas größere Gegenstück hatte sie einst als Kind im Wald gefunden und anschließend Benni zu seinem siebten Geburtstag geschenkt. Eines seiner einzigen Geschenke, wie sie inzwischen erfahren hatte. Lauras Körper durchlief ein Frösteln. Eilig drehte sie sich um und rannte den Weg entlang, den Benni zuvor auch genommen hatte. So weit konnte er noch nicht gekommen sein, auch wenn die Geschwindigkeit von Lauras rennendem Gang und ihrer Auffassungsfähigkeit etwas zu langsam waren, um hoffen zu können, dass sie Benni noch einholen oder gar finden würde. Seinen Spuren im Schnee zu folgen, auf diese Idee kam sie erst gar nicht. „Benni!“, rief sie zwischen zwei hektischen Atemzügen in die Richtung, in die sie rannte. Tatsächlich war das Glück doch ein Mal auf ihrer Seite. „Benni!!!“, rief sie ihn, doch er hielt nicht an. Laura wusste nicht, ob er seine Schritte etwas verlangsamte. Wenn ja, war der Unterschied kaum merkbar. Als Laura ihn erreichte, hielt sie ihn am Ärmel seines Mantels fest. „Warte doch.“, brachte sie keuchend hervor. Verdammt noch mal, wenn jedenfalls ihre Ausdauer mal nach ihrem Wunsch handeln würde. Aber nein, dieses verflixte Karystma musste ja ausgerechnet ihre Lunge angreifen. Wobei die anderen Organe wohl genauso, vielleicht sogar noch unbrauchbarer wären, würden sie unter dem Einfluss der Krankheit stehen. Immerhin war Benni stehen geblieben, als sie ihn am Ärmel gepackt hatte. Er war auch komplett widerstandslos, als Laura ihn zu sich umdrehte und an seinem Hals nach dem tastete, bis sie es endlich gefunden hatte. Sie zog die silberne Kette aus dem Ausschnitt seines Pullis und musterte sie neugierig. Es war tatsächlich dasselbe Kreuz, das sie ihm geschenkt hatte und dessen Gegenstück sie nun in der Hand hielt. Laura schaffte es, die Anspannung, die sich in ihr ausgebreitet hatte, zumindest zur Hälfte herunterzuschlucken. „Du hast es tatsächlich noch…“ Benni zuckte mit den Schultern. „Sollte ich nicht?“ „D-Doch, aber ich dachte- … Danke.“ Laura strich über seinen inzwischen trockenen Pulli, doch Benni wich vor ihr zurück, wie als wäre sie elektrisch aufgeladen und hätte ihm einen Stromschlag verpasst. Beschämt ließ Laura die Hände sinken. „’Tschuldigung…“ Doch als sich Benni wieder umdrehen wollte, um weiter zu gehen, hielt Laura ihn erneut zurück. „Warte noch! Kannst du… ähm… mir die Kette… anlegen?“ Lauras Atem stockte. Sie bekam Probleme Luft zu holen, doch daran war dieses Mal nicht die Krankheit schuld. „Kannst du das nicht selbst?“ Dieses Mal sah Benni ihr nicht in die Augen, sondern beobachtete vereinzelte Schneeflocken, die vor ihm zu Boden gleiteten. Laura wurde wieder kochend heiß. „Doch…schon… Aber … also gerade nicht, weil… äh…“ Sie hielt ihm die Kette entgegen, konnte sie aber kaum ruhig halten. Ihre Finger waren ebenso gerötet wie ihre Ohren und zitterten genauso wie ihr frierender Atem. Laura wusste nicht, ob Benni zögerte oder ob es ihre Einbildung war. Doch schließlich nahm er die Kette an sich. Als seine Finger ihre Hand berührten, spürte sie einen kurzen Moment, wie Feuer-Energie sie in eine wohlige Wärme hüllte. „Hast du keine Handschuhe oder eine Mütze?“, fragte er nur, wobei sich Laura nicht sicher war, ob er das rhetorisch meinte. „Ähm nein… ich glaube die habe ich in Yami vergessen.“, antwortete sie dennoch. Benni erwiderte nichts darauf, was aber genauso gut ‚Das ist mal wieder typisch für dich‘ bedeutete. Stattdessen trat er mit der Kette in der Hand hinter sie. Nun verstand Laura, was Ariane ihr erzählt hatte. Überraschend sanft schob Benni ihre Haare beiseite. Er legte ihr die Kette um und schloss sie an ihrem Nacken. Laura erschauderte bei der leichten Berührung, obwohl sie sich gemütlich warm anfühlte. Etwas länger als eigentlich erforderlich verharrten seine Hände auf ihrer bloßen Haut und zogen sich schließlich zurück. „Komm, sonst verpassen wir den Bus.“, meinte Benni und ging wieder voraus. Laura hatte ihre Schwierigkeiten, seinen schnellen und doch unangestrengten Schritten zu folgen, doch sie erreichten den vorletzten Bus zur Coeur-Academy, wo sich Öznur und Carsten bei ihrer Ankunft hämisch angrinsten.   „Wir sollten die Direktoren über das Geschehen informieren.“, schlug Carsten vor, als er, Laura, Öznur und Benni den Bus an der Coeur-Academy Haltestelle verließen. Öznur legte die Stirn in Falten. „Wieso denn?“ „Wegen der Energie. Ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber es könnte sein, dass einer der Dämonenbesitzer aus der Reihe tanzt, oder so ähnlich…“, erklärte Carsten und wandte sich an Benni. „Du hast gemeint, Lauras Cousin hätte seine Finger mit im Spiel?“ Laura zuckte schon einzig bei der Erwähnung von Lukas zusammen. Was hatte ihr idiotischer Cousin dieses Mal bloß wieder ausgeheckt? Benni nickte als Antwort nur. In Gedanken versunken strich Laura den Umriss des Kreuzes unter ihrem Pulli nach, das Benni ihr geschenkt hatte. Wenn sie an das im Park dachte, wie sanft Bennis starke Hände sie am Nacken berührt hatten, bekam sie immer noch eine wohlige Gänsehaut an den Armen. Doch Benni schien das Geschehen kalt gelassen zu haben. Jedenfalls wirkte er ganz normal, im Gegensatz zu Laura, die ihm nun noch öfter Seitenblicke zuwerfen musste. Öznur verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute hinauf in den grauen Himmel. „Ernsthaft, was ist denn das für ein Valentinstag? Die einzigen, denen heute etwas Romantisches passiert ist, sind Laura und Lissi. Na gut… Weiß Gott, mit wem Lissi unterwegs ist…“ Sie zwinkerte Laura aufmunternd zu. Laura schüttelte den Kopf. Was hatte Öznur eigentlich erwartet, als sie Benni und Laura alleine gelassen hatte? Dass er sie küssen würde?!? Man hatte das Mädchen Fantasie. Öznur senkte seufzend den Kopf. Sie hatte es doch wirklich erwartet… „Außerdem hast du Nane vergessen. Sie hat ein Date mit dem Fernseher.“, ergänzte Laura. Warum wollte sie eigentlich Öznur aufheitern? Vielleicht, weil auch sie ziemlich traurig wirkte. Immerhin war ein Valentinstag ohne einen besonderen Menschen an seiner Seite auch nur ein normaler Tag wie jeder andere. Der Versuch gelang Laura auch. Öznur lachte: „Ich dachte, sie wäre mit der Speisekammer zusammen.“ Nun musste auch Laura lächeln. Sie erinnerte sich nur zu gut an Arianes gespielt warnenden Gesichtsausdruck, der schon zu echt schien, um wahr zu sein. „Wir müssen mal nachsehen, wer von unserer Gruppe sonst noch hier rumlungert. Am besten alle wissen darüber bescheid.“, schlug Carsten vor. So machten sie sich auf die Suche nach den übrigen Dämonenbesitzerinnen. Ariane war, wie erwartet, bei ihrem Fernseher mit Harry Potter und nur schwer vor die Tür zu bekommen. Anne fanden sie in der Turnhalle und Susanne und Janine in der Bibliothek, was beides auch keine große Überraschung war. Nur Lissi konnten sie nirgendwo finden. „Ist wohl auch besser so. Die kann einem jedes ernste Gespräch versauen.“, meinte Anne zynisch und erntete dafür einen vorwurfsvollen Blick von deren Zwillingsschwester, die als einzige wohl der Ansicht war, Lissi könne sich auch vernünftig verhalten. Öznur legte nachdenklich ihren schlanken Zeigefinger an die vollen roten Lippen. „Können wir die Direktoren echt am Valentinstag stören? Ich meine… Die sind doch verheiratet… Äh, wären die da nicht auch gemeinsam unterwegs?“ Öznurs Frage ignorierend ging Benni zu dem Gebäude der Büros, westlich des anmutigen Barockhauptgebäudes neben dem Jungenwohnheim. Carsten antwortete Öznur mit einem Schulterzucken und folgte Benni. Wie vor einigen Wochen folgten sie ihm in das Büro der Schülervertretung und setzten sich auf die schwarzen Ledersofas. Doch dieses Mal wussten sie über das Geheimnis ihrer Sitznachbarn bescheid. Schweigend saßen sie da, während Benni im Direktorrat verschwand und kurz darauf mit der Direktorin und dem Direktor zurückkam. Sie sahen nicht gerade gestört aus, so wie Öznur es umschrieben deutlich vermutet hatte. Der Direktor wirkte eher dankbar, da er offensichtlich vor einem Haufen Papieren gerettet wurde. Die Direktoren nahmen wie einst auf dem gegenüberliegenden Sofa Platz, während Benni sich hinter den Tisch des Schulsprechers setzte. Laura musterte seine Arbeitsfläche. Sie war leer und folglich auch ordentlich. Nur einzelne Papiere lagen in einem geordneten Stapel an dem Rand des Tisches, irgendwelche Formulare. Laura erkannte sowas sofort, denn Formulare sahen meist so aus, als würde keiner sie anrühren wollen. Eigentlich wirkte Bennis Tisch einsam, so wie er dastand. Nur ein Tisch, ohne einen Sinn, außer seiner Aufgabe als Schreibunterlage nachzugehen. Das erste, was zu hören war, war Herr Bôss‘ Lachen. „Wisst ihr eigentlich, dass ihr genau so wie beim ersten Mal sitzt? Nur Fräulein Tieges die Zweite fehlt.“ „Entschuldigen Sie bitte, Lissi hatte leider keine Zeit.“, entschuldigte Susanne ihre Schwester. Der Direktor verdrehte die Augen. „Man, seid ihr höflich… Übrigens: Ihr müsst nicht alle so wie letztens sitzen, Eiskalter Engel.“ Es klang beinahe wie ein Vorwurf, dass Benni sich wieder nicht zu ihnen gesetzt hatte. Doch der Eiskalte Engel erwiderte eiskalt gleichgültig den auffordernden Blick des Direktors. Laura fragte sich immer noch warum. Natürlich war Benni nicht gerade gesellig, doch als sie sich ihren Sitz genauer ansah erkannte sie den vermutlichen Hauptgrund. Das Sofa war mit echtem Leder überzogen. Benni würde sich nie im Leben daraufsetzen. Herr Bôss gab seinen Sozialisationsversuch mit einem Seufzer auf. „Also, was habt ihr so Dringendes zu berichten?“, fragte die Direktorin. Dieses Mal erzählte nicht Benni das Vorkommnis in der Unterwelt, sondern Carsten und wurde nur ab und zu von dem eigentlichen Augenzeugen ergänzt, falls er etwas Wichtiges vergaß. Oder eher vergessen hätte, denn Benni sagte gar nichts. Carsten schaffte es, seine knappe Erzählung komplett wiederzugeben, ohne auch nur ein Detail zu vergessen. Nachdem Carsten den Bericht beendet hatte, herrschte zeitweiliges Schweigen. Dank seinem Taktgefühl hatte er jedoch Lukas ausgelassen und auch Öznur erwähnte durch seine strikte Ermahnung zuvor nichts von dem Täter. Immerhin zählte Lukas zu Lauras Familie und war für ihren Vater fast so etwas wie sein eigener Sohn. Wenn eine Anklage oder etwas dergleichen vorliegen würde und er herausfände, dass Benni und ein kleines Kind die einzigen Zeugen wären, würde er natürlich seinem Neffen eher trauen und jedenfalls für Benni hätte das nicht gerade schöne Folgen. So umschrieb Carsten Lukas als ‚einen verrückten, blauhaarigen Geisteskranken’. Und traf damit genau ins Schwarze, wie es für ihn üblich war. Die Direktorin ergriff schließlich die Initiative. „Wir müssen diesen Verbrecher unbedingt festnehmen. Wie du schon gesagt hast, es ist unwahrscheinlich, dass er tatsächlich alle Fäden in der Hand hält, aber vielleicht kann er bei einem Verhör wichtige Informationen verraten…“ Sie wandte sich an Benni. „Kannst du ein Phantombild des Verbrechers zeichnen?“ Benni erwiderte ihre Frage mit seinem typischen ausdruckslosen Pokerface. Doch der Direktor lachte sofort wieder drauf los. Als er daraufhin von seiner Frau einen wütenden Blick erntete, erklärte er: „Hast du noch nie in das Zeugnis deines ‚Vertreters der Schulgemeinschaft’ geschaut? Er mag zwar sehr intelligent sein, aber wenn er was nicht kann, dann ist es zeichnen. Oh, und kochen… oder putzen… oder Wäsche waschen-“ Seine Aufzählungen wurden von einem weiteren Lachanfall unterbrochen. Laura fragte sich, ob es erlaubt war, dass ein so heiterer Mann Direktor einer Eliteschule sein konnte. Die Direktorin verdrehte die Augen. „Er soll sie ja auch nur leiten. Bei der Polizei.“ Carsten runzelte die Stirn. „Sie wollen so etwas wirklich den… nun ja, den…“ „… normalen Menschen überlassen?“, kam Anne ihm zu Hilfe. Frau Bôss seufzte. „Wohl wahr. Nein, das geht nicht. Damit riskieren wir, dass euresgleichen noch mehr gejagt werden…“ Öznur erhob die Stimme, sie klang leicht hysterisch. „Gejagt?!“ Der Direktor nickte. „Ja, eure Vorgänger wurden von mehreren Arschlöchern gejagt, was sogar teils von manchen Regionen Damons unterstützt worden ist. Ganz vorne an der Spitze waren… Hm… Also Terra ist ja überall dabei, wo es Mord und Todschlag gibt. Dann auch noch Mur, wobei die dort immer noch nach der Besitzerin fahnden, und natürlich Yami. Ich sag’s ja, die Finsternis ist echt komisch.“ Ariane stützte sich auf dem Kinn ab. „Das erklärt wenigstens, warum wir alle gleich alt sind.“ „Aber warum sind hier bitte schön nur Mädchen?!? Ich meine, als Dämonenbesitzer, gibt’s da keine Jungs?“, fragte Öznur genervt. Dieses Mal lachte der Direktor zwar nicht, aber er grinste vielsagend. „Doch, zum Beispiel dieser Junge, den ihr geangelt habt.“ „Und Eagle auch.“, ergänzte Carsten nicht gerade begeistert. „Stimmt, der Häuptlingssohn aus Indigo. Unter den Jungs sind übrigens auch andere Wesen. Könnte ganz schön bissig werden…“, meinte der Direktor und schmunzelte. „Aber, dass ihr alle gleichalt und nur Mädchen seid, hat einen anderen Grund: Die Dämonen vermuten, dass sie so euer Band stärken können. Viele der Ex-Besitzer kamen nicht gerade gut miteinander aus und na ja, das hat sie halt ins Verderben gestürzt. Ist auch verständlich, ich meine, stellt euch vor, die da neben mir wäre eine Dämonenbesitzerin. Wie fändet ihr das?“, fragte Herr Bôss in einem neckischen Ton, doch die Direktorin sah das wohl eher als Beleidigung und warf ihm einen wütenden Blick zu. Laura seufzte. Sie fragte sich, warum die beiden trotz ihrer total miserablen Kommunikation noch verheiratet waren. Vielleicht gab es aber doch noch etwas wie Liebe. Wenn ja, dann sah man das nicht wirklich. Jedenfalls von der Seite der Direktorin konnte sie keinen Hauch davon entdecken. „Meinen Sie damit, dass alle ehemaligen Dämonenbesitzer tot sind?“, fragte Susanne. Ein Anflug von Angst war in ihrer Stimme zu hören. „Fast alle. Für gewöhnlich verlässt der Dämon den Körper seines Besitzers, wenn dieser stirbt, oder wenn er unter keinen Umständen überleben wird.“, erklärte die Direktorin. Janine fasste wieder Hoffnung. „Was meinen Sie mit fast alle?“, fragte sie mit ihrer herzerweichenden Stimme, die jedem nur Gutes wünschte. „Wenn ich das mal so dreist behaupten darf: Der Rote Fuchs war wohl der schlauste Dämon. Jedenfalls hatte er seine Besitzerin verlassen und ihr im Exil zur Flucht verholfen. Wir wissen das, weil wir damals nicht ganz unbeteiligt an ihrem Schutz waren, aber leider ist der Kontakt abgebrochen… Sie war damals noch ganz jung und müsste heute etwa im Alter des Eiskalten Engels sein…“, meinte der Direktor und warf Benni einen prüfenden Blick zu. „Aber ich würde schon gerne wissen, was es mit der Energie so auf sich hat. Kannst du nichts Genaueres dazu sagen? Nur Energie hilft nicht wirklich weiter. Wie hast du dich gefühlt, als du sie wahrgenommen hast? Als Dämonenverbundener erkennt man meist instinktiv, was für eine Energie es ist.“ „Das weiß ich nicht.“, meinte Benni nur. Lauras Blick wanderte automatisch zu Carsten. Sie erkannte einen kritischen Blick in seinen exotischen lila Augen, doch er entgegnete nichts. Vielleicht auch nur deshalb, weil er seinem besten Freund vertraute. Sie wiederum glaubte Benni ohne wenn und aber. Zu diesem Zeitpunkt war er wohl eher damit beschäftigt gewesen, nicht zu ertrinken. Da konnte er sich nicht wirklich auf seine Gefühle konzentrieren… Sofern er tatsächlich welche hatte, manchmal bezweifelte selbst sie das. Außerdem konnte er ja überhaupt nicht lügen. Wenn er es nicht wusste, wusste er es somit nicht. Nun schien der Direktor eher zu Benni als zu dem Rest der Gruppe zu sprechen. „Also wir können jetzt auch nicht wirklich helfen, ich glauben da solltet ihr mal einen Meister fragen.“ Anne hob eine Augenbraue. Mann, so was wollte Laura auch schon immer können. „Aber ihr seid doch ein Meister-“ Mit einer abwehrenden Gestik schnitt er ihr das Wort ab. „Ich meine einen, mit viel Lebenserfahrung und Wissen über die Dämonen. Von mir aus könnt ihr schon kommenden Sonntag hin. Außer eurem mysteriösen Widersacher der Dämonenbesitzer sammelt wird wohl niemand etwas dagegen haben.“ Mit diesen Worten standen die beiden Direktoren auf und verließen den Raum.   „Also auf jeden Fall sollten die beiden zur Eheberatung.“, schlussfolgerte Öznur, auch wenn das nicht gerade hilfreich für ihr gegenwärtiges Problem war. „Wer ist denn jetzt dieser Meister?“, löcherte Anne Benni, doch natürlich antwortete er nicht. „Zieh dich am Sonntag einfach warm an, wir werden wohl wandern gehen müssen.“, meinte Carsten. Laura ahnte schlimmes. Janine überlegte. Sie war weitaus gesprächiger geworden, auch wenn sie ihre Schüchternheit wohl immer beibehalten würde. „Was machen wir nun eigentlich mit Lissi?“ Wie wenn man vom Teufel sprach, kam Lissi ihnen auf dem großen Platz entgegengerannt. Sie hatte offensichtlich gute Laune. „Hey ihr Süßen, wo seid ihr denn alle gewesen?“, rief sie ihnen schon von weitem zu und winkte zur Begrüßung. Wieder machte Anne dieses coole Augenbrauenheben. „Mit welchem Pfeil hat Amor dich denn heute erwischt?“ „Na ja, ihr wisst doch, bald ist die Faschingsparty. Und da hat mich Kaito eingeladen!“ „Faschingsparty? Ach du Scheiße.“ „Also Anni-Banani, nein, das ist super! Kannst du dir das eigentlich vorstellen? Eine richtige Party an einer Schule! Es gibt sogar Alkohol.“, entgegnete Lissi und stemmte empört die Hände in die schmale Taille. „Nur für die Volljährigen.“, entgegnete Carsten. „Woher weißt du denn das?“, fragte Ariane kritisch. „Vielleicht, weil das ein Gesetz ist?“, gab Carsten sarkastisch zurück. „Außerdem muss der da auch bei der Organisation helfen.“ Mit ‚der da’ zeigte Carsten auf den geistig abwesenden Benni. „Wann ist denn die Feier?“, fragte Öznur neugierig. „Steht auf dem schwarzen Brett.“, sagte Benni. Da niemand wirklich zufrieden mit dieser Aussage war, ergänzte Carsten beschwichtigend: „Am Rosenmontag.“ Öznur stöhnte auf. „Super, bis dahin finde ich doch nie eine Begleitung.“ „Wir können ja als Gruppe hingehen. Ist doch viel lustiger. Außerdem lernen wir uns so auch etwas besser kennen.“, meinte Ariane. Lissi warf ihr einen verwirrten Blick zu. „Im Vollsuff?“ Susanne hob tadelnd den Zeigefinger. „Komm mir bloß nicht auf falsche Gedanken. Außerdem wirst du bei einem Verstoß gegen die Schulordnung bei dem nächsten Event ausgeschlossen.“ Lissi überlegte und sagte dann mit gekonnter Girliestimme: „Na gut. Es kommt also darauf an, was das nächste Event wird.“ Ariane unterdrückte ein Lachen. „So kann man es natürlich auch sehen.“ Während die Gruppe weiterhin über Recht und Ordnung diskutierte, fasste Laura all ihren Mut zusammen und zog Benni mit sich zum Brunnen, außerhalb der Hörweite ihrer Kameraden. „Was ist denn?“, fragte Benni nüchtern. Natürlich erkannte er, dass sie ihn um etwas bitten wollte. Und da die Sonne gerade am untergehen war, wurden ihre Wangen noch roter als erwünscht, wenn ihre Verlegenheit überhaupt erwünscht wäre. Laura rieb sich die frierenden Hände. Sie zitterte vor Kälte am ganzen Körper. Sie konnte eigentlich nicht glauben, dass Sonnenlicht auch so kalt sein konnte. „Ich wollte wissen… Ob du… äh… ob wir… du… zu der Feier gehst.“, brachte Laura hervor. Warum musste sie eigentlich die Initiative ergreifen? In den Mangas machten das doch immer die Jungs, oder? Jedenfalls meistens. „Nein.“ Bennis Antwort hatte denselben neutralen und doch klaren Klang wie immer und doch hatte Laura das Gefühl, jemand habe ihr eine Kugel ins Herz geschossen. Vielleicht hat er mich nicht wirklich verstanden, machte Laura sich Hoffnungen. Ich versuche es etwas direkter. Ihr Herz pochte wie ein verzweifelter Vogel, wenn er mit seinen Flügeln schlug. Er wollte nicht abstürzen, doch war zu verletzt, als dass er noch fliegen könne. „Dann… Willst du vielleicht mit… uns kommen?“ Laura biss sich auf die Zunge. Das ‚mir’ hatte sie nicht auf die Reihe bekommen. Benni schüttelte den Kopf. Es war noch nicht einmal ein entschuldigender Ausdruck in seinem Gesicht. Öznur hatte Recht, bisher war er tatsächlich nur äußerlich ein Schatz, jedenfalls von dem, was sie von ihm mitbekam. Oder hatte er sie doch einfach nicht richtig verstanden? Wobei Benni doch eigentlich total scharfsinnig war. Er hätte das eigentlich sofort erkennen müssen, lange bevor die Frage überhaupt in der Luft schwebte. Bevor Laura einen neuen Versuch starten konnte, ging Benni rüber zu Carsten. Sie wechselten einige wenige Worte und gingen dann zum Jungen-Wohnheim. Laura stand nur noch wie der letzte Depp herum und starrte in den Brunnen. Er schien so bodenlos, wie Bennis linkes, schwarzes Auge. Ein Abgrund, in den man sich verlor und nie wieder herausfand. So war es tatsächlich. Sie fühlte sich von seinem Blick gefangen, doch jedes Mal, wenn sie miteinander sprachen hatte sie Angst, auf dem Boden aufzukommen während sie sich gedankenlos reinstürzte. So wie eben. Benni konnte das nie und nimmer nicht bemerkt haben, also hatte sie wohl eine Abfuhr bekommen. Eine Hand wedelte vor ihren Augen herum. „Damon an Laura!“, rief Ariane ihr ins Ohr. Laura schreckte hoch. „Zum Glück! Du warst völlig weg. Was war denn eben?“, fragte Ariane teils erleichtert, teils neugierig. Nicht nur sie, auch die übrigen Mädchen warfen ihr einen Blick gemischt aus diesen Gefühlen zu. Doch statt zu antworten merkte Laura, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten, obwohl sie sie mit aller Kraft zu unterdrücken versuchte. Wie oft musste sie heute verdammt noch mal noch heulen?!? Ariane legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Hey, alles okay? Es ist doch nichts passiert, hoffe ich.“ Laura schüttelte den Kopf. „Nein, es ist gar nichts passiert.“, brachte sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor. „Oh je, das klingt gar nicht gut.“, meinte Öznur. „Was hast du denn jetzt wieder angestellt?“, fragte Anne „Anne!“, riefen Ariane und Öznur drohend. „Sie hat schon Recht, ich hätte ihn nicht fragen dürfen… Was hab ich mir dabei eigentlich gedacht?“, fragte Laura eher sich selbst. „Ihn nicht fragen? Wen hast du gefragt? Beziehungsweise was hast du ihn gefragt?“, fragte Öznur. Diese Fragen konnten sich vor Andeutungen kaum noch retten. Laura atmete tief durch. Noch hatte sie ihre unendlich scheinenden Augenwasserreserven unter Kontrolle, es fragte sich allerdings, wie lang noch. „Ich habe Benni gefragt, ob wir zur Feier gehen.“ „Wirklich? Das hat dich doch sicherlich viel Überwindung gekostet! Klasse, dass du dich das getraut hast!“, rief Ariane begeistert, hielt kurz darauf aber inne. „Er hat dich abgewiesen?“, fragte Susanne ungläubig. Laura nickte. Eine einzige Träne stahl sich aus ihrer Aufsicht und fiel auf den dunklen Schnee. Die Sonne war größtenteils hinter den Bäumen verschwunden ließ deren Schatten unheimlich lang und dunkel erscheinen. Laura setzte sich in Bewegung zum Mädchenwohnheim. Sie wollte dem Verhör entkommen, aber natürlich ließen die Mädchen nicht locker. „Was genau hast du gefragt? Vielleicht hat er dich falsch verstanden?“ „Wie klang seine Stimme?“ „Wie hat er geguckt, als du ihn gefragt hast?“ Wie ein Wespenschwarm schwirrten die Fragen um Laura herum. Sie achtete darauf, sich an keiner zu verschlucken, doch sie hatte das Gefühl, all ihre Sinne würden durch die Stiche betäubt werden. „Es reicht!“, platzte Ariane dazwischen. Die Mädchen starrten sie entgeistert an. So kraftvoll, beinahe aggressiv hatte Ariane noch nie geklungen. „Ihr geht jetzt mit Laura auf unser Zimmer und kümmert euch um sie, so wie wahre Freunde das tun! Löchert sie nicht mit Fragen, verdammt noch mal, sowas kann doch niemand vertragen! Und ich knöpfe mir mal diesen kaltherzigen eiskalten Engel vor!“ Entschlossenen Schrittes stapfte Ariane davon, perplexe Mädchenaugenpaare sahen ihr nach. Kapitel 11: Die Lehrmeisterin -----------------------------   Die Lehrmeisterin       Ariane stand direkt vor dem Jungenwohnheim. Bis zu einer gewissen Uhrzeit durften sich auch die Mädchen hier aufhalten, aber trotzdem bekam sie nun Bammel. Sie hatte Lauras gequälten Gesichtsausdruck einfach nicht ertragen können. Auch wenn eigentlich nur Öznur und Lissi bei dem Verhör beteiligt waren, hatte sie alle Mädchen anmotzen müssen. Außerdem wollte sie so was schon immer mal ausprobieren. Immer war sie der liebe Sonnenschein, da tat es mal gut, so richtig zu explodieren. Aber ihre eigentliche Wut hatte sie sich für den eiskalten Engel aufgehoben. Niemand hatte das Recht, so mit ihrer Zimmergenossin umzugehen. Und schon gar nicht der, in den sie verliebt war. Auch wenn Ariane das nicht offen aussprach, gutaussehend fand sie ihn schon. Aber dummer Weise war sein Charakter das genaue Gegenteil von seinem Äußeren. Zumindest von dem, was sie so von ihm mitbekommen hatte. Vielleicht hatte sie ihn bisher nur immer zur falschen Zeit erwischt? Vielleicht konnte er ja wirklich auch nett sein. Aber wenn ja, dann war er das verdammt selten. Doch jetzt, wo sie vor der Tür des Jungenwohnheims stand, wusste sie nicht mehr, was sie eigentlich mit ihm machen wollte. Sollte sie ihn anschreien? Der eiskalte Engel wirkte so, als ließe nichts und niemand ihn aus der Fassung bringen. Im Endeffekt würde er sie sogar auslachen, wenn er überhaupt zu so etwas wie lachen im Stande wäre. Sollte sie ihn vermöbeln? Lieber nicht, das wäre lebensmüde. Vielleicht sollte sie es so machen, wie er? Mit einer uninteressierten Fassade wirkte sie natürlich kühl. Aber es war fraglich, ob sie das die ganze Zeit durchhalten konnte. Na ja, irgendwie würde das schon werden. Ariane atmete tief durch und öffnete- nein, sie ging einen Schritt zurück. Okay, noch ein Versuch. Noch einmal legte sie die Hand auf die verzierte Klinke, zog sie aber zurück. Dies ging eine ganze Weile so weiter, bis sich die Tür nach innen öffnete und beinahe ein Junge in sie hineinrannte. „Oh, sorry. Hab dich nicht gesehen.“, meinte er und hielt Ariane die Tür offen. Sie erkannte den ehemaligen Vertrauensschüler. Wie hieß er noch mal? Christoph Makkaroni oder so. Schüchtern strich er sich durchs rote Haar. „Äh… ja… kein Problem… Danke.“ Jetzt musste sie wohl reingehen. Hinter ihr fiel die Tür wieder in die Angeln. Planlos blieb Ariane stehen. Sie war noch nie im Gebäude der Jungs gewesen. Bei den Mädchen war alles prunkvoll gold und rot. Bei den Jungs war es blau und silbern. Ohne das dunkle Mobiliar könnte man erwarten, dass diese Räume eher etwas Eisiges, Reserviertes an sich hatten, aber mit den gemütlichen dunklen Holzmöbeln herrschte eine entspannte Atmosphäre. Wie bei den Mädchen war gleich der erste Raum in den man trat der Gemeinschaftsraum, bestehend aus allen möglichen Hobbygeräten wie einem Billardtisch, um den ein paar Jungs aus dem ersten Jahr standen. Ariane entdeckte einige aus ihrer Klasse. Die meisten jedoch lümmelten vor den Fernsehern und sahen sich Actionfilme an. Einige vereinzelte Jungs machten Hausaufgaben, wobei das auch die absolute Minderheit war. Unter den Fernsehglotzern entdeckte sie Maximilian, den ehemaligen Schulsprecher. Nach kurzem Zögern ging sie zu ihm rüber und tippte ihm souverän auf die Schulter. Überrascht drehte er sich zu ihr um. „Oh hi, kann ich was für dich tun?“, fragte er. Sein Ton klang freundlich, aber Ariane wusste, wie nervend Störungen beim Fernsehgucken waren. „Hi, kannst du mir sagen wo ich den Schulsprecher finde?“, fragte sie und hielt sich deswegen so kurz wie möglich, ohne dass sie dabei unhöflich erschien. Sein Gesichtsausdruck wurde noch überraschter. „Du kannst es mal in seinem Zimmer versuchen, aber da ist der meistens nicht. Weiß Gott, wo der sich rumtreibt.“ Man sah ihm an, dass er am liebsten gefragt hätte wieso, aber er hielt den Mund. Ariane warf ihm ein dankbares Lächeln zu. „Danke, entschuldige die Störung.“ „A-Ach, k-kein Problem.“ Ihre Nettigkeit hatte ihn wohl aus dem Konzept gebracht, aber er wandte sich trotzdem wieder seinem Weltraumfilm zu. Ariane lächelte zufrieden vor sich hin. Natürlich wusste sie über die besondere, betörende Ausstrahlung die sie dank ihres Dämons hatte Bescheid, aber sie hätte nicht erwartet, dass sie so stark war. Die Schülervertretung hatte ihre Zimmer im Mädchen-Wohnheim immer im zweiten Stock, also dürfte das hier wohl kaum anders sein. Ariane stieg den ersten Teil der Wendeltreppe hinauf. Warum verdammt noch mal war das Zimmer ihres Jahrgangs im dritten Stock? Der zweite wäre eigentlich genug gewesen. Sie folgte dem Gang bis ans Ende. Hier hörte die Wand nicht einfach auf, wie in den anderen Etagen, sondern mit einer dunklen Holztür, auf der in verschnörkelter, silberner Schrift -Schülervertretung- stand. Dieses Mal brauchte Ariane nur zwei Anläufe, um in den Raum zu gehen. Es war ein zierlicher Gemeinschaftsraum mit einem schwarzen Sofa, mehreren Stühlen und einem Glastisch in der Mitte. Rechts neben ihr war eine Bilderreihe aufgehängt, die alle männlichen Vertrauensschüler zeigte. Auf der gegenüberliegenden Seite mussten die Schulsprecher sein, denn sie erkannte das Bild des eiskalten Engels als letztes in der Reihe. Ariane musterte es genauer. Er hatte denselben lustlosen, grimmigen Ausdruck wie immer, was einen riesigen Kontrast zu dem fröhlich lachenden Schulsprecher von letztem Jahr erschuf. An sich waren die beiden wie Tag und Nacht. Während der ehemalige Schulsprecher wirklich so aussah, wie ein Vorbild für Schüler, hatte der eiskalte Engel etwas Wildes, Unzähmbares wie ein Löwe an sich und wirkte trotzdem ruhig und beherrscht. Wenn Ariane nicht gerade stinksauer auf ihn wäre, würde sie diesen Jungen garantiert attraktiv finden. Wütend schüttelte sie den Kopf. Diesem Typ wollte sie nun die Meinung sagen. Aber es gab noch ein weiteres Problem: Welches der vier Zimmer war nun seins? Es müsste eines der beiden sein, die neben den Bildern der Schulsprecher waren, so viel stand fest. Ariane entschloss sich, einfach mal zu klopfen. Als erstes nahm sie sich die Tür links der Fotos vor, doch ihre Hand hielt mitten im Heben zum Schlag inne. Der Kerl war ihr einfach unheimlich. Was wäre, wenn er über sie herfallen würde um sie zu töten? Aber nein, das würde er nicht machen. So beherrscht wie er wirkte… Aber andererseits, hatte sie ihn nicht eben als wild und unzähmbar beschrieben? Na gut, aber das hieß ja nicht gleich, dass er ein Mörder war. Obwohl… hat er nicht vorhin zig Unterweltler… ermordet? Während sie so weiter ihre Chancen abwog, ob er sie töten oder nichts machen würde, ertönte von innen seine ruhige Stimme. „Rein oder raus.“ Wäre der Klang nicht so neutral gewesen, hätte Ariane das eher als eine Ausladung aufgefasst, aber so atmete sie tief durch und trat in das Zimmer des Schulsprechers. „Hey Nane.“ Statt von Benni, wurde sie von Carsten begrüßt, der auf dem Sofa saß und mit irgendwelchem Verbandszeug hantierte. Ariane sah sich überrascht um. Das Zimmer des eiskalten Engels war… leer. Also, nicht möbellos, aber es wirkte so trostlos. Links neben ihr stand ein dunkler Kleiderschrank und neben dem daran angrenzenden Sofa ein Spiegel, der anscheinend nie benutzt wurde, da er nicht gerade gepflegt aussah. An der gegenüberliegenden Wand war immerhin ein Bücherregal mit haufenweisen Kriminalromanen, Fantasy-Reihen und Thrillern. Selbst Mangas konnte sie entdecken. Sie war sich zwar nicht sicher, aber er schien ganz schön viele Detektiv Conan Bände zu haben. Und war da auch noch Naruto? Und Death Note? Ariane war überrascht, dass Benni anscheinend so viel las, dass in dem riesigen Regal kein Platz mehr für die Schulbücher zu finden war, sodass diese etwas rücksichtslos zwischen Regal und Schreibtisch gestapelt waren. Ariane graute die Anzahl der Schulbücher. So viele würde sie nächstes Jahr auch bekommen? Super… Der Schreibtisch war fast genauso leer wie der Rest des Zimmers, doch über ihm war ein Samuraischwert in einer Halterung angebracht. Eine unbeschreibliche Macht schien von ihm auszugehen und sie erkannte auf der Scheide des Schwertes mehrere bunte Tiere. Auf dem Schreibtisch selbst war ein als Stiftehalter fungierender, kleiner Blumentopf. Dieser wirkte so fehl am Platz, dass Ariane beinahe losgelacht hätte. Neben dem Blumentopf-Stiftehalter konnte sie ein einziges menschliches Zeichen entdecken. Ein Foto von drei Kindern, die Ariane auch sofort erkannte. Laura hatte auf dem Bild kurze rote Haare und strahlte über das ganze Gesicht, ebenso wie Carsten, der Indigonertypisch eine Feder in seinem pechschwarzen Haar trug. Der andere Junge musste wohl oder übel Benni sein. Doch sie konnte ihren Augen kaum trauen. Sein seidiges Haar war, man könnte sagen weiß. Öznur hatte gewettet, dass er es sich nur so hell gefärbt hatte, da seine Augenbrauen dunkler waren, als die Haare, aber Ariane war der Ansicht gewesen, dass so etwas wie Färben nicht zu ihm passte. Da hatte sie wohl gewonnen. Aber das erstaunlichste war: Benni lächelte! Es war eher ein leicht melancholisches Lächeln, was einem das Herz zerriss, wenn man ein höchstens acht jähriges Kind so sah. Diesen Benni hätte Ariane am liebsten geknuddelt. Vielleicht fehlt uns ja wirklich allen einfach nur das Hintergrundwissen, warum Benni so kaltherzig ist, überlegte Ariane. Doch dieser Gedanke erlisch sofort wieder, als Benni fragte: „Was ist?“ „Bist du zu allen so, die dich besuchen?“, fragte Ariane zurück. Da war wieder der grimmige eiskalte Engel. Er konnte ja angeblich gut schauspielern, vielleicht war das Lächeln auch nichts anderes als sein Pokerface. „Das ist ein Besuch? Wirkt eher wie ein Überfall.“, meinte Benni trocken, offensichtlich war das kein Witz, so wie es klang. „Jetzt hör mal, so wie du dich eben bei Laura benommen hast, hast du auch nix anders verdient. Hast du vielleicht mal daran gedacht, dass es Menschen gibt, die Gefühle haben? Ich meine, dich mal ausgenommen. So gefühlskalt hab ich noch keinen erlebt. Nicht mal meine Stiefmutter ist so. Na ja, aber du musst dich nicht entschuldigen. Ich wäre dir nur dankbar, wenn du Laura vielleicht nicht vorher noch Hoffnungen machen würdest, bevor du sie eiskalt abservierst. Da soll sie schon ihre letzten Monate genießen und dann gehst du so mit ihr um. Wenn ihr schon Sandkastenfreunde seid, dann würde sie dir doch wenigstens mal ein bisschen am Herzen liegen, oder? Wenn nicht, dann kannst du auch verschwinden, denn wir brauchen keinen Herzensbrecher in unserer Gruppe und du bist ja noch nicht mal ein Dämonenbesitzer, also sind wir auch nicht auf dich angewiesen. Falls du noch irgendwas zu deiner Verteidigung zu sagen hast, dann sprich lieber jetzt, oder schweige auf ewig! Denn Laura wirst du dann wohl nur noch aus der Ferne zu Gesicht bekommen! Falls du das überhaupt willst!“ Ariane atmete tief durch. Am Anfang hatte sie es tatsächlich geschafft, so zu sein, wie sie wollte, aber am Ende hatte sie schon fast geschrieen. Trotzdem war es totenstill in diesem Zimmer. Doch diese Ruhe war Ariane unheimlich. Das erste, was zu hören war, war Carstens Lachen. Das, was eigentlich noch am selbstverständlichsten schien und was sie am wenigsten erwartet hatte. Sein Lachen klang wirklich, als käme es von Herzen und war so klar wie das frische Wasser einer sprudelnden Quelle. „Wahnsinn, ich habe noch nie jemanden erlebt, der Benni so die Stirn geboten hat. Noch nicht einmal Laura bekommt so ausdrucksstarke Reden mit einem Hauch Aggressivität zustande. Respekt.“ Durch das Lachen waren Carsten einige Tränen ins Auge geschossen. Bisher hatte er zwar schon immer fröhlich gewirkt, aber nie herzensglücklich. Dann umgab ihn eine so strahlende, einladende Aura, die Ariane an ihre Licht-Energie erinnerte und sie unvermittelt lächeln ließ. Aber an Bennis Ausdruck hatte sich nichts verändert. Immer noch: Pokerface. Und Ariane brachte das fast in den Wahnsinn. Dass er so kaltherzig war, hätte sie nicht erwartet. Doch dieses Mal schien Carsten ihr unter die Arme greifen zu wollen. „Also Benni? Etwas zur Verteidigung sagen oder auf ewig schweigen. Wenn ich du wäre, würde ich jedenfalls irgendwas sagen. Ich habe auch gedacht, dass du dich vorhin mit Laura vertragen hattest, weil sie so glücklich wirkte. Warum müsst ihr euch immer und immer wieder in die Haare kriegen?“ Er ging rüber und setzte sich neben Benni auf das Bett. Erst jetzt fiel Ariane auf, dass Bennis rechte Hand verletzt war. Es sah so aus, als hätten sich tausende Splitter in sein Fleisch gebohrt. Ariane war nicht gerade schwindelfrei, was das Sehen von Blut betraf, auch wenn die Wunde behandelt aussah. „Wie hast du denn so was hinbekommen?“, fragte sie und wandte den Kopf ab. Das Thema mit Laura würde sie natürlich nicht vergessen, aber das wollte sie nun auch wissen. „Als Benni Johannes gerettet hatte, hatte der Dummkopf mit der Faust das Fenster eingeschlagen.“, erklärte Carsten an Bennis Stelle, wie es schon gewohnt war. Aber auch von dem ‚Dummkopf’ nahm der eiskalte Engel keine Notiz. „Na super.“, gab Ariane wenig begeistert von sich und wandte sich den Jungs erst wieder zu, als Carsten meinte, sie könne ruhig gucken, die Wunde sei verbunden. „So, und jetzt rechtfertige dich mal schön.“, meinte Ariane und stemmte die Fäuste in die Hüften. Doch natürlich sagte der eiskalte Engel nichts. Ariane hätte schreien können. Aber sie war froh, dass Carsten da war. So würde der eiskalte Engel sie immerhin nicht umbringen, so viel stand fest. Ariane überlegte. Vielleicht musste sie das alles ja anders anpacken. Es gab Menschen oder auch andere Wesen, die einfach nicht immer wussten, was sie tun sollten, wenn man sie auf ein Date ansprach. Auch wenn es eher unwahrscheinlich war, vielleicht gehörte der Schulsprecher ja eher zu der unsicheren und vielleicht sogar schüchternen Gattung? „Wie viel bedeutet sie dir überhaupt?“ „…“ Immer noch keine Antwort. Kurz bevor Ariane der Gedanke kam, ihn in Stücke zu reißen, denn er machte sie langsam wirklich aggressiv, stand Carsten auf und klopfte ihr auf die Schulter. „Benni antwortet nur, wenn er die Antwort auch weiß. Gib’s auf, es hat keinen Sinn.“ Es war seltsam, dass Carsten so sprach, als wäre Benni nicht hier im Raum. Aber er schob Ariane aus der Tür und verabschiedete sich von Benni mit einem kurzen „Tschau.“ Als sie den großen Platz überquerten zeterte Ariane immer noch. „Verdammt noch mal, ich hätte schon noch was aus ihm rausbekommen, wenn du mich gelassen hättest!“ Carsten seufzte. „Ja, ein entnervtes Stöhnen… Nach achtundvierzig Stunden vielleicht. Glaub mir, Benni kann verdammt viel aushalten, sowohl körperlich als auch geistig. Da ist er abgehärtet.“ „Aber trotzdem, das ist noch lange keine Entschuldigung.“ „Benni war halt verwirrt.“ „Hör auf, ihn zu verteidigen!“; schrie Ariane Carsten an und fuhr in ruhigerem Ton fort: „Er hätte Laura auch gleich schlagen können, so wenig Anteilnahme, wie er gezeigt hat.“ Carsten seufzte erneut. „Lass einfach gut sein, ja?“ Nun seufzte auch Ariane. „Ja, aber… ich verzeih ihm das trotzdem nicht. Ich bin immer noch der Meinung, dass Laura sich ihre letzten Monate nicht durch einen eiskalten Engel vermiesen lassen soll.“ „Na ja…“ Carsten verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute in den schwarzen, wolkenverhangenen Nachthimmel. „Was das betrifft, da ist Benni anderer Ansicht als wir.“ Ariane bemühte sich, so wie Anne nur eine Augenbraue zu heben, erschuf damit aber nur eine komische Grimasse. „Meinst du damit ein Pessimist vom Dienst glaubt, dass Laura überlebt?“ Er nickte. „Benni ist was Laura betrifft ein Widerspruch in sich. Mal sind die beiden Feuer und Flamme und dann wieder Feuer und Wasser. Deswegen meine ich ja auch, lass es gut sein. Benni wird erst lernen können wie er mit Laura umgehen soll, wenn er sich bewusst wird, was er eigentlich für sie fühlt. Und der Umgang mit seinen Gefühlen hatte ihm schon immer Schwierigkeiten bereitet.“ Ariane atmete lautstark aus. „Das macht es kein bisschen einfacher.“ „Definitiv nicht.“ Erst jetzt fiel ihr auf, dass Carsten sie bis zum Mädchenwohnheim begleitet hatte. Irgendwie war das süß… Ariane schüttelte den Kopf. Sie war wohl verdammt müde. „Also dann, bis morgen.“, verabschiedete sie sich und ging rein. Sie hörte Carsten noch ein schwaches „Schlaf gut.“, sagen, ehe sich die Tür schloss und das seltsame Band, was die beiden bis eben verbunden hatte, trennte.   ~*~   Gedankenlos starrte Laura auf ihr bisher leeres Chemieblatt. Obwohl sie wie eine Verrückte versucht hatte, für die Chemieklausur zu lernen, hatte sie alles unmittelbar nachdem sie es gelesen hatte wieder vergessen. Sie hatte sich einfach nicht konzentrieren können… Und nun als es darauf ankam hatte sie den totalen Blackout. Der Grund dafür war natürlich niemand anderes als Benni, der ihr eiskalt einen Korb gegeben hatte. Und das, obwohl Laura doch schon sowieso total schüchtern und verunsichert war. Die Mädchen hatten das Thema in Ruhe gelassen. Und auch Ariane, die vorgestern noch so wütend auf ihn gewesen ist, war seitdem still und erwähnte den ‚eiskalten Engel‘ einfach gar nicht mehr. Laura seufzte in den Raum, erfüllt von Stiftegeschabe und Papiergeraschel. Warum musste Frau Reklöv auch erst groß von Säure reden, um dann doch Salze und Metalle in die Prüfung zu nehmen? Verdammt, diese Frau hatte doch wirklich einen an der Klatsche. Und was hatte bitteschön ein Blitzeinschlag damit zu tun?!? An die ganzen Erklärungen erinnerte sich Laura. So würde sie immerhin noch eine vier bekommen, und auch die Formelberechnungen gingen, wenn sie es schaffen würde, Benni aus ihrem Kopf zu verbannen. Oh Gott, was würde O-Too-sama jetzt wohl meckern…, rätselte Laura. Natürlich rief sie jeden zweiten Tag daheim an, auch wenn das von Zeit zu Zeit lästig wurde. Aber wenn sie heute Abend anrief, was würde sie ihrer Mutter dann sagen? ‚Tut mir leid, ich hab die Chemiearbeit verhauen, weil ich eher mit Liebeskummer beschäftigt war’? Abgesehen davon, wussten ihre Eltern noch nicht einmal, dass sie Benni wieder getroffen hatte. Solche Themen wie ‚Und, gibt es einen Jungen, für den du dich interessierst?’ oder aber auch ‚Wer übernimmt eigentlich die Schülervertretung?’ schaffte sie geschickt zu umgehen. Laura schüttelte sich, und versuchte sich auf das Blatt zu konzentrieren. Schnell kritzelte sie noch einige Zahlen aufs Papier, in der Hoffnung, sie würden richtig sein, ehe der Klang zum Stundenschluss ertönte und alle ihre Arbeitshefte abgaben, Lauras miteingeschlossen. „Oh Gott, die Arbeit ist ja völlig in die Hose gegangen.“, meinte Ariane missmutig. Als sie Benni die Meinung gesagt hatte, war sie mit nicht gerade Licht ähnlicher Laune zurückgekommen und diese hatte sich dank der Prüfung auch nicht gerade gebessert. „Stell dich nicht so an, so schlimm war’s auch nun wieder nicht.“, meinte Anne nüchtern. Sie benahm sich so wie immer, wie eine Prinzessin eben. Ihr Notendurchschnitt war zwar nicht so perfekt wie Susannes oder Carstens, aber trotzdem sehr gut. Nach der Chemiestunde hatten sie erst einmal Mittagspause, doch Laura aß in letzter Zeit nicht mehr allzu viel. Auch wenn sie eine Diät überhaupt nicht nötig hätte. Betrübt starrte sie auf ihren Teller. Ein Häuflein Asche sähe genauso appetitanregend aus. „Was ist denn mit ihr los? Sie war schon die ganze Zeit so, oder?“, fragte Öznur besorgt. Offenbar waren die aus der Magierklasse dazu gestoßen. Ariane seufzte. „Liebeskummer. Auch wenn Carsten den eiskalten Engel in Schutz nimmt, ich werde so lange nicht ruhen, bis er es wieder gut macht.“ Warum sprach sie so über die beiden Jungs, als wären sie nicht da? Laura blickte kurz auf. Von Benni hätte sie natürlich nicht erwartet, dass er hier wäre. Schon allein aus dem Grund, weil er einen Jahrgang über ihnen war. Aber auch Carsten, der mit den Magiermädchen in eine Klasse ging, war nicht dabei. „Wo steckt denn Carsten?“, fragte Laura. Susanne seufzte. „Ich bin mir nicht sicher, aber er wollte gleich nachkommen. Er meinte, er müsse noch einmal mit dem Direktor reden.“ „Ahaaa. Carsten und der Rektor?“, fragte Öznur und klang ziemlich andeutend. Ariane schnaubte und ließ einige Strähnen ihres hellbraunen Ponys beim Pusten in die Luft fliegen. „Sonderlich lustig ist das nicht gerade.“ „Sieh einer an Nane-Sahne, hat’s da etwa geknistert?“, fragte Lissi verschwörerisch. Ariane schüttelte den Kopf. „So ein Unsinn. Ich finde ihn nur nett und Witze über Lehrer-Schüler-Beziehungen geschmacklos.“ Tatsächlich kam Carsten etwa zehn Minuten später wieder und begrüßte Laura mit einem aufmunternden Lächeln. Irgendwie schien er etwas ausgefressen zu haben aber sie war nicht in der Stimmung nachzufragen. „So, und übermorgen besuchen wir also einen echten Meister?“, fragte Anne neugierig. Wenn es ums Lernen von Kampfkünsten ging, war sie immer an der Spitze der Interessenten dabei. Carsten nickte. „Bennis und meine Meisterin.“ Alle Mädchen rissen die Augen auf. Alle, außer Laura, die deprimiert den Kopf neben ihren kaum beladenen Teller auf den Tisch knallen ließ. Sie hatte es sich schon gedacht. Bitte nicht.   Und natürlich flog der Sonntag regelrecht herbei. Laura versuchte einfach, die Augen zu schließen und es zu überstehen. Eufelia-Sensei war nicht gerade begeistert von der kleinen, naiven Prinzessin, die so gut wie gar nichts im Kampf auf die Reihe brachte. Und entsprechend verunsichert fühlte sich Laura immer in ihrer Gegenwart. Die Mädchen trafen sich mit Carsten und Benni im Schlepptau -überraschender Weise wirkte er tatsächlich immer so lustlos- an der Bushaltestelle, doch statt in den nächsten Bus zu steigen, folgten sie Carsten in den gegenüberliegenden Südwald außerhalb des Campus. „Was wird das denn jetzt? Wollt ihr uns erst in den Wald locken, um dann über uns herzufallen, Darling?“, fragte Lissi, wobei das noch nicht einmal wie ein Witz klang.  „Du bist doch hier der Wolf.“, konterte Carsten sarkastisch, woraufhin einige der Mädchen kicherten. Carsten hielt an und wandte sich der Gruppe zu. „Ich denke mal, niemand hat für diesen drei bis vier Stunden Ausflug Lust, das Flugzeug zu nehmen, oder?“ Die Mädchen schüttelten den Kopf und Laura nahm ein beinahe lautloses, erleichtertes Aufatmen aus Janines Richtung wahr. „Also teleportieren wir uns.“, meinte er. „Ich dachte, dass kann man nur mit sich selbst und ist außerdem auch nicht gerade angenehm.“, meinte Anne kritisch. Carsten schüttelte den Kopf. „Bei mir ist erst bei über zehn Passagieren der Spaß vorbei und wenn ihr daran denkt, gleichmäßig und ruhig zu atmen, passiert auch nichts.“ „Ist das nicht Stoff des dritten Jahres?“, fragte Janine ängstlich. Carsten lächelte ihr aufmunternd zu. „Dafür sind die Meister gut. Benni ist ja auch nur auf der Coeur-Academy, um endlich als offizieller Krieger zu gelten. Seine Meisterin hat ihm alles beigebracht, stimmt’s?“ Benni antwortete mit einem desinteressierten Schulterzucken. Carsten streckte Janine und Laura je eine Hand hin. Beide nahmen sie. „Okay, bitte stellt euch in einem Kreis auf, und nehmt euch an den Händen.“, erklärte Carsten. Bei der Kreisbildung kamen seltsame Nachbarschaften zustande. So stand Ariane auf einmal zwischen den Zwillingen, Laura selbst neben Anne, Janine hatte Öznur auf ihrer anderen Seite und Benni landete zwischen Lissi, die zufrieden kicherte und ihm schöne Augen machte, und Anne. Wobei sich die beiden nur widerwillig die Hand gaben. Die Unsympathie beruhte hier wohl auf Gegenseitigkeit und Laura musste unwillkürlich ein Grinsen verkneifen. So guter Laune war sie auch nun wieder nicht. Schon gar nicht, weil sie jetzt wo hinmusste, worauf sie überhaupt keine Lust hatte. Mit leiser und trotzdem mächtig klingender Stimme sagte Carsten einige Worte in einer für Laura fremden Sprache, die Sprache der Zauberer. Kurz darauf umgab den Kreis ein gleißendes Licht und eine Art Sog zog sie weg von der Coeur-Academy, weg von Cor, über Hügel und Täler, Städte und Dörfer. Bei dem Beginn eines riesigen Waldes fiel Laura wieder ein, zu atmen. Sie waren ‚gelandet’. Nun verstand sie Annes Misstrauen. Ihr war richtig schlecht. Alles drehte sich und vor ihrem inneren Auge funkelten und glitzerten haufenweise Sternchen. Der Schwindel brachte sie zum Wanken. Ein fester Griff hinderte sie am Umfallen. „Laura, alles okay? Du bist so blass.“, hörte Laura Ariane vor sich fragen. Laura versuchte einen Satz zu formulieren, doch noch nicht einmal einen Laut brachte sie über die Lippen. „Das muss an der Krankheit liegen. Durch sie ist Laura nicht so widerstandsfähig wie der Rest von uns.“, erklärte Carsten neben ihr und verstärkte seinen Griff um ihren Arm. Laura spürte durch ihren Mantel die Wärme seiner Hand und öffnete träge die Augen. „E-Es geht schon wieder.“, log Laura und befreite sich wankend aus dem Griff ihres besten Freundes. Carsten musterte sie besorgt. Natürlich erkannte er, dass sie log, aber Laura wollte vor Benni nicht schon wieder als schwach gelten. Aus seiner Sicht war ja sogar Sorge Schwäche. Auch wenn sie eigentlich verletzt von seiner Abfuhr war, wollte Laura trotzdem nicht, dass er etwas Schlechtes über sie dachte. Seufzend schüttelte Carsten den Kopf und wandte sich an die übrige Gruppe. „Dieser Wald hat einen speziellen Schutzbannkreis, deswegen müssen wir von hier aus noch etwas laufen.“ Ariane zeigte mit zitternden Fingern in das Innere des düsteren Waldes. „Da rein?“ „Niemals! Bestimmt spukt’s dort!“, rief Öznur und stolperte einen Schritt zurück. „Sind wir in Obakemori?“ Susannes Frage klang zwar eher wie eine grausige Feststellung, aber trotzdem nickte Carsten als Antwort. Nachdenklich fuhr sich Anne durch das kurze Haar. „Heißt es nicht, in Obakemori würden die gefallenen Seelen des magischen Kriegs, die keine Ruhe gefunden haben, ihr Unwesen treiben?“ „Hä?!?“, quietschte nun auch Lissi. Carsten schüttelte lachend den Kopf. „Wenn es die wirklich gäbe, hätten Benni, Laura oder ich sie garantiert schon getroffen.“ Ariane schnaubte. „Du oder Laura vielleicht. Beim eiskalten Engel behalten wohl auch die Geister ihren Sicherheitsabstand.“ Laura fiel auf, dass sich Ariane inzwischen keine Mühe mehr gab, Benni bei seinem Spitznamen zu nennen. Für sie war er wohl immer noch der ‚eiskalte Engel’. Als wäre das ein Stichwort, schoss aus dem Wald eine kleine, weiße Kreatur wie eine Kanonenkugel hervor, sprang von Kopf zu Kopf einiger erschrocken kreischender Mädchen und nahm schließlich auf Bennis Schulter Platz. „D-da i-i-ist s-s-s-so e-ein G-g-g-g-g-g-g-g-espenst!!!“, quietschte Lissi panisch und zeigte mit dem Finger, der in einem Pelzhandschuh steckte, auf das gespenstische Etwas. „So ein Unsinn.“, war Bennis einziger Kommentar. Er hob das Etwas von seiner Schulter und strich ihm das Weiße -überraschender Weise den Schnee- vom Kopf. Zum Vorschein kam ein braun-rotes Tier, das sich Eichhörnchen und nicht Gespenst nannte. Mit seinen großen schwarzen Knopfaugen sah es zu Benni hoch und quiekte, immer noch an dessen Hand baumelnd, wütend vor sich hin. Benni verdrehte die Augen. „Mecker nicht. Nicht meine Schuld, dass du vom Baum fällst.“ Wieder gab das Eichhörnchen einen Laut von sich und ließ sich von Benni wieder auf dessen Schulter setzen. „Hast du gerade mit diesem Fellknäuel gesprochen?“, fragte Anne mit anfeindender Stimme. Benni zuckte mit den Schultern, wobei das Eichhörnchen einen überraschten und erschrockenen Laut von sich gab und beinahe wieder in den Schnee gefallen wäre, hätte Benni ihn nicht wieder mit der Hand aufgefangen. „Reden ist nicht der richtige Ausdruck. Benni spürt irgendwie, was sie meinen. Frag nicht, wie der das macht.“, erklärte Carsten. Anne schnaubte. „Warum kann so jemand wie der eiskalte Engel mit Tieren reden? Das ist doch ein Widerspruch in sich.“ Wieder zuckte Benni mit den Schultern, doch das Eichhörnchen lief nicht mehr in Gefahr, herunterzufallen, da es sich auf Bennis Kopf bequem machte. Laura kicherte bei diesem Anblick. Das Bild, was die beiden abgaben, war einerseits zuckersüß, aber andererseits auch zum brüllen komisch. Als das Eichhörnchen der Königstochter auch noch die winzige Zunge rausstreckte, um ihr zu zeigen, was es von ihrer Meinung von Benni hielt, konnte Laura nicht mehr und lachte mit Ariane, Carsten, Susanne und Öznur lauthals los. Auch die schüchterne Janine lächelte ihr süßes, total unspinnenhaftiges Lächeln. „Ist der süß, wie heißt er denn?“, fragte sie. „Chip.“, antwortete Benni, doch als Janine zögernd die Hand nach dem kleinen Tier ausstreckte, sträubte sich dem erschrockenen Chip das Fell und er hüpfte von Bennis Kopf in die Kapuze seines Pullovers. Auch Janine zog, wohl genauso erschrocken, die Hand zurück. „Entschuldige.“ „Nicht schlimm. Er ist wirklich sehr scheu.“, meinte Benni, doch als Carsten sein „Da kenne ich noch jemanden.“, Kommentar von sich gab, hatte sich Benni bereits umgedreht und ging in den Geisterwald. Nur widerwillig folgten die Mädchen den beiden Jungs. Niemand schien dieser Ausflug ganz geheuer. Die Wanderung war bedrückend still und nur untermalt von Lissis Stolperaktionen, da diese natürlich nicht daran gedacht hatte, etwas Anderes als Stöckelschuhe anzuziehen und gelegentlichen Fällen, bei denen irgendein Mädchen -außer Anne- auf dem perlweißen Schnee ausrutschte. Als sie am Ende eine Lichtung erreichten, auf der ein gemütlich wirkendes, kleines Holzhäuschen stand, waren alle, bis auf Anne, Benni und Carsten an irgendeiner Stelle ihres Körpers außer den Schuhen weiß. Carsten lächelte die Mädchen herausfordernd an. „Jetzt habt ihr noch die letzte Chance umzukehren.“ Laura wusste, dass er damit sie angesprochen hatte. Er kannte ihre Panik vor diesem Wesen, das eigentlich nur zur hälfte ein Mensch war und selbst das war umstritten. „So schlimm wird’s schon nicht sein.“, versprach Susanne Laura, die diese offensichtliche Andeutung verstanden hatte. „Sei dir da nicht so sicher.“ Die Kälte des Waldes und des Winters im Gesamtpaket war nicht das einzige, was Laura zittern ließ. Eigentlich wollte sie sich nur beweisen, nur deshalb war sie mitgekommen. Die dumpfen Schläge hallten in dem Wald wieder, als Benni an die schwere Holztür klopfte und sie kurz darauf einfach öffnete. Nacheinander kamen sie in einen düsteren Raum. Er war nur etwa fünfzehn Grad wärmer, als die Außenwelt und somit immer noch viel zu kalt. Nur wenige Kerzen verhalfen zu einer deutlicheren Sicht und an den Wänden waren schemenhaft lauter gestapelte Bücher zu erkennen, die nicht mehr in die mit Büchern überfüllten Regale passten. Ariane sog beim Anblick dieser kleinen Bibliothek begeistert die Luft ein, obwohl es eindeutig war, dass diese Bücher wohl kaum zur Unterhaltung dienten. In der Mitte des Raumes war ein Sternenförmiger, kleiner Teich, auf dessen Insel in der Mitte eine alte Frau mit silberweißen Haaren saß. Ihre kaum erkennbaren Gesichtszüge wirkten weise und elegant und trotz ihres hohen Alters hatte ihr Gesicht nicht die Anzahl von Falten, wie man erwarten würde. Diese Frau hatte etwas Altersloses an sich. „Hallöchen!“, durchbrach Lissis sing-sang-Stimme die nahezu heilige Ruhe. Die düstere Atmosphäre schien auf sie keine Wirkung zu haben. Anne warf ihr einen genervten Blick zu. Carsten machte eine japanische Verbeugung. „Guten Tag, Eufelia-Sensei.“ Mit einer einladenden Geste forderte die alte Dame die Jugendlichen auf, sich zu setzen. Leise raschelte der Stoff ihres rot-schwarzen Kimonos, der etwas Drachenartiges an sich hatte. In nur wenigen Sekunden hatten alle in einem Halbkreis um den Teich Platz genommen, was überraschend schnell war, wenn Laura daran dachte, dass die Lehrer mindestens drei Minuten brauchten, bis ihre Klasse so aufmerksam war, wie diese Gruppe nun. Auch fiel Laura auf, dass, wie in der Coeur-Academy, ihre Schuhe keinen Dreck hinterließen, als wäre niemand hier gewesen. „Sensei, wir haben Fragen.“, erfüllte kurz Bennis ruhige Stimme den dunklen Raum, bei der sich Lauras Nackenhärchen aufstellten. Carsten stellte sofort die erste Frage: „Warum jagt Lukas die Dämonenbesitzer?“ „Moment einmal, was? Keine Vorstellungsrunde? Kein Smalltalk? Kein ‚Wie geht’s‘?“ Verwirrt schaute Öznur die beiden Jungs an. „Und woher soll sie das denn überhaupt wissen? Sie hat doch gar nichts von der Entführung mitbekommen.“ „Ich bediene mich sowohl der Kampfkunst, als auch der Magie und alles, was mit diesen Mächten verbunden ist, Öznur-san. Ein sehr alter Zauber erlaubt es mir, eine Person sehen zu können, gleich welche Entfernung sie zu mir hat. Sowohl örtlich, als auch zeitlich.“, ertönte die überraschend glasklare Stimme der Meisterin. „Das heißt also, Sie haben immer ein Auge darauf, was ihr Schüler gerade anstellt?“ Schadenfroh blickte Anne zu Benni rüber, der ihren Kommentar völlig ignorierte. „Das heißt, Sie können meinen Bennlèy stalken? Oh, warum bin ich nur Kampfkünstler!?!“ Eufelia-Sensei überhörte Lissis eigentümlichen Kommentar und beantwortete stattdessen Carstens Frage. „Das Streben Lukas-sans ist nur die Macht. Er ist sich seiner Rolle als Marionette einer höheren Gewalt nicht bewusst.“ „Dieses Wesen, ist das dieser Unzerstörbare? Wir vermuten, er ist diese höhere Gewalt.“, fragte Susanne laut denkend. Eine Weile lang breitete sich Stille aus, während Eufelia nachdachte. Einzig und allein das über den Holzboden schabende Geräusch, das Lissi mit ihren blau lackierten Nägeln verursachte zerstörte dies. „In der Unterwelt erzählt man sich viel über ein Wesen, das sich nicht zerstören lässt. Es sind Gerüchte in den Kneipen, Gemunkel in den Gassen. Doch mehr vermag ich euch zurzeit nicht sagen.“ Zum ersten Mal blickte Eufelia-Sensei in die Runde und schien sich dabei jedes unbekannte Gesicht in dem Zwielicht zu merken. Schließlich fuhr sie fort. „Dieses Wesen verfügt über eine große, zerstörerische Macht. Ihr alleine seid nicht dazu in der Lage, ihm entgegentreten zu können. Eure Verbindung zu euren Dämonen und den anderen Dämonenbesitzern muss stärker werden. Erst dann, und nur dann, werdet ihr die Kraft haben ihn zu bezwingen.“ Carstens Stimme bekam einen verzweifelten Unterton, sogar Angst schien mitzuschwingen. „Wird wirklich jeder Dämonenbesitzer gebraucht?“ Eufelia-Sensei nickte leicht. „Deine Angst vor deinem Bruder ist nicht berechtigt. So wie ihr, die ihr euch versammelt habt, ist der Herrscher über die Wind-Energie ein wichtiges Zahnrad um zu verhindern, dass die Uhr stehen bleibt.“ Sie warf Carsten einen eindringlichen Blick zu, bei dem Laura sofort zusammengezuckt wäre. Doch Carsten wandte bloß den Blick ab und sah im schwachen Kerzenlicht nicht gerade begeistert aus. „Und was ist mit den anderen Besitzern?“, fragte Susanne. „So wie bei dem Jungen wird euch das Schicksal zusammenführen.“, antwortete Eufelia. „Allerdings, ob sie gewillt sind euch zu helfen oder nicht, das hängt allein von euch allen zusammen und jedem einzelnen zugleich ab.“ „Also wenn jemand Bock hat die Welt brennen zu sehen, sind wir am Arsch.“, übersetzte Anne ihre kryptischen Worte, die Eufelia-Sensei sogar mit einem Nicken bestätigte. Janine schauderte. „Das kann sich doch niemand wünschen.“ „Aber wir können uns auch auf Ihre Unterstützung verlassen?“, fragte Carsten. Eufelia-Sensei nickte. „Was will eine alte Frau denn schon ausrichten können? Nichts für ungut, ich respektiere Ihr Wissen und Ihre Weisheit. Aber ich bezweifle, dass Sie in Ihrem Alter noch in der Lage sind, uns bei einem so dramatischen Kampf um die Existenz Damons zu unterstützen. Jedenfalls aktiv.“, meinte Anne. „Stimmt Omi, du müsstest doch in Rente sein.“, gab Lissi ihren Kommentar ab. Eufelias Blick war weder empört, noch belustigt, als sie Anne aus ihren grau-blauen Augen ansah. „So wie du, ist mein Dämon ein Herrscher über ein abgewandeltes Naturelement, Besitzerin der Grünen Schlange. Doch der Farblose Drachen begleitet mich bereits eineinhalb Jahrhunderte und wird mir auch in Zukunft ein guter Freund und Partner sein.“ „Was ist denn ein abgewandeltes Naturelement?“, wollte Ariane wissen. „Die Energie ist eine Macht, die von den Dämonen kontrolliert wird. Sie kann nur von den Dämonenbesitzern und –gesegneten eingesetzt werden und wird durch die Kraft der Gedanken beherrscht. Um die Energien einordnen zu können, haben weise Wesen, sie nennen sich Dryaden, eine Energierangtabelle erstellt. Ganz unten stehen die Lebenskräfte. Sie sind als einzige Energieform in der Lage auch innerhalb des Körpers zu wirken und können sich als einzige Energieform nicht materialisieren lassen. Sie sind trotz ihrer Macht auf dem vierten Rang, da ihr Beherrscher unter dem Einsetzen dieser Energie selbst einen Preis zahlen muss. Was denkst du, was sind wohl die Lebenskräfte?“ Die Frage richtete Eufelia direkt auf Susanne. „Heilung, Gift und… Blut.“, antwortete diese nach kurzem Zögern. Eufelia nickte. „Die abgewandelten Naturelemente verkörpern je zwei Naturelemente, die miteinander verbunden werden. Sie sind in der Reihe der Energierangtabelle der dritte Rang. So wie ich bereits gesagt habe, sind Blitz und Sand zwei von ihnen. Die anderen?“ Dieses Mal antwortete Carsten: „Pflanzen und Eis, beziehungsweise Schnee.“ „Genau. Die zweiten in der Tabelle sind die Naturelemente, die sich mit ihrer leichteren Beherrschung im Vergleich zu den übrigen Energieformen und ihrer Stärke auszeichnen.“ „Oh, die sind leicht. Wind, Wasser, Feuer und Erde.“, antwortete Öznur und grinste Lissi an. „Wir herrschen also über die Naturelemente.“ Lissi grinste zurück. „Es war auch nicht anders zu erwarten, Özi-dösi.“ „An der Spitze stehen die Ursprungskräfte. Sie existierten zuerst in all den Galaxien und sind immer im Gleichgewicht zueinander und ergänzen sich gegenseitig. Laura, welche zwei Energieformen sind das?“ Erschrocken zuckte Laura zusammen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Eufelia-Sensei ausgerechnet sie ansprechen würde. Durch die plötzliche Aufregung setzte ihr Gehirn aus. Mist, eigentlich müsste sie das doch wissen. Sie wusste es sicherlich! Doch es war ihr nicht möglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Vor Scham färbten sich ihre Wangen rötlich. „I-Ich… Ich weiß nicht…“ Laura warf einen hilfesuchenden Seitenblick auf Benni, doch der ignorierte sie natürlich. Dann schaute sie verzweifelt zu Carsten. „Komm, du weißt das. Denk mal an Tag und Nacht.“, half er ihr mutmachend auf die Sprünge. Bei Laura machte es Klick. „Ach natürlich, Licht und Finsternis.“ Eufelia nickte. „So ist es.“ Erleichtert atmete Laura auf und sank in sich zusammen. Sie warf Carsten einen dankbaren Blick zu, der diesen mit einem lächelnden Augenzwinkern erwiderte. Eufelia-Sensei schaute wieder in die Runde. „Es wird spät, ihr solltet langsam aufbrechen.“ „Aber-“, wir wollten noch mehr wissen, wollte Laura widersprechen, aber indem Benni aufstand, schnitt er ihr das Wort ab. Der Besuch war beendet. Und innerlich war Laura froh, es hinter sich zu haben. Nach einem knappen Abschied verließen sie das kleine Häuschen und wanderten wieder durch den Wald, um Obakemori mithilfe Carstens Teleportation verlassen zu können. Kapitel 12: Helau und ach je ----------------------------   Helau und ach je       „Also ich weiß nicht, warum du Angst vor ihr hast, Laura. Eufelia-Sensei ist gar nicht mal so schlimm, wie ich dachte. Okay, sie ist jetzt vielleicht nicht gerade die Geselligste und recht ernst, aber trotzdem ist sie voll cool.“, meinte Ariane während des Rückweges. Laura schnaubte. „Sie verunsichert mich halt dadurch total! Und außerdem mag mich Eufelia-Sensei nicht, weil ich so untalentiert im Kämpfen bin. Das macht es nicht gerade einfacher.“ Anne machte dieses coole Augenbrauenheben. „Ich glaube nicht, dass sich so Sympathien entwickeln…“ „Es ist trotzdem so.“, widersprach Laura. „Hey ihr Süßen, ist ja schön und gut, dass ihr euch über eine alte Frau unterhaltet, aber ich würde sagen, wir haben wichtigeres zu tun: Die Faschingsparty! Klingelt’s da? Wir brauchen alle noch Kostüme.“, platzte Lissi dazwischen. „Ich glaube nicht, dass das wichtiger ist als die Rettung der Welt.“, korrigierte Anne ihre Prioritäten. Lissi zuckte amüsiert mit den Schultern. „Wer weiß? Vielleicht ist unser übermächtiger Widersacher ja nur böse geworden, weil man ihn nie auf eine Party eingeladen hat?“ „Du meinst wie Malefiz?“, mischte sich plötzlich auch Janine in das Gespräch ein. Anne stöhnte auf. „Das ist kein Disney-Film!“ „Und was, wenn wir nun aus heiterem Himmel anfangen zu singen?“, fragte Lissi mit einem verschwörerischen Ton in der Stimme. „Dann bin ich froh, Leichtathletik als einen der Sportkurse gewählt zu haben.“, konterte Anne. Ariane lachte auf. „Netter Versuch, aber ich werde trotzdem im Sprint gegen dich gewinnen.“ „Sei dir da nicht so sicher.“, zischte Anne herausfordernd. Bevor dieses Gespräch in ein Wettrennen -im Schnee- ausarten konnte, platzte Lissi dazwischen. „Ich sagte doch, wir haben wichtigeres zu tun! Faschingsparty! Kostüme!“ Ariane grinste. „Als welche Disney-Prinzessin verkleiden wir Anne?“ „Jasmin aus Aladdin?“, schlug Janine amüsiert vor. „Auf keinen Fall!“ Während die Mädchen nun über die Kostüme diskutierten und dabei versuchten, Anne einem Disney-Charakter zuzuordnen, gesellte sich Laura zu Benni, der abseits der übrigen lief. Seine schwarzen Boots mit den vielen Schnallen traten sicher auf den vereisten Boden und er drohte in keinster Weise, auszurutschen oder zu stolpern, im Gegensatz zu ihr, die bei jedem Schritt ins Schliddern kam. Warum ging Laura eigentlich zu ihm? Sie hatten mal wieder eine Weile lang kein Wort miteinander gewechselt und trotzdem sehnte sie sich von Sekunde zu Sekunde mehr nach seiner Nähe. Natürlich dachte er erst gar nicht daran, seine Schritte für sie zu verlangsamen und erst als Laura über eine schneebedeckte Wurzel stolperte, die sie übersehen hatte, hielt er an. Aber nicht, um ihr auf zu helfen. Laura klopfte sich den Schnee von ihrem Mantel. Da Benni sie letztens nur wegen ihrer Jacke umarmt hatte, wollte sie nicht, dass das noch einmal passierte. Also… Jedenfalls sollte nicht die Jacke der Grund dafür sein. „Benni, wie weit ist denn der Friedhof von hier entfernt?“, fragte Laura ihn schließlich, als sie es geschafft hatte, den Schnee immerhin so halbwegs los zu werden. „Wieso?“, fragte Benni. Sie kratzte sich am Hinterkopf und bemühte sich, möglichst sarkastisch zu klingen. „Na ja, ich hab ja nur noch so drei Monate, da wollte ich wissen, ob ich wenigstens ein Grab neben Lucia bekommen kann. So reservierungsmäßig, meine ich.“ Bennis Tonfall klang zu ihrer Überraschung nicht so nüchtern wie sonst, eher gereizt. „Wir haben für sowas keine Zeit.“, entgegnete er und beschleunigte seinen Schritt, sodass Laura automatisch zurückfiel. Etwas verwirrt, warum Benni so schroff reagiert hatte, ging Laura in einem Abstand hinter der Gruppe her, bei dem sie ihre Ruhe hatte. An der Lichtung angekommen, krabbelte Chip gähnend aus Bennis Kapuze und ließ sich wieder auf dessen Schulter nieder. Er quietschte einige Laute in Bennis Ohr. Benni schüttelte den Kopf. Wieder gab Chip einige Laute von sich, doch dieses Mal klangen sie verärgerter. „Vergiss es, du kommst nicht mit.“, ermahnte Benni ihn schließlich. Chip legte traurig die Öhrchen an und sah flehenden Blickes zu ihm auf. „Warum denn nicht? Er kann doch in dem Wald bei den anderen Tieren wohnen.“, schlug Janine vor. Chip quietschte fröhlich und nickte begeistert mit seinem kleinen Kopf. „Er gehört nicht in eine Schule.“, entgegnete Benni. „Warum stimmen wir nicht einfach ab?“, schlug Susanne vor, der das Eichhörnchen in dieser kurzen Zeit auch ans Herz gewachsen war. „Wer ist dafür, dass Chip mit uns kommt?“ Janine, Susanne, Öznur und Ariane hoben sofort die Hand. Laura, Lissi und Carsten schlossen sich leicht zögernd an. Auch Chip hob seine beiden kleinen Pfötchen, als könne seine Stimme doppelt zählen. Susanne lächelte zufrieden. Der Vollständigkeit halber fragte sie noch: „Und wer ist dagegen?“ Sowohl Anne, als auch Benni hoben die Hand, zum ersten Mal ein und derselben Meinung. Öznur lachte. „Dann ist es wohl beschlossene Sache. Wir haben unser eigenes Maskottchen!“ Chip hüpfte über Bennis Kopf von einer Seite seiner Schulter zur anderen. Immer hin und her, bis er etwas zu weit sprang und wieder von Benni aufgefangen werden musste, damit er nicht in den hohen Schnee plumpste. „Okay, da das nun geklärt ist, lasst uns von hier verschwinden.“, meinte Carsten, der frierend von einem Fuß auf den anderen trat. Dieses Mal sah der Kreis auch nicht ganz so ausgefallen aus und wenige Sekunden später standen sie wieder in dem Südwald der Coeur-Academy. Laura aber hielt diese Tortour kein zweites Mal durch. Erschrocken keuchte sie auf, als sie nach Luft schnappen wollte. Ein Hustenanfall überkam sie und die Finsternis versperrte ihr die Sicht. Kurz bevor sie drohte, den Boden unter den Füßen zu verlieren, stützten sie zwei Armpaare. „Wir sollten Laura in ihr Zimmer bringen. Die zweite Teleportation war wohl doch zu viel für sie.“, sagte Carsten zu ihrer Rechten. Ariane, die sich auf ihrer linken Seite befand, schlug vor: „Der eiskalte Engel kann sie ja tragen.“ Laura hörte alles lediglich gedämpft, doch sie bemerkte den schnippischen Ton in Arianes Stimme trotzdem. Einen kurzen Moment bekam Laura gar nichts mit. „Benni?!? Wo willst du hin?“, fragte Carsten. Das schmerzhafte Stechen breitete sich in ihrer Brust aus, was umso schlimmer wurde als ein weiterer Hustenanfall sie schüttelte. Vor ihren Augen flimmerte es und ihr wurde immer schwindeliger. „Was ist denn los?“, fragte Carsten wieder und seiner Stimme konnte sie Besorgnis entnehmen. Sie hörte ein schwaches „Nichts.“, das wohl Bennis einzige Antwort war. Carsten seufzte. Offensichtlich schien sie nicht die einzige zu sein, um die er sich zurzeit Sorgen machte. „Wenn nichts ist, dann kannst du jedenfalls dieses Mal mir den Gefallen tun und sie tragen?“ Der Husten war inzwischen so schlimm, dass Carsten und Ariane sie gar nicht mehr halten konnten, da Laura sich so verkrampft krümmte. Sie hatte das Gefühl, ihre Lunge würde sich von selbst zerfetzen. Ein eisenhaltiger Geschmack schien sie ersticken zu wollen. Verschwommen sah Laura, wie der Schnee vor ihren Knien von dunkelroten Tropfen gesprenkelt wurde. Sie hörte ein Quietschen direkt neben ihrem Ohr und spürte etwas Warmes, Flauschiges an ihrer Wange, das sie zu streicheln schien. Doch obwohl Chip direkt bei ihr war, klang er ganz weit entfernt. Seinen flauschigen Kopf spürte sie kaum. Als würde irgendeine unsichtbare Macht sie von hier wegzerren wollen. Bis sich schließlich zwei starke Arme um ihren Körper legten, die sie von dem kalten Boden hoben. Sein warmer Körper war das einzige, was Laura nun mehr an ihrem Rande der Ohnmacht spüren konnte. Er hielt sie sicher im Arm und schien sie vor der Welt und ihren Grausamkeiten zu schützen, sodass sich Lauras Körper allmählich wagte zu entspannen und ihr Kopf sich kraftlos gegen seine Schulter lehnte. Dabei hatte er sich doch eigentlich geweigert, sie zu tragen, oder? Seine Schritte gingen regelmäßig und waren kaum spürbar. Laura ließ sich von seinem wohligen Körpergeruch benebeln. Sie war so erschöpft… so müde…   Laura konnte die Zeit nicht einschätzen, bis sie schließlich ihre Augen wieder öffnete. Schlaftrunken setzte sie sich auf. Ein unangenehmes Gefühl war in ihrer Brust zu spüren, was auch nach einigen tiefen Atemzügen nicht gänzlich verschwinden wollte. „Hey Laura! Ein Glück, du bist wach!!! Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Das nächste Mal teleportieren wir uns und du nimmst das Flugzeug.“ Ganz plötzlich wurde Laura von Arianes stürmischer Umarmung überrumpelt. „H-Hey Nane.“, sagte sie mit zitternder Stimme. Zu ihrem Glück befreite Ariane sie sofort wieder und legte behutsam eine Hand auf ihren Arm. Laura sah sich überrascht um. Sie war in ihrem Bett und trug ihren Schlafkimono. Ariane hingegen sah… verkleidet aus. Plüschig süße Häschenohren standen von ihrem Kopf ab und um ihren Hals baumelte eine Kette mit Karottenanhänger. Sie trug eine rote Latzhose und darunter einen flauschig weißen Rollkragenpullover. In Lauras Gehirn begannen sich die Rädchen zu drehen. „Warum bist du denn verkleidet, ich meine…“ Ariane setzte sich neben sie aufs Bett, was Laura an einen Krankenbesuch erinnerte. So schlimm stand es doch gar nicht um sie, oder? Oder?! „Wir haben uns ganz schön Sorgen gemacht, du warst so blass wie ein Vampir. Und ich schwör dir, als du dann auch wieder Blut gehustet hattest, hab ich richtig Panik bekommen! Aber als du dann in deinem Bett lagst, hast du prompt mal mindestens zwanzig Stunden durchgeschlafen.“ „Was?!“ Schockiert wollte Laura nach ihrem Handy greifen um Uhrzeit und Datum zu prüfen, doch der sie plötzlich überkommende Schwindel machte ihr dabei einen Strich durch die Rechnung. „Zwanzig Stunden?“, fragte sie mit schwacher Stimme. Ariane nickte als Antwort nur. „Und wie bin ich hierhergekommen? Hat mich wirklich-“ Ariane seufzte. „Du hättest den Blick des eiskalten Engels sehen sollen, als ich ihn gebeten habe, dich zu tragen. Da hab ich das große Zittern gekriegt. Ehrlich! Aber dann hat er dich ja doch genommen. Zum Glück. Du warst kurz vorm Zusammenbrechen. … Beziehungsweise eigentlich bist du sogar schon zusammengebrochen…“ Also hatte Benni sie wirklich getragen… Laura spürte die Hitze in ihrem Gesicht, woraufhin Ariane auflachte. „So schnell wird er dich wohl nicht los, oder?“ Verlegen schüttelte Laura den Kopf. Ein dumpfes Klopfen drang durch die Tür. „Nane, bist du fertig?“, ertönte Öznurs Stimme. Die Tür öffnete sich und Öznur trat verkleidet als Prinzessin Jasmin aus Aladdin ein, dicht gefolgt von einer Kriegerin, die an Jeanne D’Arc erinnerte und natürlich Anne sein musste. „Laura, du bist endlich aufgewacht!“, rief Öznur froh. Sofort stürmten Schneewittchen, eine sexy gekleidete Zirkusdirektorin und eine Janine herein. Susanne -also Schneewittchen- atmete erleichtert auf. „Was für ein Glück. Du hast uns richtig erschreckt, mit deinem plötzlichen Zusammenbruch.“ „Juhu, dann kannst du ja doch mitkommen!“, rief Lissi begeistert. Ariane warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. „Sie ist erst vor ein paar Minuten aufgewacht.“ „Ich hole schnell Carsten.“, meinte Janine und ging aus dem Zimmer. Öznur kicherte. „Ninie und Carsten sind eine süße Kombination. Ob aus denen was wird?“ „Nein, ich glaube nicht, Özi-dösi. Zwei Schüchterne? Das endet nur in einer Krise.“, meinte Lissi und klang dabei ganz fachmännisch. Laura fragte sich, wie sie es bei der Kälte in diesem knappen Kostüm aushielt. Wobei Lissi aber auch die perfekte Figur dafür hatte. Ihr Zirkusfrack hatte leichte Ähnlichkeit mit einem Turnanzug und mit der Peitsche und dem Zylinder war man sich nicht sicher, ob Lissi nun Dompteurin, Artistin oder die Chefin von allem war. Kurz darauf betraten Janine und Carsten, der als Pirat verkleidet war, das Zimmer. „Hey Laura!“ Carsten begrüßte sie sofort mit seinem strahlenden Lächeln, das mehr sagen konnte, als alle Worte zusammen. Verdammt, warum muss ich mich eigentlich ausgerechnet in den komplizierten Typen verlieben?, ärgerte sich Laura in Gedanken. Doch das einzige, was sie sagte war: „Hi.“ Carsten schien das nicht weiter zu stören. „Bin ich froh, dass es dir wieder besser geht.“ Das klang so ehrlich und er sprach genau das aus, was seine lila Augen ihr zuvor genauso klar gesagt hatten. Er macht sich Sorgen um mich, kümmert sich um mich, wenn es mir schlecht geht… Carsten ist so das genaue Gegenteil von Benni und trotzdem bin ich in den kälteren der beiden verliebt… Warum eigentlich? Lissi zupfte an seiner Piratenjacke, wie ein kleines Mädchen den Rock seiner Mutter packte. „Carsten, Carsten, Caaarsteeen? Kann Laura mitkommen???“ „Lissi!“ Ariane funkelte sie anklagend an. „Da der eiskalte Engel Laura einen… ähm… er nicht vorhat zu kommen, glaube ich nicht, dass sie darauf überhaupt Lust hat.“ Es war süß, wie Ariane sie in Schutz nahm und auch noch versuchte, ihren Korb bei Benni zu umschreiben. Das rührte Laura und sie wollte den Mädchen etwas entgegenkommen. „Ich kann auch mitkommen, kein Problem.“ Wie vor einigen Tagen musterte Carsten sie kritisch, doch schließlich seufzte er. „Übernimm dich aber bitte nicht.“ Laura nickte begeistert. „Klar.“ Sie wusste gar nicht, warum sie sich überhaupt so freute. Vielleicht, weil sie mit dieser Entscheidung auch den anderen Mädchen eine Freude bereitete. Lissi wandte sich an Janine. „Aber dann musst du auch mitkommen, Ninie.“ Janine schüttelte traurig den Kopf. „Ich sagte euch doch schon, dass ich kein Geld für ein Kostüm habe. Und ohne Verkleidung würde das doch komisch wirken, wenn ich mitkomme.“ Prinzessin Jasmin stemmte die Fäuste in die sexy Hüften. „Dass einem das Geld den Spaß verbietet…“ „Kannst ihr ja was schenken, eure Hoheit.“, konterte Anne trocken, auf Öznurs Verkleidung anspielend und dass Öznur ansonsten Anne gerne mit solchen Adelstiteln ansprach. „Man braucht ja nicht wirklich ein Kostüm.“, meinte Carsten. „Na ja… Eigentlich schon.“, widersprach Ariane, aber sie schien tatsächlich Hoffnung zu schöpfen. „Ich kann dir eine Verkleidung zaubern. Das Problem ist nur, dass sie nicht für die Ewigkeit hält, im Vergleich zu den echten Kostümen.“, schlug Carsten vor. „Aber ich bin dann verkleidet?“, fragte Janine und auch in ihr wuchs die Hoffnung. Carsten nickte. „Soll ich?“ „Jaaa!“, riefen die anderen Mädchen an Janines Stelle. Diese lächelte nur schüchtern. Carsten erwiderte ihr Lächeln und hob seine Hand auf Schulterhöhe. Er sprach einen Satz in der Sprache der Zauberer und aus seiner Handfläche leuchtete ein in allen Farben schimmerndes Licht. Dieses Licht umspielte Janine von Kopf bis Fuß und als es wieder verschwand, trug Janine ein blaues Kleid mit weißer Schürze und ein schwarzes Haarband. Ariane war die erste, die die Verkleidung erkannte. „Alice im Wunderland! Coole Idee Carsten, das passt perfekt zu ihr!“ „Wie süß, das steht dir wirklich gut!“, rief Öznur begeistert. Janine zwirbelte verlegen eine Haarsträne. „Oh, äh… Danke schön…“ Ariane das Häschen sprang zu ihr rüber und legte einen Arm um ihre Schultern. „Dann bin ich dein weißer Hase. Also schön mir hinterherlaufen! … Aber fall bitte in kein Loch.“ Öznur und Laura lachten. „Soll ich dich auch verwandeln?“, fragte Carsten Laura, die etwas zögernd nickte. Noch etwas mühsam stieg sie aus ihrem Bett und ihre Beine schienen sich noch nicht sicher zu sein, was sie davon halten sollten plötzlich so viel Last tragen zu müssen. Wie zuvor auch bei Janine, hob Carsten seine Hand und sprach seinen Zauberspruch. Laura hätte beinahe überrascht gelacht, als das warme, gemütliche Licht in den vielen Farben sie umgab. Normalerweise mochte sie es ja schlicht und schwarz, aber bei dieser Magie fühlte sie sich irgendwie geborgen. Als das Licht wieder verschwand, stand sie nicht mehr im Schlafkimono da, sondern war als schwarzes Kätzchen verkleidet, höchst wahrscheinlich hatte sie auch Ohren bekommen. „Oh, wie süß! Dich will man glatt knuddeln.“, meinte Ariane begeistert. Carsten lächelte zustimmend. „Aber passt auf, ihr beiden. Mein Zauber wirkt nur für den heutigen Tag. Um Mitternacht löst er sich auf und dann tragt ihr wieder eure eigentliche Kleidung.“ „Das ist ja fast so, wie bei Aschenputtel.“, bemerkte Öznur lachend. „Carsten, du solltest gute Fee sein und nicht Pirat!“ Carsten lachte verlegen auf. „Also los, Leute! Gehen wir endlich!“, drängte Lissi und schob ihre Schwester mit sich raus. „Ja, ja.“, entgegnete Anne genervt und folgte ihr zusammen mit Öznur. Janine ging kurz in ihr Zimmer, höchst wahrscheinlich wollte sie wissen, wie sie nach Carstens Zauber überhaupt aussah. Auch Laura hatte das vor. Neugierig betrachtete sie sich in dem Spiegel in ihrem und Arianes Zimmer. Ihr Spiegelbild hatte hochgesteckte Haare, die immer noch über ihre Schulter fielen, so wie bei dem Ball letzten Monat. Nur, dass ihre Haare dieses Mal verwuschelter und wilder und nicht elegant aussahen. Tatsächlich hatte sie Katzenohren in ihrer Haarfarbe auf dem Kopf. Sie trug ein eng anliegendes, schwarzes Oberteil und eine schwarze Hose, sowie schwarze Stiefel. Ihre langen Fingernägel waren auch schwarz und sie hatte sogar ein Katzenschwänzchen. Aber was Laura in den Bann zog war das elegante Gesicht, das sie von dem Spiegel aus anblickte. War das wirklich sie? Schwarzer Lidstrich umrundete ihre rehbraunen Augen und gab ihr etwas katzenhaftiges, so wie die Schnurrhaare auf ihrer Wange. Laura lächelte ihrem Gegenüber traurig zu. Es war eigentlich schade, dass Benni sie so nicht treffen würde, immerhin hatte er sie zum letzten Mal in ihrer Halbohnmacht gesehen. Carsten drückte kurz sanft ihre Schulter, als habe er ihre Gedanken erraten. Danach verließ auch er das Zimmer und folgte den anderen Mädchen. Ariane und Laura gingen kurz darauf auch los. Laura tippte Ariane von der Seite an. „Sag mal… Wer hat mich eigentlich umgezogen?“, fragte sie zögernd. „Susanne.“ Ariane lachte, da sie Lauras Verlegenheit bemerkt haben musste. „Keine Sorge, niemand hat dich in weniger als diesem Kimono gesehen. Diese Magie hat’s schon drauf. Susi hatte irgendeinen Zauber, bei dem du einfach mal dein Schlafzeug statt deinen Schneesachen anhattest. Stell dir vor, du könntest sowas, wenn du verschläfst!“ Laura atmete erleichtert auf. Der eigentliche Grund ihrer Frage war zwar, ob irgendein Junge sie umgezogen hatte, aber außer Lissi hätte sie da wohl jeder in Schutz genommen, sogar Anne.   Der Ballturm war nun bunt geschmückt und leuchtete buchstäblich von innen heraus in bunten Farben. Wer auch immer sich um die Deko gekümmert hatte, er verstand seine Arbeit. Auch im Inneren des Turms war ein prächtiges Farbenspiel und gelegentlich rieselte Konfetti von der Spitze herab. Ebenso bunt waren die Gäste der Feier. Janine hatte schon Recht, ohne Verkleidung konnte man hier nicht aufkreuzen. Janine konnte Laura bei Susanne sehen, die sich mit einigen Mädchen aus ihrer Stufe unterhielten, wenn das bei der Lautstärke überhaupt möglich war. Auch Lissi war schnell zu finden, da sie in ihrem Zirkus-Outfit mit einem älteren Schüler tanzte, der wohl dieser Kaito sein musste und als Dieb aus der Wüste verkleidet war. Ariane die eben noch neben ihr stand, war schon längst verschwunden und prügelte sich mit Anne um das Buffet. Und wen sah sie da, völlig verloren und ängstlich unter den ganzen Schülern? „Chip, was machst du denn hier?!?“, rief Laura erschrocken und bekam die Panik, dass jemand dieses süße Tierchen unter seinen Latschen zermatschte. Chip schien erleichtert, sie gesehen zu haben, denn er war in höchstens zwei Sprüngen bei ihr und begann damit, sie voll zu quietschen. Er schien wirklich Angst gehabt zu haben. Laura wunderte sich, warum Chip ihr so vertraute. Höchst wahrscheinlich wegen Benni, da sie so oft bei ihm war, auch, als er Chip damals gefunden hatte. Sie seufzte. „Du passt hier genauso gut rein wie ich, hm?“ Sie schaute sich erneut um. Es war wirklich unangenehm laut und an manchen Stellen so gedrängt voll, dass Laura sich extrem unwohl fühlte, obwohl sie eigentlich nicht unter Agoraphobie litt. Sie verzog das Gesicht. Kein Wunder, dass Benni ihr einen Korb gegeben hatte. Hätte sie gewusst dass es hier so laut und gedrängt voll wäre, wäre sie gar nicht erst auf die Idee gekommen ihn zu fragen. Sie selbst hätte ja überhaupt nicht hingehen wollen. Laura unterdrückte den Impuls, sich die Ohren zuzuhalten und wippte unruhig auf ihren Fußballen vor und zurück. Hier hielt man ja keine Minute aus! Wieder quietschte Chip, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, und boxte mit seiner Pfote leicht gegen ihre Nase. „Was ist denn, Kleiner?“ Laura würde Tiere zu gerne auch so gut verstehen können wie Benni. Doch das schien unmöglich. Plötzlich hüpfte Chip herunter und sprang in die Menschenmenge. „Hey, warte! Dir könnte noch was passieren!“, rief Laura dem hyperaktiv gewordenen Eichhörnchen zu und hastete hinter ihm her, in der Angst, er könnte sich noch verletzen. Immerhin: Er war auch vom Baum und mehrmals fast von Bennis Schultern gefallen. Also quetschte sich Laura trotz ihres Widerwillens durch die Gruppen und erntete dafür empörte Beschimpfungen, bis sie endlich eine kleine Lichtung erreichte und dann- blieb sie abrupt stehen. Das, was sie sah könnte genauso gut ein Film sein. Sie sah, wie sich Benni runter zu dem kleinen Eichhörnchen beugte und ihm die Hand entgegenstreckte, auf die Chip mit einem fröhlichen Quietschen sprang. Er hüpfte mit kleinen Sprüngen Bennis Arm hinauf, kletterte eichhörnchentypisch auf ihm herum, bis er wieder auf Bennis Hand hüpfte und sich von ihm über den kleinen Kopf streicheln ließ. Laura trat einen Schritt vor und in diesem Moment trafen sich ihre Blicke. Bennis Aussehen ließ sie schaudern. Seine weißblonden Haare verdeckten nicht mehr sein rechtes Auge, sondern fielen in einzelnen Strähnen ins Gesicht und ließen seine Vampirerscheinung wild und sexy wirken. Vampir, das war seine ‚Verkleidung’. Nicht nur, dass er tatsächlich so erotisch und unheimlich wie solch ein Wesen der Nacht wirkte. Carsten schien mit seiner Magie auch noch bei Bennis linkem, normalerweise schwarzem Auge nachgeholfen zu haben, da es nun genauso blutrot leuchtete, wie sein rechtes. Er trug ein schwarzes Hemd mit einem Sensenmann, dessen teils blutige Sense auf den Hals zeigte. Die obersten Knöpfe waren offen gelassen, sodass man Bennis Kette mit dem Kreuzanhänger sehen konnte und auch einen leichten Ansatz seiner trainierten Brust, was ihn noch attraktiver aussehen ließ als er ohnehin schon war. Laura schüttelte sich als wolle sie sich aus seinem Bann befreien. „W-Was machst du denn hier?!“, rief sie über die laute Musik hinweg. Es war das erste, was sie zustande brachte. Zwar keine Begrüßung, aber noch das normalste, was man von ihr erwarten konnte. Hatte er ihr nicht vor einigen Tagen eine Abfuhr erteilt, weil er auf die Party keine Lust hatte? Und was hatte er dann bitte schön auf der Party zu suchen? „Der Direktor wollte, dass ich beim Überwachungsdienst helfe.“, antwortete er und kraulte Chip eines der kleinen Öhrchen. Chip schloss genüsslich die Augen und gab einen Laut von sich, der einem Schnurren ähnelte. Was für ein Tier war der Kleine nochmal? Laura schnaubte. „Ach so.“ Verärgert verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Es ist ja nicht so, dass du mir bei meinem kurzen Leben mal einen Gefallen tun willst. Nein, du bist nur hier, weil es ein Befehl einer Respektsperson war. Danke schön!“ „Oh je, die Zeichen bei euch stehen ja schon wieder auf Sturm.“ Carsten kam dazu. „Ja, klar! Du weißt doch selbst, wie egoistisch Benni ist.“, entgegnete Laura und gab dabei ihr katzenartiges Fauchen von sich. Erst jetzt merkte sie, wie passend die Verkleidung für sie war. Carsten seufzte und legte Laura eine Hand auf die Schulter. Benni ignorierte er vorerst. „Du bist nicht gerade besser. Als Benni mir erzählt hatte, dass du dir ‚ein Grab reservieren wolltest’, hatte ich das erst mal für einen schlechten Witz gehalten.“ Laura runzelte die Stirn. „Das war natürlich ernst gemeint. Du hast doch gesehen, was gestern passiert ist. Wenn ich nicht sterben werde, dann wird Eagle dein bester Freund.“ Carsten zuckte zusammen, als habe man ihn geschlagen. „Klärt das unter euch. Bitte. Ich wollte dir nur sagen, dass du Benni damit wirklich schwer getroffen hattest. Er sorgt sich ohnehin schon genug um dich.“ Überrascht schaute Laura ihren besten Freund an. … Wirklich? Also… im ernst? „Du weißt schon, dass ich dich höre.“, meinte Benni tonlos. Carsten schnaubte. „Du solltest mich ja auch hören. So teilt man nämlich einer Person mit, dass man von einem Kommentar verletzt worden ist und man sich eigentlich Sorgen macht.“ Benni hob eine Augenbraue, als Carsten davon stapfte. Verdammt noch mal, selbst der eiskalte Engel konnte das! Und warum sie nicht?!? Kopfschüttelnd verschränkte Benni wieder die Arme vor der muskulösen Brust und lehnte sich gegen die Säule, um durch die Schülermengen zu blicken. Man sah, dass dieser Blick geschult war. Dass es nicht das erste Mal war, wie er Leute beobachtete und nach potenziellen Gefahren Ausschau hielt. Doch gleichzeitig konnte man auch seine Anspannung wahrnehmen. Diese Lautstärke, der volle, gedrängte Raum… Benni mied solche Situationen nicht grundlos. Für einen normalen Menschen wirkte er vermutlich gerade einfach nur wie ein sehr ernster Typ, der seiner Pflicht nachging. Doch Laura sah, wie sehr er eigentlich damit zu kämpfen hatte. Wie seine helle Haut noch ein bisschen blasser war, der Blick etwas angestrengter, der Atem gezwungen beherrscht. Besorgt trat sie einen Schritt auf ihn zu. Je mehr sie Benni beobachtete desto mehr bekam sie den Eindruck, dass eigentlich er derjenige war, der hier jeden Moment zusammenbrechen könnte und nicht das todkranke Mädchen. „Geht es? Oder soll ich doch lieber Carsten zurückholen?“ Doch Benni antwortete ihr nicht und ließ seinen Blick stattdessen weiter durch die Schülergruppen schweifen. Laura ging noch einen Schritt auf ihn zu. „Bist du sauer?“ Als Antwort zuckte Benni nur mit den Schultern. „Ich meine… Du hast doch gesehen, wie schwach mein Körper geworden ist. Da liegt es doch auf der Hand, dass der Schwarze Löwe mich verlassen wird.“ Bennis Augen verengten sich nur ein kleines bisschen, dennoch ließ der resultierende Blick Laura beinahe zurückweichen. Er schien wirklich verärgert… Nervös fummelte sie an der Kette herum, die er ihr am Valentinstag geschenkt hatte. „Mir kommt es halt so unmöglich vor, dass ich überleben werde… Da fände ich es nett, wenn ich noch eine schöne Zeit habe und mich nicht mit so etwas wie… Na ja, wie mit einem Streit herumschlagen muss. Aber falls… falls dich meine Aussage wirklich so sehr getroffen hat wie Carsten eben meinte, dann… dann tut mir das leid.“ Gleichgültig zuckte Benni erneut mit den Schultern. Frustriert von seinen noch nicht einmal einsilbigen Antworten biss sich Laura auf die Unterlippe. „Ich will doch nur endlich wissen, ob ich dir egal bin, oder nicht!“, rief sie verzweifelt aus. „Bei deinem Verhalten blick ich nicht durch! Bitte! Sag es mir doch einfach: Bin ich dir egal?!“ Laura ballte die Hände zu Fäusten. Sie zitterte am ganzen Körper. Hoffentlich hatte Carsten daran gedacht, dass ihre Schminke wasserfest sein musste, so nah, wie sie am Wasser gebaut war. Denn heute Abend würde sie sicherlich noch heulen müssen. Benni schwieg einen Augenblick. Schließlich antwortete er: „Nein.“ Tatsächlich schossen nun Tränen in Lauras Augen, aber sie wirkten nicht so, als würden sie sofort los dreschen. „Also warum machst du dir dann keine Sorgen? Warum verhältst du dich so unmenschlich?!“ Benni fuhr sich mit der Hand durch das platinblonde Haar und kniff die Augen zusammen. „Müssen wir ausgerechnet jetzt darüber reden?“ „Wann denn sonst?! Du gehst mir ja dauernd aus dem Weg! Ich möchte jedenfalls wissen, warum du dich so unmenschlich verhältst!“, drängte sie. „Laura…“, brachte Benni mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie stockte. Hab ich ihn etwa tatsächlich verletzt?!? „H-Hab ich irgendwas Falsches gesagt?“ Vorsichtig ging Laura wieder einige Schritte auf ihn zu, bis sie direkt vor ihm stand. Bennis gesamter Körper war so angespannt, dass sogar die Adern auf seinen Unterarmen hervortraten. „… Benni? Alles okay?“ Sanft wollte sie ihre Hand auf seinen Unterarm legen, doch selbst bei der ersten federleichten Berührung zog Benni seinen Arm weg. Was Laura umso mehr verunsicherte und somit überforderte. Was ist denn los?! „Hey Laura!“ Überrascht drehte sich Laura um, aus der Richtung aus der die Stimme ihren Namen gerufen hatte. Ariane kam mit mehreren Pizzabrötchen auf einem Teller beladen angelaufen. „Du bist so plötzlich verschwunden, da wollte ich mal schauen wo du steckst und dass du ja nicht die Fliege gemacht hast.“ „Du bist doch sofort zum Buffet gestürmt und hast mich alleine gelassen.“, widersprach Laura leicht gereizt. Natürlich mochte sie Ariane, aber gerade war sie so überladen von Sinneseindrücken und der ganzen Situation mit Benni, dass sie es einfach nicht schaffte freundlich zu bleiben. Ariane seufzte und musterte Benni, der scheinbar nach wie vor sein Pokerface aufgesetzt hatte. „Du bist ja doch noch gekommen, du… Vampir…“ Ariane schauderte und wich einen Schritt zurück, obwohl sie eben noch recht anfeindend geklungen hatte. „Lebensechte Verkleidung… Respekt… Hätte ich nicht erwartet.“ Sie hielt den beiden den Teller hin. „Wollt ihr auch eins?“ Gleichzeitig schüttelten sie den Kopf. Ariane zuckte mit den Schultern. „Okaaaay, diese ‚lass uns allein‘-Vibes sind mehr als eindeutig. Aber bitte lieb zueinander sein, okay?“ Mit diesen Worten verschwand sie wieder in dem Knäuel aus verkleideten Schülern. Laura seufzte. Eigentlich wäre es ihr sogar ganz lieb gewesen, wenn Ariane geblieben wäre. Verunsichert schaute sie wieder zu Benni. Dieser hatte den Kopf gegen die Säule gelehnt und die Augen geschlossen. Etwas, was überhaupt nicht zu seinem ansonsten so wachsamen Charakter passte, der irgendwie immer für jede drohende Gefahr gewappnet schien. Besorgt musterte Laura ihn. Ihm schien es wirklich deutlich schlechter hier zu gehen als er es sich anmerken lassen wollte. Ihre Vermutung bestätigte sich, als Chip ihm auf seiner Schulter ins Ohr quietschte und sein Köpfchen mehrfach an seiner Wange streifte, bis Benni ihn schließlich in die Hand nahm und wieder zu streicheln begann. Geräuschvoll atmete Laura aus. „Du kannst machen was du willst, aber ich hole jetzt Carsten. Dir geht es richtig schlecht und ich will nicht, dass du hier tatsächlich zusammenbrichst.“ Noch während sich Laura suchend nach Carsten umschaute, überkam sie plötzlich ein heftiger Husten. Sie kannte dieses Gefühl. Und es löste sofort eine grausige Angst in ihr aus. Vor Schmerz krümmte sich Laura, versuchte irgendwie den Husten zu unterdrücken ohne dabei den Atem anhalten zu müssen. „B-Benni-“, brachte sie wimmernd hervor und presste ihre Hand auf den Mund, als ein weiterer heftiger Husten sie überkam und sie begann Blut zu schmecken. Sie spürte, wie sich eine warme Hand auf ihre überhitzte Wange legte. Instinktiv griff Laura mit ihrer freien Hand nach ihr und klammerte sich daran fest, als würde ihr das den einzigen Halt in dieser Finsternis des Schmerzes geben. Keuchend rang sie um jeden Atemzug. Und jeder Atemzug war eine Qual. Behutsam hob Benni ihren Kopf etwas an, sodass sie ihm in die Augen schaute als sie ihre öffnete. Sein linkes Auge war wieder nachtschwarz, doch dieses Mal hielt sein rotes, dämonisches Auge sie in seinem Bann. Die Pupille hatte eine schmale katzenartige Form bekommen und die blutrote Iris loderte und schien von sich aus zu leuchten. Eine unbeschreibliche Macht ging von Benni aus und Lauras Körper fühlte sich wie davon gerufen. Als wäre sie ein Teil dieser Macht, ein Teil von ihm. Noch währenddessen spürte Laura, wie ihr Körper wieder an Kraft gewann. Sogar der Husten ebbte ab, bis das Lodern der Energie in Bennis Auge verschwand und seine Haare, die zuvor wie geladen abstanden hatten, sich wieder darüber legten um es zu verdecken. Ungläubig, nicht dazu in der Lage auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen, starrte Laura Benni an. Einen Augenblick verharrten beide in dieser Position, bis Benni schließlich wieder aufstand und ihr die Hand hinhielt. Laura nahm sie und mühte sich mit seiner Hilfe auf die Beine, wobei sie sich weitaus stärker fühlte als sonst nach einem ihrer Anfälle. „W-Was hast du…“ gemacht? „Ich habe dir meine Energie gegeben.“, antwortete Benni bloß. Lauras Wangen färbten sich rot. „Was?“ „Da wir dieselbe Energie beherrschen, kann ich dir welche von meiner abgeben.“ Laura überlegte. „So etwas wie eine Bluttransfusion?“ Benni zuckte nur mit den Schultern. „Du solltest besser gehen.“ Seufzend schaute Laura auf ihre Hand, sah das Blut. „Okay…“ Besorgt musterte sie ihn. Er wirkte immer noch ziemlich erschöpft durch diese einzige Reizüberflutung um sie herum. „Und… du?“ Benni warf einen kurzen Seitenblick auf Chip, woraufhin das Eichhörnchen quietschend von seiner Schulter sprang und in der Schülermenge verschwand. Vermutlich um Carsten zu holen. Erleichtert atmete Laura auf. „Okay, dann… pass auf dich auf.“ Benni gab keine Antwort mehr, auch kein ‚Tschüss’ oder ‚Gute Nacht’ kam über seine Lippen. Aber nach alldem konnte sie es ihm wohl kaum übelnehmen. Und Carsten war wohl ohnehin gerade eine deutlich bessere Gesellschaft als sie… Betrübt senkte Laura den Blick. Dabei würde so gerne auch sie sich um Benni kümmern, wenn es ihm nicht gut ging! Aber man sah ja, worauf das hinaus lief… Am Ende schien wohl doch immer sie diejenige zu sein, die Hilfe brauchte. Dabei würde sie so gerne für ihn da sein… Laura verließ den dröhnend lauten Ballturm und ging an den Sportplätzen vorbei in Richtung des Mädchenwohnheims. Sie hatte schon fast das Hauptgebäude erreicht, als Ariane sie einholte. „Da bist du ja! Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht die Fliege machen!“ Laura schüttelte den Kopf. „Glaub mir, ich muss gehen.“ Ariane sah sie besorgt an. „Warum denn? Es ist doch erst elf… Ist etwas passiert?“ Laura nickte. „So in etwa.“ „Dann komm ich mit. Im Endeffekt brichst du mir noch zusammen.“ Laura schüttelte den Kopf, als Ariane sich bei ihr unterhakte. „Zweimal direkt hintereinander breche ich hoffentlich nicht zusammen…“ Erschrocken sah Ariane sie an. „Wann?!? Eben gerade?!?!?“ Laura nickte seufzend und zeigte ihr im Laternenschein die Blutflecken auf ihrer rechten Hand. Ariane musterte sie kritisch und besorgt zugleich. „Dafür, dass du eben erst zusammengebrochen bist, kannst du aber ganz schön normal gehen, wenn man bedenkt, wie es dir die letzten Male danach ergangen ist. Und warum hast du niemanden von uns gerufen?!“ Laura seufzte verlegen. „Ich war nicht alleine, Benni war bei mir.“ Ungläubigen Blickes starrte Ariane sie an, als hätte Laura ihr gerade erzählt, sie wäre von den Toten auferstanden. „Der eiskalte Engel? Das ist doch ein Witz! Du Arme! Er hätte ja wenigstens jemanden holen können!“ Laura schüttelte den Kopf. „Es ist alles okay, Benni hat sich um mich gekümmert.“ … Obwohl es ihm selbst eigentlich total schlecht ging… Arianes unstillbare Neugier war nun geweckt. „Wie hat der das denn auf die Reihe gekriegt?“ Inzwischen waren sie im Mädchenwohnheim angekommen. Er war verlassen und wirkte einsam, da jeder Bewohner wohl auf der Feier oder im Bett war. Laura starrte auf das kunstvolle Geländer aus Elfenbein an der Treppe, als sie antwortete: „Er hat mir Energie gegeben. Deswegen geht es mir jetzt auch recht okay.“ „Was soll er gemacht haben?“ „Ich weiß auch nicht so genau, wie er das gemacht hat… Aber sein rotes Auge, also das rechte, hat auf einmal so geglüht und ich habe mich vom einen Moment auf den nächsten viel besser gefühlt. Benni meinte, das wäre die Energie.“, erklärte Laura ihr, „Keine Ahnung, ich weiß auch nicht so genau, wie das geht oder was das ist.“ Ariane schüttelte den Kopf. „Das war jetzt nicht das, was ich wissen wollte, aber da können wir ja Susanne fragen. Ich meine, er hat was gemacht?!? Er hat gehandelt? Das glaub ich nicht.“ Laura lachte verlegen auf. „Ich weiß nicht was ihr alle habt, Benni ist total hilfsbereit.“ „Ich würde dir ja wirklich gerne glauben, aber sonderlich überzeugen konnte er damit bisher nicht gerade.“ Seufzend streckte sie sich. „Na ja, jetzt wo wir schon hier sind, können wir auch genauso gut ins Bett gehen. Morgen wollten wir uns ja endlich auf die Suche nach den anderen Dämonenbesitzern machen, soweit ich weiß…“ Genervt stöhnte Laura auf. „Nein, bitte nicht. Ich hab keine Lust, Eagle zu besuchen!“ Ariane lachte. „Komm schon, so schlimm ist der doch auch nun wieder nicht, oder? Bei Eufelia-Sensei hattest du doch auch schon so ein Drama gemacht.“ Laura schnaubte. „Ob du mein ‚Drama‘ bei Eufelia-Sensei als gerechtfertigt sehen willst oder nicht, bleibt dir überlassen. Aber Eagle ist eine andere Hausnummer, das musst du mir glauben. Wenn er nicht wäre, wäre Carsten nicht auf dem FESJ gewesen.“ „Du meinst diese komische Besserungsanstalt?“ Laura nickte. Ariane seufzte und schien sich allmählich dessen bewusst zu werden, was da auf sie zu kam. „Na super …“ Kapitel 13: Familienprobleme ----------------------------  Familienprobleme        Gähnend stieg Carsten aus seinem nachtblauen Himmelbett in der Coeur-Academy und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Heute stand der Besuch bei seiner Familie auf dem Tagesplan und er konnte dafür einfach keine Begeisterung aufbringen. Wie denn auch? Er war so etwas wie das schwarze Schaf der Familie und hatte immer und immer wieder das Gefühl, er würde nicht dazu gehören. Erst letztens hatte er daheim angerufen, um seinem Vater den Besuch anzukündigen. Und als wären die desinteressierten ‚mhms’ seines Vaters nicht genug gewesen, hatte sich dieser weder nach seinem Wohl erkundigt, noch ihm irgendeine andere Frage gestellt. Das Telefonat war noch schlimmer als Benni klarmachen zu wollen, dass er ruhig mal etwas Farbigeres tragen könnte. Nachdem er sich fertig gemacht hatte, verließ er sein Zimmer, um nicht auch noch seine beiden Zimmergenossen Adrian und Jan mit seinem nervösen Herumgelaufe zu wecken. Es war für sechs Uhr morgens noch so dunkel wie mitten in der Nacht und eine aufgehende Sonne war erst in ein bis zwei Stunden zu erwarten. Und mit der Sonne würde auch der größte Teil der Schule aufwachen und sich die nächsten zwei Tage auf zu ihren Familien machen oder die Zeit in der Coeur-Academy totschlagen. Denn die nächsten beiden Tage waren frei und genau das war auch die perfekte Zeitspanne für ihre Suche nach den übrigen Dämonenbesitzern. Jedenfalls wenn Carsten ihnen den Flug abnahm. Das bereitete ihm immer noch Sorgen. Laura hielt schon keine zwei Teleportationen an einem Tag aus, geschweige denn noch mehr Herumgebeame. Fröstelnd murmelte Carsten einen Zauber in seine Fäuste, die sich sofort auf eine angenehmere Körpertemperatur erwärmten. Dafür, dass er bis etwa Mitternacht auf dieser komischen Feier war, war er hellwach. Er konnte immer noch länger und deutlich besser schlafen als es ihm im FESJ jemals möglich gewesen ist. Unbewusst beschleunigten sich Carstens Schritte zu dem Hauptgebäude. Panik kam in ihm auf. Ein unangenehmes Gefühl als würde sich wie in einem Albtraum die Welt hinter ihm auflösen und er würde kurz darauf doch wieder in seiner Zelle im Militärinternat aufwachen. Nein. Er wollte nicht an diesen Ort zurück. Nein! Als er in das riesige Gebäude hastete, wäre er wohl mit Anne zusammengestoßen, hätte diese nicht ihre schlangenartigen Reflexe. „Entschuldige, ich hab nicht…“, setzte Carsten beschämt an. Sein Herz pochte immer noch. Anne zischte genervt. „Hätte von einem Jungen auch nichts anderes erwartet.“ Carsten hatte das Gefühl, sie würde ihn mit ihrem bloßen Blick erdrosseln wollen, aber glücklicher Weise kam nun auch Susanne dazu. „Hey, was ist denn hier los? Anne, jetzt zeige doch nicht immer gleich die Zähne. Carsten hat das nicht böse gemeint, es war ein Versehen.“, redete sie beschwichtigend auf ihre Freundin ein, die davon nicht gerade beeindruckt schien. „Halt die Klappe, Susanne. Was machst du Bubi eigentlich hier?“ Es hätte zickig klingen können, doch in Kombination mit ihrer Mimik wirkte es eher einschüchternd und bedrohlich. Zu Carstens Vorteil kannte dieser schon die herablassenden Beleidigungen dank seines Bruders. Deshalb konnte er so ruhig wie immer antworten. „Essen… Hatte ich jedenfalls vor…“ „Na, dann sollten wir ihn nicht aufhalten. Man sollte niemanden beim Essen stören… Oder beim Schlafen…“ Carsten drehte sich überrascht um. Ariane wurde zusammen mit Janine von einer recht motiviert wirkenden Öznur mitgeschleppt. „Gute Idee, ich bin am Verhungern.“ Anne musterte die kleine Gruppe kritisch. „Und der Rest?“ Öznur zählte an drei Fingern ab. „Also, Laura macht sich gerade fertig, jedenfalls nachdem wir sie mit Pauken und Trompeten wach bekommen haben. Lissi auch, hoffe ich jedenfalls, wobei bei ihr Pauken und Trompeten nicht ausgereicht hatten. Und vom eiskalten Engel hab ich nix gehört…“ Anne schnaubte. „Klar, immer machen die Jungs Ärger.“ „Jetzt werd‘ mal nicht verallgemeinernd. Nur weil du irgendwas gegen Jungs hast.“ In Öznurs Worten war der drohende Unterton kaum zu überhören. Anne verdrehte die Augen. „Sei du mal nicht so naiv. Glaub mir, diese Deppen wollen alle nur das eine, egal wer das Opfer ist.“ „Warum Opfer, Anni-Banani? Dein ‚eines’ ist doch was ganz Tolles, Süße.“ Dafür hätte sich Carsten noch nicht einmal umsehen müssen. Lissis recht hohe, schwer überhörbare Stimme kam direkt auf sie zu geträllert. Das Mädchen hätte er nicht so leicht einem Alter zuordnen können. Einerseits wirkte sie noch wie eine zwölfjährige, die gerade erst begann erwachsen zu werden, andererseits hatte sie schon irgendwie etwas Feminines, genauer gesagt Erfahrenes, an sich. Doch Annes Kommentar hatte eher seine Neugier geweckt. Wie hatte sie das mit Opfer gemeint? Aber sowohl Anne, als auch der Rest der Anwesenden schwieg und dachte gar nicht daran, irgendein Gespräch anzufangen. So wie niemand wohl den seltsamen Hintergrund ihrer Meinung zu hinterfragen schien. „Na los, wenn ich schon so früh raus musste, dann lasst uns jedenfalls endlich frühstücken.“, drängte Ariane ungeduldig. Am Tisch gesellte sich Laura zu der Gruppe und setzte sich wie es in letzter Zeit schon Gewohnheit war neben Carsten. Er wunderte sich, dass sie so erstaunlich munter und überhaupt nicht so schlecht gelaunt war, wie sie sich sonst immer verhielt, wenn sie früh aufstehen musste. Carsten senkte seine Stimme. „Was ist denn mit dir los? Du siehst so aus, als hättest du den Weihnachtsmann getroffen.“ Laura grinste. „Du meinst abgesehen von der Tatsache, dass Herr Weihe so wie der Weihnachtsmann aussieht?“ Carsten erinnerte sich an den freundlichen älteren Herrn. Auch er hatte ihn als Kind öfter zu Gesicht bekommen, wenn er bei Bennis und seiner Lehrmeisterin war. Schließlich nickte er. „Abgesehen davon.“ Laura kratzte sich am Hinterkopf. Auf den ersten Blick schien es eine planlose Geste, doch in ihrem Gesicht konnte man den Hauch von Verlegenheit lesen, der Carsten einen Teil schon beantwortete. „Keine Ahnung…“, antwortete sie schließlich. „Ich hab das Gefühl, vor Energie fast zu platzen…“ „Wie kann jemand der krank ist fast vor Energie platzen? Sicher, dass das Zeug nicht auch dein Hirn erwischt hat?“ Carsten hätte Anne am liebsten wegen ihrer Rücksichtslosigkeit den Hals umgedreht. Zu schade, dass er nicht der Typ für so was war… Manchmal verfluchte er sich und seine Feigheit. Laura wich auch sofort die rötliche, beinahe sogar gesund wirkende Farbe aus dem Gesicht. „Ich bin nicht krank.“, erwiderte sie mit einem erstickenden Ton. „Äh, bist du doch, Lauch. Du weißt schon, dieses Charismadings, oder so…“, widersprach die naive Lissi und erntete einen warnenden Rippenstoß von ihrer älteren Schwester. „Aber mir geht es wirklich gut-“ Mal wieder schien das Mädchen den Tränen nahe. Die, die lachen würden, kannten nicht dieses endgültige Gefühl des Todes, welches Laura tagtäglich mit sich herumschleppen musste. Carsten kannte es zwar auch nicht, doch er versuchte zumindest ihre Gefühle, ihre Verzweiflung bei dieser ausweglosen Situation zu verstehen. Jedenfalls um ihr ein bisschen helfen zu können. Er wollte so gut er konnte für sie da sein. Laura signalisieren, dass sie nicht alleine auf dieser Welt war und dass es Menschen gab, die sie liebten und die sich unglaublich darüber freuten, sie als Teil ihres Lebens zu wissen. Aber damit einher ging eben auch, Laura und ihre Sorgen und Ängste ernst zu nehmen und es nicht einfach als Drama abzutun, was Laura selbst viel zu gerne und häufig bei sich selbst machte. Carsten fand das schade. Schließlich ging es hierbei um sie selbst, es waren ihre Gefühle. „Na ja, du hast ja auch eine geballte Ladung Energie bekommen, oder so.“, versuchte Ariane sie zu beruhigen. Sie war die richtige Person, die Laura aufheitern konnte. Schon als Laura ihren ersten Anfall hatte, bei dem sie ohne Ariane alleine gewesen wäre, hatte Carsten das erkannt. Ariane war das Licht, Lauras Gegenstück. Nicht immer mussten sich diese Kräfte bekämpfen, es gab auch Zeiten, in denen lebten der Weiße Hai und der Schwarze Löwe in Harmonie und Eintracht miteinander. Aber wie hatte Ariane das mit der geballten Ladung Energie gemeint? „Was? Warum hat sie Energie bekommen?“, fragte Öznur neugierig und legte graziös den Kopf schief. „Das wollten wir noch euch beide fragen.“ Ariane wandte sich erst Susanne und dann Carsten zu. „Kann man jemandem Energie geben?“ Susanne ergriff als erste das Wort. „Ja, kann man.“ Ariane wandte sich wieder ihr zu. „Wie denn?“ „Nun ja…“, Während Susanne überlegte, legte sie ihren schlanken Zeigefinger auf die Lippen. Schließlich erklärte sie: „Energietransfusion geht eigentlich nur, wenn zwei Wesen die gleiche Energie beherrschen. So ist das auch zwischen uns und den Dämonen, wenn wir ihre Energie anwenden. Auch wenn wir das nicht merken. Wenn wir mitten in einem Kampf sind und das Gefühl haben, keine Kraft/ Energie mehr zu haben, können wir noch auf diese Möglichkeit zurückgreifen. Allerdings muss der Dämon, also der Sender, das einleiten. Wir können nur um Energie bitten.“ „Was?!? Dann könnte mich der Schwarze Löwe einfach so wieder mit Energie versorgen, wenn ich einen Anfall hatte?!? Warum hat er es dann nie gemacht?!? Was für ein egoistisches Vieh!“ Wütend war Laura aufgesprungen, sodass die Tassen und Teller klirrten und ein Teil von Carstens Kaffee überschwappte. Anschließend setzte sie sich, nun in Rage versetzt, wieder hin. „Aber der Sender muss nicht unbedingt ein Dämon sein, oder?“, vergewisserte sich Ariane, Lauras zornigen Kommentar ignorierend. „Also, erst mal zu dir Laura, ich glaube, dass der Schwarze Löwe das nicht nicht macht, weil er egoistisch ist, sondern weil es ein Hindernis ist, das du irgendwie überwinden musst. Er will wissen, wie du mit lebensbedrohlichen Sachen klarkommst. Das ist eine Art Test, da bin ich mir ganz sicher.“, erklärte Susanne ruhig. Laura seufzte. „Wow, da fall ich haushoch durch.“ „Und zu deiner Frage, ja, auch Lebewesen wie wir es sind können das, wenn wir dieselbe Energie beherrschen.“ „Warum interessierst du dich denn für so was?!?“, fragte Öznur, die nun auch neugierig geworden war. Ariane ignorierte Öznurs Frage und wandte sich nun Laura zu. „Wenn das eine Prüfung oder so ein anderer Unsinn ist, warum hat dir der eiskalte Engel dann geholfen?“ Lauras Wangen färbten sich bei Arianes Frage purpurrot. „Ich weiß nicht…“ Nun war es für Carsten mehr als eindeutig. „Benni hat dir Energie gegeben.“ Und nun war auch Lauras gesamtes Gesicht wie in diese Farbe getaucht. Öznur stieß durch ihre Zähne einen Pfiff aus. „Habt ihr nicht immer gemeint, der ‚eiskalte Engel’ wäre egoistisch? Mir kommt das nicht so vor.“ Anne gab ein Geräusch von sich, das eine Mischung aus Schnauben und Zischen war. „Der hat garantiert irgendeinen andern Grund dafür, als ‚Oh nein, Laura leidet so sehr, ich muss ihr helfen und koste es mein Leben’.“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Vielleicht etwas zu schnulzig ausgedrückt, aber ich finde schon, dass es möglich ist.“ Carsten seufzte. „Leider hat er einen anderen Grund gehabt.“ Ariane stöhnte auf. „Nee, oder?“ „Ha! Ich wusste es doch, er ist halt egoistisch!“ Anne lächelte selbstzufrieden. Carsten schüttelte den Kopf. „Das jetzt auch nun wieder nicht.“ Bennis Tat war so etwas, wie eine Antwort auf seine Sorge vor einigen Minuten. „Nun hat Laura genug Energie, dass sie nach einigen Teleportationen nicht gleich wieder so fertig ist. Da wird dann auch der Schwarze Löwe nichts dagegen haben, immerhin ist es Bennis Aufgabe als Dämonengesegneter die Dämonenverbundenen vor Schaden zu schützen. Auch in dieser Hinsicht.“ Ariane stöhnte auf. „Stimmt, dieses Problem gibt’s ja auch noch. Und Laura hat aber jetzt genug Energie?“ Carsten schüttelte den Kopf. „Jeder hat sein Maximum. Man kann nur eine bestimmte Menge an Energie haben, aber so ist Lauras Vorrat komplett voll und jedenfalls die nächste Teleportation übersteht sie ohne Probleme.“ „Praktisch.“, war Annes einziger Kommentar. Ohne ein weiteres Wort gab sie ihr Geschirr einer Elfe, die vorbei flatterte. Auch Ariane wollte ihres abgeben, doch die Elfe streckte ihr die Zunge raus und stellte den Teller und die Tasse auf ihrem Kopf ab. Die Mädchen brachen in schallendes Gelächter aus, wie sonst auch, wenn Ariane von einem magischen Wesen getriezt wurde. Ariane schnaubte und nahm ihr Geschirr von ihrem Kopf herunter. „Dann bringe ich es halt selbst weg.“ Beim Weggehen murmelte sie noch etwas von ‚verdammten Viechern, warum immer ich?’. Janine rückte zögernd ihren blauen Haarreif zurecht, den sie eigentlich nur trug, weil sie ihn zu mögen schien, da ihr dichtes Pony immer noch über ihre Augenbrauen fiel. „Arme Nane, warum sind die immer so gemein zu ihr?“ Anne zuckte mit den Schultern. „Ist doch eigentlich egal, solange es was zum Lachen gibt.“ Öznur seufzte. „Okay, das nenn ich mal egoistisch…“ Wieder gab Anne ihr schlangenartiges Zischen von sich. Öznur verdrehte die Augen und wandte sich Carsten zu. „Noch eine Frage: Schaffen wir das alles überhaupt in zwei Tagen?“ Carsten nickte. „Das dürfte kein Problem werden. Benni kennt neben meinem Bruder und diesem Jungen hier in Cor noch zwei weitere Dämonenbesitzer persönlich. Nur bei dem in Terra wird es schwer…“ „Das heißt also einfach nur den Leuten einen Besuch abstatten.“, bemerkte sie. Anne schnaubte. „Wenn der eiskalte Engel schon zu etwas nützlich ist, könnte er die, die er kennt doch einfach anrufen und die Sache hat sich geklärt. Warum also der ganze Aufstand?“ „Damit wir sie persönlich kennenlernen. Es nützt nichts, wenn du mit jemandem kämpfst, wenn du davor noch nie ein Wort mit ihm gewechselt hast.“, antwortete Susanne an Carstens Stelle. Anne erhob sich. „Na dann lasst uns das schnell hinter uns bringen.“   Wie vor einigen Tagen traf sich die Gruppe im Südwald, außerhalb der Coeur-Academy. „Warum gehen wir eigentlich hier hin?“, fragte Janine zögernd. An Carstens Stelle erklärte Susanne es. „Weil über dem Campus der Coeur-Academy ein Schutzzauber ist, damit keine Magie rein oder raus kommt. Bezweckt ist eigentlich das Zurückhalten böser Mächte. Und hier im Wald fällt ein Teleport nicht so sehr auf, wie mitten auf einer Straße. Ist es so richtig?“ Abwesend nickte Carsten. Bei dem Gedanken daran, dass er nach sechs Jahren wieder nach ‚Hause’ kam, sträubten sich ihm die Nackenhaare. Ihm war nicht wohl dabei. Natürlich gab es auch in Indigo Leute, die Carsten viel bedeuteten und die er sehr vermisst hatte. Aber dort waren eben auch… Carsten ergriff mit schwacher Stimme das Wort. „Na gut, dann stellt euch wieder in einem Kreis auf.“ Die Kreisbildung ging mittlerweile recht flott und sogar Chip saß auf Bennis Schulter, wie Carsten noch bemerkte, bevor er mit zitternder Stimme den Zauber sprach, der sie nach Indigo brachte. Er sah weder den hellen Lichtkreis noch sonst was von der Teleportation, bis er schließlich die Augen öffnete und vor Karibera, der ‚Hauptstadt’ Indigos stand. „Das ist doch ein Witz, oder? So sieht doch keine Stadt aus.“, meinte Öznur kritisch. „Indigo besteht auch nur aus kleinen Indigonerstämmen, die die Größe von Dörfern haben. Karibera ist zwar nicht das größte Dorf, aber dennoch das bedeutendste.“, erklärte Susanne. „Schwesterherz: Du liest zu viel.“ Lissi warf sich die schwarzen, gelockten Haare zurück und stolzierte als Erste in das Dorf, gefolgt von Öznur, Ariane und Janine. Laura musterte Carsten kritisch. „Willst du dir das wirklich antun? Du siehst nicht gerade motiviert aus.“ Carsten setzte ein gequältes Lächeln auf. „Das sagt die Richtige. Geht es dir auch wirklich gut?“ „Alles in Butter.“, meinte sie, zwar selbst nicht sonderlich motiviert aber immerhin klang sie noch lebendig und stand auf ihren eigenen Beinen. Das war schon mal etwas. Susanne lächelte ihn aufmunternd an. „Wenn dein Bruder tatsächlich gegen dich vorgeht, muss er mit uns allen fertig werden.“ „Und das soll mich jetzt aufheitern?“, fragte Carsten und würde am liebsten auf der Stelle Reißaus nehmen. Susanne lächelte seufzend und schüttelte den Kopf. „Lasst uns gehen…“ Karibera erinnerte eigentlich eher an ein mittelalterliches Dörfchen, nur mit bunten Tipis anstelle von Häusern, die aber trotz der kalten Jahreszeit wärmer waren, als man eigentlich erwarten würde. Sie kamen an Koppeln vorbei und sahen hin und wieder einige Indigoner in der verschneiten Traumlandschaft arbeiten oder sich um ein Feuer versammeln, um gemeinsam zu frühstücken. Das Dorf hatte keinen geordneten Aufbau, nur in der Mitte war ein freier Platz, in dessen Mitte wiederum der Marterpfahl mit einem stolzen Adler als krönenden Abschluss stand. Die Indigoner, denen sie begegneten, würdigten der Gruppe nicht eines Blickes, einige schauten sogar so eindeutig weg, dass es schon auffallend unfreundlich wirkte. „Sollten sie dich nicht normalerweise etwas herzlicher empfangen, wenn du ein Sohn des Häuptlings bist?“, fragte die schüchterne Janine mit gesengter Stimme. Carsten seufzte. „Das ist eine komplizierte Geschichte. Ein anderes Mal, okay?“ Sie waren inzwischen an einem großen Haus am Ortsrand angekommen. Es bestand zwar nur aus Holz, doch es hatte trotzdem irgendwie etwas Herrschaftliches an sich, das man nicht definieren konnte. Die Tür des Hauses wurde aufgerissen und ein junges Mädchen, etwa dreizehn Jahre alt, kam herausgestürmt. „Da bist du ja!!!“, rief sie begeistert und rannte direkt an Carsten vorbei und wollte Benni um den Hals fallen, der sie allerdings unsanft von sich fern hielt. „Sag mal, was machst du da?!? Geh weg von ihm!“, drohte Laura ihr erschrocken und verärgert zugleich. Carsten hätte am liebsten laut losgelacht. Zwar war Laura fast so schüchtern wie er selbst, doch kaum kam jemand Benni zu nahe, fuhr sie die Krallen aus. Als könnte sich dieser nicht selbst gut genug verteidigen… Das Mädchen streckte ihr die Zunge raus. „Als würde mein Benni auf Rothaarige mit so wenig Sexappeal wie dich stehen.“ Ein weiteres Mal lief Laura purpurrot an, brachte aber kein Wort hervor. „Es reicht, Sakura.“ Carsten wollte seiner kleinen Schwester ihr dreistes Verhalten klarmachen, doch sie winkte nur mit einer Handbewegung ab. „Du hast hier gar nichts zu melden.“ Frustriert biss sich Carsten auf die Unterlippe. In den sechs Jahren hatte sie sich zu einem kleinen Biest entwickelt. Als wäre Eagle alleine nicht schon schlimm genug… „Sakura, es reicht. Komm wieder ins Haus und lass deinen Bruder und seine Freunde in Ruhe!“ Aus dem Holzhaus trat eine Frau, etwa Ende dreißig, und blickte das Halbindigonermädchen mit einem befehlenden Mutterblick an. „Na toll, das ist mal wieder typisch. Kaum ist der da wieder da, bekomme ich wieder Ärger!“, rief sie entrüstet und rannte an ihrer Mutter vorbei, zurück in das Haus. Diese seufzte kopfschüttelnd. „Entschuldigt, manchmal ist sie halt so. Die Pubertät hat sie momentan leider voll im Griff.“ Carsten schnaubte. „Merkt man. So verrückt nach Benni war sie noch nie.“ Hinter ihm brachen einige der Mädchen in nicht enden wollendes Gelächter aus, auch seine Mutter grinste verstohlen. „Na was soll’s. Es ist schön, zu sehen, dass es dir gut geht. Mein Name ist übrigens Saya, freut mich, euch kennen zu lernen.“ Neben ihm funkelte Laura Saya vorwurfsvoll an. „Sie finden es schön?!? Ich glaube, es würde Carsten noch besser gehen, wäre er nicht im FESJ gewesen!“ Ariane stemmte die Hände in die Hüften und stellte sich neben Laura. „Genau! Was sind Sie eigentlich für eine Mutter, die ihr Kind nicht in Schutz nimmt?!?“ Betroffen wich Saya den erzürnten Blicken der Mädchen aus, wusste allerdings nichts auf diese Anschuldigungen zu erwidern. Beruhigend legte Carsten seine Hand auf Lauras Schulter. Er wollte nicht, dass Saya in eine so unangenehme Situation gebracht wurde. Schließlich hatte sie viel für ihm getan und ihm so viel Schönes ermöglicht. Sie war die einzige in seiner Familie, die ihm wahrhaftige, bedingungslose Liebe entgegengebracht hatte. Die immer versucht hatte für ihn da zu sein, selbst wenn es häufig nicht gerade einfach war. „Bitte, Laura. Du weißt, dass Saya nichts dafür kann, was geschehen ist. Und abgesehen davon hat das alles auch etwas Gutes. Wäre ich nicht dort gewesen, wäre ich möglicher Weise nie zu euch auf die Coeur-Academy gekommen.“ Ein schwaches Lächeln erschien auf Sayas Lippen. „Du musst mich nicht in Schutz nehmen, Carsten. Auch wenn ich es wirklich sehr zu schätzen weiß…“ „Wie meinst du das mit: ‚Nicht auf die Coeur-Academy gekommen’?“, platzte Öznur dazwischen. „Indigo ist eine sehr unabhängige Region. Auch was die Schulausbildung betrifft, kümmern sie sich selbst darum.“, erklärte Saya. „Das heißt hier gibt es noch mehr Magier und Kampfkünstler?“ Anne musterte die Frau, die da auf dem Ende der Treppe stand kritisch. Saya nickte. „Sehr viele sogar. Nahezu jede Familie in Indigo hat mindestens ein Mitglied, das Kampfkünstler ist. Magier hingegen sind hier sehr, sehr selten. In Karibera gibt es beispielsweise nur zwei Magier und einer davon ist Carsten selbst.“ Janine zwirbelte an einer Strähne. „Aber wenn Magier hier so selten sind, dann ist doch Carsten etwas ganz Besonderes.“ Saya lächelte Carsten an. „Ja, das ist er. Aber die Anderen sehen das nicht.“ Laura schnaubte. „Dann sollten die mal die Augen aufmachen.“ Nun lachte Saya. „Kommt doch erst einmal rein und legt eure Sachen ab.“ Dankbar dafür, der Kälte endlich zu entkommen, folgten sie Saya in das große Haus. Carsten merkte sofort, wie Benni sich begann unwohl zu fühlen, obwohl er kaum über die Türschwelle getreten war. Als sie Kinder waren, war er sehr oft zu Besuch gewesen. Doch das Haus hatte er nie betreten wollen. Der Grund war die ganzen Tierfelle, die als Teppich dienten, die ausgestopften Tierköpfe, die zur Zierde an den Wänden hingen und so weiter. Carsten hatte sich immer vor ihnen gefürchtet, aber Benni trauerte eher darüber, dass manche Wesen ihr Leben lassen mussten, um Dekoration zu sein. „Krass…“, meinte Öznur, als sie einen ausgestopften Rehkopf musterte. Chip, der mal wieder auf Bennis Schulter saß, gab einen Laut von sich, der einem Weinen ähnelte. „Ich weiß… barbarisch.“, gab Benni ihm Recht. Anne stöhnte. „Sieh einer an, der Eiskalte Engel hat also ein Herz für Tiere.“ Benni ignorierte ihren Kommentar. Betroffen wandte sich Janine an Saya. „Ich dachte Indigoner würden mit den Tieren zusammenleben und sie nicht als Dekoartikel benutzen…“ Saya seufzte. „Das ist eigentlich auch so, aber leider haben Eagle und sein Vater eine Vorliebe für die Jagd und da kommt so einiges zusammen.“ Dieses Mal klang Chips Quietschen empört und verärgert. Saya führte sie im Haus herum und die Gruppe stellte ihre Rucksäcke, beziehungsweise Lissis Koffer in Carstens Zimmer im ersten Stockwerk ab. „Ich muss schon sagen, du hast es schön hier.“, meinte Öznur. „Du meinst wohl, abgesehen davon, dass ich sechs Jahre lang nicht mehr hier war. Wo sind meine Bücher?!?“ Leicht verärgert wandte sich Carsten an Saya. Er hatte sehr viel gelesen, doch nun war sein Zimmer bis auf die Möbel plötzlich komplett leer geräumt. Außer der Schreibtischlampe und dem Computer war nichts geblieben. Sayas Mimik wurde entschuldigend. „Auf dem Dachboden... Für die sechs Jahre wurde dein Zimmer als Gästezimmer für Eagles und Sakuras Freunde benutzt.“ Ariane schlug sich mit der Hand auf die Stirn. „Als Gästezimmer?! Das kann doch nicht wahr sein. Was für eine Familie…“ „Na super.“, kommentierte sogar Anne wenig begeistert. „Und jetzt müssen wir also zu deinem Erzfeind.“ Saya wusste natürlich sofort, wer damit gemeint war. „Eagle müsste auf dem Sportplatz sein.“ Wo denn sonst? Fragte sich Carsten. Er wollte dort nicht hin. Es war schön Saya nach all dieser Zeit wiederzusehen, aber bitte nicht Eagle. Bitte! Carsten bezweifelte, dass sich sein großer Bruder in den letzten sechs Jahren sonderlich verändert hatte. Zumindest was sein Verhalten ihm gegenüber anging. Gepresst atmete Carsten aus. Erst jetzt bemerkte er, wie angespannt sein Körper eigentlich war, seit sie in Indigo angekommen waren. Das war nicht einfach nur Nervosität. Das war Angst. Eine Angst, die sich in all der Zeit schon so unterschwellig in ihm festgesetzt hatte, dass sie zu einem steten Begleiter für Carsten geworden ist. Und jetzt trat sie langsam an die Oberfläche. So langsam und schleichend wie ein Raubtier, das sich an seine Beute pirschte, mit dem Ziel diese zu verschlingen. „Na dann auf geht’s!“, rief Öznur viel zu motiviert für seinen Geschmack aus. Carsten schluckte schwer, versuchte das erdrückende Gefühl irgendwie weg zu atmen. Er wollte nicht… Er konnte das nicht. Da ergriff plötzlich jemand seine rechte Hand. Überrascht bemerkte er, wie Laura mit einem liebevollen und doch entschlossenen Blick zu ihm aufschaute. „Wir passen auf dich auf.“ Die restlichen Mädchen schienen es noch nicht einmal bemerkt zu haben, da sie bereits das Zimmer verlassen hatten. Dafür legte sich für einen kurzen Augenblick eine weitere Hand auf seine Schulter. Carsten wandte sich um und sah, wie Benni seinen Blick beim Vorbeigehen kurz mit einem schwachen Nicken erwiderte, als wolle er Lauras Worte unterstreichen. Und tatsächlich, als er sich der Nähe der beiden bewusst wurde, löste sich dieses erdrückende Gefühl um seine Brust wieder etwas. Wenn Benni und Laura bei ihm waren gab es keinen Grund, Angst zu haben. Denn er war nicht allein.   Der Sportplatz war der einzige nicht schneebedeckte Ort weit und breit und zerstörte damit die winterliche Atmosphäre. Egal wo man hinsah, man konnte Indigoner und Indigonerinnen beim Trainieren beobachten. Sein Bruder war nicht schwer zu finden, er kam bereits auf sie zu. Carsten musste sich eingestehen, Eagle sah schon gut aus und hatte auch noch einen sehr hohen Stand. Da war es kein Wunder, dass sich die Mädchen auf dem Platz zu ihm umdrehten. Doch im Gegensatz zu Benni lächelte er ihnen freundlich zu wenn sie ihn riefen und erwiderte ihren Gruß. Er war immerhin so etwas wie ein ‚Traumtyp’ oder wie die Mädchen das nannten. Groß, breitschultrig und muskulös. Seine fast so langen Haare wie Lauras waren pechschwarz und zu einem straffen Pferdeschwanz zusammengebunden. In seinen bernsteinbraunen Augen erkannte man, dass er aus gutem Hause war, und dennoch wirkte er trotzdem wie ein typischer Indigoner wirken sollte. Nicht so wie Carsten, sondern unbezwingbar und wild. „Na sieh einer an, da kommt ja unser Schlachtlamm.“, sagte er mit seiner tiefen, provozierenden Stimme, der immer eine zweite Stimme wie ein kaum hörbares Echo folgte. Sofort umgab die beiden Brüder eine unbeschreibliche Aura des Hasses und der Feindschaft. „Ha, ha. Sehr witzig. Lass Carsten in Ruhe.“, fauchte Laura in die an sich schon geladene Atmosphäre. Doch als Eagle ihren Blick erwiderte, lächelte er sie ungezwungen an. „Schön, dass jedenfalls du da bist. Hast du mich vermisst?“ Laura schnaubte. „Garantiert nicht.“ „Hey du, wir wollten dir eigentlich den Weltuntergang prophezeien.“ Öznur drängte sich regelrecht zwischen ihn und Laura, um verhindern zu können, dass Laura Eagle mit ihren Blicken tötete. Oh ja, bei Eagle konnte selbst Laura so etwas. Eagle hob eine Augenbraue und musterte Öznur von Kopf bis Fuß. Schließlich sagte er: „Klingt interessant. Dann prophezeit mal schön.“ Nun musste sich Carsten eingestehen, dass der Junge, der da vor ihm stand doch irgendwie schon erwachsen geworden war. Mit einer knappen Geste bedeutete er ihnen, ihm zu folgen und auf einem der Tierfelle Platz zu nehmen. Wie schon erwartet hielt Benni seinen Sicherheitsabstand von mindestens einem Meter ein und blieb auf der Wiese stehen. Doch auch Janine setzte sich nur widerwillig auf das Fell und streichelte es, als würde sie auf einem lebenden Tier sitzen. „So, da bin ich mal gespannt.“ Fragend sah Eagle einen nach dem anderen an, mal freundlich, mal weniger freundlich. Schließlich begann Susanne. „Wir sind der Annahme, dass sich etwas Großes, Böses zusammenbraut. Vor etwa einer Woche wurde in Jatusa ein junger Dämonenbesitzer entführt. Zwar konnte Benni ihn aus den Fängen von Lauras Cousin retten, aber scheinbar war im Hintergrund eine noch viel stärkere Macht am Werk, die sogar Energie verwendet. Also haben wir Eufelia-Sensei um Rat gefragt. Sie meinte, wir müssen die Verbindung zu unseren Dämonen und den anderen Dämonenbesitzern stärken, um es mit dieser Macht aufnehmen zu können.“ Eagle hatte ihrer kurzen Zusammenfassung ruhig zugehört, lediglich bei Benni hatte er einmal spöttisch das Gesicht verzogen und dafür einen vorwurfsvollen Blick von Laura geerntet. „Das heißt also, ihr braucht meine Hilfe.“ Anne gab ihr typisches Zischen von sich. „Leider Gottes sollten wir diese Macht halt nicht unterschätzen.“ Wieder hob Eagle eine Augenbraue und musterte Anne. „Dich kenn ich doch, du bist doch die Tochter von Sultana, der Herrscherin von Dessert. … Weißt du eigentlich, was für einen komischen Namen eure Region hat?“ „Halt die Fresse.“, fuhr Anne ihn an. Erstaunlich ruhig für seinen eigentlich stürmischen Charakter zuckte Eagle mit den Schultern. „Wollte es nur endlich sagen. Vielleicht streicht ihr mal das eine ‚s’.“ Ariane begann zu lachen. „Wieso denn? Mir ist der Name sympathisch.“ „Leute, das ist doch jetzt egal. Also hilfst du uns nun, die Welt zu retten, oder nicht?“, meldete sich Öznur zu Wort. Eagle zuckte mit den Schultern. „Warum denn? Ihr habt doch schließlich schon den stärksten Kämpfer Damons auf eurer Seite.“, meinte er sarkastisch und warf Benni dabei einen hasserfüllten Blick zu, den dieser mit seiner typischen ausdruckslosen Miene erwiderte. „Der alleine wird nicht reichen. Wenn nicht jeder mithilft, wird das der Untergang Damons sein.“, widersprach Ariane. „Und außerdem ist es die Pflicht eines zukünftigen… Häuptlings, sein Volk vor Unheil zu bewahren.“, fügte Laura hinzu. Eagle schien einen Moment nachzudenken und gab sich schließlich seufzend geschlagen. Jedenfalls fast. Mit einer einzigen, blitzschnellen Bewegung war er aufgestanden, hatte sein Schwert gezogen und es auf Benni gerichtet. Öznur war die einzige, die aufschrie, der Rest schien wie erstarrt. Carsten seufzte innerlich. Eagle hatte sich doch kein bisschen verändert. „Unter einer Bedingung.“, sagte er mit seiner tiefen Stimme. „Ich will gegen dich kämpfen.“ Gleichgültig zuckte Benni mit den Schultern, aber seine Stimme klang genervt, als er antwortete: „Wenn’s sein muss.“ Kurz darauf wurde einer der Kampfplätze in atemberaubendem Tempo geleert und alle möglichen Leute versammelten sich als neugierige Zuschauer um den Kampfring. „Ich versteh das nicht. Warum fordert dein Bruder ausgerechnet den eiskalten Engel heraus? Ist der völlig von allen guten Geistern verlassen?“, fragte Ariane, die neben Carsten in der ersten Reihe stand. „Das sowieso.“, meinte Carsten. „Aber Eagle ist es gewohnt, immer der stärkste zu sein und deswegen versucht er immer gegen Benni zu gewinnen, um sich den Titel als stärkster Kämpfer Damons zu verdienen, aber ohne Erfolg. Dummer Weise geht es hierbei ums Kämpfen, das heißt, dass die Kraft der Dämonen dabei verboten ist.“ Ariane legte den Kopf schief. „Aber der eiskalte Engel darf doch dann auch nicht die Kraft des Schwarzen Löwen und andere Energien einsetzen.“ Carsten lächelte. „Das macht Benni ja auch so gut wie nie.“ Ariane hob beide Augenbrauen. „Respekt. Warum nicht? Macht er sich es extra jedenfalls ein bisschen schwerer?“ „Nein“, antwortete dieses Mal Laura. Ihre Stimme klang traurig. „Es ist, weil Benni sein Dasein als Dämonengesegneter regelrecht hasst…“ „Er hat mir sogar erzählt, dass es ihn ärgert, dass er sich die ganze Kraft noch nicht einmal selbst verdienen konnte. Deswegen ist er ja auch so ehrgeizig. Er will die Macht des Schwarzen Löwen nicht, um als stark zu gelten.“, ergänzte Carsten. Benni würde ihn dafür später sicher noch umbringen. „Das hat schon irgendwie etwas Ehrenhaftes an sich…“, überlegte Ariane, schüttelte dann aber den Kopf. „Ich kapier den einfach nicht.“ Inzwischen war Anne in der Rolle des Schiedsrichters auf den freien Platz getreten. Mit den Händen lässig in den Hosentaschen begann sie zu erklären: „Na schön, wir haben uns hierbei auf ein simples Trainingsduell geeinigt. Derjenige, der zuerst ‚handlungsunfähig’ auf dem Boden liegt hat verloren, mehr nicht.“ In gedämpfter Lautstärke, so dass es nur die, die in ihrer direkten Nähe standen verstehen konnten, murmelte Anne noch: „Ein Kampf auf Leben und Tod wär spannender gewesen…“ Dieser Ansicht schienen auch Benni und Eagle zu sein, denn niemand sah so aus, als würde es ihm was ausmachen, sein Gegenüber ins Reich der Toten zu verfrachten. Auch wenn Benni doch eher lustlos statt mordlustig wirkte. Eagle trug wie vorhin sein graues Muscleshirt und eine Jogginghose, Benni hatte lediglich seinen langen Mantel und den Kapuzenpulli ausgezogen und trug das für ihn typische schwarze T-Shirt und seine schwarze Jeans. Während Laura begann an ihren Nägeln zu kauen -Carsten fragte sich, wie man bei so einem Kampf überhaupt aufgeregt sein konnte- stellten sich die Widersacher gegenüber auf den Kampfplatz. Die höfliche Verneigung, die es normalerweise vor jedem dieser Trainingskämpfe gab, ignorierten sie höflich und Anne machte sofort die dramatische Ansage zum Kampfbeginn: „Achtung, fertig, los!“ Wie Carsten es nicht anders erwartet hatte, war der Kampf nach wenigen Sekunden bereits entschieden. Er bestand lediglich aus drei Bewegungsabläufen. Den ersten führte Eagle aus. Mit einer Blitzgeschwindigkeit hatte er sein Schwert gezogen, stürmte auf Benni los und holte zum Schlag aus. Der zweite kam von Benni, der in einer einzelnen fließenden Bewegung duckend Eagles Schlag auswich und nach einer halben Drehung diesem seine Rückhand auf die Wirbelsäule schlug. Der dritte kam wiederum von Eagle, der besiegt zu Boden stürzte. Anne griff wieder das Wort auf. „Der ach so spektakuläre Kampf ist vorbei. Der Sieger ist der eiskalte Engel.“ Die herumstehenden applaudierten zu Bennis Sieg, aber niemand ging überhaupt zu ihm, um ihm zu gratulieren. Dieser Ausgang des Kampfes stand schon die ganze Zeit fest, auch die anderen Indigoner kannten den Sieger bereits, bevor der Kampf überhaupt begonnen hatte. Trotzdem war Laura natürlich sofort -und auch als einzige- losgestürmt. „Super Benni!“, rief sie, doch sie war ihm keine fünf Schritte näher gekommen, als ein seltsamer Strahl sie vom Boden riss und problemlos zehn Meter weit weg schleuderte, in die noch gerade so ausweichende Menge hinein.  „Fass meinen Benni nicht an, du kleine Schlampe!“ Sakura kam zum Platz gestapft mit einem verschnörkelten Holzstab in der Hand. „Deinen?! Ich hab mich wohl verhört, Kleine!“, kam nun auch Lissi dazu. Carsten musste mal wieder innerlich seufzen. Das kann doch nicht wahr sein… Da fiel sein Blick auf den Stab, den Sakura umklammert hielt. „Das ist ja mein Zauberstab! Hattest du ihn etwa die ganze Zeit, während ich weg war?!?“ Sakura nickte zufrieden. Carsten fluchte in seinen Gedanken. „Kann ich ihn wiederhaben?“ Sein Stab war spurlos verschwunden, kurz bevor er im Militärinternat gelandet war. Obwohl er damals noch viel zu klein dafür gewesen ist, war es ein Geschenk seiner Großmutter an ihn gewesen. Das besondere daran war, dass es sich um eine so genannte ‚Dämonenwaffe’ handelte. Also eine Waffe die eigentlich nur von Dämonenverbundenen benutzt werden konnte. Sie war das einzige im Familienbesitz, das Eagle nicht an sich reißen konnte, da dieser kein Magier war. Da hatte Carsten endlich mal nicht den Kürzeren gezogen. Dass Sakura nun den Stab in ihrem Besitz hatte, war eine größere Bedrohung für Damon, als diese mysteriöse Gestalt, hinter der die Dämonenbesitzer nun her waren. „Willst du etwa die schöne Glitzerkugel auf dem Stab haben? Typisch Krähen! Klauen alles was glitzert und funkelt. Stimmt’s ‚Crow’?“, alberte sie. Öznur warf ihm einen verwirrten Blick zu. „Crow?“ Carsten seufzte. „Mein Zweitname…“ Laura, die sich in der Zeit wieder aufgerappelt hatte, überlegte laut. „Ich dachte, Elstern seien die Diebe…“ Carsten stöhnte auf. „Kann ich jetzt endlich meinen Stab wiederhaben?“ „Nö!“ „Sag mal…“ Carsten ging auf seine kleine Schwester zu und wollte sie packen, doch die rannte einfach vor ihm weg. Wenn ich ihr jetzt hinterherlaufe, blamiere ich mich bis auf die Socken… Verdammtes Kind! Magie konnte er auch nicht anwenden, denn die einzigen Sprüche, die ihm eben einfielen, würden Sakura töten. Und so genervt er auch von ihr war: Dafür standen viel zu viele Zeugen um ihn herum. Und er war lange genug im Gefängnis gewesen… Carsten stöhnte auf. „Sakura!“ Schließlich gab er sich dann doch geschlagen und warf Benni einen hilfesuchenden Blick zu. Wenn die Hormone dieses Mädchens durch die Pubertät schon verrückt spielten, konnte man das doch zumindest auch zu seinem Vorteil nutzen. Dessen war sich auch Benni bewusst. Und der kurze Moment, in welchem er Carstens Blick erwiderte, bezeugte dass er alles andere als begeistert davon war. Seufzend ging in die Hocke. „Sakura?“ „Jaaaaaa???“ Sakura war sofort bei Benni. „Kann ich den Stab haben?“, fragte er trocken und machte sich noch nicht einmal die Mühe, seine Stimme zumindest etwas sanfter klingen zu lassen. „Sicher!“ Voller Begeisterung drückte sie ihm den Stab in die Hand. Wortlos richtete sich Benni wieder auf und reichte ihn an Carsten weiter. Sakura beschwerte sich noch nicht einmal. Zumindest hatten die Mädchen wieder was zu lachen… Da kam Saya an. „Wenn ihr wollt, könnt ihr alle noch zum Essen bleiben. Der Häuptling würde sich sehr freuen, euch Dämonenbesitzer kennen zu lernen.“ „Au ja! Ich bin am verhungern!“, rief Ariane begeistert und folgte Saya gemeinsam mit Anne, Susanne, Lissi und Janine zurück zum Haus. „Hey, Grauer Adler-Typ“, sprach Öznur Eagle an. „Was?“, fragte dieser, schon längst wieder auf beiden Beinen stehend. „Hilfst du uns nun, oder nicht?“ Eagle seufzte. „Muss ich wohl.“ Mit diesen Worten ging auch er zurück. „Er ist irgendwie komisch…“, überlegte Öznur, nachdem Carstens Bruder außer Hörweite war. „Nicht nur irgendwie. Der ist ein richtiger Vorzeigeidiot.“, meinte Laura verärgert. Öznur zuckte mit den Schultern. „So schlimm ist er jetzt auch nun wieder nicht. Aber kann es sein, dass er dich mag?“ Trotzig verschränkte Laura die Arme vor der Brust und warf Benni einen flüchtigen Seitenblick zu, aber eindeutig zu ihrem Ärgernis hatte dieser wie immer sein Pokerface. „Kann sein, aber ich will mit dem Depp nichts zu tun haben. Es ist schon bescheuert genug, dass er uns helfen muss.“ Wieder zuckte Öznur mit den Schultern und sie und Laura gingen auch zurück zum Haus, darüber diskutierend, wie schrecklich Eagle jetzt eigentlich war. Ebenso machten sich Carsten und Benni auf den Weg, nachdem sich dieser wieder seinen Kapuzenpullover übergezogen und den Mantel vom Rasen genommen hatte. „Was sollte das vorhin?“, fragte Benni Carsten mit seinem kalten, Angst einjagenden Unterton, den er so gut draufhatte. „Was?“ Das hätte sich Carsten sparen können, er wusste was Benni meinte. Entsprechend wartete Benni bloß schweigend. Schließlich antwortete Carsten: „Die Mädchen haben ein Recht darauf, zu wissen, was mit dir los ist. Immerhin sollen wir eine Gemeinschaft sein, die sich gegenseitig vertrauen kann.“ Bennis Ton war zwar immer noch ruhig, aber Carsten hatte schon so viel Übung darin, seine Gefühle zu erkennen, dass er den Ärger in seiner Stimme hören konnte. „Kann ich dir dann vertrauen?“ „Ich hab nicht vor, ihnen alle deine Geheimnisse zu erzählen! Aber einiges müssen sie schon wissen!“, verteidigte sich Carsten, da Bennis Kommentar ein offensichtlicher Angriff gegen ihn war. Nun war Bennis Stimme wieder vollkommen beherrscht. „Es gibt nichts, was sie wissen müssen.“ Seufzend lies Carsten das Thema stehen. Es hatte sowieso keinen Sinn, Benni irgendetwas klar machen zu wollen. Er war so stur wie eh und je.   Eine Weile später saßen alle an einer riesigen, hufeisenförmigen Tafel im großen Esssaal von Carstens Familie. In der Mitte saß Chief, Carstens Vater. Rechts von ihm Eagle und links Saya. Neben Saya saß Sakura und Carsten hatte natürlich das Pech, genau neben Eagle zu landen. Neben Carsten waren Benni, dann Laura, Ariane und Janine. Auf der anderen Seite Lissi, Susanne, Öznur und Anne. Schließlich erhob sich Chief. „Ich bin hoch erfreut, heute euch sieben junge Dämonenbesitzerinnen empfangen zu dürfen. Ich habe euch nicht grundlos eingeladen. Es ist mir wichtig euch zu versichern, dass ihr immer auf die Unterstützung Indigos zählen könnt. Solltet ihr Zuflucht brauchen, gewähren wir euch Schutz. Solltet ihr kämpfen, stehen wir mit Indigos Kriegern an eurer Seite. Unsere Region hat sich sehr lange von dem Rest Damons abgeschottet und euresgleichen hat darunter am meisten gelitten. Der heutige Tag soll eine Kehrtwende einleiten. Niemals mehr soll sich Vergangenes wiederholen. Seht dies nicht einfach nur als eine Ansammlung von Worten, sondern als ein Versprechen von mir an euch, im Namen ganz Indigos.“ Chief setzte sich wieder und hinterließ die Mädchen in einem unbehaglichem Schweigen. Sollten sie klatschen? Oder irgendwie sonst reagieren? „Ähm… danke schön, Herr Häuptling.“, brachte Öznur etwas planlos hervor. Chief nickte ihr ruhig und professionell zu, während Eagle ihre Reaktionen amüsiert beobachtete. „Was meint er mit Vergangenem?“, fragte Laura Carsten leise an Benni vorbei. „Die Dämonenverfolgung vor zwölf Jahren.“, erklärte er gedämpft, „Indigo ist eine sehr naturverbundene Region und hatte die Dämonen schon immer angebetet. Doch da wir aufgrund unserer eigenen Vorgeschichte durch den magischen Krieg so abgeschottet vom Rest von Damon sind, kam den Dämonenbesitzern damals keine Hilfe von Indigo entgegen. Und die Direktoren hatten es ja erzählt, kaum jemand hatte die Konfrontation mit den Dämonenjägern überlebt.“ Laura schluckte schwer. „Dann wäre es echt schön, wenn diese zugesicherte Unterstützung nicht einfach nur die leeren Worte eines Politikers sind…“ Aufmunternd lächelte Carsten sie an. „Keine Sorge, das sind sie nicht. Vertrau mir.“ Tatsächlich entlockte er Laura damit ebenfalls ein Lächeln. Währenddessen wurde bereits das Essen gebracht und außerdem Wein und andere Getränke. Carsten bemerkte, wie eine Diskussion zwischen Lissi und einer Frau begann, weil sie nicht gerade begeistert von dem Orangensaft war und lieber dieses Glas Wein hätte. Doch Alkohol bekam man in ganz Damon eigentlich erst ab sechzehn. Auch Benni beobachtete schweigend die Diskussion, wobei er eher misstrauischen Blickes auf die Angestellte schaute. „Was ist?“, fragte Carsten neugierig. „Sie kommt mir bekannt vor…“, antwortete Benni auf Indigonisch, ohne wegzuschauen. Nun warf auch Carsten besagter Frau einen Blick zu. „Stimmt, mir auch. Aber ich glaube nicht, dass ich sie vor sechs Jahren hier schon gesehen habe. Sie muss neu sein.“ Seufzend wandte sich Carsten wieder ab. „Was soll’s, du machst dir zu viele Gedanken. Jetzt guck endlich woanders hin, Laura scheint darüber nicht gerade begeistert zu sein.“ Laura konnte Carsten bei dessen Flüsterton und der anderen Sprache nicht verstehen, aber ihr Blick wanderte hin und wieder verunsichert zu Benni, bis dieser sich schulterzuckend auch endlich abwandte. Kurz darauf stellte die Frau ihm einen dieser altertümlichen Kelche mit Wein hin, da er so was schon trinken durfte, obwohl Benni noch nie etwas mit Alkohol anzufangen wusste. „Eagle, jetzt hör doch endlich mal auf zu rauchen!“, beschwerte sich Carsten, als sich sein Bruder schon die X-te Zigarette anzündete. Und das, obwohl seine Stiefmutter Ärztin war! Eagle zuckte gleichgültig mit den Schultern und ignorierte Carsten. „Ich mein’s ernst, das ist ungesund und stört! Besonders beim Essen!“, schimpfte Carsten weiter. „Eigentlich müsstest gerade du damit aufhören, als zukünftiger Häuptling!“ Nun gab Eagle doch ein gereiztes Schnauben von sich und drückte die Zigarette auf Carstens Handrücken aus. Erschrocken schrie Carsten auf und rieb sich die leicht verbrannte Stelle. „Sag mir nicht, was ich tun soll.“, drohte Eagle ihm mit seiner tiefen Stimme verärgert. Verbissen kühlte Carsten die Verbrennung auf seiner Hand mit Magie und spürte ein unliebsames Gefühl von Frust und Verzweiflung in ihm hochkommen. Er wusste ja, dass sich nichts geändert hatte. Er hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass Eagle ihm nach sechs Jahren doch irgendwie freundschaftlich oder gar brüderlich zugetan wäre. … Aber irgendwie war unterschwellig doch diese Hoffnung da gewesen. Irgendwie hatte er dennoch diesen Wunsch gehabt, dass nun, nach sechs Jahren, endlich alles anders werden würde und er zu einem richtigen Mitglied dieser Familie werden könnte. Aber selbst wenn die Hoffnung zuletzt starb… Irgendwann starb sie. Während Carsten versuchte zumindest zu verhindern, dass sich aus Verzweiflung auch noch Tränen in seinen Augen sammelten - denn damit würde er seinem Bruder eine nur noch größere Angriffsfläche ermöglichen - zündete sich Eagle schon die nächste Zigarette an. Geraucht hatte er schon, bevor Carsten im FESJ war. Aber so viele nacheinander? Nein, so krass war er nicht. „Hoffentlich erstickst du an deinem Qualm.“, meinte Benni nüchtern. Eagle wollte schon zurückschlagen, doch da sprach Chief auch schon einen kurzen Toast aus. So wie es sich gehörte, erwiderten alle Anwesenden und tranken dann genau drei Schlucke aus ihrem Kelch. Carsten hielt das schon immer für einen komischen Brauch. Nur Benni zögerte, bevor er die Höflichkeitsregeln doch noch beachtete. Wie kann man nur so misstrauisch sein? Seufzend wandte sich Carsten seinem Essen zu. Nur wenige Minuten vergingen, bis Benni neben ihm plötzlich zu Husten begann. Er räusperte sich, doch dieser Versuch war wohl nicht erfolgreich, denn der Husten wurde immer schlimmer. Besorgt klopfte Carsten seinem besten Freund auf die Schulter. „Hast du dich verschluckt?“ Doch Benni schüttelte schwach den Kopf, während sein erstickter Husten bereits an einen von Lauras Anfällen erinnerte. Das Atmen schien ihm mit einem Mal auch ganz schwer zu fallen. „Benni?! Benni, was hast du?!?“, rief Laura panisch. Scheinbar unbewusst griff sie nach seiner Hand, die so weiß wie frisch gefallener Schnee schien. Verängstigt schaute Laura zu Carsten auf und strich mit dem Daumen über Bennis Handrücken. „Er ist eiskalt…“ Zähneknirschend betrachtete Carsten, wie sein bester Freund zitterte als wäre er zuvor in eisiges Wasser gefallen. Diese Reaktion war viel zu plötzlich und intensiv. Niemand wurde von der einen auf die andere Sekunde so schlimm krank. Die Ursache musste somit irgendeine andere sein. Automatisch fiel Carstens Blick auf Bennis Kelch. Mit einem Schlag war ihm alles klar. „Benni wurde vergiftet…“ Kapitel 14: Ein Kampf ums Überleben -----------------------------------   Ein Kampf ums Überleben       Laura konnte nicht glauben, was sie da hörte. Es war, wie als würde auf einmal alles um sie herum in Zeitlupe geschehen. Bennis Husten besserte sich allmählich. Bestimmt würde er gleich die Augen aufmachen, sich über ihre Gesichter totlachen und sagen, dass das alles nur Spaß war. Aber sie wusste, das würde Benni niemals machen. Auch wenn der Husten tatsächlich schwächer wurde, bekam er immer noch so gut wie keine Luft und langsam aber sicher wurde Laura panisch. „Er muss in ein Krankenhaus!“, schrie sie Carsten verzweifelt an. Er war zwar auch nicht gerade optimistischer, dafür aber beherrschter. Ruhig schüttelte er den Kopf. „Was wollen die denn machen? Bringen wir Benni erst einmal auf mein Zimmer. Ich glaube, ich weiß die Ursache schon.“ Das konnte Laura immerhin beruhigen. Zwar ging Carsten immer auf Nummer sicher und war nie wirklich überzeugt von sich selbst, aber Laura wusste, wenn er auch nur glaubte etwas zu wissen, dann war es schon richtig. Kurz darauf waren alle Dämonenverbundenen und Saya in Carstens ehemaligem, kurzzeitig umgewandeltem Gästezimmer und jetzt wieder Carstens Zimmer. Benni hatte durch die Vergiftung starkes Fieber bekommen und erfolglos versuchte Saya seine Temperatur mit einem Kühlbeutel zu senken. Kurz darauf kamen Carsten und Susanne mit dem Ergebnis. „Und? Was für ein Gift ist es?!?“, fragte Laura und drückte Bennis trotz des Fiebers eiskalte Hand. „Das Gift einer Eisblume, wie Carsten schon prophezeit hat.“, antwortete Susanne. „Oh mein Gott!!! …Und das ist schlecht?“ Natürlich hatte Lissi keine Ahnung. „Das Gift der Eisblume bewirkt, dass das Blut im Körper gefriert. Das Fieber ist eine Abwehrreaktion, aber statt zu helfen, schadet es dem Körper nur noch mehr.“, erklärte Carsten. „Warum heilst du ihn dann nicht einfach mit irgend so einem magischen hex hex?“, fragte Anne, die Bennis Vergiftung eindeutig kalt ließ. Carsten seufzte. „Würde ich ja gerne, aber Vergiftungen kann man nicht einfach so mir nichts dir nichts wegzaubern. Ich brauche das Gegengift.“ „Und du hast natürlich rein zufälliger Weise welches da?“, fragte Öznur hoffnungsvoll. Carsten mühte sich eines Lächelns ab. „Zufälliger Weise nicht und wenn doch, dann hätte Sakura das garantiert für ihre Puppenteeparty benutzt.“ Ein Glück, dass besagtes Mädchen von Saya schon längst aus dem Zimmer gescheucht worden war. Die hätte ein schreckliches Theater wegen Carstens Bemerkung gemacht. Sie sei doch schon dreizehn und er habe ja keine Ahnung und sei doch sowieso ein schwächlicher Dummkopf und so weiter… „Ninie!“, rief Ariane plötzlich und ließ dadurch Janine erschrocken zusammenzucken. „Janine beherrscht doch dank der Gelben Tarantel -die ich übrigens nicht eklig finde- die Gift-Energie! Sie könnte das doch einfach weg-energien, oder wie auch immer das bei ihr funktioniert.“ Janine seufzte beschämt und ihre Wangen färbten sich aufgrund der plötzlichen Aufmerksamkeit leicht rötlich. „Es tut mir wirklich leid, aber ich weiß nicht, wie ich meine Energie einsetzen kann, ich- ich habe es nie gelernt… Und wenn ich jetzt etwas falsch machen würde, dann würde Benni vielleicht…“ Ariane setzte sich auf den blauen Teppich. „Das heißt also, dass wir das vergessen können…“ „Wie stellt man denn das Gegengift her?“, fragte Öznur unsicher. „So schwer ist es gar nicht, aber man braucht das Gegenstück zur Eisblume.“, meinte Carsten. Ariane saß inzwischen nicht mehr, sondern sie lag auf dem Boden. „Darf ich raten? Die ‚Feuerblume’.“ Carsten nickte. „Genau die.“ „Sag uns einfach wo sie ist! Wir gehen los und holen sie!“, rief Laura voller Tatendrang und ballte die Hand zur Faust. „Na gut, Feuerblumen wachsen an Feuerbäumen. Sie blühen zwar ständig, aber dafür gibt es sie nur dort, wo die Heimat der Drachen ist. Und die ist in den Bergen Mondes und Ivorys.“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Das heißt also, entweder Monde oder Ivory.“ Wie in der Schule, riss Öznur ihre Hand hoch. „Ich bin für Monde.“ „Das Problem ist, dass die Drachen sich in Monde gut verstecken können. Ivory wäre eigentlich die bessere Wahl.“, meinte Carsten nachdenklich. Laura wurde langsam unruhig. „Dann halt Ivory, ist doch egal! Los jetzt, wir haben keine Zeit zu verlieren!!!“, drängte sie. „Und wie? Mit dem Flugzeug?“, fragte Anne sarkastisch. „Carsten kann uns doch teleportieren.“, meinte Öznur. Carsten schüttelte den Kopf. „Man kann Menschen nur teleportieren, wenn man selbst dabei ist. Aber ich muss bei Benni bleiben. Genauso wie Susanne. Öznur, du oder Janine müsst das machen.“ Öznur seufzte. „Na gut, ich werd’s versuchen.“ „Aber da gibt es noch einen Haken…“ Anne stöhnte auf. „Was denn jetzt noch.“ „Es muss eine Person mitkommen, die den Ort kennt, also, die schon mal dort war. Wenn nicht, landet ihr irgendwo im Nirgendwo.“, erklärte Carsten. Auch er schien langsam unruhig zu werden. Je früher sie das Gegengift für Benni bekamen, umso besser. Und dann tauchten da solche Probleme auf?! Anne zuckte mit den Schultern. „Sorry, ich war nie in Ivory. Bei genau dem Treffen der Adeligen war ich nicht dabei.“ Carstens Blick fiel auf Eagle. Abwehrend hob dieser die Hände. „Nein, vergiss es. Euer ‚eiskalter Engel’ ist kein Dämonenbesitzer, also nicht allzu wichtig für diese Weltuntergangsprophezeiung. Und er ist mir auch scheiß egal.“ „Bitte, Eagle. Du warst schon mal in Ivory und kennst dich auch halbwegs dort aus. Du weißt, wo die Drachen sind.“ Carsten warf seinem großen Bruder einen flehenden Blick zu, doch Eagle schüttelte den Kopf. „Vergiss es, ich halt mich da raus.“ Nun doch leicht gereizt ballte Carsten die Hand zur Faust. „So ganz unschuldig bist du daran ja auch nicht. Wegen deiner Raucherei waren Bennis Sinne geschwächt! Sonst hätte er die leichten Anzeichen des Giftes riechen können, aber wegen dir ging das nicht!!!“ Schweigend beobachteten die anderen den Geschwisterstreit. Carsten schien auf einmal wie ausgewechselt. Er wirkte nicht mehr wie dieser schüchterne Junge, sondern annähernd rebellisch. Das FESJ hatte ihn schon irgendwie verändert, auch wenn das nicht oft zum Vorschein kam. Eagle zuckte allerdings nur teilnahmslos mit den Schultern. „Ist mir doch egal.“ Nun waren Carstens Nerven komplett durchgebrannt. Er brüllte seinen Bruder regelrecht an. „Und du willst später mal der Häuptling von Indigo werden?!? Das ich nicht lache! Was ist das denn für ein Häuptling?!? Ich sag dir, was du bist! Du bist ein selbstgefälliges, egoistisches, notorisches Arschloch der Oberklasse, so dumm zu glauben, ein Säugling hätte deine Mutter umgebracht und sowas von verwöhnt und eingebildet, dass du es nicht ertragen kannst, wenn du mal nicht der Beste bist!!!“ Ein dumpfer Schlag war zu hören und Carsten sackte zu Boden, die Hand auf das linke Auge haltend. Eagle hatte seine Hand immer noch zur Faust geballt. „Noch einmal so eine freche Bemerkung über mich und du wirst dir wünschen, das FESJ nie verlassen zu haben!“, drohte er mit einem kraftvollen Echo, das vereinzelte Sachen wie Papiere auf dem Schreibtisch in die Luft fliegen ließ. Laura wollte irgendwie, irgendetwas machen, doch sie wusste nicht was. Überraschenderweise war Carsten so in Rage, dass er sich von Eagles Drohung nicht einschüchtern ließ. „Ach weißt du, das FESJ war weitaus schlimmer. Sorry Eagle, die sind einige Nummern zu hoch für dich.“ Nun hatte auch Eagle genug. „Sicher?“ Bei seiner rhetorischen Frage holte er wieder mit der Faust aus und alles ging so schnell, dass Laura nur schemenhafte Bewegungen wahrnehmen konnte. Zur selben Zeit, als Eagle ausholte und zuschlagen wollte, fing eine Gestalt mit übermenschlicher Geschwindigkeit Eagles Schlag mit bloßer Hand ab. Als sich Lauras Blick wieder an die normale Geschwindigkeit gewöhnt hatte, erkannte sie diese Gestalt auch. „Hört mit diesem Lärm auf.“, sagte Benni matt. Er wirkte immer noch krank, aber sein stechender Blick in dem zu sehenden linken Auge machte das wieder wett. „Benni, du solltest liegen bleiben und dich schonen…“, mahnte Carsten seinen besten Freund und mühte sich wieder auf die Beine. Sein linkes Auge war blau und geschwollen aber das beachtete er gar nicht. Benni ignorierte den Ratschlag. Stattdessen warf er Eagle seinen für ihn typischen eiskalten Engel Blick zu. „Ich bin auch nicht gerade begeistert, dass ausgerechnet du mir helfen sollst.“ Eagle verschränkte die durchtrainierten Arme vor der muskulösen Brust. „Schön, dass wir uns jedenfalls da einig sind.“ „Also ich bin dafür, dass Eagle mitkommt. Wie gesagt, er kennt die Gegend in Ivory und ist Benni das auch schuldig, wenn ich das, was ich von Carsten gehört habe, richtig verstanden habe.“. meinte Susanne und warf dem Indigoner einen bittenden Blick zu. Eagle zuckte mit den Schultern. „Euer gerade einfrierender, eiskalter Engel kennt sich in Ivory auch aus.“ „Und der legt sich jetzt gefälligst wieder hin.“ Dieses Mal war Susannes Ton eher befehlend statt bittend. Benni warf ihr einen kurzen, nichts sagenden Blick zu und setzte sich schließlich auf die Bettkante. Laura musterte Benni besorgt. Sie fragte sich immer noch, wie er so schnell auf die Beine gekommen war. Immerhin ging es ihm zurzeit sogar schlechter als ihr… Dann gab Eagle doch endlich auf. „Na schön, wenn’s sein muss… Immerhin wäre es doch bescheuert, wenn wir bei diesem dramatischen Weltuntergang nicht auf den stärksten zählen können…“ Allerdings klang seine Stimme nach wie vor alles andere als begeistert. „Na dann los, lasst uns gehen!“, drängte Laura ungeduldig. „Nicht alle.“, widersprach ihr Carsten. „Nur Öznur, Anne, Janine und Eagle.“ „Warum darf ich nicht mit?!?“, beschwerte sich Laura. „Weil du sowieso nicht genug Kraft für die zweite Teleportation hast.“, erklärte Carsten ruhig. Laura senkte gekränkt den Kopf. Sie konnte Carsten keine Vorwürfe machen, immerhin hatte er Recht. Aber sie fühlte sich trotzdem schlecht… Benni hatte ihr schon so häufig geholfen, hatte ihr öfter das Leben gerettet als sie sich vermutlich daran überhaupt erinnern konnte. Sie wäre so gerne auch für ihn da, wollte ihm helfen, wenn es ihm nicht gut ging. Doch sie schien nichts weiter als ein Klotz am Bein zu sein. Immer und immer wieder. „… Ich bin nur ein Hindernis, stimmt’s?“, fragte sie, mit demselben bedrückten Ton wie sie sich auch fühlte. „Dort ja.“, antwortete Carsten ihr direkt. Laura atmete tief durch. Sie musste es einsehen, denn wegen ihr hatten sie nun noch mehr Zeit verloren. „Na schön, auf geht’s!“, meinte Öznur voller Tatendrang. „Wie heißt der Zauber?“ „Du musst sagen: ‘Fiwes mourrônza ki Elfin.’ Das bringt euch zur Hauptstadt von Ivory.“, erklärte Carsten. „Und Eagle muss sich entsprechend den Zielort vorstellen, also das Tor vor der Hauptstadt.“ „Na schön, alle an den Händen nehmen, es geht los!“, rief Öznur ihren Begleitern zu und sie bildeten einen Kreis. Carsten sah sie fragend an. „Willst du dir den Zauber nicht aufschreiben?“ Öznur machte eine wegscheuchende Geste. „Ach was, das kostet nur Zeit.“ „Wenn du meinst…“, erwiderte Carsten misstrauisch. „Dann muss ich nur schnell zu Koja, damit sie die Magiesperre aufhebt und ihr euch teleportieren könnt.“ „Wer ist Koja?“, fragte Ariane, doch da war Carsten schon aus dem Zimmer verschwunden. Dafür antwortete ihr tatsächlich Eagle. „Koja bedeutet Oma auf Indigonisch. Auch wenn sie die Mom meiner leiblichen Mutter ist.“ Er schnaubte. „Also sollte der Vollidiot sie nicht so nennen.“ Die Mädchen waren schon kurz davor, Eagle auszuquetschen, was genau er damit meinte, doch da kam Carsten schon wieder und berichtete ihnen, dass die Magiesperre aufgehoben war. Öznur sprach den Zauber, den Carsten ihr genannt hatte. Im Gegensatz zu dem weißen und doch farbenfrohen Leuchten, das bei Carsten immer auftauchte, wurde die Gruppe nun von roten Flammen umgeben, bis sie verschwunden waren. Nach Ivory, um für Benni das Gegengift zu finden. Deprimiert, da sie nichts ausrichten konnte, setzte sich Laura neben Ariane, die immer noch auf dem Boden lag. In ihrem Kopf stürmten haufenweise Fragen. Warum ausgerechnet Benni? Hatte es irgendjemand auf ihn abgesehen? Wenn ja, wer? Eagle vielleicht? Ohne den Kopf zu heben, hörte sie Susanne Benni ermahnen, dass er sich endlich wieder hinlegen solle, da es ihm nicht gut ging. Carsten meinte, er würde seinen Vater nach den alten Medizinbüchern fragen, die vor seinem Aufenthalt im FESJ zwei Reihen in seinem Bücherregal eingenommen hatten. Ariane meckerte sie habe Hunger, da nun plötzlich das Mittagessen weggefallen war, und Saya überredete Lissi, mit Sakura einkaufen zu gehen, um das Mädchen beschäftigt zu halten. Und Laura? Sie tat nichts, in der Angst doch nur im Weg zu sein.   ~*~   Nachdem sich die magischen Flammen von Öznurs Zauber aufgelöst hatten, sah sich Eagle um. Sie waren an der richtigen Stelle gelandet, das war eindeutig. Nur Ivory konnte so glitzernden Schnee haben mit dieser Märchenlandschaft und der weißen mittelalterlichen Stadt, an deren höchster Stelle ein anmutiges Schloss prangte. Öznur und Janine bewunderten begeistert die Gegend, aber aus Eagles Augen, sah das alles doch eher schwul aus. Hier war einfach alles zu perfekt. Der Schnee war nicht matschig, sondern strahlend weiß und gleichmäßig verteilt. Die Stadt sah zwar mittelalterlich, aber nicht arm oder heruntergekommen aus. Ihre Mauer war komplett rein und sauber, so wie das Schloss und die restlichen Häuser. Eagle wandte nicht begeistert den Kopf Westen zu, links von dem Traumschloss. Dort waren am Horizont die Drachenberge zu erkennen, bei denen sie diese bescheuerte Feuerblume fanden um diesen bescheuerten Benedict zu retten. Eagle spielte mit dem verlockenden Gedanken, die Mädchen einfach in die falsche Richtung zu führen. „Also Häuptling, wo sind diese Drachenberge?“, fragte Öznur ihn drängend. Eagle wusste nicht wieso er so blöd sein konnte, aber zu seinem Ärgernis zeigte er in die richtige Richtung. Nach links. Anne stöhnte auf. „Na super, das dauert doch mindestens drei Stunden zu Fuß.“ Nun war Eagle doch zufrieden. Vielleicht schafften sie es einfach nicht rechtzeitig, seinem behinderten, schwächlichen, kleinen Halbbruder die Feuerblume zu geben und so war der ‚eiskalte Engel’, wie einige der Mädchen ihn nannten, doch dem Tode geweiht. Aber natürlich platzte auch dieser Traum. „Was haben denn Menschen hier zu suchen?“, fragte eine misstrauische Stimme, der eine zweite, mächtige Stimme wie ein leises Echo zu folgen schien. Geistig fluchend drehte sich Eagle in Richtung Stadttor. Ein Elb mit schulterlangen, blonden Haaren und grünen Augen, deren Pupillen tannengrün und nicht schwarz waren, kam auf ihn und die drei Mädchen zu. „Hallo Florian.“, sagte Eagle und versuchte, ein halbwegs freundlich wirkendes Lächeln aufzusetzen. Florian musterte die Mädchen und warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Dass du so viele gleichzeitig hast, hätte ich nicht erwartet…“ Anne schnaubte. „Igitt, nie im Leben.“, meinte sie angewidert. Florian musterte das Mädchen mit den kurzen, hellbraunen Haaren, der dunklen Haut und den dunkelblauen Augen. „Hey, du bist doch Anne, die Tochter von Sultana, richtig?“, vergewisserte er sich, wirkte aber viel freundlicher als diese, als sie antwortete: „Ja, bin ich. Und du bist Florian Karanto, der Hauptmann der Armee Ivorys, dem man das äußerlich nie zutrauen würde, stimmt’s so?“ Florian zuckte mit den Schultern. „Irgendwie schon.“ Eagle musste Anne hierbei Recht geben. Florian hatte einen ähnlichen Körperbau wie Carsten. Er war schlank, mittelgroß, hatte kaum Muskeln und sah überhaupt nicht so aus, als wäre er ein Hauptmann. Eher der Hofnarr, jedenfalls aus Eagles Sicht. Florian musterte die anderen beiden Mädchen. „Ich bin Öznur, freut mich, dich kennen zu lernen.“, stellte sie sich freundlich vor und schüttelte Florians Hand. Eagle musste schon sagen, Öznur hatte von den Mädchen am meisten Sexappeal. Na gut, außer diese komische Lissi, aber die zählte er lieber nicht mit. „Ähm… Ich bin Janine.“, sagte die kleine Blonde schnell. Sie war Eagle bisher fast gar nicht aufgefallen. Ihre Figur war aber auch eher dürr und ihr Aussehen unscheinbar. Sie sah fast so aus, als habe sie Angst, von irgendjemandem verfolgt zu werden und war immer fluchtbereit. Aber sie war trotzdem unbeschreiblich süß, wenn auch weniger Eagles Geschmack. „Mich kennt ihr ja inzwischen schon.“, meinte Florian scherzhaft. Er warf Eagle einen fragenden Blick zu. „Was wollt ihr eigentlich hier?“ Da Eagle schwieg, antwortete Öznur: „Wir brauchen eine Feuerblume. Ein Freund von uns wurde vergiftet.“ Schließlich gab sich Eagle dann doch geschlagen. „Mit ‚Freund’ meint sie Benedict.“ Allerdings konnte er das nicht sagen, ohne das Wort Freund und Benedict höhnisch auszusprechen. Eagles Meinung nach, konnte man ‚Benedict’ und ‚Freund’ eigentlich gar nicht in einem Satz verwenden, außer eine Verneinung stände dazwischen. Florians Blick wurde mit einem Mal unbeschreiblich unheimlich. Die Wut konnte man in seinen grünen Augen schon fast flackern sehen und seine Stirn runzelte sich, als die schmalen Augenbrauen aufeinandertrafen. „Welches Miststück war das?“ Seine normale Stimme war kaum mehr zu hören, da sie von einer viel mächtigeren, unheimlicheren und viel viel zornigeren übertönt wurde. Öznur seufzte. „Das wissen wir selber nicht, aber sag mal… kennst du Benni?“ Florians Miene hellte sich wieder und statt der bedrohlichen Stimme hörte man ein unbeschwertes Lachen. „Oh ja. Schon seit er noch ein Baby war.“ Die drei Mädchen tauschten kurze Blicke aus. Warum, wusste Eagle nicht. Entweder waren sie von dem plötzlichen Gefühlsumschwung überrascht, oder sie fragten sich, wie so ein lebhafter Elb ausgerechnet ihren ‚eiskalten Engel’ kannte. Ja, Benedicts Spitzname gefiel Eagle irgendwie, auch wenn er das zweite Wort gerne streichen würde. Florian kam zurück auf das eigentliche Thema. „Aber dafür müsst ihr doch zu den Drachenbergen…“, bemerkte er zögernd. Anne nickte spöttisch. „Ja, müssen wir. Und mach du dir deswegen nicht gleich ins Hemd.“ Florian schüttelte den Kopf. „Ich mache mir nur Sorgen. Die Drachen haben mit den anderen Wesen hier in Damon einen Vertrag geschlossen: Niemand betritt das Territorium des anderen und man lässt sich gegenseitig in Ruhe. Ihr müsst wissen, Drachen und besonders Menschen haben sich vor einem halben Jahrhundert fast bekriegt.“ Anne stöhnte genervt auf. „Na super. Das heißt also erst müssen wir uns abhetzen, um zu diesen verdammten Bergen zu kommen und dann brechen wir den Vertrag, um an diese dämliche Blume zu kommen. Kann nicht einmal etwas nicht so kompliziert sein?!?“ Florian seufzte. „Also abhetzen müsst ihr euch nicht, da kann ich euch helfen.“ Öznur klatschte in die Hände. „Super, dann los geht’s! Wie wir mit den zu groß gewordenen Echsen fertig werden, können wir uns ja auf dem Hinweg überlegen.“ Florian nickte. „Dann kommt mal mit.“ Der Elb war erstaunlich schnellen Schrittes und Öznur und Janine, eindeutig Magierinnen, hatten große Probleme, mit dem Rest der kleinen Gruppe Schritt zu halten. Eagle wandte sich an die nach Luft schnappende, sich abhastende Öznur. „Braucht ihr für eure dramatische Weltrettungsaktion nicht alle Dämonenbesitzer?“ „Ja, wieso?“, fragte Öznur nach, dankbar dafür, dass Florian seine Schritte nun doch etwas verlangsamte. „Na ja, weil ihr gerade den Besitzer des Türkisen Einhorns vor euch habt.“ Innerlich seufzte Eagle. Natürlich war das Einhorn der Dämon in Ivory. Irgendwie war das ja logisch. Öznur warf Florian einen fragenden Blick zu. „Stimmt das?“ Florian nickte und öffnete die Tür zu den königlichen Stallungen. Beinahe als sollte dies eine Bestätigung sein, kam ein fröhliches, begrüßendes Wiehern aus allen Richtungen. Florian ging zu den ersten drei Boxen. „Wer von euch kann reiten?“, fragte er. Eagle und Anne hoben die Hand, und auch die schüchterne, kleine Janine, nach kurzem Zögern. Florian drückte Eagle den Halfter von der ersten Box in die Hand, der zu einem silbernen Hengst gehörte. „Du nimmst Öznur mit, falls du nichts dagegen hast.“ Gleichgültig zuckte Eagle mit dem Schultern. War ihm doch egal, wen er noch mittransportieren musste. Den zweiten Halfter, der eines smaragdfarbenen Einhorns, reichte Florian Anne. „Es ist deine Entscheidung, ob du Janine mitnehmen willst. Wenn nicht, dann kann sie auch bei mir mitreiten.“, meinte er gleichgültig. Eagle fragte sich, wie dieser Typ es schaffte, sich alle Namen zu merken. „Janine kommt bei mir mit.“, antwortete Anne schroff. Eagle wusste, dass sie keinem Jungen vertraute. Da gab es über ihre Familie eine ziemlich krasse Geschichte. Aber dass sie so zickig reagierte, hätte er trotzdem nicht erwartet. Janine nickte nur kaum merkbar. Was war mit der Kleinen denn los, dass sie so verängstigt wirkte? Florian ließ Annes Zickerei aber kalt. „Na gut, dann reite ich alleine.“, meinte er und legte dem goldenen Hengst das Zaumzeug an. Öznur legte den Kopf schief. „Reiten wir etwa ohne Sattel?!?“ Florian nickte. „Spart Zeit.“, meinte er nur und schwang sich anmutig auf das hohe Ross. Auch Anne und Janine saßen schon auf ihrem Einhorn, so wie Eagle. Genervt stöhnte er. „Hast du nicht gesagt, wir müssen uns beeilen?“, fragte er Öznur, die einfach nicht hochkam. „Tut mir ja echt leid, dass ich noch nie auf einem Pferd saß!“, verteidigte sich Öznur, klang aber eher verzweifelt, statt zickig. Eagle schüttelte seufzend den Kopf. Einhörner waren an sich schon größer als normale Pferde, aber sogar die kleine Janine war problemlos hochgekommen. Wobei diese Ariane mit den Sommersprossen ja gemeint hatte, das Blondchen würde die Gelbe Tarantel besitzen. Also war es selbstverständlich, dass sie gut klettern konnte. Als Öznur es auch beim dreißigsten Versuch nicht schaffte, auf das Einhorn zu steigen, riss Eagle der Geduldsfaden. „Jetzt reicht’s aber.“, meinte er genervt, packte Öznur an der Taille -okay, jetzt fiel ihm ihr sexy Körperbau erst recht auf- und hob sie problemlos hinter sich auf das Einhorn. Öznur hatte vor Überraschung bloß scharf die Luft eingesogen, aber sie begann immerhin nicht mit einer Schimpftirade wie Anne es gemacht hätte. Florian unterdrückte ein dreistes Lachen. „Dann mal los.“ In einem Affenzahn verließen die Einhörner die Stallungen und preschten durch die breiten Straßen der Mittelalterstadt als wäre eine Horde Dämonen hinter ihnen her, bis sie das große Tor passiert hatten und in rasanter Geschwindigkeit den Drachenbergen entgegen galoppierten.   ~*~   Unruhig ging Laura im Flur auf und ab. Ariane hatte sie aus Carstens Zimmer gezerrt, da sie am verhungern gewesen ist und nicht alleine in dem mit toten Tieren überfüllten Haus herum wuseln wollte. Aber nun traute sich Laura nicht mehr einzutreten. Was war, wenn Benni schon tot war?!? Und wenn nicht, dann würde sie doch sowieso nur im Weg sein, das hatte Carsten ihr vorhin eindeutig klar gemacht. Erschrocken sprang Laura einen halben Meter zurück, als sich die Tür öffnete und Susanne rauskam. „Nanu? Was machst du denn hier?“, fragte sie überrascht. „Ich- äh- ich wollte…“, setzte Laura an, wusste aber selbst keine Erklärung. Susanne schüttelte seufzend den Kopf, sodass ihre schwarzen, gelockten Haare um ihre schmalen Schultern tanzten. „Du kannst ruhig reinkommen, so schlimm scheint es Benni noch nicht zu gehen… Hoffe ich. Er zeigt ja sowieso nie, wie er sich fühlt.“ Mit diesen Worten ging sie an Laura vorbei, die Treppe runter und irgendwo hin. Laura atmete tief durch und legte die Hand auf die Türklinke. Nach einem weiteren Atemzug öffnete sie die Tür und… hätte empört schreien können. Als hätte Benni Susannes Befehl befolgt, sich hinzulegen. Das wäre ein Traum gewesen. Aber nein, er saß da, aufrecht im Bett und spielte mit Carsten Schach!!! Laura könnte vor Wut platzen. Wenn sie todkrank war, verlor sie meistens das Bewusstsein und Benni war tödlich vergiftet und spielte Schach?!? „Das ist doch ein Witz, oder?“, fragte sie empört. Carsten blickte nach seinem Zug auf und lächelte Laura achselzuckend an. „Hey, wie geht’s?“ „Das fragst du mich?!? Benni ist todkrank und ihr spielt hier Schach als wäre alles so wie immer!!!“, schrie Laura verärgert. Benni blickte kurz auf und zog seinen Läufer zurück, um zu verhindern, dass Carsten ihn schlug. Laura musste sich eingestehen, dass Benni eigentlich recht normal aussah, abgesehen von dem fiebrig glänzenden Auge und seiner unnatürlich blassen Haut. Noch blasser, als er normalerweise war, denn Benni war an sich schon ein sehr heller Hauttyp und wurde einfach nicht braun, auch wenn er so gut wie jeden Tag im Freien war. Carsten seufzte. „Beruhige dich, Laura. Glaub mir, es ist ganz entspannend, wenn man sich manchmal von all den Problemen befreien und ablenken lassen kann.“ Laura schnaubte. „Das ist doch Quark mit Soße. Benni ist todkrank! Du weißt, dass ich weiß wie das ist! Es ist an sich schon ein Wunder, dass er sich noch bewegen kann und nicht weggetreten ist!“ Carsten schloss die Augen und warf genervt den Kopf zurück. „Du klingst so, als wäre Benni auf dem Sterbebett.“ Erst jetzt fiel Laura auf, dass sein blaues Auge nur noch leichte Anzeichen einer Prügelei zeigte und schon so gut wie geheilt war. Sollte er sich nicht eher um Benni kümmern, statt um ein simples blaues Auge?!? „Wenn du nichts machst, dann ist das auch sein Sterbebett!!!“, schrie Laura empört. Nun schien sie Carstens Geduld lange genug beansprucht zu haben. Er wirkte die ganze Zeit schon sehr angespannt, doch nun erwiderte er ihren verärgerten Tonfall. „Was soll ich denn machen?!?!?“ „Ihn heilen!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!“, brüllte Laura. „Ruhe!“ Bennis bedrohlicher und gleichzeitig halb erstickter Ton ließ Laura und Carsten schlagartig verstummen. Die linke Hand hatte er gegen die Stirn gepresst und sein Atem ging stockend und Laura wusste ganz genau, dass es keine Einbildung war: Man konnte eine Atemwolke sehen, wie man sie in dieser Jahreszeit wegen der Kälte immer außen sehen konnte. Kurz darauf ließ sich Benni rücklings in die Kissen fallen, die genauso schneeweiß wie sein Gesicht waren. Carsten reagierte als erster, stellte das Schachbrett weg und maß seine Temperatur. Seine Stimme klang angespannt, als sagte: „Versuch etwas zu schlafen. Wir gehen raus… Tut mir leid.“ Betroffen senkte Laura den Kopf. „Mir auch…“ Nun verstand sie, was Carsten mit dem Schach bezweckt hatte. Er wollte tatsächlich nur ablenken. Immerhin hielt Benni schon sehr viel aus, wenn man ihn dann nicht noch mehr beanspruchte. Dieses Mal war sich Laura nicht hundertprozentig sicher, aber Benni schien leicht den Kopf zu schütteln. Carsten schien das auch vermutet zu haben, denn er musterte seinen besten Freund verwirrt, bis er sich schließlich aufrichtete. „Gehen wir besser raus.“, meinte er. Laura nickte nur traurig. Carsten wollte zu ihr kommen, doch eine eiskalte Hand hielt ihn am Handgelenk fest. Jedenfalls schien sie eiskalt, denn Laura sah Carsten unter dem festen Griff erschaudern. Benni zog seine Hand zurück. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, als er sagte: „Bleibt hier…“ Nun stiegen Laura tatsächlich Tränen in die Augen und auch in Carstens Blick war eine Mischung zwischen Trauer und Freude zu erkennen. Laura konnte seine widersprüchlichen Gefühle nur zu gut verstehen. Es war einfach eine Seltenheit, dass Benni so offen seine Gefühle zeigte. Aber das hieß auch, dass es ihm tatsächlich mindestens so schlecht ging wie Laura erwartet hatte… Sie und Carsten tauschten einen kurzen Blick aus, der eine Entschuldigung ersetzte und setzten sich auf den Teppich neben das Bett. „Das Gift wirkt schneller als normaler Weise…“, murmelte Carsten vor sich hin und warf Laura einen Seitenblick zu. „Irgendjemand hat da nachgeholfen, so viel ist sicher.“ „Kannst du nichts dagegen tun?“, fragte Laura, aber sie kannte die hoffnungslose Antwort bereits. Carsten seufzte. „Ich habe alles getan, was ich konnte. Es ist an der Gruppe in Ivory, ob Benni überlebt…“ Laura fühlte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Wie sollte das auch nur annähernd möglich sein? In besagter Gruppe waren sowohl Eagle, als auch Anne. Zwei, die mit Benni nichts anzufangen wussten, ihn gar zu hassen schienen. Und Laura bezweifelte, dass Janine und Öznur sich den beiden widersetzen konnten. Vor ihrem inneren Auge sah Laura Öznur und Janine in Ketten liegen und davor einen schadenfroh lachenden Eagle und eine zufrieden grinsende Anne. „Warum hast du ausgerechnet Eagle mitgeschickt?“, fragte sie Carsten vorwurfsvoll. Carsten seufzte und rieb sich das Auge, auf das Eagle geschlagen hatte. „Eagle ist nicht so hinterhältig wie er scheint. Ihm liegt immer noch das Wohl seines Volkes am Herzen. Jeder von uns weiß, dass wir ohne Benni schon einen Dämonenbesitzer verloren hätten und auch bei dieser Bedrohung ist es besser, auf ihn zählen zu können. Das muss sich auch Eagle eingestehen.“ Laura gab sich geschlagen und nickte seufzend. „Hoffen wir, er ist wirklich so vertrauenswürdig.“ Genau in diesem Moment ging die Tür auf. Laura wollte schon vor Freude schreiend aufstehen, aber es waren doch nur Ariane und Susanne. Enttäuscht senkte Laura die Hände, die sie schon zum Teil gehoben hatte. „Na? Hast wohl jemand anderen erwartet.“, meinte Ariane sarkastisch. Es schien wie ein Versuch, Laura aufzuheitern, aber natürlich war er erfolglos. Traurig nickte Laura. Ariane schnaubte. „Ehrlichkeit kann auch verletzend sein.“ Susanne ging an Ariane vorbei und musterte Bennis schlafendes Gesicht. „Es steht also doch schlimmer um ihn, als er es sich anmerken lässt.“, sagte sie nur und zeigte auf eine Kiste, die vor kurzem in Carstens Zimmer gebracht worden war. „Hast du da etwas Brauchbares gefunden?“ Carsten schüttelte den Kopf. „Frag mich nicht wieso, aber es ist nur noch die Hälfte der Bücher da, die ich mal hatte. Natürlich fehlen genau die, die zu gebrauchen wären.“ Er beugte sich über die Kiste und begann, die Bücher in die obere Reihe zu stellen. Währenddessen fluchte er kaum hörbar: „Sakura kann was erleben, verdammt noch mal.“ Laura erinnerte sich vage daran, dass Sakura Carsten immer alles, was mit Magie zu tun hatte gestohlen und dann in Kuscheltieren, zwischen Kochtöpfen und sogar im Waschraum versteckt hatte. Das einzige, was Carsten je zurückbekommen hatte, war sein Zauberstab. „Ganz ruhig Carsten, sie ist doch noch ein Kind.“, meinte Susanne beschwichtigend. „Das soll eine Entschuldigung sein?“, fragte Carsten verbittert und wandte sich kopfschüttelnd wieder den ‚wenigen’ Büchern zu. Besorgt musterte Laura Bennis schlafendes Gesicht. Er sah aus, wie tot. Aber nicht dieses eklige verwesende tot, sondern eher wie ein schlafender Engel. Die waren immerhin auch tote Wesen. Jedenfalls lebten sie bei den Toten. Ariane verpasste Laura einen Schlag auf den Hinterkopf. „Ich weiß ja, dass du den eiskalten Engel sehr magst und ihn wohl auch jede Sekunde deiner Zeit anhimmelst, aber jetzt lass doch bitte diese Heulerei.“ Laura schniefte und wischte sich die Tränen vom Gesicht, die sie überhaupt nicht bemerkt hatte. „Du weißt nicht wie das ist, wenn jemand den man mag im Sterben liegt.“ Arianes Reaktion verblüffte Laura völlig. Sie stand lediglich da, den ‚eiskalten Engel’, wie sie ihn immer noch nannte, anstarrend. In ihrem Blick sah Laura eine Mischung aus Verständnis und Trauer, die sie nicht zu deuten wusste. Doch bevor Laura fragen konnte, sagte Ariane nüchtern: „Noch liegt er nicht im Sterben. Jedenfalls wenn Öznur unserem Feuerblumen-Team mit ihrer Energie Feuer unterm Hintern macht.“ Kapitel 15: In den Drachenbergen --------------------------------   In den Drachenbergen       Eagle stieg von dem silbernen Einhorn und half Öznur herab, die sich mal wieder vollkommen ungeschickt anstellte. Wie unsportlich kann Frau sein?, fragte er sich. Als habe die Prinzessin von Dessert seine Gedanken gelesen, zischte sie ihn schlangenmäßig an. Eagle überhörte ihren eigentümlichen Kommentar und band das Einhorn neben die beiden von Florian und Anne an einen Baum fest. Florian würde sie nachher wieder nach Elfin bringen, wenn sie das komische Blümchen für den Idioten geholt und sich durch Öznurs Magie weg teleportiert hatten. Die große Magierin blickte den Berg rauf. „Und da sollen wir jetzt hochklettern?“, fragte sie kleinlaut. Anne stöhnte genervt auf. „Hast du eine bessere Idee?“ Öznur schüttelte den Kopf. „Und das, obwohl ich noch nicht einmal mit den Treppenstufen in unserer Schule klarkomme.“ Eagle fragte sich, wie viele Stufen das wohl sein mochten, die diese Magierin mit einer so schlechten Ausdauer ärgerten. Ernsthaft, damit konnte sie sogar Laura Konkurrenz machen! Florian zuckte mit den Schultern. „Also, wenn ihr klettern wollt, halte ich euch nicht auf. Aber dann beeilt euch jedenfalls.“ Öznur schnaubte. „Das hat mit wollen nichts zu tun! Wenn es einen anderen Weg gäbe, ich würde ihn mit Freuden gehen.“ Auf dem Gesicht des Elbes zeigte sich ein belustigter Ausdruck. „Na schön, dann der ‚andere Weg’.“ Öznur schien schon zu einem ‚Hä?’ ansetzen zu wollen, doch in genau dem Moment begann der Boden unter den Füßen der Gruppe zu beben und ein riesiges Efeublatt schoss aus der Erde, groß genug, dass sich jeder da drauf stellen konnte. Misstrauisch verschränkte die Prinzessin von Dessert die Arme vor der Brust. „Und das ist sicher?“ Florian nickte. „Klar. Oder denkst du, nur, weil ein Junge das gemacht hat, ist es zu nichts zu gebrauchen?“ Anne nickte, als wäre diese Ansicht eine Selbstverständlichkeit. Und Eagle überlegte in der Zeit, wie sehr Sultana wohl ausrasten würde, wenn er ihre Tochter noch früher unter die Erde gebracht hätte, als den gerade abkratzenden eiskalten Engel. Aber der Elb seufzte nur und stellte sich auf sein Riesenefeublatt. „Wenn du nicht willst, dann klettere ruhig. Der Rest kann mitkommen.“ Eagle und die Mädchen -ja, sogar Anne- stellten sich auf Florians Gewächs. Kaum hatte jeder einen halbwegs festen Stand, schoss dieses Grünzeug auch schon gen Himmel. Nicht so schnell, wie Eagle es sich gewünscht hatte, immer noch so, dass niemand ins Taumeln kam, aber trotzdem schon schnell. Und natürlich passierte kein Unglück, wie Anne es erwartet hatte. Auf einem Vorsprung fast an der Spitze stiegen sie ab. Wieder blickte Öznur auf den Gipfel des Berges. „Fünf Meter höher hätten es doch auch getan, oder?“, fragte sie erschöpft. Als wäre das Erklimmen des Berges anstrengend gewesen. Eagle konnte nur den Kopf schütteln. Er fragte sich, wie dieses Mädchen es schaffte eine so gute Figur zu haben. Florian schüttelte den Kopf und seine schulterlangen blonden Haare glänzten in dem eben erschienenen Sonnenlicht und ließen die hellgrünen Augen des Elbes magisch funkeln. Eagle war immer noch der Ansicht, dass Ivory eindeutig die Schnulz-Region war. „Ich glaube nicht, dass irgendjemand Benni vergiftet und uns dann so mir nichts dir nichts das Gegenmittel besorgen lässt. Am besten jemand prüft zuerst, ob da oben nicht irgendeine Falle auf uns wartet.“ Eagle hob anerkennend eine Augenbraue. Dass das eine Falle sein könnte, war natürlich logisch, aber er hätte sich wohl einfach so in den Kampf gestürzt. Da zeigte sich dann wohl doch der Hauptmann in diesem Elben. Anne warf der kleinen, unscheinbaren Janine einen kurzen Blick zu. „Du machst das am besten. Du kannst gut klettern und fällst wegen deiner Größe nicht allzu sehr auf.“ Die Wangen des schüchternen Mädchens färbten sich leicht rötlich und sie zwirbelte verlegen eine Strähne. „Ich muss nicht unbedingt hochklettern… Also… Eine Sache kann ich durch die Gelbe Tarantel… Ich meine… habe ich gelernt…“ Anne zuckte mit den Schultern. „Wenn es uns das alles erleichtert, nur zu.“ Sie nickte nur schwach und formte ihre Hände zu einer Schale. Interessiert beobachtete Eagle, wie etwas Gelbes über ihren Händen waberte, mehrmals die Form veränderte und schließlich zu einer winzigen, gelben Tarantel wurde. Öznur war schon kurz davor, erschrocken aufzuschreien, aber Eagle hielt ihr noch im letzten Augenblick den Mund zu. Wirklich, dieses Mädchen war eigentlich nur ein Hindernis in dieser Mission! Öznur entledigte sich unsanft Eagles Griff. Das Spinnchen sprang von Janines Hand und kletterte geschwinde die restlichen Meter auf den Gipfel. Janine schloss die Augen und beschrieb das, was sie durch die Spinne sehen konnte: „In der Mitte ist ein riesiges Loch mit einer Wendeltreppe, die in das Innere des Berges zu führen scheint. Aber vor dem Eingang… da ist jemand. Da steht ein Mann mit blauen, ordentlich gekämmten Haaren und einer Brille. Außerdem grinst der so unheimlich…“ Schaudernd öffnete Janine die Augen wieder und sah den Rest fragend an. „Wer ist das?“ Eagle überlegte. „Das klingt ganz nach Lauras Cousin, Lukas.“ „Stimmt, so hatte Benni ihn nach seinem Ausflug in die Unterwelt auch beschrieben. Durchschnittsgröße, blau gefärbte Haare, eine Brille mit einem Schlag auf der linken Seite, an der linken Schläfe hat er eine Narbe und er hat immer so ein ekelhaftes, gehässiges Grinsen auf den Lippen.“, erinnerte sich Öznur. Anne schnaubte. „Und jetzt? Der Depp hat bestimmt nichts Gutes vor.“ „Uns bleibt keine andere Wahl. Es gibt nur diesen einen Eingang in die Drachenberge und die Feuerbäume wachsen in dem Berg.“, widersprach Florian. Eagle zuckte mit den Schultern und konnte ein Grinsen nicht verkneifen. „Dann müssen wir halt mit Gewalt weiterkommen.“ So langsam gefiel ihm dieser Ausflug. Man hatte immerhin nicht jeden Tag die Möglichkeit, denjenigen, der Laura gerne mal das Leben zur Hölle machte, so richtig übers Knie zu legen. Auch Anne schien Gefallen daran zu finden. „Dann mal los.“ „Wir müssen jetzt aber nicht klettern, oder?“, fragte Öznur nicht gerade begeistert. Eagles „Doch.“ nahm ihr jegliche Hoffnungen. Leise und flink kletterten Eagle, Anne, Janine und Florian die restlichen Meter des Berges hinauf. Wie erwartet, fiel Öznur zurück, obwohl sie sich sichtlich beeilte. „Na sieh einer an, ihr wart ja ganz schön schnell hier.“ Kaum war die fast komplette Gruppe oben angekommen, wurden sie schon von Lukas’ fürchterlicher Lache begrüßt. Ernsthaft, Eagle hätte kotzen können. Was für ein blauhaariges Schwein das doch war! Auch wenn Lukas eigentlich eher so schlaksig wie Florian war und keine Mastschweinmaße besaß. „Woher-“, setzte Anne an, brach aber ab. Lukas musterte die Gruppe. „Chiefs Sohn und Sultanas Tochter. Sogar der Herr Hauptmann ist mit von der Partie. Welch eine Ehre! Aber euch beide… nein, noch nie gesehen.“, sagte er, als auch die nach Luft schnappende Öznur sich hoch gemüht hatte. „Sie wissen also von dem, was vor einer Stunde passiert ist.“, bemerkte Anne sachlich. Lukas lachte wieder sein widerliches Lachen. „Ich sage euch nur: Wenn dem nicht so wäre, wäre ich jetzt nicht hier. Sagt mal… Wie lange hält euer stärkster Kämpfer Damons denn noch durch?“ Öznur schnaubte. „Das geht dich rein gar nichts an!“ Sie weiß es doch selbst nicht, bemerkte Eagle nüchtern. Lukas zuckte mit den Schultern. „Na was soll’s. Schnappt sie euch!“ Wie aus dem Nichts schossen Wesen mit knochiger Haut, Fell oder flackernd roten Augen auf die Gruppe zu und umstellten sie. Eagle fluchte. Shit, Unterweltler. Zumindest das Wetter hätte doch auf ihrer Seite sein können aber nein, natürlich bedeckte ausgerechnet jetzt eine fette, dunkle Wolkendecke den Himmel und damit auch automatisch die Sonne. Vor einer Stunde hätten sie sich diesen Scheiß noch sparen können. Florian wandte sich an die Mädchen hinter ihm. „Bleibt zurück, euch fehlt für so etwas noch die Kampferfahrung.“ Zerknirscht trat Anne ein paar Schritte vor, neben ihn. „Sag mir nicht, was ich zu tun oder lassen habe.“ „Wie du magst. Aber wehe ich gerate wegen dir bei deiner Mutter in Erklärungsnot.“, erwiderte der Elb bloß. Mehr Zeit blieb ihnen nicht. Einer der Werwölfe stieß ein schrilles Heulen aus, bei dem sich Janine erschrocken die Hände über die Ohren legte. Das Signal zum Angriff. Florian und Eagle stürzten sich als erstes in den Kampf. Ein Gemetzel entstand, bei dem keine Menschenaugen in der Lage waren den Angriffen und Verteidigungen zu folgen, geschweige denn sie dem richtigen Wesen zuzuordnen. Eagle öffnete die Schnalle des Großschwerts auf seinem Rücken. Ein Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus, er hatte es schon ewig nicht mehr verwendet. Er rief den Wind herbei, sandte ihn in die Klinge seiner Waffe. Graue Sicheln loderten um die Klinge als würden Blätter im Sturm tanzen. Eagle schlug zu. Die Luft zerriss. Und mit ihr drei Unterweltler. Ein letzter klagender Schrei drang aus ihren Kehlen, als sie ihr schnelles Ende fanden. „Was zum Teufel-?!“, rief Öznur erschrocken aus. „Bleib einfach hinter uns, dann passiert dir nichts.“, wies Eagle sie ruhig an und trennte einem Vampir den Kopf vom Körper, der diesen Moment versucht hatte für sich zu nutzen. Plötzlich hörte er Öznur allerdings aufschreien. Aus dem Hinterhalt tauchten weitere Unterweltler auf und stürzten sich auf die nicht kämpfenden Magiermädchen. „Fuck!“, fluchte Anne, hatte aber mit ihren eigenen Gegnern mehr als genug zu tun. Florian fing einen der Werwölfe in einer Ranke ab, musste aber kurz darauf einen Angriff auf sich selbst mit seinen Zwillingsschwertern blockieren. Eagle sandte eine weitere Windsichel los, zerriss sowohl den gefangenen Werwolf als auch einen sich dahinter versteckenden Zombie in zwei Hälften. Doch auch er war gezwungen, sich unmittelbar darauf selbst zu verteidigen. „Özi, pass auf!“, brüllte Anne über den Kampflärm hinweg Öznur eine Warnung zu. Das Mädchen war viel zu verängstigt. Ihr Atem ging hektisch, sie schien gar nicht erst dazu in der Lage vor ihrem Gegner zurückzuweichen. Geschweige denn zu kämpfen. Eagle fluchte. Das kam davon, wenn ein bislang behütet aufgewachsenes Mädchen plötzlich vom einen auf dem nächsten Moment in einer Schlacht landete. Es war kein Vorwurf. Sie konnte nichts dafür und eigentlich war es auch schön, dass ihre Augen bisher nie ein solches Massaker zu Gesicht bekommen hatten. Doch hilfreich war es leider trotzdem nicht. Panisch kniff Öznur die Augen zusammen, als sich einer der Vampire auf sie stürzte, einige Tränen der Angst entkamen ihr dabei. „Jetzt wehr dich doch endlich!“, brüllte Eagle, stieß einen Zombie von sich und musste aber sofort einen Vampir abwehren. Er konnte ihr nicht helfen… Doch da riss der krachende Donner einer magischen Explosion Eagle fast von den Füßen. Er glaubte, sein Trommelfell würde platzen und Tatsache, einige der Unterweltler hielten sich auch schreiend die Ohren zu. Schnell nutzen er, Florian und Anne ihren Moment der Schwäche für sich aus, dezimierten ihre Reihen mit wenigen Angriffen. Erst dann wagten sie einen Blick hinter sich. Von den Unterweltlern aus dem Hinterhalt war kaum einer übrig, der Großteil lag besiegt und häufig nicht mehr ganz vollständig auf dem Gipfel des Berges. Was bei den Dämonen?! Verwundert schaute sich Eagle um, nur um zu sehen, wie Janine schwer atmend ihre Hand wieder sinken ließ. Auch Anne schien wie erstarrt. Hatte dieses kleine Mädchen gerade im ernst ein Drittel der Angreifer im Alleingang pulverisiert?! Nur Florian ließ sich davon nicht ablenken und wehrte die wenigen Übrigen ab, deren Schicksal bereits besiegelt war. Und selbst Janine hatte sich schneller wieder gefangen als Eagle oder Anne, so wie sie zu Öznur eilte und sanft eine Hand auf deren Schulter legte, um sich zu erkundigen, ob es ihr gut ging. Eagle schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen und wandte sich Lukas zu. Dieser hatte der Schlacht nur geistig beigewohnt, doch zur Überraschung der Gewinnergruppe lachte er. „Ihr glaubt wirklich, ihn noch retten zu können, nicht wahr?! Ach wie süß! So naiv!!! Es ist egal, wie sehr ihr euch bemüht, niemals werdet ihr noch rechtzeitig zurückkehren. Das Gift hat der Unzerstörbare höchst persönlich verstärkt. Nur ein kleiner Schluck reicht schon aus, um das Opfer innerhalb ein paar Stunden zu töten.“ „Was?!? Dann haben wir ja so gut wie keine Zeit mehr!“, fiel Öznur schockiert auf. Wieder lachte Lukas. „Rechtzeitig kommt ihr nie an!“ „Das werden wir ja sehen. Geh uns aus dem Weg!“, befahl Anne, die von Lukas sehr schnell provoziert wurde. Dieser schüttelte amüsiert den Kopf. „Tz, tz, tz. Wie unhöflich. Ich bin dreizehn Jahre älter als du, also sei doch bitte etwas respektvoller.“ Eagle richtete sein vom Kampf blutrot glänzendes Schwert auf Lukas. „Wenn du uns nicht durchlässt, bist du gleich einen Kopf kürzer.“, warnte er. Eagle wunderte sich selbst darüber, dass ausgerechnet er Lukas drohte, obwohl er mit Benedicts Tod eigentlich kein Problem haben würde. Irgendwie war in ihm der Drang, seinem Rivalen zu helfen. Und das ärgerte Eagle natürlich. Und diesen Ärger richtete er gegen Lukas, der mal wieder diese komische Lache von sich gab. „Ihr wollt doch nicht etwa tatsächlich in die Höhle der Drachen?! Bei unerwünschten Gästen verstehen die keinen Spaß!“ Eagle ließ seine zweite Stimme, die ihn immer durch ein leises Echo folgte, etwas lauter werden. „Lass uns einfach durch.“, knurrte er. Die machtvolle Stimme ließ Lukas tatsächlich zusammenzucken. Dennoch lachte er erneut „Wenn ihr euren Tod so sehr herbeisehnt...“ Mit einem irren Grinsen ging er einige Schritte zur Seite und gab damit den Weg zu der Wendeltreppe frei, dem Eingang in das Reich der Drachen in den Drachenbergen. Misstrauisch musterten die fünf Lauras Cousin. Gab es noch eine Falle? Dennoch wagten sie sich vorsichtig an ihm vorbei und betraten die Treppe in die Drachenberge. „Ich dachte, er wäre auf der bösen Seite. Warum lässt er uns dann weitergehen?“, fragte Öznur, nachdem sie etwa sieben Meter unter dem Gipfel waren und immer weiter in die Dunkelheit liefen. Florian seufzte. „Ich glaube, er wollte nur Zeit schinden. Wenn das stimmt, was er uns erzählt hat, hat Benni vielleicht nicht einmal mehr eine Stunde. Auch wenn ich glaube, dass er stark genug ist, um noch länger am Leben zu bleiben, reicht das nicht, um rechtzeitig zurückzukommen...“ „Das heißt so viel wie Bennis Schicksal ist eigentlich schon besiegelt...“, stellte Öznur traurig fest und senkte den Kopf. Anne zuckte mit den Schultern. „Warum versuchen wir es dann überhaupt noch?“ „Weil wir ihn nicht im Stich lassen dürfen!“, rief überraschenderweise Janine lautstark aus. „Benni mag vielleicht nicht der geselligste sein und wirkt auf den ersten Blick kalt und abweisend, aber habt ihr euch nie darüber Gedanken gemacht, wieso ausgerechnet er von den Dämonen gesegnet worden ist? Wieso sich Tiere in seiner Gegenwart so wohl fühlen?! Wieso ausgerechnet so ein herzensguter Mensch wie Carsten sein bester Freund ist?! Ich glaube, Benni ist einer der loyalsten, liebevollsten Personen, die Damon je gesehen hat und-“ Eagles Lachen unterbrach Janines ach so rührende Lobeshymne. „Sag mal… hörst du dich eigentlich selbst reden?!“, brachte er zwischen zwei Atemzügen hervor. Tatsächlich sorgte seine Reaktion dafür, dass Janine leicht verunsichert mit einer Haarsträhne zwirbelte. Doch dem stechenden Blick in ihren himmelblauen Augen nach zu urteilen, schien sie sich eher darüber zu ärgern. Ebenso Öznur, die energisch rief: „Jetzt mach mal halblang! Vielleicht hat Ninie ja wirklich recht! Vielleicht ist Benni ja wirklich ein total lieber Typ und braucht nur etwas Zeit, bis er jemandem genug vertraut um diese Seite von sich zeigen zu können. Ich meine… wer weiß, was er schon hat erleben müssen! Vielleicht ist seine abweisende Art nur ein Selbstschutzmechanismus, weil er viel zu häufig schon verletzt worden ist!“ Eagle schnaubte verächtlich. „Und selbst wenn, ist doch egal.“ Öznur warf wütend die Hände nach oben. „Boah, was ist dein Problem?! Du verhältst dich ihm und besonders deinem kleinen Bruder gegenüber wie das letzte Arschloch! Selbst wenn man jemanden nicht ausstehen kann, wünscht man ihm doch nicht direkt den Tod! Oder drückt Zigaretten auf jemandes Handrücken aus!!!“ Ihre Stimme war fast schon hysterisch, so sehr schien sie sich über Eagles Verhalten zu ärgern. „Was ist passiert, dass du dich so asozial einem Familienmitglied gegenüber verhältst?! Deinem kleinen Bruder!!!“ „Das geht dich einen Scheißdreck an!“, erwiderte Eagle schroff und deutlich emotionaler als ihm lieb war. Die unangenehme Wahrheit war: So genau wusste er selbst es noch nicht einmal. Als Kind hatte er Carsten die Schuld für den Tod seiner leiblichen Mutter gegeben. Er wusste nicht, wie sich diese Einstellung so sehr in ihm hatte festsetzen können, dass er für Carsten nach wie vor einen solch unbändigen Hass empfand. Aber es war nun mal so. Er konnte in Carsten nichts anderes als den Mörder seiner Mutter sehen. Wenn er ihn anschaute, musste er immerzu an sie denken… Und das tat scheiß weh. Davon abgesehen war Carsten auch noch der Sohn eines Mannes, der seine sterbende Frau betrogen hatte. Auch wenn Eagle es sich nicht anmerken ließ, er hasste seinen Vater immer noch deswegen. Von wegen Vorbild! Eagle hatte selbst inzwischen schon mehr als genug Scheiße gebaut, auch in Beziehungen. Aber niemals würde er seine Partnerin betrügen! Das war das allerletzte! Wenn man die Beziehung als nicht mehr erfüllend wahrnahm, sollte man zumindest genug Eier in der Hose haben das mitzuteilen, statt jemandes Vertrauen zu missbrauchen und sich insgeheim mit jemand anderem zu vergnügen. Eagle merkte gar nicht, wie sich vor Zorn seine Hände zu Fäusten ballten, bis die Knöcheln weiß hervortraten. Dieser sexgeile Arsch hätte ja zumindest noch warten können, bis sie tot war. Aber schon eine zu haben, während Eagles Mutter noch am Leben war und sich sogar eigentlich an noch verhältnismäßig guter Gesundheit erfreute… Öznur schien ihn beobachtet zu haben, während er sich gedanklich über seinen Vater und Carsten aufregte, denn als er geistig wieder auf der endlosen Wendeltreppe war, ging sie vor ihm rückwärts die Stufen runter. Im Gegensatz zu seinem eigenen hatte ihr Blick inzwischen eher sanfte Züge angenommen. Es wirkte sogar verständnisvoll, als könnte sie ahnen, dass da tatsächlich was unter der Oberfläche brodelte. Was bei Eagles vermutlich sehr verärgerter Mimik auch nicht sonderlich schwer zu erahnen war. „Das geht dich nichts an.“, meinte Eagle erneut und wich diesem fast schon liebevollen Blick ihrer blauen Augen aus. Er fühlte sich nicht wohl dabei. „Weißt du, was mir aufgefallen ist?“, sagte sie schließlich, „Also, ich hab mich jetzt nicht wirklich getraut, dass vor deinen beziehungsweise Carstens Eltern zu sagen, aber Carsten sieht weder seiner Mutter, noch seinem Vater ähnlich!“ Verwirrt runzelte Eagle die Stirn, doch bei genauerem Nachdenken musste er ihr mehr oder weniger Recht geben. Carsten hatte kaum Ähnlichkeiten mit jemandem aus seiner Familie. Von dem typischen Indigoneraussehen mal abgesehen, weshalb er Saya ironischerweise am wenigsten ähnlich sah, da diese ursprünglich aus Yami stammte. So gesehen sah Carsten Eagle sogar noch am ähnlichsten… was durchaus was heißen wollte, wenn man das über so einen Spargeltarzan sagte. „Und weißt du, was ich noch verwirrender finde?“, schwafelte Öznur weiter. Eagle stöhnte genervt auf. „Was denn?“ Seine desinteressierte Äußerung ignorierend meinte sie: „Na ja, jeder in eurer Familie hat braune Augen. Du und dein Vater hellbraun, fast schon orange, und Saya und Sakura dunkelbraun. Nur Carsten nicht. Seine Augen sind lila. Lila!“ „Na und? Vielleicht hat er das ja von einem entfernten Verwandten.“, vermutete Eagle gereizt. Dieses Verhör oder was auch immer das werden sollte ging ihm tierisch auf die Nerven. Endlich schien Öznur bemerkt zu haben, dass sie Eagle mit ihren Beobachtungen keine Freude machte. Genau in dem Moment, in dem sie sich wieder umdrehen und vorwärtslaufen wollte, übersah sie aber die nächste Stufe. Aus purem Reflex streckte Eagle die Hand nach Öznur aus, um ihren Fall zu verhindern, allerdings verfehlte er ihre Hand und erwischte sie stattdessen am Po. Öznur schien in diesem Moment vergessen zu haben, dass Eagle ihr nur helfen wollte, denn kaum hatte sie wieder festen Halt unter den Füßen, schlug sie Eagles Hand grob weg und warf ihm einen wütenden Blick zu. Ihre dunkle Haut bekam eine leichte Rötung auf den Wangen. Ob vor Verlegenheit oder Zorn konnte man nicht genau sagen. Das einzige, das in dieser unangenehmen Situation zu hören war, war Florians Lachen, an dem dieser Depp gefälligst ersticken sollte. Auch Eagle errötete etwas. Aber eine Sache wusste er jetzt ganz sicher: Diese Frau hatte voll den Knackarsch. Anne schien einen sechsten Sinn für Eagles Gedanken zu haben, denn bevor er überhaupt dazu kam, Öznur ein ‚Sorry’ zuzumurmeln, versetzte sie ihm von hinten einen Tritt in die Kniekehle, der Eagle zusammensacken ließ und ihn dazu veranlasste, ihr einen Teils verwirrten und Teils verärgerten Blick zuzuwerfen. „Sag jetzt bloß nichts Falsches, Indigonerschwachkopf. Sei froh, dass ich nicht woanders hingetreten habe.“, schnauzte Anne und blickte von der oberen Stufe auf Eagle herab. Eagle schnaubte genervt und richtete sich wieder auf. „Wäre es dir lieber, wenn Öznur diese ganzen Stufen runtergefallen wäre? Dann wäre sie immerhin als Erste unten angekommen.“ Öznur gab ein empörtes „Hey!“ von sich und Anne schien schon zum Schlag ausholen zu wollen, doch genau in diesem Moment stieg eine riesige, schwarze Rauchwolke an der Gruppe vorbei und hinaus, bis über die Wolken. Gleichzeitig wurde es in dem endlosen Eingang unnatürlich heiß. Ein tief klingender Windstoß ließ in regelmäßigen Abständen die Wand vibrieren und kleine Steine herunterrieseln. Die Erschütterungen wurden immer lauter, Eagle konnte die Vibrationen selbst durch seine Schuhe unangenehm stark spüren. Und dann tauchte der Verursacher dessen auf. Ein riesiges, echsenartiges Wesen, das sich mit gemächlichen, Staub aufwirbelnden Flügelschlägen in der Luft hielt. „Was wollt ihr Wesen Damons hier?!?“, fragte es mit rauer und schneidender Stimme. Janine wich ängstlich zurück und die Flügelschläge bliesen Eagle einen kochend heißen Wind entgegen. „Wir brauchen eine Feuerblume.“, antwortete Florian so ruhig, dass Eagle vermutet hätte, der Elb würde mit einem Freund und nicht mit einem mordlustigen Tier reden. Der Drache lachte und größere Brocken lösten sich von der Felswand. „Und ihr denkt, dass ihr einfach so in unser Reich spazieren und dann auch noch so einen Lärm veranstalten könnt? Beachtet den Vertrag! Wenn ihr uns nicht in Ruhe lasst, werden wir uns auch nicht mehr an die Vereinbarung halten.“, warnte die zu groß gewordene Echse. Öznur sah das Riesenvieh flehend an. „Können wir nicht eine Ausnahme machen? Es geht um Leben und Tod!“ Wieder lachte der Drache. „Ist das nicht immer der Fall? Glaub mir Kleine, wir haben mit viel Tod für dieses Leben bezahlen müssen.“ Anne zischte mal wieder. „Ihr habt gefälligst der Herrin eures Elements Respekt entgegen zu bringen.“ Die gelben Augen des rubinroten Drachen weiteten sich. „Wer besitzt den Roten Fuchs?“ „Ähm… ich.“, meldete sich Öznur etwas eingeschüchtert zu Wort und hob wie in der Schule die Hand. Dieses Mal konnte sich der Drache vor Lachen nicht mehr einkriegen. Die Brocken die nun an der Gruppe vorbeizischten hatten schon die Größe eines ausgewachsenen Rehs. Eagle fragte sich, wie diese Drachenberge überhaupt noch existieren konnten. Oder war nur dieser Drache ein besonders amüsiertes Exemplar? Schließlich beruhigte das Schuppenvieh sich wieder. „Beweist es mir und ich mache eine Ausnahme.“, sagte er knurrend. Öznur legte den Kopf schief. „Wie soll ich es denn beweisen?“ „Oh mein Gott…“, sagten Eagle, Florian und der Drache zu haargenau derselben Zeit. Das konnte doch nicht wahr sein! „Wie wäre es, wenn du Energie einsetzt?“, schlug Florian geduldigen Lächelns vor. Da war Öznur doch zu etwas zu gebrauchen und dann bekam sie es nicht richtig auf die Reihe! Diese nickte. „Na gut.“ Sie starrte auf einen Punkt in der Luft und schlagartig wurde es noch wärmer, als es ohnehin schon war. Kurz darauf loderten kleine und doch bedrohlich wirkende Flammen auf und schwebten flackernd an dieser einen Stelle. Eagle konnte die Energie spüren, die von diesen Flammen ausging. Das Feuer war schon immer eine mächtige, zerstörerische Kraft. Doch mit der Energie wirkte es nochmal anders. Noch mächtiger. Noch zerstörerischer. Allerdings auch ebenso warm und leidenschaftlich. Feuer hatte auf Eagle schon immer eine gewisse Faszination ausgeübt, auch als kleiner Junge schon. Wie geborgen man sich selbst in einer eisigen Nacht bei einem Lagerfeuer fühlen konnte. Doch wenn man nicht aufpasste, hatte es die Macht einen verhängnisvollen Schaden anzurichten. Eagle betrachtete Öznur und lachte in sich hinein. Sie repräsentierte ihr Element wirklich hervorragend. Diese wandte sich wieder dem Drachen zu. Kaum hatte sie ihre Aufmerksamkeit den Flammen entrissen, verschwanden sie sofort in einer kleinen Rauchwolke. „Da hast du deinen Beweis. Zufrieden? Lässt du uns nun weiter?“ Wie als wäre er in Verlegenheit geraten, kratzte sich der Drache mit einer Kralle an dem rechten Vorderbein. „Nun ja… Das habe ich um ehrlich zu sein nicht erwartet… Die Wahrheit ist, junge Besitzerin des Roten Fuchses, dass ich keine Ausnahme machen darf. Für niemanden. Ich bedaure es sehr, euch nicht helfen zu können.“ Anne stöhnte auf. „Das kann doch nicht wahr sein! Wir verlieren hier nur Zeit! Bis dahin ist der eiskalte Engel schon längst tot.“ Florian schüttelte traurig den Kopf. „Gibt es denn keine andere Möglichkeit?“ Auch der Drache schüttelte sein riesiges Haupt. „Nein, leider nicht. Es wäre etwas Anderes, wenn ihr den Gründer des Vertrags um Einlass gebeten hättet. Sie ist die Herrin unseres Wesens und außerdem parteilos. Sie könnte euch diesen Einlass gewähren.“ Genau in dem Moment ertönte über der Gruppe eine Stimme. Sie war erfüllt von der Macht eines Donners, doch gleichzeitig war sie so ruhig wie ein wolkenloser Himmel. „Ich gewähre euch Einlass, junge Dämonenbesitzer. Euresgleichen wurde in der Abmachung nicht erwähnt, ihr könnt also das Reich der Drachen betreten, ohne jegliche Verträge zu brechen. Und nun spurtet euch.“ Genauso blitzschnell, wie sie gekommen war, war die Stimme auch wieder verschwunden. Respektvoll neigte das riesige Geschöpf das Haupt. „Wie ihr wünscht, Herrin.“ Er flog näher an die Wand des Berges und krallte sich so an den Steinen fest, dass die Gruppe auf den Rücken des mindestens zwanzig Meter hohen Geschöpfs klettern konnte. Kaum waren alle aufgestiegen, flog der Drache auch schon in unmenschlicher Geschwindigkeit dem Abgrund des Eingangs entgegen. Wie im Sturzflug bremste er erst kurz vor dem Boden ab, um mit einem schwindelerregenden Manöver in eine waagerechte Flugrichtung zu kommen. Öznur schrie so, als würde sie sich in einer Achterbahnfahrt befinden, doch Eagle krallte sich keineswegs an die Schuppen des Drachen, sondern hob die Arme über den Kopf und gab ein freudiges Jauchzen von sich. Er liebte es, zu fliegen und diese Freiheit zu fühlen, wenn man nicht gerade im Flugzeug saß. Kaum hatte sich die Fluggeschwindigkeit des Drachen zu Eagles Bedauern wieder gemäßigt, rief Öznur begeistert: „Wie schön es hier ist!!!“ Eagle sah sich um und musste ihr irgendwie Recht geben. Im Gegensatz zu dem Rest der Ivory-Region wirkte dieser Ort keinesfalls kitschig. In der überdimensionalen Höhle, in der eine Hitze gleich eines dampfenden Sprudelbads herrschte, waren egal wo man hinsah Edelsteine. Rubin, Saphir, Topas, Smaragd, Onyx, Bergkristall, Aquamarin und was es sonst noch so von Frauenverführern gab. Auch Diamanten konnte Eagle entdecken. Zwar gab es sie nicht in allzu großen Mengen, verglichen mit den anderen Funkeldingern, aber es gab sie. Wie viel diese Schatzhöhle wohl wert wäre? Damit könnte man ein riesiges, heruntergekommenes Reich wiederaufbauen und es auch noch zu dem reichsten auf dem Planeten machen! Ein Reich, größer als Damon! Selbst Anne nickte anerkennend. „Kein Wunder, dass hier niemand hindarf.“ Der Drache schüttelte den Kopf. „Das ist nicht der Grund. Die Kristalle brauchen wir eigentlich überhaupt nicht, sie sind einfach da. Der Grund für den Vertrag war die Machtgier der Wesen, die in Damon leben. Besonders die der Menschen.“ Schweigend beobachtete die Gruppe ihre Umwelt. Sie war der der Menschen gar nicht so unähnlich, nur bei weitem magischer. ‚Kleine’ Drachenkinder spielten fangen und übten sich am Feuerspeien, allerdings kam lediglich dunkler Rauch aus ihrem Rachen. Ihre Schuppen hatten dieselben Farben, wie die Kristallwiesen um sie herum und gaben diesem tiefen Reich seinen eigenen kleinen Regenbogen. Der rubinfarbene Drache steuerte direkt auf einen riesigen Baum zu, dessen Blumen in voller Blüte standen. Nun verstand Eagle auch, warum diese Blume, die sie suchten, Feuerblume hieß. Die Blütenblätter verdeckten den eigentlichen Baum und ließen es mit ihren Formen und Farben von Flammen so aussehen, als würde der gesamte Baum brennen. Der Drache flog vor dem Baum auf einer Stelle. „Da sind die Feuerblumen, die ihr sucht.“ Öznur streckte den Arm aus und schaffte es gerade so, eine der Blumen zu pflücken, ohne von dem schuppigen Rücken des Drachen zu fallen. „Wie schön sie sind!“, rief sie begeistert. Anne verdrehte die Augen. „Mehr brauchen wir hoffentlich nicht.“ Florian schüttelte den Kopf. „Nö, eine reicht. Aber die Zeit wird knapp…“ Das Riesentier wurde neugierig. „Wenn ich fragen darf, junge Dämonenbesitzer: Wofür braucht ihr diese Blume eigentlich, dass ihr eine solche Gefahr auf euch nehmt?“ Eagle verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte. Er war immer noch unfreiwillig dabei. „Ein Bekannter wurde von einer Eisblume vergiftet.“ „Und deswegen müssen wir uns jetzt auch beeilen.“ Anne wandte sich an Öznur und Janine. „Also los, teleportiert uns weg.“ Öznur blickte nach oben um nachzudenken und kratzte sich schließlich am Hinterkopf. „Tja, ähm… Das geht leider nicht.“ „Wie meinst du das?“, fragte die Prinzessin von Dessert misstrauisch. Die Wangen der Besitzerin des Roten Fuchses färbten sich rot. „Nun ja, was den Zauberspruch betrifft… Ich… ich hab ihn vergessen…“ Anne stöhnte auf. „Das ist jetzt ein Witz, oder? Und Carsten hat dir extra noch gesagt, du sollst ihn aufschreiben!“ „Da wusste ich ihn aber noch!“, verteidigte sich Öznur und holte ihr Smartphone aus der Tasche ihrer Röhrenjeans. Nach einem Blick auf das Display seufzte sie schließlich. „Kein Empfang.“ „Armer Benni. Das Schicksal will wohl nicht, dass wir ihn retten.“, meinte Janine und senkte traurig den Kopf. Der Drache drehte den langen Hals, um die Gruppe ansehen zu können. „Meint ihr etwa Benedict Ryū no chi?“ Anne hob die Arme gen Himmel -oder eher zur Decke des Drachenreiches-. „Ernsthaft, gibt es überhaupt jemanden in Damon, der den eiskalten Engel nicht kennt?“ Der Drache sah so aus, als würde er eine Augenbraue heben, falls Drachen so etwas in der Art haben. „Er ist der Lehrling unserer Herrin, die uns den Frieden gebracht hat. Durch sie kommt er eben viel rum.“ „Kannst du- können Sie uns nicht nach Indigo fliegen?“, fragte Janine zögernd und senkte respektvoll den Kopf. Der Drache schüttelte den Kopf. „Es tut mir sehr leid, aber ich darf den Vertrag nicht brechen. Ihr müsst einen anderen Weg finden.“ Anne warf einen Blick auf den Hauptmann. „Du zauberst doch auch. Kannst du diesen Hühnern mit Amnesie nicht einfach den Spruch sagen?“ „Huhn mit Amnesie?!? Jetzt hör mal Anne-“, setzte Öznur schon an, doch Florians Aufzählungen unterbrachen sie. „Je nachdem, was für einen Zauber ihr braucht. Ist es eine Teleportation in der Luft, unter der Erde oder gar durch sie hindurch? Wie schnell wollt ihr sein oder wollt ihr nur die Blume teleportieren? Außerdem benutzen manche fortgeschrittenere Magier nicht den ganzen Text, sondern nur kürzere Versionen. Das heißt also, ihr müsst seine Gestik und Mimik ganz genau kennen, um die fehlenden Verse ergänzen zu können und-“ Anne hob abwehrend die Hände. „Okay, das können wir jetzt nicht so genau sagen. Das heißt also, wir werden bis zu Lauras Tod ihr Kummerkasten sein. Oh man, dieser Typ macht nichts als Ärger!“ Als Anne Laura erwähnte wurde Eagle aufmerksam. „Wie meinst du das mit Kummerkasten?“ Öznur verdrehte die Augen. „Komm schon, so schwer von Begriff solltest du eigentlich nicht sein. Jeder Blinde sieht, wie viel Laura für Benni empfindet. Das ist nicht nur so ne Schwärmerei, wie bei mir oder Lissi. Na gut, was Lissi betrifft, da weiß niemand so genau, was sie von Benni will…“ Seufzend senkte Eagle den Kopf. Natürlich. Er hätte es eigentlich erkennen sollen, als die Gruppe inklusive Laura und Benedict auf dem Sportplatz aufgetaucht war. Laura war ausgerechnet in den herzlosen Waldläufer verliebt. Vermutlich waren ihr Eagles Gefühle noch nicht einmal aufgefallen… Mal wieder beobachtete Öznur Eagles Gesicht. Verärgert drehte er sich weg. „Na sieh einer an. Du magst sie also wirklich.“, bemerkte sie. „Das geht dich nichts an.“ Unbeabsichtigt wurde Eagles ‚zweite Stimme’ lauter. Florian musterte Eagle. „Du kannst sie doch nach Indigo bringen.“ Eagle verstand sofort, worauf der dreiste Elb hinauswollte. Stur schüttelte er den Kopf. „Vergiss es. Das ist der nicht wert.“ „Was?“, fragte Öznur verwirrt. Florian zuckte mit den Schultern. „Willst du Laura das wirklich antun? Wenn du tatsächlich etwas für sie empfindest, würdest du dir wünschen sie wäre glücklich und nicht so egoistisch handeln.“ „Wie?“, fragte nun auch Anne verwirrt. Eagle schnaubte. „Aber-“ „Kein aber. Wenn du dich beeilst könntest du es schaffen.“ Florian setzte sein dreistes Grinsen auf. „Außerdem verdienst du dir bei ihr so ein paar Pluspunkte.“ „Wovon redet ihr?“, fragte schließlich auch die kleine Janine. Geschlagen senkte Eagle den Kopf. „Na schön. Gebt mir das Ding, ich bring es zu meinem feigen Halbbruder.“ „Okay, erstens: immer noch ‚was?’ und zweitens: wie willst du das denn anstellen?“, fragte Öznur immer noch verwirrt, gab Eagle aber trotzdem die Feuerblume. Überrascht stellte Eagle fest, dass ihre Blüten so warm waren, wie Metall, wenn es einige Minuten in der Sonne gelegen hatte. Er schloss die Augen und konzentrierte sich nur noch auf seine Energie, den Wind. Er konnte ihn mit allen Sinnen wahrnehmen. Er sah die Böen, wie sie durch den aufgewirbelten Staub sichtbar wurden. Roch die Luft, wie sie die Düfte meilenweit transportieren konnte. Er hörte das Pfeifen des Windes und spürte die sanften Liebkosungen auf seiner Haut und war auch in der Lage, ihn zu schmecken. Der Wind war nicht bloß seine Energie. Er selbst bestand aus Energie. Eagle selbst war der Wind.   ~*~   Staunend beobachtete Öznur, was mit dem zukünftigen Indigonerhäuptling passierte. Ein mächtiger Tornado umspielte seinen muskulösen Körper und mit einem Ratsch zerriss das Hemd an seinem Rücken und zwischen seinen Schulterblättern sprießten graue Federn ins Freie. Aber Eagle schien das keineswegs weh zu tun. Er wirkte ganz entspannt und schien gar nicht zu merken, dass da irgendetwas mit ihm passierte. Als er schließlich die Augen aufschlug, entfaltete er die eleganten Schwingen, die auf seinem breiten Rücken gewachsen waren. Öznur stockte der Atem. Eagle war wirklich verdammt hübsch. Das hatte sie schon gewusst, als es hieß, sie würden Carstens Halbbruder besuchen. Immerhin: der war ja auch nicht ohne, auch wenn er das selbst gar nicht zu wissen schien. Aber Eagle so zu sehen, mit den riesigen, anmutigen Adlerflügeln und dem dämonischen Blick in seinen bernsteinbraunen Augen, deren Augapfel nun nicht mehr weiß, sondern grau war, das war etwas ganz Anderes. Von dem verdammt hübschen jungen Mann, zum gefährlichen Verführer. Öznur musste sich eingestehen, dass dieser Typ genau ihr Typ war. Aber auf Anne schien sein betörender Blick keine Wirkung zu haben. „Was ist das?“, fragte sie misstrauisch und hob eine Augenbraue. Florian prustete sofort los. „Das ist ein Eagle. Genauer gesagt Eagles wahre Gestalt.“ „Kapier ich nicht.“, meinte Öznur planlos. Hatte der gutaussehende, aber leider ziemlich schlaksige Elb da gesagt, Eagle würde eigentlich so aussehen?!? Wenn das ein Traum war, war sie sich nicht mehr sicher, ob sie daraus aufwachen wollte, wenn es dort so sexy Typen gab. Immer noch lachend schüttelte Florian den Kopf. „Das ist doch nicht euer ernst, oder? Ihr seid Dämonenbesitzer und kennt eure stärkste Waffe nicht?“ Die Mädchen schüttelten den Kopf. Sogar der Drache seufzte, als Florian erklärte: „Das nennt man die ‚Dämonenform’. Durch ein Ritual wird dem gebannten Dämon mehr Freiraum gelassen und das Ausmaß der Kraft und der Fähigkeiten wird verstärkt. Aber eigentlich ist sie nur eine andere Bezeichnung für ‚Halbdämon’.“ „Das heißt, Eagle ist kein richtiger Mensch?“, fragte Janine erschrocken und gleichzeitig war auch Bewunderung in ihrer Stimme zu hören. Gemeinter Eagle begann zu lachen. „Das hört man mir doch an.“ Florian schüttelte lächelnd den Kopf. „Die Dämonenbesitzer, die zu Halbdämonen geworden sind müssen sich wegen diesen ängstlichen Menschen immer noch als ‚normale’ Menschen tarnen, aber man erkennt sie immer an ihrer ‚zweiten Stimme’, eine Art ganz leises Echo, die durch die starke Verbindung mit dem Dämon entstanden ist.“ „Das heißt, du bist auch ein Halbdämon.“, bemerkte Öznur, als sie auf diese zweite Stimme aufmerksam wurde, die sowohl bei Florian, als auch bei Eagle zu hören war. Beide Stimmen strotzten nur so vor Macht, doch sie klangen immer noch unterschiedlich. An ihren Dämon angepasst. „Und Eufelia-Sensei auch.“, meinte Anne. Öznur musste Laura schon Recht geben, diese ältere Frau war tatsächlich unheimlich. Immerhin lebte sie alleine mitten in dem größten und unheimlichsten Wald, der je existierte. Der Drache räusperte sich und aus seinem Maul schoss eine Stichflamme. „Ich dachte, ihr müsstet euch beeilen.“ Öznur schlug sich die Hand auf die Stirn. Verdammt waren sie leicht ablenkbar. Am Ende würde Benni nur deswegen sterben! Anne musterte Eagles Flügel. „Bist du damit schnell genug?“ Eagle nickte. „Hoffen wir’s.“ „Aber wehe du stellst irgendwas an!“, warnte Öznur ihn. Seufzend schüttelte Eagle den Kopf. „Werde ich nicht. Wenn der Depp wegen mir unter der Erde landet, dann wäre Laura-“ Abrupt brach Eagle ab. Öznur verkniff sich ein Grinsen. Irgendwie war es schon lustig, dass gerade dieser Typ Laura mochte. Das zierliche Mädchen schien einfach nicht seinen Ansprüchen zu entsprechen, da sie halt so zierlich war. Aber trotzdem mochte Eagle sie so sehr. Anne nickte ihm zu. „Na gut, also du fliegst los und wir versuchen auf dem Gipfel vom Berg Empfang zu bekommen.“ Eagle nickte und stieß sich mit einem mächtigen Flügelschlag vom Rücken des Drachen ab. In der nächsten Sekunde war er auch schon verschwunden. Janine verschränkte ihre Finger. „Hoffentlich schafft er es…“ Florian klopfte ihr aufmunternd auf die Schultern. „Keine Sorge, er muss. Wenn nicht, dann hat er sich mehr Feinde gemacht, als ihr denkt.“ Anne hob mal wieder eine Augenbraue. „Nur, weil er versagt hätte?“ Florian nickte. „Schon alleine deshalb.“ „Falls ihr nichts dagegen habt, begleite ich euch bis kurz vor den Gipfel.“, schlug der Drache vor. Öznur mochte ihn. Schon alleine wegen seinem Humor. „Na gut. Gehen wir auf Netzjagd.“, meinte sie und klang zum Glück motivierter, als sie sich fühlte.   ~*~   Laura registrierte gar nicht, dass sie sich mal wieder eine Träne wegwischte und drauf und dran war, Rotz und Wasser zu heulen, bis Ariane ihr ein Taschentuch hinhielt. Es kam lediglich ein schwaches „Danke.“ über Lauras Lippen. Ariane seufzte. „Hoffentlich kommen sie bald…“ Laura nickte nur. Benni wirkte schon so gut wie tot... Da war es von Vorteil, dass man die Wolken seines eiskalten Atems sehen konnte. Denn noch atmete er, wenn auch sehr schwach und unregelmäßig. „Noch haben wir Zeit.“, meinte Carsten ruhig. „Benni lässt sich nicht so leicht töten, selbst wenn jemand das Gift sogar verstärkt haben sollte.“ Ariane schnaubte. „Ja, noch hat er Zeit. Fragt sich nur, wie lange er noch Zeit hat.“ Lauras Schluchzer brachte Ariane zum Glück zum Schweigen. Sie vergrub ihr Gesicht in dem Taschentuch, das sie bekommen hatte und wünschte, dass sie nicht nur im Weg herumstehen könnte. Als Carsten auch noch so tollpatschig wie er war über ihren Fuß stolperte, stand sie auf und wollte das Zimmer nur noch verlassen. „Wo willst du denn hin, Laura?!?“, rief Ariane ihr hinterher. „Euch nicht im Weg stehen.“, nuschelte Laura als Antwort und hoffte, nicht allzu verheult auszusehen. Carsten betrachtete sie besorgt und verwirrt zugleich. „Wie kommst du denn da drauf?“ „Na ja… Du hattest doch gesagt, ich würde nur ein Hindernis sein und dann bist du eben auch noch über mich gestolpert…“, meinte Laura und senkte deprimiert den Kopf. Susanne schien sich nicht entscheiden zu können, ob sie lachen oder ihr einen mitleidigen Blick zuwerfen sollte. „Jetzt komm schon, Laura. Du weißt genau, dass Carsten zwei linke Füße hat.“ Dieser wurde rot und senkte den Kopf. „Tut mir ja leid, dass ich in Gedanken bei dem Gegengift und den anderen Zutaten bin.“, verteidigte er sich und warf Laura seinen halb freundlichen, halb traurigen Blick zu, der einen dazu veranlassen konnte, Carsten einfach nur knuddeln zu wollen. „Und ich habe außerdem gesagt, dass du dort ein Hindernis bist.“ Susanne konnte ein amüsiertes Kichern nicht unterdrücken. „Wo er Recht hat, hat er Recht. Dass du hier im Weg sein würdest, hat Carsten nicht erwähnt.“ Laura fasste jedenfalls was das betraf etwas Hoffnung. „Das heißt, ich bin für euch kein Hindernis?“ Carsten verdrehte lächelnd die Augen. „Du hattest Benni doch gehört, wir beide sollten hierbleiben. Er macht sich sowieso andauernd Sorgen um dich, auch wenn er das niemals zugeben würde. Da wäre es keine so gute Idee, dich auf eine halsbrecherische Mission zu schicken.“ Laura schüttelte seufzend den Kopf und musterte Bennis Gesicht, so weit sie imstande war unter ihren Tränen etwas zu erkennen. Denn in ihrem Kopf hatte sie den Benni vor etwa einer Woche, der behauptet hatte sich Sorgen zu machen wäre eine Schwäche. Ob Carsten Recht hatte? Eigentlich schon, Carsten hatte immerhin immer Recht. Immer noch weinend setzte sich Laura an die Bettkante. „Sie kommen nicht mehr rechtzeitig.“, murmelte sie. Ariane stand auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Du sollst doch nicht so pessimistisch sein! Sie könnten jede Sekunde hier auftauchen!“ Kaum war Arianes letztes Wort verklungen, wurde die Tür aufgerissen und Eagle trat nach Luft schnappend ein, beziehungsweise stolperte über die Türschwelle. „Wo kommst du denn her?“, fragte Carsten verwundert seinen Halbbruder, der sich kraftlos gegen die weiße Tapete lehnte und Carsten eine Hand entgegenhielt. „Frag nicht, Idiot. Nimm einfach.“ Als Eagle seine Hand öffnete, kam Laura trotz ihres verheulten Gesichts aus dem Staunen nicht mehr raus. Die Feuerblume machte ihrem Namen alle Ehre, mit den flammenförmigen, tiefroten Blütenblättern. Carsten sah ihn erstaunt an, nahm aber ohne zu zögern die Blume und machte sich sofort an die Arbeit. Laura musterte Eagle genauer. Auch wenn sie ihn nicht ausstehen konnte, Eagle schien noch rechtzeitig gekommen zu sein und wirkte auch noch so, als wäre er den Weg von Ivory nach Indigo gerannt, oder wie auch immer er das angestellt hatte. Kurz erwiderte er ihren Blick, allerdings wandte sich Laura schnell ab. Hatte er sie da tatsächlich angelächelt? Nein, ganz sicher nicht. „Warum misst du das alles überhaupt ab?“, fragte Ariane neugierig, die Carsten bei seiner Arbeit beobachtete. Hatte Laura durch ihre Heulerei in letzter Zeit Sehstörungen bekommen, oder warum schien Carsten irgendwie nervös? Oh Gott, werd' ich langsam verrückt?!? Aber Carsten schien sich tatsächlich krampfhaft auf seine Mixtur zu konzentrieren, als er antwortete: „Weil auch die Feuerblume giftig ist. Bei der richtigen Menge hebt sie das Eisblumengift auf, aber wenn es zu viel ist, vergiftet sie den Körper auf ihre Art.“ Nein, Laura bildete sich das nicht ein. Er wirkte irgendwie nervös. Trotzdem bekam er das Gegengift nach wenigen Minuten fertig. „Jetzt muss Benni es nur noch trinken!“, rief Laura begeistert. Benni war gerettet! „Wenn wir es ihm direkt ins Blut spritzen wirkt es aber schneller.“, meinte Carsten nur und nahm eine dieser Arztspritzen, vor denen Laura am liebsten immer Reißaus nehmen würde. Waren so lange Nadeln wirklich notwendig?!? „Uff, na toll.“, meinte Ariane, mit derselben ironischen Begeisterung, die Laura verspürte. Doch im Gegensatz zu Ariane sah Laura zu, als ihr bester Freund seinem besten Freund das Gegengift direkt in eine Ader spritzte. Schaudernd wandte sie sich schließlich doch ab. „Und?“, fragte sie erwartungsvoll und musterte Benni erst dann wieder, als sie sich ganz sicher war, dass Carsten sein Piekswerkzeug Saya gab, die eben in das Zimmer gekommen war. Saya trug ihren weißen Kittel, sie schien also direkt von dem Krankenhaus der Indigoner gekommen zu sein, das sie leitete. Aufmunternd lächelte sie Laura an. „Lass das Gegengift doch erst einmal wirken.“ Laura konnte nur hoffen, dass Carstens Finger nicht allzu sehr gezittert hatten und er deshalb zu viel oder zu wenig von der Feuerblume benutzt hatte. Sie fragte sich immer noch, warum er so nervös war. Garantiert nicht wegen des Gifts der Feuerblume. Kapitel 16: Reich der Vampire ----------------------------- Reich der Vampire        Erschrocken drehte sich die kleine Gruppe in Carstens Zimmer um, als schwungvoll die Tür aufgerissen wurde und Anne energisch eintrat, gefolgt von Öznur und Janine, die kaum mit ihr Schritt halten konnten. „Das war wohl ein Scherz, oder!?! Laura geht nicht ran, Arianes und Susannes Handys sind aus, Carstens Nummer kennen wir nicht und Lissi brauchte eine Stunde, um euch Bescheid zu sagen?!?“, schrie Anne außer sich vor Zorn. Carsten seufzte. „Ich habe euch doch gesagt, schreibt den Zauber auf.“ „Na und?!?“, schnauzte Anne, „Warum hat das eigentlich so lange gedauert, Lissi?!?“ Lissi blickte von ihrer neuen Tonne von Klamotten auf, die sie mit Sakura auf dem Boden ausgebreitet hatte. Lauras Ansicht nach etwas zu nah an dem Bett, in dem Benni lag. Lissi begutachtete eine neue Kette und zuckte mit den Schultern. „Süße, Saki und ich mussten zum Shoppen auf die andere Seite von Karibera. Da hat es etwas gedauert, bis wir wieder hier waren. Aber Anni-Banani, du hättest auch etwas geduldiger sein können, findest du nicht auch, Süße?“ „Geduldiger?!?“, schrie Anne in Rage versetzt und hob die Faust in die Höhe. „Beruhig dich, so lange mussten wir doch auch nun wieder nicht warten.“, meinte Öznur beschwichtigend. Anne verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, ja, ja, klar. Trotzdem haben wir Zeit verloren. Uns bleibt nur noch morgen, für unsere Suche, nach den anderen Dämonenbesitzern. Und das sind drei, wenn ich mich nicht verrechnet habe.“ Susanne hob beschwichtigend die Hände. „So schlimm ist das jetzt auch nun wieder nicht, Benni schläft sowieso noch. Also seid auch nicht so laut, er soll sich erholen.“ „Also hat Eagle es noch rechtzeitig geschafft?“, fragte Janine erleichtert. Carsten nickte ihr lächelnd zu. „Dank Eagle lebt er noch.“ Laura schaute zu Eagle rüber, der die ganze Zeit nur schweigend an einer Wand lehnte. „Danke.“ Und sie war ihm wirklich dankbar. Zwar war Eagle ein selbstgefälliges, egoistisches, notorisches Arschloch der Oberklasse, wie Carsten es so schön gesagt hatte, aber dennoch schien er all seine Kraft aufgewendet zu haben, um ihnen die Feuerblume zu bringen. Wäre er auf demselben Weg wie Öznur, Anne und Janine gekommen, wäre Benni bereits… Laura konnte ihren Gedanken nicht beenden. Eagle wich ihrem Blick aus. „Keine Ursache…“ Verwirrt sah Laura Öznur an, die sich damit abmühte, ihr Kichern zu unterdrücken. Was hat die denn? „Ähm, Leute…“, kam die süße Janine zu Wort. „Ja, Ninie???“, fragte Ariane und umklammerte Janine mit ihrer Würgeumarmung. Laura fragte sich, ob die Grüne Schlange nicht doch eher zu ihr passen würde. So weit Janine in der Lage dazu war, zu reden, meinte sie: „Kommt es nur mir so vor, oder hat der ‚eiskalte Engel’ tatsächlich irgendwie eine andere Ausstrahlung als sonst?“ Verwirrt befreite Ariane Janine und musterte Benni ungläubig, genauso wie der Rest der Gruppe. Nur Eagle wandte schnaubend den Kopf von ihm ab. Öznur legte den Kopf schief. „Stimmt irgendwie… Er hat nicht mehr diese ‚eiskalte Engel Wirkung’.“, überlegte sie. „Özi-dösi, das liegt daran, dass mein Bennlèy einfach zuckersüß ist.“, meinte Lissi mit ihrem selbstverständlich klingenden Tonfall und warf dem schlafenden Benni einen Luftkuss zu. Anne täuschte einen Würgreflex vor. „Igitt, wie widerlich ist das denn? Ich könnte kotzen.“ „Ach, Anne.“ Öznur schüttelte seufzend den Kopf. „Aber irgendwie müssen wir Lissi schon Recht geben…“ „Nicht du auch noch, Susanne! Das hätte niemand von dir erwartet!“, rief Ariane bestürzt. Susanne lachte auf. „Nein Nane, ich habe das nicht so gemeint wie meine Schwester. Was ich sagen wollte ist: Benni wirkt nicht mehr so kalt wie sonst.“ Spöttisch verdrehte Anne die Augen. „Natürlich. Weil das Gift der Eisblume auch nicht mehr wirkt.“ Susanne schüttelte lächelnd den Kopf. „Ihr wisst, worauf ich hinauswill. Benni hat auf einmal eine sanfte, liebenswerte Ausstrahlung. So unschuldig wie ein kleines Kind.“ Carsten lachte. „Das sollte er aber besser nicht erfahren.“ „Ihr seid ein komisches Gespann… Haltet euch bis zu diesem Weltuntergang bloß von mir fern.“, meinte Eagle genervt und verließ Carstens Zimmer. Ariane seufzte. „Mensch hat der Komplexe.“ Öznur grinste. „Er ist halt einfach ein bisschen neidisch auf Benni.“ Weder Laura, noch Ariane verstanden ihre Aussage, doch keiner der Anderen gab sich die Mühe, es ihnen zu erklären. „Ich glaube, du kommst jetzt alleine klar, oder?“, fragte Susanne Laura. „Was?!? Nein! Ihr könnt mich doch nicht…! Das ist gemein, ich weiß doch gar nicht…!“, rief diese geschockt. Carsten unterdrückte ein Lachen. „Du sollst nur ein Auge auf Benni werfen. So schwer fällt dir das jetzt auch nun wieder nicht, oder?“ Mit hochrotem Kopf setzte sich Laura auf die Bettkante. Ja, sogar sie hatte Carstens Andeutung verstanden. Susanne überredete die missmutigen und herumschimpfenden beiden Mädchen, die zwischen ihren Kleiderbergen saßen, ihre Sachen wieder in die Tüten zu räumen und auch aus dem Zimmer zu gehen. „Ihr wollt mich doch nicht etwa wirklich alleine lassen?!? Was ist, wenn Benni aufwacht?!?“, fragte Laura panisch. Ariane und Carsten, die noch die letzten im Zimmer waren, lächelten sie amüsiert an und verließen es schließlich auch. Grummelnd setzte sie sich wieder auf den Teppich vor Bennis Bett. Wenn er wirklich aufwachen würde, würde er sie sonst sicher für eine Stalkerin oder so halten. So einen Eindruck sollte er nicht von ihr bekommen. Da war die ängstliche Heulsuse doch bei weitem angenehmer. Erschöpft lehnte Laura ihren Kopf gegen die Bettkante. Sie fühlte sich so unglaublich müde, als wäre sie die ganze Nacht aufgeblieben. Und schwindelig war ihr auch. Sie hoffte, dass dieser und der morgige Tag schnell vorübergingen. Trotz Bennis Energieschub glaubte sie kaum, dass sie diese Tortur wirklich überleben könnte. Aber jetzt wollte sie noch nicht schlafen. Heute wollten sie doch noch einen der Dämonenbesitzer ausfindig machen und das sollte Laura besser nicht verpassen. Aber zumindest mal die Augen schließen. Das tat schon gut… Nach einer gefühlten Ewigkeit, Laura wäre fast eingenickt, da hörte sie das Rascheln von Stoff hinter sich. Mit einem Schlag war Laura wieder hellwach. „Benni!!! Dem Himmel sei dank, dir geht es gut!“, rief sie überglücklich. Überwältigt von Erleichterung sprang sie auf und fiel Benni so stürmisch um den Hals, dass dieser noch nicht ganz bei Kräften wieder zurück ins Bett fiel. Wie erwartet erwiderte Benni nichts. „Ich weiß, dass ich aus deiner Sicht höchst wahrscheinlich wieder überreagiere, aber ich habe mir solche Sorgen gemacht! Warum musst du dich nur immer in Lebensgefahr bringen?!?“ Schluchzend presste Laura ihr Gesicht gegen Bennis Schulter. Sollte er sie doch für sensibel und ängstlich halten. Ihr war das egal, solange es Benni gut ging. „Nicht freiwillig.“, meinte Benni bloß nüchtern und schob sie von sich, um sich endlich aufrichten zu können. Leicht verschüchtert, da sie erst jetzt realisierte was sie da gemacht hatte, brachte Laura etwas mehr Abstand zwischen sich und Benni. Ihr ganzer Körper zitterte, doch ihr war nicht kalt, sondern kochend heiß. Ein für Laura hochgradig peinliches Schweigen entstand. Verzweifelt suchte sie nach einem Gesprächsthema, doch natürlich versagten ihre Gedanken. Schon alleine wegen Bennis Anwesenheit fühlte sie sich verunsichert. Doch so wie er sie mit seinem ruhigen Gesichtsausdruck musterte und keinen Gedanken an ein mögliches Gespräch verschwendete, brachte Laura zur vollkommenen Planlosigkeit. Schließlich setzte er sich auf die Bettkante. „Warte! Du kannst noch nicht aufstehen!“, rief Laura erschrocken, schaffte es aber nicht rechtzeitig, ihn am Handgelenk zu packen. Es war einfach nicht zu fassen! Er hatte gerade um die vier Stunden im Bett gelegen und stand schon wieder sicher auf den Beinen. „Warum nicht?“, fragte er. „Äh- ähm- na ja, weil… du bist…“ Stotterte Laura drauf los und gab es schließlich ganz auf. Ehrlich, ihr war nie aufgefallen, was für einen tollen Körperbau Benni hatte. Er trug ‚nur’ T-Shirt und Jeans -wie immer in schwarz- und sah atemberaubend gut aus. Beschämt wandte sie den Blick ab, spürte die Hitze auf ihren Wangen. Ja, sie fand ihn nun mal sehr attraktiv! Die anderen konnten sich so viel sie wollten über ihre Schwärmereien lustig machen, es war nun mal so. Laura konnte daran nichts ändern. Ihr wäre es ja selbst lieber, nicht dauernd dieses Herzklopfen spüren zu müssen, kaum dass sich Benni auch nur in ihrer Nähe aufhielt. Schließlich brachten ihre Gefühle für ihn mehr unangenehme Situationen hervor als dass es irgendwelche tollen Erfahrungen gäbe, was man sich eigentlich erhoffte. Aber na ja… Diese ‚tollen Erfahrungen‘ gab es halt nur, wenn das Gegenüber die Gefühle auch erwiderte… „Ist was?“, fragte Benni auf ihr bedrücktes Schweigen hin. Laura schüttelte bloß den Kopf und unterdrückte ein Gähnen. „Ich bin nur müde…“ Eine Schwere drückte sich auf ihre Augenlider und Laura hielt sich den Kopf, der leicht zu schmerzen begann. Innerhalb kürzester Zeit fühlte sie sich hundeelend. Ob es daher kam, dass nun mit einem Schlag die ganze Anspannung von ihr abfiel? Hatte sie diese Angst um Benni wirklich so viel Kraft gekostet? „Mir geht‘s nicht gut…“, murmelte sie eher zu sich selbst. Laura bemerkte, wie sich Benni vor sie kniete. Als er seine Hand auf ihre Stirn legte um die Temperatur zu prüfen, wurde ihr erstrecht unangenehm warm. „Du bist ganz blass, du solltest dich ausruhen.“, meinte Benni bloß. Laura hätte eigentlich eher erwartet knallrot zu sein, doch seinen Ratschlag ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie fühlte sich wirklich nicht gut. Schlaftrunken legte sie sich hin und gab den Versuch auf, unter allen Umständen wachbleiben zu wollen. Dass dieses Bett erst vor kurzem Bennis Sterbebett hätte sein können, überdachte sie. Ihr Gehirn brachte solch komplizierte Denkvorgänge nicht mehr zustande. Ein wohliger Kälteschauer überkam ihren überhitzten Körper und mit müden Augen blickte sie zu Benni auf, der sie wortlos betrachtete. Wortlos, aber nicht teilnahmslos. Zumindest in Lauras Trance ähnlichem Zustand schien er irgendwie besorgt und fürsorglich, fast schon liebevoll, so wie er die Decke über sie legte. Erschöpft kuschelte sich Laura in die nach wie vor warme Decke ein, ließ sich von Bennis Körpergeruch einlullen. Sie hatte keine Kraft mehr, ihre Augen offen zu halten.  „Ich hab dich lieb…“   ~*~   Laura scheint es wirklich schlecht zu gehen, war der erste Gedanke, der Benni überkam. Sie war keine Person, die mit großen Liebesbekundungen um sich warf. Laura hatte ihre Gefühle schon immer mehr über ihre Reaktionen und Taten zum Ausdruck gebracht. Er wandte sich der hölzernen Tür zu, die Carsten zehn Sekunden später öffnete. „Endlich bist du wach.“, meinte er, überschwemmt von einer Welle der Erleichterung. „Dafür schläft Laura.“, entgegnete Benni monoton. Carsten stöhnte auf. „Das ist doch ein Witz, oder?“ Benni erwiderte nichts. Natürlich war das kein Witz. Carsten kam zu ihm und Laura hinüber und musterte ihr blasses Gesicht, das inzwischen die sanften Züge des Schlafs angenommen hatte. „Sie scheint ganz schön was mitgemacht zu haben…“, überlegte er und spähte über das Bett zu Benni rüber. „Sich Sorgen zu machen ist immer noch eine menschliche Emotion, die die Zuneigung einer Person zu der anderen betont und keine Schwäche. Nicht nur Menschen, auch andere Wesen verspüren Sorge, wenn es einem Freund nicht gut geht.“ „Ich habe nichts gesagt.“, entgegnete Benni so eintönig wie sonst auch. Dennoch hatte sein Satz die Funktion einer Verteidigung. Carsten stieß einen Seufzer aus. „Ich weiß. Du sagst ja auch so gut wie nie etwas. Aber du hast so etwas in der Art gedacht und alleine das reicht mir schon aus.“ „Also nicht nur eine menschliche Emotion.“ Benni wusste, dass Carsten seine Aussage verstehen würde. Und so war es auch. Wie als würde er sich ergeben, warf er die Hände nach oben. „So habe ich das nicht gemeint, Benni! Aber- es ist nun mal so, dass du sehr häufig nicht menschlich rüberkommst! Du bist einfach zu ruhig, zu ernst und zu beherrscht. Ich weiß, dass du Schwierigkeiten hast deine Gefühle zu erkennen und sie zum Ausdruck zu bringen. Aber auf viele wirkt das nun mal sehr befremdlich.“ Benni hatte nicht vor, irgendetwas dazu zu sagen. Keiner sah in ihm einen Menschen, nicht nur jener Vampir in der Unterwelt. Der Nachteil an all denen, die Benni getroffen hatte, war, sie waren allesamt oberflächlicher Ansichten. Der Direktor, der ihn angeblich nur aus Spaß ‚eiskalter Engel’ getauft hatte, der Vampir aus der Unterwelt, Lauras Vater Leon Lenz, Eagle, Anne, Janine, Ariane und so viele weitere, dass Benni es übertrieben fand, sie alle aufzuzählen. Dennoch, war es nun menschlich oder nicht, dass ihn ihre Ansichten kalt ließen? „Diese Leute kennen dich einfach nicht.“, sagte Carsten schließlich. Seinen Blick hatte er gesenkt und sowohl von Benni als auch von Laura abgewandt. Letztendlich, als er sich wieder zu ihm umdrehte, hatte er auf seinem Gesicht dieses für ihn bekannte sowohl strahlende als auch melancholische Lächeln. „Es gibt auch noch welche, die an den kleinen Lichtfunken in dir glauben und zwar nicht nur die ‚gutmütigen Trottel’.“ Nun war Benni derjenige, der einen Seufzer ausstieß. Carsten war unverbesserlich.   ~*~   Schlaftrunken öffnete Laura die Augen und richtete sich laut gähnend auf. „Hi Laura! Hast du endlich ausgeschlafen?“ Vor Schreck durch Carstens muntere Begrüßung wäre Laura fast aus dem Bett gefallen. Carsten stand vor seinem Meter hohen und -breiten Bücherregal und Benni lehnte am Rand vom Fußende des Bettes und blickte von einem Buch auf, das er gerade las. „Carsten, darf Benni wirklich schon aufstehen?“, fragte sie besorgt. Carsten schaute sie amüsiert an. „Du kennst Benni doch. Außerdem hast du das Bett ja eingenommen.“ Sofort wurde Laura purpurrot. Sie erinnerte sich, was sie ihm im Halbschlaf noch gesagt hatte… Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Was denkt er denn jetzt von mir?!? Verlegen mied Laura jeglichen Blickkontakt zu einem der Jungs. Laura fragte sich, ob Carsten darüber Bescheid wusste, oder ob er nur eine ungefähre Ahnung von ihrem peinlichen Auftritt hatte. Auf jeden Fall unterdrückte er eindeutig ein Kichern. Zu ihrem Glück wurde kurz darauf die Tür aufgerissen und Ariane trat ein. „Schlafen hin oder her, wir sollten jetzt wirklich mal aufbrechen! Los, wecken wir den eiskal- äh…“ Verwundert musterte sie die Platzverteilung der Leute in dem Raum. „Warum bist du im Bett, Laura?“ Das machte Lauras Situation doch nicht besser wie zuvor erhofft. Beschämt senkte sie den Kopf und antwortete: „Ich bin eingenickt…“ „Aaahaaa…“ Einen weiteren Kommentar sparte sich Ariane, doch als sie Carstens vielsagendes schmunzelndes Gesicht sah, verstand sie schon, dass Laura mal wieder was sehr Dummes angestellt haben musste. „Nun denn, was soll’s. Komm Laura, lass uns unsere Sachen holen. Wir sollten jetzt schnellst möglichst verschwinden, bevor noch jemand einschläft.“, drängte Ariane, dieses ‚noch jemand‘ mit überaus eindeutigen gestischen Anspielungen auf sich bezogen. Dankbar, dass Laura dieser peinlichen Situation entlaufen konnte, sprang sie mit einem Satz aus dem Bett, begleitet von einem taumelnden Versuch, nicht gleich ungelenk zu stürzen, um sich dadurch noch mehr zu blamieren. Zu ihrer Erleichterung schien aber keiner ihren Balancemangel bemerkt zu haben. Jedenfalls sah es so aus, sodass sie sich erleichtert fühlen konnte. Als die beiden Mädchen die Tür hinter sich geschlossen hatten und runter in den Salon gingen, war das Erste, was Ariane von sich gab ein: „Echt Laura, was hast du dieses Mal nur angestellt…?“ „Muss das sein?“, murrte Laura verlegen und senkte den Kopf, um eher deprimiert als beschämt zu wirken. Ariane kicherte. „So lange du dich nicht wie ein Depp verhalten hast nicht.“ Laura atmete schwer aus. „Also muss ich es dir erzählen…“ „Ja.“ „Ich habe erst einmal dafür gesorgt, dass Benni, noch nicht ganz gesund, wegen mir das Bett verlassen musste.“ „Okay, das geht ja noch…“ Wieder stieß Laura einen Seufzer aus. „Dann bin ich auch noch vor seinen Augen eingepennt… und davor… … …“ „Was ‚davor‘??? Jetzt mach schon!“, bohrte Ariane weiter. „Davor hab ich gesagt…“ „Ja? Was denn jetzt?!?“ Ihre Neugierde schien auf einmal ins Unermessliche gewachsen zu sein. „Ich habe gesagt: ‚Ich hab dich lieb‘.“ „Naaaaaw, danke. Ich dich auch.“ „Nicht du! Ich hatte das zu Benni gesagt!!!“, schrie Laura nun allen Frust heraus. Ariane blieb für etwa zwei Sekunden still. „Also erstens: Autsch. Aber ja, es wäre realistischer gewesen, wenn du das zu mir gesagt hättest.“ Laura atmete bedrückt aus. Na toll… „Ich… können wir einfach das Gesprächsthema wechseln?“ Ariane warf ihr einen amüsierten aber doch auch irgendwie mitfühlenden Blick zu. „Ist schon gut, ich bin still.“ Inzwischen waren sie im Salon angekommen, weswegen auch einige der Mädchen den letzten Satz mitbekommen hatten. „Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“, fragte Anne mürrisch. Es war offensichtlich, dass sie nicht sonderlich darauf erpicht war, einen weiteren Dämonenbesitzer zu besuchen. Einen weiteren männlichen Dämonenbesitzer. „Ich will nicht darüber reden.“, murmelte Laura bloß beschämt, woraufhin die Mädchen einige vielsagende Blicke austauschten. Vermutlich hatten sie ohnehin schon eine Ahnung, worum es in etwa ging. Oder eher um wen. Öznur schaute Ariane fragend an. „Okay Nane, was hat sie angestellt? Oder eher, was hat sie bei wem angestellt?“ Bei ihren Andeutungen schoss das Blut in Lauras Wangen. „Ich sagte doch, ich will nicht darüber reden!“ „Ach Lauch, jetzt komm schon. Wir wollen dir doch nur helfen! Ein bisschen Flirttraining könnte dir ohnehin nicht schaden.“, meinte Lissi, was alles andere als hilfreich war. Ariane seufzte. „Leute, jetzt lasst sie doch in Ruhe.“ Laura warf ihr trotz ihres hochroten Gesichts einen dankbaren Seitenblick zu. Und tatsächlich ließen Öznur und Lissi das Thema nach einem kurzen Murren wieder fallen. Zum Glück. Es war Laura ohnehin schon hochgradig peinlich. Da musste nicht auch noch der ganze Rest davon informiert sein, dass sie Benni vorhin im Prinzip… Oh Gott. Ich hab ihm im Prinzip ein Liebesgeständnis gemacht!!! „Also, seid ihr soweit?“ Bei Carstens Frage zuckte Laura unvermittelt zusammen. Sie vermied jeglichen Blick in seine Richtung, da neben ihm ja… Natürlich sorgte ihre unbeholfene Reaktion für ein verschwörerisches Kichern bei einigen der Mädchen. Das unangenehme Gefühl hielt auch noch an, während sie sich von ihren Gastgebern verabschiedeten. Mehr als ein bemüht freundliches „Auf Wiedersehen“ zu Saya, Chief und der nervigen Sakura brachte sie nicht über die Lippen. Den Weg aus Karibera heraus verbrachte sie auch nur damit, den Weg vor ihren Füßen zu betrachten. Sich an einem der Gespräche zu beteiligen, daran war erst gar nicht zu denken. Eagle begleitete sie aus Höflichkeitsgründen und fragte schließlich in die Runde: „Wo soll’s eigentlich als nächstes hingehen?“ „In die Spirit-Region. Der Vampir den wir suchen heißt angeblich Konrad und besitzt die Petrole Fledermaus.“, antwortete Anne und warf dem Überbringer dieser Quelle einen misstrauischen Blick zu. Wobei sie Name und Dämon eigentlich eher von Carsten überliefert bekommen hatten, statt von Benni. Lissi seufzte übertrieben dramatisch. „Hach, habt ihr euch schon mal darüber Gedanken gemacht wie es ist, von einem gutaussehenden Vampir das Blut ausgesaugt zu bekommen? Ich stelle mir das so unglaublich heiß vor…“ „Wach endlich auf.“, motzte Anne ungeduldig. „Ich will diesen ganzen Scheiß einfach nur endlich hinter mir haben, und diese dumme Schlampe tut auf unschuldiges Abendessen.“ „Na so ganz ‚unschuldig‘ klingt das auch nun wieder nicht. Zumindest nicht, wenn es aus Lissis Mund kommt.“, kommentierte Öznur belustigt. „Hoffentlich ist das alles schnell vorbei…“, murmelte Eagle genervt vor sich hin. Dieses eine Mal musste Laura ihm auch Recht geben. Doch sie hatte das ungute Gefühl, dass das Ganze noch nicht mal der Anfang war… „Übrigens eiskalter Engel, ich finde, ein Danke wäre schon angebracht.“, meinte er noch, aber nicht, ohne dabei ‚eiskalter Engel‘ höhnisch zu betonen. Doch Benni zuckte lediglich mit den Schultern. Kein Dank oder so was in der Art kam auch nur annähernd über seine Lippen. „Du hast echt Schwein gehabt, dass wir auf deine Stärke angewiesen sind.“, murmelte Carstens älterer Halbbruder gereizt vor sich hin. „Ähähäm… Also, bis dann mal!“, verabschiedete sich Öznur schnell, bevor die Stimmung mal wieder endgültig kippte. Sie bedrängte Carsten, doch endlich den Teleportzauber zu sprechen, da sie inzwischen die Stadt und somit auch die Magiebarriere verlassen hatten. Carsten atmete aus und Laura war sich sicher, dass dies ein Seufzer der Erleichterung war. „Nun gut. Los kommt, lasst uns gehen.“ Nach einigen weiteren knappen Verabschiedungen bildete sich aus dem kleinen Häufchen der Gruppe ein inzwischen nahezu professionell geordneter Kreis. Strahlendes, farbenfrohes Licht erfüllte die sowieso schon schneeweiße Landschaft. Laura bekam nur noch aus den Augenwinkeln mit, wie sich Eagle schützend die Hand vor die Augen hielt, ehe ihre Umgebung sich in diesem Licht verlor.   Der Ort an dem sie wieder auftauchten war alles andere als strahlend und farbenfroh. Die Eiseskälte sorgte dafür, dass Lauras Zähne aufeinander schlugen und in ihr ein gruseliges Unwohlsein auslöste. Die Atmosphäre war kalt und finster und obwohl die Sonne um diese Uhrzeit tatsächlich schon untergegangen war, sah dieser Ort so aus, als hätte er die warmen Strahlen dieses Himmelskörpers noch nie gesehen. Die Herrscherin des Lichts war daher natürlich auch die Erste, die sich beklagen musste. „Na toll, wer würde hier schon freiwillig wohnen wollen? Das ist ja das reinste Horrorland.“, meckerte Ariane drauf los. Ein flüchtiges Lächeln huschte über Susannes Lippen. „Vielleicht die, die das Licht scheuen?“, schlug sie scherzend vor, doch das half nicht im Geringsten, ihr Unbehagen zu überdecken. „Aha… und wo genau soll so jemand wohnen? In einer Gruft?“, erwiderte Ariane sarkastisch. „Hinter deinem Rücken vielleicht?“, mischte nun auch Öznur mit. Zögernd drehten sich Laura, Ariane und Susanne um, die gegenüber von Öznur standen. Vor ihnen stand eine riesige Villa, mit gotischer Architektur und einem noch größeren Grundstück, welches Laura ein bisschen an den geheimen Garten erinnerte, nur noch weitaus düsterer und von einem verschnörkelten Zaun mit schwarzen dolchartigen Spitzen umgeben. „Pff, hier würde ich auch gerne leben.“, blaffte Anne, während sie das eiserne Tor passierten und einen Weg direkt zu der Villa entlanggingen, vorbei an mehreren Fledermaus-Statuen. „Können wir wirklich einfach so unangemeldet hier reinplatzen?“, fragte Laura verunsichert. Natürlich hatte sie Erfahrungen mit der Etikette des Adels und dass diese Hausbesitzer zur gehobenen Gesellschaft zählten war mehr als nur eindeutig. „Kein Problem, unser Besuch wurde bereits gemeldet.“, antwortete Carsten und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter, was jedoch nicht wirklich half, dass Laura sich besser fühlte. Sie wusste, dass diese Vampire Bekannte, wenn nicht sogar Vertraute Bennis waren. Das machte dieses Treffen allerdings umso schlimmer. Wen lernte sie da nun kennen? Und außerdem hatte Laura ihre peinliche Aktion zuvor immer noch nicht ganz geschafft zu verarbeiten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich das nächste Mal blamieren würde… Benni war vorausgegangen und klopfte genau in dem Augenblick gegen das riesige Holztor, in dem sich Laura fragte, wie viel Blut ein Vampir täglich zu sich nahm und ob sie diese Menge auch ohne dabei mit ihrem Leben zu bezahlen abgeben konnte. Eigentlich hatten Vampire Laura schon immer sehr fasziniert. Mit ihrer allgemeinen Vorliebe für Gotik und die Verbindung mit der Dunkelheit hatte sie sich eigentlich auch immer sehr mit diesen Wesen identifizieren können. Aber das Wissen nun tatsächlich waschechte Vampire zu treffen… etwas Angst davor hatte Laura schon. Ein für einen Vampir überraschend alt aussehender Herr mit silbergrauen Haaren und dem typischen blutrot in seinen Augen öffnete die Tür. „Seid gegrüßt, Ihr werdet bereits erwartet.“, sagte er, mit einer typischen Butler-Verneigung. Auch seinem Frack nach zu urteilen war er offensichtlich nicht der Hausherr. Was Laura allerdings nicht die Anspannung nahm. Im Gegenteil. Dieser Typ sah schon gruselig genug aus, wie würde dann wohl sein Chef sein? Während der Butler sie durch den gotischen Mittelgang führte, einzig erhellt von Kerzen, die alle fünf Meter an der Wand hingen, erklärte er Benni: „Mein Herr ist zurzeit leider beruflich unterwegs und bittet daher um Verzeihung, Sie noch ein bis zwei Stunden warten lassen zu müssen. Jedoch wartet das gnädige Fräulein bereits sehnlichst auf Eure Ankunft.“ Ja, Laura wollte bei den Worten ‚gnädiges Fräulein‘ empört losschreien. Sie wartet sehnlichst auf Bennis Ankunft?!? Das konnte doch nur ein weiterer Groupie sein! Ging Bennis Beliebtheit bereits bis zu den Vampiren?!? Der Butler öffnete eine Tür an der Seite des Ganges und ließ die Besucher eintreten. Im Vergleich zum Rest der Villa machte dieser Raum einen so gemütlichen Eindruck, dass sich Laura an den Atmosphärenwechsel der Coeur-Academy erinnert fühlte. Im Kamin flackerte ein freundlich einladendes Feuer, die Möbel waren in einem warmen dunklen Holzton und die Sessel sowie das Sofa mit dunkelrotem Samt bezogen. In einer Ecke stand ein großer Flügel und an den Wänden neben ihm waren durch weitere Kerzen in unregelmäßiges Licht getauchte Vitrinen, die Papiere und Bücher beinhielten. „Gnädiges Fräulein, der Besuch ist eingetroffen.“, sagte der Butler mit einer höflichen Verneigung. Von dem Sofa blickte eine junge Frau von ihrer Lektüre auf. Sie war, Laura konnte es zu ihrem Widerwillen nicht anders beschreiben, wunderschön. Ihre Haare waren etwa genauso strahlend Blond, wie die von Janine. Von vorne wirkte es, als wären sie nur Schulterlang, doch an ihrem Rücken fielen sie bis zu ihrer Taille, also so lang, wie Lauras Haare. Jedoch hatte dieses ‚gnädige Fräulein‘ wunderschöne Locken, die vermutlich der Traum eines jeden Mädchens wären –außer Anne vielleicht. Auch ihre Augen hatten das typische vampirrot und sie trug ein langes, überaus elegantes, rotes Kleid mit Ellenbogen-langen Handschuhen, wie Laura es ähnlich bei Sarah aus Tanz der Vampire gesehen hatte. Der Stoff des Kleides raschelte, als sie aufstand und auf die Gruppe zukam, mit einem so freundlichen und strahlenden Lächeln, das Laura nie und nimmer von einem Vampir erwartet hatte, trotz der reißzahn-artigen Eckzähne, die dabei etwas zum Vorschein kamen. „Herzlich willkommen, ihr alle.“, grüßte sie mit einer klaren, fröhlichen Stimme, dass Laura nun tatsächlich die Kinnlade herunterfiel. Verdammt, fluchte sie in Gedanken. Zwar war die Frau sicherlich älter als Benni, doch trotzdem mehr als nur Konkurrenz für Laura. Da Benni eine ebenso Vampir-mäßige Ausstrahlung hatte, passte er viel besser zu jemandem wie dieser adligen Vampirdame, als zu einer tollpatschigen Menschenprinzessin. Und natürlich musste sie sich ja auch noch speziell Benni zuwenden. „Hallo Benni! Es ist schön, dich zu sehen. Also, dann stell mich mal deinen Freunden vor.“ Ausdruckslos kehrte sich Benni zur Gruppe hin. „Das ist Rina.“ Besagte Vampirfrau namens Rina lachte hinter vorgehaltener Hand. „Du veränderst dich wohl nie. Bitte, setzt euch doch.“ Rina wies auf die Sessel und das Sofa hin. „Edward wird sicher gleich wiederkommen und uns Tee und Gebäck zu servieren.“ Etwas zögernd ließen sich die Gäste auf den Sitzgelegenheiten nieder. Nur Benni musste sich wie inzwischen gewohnt wieder abseits gegen die Wand lehnen. Rina seufzte. „Ach Benni, komm schon. So ungesellig wie du bist wirkt das ja geradezu krank. Setz dich doch bitte auch dazu.“ Und wieder hätte Laura ihre Empörung am liebsten durch einen Schrei zur Kenntnis gebracht, als Benni sich ohne Widerworte neben Carsten auf die Lehne des Dreiersofas setzte, da wie der Zufall es wollte bis auf den Schemel von dem Flügel kein Platz mehr über war. Statt zu schreien schnaubte Laura nur demonstrativ. Sollten es doch alle wissen, wie diese Rina sie schon jetzt ankotzte. Aber zu Lauras Ratlosigkeit lachte Rina lauthals los. „Ach Benni, ich glaube, hier treten ein paar Missverständnisse auf. Deine Freundin scheint eifersüchtig zu sein.“ Niemandem war diese übertriebene Andeutung, dass Laura und Benni ein Paar waren entgangen. Falls man das überhaupt noch Andeutung nennen konnte… „Ich bin nicht seine Freundin!“, ließ Laura endlich ihrem ganzen Ärger Luft. Doch zu ihrem Verdruss hatte sie dabei einen so eindeutigen Tonfall, dass sich jeder den Rest denken konnte. Als wäre das nicht schon demütigend genug, hatte sich Benni mal wieder seinen Kommentar gespart. Wer weiß, vielleicht hätte sie sich damit vor einigen Enttäuschungen bewahren können, was das Herausfinden seiner Empfindungen für sie betraf. „Ach Lauch… Du kannst die Wahrheit zwar umschreiben, aber es war immer noch zu eindeutig. Tut mir leid.“, machte Lissi das Offensichtliche kund. Murrend verschränkte Laura die Arme vor der Brust und sagte einfach gar nichts mehr. In dieser Hinsicht war Bennis Zurückhaltung noch nicht mal so verkehrt. Immerhin trat er dadurch so gut wie nie in solche Fettnäpfchen. Ein tiefes Klopfen durchbrach die eben erst aufkommende Stille und Edward trat mit einem Tablett voll mit Tee und allerlei Gebäck ein. „Bitte sehr, die Herrschaften.“ Nach einer Verbeugung verließ er das Zimmer auch schon wieder. Nach einem weiteren Anflug der Stille wies Rina auf das Tablett. Belustigt meinte sie: „Nehmt euch ruhig. Keine Angst, da ist weder Blut noch Gift oder sonstiges Derart drinnen.“ Und natürlich war Ariane die Erste, die sich einen Muffin angelte. „Dasch ischt wirklisch nischt giftisch. Escht lieber schetscht, schonscht beschommt ihr nischtsch mehr!“ Nach und nach griffen auch die Übrigen nach dem Essen und sogar Benni bekam von Carsten wortlos ein Schokocroissant in die Hand gedrückt. Während des Essens blickten sich einige der Mädchen neugierig in dem Raum um. Unter den ersten Gegenständen, die ihnen in die Augen fielen, war der Kamin mit dem gemütlich vor sich hin flackernden Feuer. Auf seinen weinroten Kacheln befanden sich eine Menge, genauer gesagt fünf silberne und nussbaumbraune Bilderrahmen. Der neugierigen Ariane waren die auch gleich ein Aufstehen und Hingehen wert. „Ich liebe Fotos, wisst ihr das?!? Sie zeigen so viele Seiten von einem Menschen… ähm… und anderen Wesen. Aber wer ist denn da alles drauf?“ Ariane tippte auf das Foto ganz rechts, welches in einem silbernen Rahmen steckte. Laura verrenkte sich nahezu den Hals, um über die Köpfe der anderen neugierig schauenden Mädchen schauen zu können. Das Bild war nahezu schwarz-weiß, der einzige Farbtupfer war ein lila und blauer Schmetterling, der über einen Tisch zu flattern schien. Auf dem Bild befanden sich drei Personen. Eine junge Frau, ein Mann in etwa demselben Alter und ein kleiner Junge, den Laura auf maximal drei Jahre schätzte. Rina ging zu Ariane rüber und tippte auf die junge Frau. „Also das bin ich und das hier…“, sie wies auf den jungen Mann, „ist Konrad.“ Dem schwarz-weißen Bild zu urteilen hatte benannter Konrad dunkleres Haar als Rina, aber auch kein schwarzes. Es war entweder braun oder rot. Laura erkannte ein verschmitztes Lächeln auf seinen Lippen, seine Augen waren auf das Kind gerichtet. Auch bemerkte Laura, dass blassgelbe Sternchen um seine Hand tanzten, die auch beim Schmetterling zu sehen waren. Wenn sie Carsten fragen würde, was das zu bedeuten hatte, würde der sicherlich antworten, es sei Beschwörungsmagie. Und es sah auch ganz danach aus, daher konnte sich Laura auch ihr Fragen ersparen. „Du und Konrad“, setzte Ariane skeptisch an, „seid ihr Geschwister, oder was nun?“ Bevor Rina auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte, rief Lissi empört in die Runde: „Oh mein Gott, Nane-Sahne!!! Es kann doch nicht sein, dass du so unaufmerksam bist! Sieh dir die beiden mal an, die sehen sich kein bisschen ähnlich! Ich glaube eher, die sind zusammen. Nein, mehr als das schon.“ Grübelnd bemühte sich Laura, Lissis Antwort nachzuvollziehen. Sie hatte sich unter Konrad einen Erwachsenen, also einen richtig alten Vampir vorgestellt. Okay, dieses Wesen auf dem Bild sah schon sechs Jahre älter als sie aus, aber Laura meinte so richtig erwachsen, etwa vierzig oder so. Der war ja gerade mal etwas über die zwanzig! Und durch Lauras fehlgeschlagene Einschätzung hatte sie auch erwartet, Rina wäre seine Tochter, oder mindestens die kleine Schwester. Rina lachte auf. „Gut getippt. Wir sind verlobt.“ Laura war sich sicher, dass Rina sie besonders triezen wollte, indem sie ihr schelmisch zuzwinkerte. „Na ja, und der Junge in der Mitte-“ „Ist euer Kind?!?“, unterbrach Ariane Rinas fortführende Erklärung überstürzt und leicht geschockt. Wieder musste Lissi ihre Aussage kommentieren und berichtigen. „Du hast ja echt keine Augen im Kopf! Der Junge ist zwar überdurchschnittlich hübsch und hat vielleicht eine kleine Ähnlichkeit mit dem Hottie-Vampir nebenan und Rina, aber sie sind sich nicht so ähnlich, dass ich auf eine Verwandtschaft tippen würde.“ Nun wollte Laura aber wirklich wissen, woran Lissi das erkannte. Denn sie lag schon wieder richtig, wie Rina schließlich mit einem Nicken bestätigte. Ariane musterte mit immer weiterwachsender Skepsis das zweite Bild von links auf dem Kamin. Hier war nur der putzige kleine Junge zu sehen, dieses Mal hatte er keinen Matrosenanzug an, sondern trug flauschige Wintersachen, was vielleicht daran lag, dass er im Schnee kniete und ein kleines Kätzchen in den Armen hielt, das miauend zu ihm hinauf linste. Der Junge selbst lächelte dem Betrachter des Fotos entgegen, während er auf dem anderen Bild den Schmetterling gemustert hatte. „Okay… Wenn der Kleine nicht euer Sohn ist, wer dann, dass er es Wert ist, auf so vielen Fotos zu sein? Oder habt ihr ihn euch einfach als putziges kleines Model ausgesucht?“, rätselte Ariane. Carsten konnte sich vor Lachen kaum mehr auf seinem Sitz halten. „Nun kommt schon, so langsam könnt ihr doch wirklich nicht sein, oder?!?“ Lauras geistreiches „Hä?“ vollbrachte es schließlich, dass sich Carsten tatsächlich auf dem Teppichboden kugelte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Um den langsameren Teil der Mädchen nicht noch länger im Dunkeln tappen zu lassen, erklärte Rina: „Der Kleine ist so etwas in der Art wie unser Teilzeitschützling. Nun gut, wobei er heutzutage auf keinen Schutz mehr angewiesen ist, oder Benni?“ Benni erwiderte natürlich nichts, aber den nicht gerade hellen Mädchen ist nun ein Licht aufgegangen. „Das bist du?“, fragte Öznur verblüfft, während Ariane nach Gemeinsamkeiten zwischen dem süßen, kleinen Jungen und dem eiskalten Engel suchte, indem sie wiederholt vom Bild zu Benni und wieder zurück schaute. „Also… Ähnlich sind die beiden tatsächlich aber… Das bist du???“, beendete sie schließlich ihren Vergleich. „Wie kannst du nur so überrascht sein, Nane-Sahne? Bennlèy war nun mal schon immer ein wunderschöner Knabe gewesen.“, tadelte Lissi Ariane weiter. Ariane seufzte und wandte sich wieder den Bildern zu. Auf einem waren nur Konrad und Rina zu sehen und neben dem Bild von dem kleinen Benni im Schnee war ein weiteres Paar, dieses Mal tatsächlich in dem Alter, in dem Laura Konrad ursprünglich erwartet hatte. Nur, dass sie wie bei den Vampiren bekannt dennoch jung und erwachsen zugleich aussahen. „Sind das Konrads Eltern?“, vermutete Ariane. Lissi atmete befreit auf. „Immerhin das hast du erkannt.“ „Und das ist auch ein absolutes Tabu-Thema.“, mahnte Rina die Gruppe. Ariane zuckte zusammen, als hätte Rina nur sie angesprochen. „Warum?“ Konrads Verlobte seufzte bedrückt. „Weil sie tot sind. Ermordet genauer gesagt. Konrad ist zwar darüber hinweg, aber ihn daran zu erinnern würde seine Rache- und Mordsucht wieder aufwecken.“ „Und wer wäre das arme Schwein?“, mischte sich nun auch Anne in das Gespräch ein. Eine grausige Vorahnung breitete sich in Laura aus und der metallische Geschmack verschwand auch nicht nach einem großen Schluck ihres von ihr stark gezuckerten Tees. „Lukas.“, bestätigte Rina Lauras Befürchtung und blickte sie auch noch wissend an, als wäre sie sich ihrer Verwandtschaft mit Lukas im Klaren. Was auch nicht verwunderlich war, wenn sie tatsächlich Bennis Babysitterin war. „Warum tut er so was?!?“, fragte Laura verzweifelt. Wieso muss ausgerechnet in meiner Familie ein Mörder sein?!? „Das weißt du doch.“, antwortete Carsten, ebenso bedrückt. „Aus Machtgeilheit.“, schnaubte Anne. „Das ist für unser geliebtes männliches Geschlecht doch unverkennbar.“ „Vielen Dank, Prinzessin.“, konterte Carsten sarkastisch. Selbst dessen scheinbar endlose Großherzigkeit hatte ihre Grenzen. „Ich hab mir meinen Titel nicht ausgesucht.“, zischte Anne. „Und das interessiert uns auch nicht! Ruhe jetzt, ich will mir die Bilder angucken!“, meckerte Ariane und musterte das letzte Bild in der Mitte. Auf diesem befand sich die komplette Familie, Benni inklusive. Wobei er dort etwas älter wirkte und im Gegensatz zu den anderen Bildern die für ihn repräsentative Frisur mit den Haaren vor dem rechten Auge trug. Überrascht stellte Laura fest, dass Benni auf allen Bildern ziemlich locker wirkte, als würde er sich in dieser Familie tatsächlich wohlfühlen, obwohl er noch nicht einmal mit ihnen verwandt war. Laura bemühte sich, unentdeckt zu Benni hinüber zu linsen. Was ihr zwar nicht gelang, da Benni ihren Blick unverhofft erwiderte, aber dafür erkannte sie seine fehlende Anspannung wieder. Auch wenn der gegenwärtige Benni ruhiger und verschlossener war, als der junge Benni auf den Bildern. Wobei er zurzeit irgendwie ziemlich verärgert wirkte. „Benni, alles okay?“, fragte Laura besorgt. Rina betrachtete ihren ‚Schützling‘ kurz und meinte schließlich: „Das ist der zweite Grund, warum das Thema Konrads Eltern nicht angesprochen werden sollte. Wir hatten diese Diskussion schon oft genug, Benni. Es bringt nichts, sich darüber zu ärgern, dein Blut hätte sie auch nicht mehr gerettet.“ „Wuuuaaas?!?“, schrie Ariane entsetzt auf. Rina seufzte und entschied sich dazu, den Mädchen doch die ganze Geschichte zu erzählen, bevor diese noch auf andere dumme Gedanken kamen. Wie zum Beispiel Konrad zu fragen und so den ersten Krieg zwischen Menschen und Vampiren seit der Gründung Damons heraufzubeschwören. „Ihr kennt sicherlich Lukas größtes Ziel oder?“ „Die Dämonenbesitzer fangen.“, vermutete Susanne. Rina nickte. „Und wie es der Zufall will, ist Konrad einer. Sonst wärt ihr heute auch nicht hier. Lukas Problem ist: Er ist ein schwacher Feigling.“ „Das kannst du laut sagen.“, murrte Laura. „Der Haken dabei ist, dass dieser schwache Feigling so gut im Lügen wie Konrad im lange schlafen ist.“, fuhr Rina fort. „Also ist er darin gut oder schlecht?“, fragte Öznur argwöhnisch. „Leider zu gut. Er lockte Konrads Eltern in eine Falle und hielt sie dort solange gefangen, bis die Sonne bereits senkrecht stand. Natürlich sind Konrad und ich hin, um ihnen zu helfen, aber für uns war es schon zu spät. Um sie zu retten, hätten auch wir in das Tageslicht gemusst… Und so hatten wir keine andere Wahl, als alles im sicheren Schatten zu beobachten.“ Rina warf Benni einen kritischen Blick zu. „Du hättest ihn wirklich getötet, wenn Victor und Verona dich nicht zurückgehalten hätten, oder?“ Ein einfaches Nicken war auch schon Bennis Antwort darauf gewesen. „Und warum hast du es nicht gemacht?!? Jetzt müssen wir uns mit ihm herumschlagen!“, empörte sich Ariane. „Weil Lauras Vater Benni sonst höchst wahrscheinlich die Todesstrafe angehängt hätte.“ Rinas Reaktion darauf war weitaus ruhiger, als Lauras erschrecktes Zusammenzucken. O-Too-Sama!!! Du bist so- Doch sie wagte es nicht, ihren Vater zu beleidigen. Soweit sollte es nun doch nicht kommen, auch wenn jede Zelle in ihrem Körper danach verlangte. „Und dann kam jede Rettung für die beiden zu spät?“, fragte Janine beklommen. Rina nickte und warf Benni einen weiteren skeptischen Blick zu, welchen dieser mit seinem klassischen Pokerface erwiderte. Selbst ohne Worte waren sich die Mädchen einig, dass dieses Thema auch ein Tabu bleiben sollte. In der Zwischenzeit hatte Ariane ihren Erkundungsrundgang fortgesetzt und stand nun vor dem Flügel. „Konrad oder du, wer ist denn nun das Musikgenie?“ Diese Frage half aber auch nicht, die Stimmung wieder zu heben, als die Antwort hieß: „Konrad und ich sind in diesem Gebiet gänzlich unbegabt, aber seine Eltern. Seine Mutter hatte eine wunderschöne Stimme und sein Vater hat sie dazu immer auf dem Flügel begleitet.“ Einige der Mädchen, darunter auch Laura, senkten betrübt die Köpfe. Dieser Familie war ja schon fast so viel Unglück widerfahren, wie ihrer eigenen. Susanne trat neben Ariane an den Flügel. „Aber dafür wird er sehr gut gepflegt.“ Sie spielte eine simple Melodie und meinte schließlich: „Und er funktioniert einwandfrei, als würde es noch jemanden geben, der hin und wieder darauf spielt, weshalb ihr auch nicht wollt, dass er veraltet.“ Anne stöhnte auf. „Bist du fertig Sherlock?“ „Uh, Sherlock Holmes! Das les ich gerade, ich liebe es!“, kommentierte Ariane überflüssigerweise. Rina lächelte. „Ja, zum Glück haben Victor und Verona Bennis Musiktalent erkannt und ihm trotz seines Widerwillens alle erdenklichen Themen im Bereich Musik gelehrt.“ „Du kannst Klavier spielen?“, fragte Öznur Benni verwundert, doch ehe dieser antworten konnte, wenn er das überhaupt vorgehabt hätte, entgegnete Anne spitz: „Das kann der garantiert nicht. Bestimmt war es nur so etwas wie ‚Alle meine Entchen‘. Wetten?“ „So ein Unsinn!!!“, verteidigte Laura Benni, „Er kann verdammt gut singen und spielt neben Klavier auch richtig schön Geige! Damals, als mich O-Too-sama dazu gezwungen hatte in ein Orchester zu gehen, hat er gelegentlich auch mitgemacht. Und er war auch in einer Schülerband!“ „Wobei das alles von Benni doch völlig ungewollt war…“, bemerkte Carsten nebenbei. „Der totale Stuss, den ihr euch da zusammenbraut.“, meinte Anne zynisch. „Was haltet ihr davon:“, schlug Rina schlichtend vor, „Benni spielt einfach etwas auf dem Klavier und dann könnt ihr euch eure eigene Meinung bilden.“ „Nein.“, kurz und eindeutig war Bennis Antwort auf dieses Angebot. Ariane zog einen empörten Schmollmund. „Ach komm schon! Anne und ich haben schon gewettet und dabei geht es um einen Jahresvorrat an Eis! Das will ich nicht verpassen!!!“ „Bedeutet ‚Jahresvorrat‘, dass ihr auch im Winter Eis esst?“, überlegte Öznur laut, doch auf ihre Frage sollte sie keine Antwort bekommen. Trotz Arianes Bitte mit diesem überzeugenden Grund schüttelte Benni den Kopf. „Ach Benni, komm schon!“ flehte Laura. Sie mochte es, wenn Benni ein Instrument spielte, oder gar sang. Dann schien die Atmosphäre sich plötzlich gänzlich zu verändern, von der Art der Melodie bestimmt. Nach einer in Stille getaucht gefühlten Ewigkeit fragte Benni schließlich: „Und was?“ „Oh, Inochi no Namae aus Chihiros Reise ins Zauberland!!!“, rief Laura begeistert, mit dem Wissen im Hinterkopf, gegen Benni gewonnen zu haben. Ein Grinsen breitete sich auf Carstens Gesicht aus. „Das ist mal wieder typisch für dich.“ Rina seufzte. „Aber davon haben wir meines Wissens die Noten nicht.“ Laura wollte schon enttäuscht den Kopf senken, als Benni tonlos aufstand, den Flügeldeckel öffnete und sich auf den Klavierhocker setzte. Der Anblick war zwar etwas verwirrend, Benni an einem Klavier zu sehen, dennoch wirkte es anmutig und professionell. So eine Ausstrahlung hatte sich Laura immer beim Querflöte Spielen gewünscht, womit sie seit ihrer Aufnahme an der Coeur-Academy jedoch aufgehört hatte. So wie Laura es prophezeite, waren alle Anwesenden von der Musik wie verzaubert. Sogar Anne verlor für diese paar Minuten ihren kritischen Gesichtsausdruck. Nur der Musiker selbst wirkte gänzlich ungerührt von dem, was er da spielte und behielt sein allseits bekanntes Pokerface. Auch fünf Minuten nachdem der letzte Ton verklungen war, herrschte noch absolute Stille, bis Ariane zufrieden Kund machte: „Das Eis ist mein.“ „Wie hast du das denn so spielen gelernt? Und dann auch noch auswendig?!“, fragte Öznur baff. „Das ist ja schon wie bei den Profis!“ „Wie lange kenne ich dich eigentlich, dass ich dich heute zum ersten Mal Klavier spielen höre… Du verschwendest dein Talent.“, meinte Carsten empört und auch etwas bedrückt. Benni erwiderte keinen der Kommentare, sondern kehrte zu seinem alten Platz auf der Sofalehne zurück. Kaum saß er wieder, öffnete sich die Tür und der Butler erschien. „Der junge Herr ist nun eingetroffen.“ Ein tatsächlich so junger Mann wie auf den Fotos, mit stacheligen braun-roten Haaren und sehr edel aussehender Kleidung trat ein. „Konrad!“, rief Rina erfreut und kam ihm entgegen. Zur Begrüßung küsste er sie sanft auf die Stirn, ehe er den menschlicheren Wesen in diesem Raum seine Aufmerksamkeit schenkte. „So, da bin ich endlich. Hallo erst mal, alle zusammen.“ „Wie war dein Urlaub?“, fragte Benni, die Regeln der Höflichkeit befolgend, was bei den Übrigen allerdings Verwirrung auslöste. „Wundervoll, wie immer.“, antwortete Konrad, eindeutig ironisch gemeint. „Wenn er so schrecklich ist, warum gehst du überhaupt in den Urlaub?“, fragte Laura verwirrt. Konrad konnte nicht anders, als sich über Lauras fehlendes Insiderwissen köstlich zu amüsieren. Schließlich erbarmte er sich und erklärte: „So habe ich die Missionen außerhalb unserer Region getauft. Dem Senat ist es nicht geheuer, dass Lukas für die Verhältnisse eines Menschen so unnatürlich viel Zeit in der Unterwelt verbringt, weshalb ich dort nach dem Rechten sehen muss.“ „Dann müsstest du doch etwas über diesen Unbesiegbaren oder Unzerstörbaren oder wie der sonst heißt wissen, oder?“, erkundete sich Anne, wie sonst auch bei einem Jungen kritisch. Konrad überlegte kurz und antwortete letztendlich: „Nicht viel mehr als ihr. Vor einigen Wochen hat Lukas in seinem Namen für ziemlich viel Unruhe gestiftet, um sich diesen köstlich riechenden kleinen Jungen zu schnappen. Wobei er dabei ziemlich erbärmlich gescheitert ist, wie wir alle wissen. Dann, dass er kein Wesen von dieser Welt ist, wie ihr sicher auch herausgefunden habt und schließlich, dass er in der tiefsten Schlucht der Unterwelt durch einen Bann gefangen gehalten wird.“ „Das ist doch immerhin etwas Neues.“, meinte Öznur optimistisch. „Weißt du, welcher Bann?“, erkundigte sich Susanne. Konrad schüttelte den Kopf. „Ich habe die ganze Bibliothek im Senats-Gebäude auf den Kopf gestellt, aber da ist weder etwas Nützliches von der tiefsten Schlucht in der Unterwelt, noch irgendetwas von besagtem Wesen zu finden.“ „Seltsam, wenn dieses Ding schon so mächtig ist, sollte es dann nicht Infos darüber geben?“, fragte Ariane verwirrt. Carsten nickte. „Eigentlich schon. Könnte es nicht sein, dass es sich hierbei um ein sehr gefährliches Thema handelt?“ „Nein, es ist ja nicht so, dass wir gegen einen unbekannten mächtigen Gegner kämpfen müssen.“, spottete Anne. „Das meine ich nicht, sondern das Beschaffen der Informationen über diesen Gegner.“ „Du meinst so etwas in der Art wie: Wenn ihr auch nur ein Wort über mich verliert bring ich euch auf qualvollstem Wege um?“, vermutete Öznur. „Ja. So wie bei den Dämonenforschern. Wenn die nicht von einem Dämon die Berechtigung für ihre Forschungen haben, oder wenn sie diese Informationen auch nur an eine falsche Person weitergeben, bedeutet das den Tod. Es wäre doch möglich, dass es sich hierbei um dasselbe handelt.“ „Mit ‚dasselbe‘ meinst du doch nicht nur den Grund für die fehlenden Informationen.“, bemerkte Susanne. Carsten zuckte mit den Schultern. „Wenn Energie mit im Spiel ist, dann handelt es sich vermutlich auch um einen Dämonenverbundenen, oder gar um einen Dämon persönlich.“ „Aber alle Dämonen sind doch zurzeit ‚gebannt‘, oder?“, erkundete sich Laura. „Es gibt mehr als nur diese Dämonen, die auf unserer Welt leben.“, erwiderte Carsten. Konrad erklärte es genauer: „Vielmehr gibt es drei Reiche. Diese Reiche kann man nicht als Universum sehen, sie sind… na ja, viel größer, als die Universen. Einmal das Reich der Lebenden. Das sind die Galaxien, in denen wie der Name schon sagt, alle Wesen leben. Dann gibt es noch das Reich der Toten. Das erklärt sich auch von selbst. Und schließlich noch das Reich der Dämonen beziehungsweise der Wächter. Dort befinden sich alle Dämonen, die nicht irgendwo anders etwas zu tun haben.“ „Es wäre also möglich, dass sich ein Dämon aus diesem Reich davongestohlen hat, um hier sein Unwesen zu treiben.“, beendete Ariane die Vermutung. „Aber könnte es nicht auch sein, dass ein Dämon von einem anderen Teil unserer Welt nach Damon gekommen ist, um uns zu ärgern?“, wunderte sich Öznur. „Woher er gekommen ist spielt eigentlich keine große Rolle, oder? Das Dumme ist einfach, dass es sich bei den Dämonen um die Wächter handelt, die diejenigen beseitigen, die es weder würdig sind zu leben, noch zu sterben. Warum strebt also ein Dämon nach der Macht der anderen Dämonen?“, sinnierte Carsten. Konrad verbarg hinter seiner Hand ein Gähnen. „So viel Nachdenken ermüdet. Was haltet ihr davon, wenn wir jetzt alle ins Bett gehen und den Rest morgen ausdiskutieren? Wir haben genug Zimmer, daran soll es nicht scheitern.“ Ariane warf erst einen Blick aus dem Fenster und dann auf die Uhr. „Krass, es ist schon zwölf. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass es schon dunkel ist.“ „Vielleicht, weil es überhaupt nicht hell war?“, meinte Janine, für ihren schüchternen Charakter sehr sarkastisch. Konrad grinste. „Willkommen in Spirit. Da lang geht’s zu den Gästezimmern.“ Die Gruppe folgte den beiden Vampiren in die erste Etage, wo Konrad die Zimmer verteilte. „Ihr Mädchen könnt euch auf die drei Zimmer rechts von der Treppe verteilen und ihr beiden kommt ganz nach links, um bloß nicht in Versuchung zu geraten, einer jungen Dame nachts einen Besuch abzustatten.“, stichelte er. „Was soll das denn heißen?!“, beschwerte sich Carsten, deutlich verlegen. Obwohl er doch ein notorischer Feigling war, dem man so etwas sie zutrauen würde. Jedenfalls sah er sich selbst so. Rina seufzte. „Diese Jugend heutzutage… Kann sich einfach nicht benehmen.“ „Aber-“, setzte Carsten an, doch Benni verhieß ihn, zu schweigen. Es war sogar für Laura offensichtlich, dass Konrad und Rina die beiden Jungs nur aufziehen wollten, doch leider war ihnen ihr Vorhaben nur halb geglückt. Nach diesem ‚Zwischenfall‘ waren alle auch schon in ihren Zimmern verschwunden. Die Mädchen hatten sich so aufgeteilt, wie sie auch in der Coeur-Academy miteinander auskommen mussten, nur, dass Ariane am liebsten noch Janine im Zimmer gehabt hätte. Wie sonst auch war Ariane innerhalb kürzester Zeit bereits ins Traumland entschwunden, während Laura sich noch unruhig hin und her wälzte. Dafür, dass sie vor wenigen Stunden noch so fertig und sogar vor Bennis Augen eingeschlafen war, fiel es ihr nun umso schwerer. Nicht zuletzt aus dem Grund, weil ihr diese peinliche Aktion als nicht mehr aus dem Kopf wollte. Wieso habe ich auch ausgerechnet ihm sagen müssen, dass ich ihn lieb habe… Laura drückte ihr erhitztes Gesicht in das noch angenehm kühle Kissen. Weil es nun mal stimmt… Kapitel 17: Finstere Bedrohung ------------------------------ Finstere Bedrohung   Unruhig wälzte sich Laura in ihrem Bett umher. Sie konnte nicht einschätzen, wie lange sie schon hier lag ohne Schlaf zu finden. Als sie sich schließlich eingestand, dass sie vermutlich gar nicht mehr würde einschlafen können, stieg sie aus dem Bett und verließ das Gästezimmer, das Konrad und Rina ihr und Ariane zur Verfügung gestellt hatten. Leise schlich sie in ihrem Kimono durch den dunklen Flur, der nur von einem schwachen Lichtfunken des Vollmondes beleuchtet wurde. Sich in dem schwachen Licht unwohl fühlend, tastete Laura nach dem Lichtschalter. Doch gerade als ihre Finger endlich auf ihn stießen, zog sie eine starke Hand davon weg. Erschrocken sog Laura die Luft ein. Ehe sie um Hilfe schreien konnte, hielt ihr eine weitere Hand den Mund zu. Panisch und doch erfolglos versuchte sie sich aus dem starken Griff zu befreien. „Beruhige dich, ich bin’s nur.“, flüsterte eine vertraute und doch nur selten zu hörende Stimme ihr ins Ohr und ließ sie kurz darauf wieder los. Schwer atmend versuchte Laura ihren Herzschlag wieder zu beruhigen, bevor sie sich zu ihm umwandte. Zumindest war es in der schwachen Beleuchtung weniger leicht, ihr errötetes Gesicht zu sehen. „Was ist denn los?“, fragte sie im Flüsterton, da es hoffentlich einen guten Grund gab, warum Benni ihr fast einen Herzinfarkt beschert hatte. Dieser wies Richtung Fenster. Laura folgte seinem Blick. Erschrocken wich sie zurück und stieß dadurch gegen ihn. Hätte Benni sie nicht an den Schultern gehalten, wäre es Lauras Knien vermutlich nicht gelungen, sie noch länger tragen zu können. „W-Wie viele von de-denen sind denn d-da?“, stammelte sie. „Mehr als genug.“, kam Bennis Antwort so leise, dass Laura alle Mühe hatte, ihn verstehen zu können. Darauf vorbereitet, was sie zu Gesicht bekommen würde, wagte Laura einen zweiten Blick aus dem Fenster. Vor der Villa versammelten sich alle möglichen Wesen, die die Unterwelt zu bieten hatte. Werwölfe, Vampire, Zombies, … Allesamt Untote, die wie Vorboten des Todes außerhalb ihrer sicheren Mauern auf sie warteten. „Woher kommen die alle? Und was wollen sie hier?! Und-“, fragte Laura immer panischer und wurde folglich auch immer lauter, bis sie auf Bennis Blick hin schließlich still wurde. Da er ihr natürlich auch keine Antwort gab, musste sie sich alles selbst zusammenreimen. „Vermutlich ist es Lukas, der sie sie wegen uns hierher geschickt hat. Und Spirit ist neben Yami die einzige Region mit einem offenen Portal zur Unterwelt.“, erklärte sie es sich selbst mit gesenkter Stimme. Immerhin bestätigte Benni ihre Gedanken mit einem knappen Nicken. Laura holte tief Luft. „Okay und was ist dein Plan?“ Sie wusste, dass Benni einen Plan hatte. Er hatte immer einen. Wieso sollte er gerade jetzt keinen haben? Nein, Benni hatte einen Plan, ganz sicher. „Wecke Ariane auf und komm mit ihr in das Wohnzimmer.“ Willst du mich umbringen?!? , wollte Laura schockiert fragen, hielt sich aber zurück. Dafür brauchte Benni nur noch wenige Monate zu warten, obwohl er anderer Ansicht war als Laura und ihr übriger Freundeskreis. Er hatte sicher einen triftigen Grund, auch wenn man schlafende Arianes nicht wecken sollte. Also beugte sie sich Bennis Anweisung, kehrte ins Gästezimmer zurück und bemühte sich, Ariane aus dem Bett zu bekommen. Die allerdings ganz andere Absichten hatte, als aufzuwachen. „Nane, jetzt komm doch bitte. Wenn nicht, werden wir alle von Lukas‘ Unterweltlern in die Unterwelt entführt!“, bemühte sich Laura, Ariane so leise wie möglich davon zu überzeugen, dass sie nun aufwachen musste. „Solange ich dort schlafen kann, ist’s mir recht.“, murmelte diese im Halbschlaf. „Naaaaaneeeee.“, stöhnte Laura genervt und überfordert zugleich, als ein fester Griff sie an der Schulter packte. Ein zweiter Schock überkam Laura diese Nacht. Waren die Unterweltler etwa schon in der Villa?!? Ohne zu atmen wagte Laura einen vorsichtigen Blick über die Schulter, nur um Annes verärgerten Gesichtsausdruck sehen zu können. „Wollt ihr etwa ohne mich den ganzen Spaß haben?“, zischte sie so leise, dass sie offensichtlich von der Bedrohung vor dem Haus Bescheid wusste. „Benni hat gesagt, ich solle nur Ariane wecken.“, flüsterte Laura zurück und erntete dafür ein schnippisches Zischen von Anne. „Als würde ich die Anweisungen von dem befolgen.“ Seufzend gab Laura nach. „Wie kommt es eigentlich, dass du wach bist?“ Anne tippte sich auf die Stirn. „Ich hab einen sechsten Sinn für Abenteuer die in einer Schlacht enden.“ „Und deswegen weckst du nun Ariane.“, schlug Laura vor. Ariane zu wecken war immerhin ein Abenteuer und endete garantiert in einer Schlacht. Das konnte sie auch genauso gut Anne überlassen, wenn die darauf so scharf war. Missmutig zuckte diese mit den Schultern. „Nichts leichter als das.“ Und mit diesen Worten stieß sie Laura aus dem Weg und packte Ariane mit einer solch gewaltigen Kraft, dass sie sicherlich sogar Benni damit beeindruckt hätte. Mit einem dumpfen Knall ließ sie Ariane rücklings und schmerzhaft auf den Boden aufkommen. In nicht allzu ferner Zukunft trottete diese mürrisch hinter den beiden Mädchen her, verärgert, dass sie jemand aus ihrem heiligen Schlaf gerissen hatte. Der Schuldige würde dafür noch büßen müssen, das wusste Laura. Doch jetzt war dafür keine Zeit. Das kleine Wohnzimmer war wegen der Bedrohung vor der Villa nicht minder gemütlich und hätte Anne Ariane nicht grausam von dem Sofa fern gehalten, wäre diese auf jeden Fall wieder in ihr Schlummerland zurückgekehrt. Benni wartete bereits auf die Mädchen und hatte Carsten mit sich geschleppt, der offensichtlich auch nicht gerade begeistert von dem nächtlichen Besuch schien. Doch zumindest war er deutlich wacher als Ariane. „Na schön, was sollen wir tun?“, gähnte diese schließlich und gab es auf, sich ein gemütliches, zum Schlafen geeignetes Plätzchen zu ergattern. „Wir müssen das Portal verschließen und die Zombies aus unserer Welt vertreiben… Fragt sich nur wie.“, antwortete Carsten. „Schön, dass du das Offensichtliche wiederholt hast, Depp. Dann sag mal dein Wie.“, murrte Anne. Trotz der bevorstehenden Schlacht, auf die sie sich angeblich so freute, konnte sie ihre Aversion gegen Jungs offensichtlich nicht zurückhalten. Abgesehen davon, dass sie das auch nicht gerade beabsichtigte. „Das Portal befindet sich im Gebäude des Senats. Nur wie wir dort hingelangen stellt ein Problem dar…“, meinte Carsten nachdenklich, doch Benni schüttelte den Kopf. „Konrad hat einen unterirdischen Gang dorthin.“ „Kann man den auch so dramatisch öffnen durch das Herausziehen eines Buches oder das Herunterklappen einer Kerze?“, kommentierte Anne spöttisch. Wortlos stand Benni auf, schob den Flügel beiseite und schlug eine Ecke des Teppichs hoch. Zum Vorschein kam eine Falltür. Anne schnaubte. „Ich hatte mir echt mehr erhofft.“ Doch statt auf ihren Kommentar einzugehen, seufzte Carsten nur. „Und ich hatte gehofft, dass du dich als Vampir ‚verkleidest‘ und uns als ‚Gefangene‘ mitnimmst, um zum Portal zu gelangen.“ Seinem Tonfall zu Urteilen hatte dieser Vorschlag sowieso nur das Ziel Benni zu triezen. Auch wenn Laura nicht verstehen konnte, weshalb gerade solche Kommentare bei Benni mehr Wirkung zeigen sollten als andere. Jedenfalls erwiderte dieser tatsächlich etwas und Laura konnte ihren Ohren kaum trauen. „Und was hätte ich erzählen sollen, hätten sie mich gefragt wie und wo ich euch erwischt habe? ‚Sie waren aleatorisch um ein Uhr morgens spazieren‘? Oder eventuell ‚Ich bin auf eigene Faust in das Haus eingebrochen, habe aber nur diese vier mitnehmen können, weil ich die anderen nicht wecken wollte‘?“ Kopfschüttelnd wandte sich Benni ab. Und Laura blieb der Mund offen stehen. Das war mehr als ein Satz!!! „Aleatorisch?“, fragte Ariane die sich wohl der überraschend hohen Wortzahl noch nicht bewusst schien. „Zufällig.“, antwortete Carsten ihr. „Ich wusste gar nicht, dass du so ein ausgedehntes Vokabular hast…“ „Vielleicht, weil der ja sonst kaum mehr als drei Worte sagt?“, vermutete Anne, wie immer in ihrem Tonfall, den Laura einfach nur unhöflich fand. Ariane blinzelte mehrmals. „Oh… stimmt… wow…“ Kurz darauf prustete sie so laut los, dass Anne nun doch wieder hilfreich war und ihr in Sekundenschnelle den Mund zuhielt. Als sich Ariane wieder halbwegs beruhigt hatte, meinte sie: „‘Ich bin auf eigene Faust in das Haus eingebrochen, habe aber nur diese vier mitnehmen können, weil ich die anderen nicht wecken wollte‘? Du hast ja doch Humor!!!“ Und schon lachte sie wieder los… Amüsiert schüttelte Carsten den Kopf. „Wie kannst du müde sein, wenn du von uns allen am meisten geschlafen hast?“ Stutzig hörte Ariane auf zu lachen. „Müde? Ist doch jeder von uns und abgesehen davon, was hat das damit zu tun?“ „Wenn Benni müde ist redet er mehr.“ „Ahaaa…“, überlegte Ariane laut, „Das heißt, wir müssen dafür sorgen, dass der eiskalte Engel nicht ausschlafen kann und schon wird er gesprächiger.“ „Besten Dank.“, bemerkte Benni nüchtern. Irgendwie bin ich auf Nanes Seite… ,überlegte Laura belustigt. „Na gut, zurück zum eigentlichen Problem: Schön und gut wenn das Portal versiegelt wurde, aber was sollen wir mit den gegenwärtig anwesenden Unterweltlern anstellen? Ich hoffe, du lässt uns nicht gegen jeden einzelnen von ihnen kämpfen.“, fragte Carsten betrübt. „Deswegen solltet ihr Ariane wecken.“, antwortete Benni. Ariane schnaubte. „Ach wirklich? Ihr braucht mich tatsächlich? Ich dachte, du wolltest mich nur ärgern.“ „Das auch.“, erwiderte Benni trocken. Die Arme vor der Brust verschränkend setzte sich Ariane beleidigt auf den Boden. „Überraschend, wie du sein kannst, wenn du mal was sagst.“, kommentierte Carsten die Situation, doch Benni entgegnete nichts darauf. „Okay, warum sollte Ariane geweckt werden neben dem Grund, dass du sie ärgern wolltest?“, drängte Anne. „Ach so… Die Unterweltler scheuen Arianes Licht-Energie. Das heißt wenn sie nicht zu Staub verfallen wollen, müssen sie durch das Portal fliehen.“, erklärte Carsten, da Benni wieder schwieg. „Ich vermute, du hast auch schon dafür gesorgt, dass sie bloß nicht woanders hinrennen.“ Dieses Mal nickte Benni als Antwort. Anne schnaubte. „Ich hatte auf mehr Blutvergießen gehofft.“ „Wie gesagt, ich sollte auch nur Ariane wecken.“, meinte Laura, zufrieden über Annes Unzufriedenheit. Sichtlich verstimmt wandte sich Anne ab.  „Aber das sind ganz schön viele… Ich weiß nicht, ob ich das durchhalten werde.“, gab Ariane beschämt zu. „Dann ist Anne doch nicht ganz unnütz.“, sinnierte Carsten. „Ich und unnütz?!? Pass lieber auf, dass ich nicht gleich dafür sorge, dass du zu nichts mehr zu gebrauchen bist!!!“, keifte Anne. „Den Überraschungseffekt können wir vergessen.“, kommentierte Laura genervt. Zwar erntete sie dafür auch einen erzürnten Blick von Anne, erreichte aber immerhin, dass sie still blieb. „Ich wollte dich damit wirklich nicht beleidigen-“, setzte Carsten an. „Das ist dir aber trotzdem gelungen.“, unterbrach Anne ihn gereizt. Carsten seufzte. „Ich meinte damit, dass du Ariane von deiner Energie abgeben kannst, wenn ihr Vorrat aufgebraucht ist.“ „Kann das nicht ihr Dämon machen? Und außerdem geht das doch nur, wenn wir dieselbe Energie haben. Ich hätte eigentlich erwartet, dass du das weißt.“, stichelte Anne, aber da Carsten solche Kommentare bereits von ihr erwartet hatte, konnte er ganz ruhig antworten: „Auf die Laune eines Dämons ist kein Verlass und was die Energie betrifft, habe ich als Dämonengezeichneter auch noch einige Tricks parat. Beispielsweise bin ich etwas in der Art wie ein Energieleiter. Ich kann die Energie von einem aufnehmen und sie an den anderen weitergeben. Falls es nötig sein sollte, bin ich auch dazu in der Lage sie umzuwandeln.“ „Dann geht das natürlich…“, meinte Ariane und stellte sich wieder hin, da ihr der Boden wohl doch zu ungemütlich war. „Dann haben wir doch alles, also auf ans Werk.“, sagte Anne, etwas erheiterter da sie vermutlich hoffte, dass irgendetwas schief ging und sie doch noch zu ihrem Kampf kam. „Moment… und was ist mit mir?“ Betrübt stellte Laura fest, dass sie mal wieder nichts zu tun hatte. War sie denn wirklich zu nichts zu gebrauchen? Nur zum Ariane-Wecken? Aber sie hatte ja noch nicht einmal das geschafft. Eufelia-Sensei hat Recht, ich bin ein hoffnungsloser Fall, dachte Laura niedergeschlagen. Carsten warf Benni einen fragenden Blick zu. Offensichtlich hatte sogar er sie vergessen… „Du kommst mit zum Clădire de Senat.”, antwortete Benni und klang dabei überraschend bestimmt, als hätte er das tatsächlich von Anfang an geplant. In Laura entstand ein kleiner Hoffnungsschimmer, besonders, da Benni sie mitnehmen würde. Das müsste doch bedeuten, dass er sie nicht für komplett unfähig hielt. Jedenfalls nicht so unfähig, dass sie ihm im Weg rumstehen würde... Ariane beschäftigte sich eher mit dem Wort, das offensichtlich in einer ihr nicht bekannten Sprache war. „Was ist ein ‚Clădire de Senat’?” „Senatsgebäude auf Rumänisch.”, antwortete Carsten. „Du sprichst Rumänisch? Ich würde nur zu gerne wissen, womit du uns noch überraschst, was deine sprachlichen Fähigkeiten betrifft...”, grübelte Ariane, auf alles gefasst, was Carsten nun antworten könnte. „Na ja... Er ist teilweise bei Vampiren aufgewachsen, da ist das nicht verwunderlich.” „Also schön, der eiskalte Engel kann mit Tieren kommunizieren, ist überraschend wortgewandt und spricht Rumänisch. Gibt es noch andere Sprachen, die wir von dir vielleicht irgendwann mal zu hören bekommen könnten?”, erkundigte sich Anne, entweder aus dem Grund, dass sie etwas suchte, um damit wieder sticheln zu können, oder weil sie... nein, Laura bezweifelte, dass hinter der Frage echtes Interesse steckte. „Na ja... Also Benni spricht fließend Japanisch, Indigonisch, Rumänisch, Spanisch, Italienisch, Englisch, Französisch, Latein, Deutsch und dann noch etwas Russisch und Persisch... Oh und noch etwas Dryadisch.”, zählte Carsten auf. „Das müsste alles sein.” „Alles ist gut... Das sind alle Sprachen, die Damon überhaupt zu bieten hat.”, meinte Anne und war sichtlich enttäuscht, dass sie darauf keinen erniedrigenden Kommentar fallen lassen konnte. „Das würd’ ich zu gerne mal hören.”, meinte Ariane bewundernd. „Aber da kommt man doch garantiert durcheinander oder? Und wie hast du es geschafft, so viele Sprachen überhaupt zu lernen?” „Na ja, einige Kinder werden zweisprachig erzogen, Benni hatte etwas mehr als zwei Sprachen, die man ihm beigebracht hatte. Und ja, manchmal kommt er auch durcheinander was die Worte betrifft.”, antwortete Carsten belustigt. „Falls ihr Glück habt, hört ihr ihn mal auf Russisch fluchen.” „Echt?!? Will ich hören!!!”, rief Ariane begeistert. „Sag mal was auf Russisch!” „Проклято, мы должны наконец начинаться.” „Äh... was?”, fragte Ariane verdutzt. „Das heißt so viel wie: Verdammt, wir müssen endlich beginnen.”, übersetzte Carsten. „Ach so... ja, sollten wir wirklich. Moment... du sprichst auch Russisch?!?” „Mann lasst ihr euch schnell ablenken.”, tadelte Anne und unterbrach damit Carstens Antwort. Laura konnte nicht anders, als empört zu erwidern: „Du hast dich doch genauso ablenken lassen.” „So ein Blödsinn, ich habe nur etwas nachgefragt. Nicht meine Schuld, wenn ihr noch mehr abschweift.” „Apropos: Ihr schweift schon wieder ab.”, versuchte Carsten, die beiden Mädchen wieder zurück zu ihrem Vorhaben zu bringen und einen Streit zu verhindern. „Na gut, dann mal los.”, forderte Ariane die Gruppe auf. Benni hob den Deckel der Falltür und eine alte, steinerne Wendeltreppe war in der Düsternis zu erkennen. Keineswegs begeistert stellte Laura fest, dass dieser Gang vielleicht vor hundert Jahren zuletzt benutzt worden war, da der Staub tatsächlich fast meterhoch lag und sich an allen Ecken die Spinnweben häuften. Sie schluckte schwer. Da sollte sie nun also rein? Etwas ungeschickt verfehlte Laura eine Stufe und fiel die letzten paar Meter hinunter, bis sie unsanft den Boden erreichte. „Auaaa, das musste ja natürlich sein! Warum ist diese verfluchte Falltür wieder zu? Man sieht ja gar nichts! Verdammt, ich hab mir das Knie aufgeschlagen!!!”, beschwerte sie sich und mühte sich auf. Neben ihr leuchtete eine Flamme auf, für Lauras Verhältnisse kam sie allerdings etwas zu spät. Zerknirscht blickte sie an sich runter. Sie sah fast so aus wie Chip, wenn er in den Schnee gefallen war. „Bäh, igitt!” verzweifelt versuchte sich Laura von der Schicht aus Staub und Spinnweben zu befreien, die auf ihr lag und partout nicht abgehen wollte. Missmutig bemerkte sie, dass Benni von ihren Versuchen irgendwie belustigt schien. „Guck nicht so, hilf mir wenigstens. Da sind garantiert Spinnen!!!”, rief Laura panisch. „Die jetzt auf dir herum krabbeln.” Wie von einem Anfall erfasst begann Laura hektisch herum zu zappeln und war kurz des Nervenzusammenbruchs nahe. „Das ist gemein Benni!!! Mach sie weeeeeeeeeeeeeeeeeeg!!!” Doch statt ihrer ‚Bitte’ Folge zu leisten, folgte Benni dem unterirdischen Gang und ließ Laura alleine zurück. Diese versuchte weiterhin fast erfolglos, den Staub und die Spinnweben loszuwerden. Dass Benni schon längst weg war, bemerkte sie erst gar nicht. Selbst dass nun auch ihre Lichtquelle fehlte, wurde ihr nicht wirklich bewusst. Zumindest bis jetzt. Auf einmal hörte sie ein leises Rascheln hinter sich. Ein Rascheln, das sie nicht zu deuten vermochte. Lauras Herzschlag setzte aus. Was war das?! Angestrengt schaute sie in der Dunkelheit umher, doch Bennis Feuer war schon zu weit weg, als dass sie noch irgendetwas hätte erkennen können. Sie wusste nicht, wie weit er von ihr entfernt war, oder wie nah das schaurige Wesen bereits war, dass das Rascheln verursachte. Doch eines wusste sie: Es wurde lauter. Dieses Ding kam näher. Zu nah. Lauras Nerven brannten mit ihr durch. Sie musste weg! Sie musste sofort weg von hier!!! Von Panik und Schreck übermannt hastete sie blind den Gang entlang, watete durch den hohen Staub und rannte durch haufenweise Spinnweben, die sich mitten im Gang ausbreiteten. „Beeenniii!!!”, schrie Laura aus voller Kehle und hetzte weiter voraus. Der Gang schien endlos zu sein und Benni noch weiter von ihr entfernt. Außer Puste hielt Laura an und bemühte sich, ihre Lungen mit Luft zu füllen, während sie ebenso Staub einatmete. Schluchzend und hustend sackte Laura auf den Boden und versuchte sich, am ganzen Körper zitternd, wieder zu beruhigen. Wie weit war sie gekommen? Und wie weit war Benni noch von ihr entfernt? Und das Wesen, dass das Rascheln verursachte?!? Sicher handelte es sich um eine menschengroße Spinne, eine Art Wächter dieses Tunnels. Und diese Spinne hatte Hunger. Großen Hunger. Hunger auf wehrlose, erschöpfte Mädchen. „Nein!!! Benni!!! Ich will nicht von einer Spinne gefressen werden!!!!!”, krisch Laura, sodass von der Wand bereits der Staub auf sie herabrieselte. Oder waren es die Kinder der Mutterspinne, die nun auf ihr saßen? Laura konnte es nicht sehen! „Neeeeeeeeeeiiiiiiiiiiin!!! Lasst mich! Lasst mich in Ruhe!!! Ich schmecke doch gar nicht!!!” Und da war es, das riesige Monster, dass sie am Arm packte und hochzog. „Lass mich los!!!”, schrie Laura verzweifelt und versuchte, sich mit Händen und Füßen zu retten. „Afurisitele, Laura mach die Augen auf.”, forderte Benni sie ruhig auf. Blinzelnd öffnete Laura die Augen und schaute von Benni zu der kleinen Flamme, die auf seiner Hand tanzte, und wieder zurück. „W-Was war das gerade? Und... was ist passiert? Und... was hast du gesagt?”, schluchzte Laura verzweifelt, in der Angst, sie könnte schon halluzinieren. „Du hast überreagiert.”, bekam sie als Antwort. „Und ich sagte ‚verdammt’.” „A-ach s-s-so…” „Komm endlich.”, drängte Benni, zwar immer noch ruhig aber auch zugleich etwas genervt. Er war zwei Schritte vorausgegangen, als er bemerkte, dass Laura ihm wieder nicht folgen würde. „Laura...” seufzend drehte er sich zu ihr um. Laura hatte allerdings das Gesicht hinter den Händen vergraben und fand immer noch keine Ruhe. Ihre Schultern bebten und hinter den Händen war ein leises Schluchzen zu hören. „Ich kann nicht mehr... Das ist mir zu gruselig. Ich will zurück!” „Noch eine viertel Meile.”, meinte Benni beschwichtigend, doch Laura schüttelte den Kopf. „Nein! Ich will zurück!” „Das wäre drei Mal so weit entfernt.” „Mir egal, ich will zu Carsten! Carsten sorgt sich immerhin um mich. Er hat mich lieb und kümmert sich um mich!”, rief Laura aufgebracht. Ich will nicht mehr! Ich stehe tatsächlich nur im Weg herum! Ich-  „Это не может быть верно.” Unsanft packte Benni Laura am Handgelenk und zog sie mit sich. „Hör auf! Lass mich los!!!”, zeterte Laura und versuchte vergebens, sich aus Bennis festem Griff zu winden. „Benni!!! Ich will zurück!!!” Doch von Benni kam keine Antwort mehr. Was hätte Laura auch anderes erwartet? ~*~ Gelangweilt lehnte sich Ariane im Sessel zurück, den sie kurz darauf wieder wegen Anne verlassen musste, die sie zu Arianes Verdruss erfolgreich vom Schlaf fern hielt. „Es war keine gute Idee, dass Laura mit dem eiskalten Engel geht.”, bemerkte Anne mürrisch. „Wie kommst du denn darauf?”, erkundigte sich Ariane. Inzwischen hatte sie es schmerzlichst eingesehen, dass sie noch nicht schlafen durfte. „Weiß Gott, was der mit ihr anstellt.” „Das nennt man mal Vertrauen.”, murmelte Carsten vor sich hin, während er das Bücherregal im Wohnzimmer untersuchte und hin und wieder eins herausnahm, um den Rückentext zu lesen. „Ich hab ihm nie vertraut.”, erwiderte Anne. „Was denkst du denn, stellt er mit ihr an?”, fragte Ariane und tat es Carsten gleich, indem auch sie die Bücher zu untersuchen begann. Irgendwie machte das mehr Spaß als abwarten. Anne zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Nichts Gutes auf jeden Fall. Warum hätte er sie sonst mitgenommen?” „Woher sollen wir das wissen? Lass das doch einfach Bennis Entscheidung sein. Er hat sicher gute Gründe, weshalb er sie mitnimmt.”, meinte Carsten und klang in Arianes Ohren erstaunlich gereizt. Auch Anne schien sein Ton nicht entgangen zu sein. „Hey beruhig dich. Musst ja nicht gleich loszicken.” „Wer zickt hier?”, konterte Carsten, dieses Mal wieder in einem ruhigeren Tonfall. „Die ganze Zeit bist du nur am Meckern. Über Benni, über mich, wieder über Benni und wenn nicht speziell über einen von uns, dann über Jungs allgemein. Was ist dein Problem?” „Das geht dich rein gar nichts an!”, dieses Mal war es Anne, die lauter wurde. „Dann halt mich bitte auch da raus, wenn es mich nichts angeht.” „Okay, okay, beruhigt euch beide! Nicht streiten!”, kam Ariane dazwischen. „Gerade jetzt, wo wir zusammenarbeiten müssen, könnt ihr euch doch mal vertragen, oder?” Wie erwartet erwiderte keiner der beiden etwas, nur Anne wandte sich zischend der gegenüberliegenden Wand zu. Ein kleines bisschen tat es Ariane Leid, dass sie auch Carsten mit angemeckert hatte. Immerhin hatte er ja keinen Streit beabsichtigt, im Gegenteil. Aber irgendwie führte alles, was ein Junge tat, zu einer Meinungsverschiedenheit mit Anne. Ariane würde es auch gerne wissen. Was ist bitteschön Annes Problem, dass sie bei Jungs so überreagiert? Noch nicht einmal bei Lissi ist sie so gereizt und das soll was heißen... Carsten schaute zur Tür. „Es müsste bald so weit sein...”, dachte er laut. „Und woran werden wir merken, dass es so weit ist?”, fragte Ariane nach. „Wenn die Zombies das Haus stürmen? Dann ist’s vermutlich etwas zu spät.” Carsten schüttelte den Kopf. „Nein, kurz davor. Wir werden den Zombies die Balkontür öffnen und spätestens wenn sie angreifen blüht ihnen das Verderben.” „Das klingt aber ziemlich sadistisch.”, kommentierte Anne misstrauisch. Sie kann es nicht lassen... Verlegen kratzte sich Carsten am Hinterkopf. „Na ja... Immerhin bin ich mit Eagle verwandt... Etwas Ähnlichkeit müssen wir ja haben...” Ariane schüttelte den Kopf. „Unsinn, vom Charakter her könnt ihr so verschieden sein wie Sonne und Mond... Oder Lissi und Susanne. Ist mir auch Recht so, ich kann Eagle nicht leiden.” „Na dann bin ich ja froh...” Carsten lachte beschämt. Anne verdrehte die Augen. „Echt jetzt... Jungs...” ~*~ Schluchzend sackte Laura auf dem nächst gelegenen Stuhl zusammen. Den letzten Teil der Strecke ist sie eigentlich nur von Benni gezogen worden. Erst als sie die Stufen nach oben bemerkte, hatte sie wieder angefangen, von selbst zu laufen. „Beruhige dich.”, meinte Benni tonlos und klang daher auch nicht wirklich tröstend. Laura verstand ja, dass sie besser die Klappe halten sollte, da hinter der nächsten Tür der große Saal des Senatsgebäudes war und sich dort die ganzen Unterweltler versammelten. Da war es etwas unpraktisch, wenn sie sich in dem benachbarten Raum die Augen ausheulte. Aber trotzdem... Laura war mit ihren Nerven am Ende. „Ich kann nicht mehr...”, bemühte sie sich zwischen den Schluchzern hervorzubringen. Allerdings schien Benni ihre Gefühlslage kaltzulassen. Er stieg auf den steinernen Tisch, der zu dem Stuhl gehörte, auf dem Laura zusammengesunken wie ein Häuflein Elend saß. Überrascht bemerkte Laura, dass er eine Steinplatte entfernte und dadurch den Lüftungsschacht freigab. „Ein Lüftungsschacht in einem Senatsgebäude?”, fragte Laura leicht erheitert. Irgendwie gab das für sie keinen Sinn, besonders, da der Lüftungsschacht völlig unbrauchbar war, da eine Steinplatte ihn verdeckte. „Nicht ganz.”, erwiderte Benni. „Die Senatoren steckten mich damals bei Themen, die nicht für meine Ohren bestimmt waren, in diesen schalldichten Raum.” Laura unterdrückte ein Kichern. „Und dir hat das nicht gepasst, weshalb du dir den Gang zurecht gelegt hast, um sie belauschen zu können?” Zur Antwort nickte Benni. „Okay und wann haben sie dich erwischt?”, stocherte Laura weiter, inzwischen wieder vollkommen beruhigt. „Nie.”, antwortete Benni auf Japanisch. „Ach so. Also haben sogar Vampire keine Chance gegen dich.” Vermutlich wollte Laura Benni damit nur etwas necken, aber sie wusste nicht, was er davon hielt, da er sich bereits in den ‚Lüftungsschacht’ gehievt hatte. Na toll, lässt er mich jetzt doch alleine zurück?, fragte sich Laura enttäuscht und rätselte bereits, wie sie zurück kommen sollte. Auf jeden Fall nicht durch den Tunnel! „Wo bleibst du?” Ein Stein fiel Laura vom Herzen und in ihrem Kopf jauchzte ein Freudenschrei, als er sie aufforderte, ihr zu folgen. Also wollte Benni sie doch mitnehmen! Sie stieg auf den Tisch und sprang hoch, um den Rand des Schachtes zu erreichen. Aber sie kam nicht ran! „So hoch komm ich nicht.”, beschwerte sich Laura. Beschämt stellte sie fest, dass das hieß, dass Benni bereits als kleiner Junge viel höher springen konnte als sie heute. Und sie war nicht sooo untalentiert. Die Decke war halt viel zu hoch! Einen einzigen Versuch würde sie noch wagen. Laura ging in die Knie und stieß sich mit aller Kraft vom Steintisch ab, während sie die Arme nach oben streckte, um den Rand erwischen zu können. Doch ihr fehlten noch zwanzig Zentimeter, als sie ihren höchsten Punkt erreichte. Deprimiert setzte sich Laura auf den Tisch. „Das bringt nichts...” Enttäuscht blickte sie hoch zum Lüftungsschacht und überredete sich zu noch einem Versuch. Dieses Mal sollte es der letzte sein. Kaum fehlten ihr wieder die zwanzig Zentimeter, packte Benni sie am Handgelenk und zog sie den fehlenden Abstand rauf zur Luke des Schachtes. „Danke...” Verlegen wich Laura seinem Blick aus. Irgendwann würde sicher auch Bennis Geduldsfaden bei ihrem Geschick reißen. Außerdem war es für sie immer noch sehr deprimierend... Gleichzeitig war sie von der Voraussicht beeindruckt, die Benni bereits als kleiner Junge hatte. Denn der Schacht war hoch genug, sodass sie auch in ihrem Alter noch problemlos stehen konnten. Dieses Mal folgte Laura Benni sofort. Denn auch wenn der Schacht nicht so lange unbenutzt und nicht so lang war wie der Tunnel, vermutete Laura einen Wegwächter. Der natürlich nichts anderes als eine Spinne sein konnte. Ärgerlicher weise spendierte Benni ihr dieses Mal aber überhaupt kein Licht, weshalb sie sich widerwillig an der Wand vortastete, um nicht komplett bedeppert den Gang entlang zu stolpern und damit die unerwünschte Aufmerksamkeit der Unterweltler auf sich zu ziehen. Schließlich ging Benni in die Knie und ließ kleine Löcher im Boden des Schachtes entstehen, die ihnen ein kleines bisschen Licht schenkten und perfekt zum Beobachten und Belauschen waren. Auch Laura kniete sich hin und linste durch eins der kleinen Löcher. Der Saal war in der Tat riesig und sowohl Boden als auch Wände und Decke bestanden aus geschliffenem schwarzem Stein. Direkt unter ihr befand sich eine runde Tafel aus strahlend weißem Marmor, die von vielen schwer wirkenden Holzstühlen umrundet war. Die Säulen und Kerzenleuchter an der Wand erinnerten Laura an das Bild, das bei Rina und Konrad auf dem Ofen stand. Jenes Bild mit dem Schmetterling. Wahrscheinlich wurde es in diesem Saal gemacht, während einer Senatssitzung, wenn Lauras Vermutungen sich als richtig erwiesen. Hinter dem Tisch führten zwei Stufen auf eine leicht erhöhte Empore. Überrascht bestaunte Laura das Portal zur Unterwelt. Das in Yami hatte sie nie sehen dürfen, ein striktes Verbot ihrer Eltern... Daher hatte sie auch keine Vorstellung davon gehabt, wie so ein Portal eigentlich aussah. Das Portal war ein petrol-schwarzer Strudel und schien wie ein schwarzes Loch zu wirken. Es saugte Sachen ein, gab sie aber nie mehr raus. Wobei sich Laura eingestehen musste, dass das nicht wirklich stimmen konnte. Die Portale sahen vermutlich alle gleich oder zumindest sehr ähnlich aus und Benni war schon einmal durch so einen Strudel in die Unterwelt gekommen. Laura warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Er war wieder hinausgekommen, sowie Johannes. Zerknirscht sog Laura die Luft durch die Zähne ein, als sie die Stimme einer ihr vertrauten und verhassten Person vernahm. Vor dem niedrigen Geländer der Empore stand Lukas. „Meine Herren Unterweltler! Wir haben uns hier im Namen des Unzerstörbaren versammelt, um ihm unsere Opfer darzubringen. Unser Herr wird in nicht allzu ferner Zukunft diese Welt unterjochen und dazu braucht er die in diesem Reich tätigen Dämonen. Vor uns, in nur knapper Entfernung, befindet sich eine beträchtliche Anzahl von ihnen. So wie wir, versammeln sie sich und denken, sie könnten uns Einhalt gebieten.” Alle Unterweltler fingen an zu lachen. Es war so laut und unangenehm, dass sich Laura bei diesem grässlichen Geräusch die Ohren zuhalten musste. „Zeigen wir ihnen, wie sehr sie im Unrecht sind, wie stark sie sich unterschätzt haben! Entzündet das Kriegsfeuer und demonstriert ihnen unsere Macht!” Laura fiel ein Zombie ins Auge, der eine Fackel in seiner knochigen Hand hielt. Er näherte sie einer Flüssigkeit, die auf dem Boden ausgeschüttet wurde und vermutlich zu Konrads Villa führte. Wollen die uns verbrennen?!? Kurz bevor die Fackel das Benzin zum brennen brachte, spürte Laura, wie neben ihr Energie zum Einsatz kam und das Feuer zu lodern begann. Unverzüglich bahnte sich ein mächtiges Flammenmeer den ihm vorgeschütteten Weg nach draußen in die schwarze Nacht. Kampflustig jubelten die Unterweltler. Niemandem, noch nicht einmal dem Zombie mit der Fackel, schien aufgefallen zu sein, wer das Benzin eigentlich zum Brennen gebracht hatte. Doch Laura konnte die nur allzu vertraute Dämonenenergie spüren, die vom Feuer ausging. Nicht nur sie, auch die Dämonenverbundenen in der Villa würden sie bemerken. ~*~ Als das Feuer am Horizont auftauchte, wussten Carsten, Anne und Ariane, dass es sich hierbei um ein Zeichen handelte. Ein Zeichen sowohl für sie, als auch für die Unterweltler. Und zwar zum Angriff. „Endlich.”, kommentierte Anne das eintreffende Geschehen, während sie ihr Versteck unter einem Fenster neben der Balkontür verließ und ins Freie trat. Ariane und Carsten taten es ihr gleich und betraten ebenfalls den Balkon. Mit seinem schwarzen, verschnörkelten Metallgeländer und glänzenden schwarzen Fliesen war er eigentlich kein Platz für einen Kampf... Zur selben Zeit begannen auch die Unterweltler ihren Sturm auf die Villa, blieben aber abrupt stehen, als sie bemerkten, dass ihr Überraschungseffekt keine Überraschung mehr darstellte. Dennoch hatte Ariane alle Farbe verloren, die sie trotz des Mondlichts noch hatte. „Alles in Ordnung?”, fragte Carsten besorgt. „Ich habe noch nie jemanden angegriffen... Oder gar getötet... Nichts ist in Ordnung!”, meinte sie von Panik erfasst. Kopfschüttelnd kommentierte Anne nicht gerade hilfreich: „Das fällt dir erst jetzt ein? Na prima!” Carsten legte seine Hand auf Arianes Schulter. Ariane konnte sich den Grund nicht erklären, dennoch hatte diese Geste eine beruhigende Wirkung. „Du brauchst keine Angst zu haben, außer Benni und Konrad hat vermutlich keiner von uns jemals jemanden getötet. Aber jetzt gibt es keinen Ausweg mehr.” „Das hilft mir nicht, dass ich mich besser fühle!”, rief Ariane verzweifelt. Carsten seufzte. „Tut mir Leid... Ich habe nun mal auch keine Ahnung. Am besten, du denkst nicht darüber nach.” „Vielleicht können sie noch nicht einmal was dafür, dass sie jetzt hier sind!” „Deshalb sollst du ja nicht drüber nachdenken!” Hilfesuchend wandte sich Carsten Anne zu. „Wie wäre es, wenn du ihr auch mal irgendwie Mut zusprichst?!” „Ach, du machst das doch gar nicht mal gut.”, bemerkte Anne spöttisch. „Aber Ariane, du solltest wirklich das Nachdenken lassen. Und zwar sofort, denn die haben deine Skrupel schon längst bemerkt.” Mit diesen Worten stieß Anne mehrere der Unterweltler von dem Balkon. Ariane kniff die Augen zusammen und tat das, was ihr als erstes in den Sinn kam. Sie ließ ihre gesamte Energie frei. Bisher hatte sie nur einmal in ihrem Leben so etwas in der Art gemacht, aber in weitaus kleinerem Ausmaß. Daher spürte Ariane nur wenige Sekunden später bereits eine entkräftende Schwäche, wie als würde nicht sie die Energie freisetzen, sondern als würde jemand oder etwas ihre Energie absaugen. Hoffentlich hatte es jedenfalls die erwünschte Wirkung... Neben sich hörte Ariane eine Diskussion, vermutlich zwischen Anne und Carsten, aber sie wusste, dass sie ihre Aufmerksamkeit nicht von ihrer Macht entfernen durfte. So sehr sie es sich auch wünschte, um der vollkommenen Entkräftung zu entfliehen. Es war so anstrengend. Selbst das Atmen begann ihr schwer zu fallen. Etwa so in der Art müsste sich Laura vermutlich fühlen... Ein unerwarteter Energieschub setzte auf einmal ein und Ariane fühlte sich wieder vollkommen bei Kräften. Ein letztes Mal ließ sie ihre Macht mit aller Kraft erstrahlen, ehe jemand sie ablenkte, indem er an ihrer Schulter rüttelte. „Hör auf Ariane, du hast es geschafft.”, brachte Carsten sie zurück in die Welt außerhalb ihrer Gedanken. Erschöpft sackte sie auf die Knie. „Ich kann nicht mehr.” „Kein Wunder, du hast deine Kraft völlig überschätzt. Die dunkelste Region Damons wurde eben die hellste, die es je gab.”, meinte Anne belehrend. Immer noch kraftlos mühte sich Ariane auf die Beine und war dankbar, dass Carsten sie immerhin stützte, auch wenn Anne verstimmt die Augen verdrehte. Vor ihnen erstreckte sich eine gähnende Leere, eingerahmt von dem lodernden Feuer. Die Unterweltler waren alle verschwunden, noch nicht einmal Leichen konnte Ariane zu ihrer Erleichterung entdecken. „Wo sind sie hin?” „Entweder durch deine Energie zu Asche und Staub geworden, auf ihrer Flucht in die Flammen geraten und dort zu Asche und Staub zerfallen oder rechtzeitig in das Senatsgebäude gekommen, um durch das Portal wieder in die Unterwelt zu entkommen.”, berichtete Carsten sachlich und klang dabei nahezu genauso tonlos wie der eiskalte Engel im Normalfall. Daher dauerte es auch eine Weile, bis Ariane seine Worte auch wirklich verstanden hatte. Als dies schließlich der Fall war, konnte sie ihren Ohren kaum trauen. Was hatte er da- Wie in Trance wagte sie einen weiteren Blick auf das Schlachtfeld. Normalerweise hätten die Flammen den Schnee rot gefärbt. Wäre dieser zu sehen gewesen. Stattdessen wurde er komplett von einer dunklen Schicht verdeckt. Übelkeit stieg in Ariane auf und schnell wandte sie den Blick von dem meilenweiten Friedhof ab. „All die hab ich...” Betroffen rieb sie sich die Augen. „Das kann nicht sein...” Ariane spürte, wie Carsten sie an sich drückte. Sie wusste nicht wieso, dennoch hatte er eine beruhigende Ausstrahlung. Seine sichere Umarmung und sein gleichmäßiger Herzschlag war wie ein Trost für sie. Die Flammen verloren schnell an Kraft und waren kurz darauf niedergebrannt. „Da seid ihr ja! Was ist passiert?”, hörte Ariane Öznur von der Balkontür aus fragen. Auch der Rest der Gruppe schien wach geworden zu sein. Doch Ariane schaffte es nicht, ihnen Beachtung zu schenken. Viel zu tief saß der Schock. Viel zu schmerzhaft die Erkenntnis. Sie war eine Mörderin… ~*~ Begeistert beobachtete Laura, wie die Unterweltler panisch durch das Portal zurück in die Unterwelt flohen. Zurück an den Ort, an den sie gehörten. „Super, Nane!!!”, rief Laura begeistert, als auch der letzte von ihnen verschwunden war. Enthusiastisch sprang sie in die Höhe, stieß dabei allerdings mit dem Kopf gegen die Decke des Lüftungsschachtes. „Na super.”, meckerte sie, als ihr auffiel, dass Benni ihr Versteck bereits verlassen hatte. Dort, wo vor kurzem noch die Löcher waren, befand sich nun dieselbe Luke, durch die Laura auch mit aller Mühe in den Schacht gekommen war. Überrascht stellte sie fest, dass an der Stelle, an der Benni vor wenigen Sekunden noch war, nun die Demon Blade lag. Das bedeutet nichts Gutes..., dachte Laura bedrückt und schnappte sich das Schwert. Mit einem hoffentlich anmutigen Satz sprang auch sie aus dem sicheren Örtchen, das sie lieber nicht verlassen hätte. „Hallo Cousinchen, lang ist’s her!”, wurde sie auch schon von Lukas’ schleimiger Stimme auf Japanisch begrüßt. „Was hast du hier zu suchen?”, fauchte Laura anfeindend. Natürlich war er nicht durch das Portal geflohen. Auch wenn er in letzter Zeit angeblich verdächtig häufig in der Unterwelt war hieß das noch lange nicht, dass Ariane ihn hätte verscheuchen können. „Also Cousinchen, das was ihr mit meinem geliebten Gefolge angestellt habt, finde ich gar nicht schön. Du bist ein böses Mädchen. Was wird Papi wohl sagen, wenn er davon Wind bekommt?” Gespielt wischte sich Lukas eine Träne aus den Augen. „Du hast rein gar nichts gegen mich in der Hand.”, erwiderte Laura und war selbst von ihrem ruhigen Tonfall überrascht. „Gegen dich vielleicht nichts.” Lukas’ Blick wanderte rüber zu einer Säule, an der Benni mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte. „Aber was wird wohl passieren, wenn ich... Nein, das wäre ja gemein. Dennoch ist der Gedanke sehr verlockend.” Verwirrt und ratlos zugleich schaute Laura zwischen Benni und Lukas hin und her, als sie sich eingestand, dass Benni irgendwie vor hatte, überhaupt nicht zu handeln. Auch Lukas schien das aufzufallen. „Na gut, halt dich da einfach raus. Ist vermutlich auch besser so, sich nicht in Familienangelegenheiten einzumischen. Ist es nicht so, Cousinchen?” Deshalb hatte er ihr die Demon Blade gelassen. Sie sollte alleine mit Lukas fertig werden. Benniiiii!!!, schrie es in Lauras Kopf. Das schaff ich doch nie! Verkniffen biss Laura die Zähne zusammen und wich ein paar Schritte zurück, während sie Benni einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, in der Hoffnung, er würde unwahrscheinlicherweise jedenfalls ein schlechtes Gewissen bekommen. Denn zu ihrem Ärgernis war Lukas auch jemand mit der antiken Begabung für Kampfkunst und sogar ehemaliger Schüler der Coeur-Academy. Das hieß, dass Laura ihm haushoch unterlegen war. Und schon stürzte er sich angriffsbereit auf sie. Anstatt das Schwert zu benutzen, kniff Laura aus Reflex die Augen zusammen und schlug mit bloßer Hand zu. Der Schlag schien ein Treffer, denn Lukas schreckte zurück und wischte sich Blut von der Wange. Laura hatte ihn mit ihren Nägeln erwischt und der Menge des Blutes zu urteilen war die Wunde sogar recht enorm. Viel Zeit blieb Laura nicht, sich über ihren Treffer zu freuen, denn Lukas startete einen weiteren Angriff. Doch dieses Mal zog Laura sofort das Schwert und schlug schwungvoll zu. Als sie jemand am Arm packte und sie im Polizeigriff zur Tatenlosigkeit zwang. Klirrend fiel das Schwert aus Lauras Hand, der Echo im Saal verlieh ihm eine besondere Dramatik. Lauras Herzschlag setzte aus, als sie die kalte Mündung einer Pistole an ihrer Schläfe spürte. Das war’s. Sie hatte verloren. Ein Rauschen schoss durch den ganzen Saal und richtete Lauras und Lukas’ Aufmerksamkeit auf das Portal. Es loderte in seinen schwarzen Flammen noch einmal kurz auf, ehe es gleich einer Kerze erlisch. „Ich war nichts weiter als die Ablenkung?”, bemerkte Laura, als Benni sich ihr und Lukas zuwandte. Ihr Arm, den Lukas immer noch festhielt, fing langsam an taub zu werden. Zähneknirschend entsicherte Lukas die Pistole, mit der er Laura bedrohte. „Stell jetzt nichts Dummes an, Freundchen. Oder ich puste der Kleinen das Hirn aus dem Schädel.” Lauras Beine bekamen die Konsistenz von Pudding. Er will mich töten! Er wird mich töten! Tränen schossen in ihre Augen. Sie hatte noch nicht einmal mehr die Gelegenheit, sich dem Schwarzen Löwen zu beweisen. Lukas würde sie hier und jetzt hinrichten. Hoffnungslos flehte Laura Benni mit ihrem Blick an, ihr zu helfen. Ich will nicht sterben!!! Jedenfalls machte Benni nichts Dummes. Genauer gesagt machte er gar nichts. Er wird die Gelegenheit ausnutzen und mich so oder so töten..., erkannte Laura und auch der letzte Hoffnungsfunken erlosch. Und da war es wieder: Das Rascheln. Es kam aus dem Lüftungsschacht. Laura bekam eine Gänsehaut und hoffte, dass die Spinne doch eher Appetit auf Lukas hätte. Schließlich war er viel größer als sie. Da war viel mehr leckeres, saftiges Fleisch dran, im Vergleich zu diesem leicht untergewichtigen Mädchen. Genau, komm her! Lecker Futter!, forderte Laura die Spinne trotz ihrer Phobie hoffnungsvoll auf.  Auch Lukas schien das Rascheln zu hören, denn er schaute erwartungsvoll hinauf zur Luke, auf alles gefasst, was kommen würde. Oder auch nicht. Ein Fellknäul schoss auf Lukas hinab, biss ihm zuerst in die Nase und dann in die Hand, in der er die Pistole hielt. Erschrocken schrie Lukas auf und ließ die Pistole fallen, um das Etwas von seiner Hand abzuschütteln. So schnell sie konnte befreite sich Laura aus seinem Griff und schnappte sich die Pistole und die Demon Blade, um dann so schnell es ging Abstand zwischen sich und Lukas zu gewinnen. Dieser riss das Etwas von sich los und warf es Benni entgegen. „Vielen Dank.”, meinte er sarkastisch, als er das kleine Eichhörnchen gefangen hatte, welches sich nun selbstzufrieden in seine Hand kugelte. „Du hast Chip mitgenommen?”, fragte Laura atemlos. „Ich sagte doch, du hast überreagiert.”, erwiderte Benni nur. In atemberaubender Geschwindigkeit sprang er über die kleine Mauer, riss Laura die Demon Blade aus der Hand und verpasste Lukas mit einem gezielten Schlag einen tiefen Schnitt senkrecht über das linke Auge. Schreiend stürzte Lukas rückwärts auf den Boden und versuchte die starke Blutung zu stillen, indem er die Hand auf sein Auge presste. Ein paar Meter entfernt zersprang seine Brille in kleine Scherben. „Benni, hör auf!!!”, schrie Laura. „Du darfst Lukas nicht töten!” Doch er beachtete sie sicht, sondern packte Lukas am Kragen und schmetterte ihn gegen die Wand des steinernen Saales. Ehe Lukas zusammensacken konnte, war Benni auch schon zur Stelle und packte ihn an der Kehle. „Stop!!!” Laura hatte sich Lukas’ Pistole geschnappt und zielte nun, am ganzen Leib zitternd, mit ihr auf Benni. Immerhin gewann sie damit seine Aufmerksamkeit, doch der kalte Abgrund seines schwarzen Auges zeigte bedingungslose Erbarmungslosigkeit. „Wer weiß, was O-Too-Sama machen wird, wenn du ihn tötest! Lass ihn gehen!” Doch Benni lockerte seinen Griff kein bisschen. „Es reicht mir. Er hat genug Schaden verursacht.” „Lass ihn los, oder ich schieße!!!” „Das wirst du nicht.”, erwiderte Benni und Laura wusste, dass er Recht behalten würde. Sie konnte nicht schießen. Sie brachte es kaum übers Herz, zu wissen, dass sie Benni überhaupt treffen könnte. Sie hatte Angst. Sie hielt dieses Todeswerkzeug in den Händen und hatte einfach nur noch Angst davor. Ihr Atem wurde immer hektischer. Sie wollte das blöde Ding einfach nur loslassen, doch sie war viel zu angespannt. Sie konnte nicht! Sie war nicht dazu in der Lage, ihren Körper zu kontrollieren! „Laura, leg die Pistole weg.”, forderte Benni sie ruhig auf. Lauras Finger zitterten immer noch stark, als sie den Abzug loslassen wollte. Sie zitterten zu stark. Bei dem Knall ließ Laura erschrocken die Pistole fallen und kniff schreiend die Augen zusammen. Doch sie musste wissen, wen oder was sie getroffen hatte. Sie konnte nicht ertragen, dass sie jemanden verletzt haben könnte! Diese Ungewissheit machte sie verrückt! Blinzelnd beobachtete sie die Folgen ihres versehentlichen Schusses. Chip quietschte erschreckt und verängstigt zugleich, während er sich nicht mehr in Bennis Hand zusammenkugelte, sondern sich verkrampft um seinen Daumen wickelte. Mit seiner anderen Hand hatte Benni von Lukas abgelassen und sie nun zur Faust geballt. Er warf einen kleinen Gegenstand vor Lauras Füße. „Du hättest Chip getroffen.” Seine Stimme war bedrohlich tief und einschüchternd. Betroffen sackte Laura in die Knie. Sie hätte drei Anwesende töten können. Und ausgerechnet den Kleinsten von ihnen hätte sie getroffen. Der, der für Benni zu den engsten und bedeutensten Freunden überhaupt zählte. „Ich- es tut mir...” Laura verbarg die Augen hinter ihren Händen. Den Händen, die ein unschuldiges, kleines, liebenswertes Eichhörnchen getötet hätten, dass ihr zuvor sogar das Leben gerettet hatte. „Es tut mir Leid, Benni! Es tut mir so Leid!!!” Aber sie wusste, eine Entschuldigung hatte keinen Sinn. Nie wieder würde Benni auch nur ein Wort mit ihr wechseln, oder einen Blick auf sie werfen. Sie konnte sich selbst ja kaum mehr ertragen! Ein Rauschen sorgte dafür, dass Laura die Hände wieder von den Augen nehmen musste. Grundlos tauchte ein orange-schwarzer Strudel auf, durch den zwei Männer traten. Beide trugen schwarze, wehende Umhänge mit Kapuzen, die ihre Gesichter verbargen. Lukas schien noch halbwegs bei Bewusstsein zu sein, da er nun umso verstörter fragte: „W-Was macht ihr hier?” Einer der beiden antwortete mit einer relativ tiefen, rauen Stimme: „Der Unzerstörbare schickt uns. Er kann deine erbärmliche Lage nicht mehr mit ansehen und ist verärgert, dass du erneut versagt hast.” Kapitel 18: Vermisst -------------------- Vermisst   „Versagt?! Ist es mein Verdienst, dass ausgerechnet der stärkste Kämpfer Damons hier auftaucht?“, widersprach Lukas, soweit er zu einer Verteidigung in der Lage war. Benni hatte ihn tatsächlich übel zugerichtet. Am Hals waren rote Druckspuren von Bennis festem Griff und das linke Auge schien gar nicht mehr zum Sehen geeignet. „Sei still.“, sagte derselbe Mann wie zuvor mit seiner rauen, tiefen Stimme. Laura fiel ein schwaches Echo auf, das mit der Stimme hallte. „In deiner Lage kannst du es dir nicht erlauben, auf irgendeine Weise zu widersprechen. Du hast den Unzerstörbaren bereits ausreichend verstimmt.“ Befangen richtete Lukas seinen Blick auf den schwarzen Steinboden. „Verzeih mein missratenes Handeln…“ Der andere Mann ergriff das Wort und ein eisiger Schauer überkam Laura, als sie die Stimme wiedererkannte. „Ach Gott, ihr seid alle so ernst hier, das ist ja grauenvoll!“ Er zog die Kapuze zurück und ließ sein orangenes Haar und die mordlustig funkelnden Augen mit den orangenen Kontaktlinsen zum Vorschein kommen. „Lange nich gesehen, wie geht’s euch denn so? Schlecht? Ach das tut mir ja kein bisschen leid. Wisst ihr eigentlich, wie’s mir ergangen is, seit du dafür gesorgt hast, dass ich hinter Gitter kam?!?“ Verängstigt wich Laura so weit zurück, bis sie gegen das Geländer der Empore stieß. Das war- Wie konnte das- „Recht passabel, demzufolge, was ich gehört habe.“, erwiderte Benni monoton und war so kaltblütig wie immer. Lukas schaute verwundert zwischen Max und Benni hin und her, soweit seine gesundheitliche Lage das zuließ. „Ihr kennt euch?“ Ein schauriges Grinsen entstand auf Max‘ Gesicht. „Nur zu gut.“ Eine Welle der Erleichterung überkam Laura, als schwungvoll das Haupttor aufflog und sich die uneingeschränkte Aufmerksamkeit auf die eben eintretende Gruppe richtete. „Hi Leute! Sorry, dass wir so spät sind, aber Konrad zu wecken grenzt ja ans Unmögliche!“, rief Öznur ihr und Benni zur Begrüßung zu. „Das Wasser wäre aber nicht mehr nötig gewesen, nachdem Anne mich aus dem Bett geschmissen hatte.“, beklagte sich besagter Tiefschläfer, der offensichtlich pitschnass war. Abrupt blieben sie stehen. Erst jetzt schien ihnen aufgefallen zu sein, dass Laura und Benni nicht die einzigen Anwesenden waren. Insbesondere als sie die Erkenntnis überkam, dass sie sich in alles anderer als angenehmer Gesellschaft befanden. Carstens Blick ruhte wachsam auf Max, als wäre er jede Sekunde bereit für einen Angriff. „Hey 7984! Wie schön, auch dich hier zu treffen!“, grüßte Max, offenkundig, dass er und Carsten sich kannten und nicht leiden konnten. Ariane sah die beiden prüfend an. „Ihr kennt euch?“ Carsten nickte „Aus dem-“ Stockend hielt er inne, als würde er es noch nicht einmal verkraften, den Namen dieser grausamen Besserungsanstalt auszusprechen. Doch der Rest verstand, was er gemeint hatte. Lukas wollte die Augen verdrehen, ließ es bei dem aufkommenden Schmerz aber dann doch lieber bleiben. „Was für ein Bekanntschaftskreis. Und dann auch noch völlig unabhängig voneinander.“ „Wie schön, dass wir uns alle hassen.“, kommentierte Öznur. „Du bist uns auch nicht gerade unbekannt, Freundchen. Wie du siehst, lebt Benni noch. Zufrieden?“ „Du wolltest ihn vergiften?!?“, fuhr Laura entgeistert ihren Cousin an. Lukas zuckte mit den Schultern und fand heraus, dass sogar diese Bewegung schmerzhaft war. „Ja, wollte ich.“ Tadelnd schnalzte Max mit der Zunge. „Ach stimmt ja, das hast du auch vergeigt.“ Er schlurfte rüber zu Benni und legte einen Arm um seine Schultern. „Ich hab dir doch gesagt, der gehört mir.“ Da Laura die beiden zum Teil von hinten sah, bemerkte sie den Dolch, den Max aus dem Ärmel seines Umhangs schnellen ließ. Erschrocken sog sie die Luft ein. Doch ehe sie Benni überhaupt warnen konnte, stach Max auch schon zu. Aber ins Leere. Grob hatte sich Benni aus seinem Griff befreit, packte Max am Arm und zerbrach diesen wie einen Stock. Laura zuckte bei dem widerlichen, kracksenden Geräusch zusammen, während Max mit schmerzverzerrtem Gesicht zurücktaumelte und Benni rachesuchend anfunkelte. „Verlier deine Mission nicht aus den Augen. Wir sind nur hierher gekommen, um diesen Nichtsnutz abzuholen.“, belehrte der andere Mann im schwarzen Umhang Max und hatte dabei eine erstaunlich streitschlichtende Position eingenommen. Die immer noch vermummte Gestalt half Lukas auf die Beine und wies Max an, zu ihm zu kommen. Aus dem Boden schoss eine Steinwand und schützte die drei in letzter Sekunde vor einem auf sie schnellenden Meteoritenhagel. Erschrocken zuckte Laura zusammen. Was war das denn gerade gewesen?! Als die Steinwand wieder im Boden verschwunden war, richtete der Mann seine Aufmerksamkeit auf Konrad. „Du bist auf Rache aus, ist es nicht so?“ Laura konnte ein amüsiertes Lächeln unter dem Schatten der Kapuze erahnen. „Macht es dich nicht verrückt, den Mörder deiner Eltern vor dir zu sehen und nichts zu tun? Hast du nicht das Bedürfnis, ihm auf der Stelle, hier und jetzt, den Hals umzudrehen?“ Schaudernd stellte Laura fest, dass Konrad auf die Provokation reagierte. Seine roten Augen begannen bedrohlich zu flackern und eine petrole Aura umgab ihn. Sie loderte, wie zuvor das Feuer brannte. Wie ein Raubtier machte er sich angriffsbereit. Die Gestalt lachte leise. „Komm schon, zeig ihm, wie viel sie dir bedeutet haben.“ „Konrad, lass es! Er ist es nicht wert!“ Rina packte ihren Verlobten am Ärmel seines Hemdes, um zu verhindern, dass er etwas Unüberlegtes machen würde. „Wie kannst du das sagen?! Du weißt, was sie alles für uns getan haben! Welche Opfer sie aufgebracht haben, damit wir glücklich sein können!“ Rina nahm Konrads Gesicht zwischen die Hände und zwang ihn dazu, sie anzusehen. „Ich weiß, aber das verstehen sie ganz sicher nicht von glücklich. Du musst dich wieder beruhigen!“ Konrad richtete, bedrückt seufzend, den Blick auf den Boden. Kurz darauf verschwand das Lodern in seinen Augen und um seinen Körper wieder. Die Gestalt schnaubte. Allerdings nicht verärgert, sie klang eher belustigt. „Das war ein Spaß mit euch. Mal sehen, was bei unserem nächsten Treffen alles passieren wird.“ Wieder entstand das orange-schwarze Portal und kaum waren die drei Männer verschwunden, löste es sich mit demselben Rauschen wieder auf. Totenstille entstand nach dem Erlöschen des Portals. „Nun gut, dann erklärt mal, was das zu bedeuten hat. Ihr alle.“, kommandierte Öznur die Anwesenden. „Da gibt es nicht viel zu erklären.“, meinte Anne, „Wir haben die Arbeit gemacht und die Bösen beseitigt, während ihr seelenruhig geschlafen habt.“ Susanne schüttelte den Kopf. „Nicht ganz, der Radau hat schließlich auch uns aus dem Schlaf gerissen.“ „Nur, dass ihr dann auch keine sehr große Hilfe wart.“, kommentierte Anne. „Hey, ich hab für euch das Feuer ausgeschaltet!“, verteidigte sich Öznur, auch wenn Laura nicht ganz verstand, wohin diese Diskussion führen sollte. Sie war immer noch zu betroffen, dass sie Chip fast getötet hätte. Ausgerechnet Chip… Öznur seufzte. „Na schön, zweite Frage: Wer waren diese Typen? Lauras Cousin kennen wir ja inzwischen alle, aber die beiden anderen…“ „Den im Umhang kennen wir auch nicht.“, antwortete Carsten, „Und der andere war Max, ein ehemaliger Freund von Benni. Zumindest, bis er Laura erschießen wollte und folglich zu mir an die Besserungsanstalt gekommen war.“ „Bitte was?!“, rief Ariane schockiert aus. „Du solltest unbedingt etwas an der Auswahl deiner Freunde ändern, wenn sie sogar Unschuldige töten wollen, eiskalter Engel.“ Öznur seufzte. „Irgendwie sind heute ziemlich viele in Mordstimmung.“ „Entschuldigt…“ Verkrampf hielt Konrad Rinas Hand. Er wirkte als würde er sich am liebsten sofort auf den Weg machen wollen, um Lukas noch aufzuspüren und zu töten. Auf brutalste Weise, wie Laura vermutete. „Dafür musst du dich nicht entschuldigen.“, kam Janine zu Wort und erntete dafür geschockte Blicke von Ariane und Öznur. Beschämt und schüchtern zuckte sie mit den Schultern. „Ich weiß, es mag grausam klingen, aber es ist immerhin unsere Aufgabe, Sünder hinzurichten. Lukas ist auf jeden Fall einer, das können hier inzwischen alle von uns bestätigen.“ „Ja, Ninie, das klingt grausam, besonders aus deinem Mund.“, mischte sich Ariane ein. „Hast du jemals jemanden getötet?!“ Schweigend wich Janine ihrem Blick aus. Anne dagegen stöhnte genervt auf. „Ach Gott, musst du schon wieder damit anfangen? So schlimm ist das jetzt wirklich nicht.“ „Das sagt sich so leicht! Ich habe nun tausende und abertausende Unterweltler auf dem Gewissen!!! Und warum?!? Weil du gemeint hast, meine Licht-Energie würde sie vertreiben!!!“ Außer sich vor Wut zeigte Ariane auf Benni. Laura zuckte bei ihrem aggressiven Ton zusammen. So hatte sie Ariane noch nie gehört. Doch Benni erwiderte nichts. Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Du…“ „Nane, bitte beruhige dich. Wir sind alle erschöpft und wegen dieses nächtlichen Besuches missgestimmt. Am besten, wir schlafen uns erst einmal in Ruhe aus und diskutieren morgen weiter, falls du dich damit besser fühlst.“, versuchte Susanne sie zu beruhigen. Trotzig verschränkte Ariane die Arme vor der Brust. „Garantiert nicht. Wegen dem werde ich jetzt schlecht schlafen.“ Konrad seufzte. „Wir sollten jetzt wirklich gehen. Ich freue mich schon darauf, dem Senat das alles erklären zu müssen.“ Bemüht unbemerkt schielte Laura hinauf zur Decke. Das Loch zu Bennis geheimen Lüftungsschacht war wieder verschlossen, daher sagte sie besser nichts davon, um Benni nicht noch mehr zu verärgern. Falls das überhaupt noch ging… Laura stand auf, um dem Rest der Gruppe zurück zur Villa zu folgen. Wie bereits befürchtet erwiderte Benni sie dabei keines Blickes. Bedrückt schaute Laura auf den dunklen Boden vor ihren Füßen und spürte ein Brennen in den Augen. Wie hatte es nur so weit kommen können… Wieder im Gästezimmer angelangt warf sich Ariane buchstäblich in ihr Bett. Laura brauchte allerdings einige Zeit, um zu bemerken, dass sie nicht wieder schlief, wie es eigentlich sonst immer bei ihr der Fall war. „Nane? Alles okay?“, erkundigte sich Laura besorgt. Arianes Antwort ließ ungemütlich lange auf sich warten. „Hast du schon mal jemanden umgebracht?“, fragte sie schließlich mit schwacher Stimme. Überrascht schüttelte Laura den Kopf. „Nein, wieso? Was ist eigentlich passiert, dass du vorhin so ausgerastet bist?“ „Diese Unterweltler… sie scheuen meine Energie, das stimmt schon. Aber auch nur deshalb, weil es sie tötet… So viele von ihnen sind heute Nacht durch meine Hand gestorben… Das…“ Dem Klang ihrer Stimme nach zu urteilen, schien es sie wirklich extrem zu belasten. Lauras Herz wurde schwer. Ausgerechnet Ariane, die eigentlich immer so ein optimistischer Sonnenschein war… Besorgt suchte sie nach einer Möglichkeit, wie sie Ariane helfen könnte. Doch sie fand keine. Wie konnte man jemandem bei solchen Gewissensbissen beruhigen können? Wie konnte man jemanden trösten, der etwas getan hatte, was so sehr gegen die Moralvorstellungen sprach?! Dabei war es ja noch nicht einmal beabsichtigt gewesen! Ariane hatte das nicht gewollt!  Laura schluckte schwer, erinnerte sich gezwungenermaßen an ihren eigenen Zwischenfall mit Chip. Und sie hatte sogar noch Glück gehabt, dass Benni seinen kleinen Freund hatte retten können… „Wenn…“, setzte sie an, ohne wirklich zu wissen, was sie sagen sollte. Was in so einer Situation überhaupt helfen könnte… „Wenn du irgendwie was brauchst… ich bin für dich da.“ „… Danke…“ Es war kalt. Eisig kalt. Laura fragte sich, warum sie keine Jacke angezogen hatte, obwohl sie doch am ganzen Körper schlotterte. Der Wind, der ihr entgegenkam war auch nicht gerade wärmer. Und die Bäume boten noch nicht mal einen Windschatten. Planlos ging sie durch den weglosen Wald, bis sie an eine kleine Lichtung kam. „Benni!!!“, rief sie begeistert und rannte auf ihn zu. Er hielt eine Jacke in den Armen. Als sie ihm näher kam, drehte er sich zu ihr um. Wie vom Donner gerührt, blieb Laura stehen. In der Jacke befand sich ein kleines Eichhörnchen, die Augen geschlossen, als würde es schlafen. „Du hast ihn getötet.“ Es war Bennis Stimme, doch sie kam nicht aus seinem Mund. Anklagend kam sie aus jedem Baum, aus jedem Blatt, aus jedem Grashalm. Ein Echo der Schuld, was über die ganze Lichtung, durch den gesamten Wald hallte. „Benni, ich- es tut mir...” Laura hielt sich die Ohren zu. Sie konnte das nicht hören. Sie konnte das nicht ertragen! „Es tut mir Leid! Es tut mir so Leid!!!” Doch es brachte nichts. Es hatte keinen Sinn. So sehr sie auch schrie, sie konnte diese Anklage nicht übertönen. Ihre Reue war bedeutungslos im Angesicht dessen, was geschehen war. „Benni, bitte!!! Ich wollte das nicht!!!“ Ihre Stimme wurde heiser, ihre Kehle schmerzte von ihren verzweifelten Schreien. Tränen brannten sich über ihre Wangen. Irgendetwas oder jemand drückte ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht mehr atmen. Sie bekam keine Luft! „Benni!!!“ Schwer atmend schreckte Laura aus dem Schlaf. Sie verschluckte sich und wurde von einem schmerzhaften Husten übermannt. „Okay, okay, ich schmeiß dich nicht aus dem Bett. Kein Grund direkt zu sterben.“, wehrte Anne ab. Laura räusperte sich, versuchte den Husten irgendwie einzudämmen. Immer noch keuchend sah sie sich um. Es war noch dunkel… Wie spät es wohl war? Doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie sich in Spirit befand, der Region ohne Licht. Erschrocken zuckte Laura zusammen, als sie Ariane aufschreien hörte. Nun doch ziemlich gereizt stapfte Anne zur Tür. „Beruhigt euch, ich wollte euch nur wecken. Ihr müsst ja nicht gleich deswegen rumschreien.“ Sich erneut räuspernd rieb sich Laura ihren Hals. Er fühlte sich wie ausgetrocknet an und bei dem schmerzhaften Kratzen war alleine das Atmen bereits eine Zumutung. Verwirrt rieb sich Ariane den Schlaf aus den Augen. „… Was ist denn los?“ „Alles in Ordnung?“, fragte Laura besorgt nach und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Ariane seufzte. „In Ordnung ist wohl relativ… Ich habe wohl wegen dem gestern schlecht geträumt.“ Laura schlang die Arme um die angezogenen Beine. „Da bist du nicht die Einzige.“ „Ach deswegen ist Anne so ausgerastet.“, stellte Ariane fest, sagte allerdings nichts Weiteres dazu. Ein unangenehmes Schweigen entstand. Laura überlegte, ob sie Ariane fragen sollte, ob sie mit ihr darüber reden wolle. Doch irgendwie wirkte sie nicht so als wäre ihr nach reden zumute. … Vielleicht war es ja noch zu frisch? Vielleicht brauchte Ariane erst einmal Zeit für sich selbst, bevor sie für so etwas bereit war? Bedrückt atmete Laura aus und zog die Beine an. „Du weißt… falls du reden willst…“ Sie biss sich auf die Unterlippe. Was anderes fiel ihr nicht ein?! Nur diese Standardfloskel?! Noch nicht einmal in solchen Situationen schaffte sie es, für jemanden da zu sein und zu helfen?! … Sie war wirklich zu nichts zu gebrauchen… Wie erwartet antwortete Ariane nichts darauf. Das Schweigen wurde erst unterbrochen, als jemand gegen die Tür klopfte. „Das Frühstück ist bereits aufgetischt, junge Damen. Ihr könnt euch in den Speisesaal begeben.“, berichtete ihnen der Butler Edward. Doch nicht einmal diese Worte führten zu der von Ariane gewohnten begeisterten Reaktion, die sie normalerweise zeigte, wenn es ums Essen ging. Die Stimmung am Esstisch war zwar immer noch bedrückend, aber längst nicht so angespannt wie letzte Nacht. Laura fiel allerdings auf, mit wie viel Perfektion Ariane an das Beschmieren ihres Nutellabrotes ging. Sie nahm zwar keine Butter, aber dafür war die Nutellaschicht eben und komplett lückenfrei. Susanne seufzte. „Wenn du dich nur genauso für die Schule bemühen würdest…“ „Gutes Essen ist wichtiger.“, erwiderte Ariane daraufhin und bis von ihrem Brot ab. Dennoch war der matte Tonfall ihrer Stimme nicht zu überhören. Laura bemerkte, wie auch Carsten sie besorgt musterte. Er schien etwas sagen zu wollen, schwieg allerdings. „Warum habt ihr eigentlich normale Lebensmittel? Ich meine… ernähren sich Vampire nicht von… Blut?“, fragte stattdessen Öznur zögernd und betrachtete die Tafel, vollkommen bedeckt mit typischem Menschen-Frühstück. Rina lachte. „Keine Angst, wir essen euch schon nicht auf. Um in Frieden mit Menschen leben zu können wurde eine blutähnliche Substanz entwickelt. Die schmeckt aber nach nichts, deshalb ist das Zeug, das ihr Menschen esst, eine nette Abwechslung.“ Öznur atmete auf. „Das erklärt also, warum bisher noch niemand von uns an Blutarmut zusammengebrochen ist.“ „Kaum zu glauben, dass Chemie zu was Nutze sein kann, nicht wahr?“, stichelte Anne ihre Freundin mit einem sarkastischen Tonfall. „Immerhin braucht man diesen Scheiß später doch überhaupt nicht mehr.“ „Hey!“, rief Öznur empört aus, „Nur weil ich damit nichts anfangen kann, heißt das nicht, dass ich Chemie für komplett nutzlos halte!“ „Deine Kommentare in der Schule klingen aber ganz anders.“, widersprach Anne ihr mit leichter Belustigung, woraufhin Öznur grummelte: „Ich habe halt auch anderes mit meinem Leben vor, als die Nase nur in Bücher zu stecken oder im Fitnessraum mein zweites Zuhause einzurichten.“ Nach einer Weile, in welcher sich der Großteil wieder seines Essens gewidmet hatte, meinte Konrad schließlich: „Nun gut, ich sehe euch an, dass ihr noch Fragen habt. Wir sollten das alles am besten hier und jetzt klären und nicht zwischen Tür und Angel, wenn ihr euch auf die Weiterreise begebt.“ „Gute Idee! Also was ich wissen wollte, was genau passiert eigentlich nach diesem Ritual für die Dämonenform?“, begann Öznur. Konrad überlegte. „Das ist schwer zu beschreiben… Ihr fühlt euch… anders. Stärker, um genau zu sein.“ „Weißt du, welche Fähigkeiten wir dann bekommen werden?“, erkundigte sich Janine neugierig. Konrad zuckte mit den Schultern. „Das ist von Dämon zu Dämon unterschiedlich. Eagle und ich können zum Beispiel fliegen. Keine Ahnung, was da bei euch rausspringt. Das hängt sehr stark von eurem Dämon und eurer Persönlichkeit ab. Eine Sache haben wir aber alle gemeinsam: Wir können nahezu uneingeschränkt auf die Energiereserven unseres Dämons zurückgreifen.“ „Das heißt also, dass sowas wie gestern, als Ariane schwächelte, nicht mehr passieren wird.“, stellte Anne fest. Aus den Augenwinkeln bemerkte Laura, wie Ariane ihr Frühstücksbrot auf den Teller legte als sei ihr der Appetit vergangen. Konrad nickte. „Ihr habt nicht endlos viel Energie zur Verfügung, aber schon eine beachtliche Menge. Kritischer dabei ist eher, dass euer Körper eine zu große Menge an Energie nicht wird aushalten können. Tatsächlich gab es sogar mal einen Dämonenbesitzer, der sich selbst umgebracht hat, weil sein Körper der freigesetzten Menge an Energie nicht mehr hat standhalten können.“ Laura schauderte. Sie hatte doch jetzt schon gelegentlich Probleme, ihre Energie unter Kontrolle zu halten. Und sowas könnte sie sogar das Leben kosten?! Warnend hob Rina den Zeigefinger. „Außerdem ihr müsst auch viel stärker auf euch und eure Emotionen aufpassen. Ihr seht, was vor einigen Stunden beinahe geschehen wäre. Mehr Macht, größere Bürde. Das ist so ziemlich das größte Opfer, das ihr bringen müsst.“ Laura schluckte schwer. „Das ist auch schon hart genug…“ „Und das Ritual an sich? Wie läuft das ab?“, fragte Anne weiter. „Dabei handelt es sich um eine Prüfung, die ihr bestehen müsst. Doch die ist auch von Dämon zu Dämon unterschiedlich.“ „Na super, eine Prüfung. Das war ja klar.“, kommentierte Öznur wenig begeistert. „Ach, aber vielleicht wäre es sinnvoll für euch zu wissen, dass ihr für diese Prüfung in den für euren Dämon errichteten Schrein müsst. Nur dort kann sie abgelegt werden und sie kann ziemlich zeitfressend werden, also nichts für zwischendurch.“ „Was war denn deine Prüfung?“, wollte Janine zögernd wissen. „Das mein ich mit zeitfressend.“, erzählte Konrad lachend, „Ich musste eine Zeit lang ohne Blut auskommen und stattdessen anderen mit meiner Blut-Energie helfen. Das war so nervenaufreibend! Wobei die Zeit im Schrein und die der realen Welt auch unterschiedlich schnell verlaufen können. Bei mir war es etwa ein Monat, doch in der ‚Wirklichkeit‘ sind nur drei Stunden vergangen.“ „Aber dafür ist er jetzt ziemlich abgehärtet, wenn er mal durstig wird.“, meinte Rina belustigt. Seufzend nickte Konrad. „Das ist das tragische an der Sache. Ihr werdet vermutlich irgendetwas machen müssen, das gegen euren eigentlichen Charakter spricht und um es zu perfektionieren ist es dann auch noch zu eurem Besten.“ Ariane schnaubte. „Nach dem, was gestern passiert ist, müsste ich meine Dämonenform eigentlich schon haben.“ Öznur lachte auf. „Du musst garantiert eine Zeit lang ohne gutes Essen auskommen.“ „Das find ich nicht lustig.“, erwiderte Ariane, klang allerdings nach wie vor viel zu bedrückt, als dass man es wirklich als spaßige Diskussion übers Essen hätte betrachten können. Besorgt biss sich Laura auf die Unterlippe und tauschte mehr instinktiv als bewusst einen Blick mit Carsten aus, der ihren Zustand scheinbar genauso besorgniserregend fand wie sie selbst. „Ach ja genau, das habe ich immer noch nicht verstanden.“, lenkte Öznur ein, „Wir sind also keine richtigen Menschen mehr, wenn wir die Dämonenform haben, sondern Halbdämonen?“ Konrad nickte. „Du hast es doch verstanden.“ Janine schauderte. „Das ist irgendwie unheimlich.“ Doch Lissi klopfte ihr hinter Susannes Rücken auf die Schulter. „Ach Unsinn, Ninie, du siehst das alles viel zu beschränkt. Wir werden dann nämlich zu verführerischen Halbdämoninnen, kannst du dir das vorstellen? Hach, traumhaft.“ „Wie kommt es eigentlich, dass du immer total ruhig bist und dann so einen Kommentar von dir gibst?“, erkundigte sich Laura misstrauisch. „Halbdämoninnen… Gibt’s das Wort überhaupt?“, beschäftigte sich Öznur auf eine etwas andere Art mit Lissis Kommentar. Anne zuckte mit den Schultern. „Und selbst wenn’s ein Neologismus ist. Wär doch voll die Diskriminierung, wenn es Halbdämon nur im männlichen Geschlecht gäbe.“ Öznur seufzte. „Klar, dass das von dir kommen muss.“ „Wenn wir noch weitere Fragen haben, sollten wir sie am besten jetzt noch stellen. Wir müssten dann nämlich noch weiter.“, erinnerte Susanne wieder an das eigentliche Thema. „Ja, ich will noch was wissen.“, meldete sich Öznur erneut. „Der kleine Junge, Johannes, ist der nicht auch schon ein Halbdämon?“ Konrad nickte. „Wie will er denn jetzt schon die Prüfung bestanden haben?“ „Dämonen können selbst bestimmen, ob sie ihrem Besitzer die Macht geben. Eine Prüfung ist zwar dazu da, um herauszufinden, ob dieser Besitzer auch seiner würdig ist, aber sie ist nicht unbedingt erforderlich. Ich denke, Johannes hatte das Glück, dass er die Dämonenform einfach so vom Dämon erhalten hat. Aber das müsst ihr schon ihn selbst fragen.“, meinte Konrad. „Ich habe auch noch eine Frage… Aber nicht direkt zur Dämonenform…“, kam Janine zaghaft zu Wort. „Weißt du etwas über die Verfolgung der Dämonenverbundenen?“ Konrad runzelte die Stirn. „Stimmt ja, du kommst aus Mur, da ist es sinnvoll, darüber Bescheid zu wissen. Diese Jagd nach Dämonenbesitzern müsstet ihr eigentlich in der Schule irgendwann einmal als Thema haben… Aber den Unterrichtsthemen in Geschichte kann man nicht wirklich trauen. Das sieht man ja schon an unserem anonymen Gegenspieler. Es gibt auch noch mehr Sachen, die ihr zu hören bekommen werdet, die aber totaler Humbug sind. Da traut man lieber den Zeitzeugen.“ „Zum Beispiel dir?“, scherzte Öznur. Konrad zuckte grinsend mit den Schultern. „Ich bin 223. Aber zu der Zeit des magischen Krieges lebte ich noch in der Unterwelt, da ist Eufelia sinnvoller.“ „Wie alt ist die denn?“, erkundigte sich Anne misstrauisch. Rina hob mahnend den Zeigefinger. „Eine Dame fragt man nicht nach ihrem Alter.“, scherzte sie. „Aber die Verfolgung müsstest du doch miterlebt haben.“, stellte Carsten fest. „Immerhin war sie etwa zu der Zeit zu Ende, als Benni schon auf der Welt war und ihr ihn betreut habt.“ Konrad nickte seufzend. Der bedrückte Ausdruck, der sich auf seinem Gesicht zeigte, machte mehr als deutlich, dass diese Dämonenverfolgung mindestens genauso schlimm gewesen ist, wie sich die Mädchen diese Zeit vorstellten. Vermutlich sogar schlimmer, als sie sich jemals vorzustellen wagten… „Ja, Florian und ich waren mit einigen anderen leider ganz schön darin verwickelt. Ich hatte das Glück, das sich auch Menschen mit antiker Begabung nur ungern einem Vampir nähern. Aber unter den Menschen gab es nur einen Überlebenden, der rechtzeitig vom Dämon verlassen wurde und ins Exil geflohen ist.“ Öznur runzelte die Stirn. „Das hat der Direktor auch schon erwähnt gehabt. Angeblich war dieses Mädchen noch ganz klein, als das alles passiert ist… Ist das nicht etwas pervers?“ „Hey, auch ich kam kurz nach meiner Geburt in den Besitz meines Dämons. Das ist ganz normal, damit sich der Betroffene schon von klein auf an die Macht gewöhnt, die man mit sich trägt.“, warf Anne ein. „Das stimmt. Benni wurde auch vom Schwarzen Löwen gesegnet, als er erst etwa zehn Minuten alt war.“, gab Carsten ihr Recht. Missbilligend stand Benni auf und verließ den Speisesaal. Verwirrt schaute Laura ihm nach. „Was ist denn los?“ Natürlich bekam sie auf ihre Frage von niemandem eine Antwort, aber sie konnte es sich schon denken. Stattdessen versuchte Öznur erfolgreich wieder zurück zum Thema zu kommen. „Aber was ist denn da passiert? Beziehungsweise, wie haben es ‚normale‘ Menschen geschafft, die Dämonenbesitzer einfach so auszuschalten? Immerhin müssten wir ihnen doch bei weitem überlegen sein.“ Konrad verschränkte die Finger und wies zur Tür, aus der Benni vor kurzem nach draußen gegangen war. „Benni ist ein gutes Beispiel: Auch im Alleingang ist er so ziemlich unschlagbar. Das Geheimnis ist, dass er den wenigsten traut und seine Schwächen nicht Preis gibt.“ „Der eiskalte Engel hat Schwächen?“, fragte Ariane kritisch. „Da siehst du es. Man erwartet es noch nicht einmal von ihm. Aber so verschlossen wie Benni ist sonst eigentlich niemand. Die Menschen haben alle Schwächen der früheren Dämonenbesitzer ausgenutzt, die sie finden konnten. Oft haben sie dazu die Menschen benutzt, die ihnen nahestanden. Aus Angst, man könnte hineingezogen werden, haben sich auf einmal Familienmitglieder und gute Freunde gegen einen gestellt und am Ende kämpfte man alleine gegen die Welt. Noch nicht einmal auf die anderen Dämonenbesitzer haben sie vertraut. Und so kam es, wie es kommen musste…“ „Dich lässt das alles ganz schön kalt.“, stellte Anne kritisch fest. Konrad schüttelte betrübt den Kopf. „Meine Schwächen haben die Menschen auch gnadenlos ausgenutzt. Glaubt mir, ich hätte den anderen nur zu gerne geholfen, aber im Sonnenlicht bin ich… bald gebraten… und nur nachts kann ich auch nicht mal schnell in eine andere Region, ohne in Gefahr zu laufen, beim Sonnenaufgang nicht zurück zu können. Dieses Risiko ist zu hoch. Florian war da etwas aktiver…“ Da Konrad eine längere Zeit schwieg, drängte schließlich Öznur: „Jetzt sag schon!“ Er seufzte. „Dieses Mädchen, das von den Direktoren eurer Schule in Sicherheit gebracht wurde, stand zu dem Zeitpunkt bereits im Visier der Jäger. Florian hat schließlich die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und damit verhindert, dass… schlimmeres geschieht.“ „Er war die Zielscheibe?“, fragte Janine erschrocken. „Aber es kann doch nicht sein, dass sich auf einmal alle Welt auf diesen schwächlich aussehenden Elb konzentriert.“, sinnierte Anne mit einem Hauch Spott, den sie wohl nie lassen konnte. Konrad lachte leicht amüsiert auf. „In der Tat hätte ich das auch nicht erwartet, aber ihm ist das ganz schön gut gelungen. Da hat sich seine Position als damals noch potenzieller Hauptmann ausgezahlt. Eine Kriegserklärung von Ivory konnte vermutlich keiner gebrauchen, besonders wenn sie auch noch von Spirit unterstütz wurden. Das Einzige, wozu ich mal gut sein konnte.“ „Aber sie haben ihn erwischt…“, folgerte Carsten mitfühlend. „Leider.“, bestätigte Konrad seinen Gedankengang betrübt. „Florian versucht zwar nicht verallgemeinernd zu sein, aber seitdem meidet er die Menschen so gut es geht.“ Anne stützte ihren Kopf auf die Fäuste. „Das ist hart.“ Ungläubig sahen die Mädchen sie an. Was hatte Anne gesagt?!? In Verbindung mit einem Jungen?!? „Aber dafür ist dem Mädchen nichts passiert?“, erkundigte sich Janine hoffnungsvoll. Konrad nickte. „Auch sie bekam kurz vor dem Verlassen des Dämons die Dämonenform. Das ist auch noch eine interessante Sache, von der wir zuvor nichts wussten, da der Dämon einen normalerweise bis an das Lebensende begleitet. Aber bei der Dämonenform bleibt der Teil der Energie bestehen, die ihr auch jetzt schon ohne diese Form nutzen könnt. Dadurch müsste sie zu einem Viertel auch noch Dämon sein.“ Erschöpft atmete Öznur aus. „Okay, das sind jetzt echt genug Informationen. Ich kann nicht mehr.“ Konrad lachte auf. „Das kann ich nur zu gut verstehen. Falls ihr sonst noch etwas wissen wollt, wendet euch ruhig an Flo, Eagle, Eufelia oder mich. Wir werden euren Fragen ein offenes Ohr schenken.“ „Das ist sehr freundlich, vielen Dank.“, sagte Susanne, doch Konrad winkte ab. „Je besser wir untereinander auskommen, desto mehr Beistand leisten wir einander. Glaubt mir, Loyalität und Vertrauen sind eigentlich die wichtigsten Attribute eines Dämonenverbundenen. Jedenfalls dann, wenn auf einmal jeder gegen einen zu sein scheint.“ Inzwischen waren so gut wie alle fertig mit dem Essen. Nur ausgerechnet Ariane hatte sogar einen Rest gelassen, wie Laura besorgt feststellte. Erneut überlegte sie, ob sie irgendwie doch mal mit ihr reden sollte. Und erneut entschied sie sich dafür, Ariane ihren Freiraum zu lassen. Kurz darauf waren sie auch schon auf ihren Zimmern gewesen, um das Gepäck einzusammeln, um die nächste Station abzuklappern. Nach einer etwas längeren Verabschiedung von Konrad und Rina verließ die Gruppe auch schon wieder die Villa des humorvollen Vampirs und trat nach außen, in das dunkle Reich der Vampire. Wie immer bildeten sie einen Kreis und ließen sich von Carsten zurück in die Welt des Lichtes teleportieren. Nach Terra, um genau zu sein, die letzte Region mit einem ihnen unbekannten Dämonenbesitzer. Angestrengt kniff Laura die Augen zusammen. Wieso ist es plötzlich so hell?! „Aaaaaaaaaaaaah, Licht! Sonne! Wie sehr ich euch vermisst habe!“, rief Ariane begeistert und breitete die Arme aus als wollte sie ihr heiß geliebtes Licht in sich aufnehmen. Der Ortswechsel schien ihr gut zu tun und das Licht half offensichtlich, ihre trübe Stimmung endlich wieder aufhellen zu lassen. Auf Carsten wiederum hatte dieser Ort den genau gegenteiligen Effekt. Eingeschüchtert schaute er sich um und versuchte erfolglos, ein Schaudern zu unterdrücken. „Du musst nicht mitkommen, wenn es dir unangenehm ist.“, meinte Susanne mitleidig, doch Carsten schüttelte den Kopf. „Ich werde es schon überleben…“ „Pff, na viel Glück.“, murmelte Anne sarkastisch und fies. Immerhin trat Öznur ihr auf den Fuß, was mehr Wirkung als ein Rippenstoß zeigte, da sie Schuhe mit Absätzen trug. „Okay und wen oder was suchen wir jetzt?“ Suchend schaute sich Laura um. „Das Rathaus. Dort werden alle wichtigen Unterlagen untergebracht, also sollten wir auch dort anfangen zu suchen.“, meinte Carsten und klang immer noch extrem angespannt. Anne schnaubte. „Die Regierung von Terra ist der letzte Schrott, ich will da nicht hin.“ „Aber besonders du und Laura müsst mitkommen.“, warf Susanne ein. „Ihr denkt doch nicht wirklich, dass diese Leute einer Gruppe dahergelaufener Jugendlicher trauen würden? Da ist uns euer Status sehr von Nutzen.“ „Ist Terra nicht eine der Regionen, die besonders begeistert von der Verfolgung der Dämonenverbundenen war?“, erkundigte sich Janine schaudernd und erinnerte an das Gespräch mit Konrad. „Was wollen die denn gegen so einen Haufen Dämonenverbundene ausrichten? Gerade mal fünf von uns haben gereicht, um die ganzen Unterweltler auszuschalten. Sollte es zu einem Kampf kommen, brauchen wir nichts zu befürchten.“, meinte Öznur, auf deren Worte ein Zusammenzucken von Ariane folgte. „Özi!“, rief Laura verärgert aus. Das hätte doch jetzt echt nicht sein müssen! Anne schlug Ariane auf die Schulter und stieß sie etwas in Richtung Stadtmitte. „Keine Sorge, früher oder später wirst du wieder kämpfen müssen. Ob du es willst, oder nicht. Das ist bei unserem Auftrag schon vorprogrammiert.“ Seufzend senkte Ariane den Kopf, während Laura Anne wütend anfunkelte. Sie hasste es, ihre Zimmergenossin so sehen zu müssen. Es tat ihr im Herzen weh, dass ausgerechnet Ariane nun unter den Folgen dieses Angriffs am meisten leiden musste. Laura verkörperte die Finsternis! Es war ihre Aufgabe, Trübsal zu blasen. Nicht Arianes! Laura war zwar alles andere als gut im Aufheitern, hakte sich aber dennoch zögerlich bei Ariane unter und schaffte es damit zumindest, ihr ein schwaches Lächeln zu entlocken. Gemeinsam schlenderten sie in einem angenehmen Gangtempo zu dem sogenannten ‚Zentralplatz‘, wo das Rathaus lag. Inzwischen war es Mittagszeit und obwohl alle Läden geschlossen und die Schaufenster vergittert waren, hielt nach wenigen Metern eins der Mädchen an, um die ausgestellten Kleidungs- oder Schmuckstücke zu betrachten. „Wenn wir das Zeug im Rathaus hinter uns haben, müssen wir unbedingt nochmal hierher kommen. Ich brauche auf jeden Fall diese rote Lederjacke!“, meinte Öznur, die Nase gegen ein Schaufenster gedrückt. „Und ich diese heißen Stilettos! Oh, hoffentlich haben die meine Größe!“, kam Lissis Stimme, etwas weiter entfernt. Seufzend wandte sich Janine von dem Schaufenster eines Schmuckladens ab. „Was ist denn, Ninie?“, fragte Ariane, doch Janine winkte ab. „Nichts, nichts.“ „Sicher?“, hakte Öznur besorgt nach.  „Es ist wirklich nichts, lasst uns einfach weitergehen.“, bat Janine. Laura und Ariane tauschten einen kurzen Blick aus. Sie waren sich ziemlich sicher, dass Janines bedrückte Stimmung mit dem Umstand zu tun hatte, dass sie sich das, was auch immer sie da im Schaufenster gesehen hatte, nie und nimmer würde leisten können. Nach weiteren fünfzig Läden und etwa der doppelten Anzahl von Schaufenstern kamen sie auf einen großen Platz, dessen Rand von Hotels, Cafés und Restaurants hochrangiger Sterne gesäumt wurde. In der Mitte hob sich eine Säule in den von schwarzen Wolken gezierten Himmel, auf deren Spitze eine Statue eines gesichtslosen Soldaten stand. Die Gruppe steuerte auf die nicht von Läden besetzte Seite zu. Dort stand ein riesiger Wolkenkratzer mit mindestens sechzig Stockwerken. Ungläubig starrte Ariane an dem Steinklotz hoch, die Enttäuschung in ihrer Stimme ließ sich nicht verbergen. „Das ist das Rathaus?“ Carsten nickte. „Nicht das, das man sich unter einem Rathaus vorstellen würde, oder?“ „Ich habe es mir tatsächlich etwas altertümlicher erhofft.“, gestand Ariane. „Terra wird immer dämlicher.“ Öznur lachte auf. „Wie du willst, wir müssen da jetzt trotzdem rein.“ Und so betraten sie das futurisierte Rathaus. Es war wirklich von Vorteil, dass Laura und Anne einiges in der gehobenen Gesellschaft zu sagen hatten, selbst wenn sie noch minderjährig waren. So musste die schnippische, ältere Dame am Empfangsschalter dem Wunsch der Gruppe nachgehen, nachdem sich Anne ausgewiesen und eine sehr beeindruckend souveräne Diskussion geführt hatte, ohne dabei ihr eigentliches Ziel zu verraten. Sie wurden in den Abteil 3075 verwiesen, den Bereich für die Akten Terras. Mit einem Science Fiction ähnlichen Aufzug fuhren sie in die dreißigste Etage. Alle, außer Benni, der eine gewisse Abneigung für Elektronik zeigte und die Treppe bevorzugte. Dennoch war er vor den anderen oben angekommen und wirkte kein bisschen so, als wäre er gerade dreißig Stockwerke in übermenschlichem Tempo hochgelaufen. Das Büro Nummer 75, welches sie betraten, gab dem Zukunftstraum einen piepsenden und glänzenden Schlussstrich. Es konnte sich vor Elektronik kaum retten und die kleinen Stellen, die von Technik verschont blieben, hatten die weiße Farbe eines Krankenhauses. An dem einzigen realistischen Gegenstand in diesem Raum, dem Tisch, saß ein Mann Mitte fünfzig auf einem Hightech-Stuhl, der die Gruppe misstrauischen Blickes über seine Nerdbrillengläser hinweg ansah. „Sie wurden bereits gemeldet. Also, wie kann ich den verehrten, jungen Herrschaften behilflich sein?“, fragte er mit einer schaurig krächzenden Stimme. Carsten ergriff als erster das Wort. „Wir suchen den Dämonenbesitzer aus Terra.“ Als der ältere Mann lächelte, entblößte er eine ungepflegte Zahnreihe. „Welch Wunder, Carsten Crow Bialek. Ich dachte, Ihr hättet, seit Eurer sensationellen Aufnahme an der Coeur-Academy Terra auf ewig den Rücken gekehrt.“ Zwar erwiderte Carsten nichts auf die spöttische Aussage des Mannes, doch Laura spürte, wie sich seine Muskeln anspannten, als würde er an etwas sehr Unangenehmes erinnert werden. Etwas wie das FESJ. „Wer ist der Dämonenbesitzer eurer Region?“, wiederholte sich Carsten. Ein Hauch angespannter Aggression schwang in seiner Stimme mit, was gar nicht zu dem lebensfrohen Jungen passte, den sie kannte. Laura überkam ein Frösteln. Carsten schien Terra tatsächlich zu verabscheuen. „Ich bedaure sehr, doch diese Informationen sind streng vertraulich. Ich kann keinen dahergelaufenen Kindern verraten, wer Terras Dämon besitzt. Noch nicht einmal Ihnen, Prinzessinnen Lenz und Ludwig und Prinz Bialek.“ Es war offensichtlich, wie Carsten bei der Anrede des Mannes begann, sich noch unwohler in seiner Haut zu fühlen als zuvor schon. Wie auch immer das überhaupt noch möglich war. Auch wenn in seinen Adern Herrschaftsblut floss, galt er nie wirklich als ein Prinz. Erstaunlicher Weise löste Anne ihn ab. Sie war es immerhin gewohnt, als Prinzessin behandelt zu werden und erwartete daher auch, dass man ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Diese ‚Befehlsverweigerung‘ schien sie wohl provoziert zu haben. „Dann verraten Sie es uns jedenfalls als Dämonenbesitzer, die auf der Suche ihres ‚Partners‘ sind.“, zischte sie. Laura merkte, wie Benni ihr einen warnenden Blick zuwarf. Doch dafür war es schon zu spät. Die Schlitzaugen des Mannes weiteten sich mit begierigem Leuchten. „Beweist es mir.“ Immerhin wirkte er nicht mehr so reserviert wie zuvor, dafür nun eher unheimlich.  „Wie denn?“, erkundigte sich Susanne zögernd. Ein gehässiges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, das für die Nichtsahnenden beinahe freundlich erscheinen könnte. „Wenn Sie wahre Dämonenbesitzer sind, dann lassen Sie sich etwas einfallen.“ Planlos tauschten die Dämonenbesitzerinnen Blicke aus. Öznur war schließlich die Erste, die vortrat. Sie sagte nichts und sie bewegte sich nicht und trotzdem leuchteten ihre blauen Augen rot auf. Zur selben Zeit loderten vor Macht pulsierende Flammen um ihren Körper, die sich ebenso schnell auflösten, wie sie entstanden. Öznur kicherte. „Das wollte ich schon immer mal ausprobieren.“ Der Mann nickte, halbwegs überzeugt. Wie bei dem Fotografen meinte er. „Gut, gut. Die Nächste, bitte.“ Lissi stolzierte vor und machte eine unnötige Pose. Ein klar-blauer Wasserstrahl schoss aus der weißen Fliese unter ihr, wand sich spiralförmig um sie herum und verschwand ebenso schnell, wie Öznurs Flammen. Provokant zwinkerte Lissi dem alten Mann zu, der ihren Blick mit den Augenbrauen wackelnd erwiderte. Erhobenen Hauptes warf sie die Haare zurück und stellte sich neben Öznur, während einige der Mädchen einen Brechreiz unterdrücken mussten. Mit einem entnervten Blick in Lissis Richtung trat Anne vor den Mann. Sand rieselte von der Decke auf die Köpfe der Anwesenden. Lissi quiekte auf und schüttelte sich den Sand aus den schwarzen Haaren, doch dieser war bereits verschwunden. Stolz stellte sich Anne an Öznurs andere Seite und Ariane nahm ihren Platz ein. Laura merkte, wie unwohl sie sich fühlte, nun ihre Licht-Energie einsetzen zu müssen. Jene Energie, die tausenden Unterweltlern das Leben gekostet hatte… Doch Ariane überspielte es gekonnt. Sie setzte ein Grinsen auf. „Seht und staunt, aber höchstwahrscheinlich werdet ihr gar nicht dazu kommen, etwas zu sehen.“ Mit diesen Worten tauchte sie den Raum in ein blendendes Licht. Schützend hoben die anderen die Hände vor die Augen, bis Ariane brüllte: „Verdammt noch mal, jetzt habt ihr alles verpasst!“ Blinzelnd vergewisserte sich Laura, dass Arianes Licht tatsächlich weg war. Empört schnaubte diese. „Jetzt habt ihr verpasst, wie ich die Decke hochgeklettert bin, einen Salto gemacht hab, mit einer Schraube aus dem Fenster gesprungen bin, dabei ein Baby vom Baum gerettet hab und drauf und dran war, einer Katze ihren Erdbeer-Kirsch-Lolly zu mopsen. Immerhin hatte der Zuckerstreusel!“ „Wie hast du es geschafft, aus dem dreißigsten Stock zu springen und noch am Leben zu sein? Wie kommt ein Baby auf einen Baum? Und was hat ein Baum in Terra zu suchen?“, fragte Laura. „Und wie konntest du das alles in so kurzer Zeit machen?“ „Tja, weil-“, wollte Ariane antworten, doch der alte Mann unterbrach sie. „Okay, ich glaube, Sie haben genug bewiesen. Die Nächste bitte.“ Gemeinsam traten Susanne und Janine vor. „Das Problem ist, unsere Energien kann man nicht sehen.“, ergriff Susanne das Wort. „Ich kann Sie natürlich ver- und entgiften.“, schlug Janine vor. „Und ich ent/-heile Sie.“, ergänzte Susanne. Abwehrend hob der Mann die Hände. „Schon gut, schon gut, Sie sehen wie ehrliche, junge Damen aus, ich vertraue Ihnen beiden einfach mal.“ Die beiden ehrlichen, jungen Damen gesellten sich zu Susannes Schwester. Der Mann warf einen kritischen Blick auf Laura. „Und Sie, Prinzessin?“ Nervös trat Laura von einem Fuß auf den anderen. „Das Problem ist, ich äh… ich… kann meine Kraft nicht… kontrollieren…“ Carsten gab ihr einen sanften Schubs, der Laura nach vorne stolpern ließ. „Keine Sorge, falls etwas passiert wird Benni schon eingreifen.“, ermutigte er sie. Garantiert nicht… Laura warf einen flüchtigen Blick auf Benni, der ihr allerdings nicht dazu verhalf, irgendetwas an seiner Mimik erkennen zu können. Aber Benni war immer noch sauer auf sie, ganz sicher. Immerhin hatte sie Chip fast… Laura atmete tief durch, um sich erfolglos von ihren Sorgen zu befreien und versuchte sich auf die Macht, die in ihrem Inneren schlummerte, zu konzentrieren. Doch ohne Erfolg. Sie startete noch einen Versuch. Wieder nichts. Und wieder. Und noch einmal. Und dann, plötzlich, spürte Laura ein Kitzeln in der Nase. Mit einem brüllenden Niesen explodierte die Macht ihrer Energie. Finstere Nebelschlieren breiten sich auf Augenhöhe der Anwesenden aus und nahmen ihnen jegliche Sicht. Schwindel überkam Laura und ein ohrenbetäubendes Brüllen dröhnte in ihrem Kopf. Doch als sie sich verzweifelt die Hände gegen die Ohren presste, wurde das Brüllen nur noch unerträglicher. Panisch suchte sie Blickkontakt mit Benni, doch sie sah nichts als Finsternis. Laura wollte einen Schritt vorgehen und versuchte, ihn zu rufen, aber sie konnte nicht. Eine schwere Pranke ließ ihren Schrei ersticken und drückte sie wie in Zeitlupe zu Boden. Das Erste, was Laura wahrnahm, war weißer Nebel. Weißer Nebel? War er nicht schwarz gewesen? Das Zweite war die Tatsache, dass sie auf etwas Hartem lag, ihr Kopf war erhöht. Sie spürte eine angenehm kühle Hand auf ihrer glühenden Stirn. „Was war das gerade?“, hörte Laura Öznur aufgebracht fragen. „Sie hat die Kontrolle über ihre Energie verloren.“, antwortete Carsten. Ach ja, so war das. Laura erinnerte sich wieder. Sie versuchte, sich aufzurichten oder wenigstens die Augen zu öffnen, aber es war ihr, als wäre ihr gesamter Kräftevorrat aufgebraucht. Sie war nicht in der Lage, einen Ton über ihre Lippen zu bringen, geschweige denn, einen Finger rühren zu können. Also lag sie weiterhin einfach so da und lauschte Carstens Stimme. „Alles in Ordnung, Benni? Du wirkst so besorgt.“ Besorgt?!? Sind meine Ohren nun auch kaputt?!?! Laura konnte ihnen nicht trauen. „Von wegen besorgt. Oder siehst du das an seinen Augen?“, gab Anne ihren sarkastischen Kommentar ab. „Das hilft mir nicht gerade, eine Antwort von ihm zu bekommen. Also, was war los?“ Eine kurze Pause trat ein. „Benni?“, hakte Carsten nach. „Was ist?“, war schließlich Bennis Gegenfrage. Von allen Stimmen schien seine am nächsten. Carsten seufzte. „Jetzt hör mir doch zumindest mal zu.“ Schritte näherten sich Laura, ein Finger fuhr über ihre linke Schläfe. „Warum ist es da so wund?“, fragte Carsten nach. Für eine Weile wärmte sein Finger ihre unnatürlich kalte Wange. Auch seine Stimme schien nun näher. „Das sieht ja aus, wie als wären ihre Adern geplatzt!“ „Lass mal sehen.“ Ariane schien Carsten zur Seite zu schieben und sog kurz darauf, ganz dicht an Lauras Ohr, scharf die Luft ein. „Ach herrje, das sieht ja echt schlimm aus. Benni!!! Was hast du gemacht?!?“ „Nichts.“ Ariane richtete sich wieder auf und sprach über Lauras Kopf hinweg: „Wie ist das dann passiert?!?“ Laura spürte, wie sich die Hand auf ihrer Stirn anspannte, aber Benni antwortete nicht. Doch in Laura stieg langsam Panik auf. Wovon sprechen die da?!?! „Vielleicht ist es die Dykte-Krankheit? Da werden auch einige Körperstellen wund.“, platzte der Mann dazwischen. Die Panik in Laura wuchs aufs unermessliche. Was?!? Das kann doch nicht wahr sein! Was für Krankheiten hab ich denn sonst noch?!? Carsten seufzte. „Von wegen, das ist was ganz anderes.“ Puuuh. „Und was hat Laura nun?“, ertönte Öznurs Stimme. Das würde ich auch gerne wissen!!! „Ich bin mir nicht ganz sicher… Aber ich vermute, dass der Dämon daran nicht ganz unbeteiligt ist.“, meinte Carsten. Laura hatte das Gefühl, dass er Benni einen fragenden Blick zuwarf, denn schließlich antwortete dieser widerwillig: „Als der Dämon ‚gebannt‘ wurde, war das gleichfalls.“ „Das habe ich erwartet, denn als der Schwarze Löwe mich zeichnete, war dieses Muster auch in ihren Augen erkennbar, obwohl ich es nur für eine Einbildung hielt.“ „Es kann doch möglich sein, dass so etwas in der Art nur auftritt, wenn wir viel Energie verbrauchen.“, vermutete Susanne. Anne schnaubte. „Na toll und was machen wir jetzt mit der? Ich will endlich diese verd- diese Infos, um dann gehen zu können.“ Mecker nicht, ich bin doch wach!!! So mehr oder weniger… „Wenn Sie mir dann bitte folgen würden, der junge Mann kann doch einfach mit der Prinzessin aufschließen, sobald diese wieder erwacht ist.“, schlug der komische Büro-Typ vor. Ich bin wach!, würde Laura am liebsten rufen, aber ihr fehlte immer noch die Kraft irgendetwas machen zu können. Stattdessen hörte sie zustimmendes Gemurmel, viele Schritte und schließlich eine Tür, die in die Angeln viel. Das Zufallen der Tür ließ den Raum schlagartig totenstill werden. Das einzige, was zu hören war, war das leise Brummen und Summen der übertriebenen Elektronik im Büro. Jetzt fühlte sich Laura erst recht wie im Krankenhaus. Die Hand auf ihrer Stirn wurde für den Bruchteil eines Atemzuges so kalt wie der Tod, um kurz darauf die Hitze einer glühenden Sonne zu bekommen. Der spontane Temperaturwechsel ließ Laura schaudern, doch sie spürte, wie die Kraft in warmen Strömen ihren Körper stärkte und ihm wieder Macht verlieh. Blinzelnd öffnete Laura die Augen. Verschwommen erkannte sie die weißen Deckenfließen, während sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm und sich gleichzeitig die Hand von ihrer Stirn entfernte. Laura folgte der Bewegung und sah hinauf zu Benni. Den linken Arm hatte er über die Lehne eines weißen Sofas gelegt und sein leerer Blick war auf einen nicht existierenden Punkt in der Ferne gerichtet. Erstaunt darüber, wie stark sich ihr Körper plötzlich fühlte, richtete sich Laura auf, so dass sie neben Benni saß. „Danke…“, murmelte sie, betroffen auf den Boden starrend Er hasst mich, er hasst mich, er hasst mich, er hasst mich! Aber warum hat er dann- Er hasst mich doch! „Warum tust du das für mich? Ich meine… Ich habe Chip- Warum hilfst du mir dennoch?!?“ „Würdest du es bevorzugen, wenn ich dir nicht helfe?“, kam die Benni-typische Gegenfrage. „Doch, nein, äh, doch, oder… aber… Bist du nicht eigentlich wütend auf mich?“ Verlegen schielte sie rüber zu Benni, der immer noch in die Ferne schaute, als würde er eigentlich gar nicht mit ihr reden. „Weiß ich nicht.“ Benni richtete sich auf und ging zu einer Tür, die Laura überhaupt nicht bemerkt hatte, als sie vorhin in den Raum gekommen war. „Dennoch ist es meine Aufgabe.“ Seine Antwort ließ Laura ein weiteres Mal schaudern.  Was hab ich mir Hoffnungen gemacht? Benni erfüllt seine Pflicht als Dämonengesegneter, nichts weiter. Er hasst mich! Etwas zu hektisch für ihren eben genesenen Körper folgte Laura ihm und hielt sich taumelnd an seinem Unterarm fest, um das Gleichgewicht nicht völlig zu verlieren. „Ähm… gehen wir?“, wich sie verlegen aus und zog hastig ihre Hände zurück. Benni erwiderte nichts, öffnete dennoch die Tür und ließ Laura den Vortritt. „Laura! Zum Glück geht’s dir gut! Dein Auftritt war ja dramatischer als mein eigener!“ Ariane kam auf sie zu geprescht und überfiel Laura mit ihrer Würgeumarmung. „Ihr habt noch nicht angefangen?“, erkundigte sich Laura, nachdem sie befreit wurde. Öznur schüttelte den Kopf. „Unser verehrter Herr Zote sucht den Dämonenbesitzer immer noch in diesem ordentlichen Gewühl.“ Laura warf einen kurzen Blick auf besagten Herr Zote, als er genau in dem Moment mit seinen schelmischen Augen vom Computer aufblickte. Schnell sah Laura woanders hin. Sie fand den Typen irgendwie gruselig und fragte sich, ob es nicht doch ein Fehler war, ihm ihre Kräfte so eindeutig gezeigt zu haben. „Ich danke Ihnen, für Ihre Geduld. Nun kann ich Ihnen den Dämonenbesitzer Terras vorstellen.“, meinte er schließlich. Automatisch verdunkelte sich das Zimmer und ein Beamer projizierte einen schlichten Steckbrief an ein Whiteboard. Herr Zote stellte sich neben die elektrische Tafel und begann zu erzählen, gleich einem Referat in der Schule. „Der Name des jungen Mannes den Sie suchen lautet Jack Masiur. Er wurde am 14. Februar 159 nach Kriegsende geboren und besuchte seit-“ „Einen Moment bitte!“, unterbrach Carsten den Vortrag plötzlich. „Könnten Sie uns bitte ein Bild von besagter Person zeigen?“ Denn auf dem Steckbrief war kein Foto von dem Jungen. „Selbstverständlich, junger Prinz.“ Herr Zote nickte und klickte ein paar Mal auf dem Whiteboard herum, bis schließlich ein Portraitfoto zum Vorschein kam. Den Jungen auf dem Foto schätzte Laura etwa in Bennis oder Eagles Alter. Er hatte grasgrüne Augen und seine braunen, leicht rötlichen Haare waren insgesamt sehr kurz. Die linke Seite war nahezu kahl rasiert, die rechte hatte dafür Kinnlänge. „Ich wusste es doch! Ich kenne ihn!“, rief Carsten aus. „Wirklich?! Stellst du ihn mir vor, Süßer?!?“, fragte Lissi begeistert. Carsten ignorierte ihre Aussage, meinte allerdings schaudernd: „Damals im… in der Besserungsanstalt… sind wir uns öfter… begegnet…“ Herr Zote zuckte mit den Schultern. „Sowohl in seiner, als auch in amüsanter Weise Ihrer Akte sind mehrere Prügeleien verzeichnet, daher verwundert das nicht.“ „Er ist im FESJ?“, fragte Öznur. „Du hast dich mit dem geprügelt und hast sogar mehrere Schlägereien in deiner Akte?“, fragte Anne in ihrem sarkastischen Tonfall. Carsten seufzte und Laura sah, wie ihm eine leichte Röte ins Gesicht stieg. „Na ja, eher indirekt… und außerdem hat er das Internat bereits wenige Monate nach meiner Ankunft verlassen.“ „Wie? Ist er nicht mehr dort?“ „Was meinst du mit indirekt?“, hakten Öznur und Anne nach. „Er ist verschwunden.“, antwortete Carsten, doch die Erklärung für Annes Frage ließ er aus. Ariane schaute ihn irritiert an. „Wie ‚verschwunden‘?“ Carsten zuckte mit den Schultern. „Verschwunden halt. Vom einen auf den anderen Tag war er weg.“ Der Büro-Typ meldete sich zu Wort. „Da muss ich Ihnen widersprechen. Die Mitschüler des Herren Masiurs wurden vermutlich nicht informiert, allerdings kam ein angesehener, für seinen Stand sehr junger Politiker und nahm den jungen Mann in seine Obhut.“ „Wer?“, fragte Anne kritisch. Herr Zote hustete ein offensichtliches Raucherhusten. „Ich bedaure, Prinzessin Ludwig, doch wenn Sie nichts davon wussten, dann ist es mir auch selbstverständlich untersagt, es Euch anzuvertrauen. Dies ist streng vertraulich, müssen Sie wissen.“ Anne schnaubte und wollte anscheinend eine Diskussion beginnen, als Benni ohne jegliche Gefühlsregung sagte: „Habt Dank für die Angaben, doch wir müssen nun aufbrechen.“ Nahezu die Hälfte der Gruppe wollte protestieren, aber sie blieben still, als auch noch Carsten meinte: „Das Gespräch war sehr informativ, wir danken Ihnen herzlichst und leben Sie wohl.“ „Verdammt nochmal, der Typ wusste noch mehr! Warum zum Teufel bist du so voreilig?! Typisch Jungs!“, schimpfte Anne. Doch Benni zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Dreh dich um.“ Widerwillig tat Anne, wie ihr gehießen und auch Laura und der Rest lugte über die Schulter, zurück auf das moderne Rathaus, das sie eben verlassen hatten. „Was sind das für Typen?“, fragte Laura erschrocken und starrte schnell nach vorne. Auch Carsten blickte nun kurz zurück und antwortete zögernd: „Soldaten von Terras Armee…“ „Was wollen die hier?“, fragte Janine. Es war eindeutig, dass das plötzliche Auftauchen des Militärs ihr eine riesige Angst einjagte. Wie könnte es auch anders sein? Immerhin musste sie in ihrer Heimat jeden Tag damit rechnen, dass man ihr Geheimnis herausfinden und sie töten lassen würde… Bennis knappe Antwort beruhigte sie keinesfalls. „Euch.“ Laura wagte noch einen einzigen Blick zurück zu dem Rathaus und betrachtete die Menschen in Uniform. Sie standen da, wie einfache Plastiksoldaten. Ariane legte einen Arm um Janines Schultern, um sie zu beruhigen. Das arme Mädchen zitterte am ganzen Leib. „Keine Angst, in der Öffentlichkeit werden sie wohl kaum so kurzsichtig sein und uns angreifen.“, meinte Carsten beruhigend. „Alleine wenn sie uns angreifen haben die schon einen an der Glocke.“, stellte Anne selbstbewusst fest. Doch seit dem, was letzte Nacht passiert war, musste Laura ihr widerwillig Recht geben. Plötzlich blieb Benni stehen und schaute erneut zurück zum Rathaus. Carstens Blick wurde misstrauisch. „Was hast du?“ Doch kopfschüttelnd wandte sich Benni ab und folgte der Gruppe. Sie ließen das Rathaus hinter sich, das mit den seltsamen Soldaten umstellt war und kehrten zurück in die Einkaufsstraßen. „Wo ist denn jetzt endlich mal ein Restaurant?! Ich bin am Verhungern!!!“, meckerte Ariane nun schon zum dritten Mal. „Ich auch…“, schloss sich Öznur ihrer Aussage dieses Mal an. Genervt stöhnte Anne auf. „Warum habt ihr nichts gesagt, als wir noch auf dem Rathausplatz waren?! Da gab’s genug Fresshäuser!“ Öznur schnaubte empört. „Da waren doch diese Armee-Deppen. Mit deren Blicken im Rücken vergeht einem voll der Appetit!“ Abrupt blieb Ariane stehen. „Da ist ein Steakhaus!!! Ich kann’s riechen!“ Sie zeigte mit dem Finger in die Richtung, aus welcher der Geruch kam und sprintete dort hin. Erleichtert atmete Öznur auf. „Na endlich, Essen!“ Sie folgte Ariane mit einer Geschwindigkeit, die zwar keiner Ariane, aber zumindest eines Kampfkünstlers würdig wäre. Anne zuckte mit den Schultern. „Was soll’s, ich hab auch Hunger.“ Und so ging auch der Rest der Gruppe ins Steakhaus. Kapitel 19: Freizeit? --------------------- Freizeit? „Also ich hätte gerne ein Paprika-Steak mit Pommes und Barbecue-Sauce!“, Ariane legte die Menükarte beiseite und ließ die Kellnerin alles notieren. „Für mich bitte Spaghetti.“, bestellte nun auch Laura. Der Reihe nach äußerten die Mädchen das ihnen gewünschte Mittagsessen. Anne dasselbe wie Ariane, Öznur ein Rindersteak mit Champignons, Lissi wollte unbedingt Coq au vin und Susanne ein Jägerschnitzel. „Ninie und was isst du?“, fragte Ariane, die bei dem auffordernden Blick der Kellnerin schüchtern weggeschaut hatte und mit dem Reißverschluss ihrer etwas zu kleinen, dunkelblauen Jeansjacke spielte. „Ach ähm, ich bin nicht hungrig, danke.“ Zum Widerspruch meldete sich ihr protestierend knurrender Magen. Beschämt färbten sich Janines Wangen tiefrot. Die Mädchen und Carsten begannen lauthals loszulachen, bis sich Carsten schließlich beruhigte und vorschlug: „Du kannst doch einfach etwas von Laura bekommen. Restaurant-Portionen hat sie noch nie ganz gepackt.“ „Na und? Das sind riesen Dinger!“, verteidigte sich Laura, musste Carsten dennoch Recht geben. Von dem Haufen auf ihrem Teller ließ sie meistens die Hälfte übrig, da sie von Natur aus wenig aß. Janine zwirbelte an einer ihrer goldblonden Strähnen. „Aber nur, wenn ich dir wirklich nichts wegesse…“ Doch Laura winkte ab. „Nein, nein, Carsten hat schon Recht. Du isst mir wirklich nichts weg, keine Sorge.“ „Also dann bitte noch einen Teller und Besteck separat.“, bat Susanne die Kellnerin an Janines Stelle, die es nickend aufschrieb, um die beiden anwesenden Jungs schließlich flirtend anzulächeln. „Und was kann ich euch beiden bringen?“ Laura spürte die Finsternis in ihrem Körper. Die Finsternis, die am liebsten sofort ausbrechen würde. Warum musste bitteschön jede weibliche Person so eine Reaktion bei den beiden zeigen?!? Na gut, fast jede. Jede, außer Anne. Das half ihr aber nicht, ihre Eifersucht zu lindern! Oder war es der Neid? Laura musste sich zu ihrem Widerwillen eingestehen, dass sie sich oft genug ärgerte, wenn sie, verschüchtert wie sie war, kein passendes Thema für eine Unterhaltung fand. Besonders bei Benni, wobei… Zurzeit konnte sie sich dabei sowieso nichts erhoffen. Es war schon ein Wunder, dass er ihr geholfen hatte. Dennoch war er sauer auf Laura, so viel stand fest. Carsten schien den Annäherungsversuch bemerkt zu haben, denn seine Wangen wurden rötlich und er bekam einen putzigen, verlegenen Gesichtsausdruck mit einem irgendwie planlosen Lächeln. „Ähm… für mich bitte ein äh… Gemüse Risotto…“ „Waldpilzsuppe.“, sagte Benni in seinem typischen tonlosen Tonfall. Ob es ihm überhaupt auffiel, welche Wirkung er auf einige Mädchen hatte? Jedenfalls fiel der Kellnerin sein Desinteresse auf und sie ging zurück zur Theke, aber nicht, ohne den beiden Jungs noch einen flüchtigen Blick zugeworfen zu haben. Kaum war die Kellnerin außer Hörweite, konnte sich Lissi mit dem Lästern auch nicht mehr zurückhalten. „Ach herrje, die traut sich aber was mit diesem Gesicht.“ Doch Ariane zuckte nur desinteressiert mit den Schulten. „Na ja, solange sie uns das Essen bringt, kann dir das ja egal sein.“ Lissi zog einen Schmollmund, der von ihren roten Lippen extrem stark betont wurde. „Es geht hier nicht um mich, süße Nane-Sahne. Aber denk doch bitte an unseren heißen Bennlèy und das putzige Cärstchen! Diese Tussi ist doch unter deren Würde!“ Laura seufzte. Was sollte sie da sagen? Sie selbst war schließlich noch ungeschickter, was Jungs betraf, insbesondere bei Benni. Jedenfalls hatte sie ständig das Gefühl, das alles, was sie unternahm, um Benni näher zu kommen, eine nur noch größere Entfernung zwischen ihnen erschuf. Und dann musste sie auch noch ständig so ungeschickt sein. Nein, ungeschickt war der falsche Ausdruck, eher bedeppert. Wer sonst könnte denn in der Lage sein, Chip fast zu erschießen, einen der süßesten und besten Freunde von Benni?! Genau in diesem Moment stand Benni auf. Carsten sah ihn fragend an, doch Benni erwiderte nur: „Ich muss zur Toilette.“ ~*~ Als Benni die Toiletten erreichte, nutzte er die Gelegenheit und verschwand durch die Hintertür nach draußen, dankbar, dem widerwärtigen Fleischgeruch zu entkommen. Doch dies war nicht seine eigentliche Intension gewesen. Es war fürchterlich, wie naiv sie doch alle waren, sogar Carsten, Susanne und Anne. Bisher hatte der Alte zum Glück noch niemandem die wertvollen Informationen zukommen lassen, die er durch diese Naivität erhalten hatte. Das hatte Benni die gesamte Zeit über so gut er konnte mit seinen übermenschlichen Sinnen überprüft. Doch es war nur noch eine Frage der Zeit. Die Soldaten waren immer noch vor Ort, jedoch war Benni genau im rechten Moment angekommen. Denn als sich die gläserne Rathaustür öffnete, trat niemand geringeres als der Alte heraus. Benni vernahm, wie der ihm am nächsten stehende Soldat berichtete, dass die Verdächtigen verschwunden seien. Der Alte nickte nur und wies ihnen an, sich zurück zu ziehen. Dann verließ er den Zentralplatz und ging schnellen Schrittes eine der Seitengassen entlang. Von niemandem gesehen, verfolgte Benni ihn, bis er schließlich in einer dunklen Sackgasse Halt machte. Diese kam Benni gelegen. Er beschwor die Finsternis-Energie herauf und machte sich mit ihrer Hilfe unsichtbar, indem er in einen der Schatten eintauchte. Der Alte hatte inzwischen sein Mobiltelefon gezückt und tippte eine Nummer ein. Die Stimme, die sich am anderen Ende der Leitung mit einem „Ja?“ meldete, erkannte Benni sofort wieder. Sie gehörte zu jenem vermummten Mann, welcher erst die Nacht zuvor gemeinsam mit Max aufgetaucht war, um Lukas abzuholen. „Ich habe wichtige Informationen für dich. Komm sofort nach Terra.“, krächzte der Alte. „Okay, aber gib mir nen Moment.“, kam es vom anderen Ende der Leitung und der Mann legte auf. Grummelnd kramte der Alte eine Zigarettenschachtel aus seiner Tasche. „Der und seine dämlichen Computerspiele.“ Nun war der Moment gekommen. Der Alte bemerkte den Angriff erst, als es bereits zu spät war. Benni packte mit beiden Händen seinen Kopf und brach ihm mit ruckartiger Bewegung das Genick. Das einzige Geräusch in diesem Moment war der dumpfe Schlag, als er tot zu Boden fiel. Mit seiner Finsternis-Energie ließ Benni den Leichnam im Nichts verschwinden und ließ den Wind durch die Gasse wehen, um ihre Gerüche zu verbergen. Anschließend verschwand Benni wieder in den Schatten und kehrte zur Hintertür des Steakhauses zurück. Insgesamt waren höchstens fünf Minuten vergangen, als er wieder zum Tisch ging, an dem die anderen saßen, welche gerade das Essen serviert bekamen. ~*~ Immer noch deprimiert wegen der Sache mit Chip senkte Laura den Kopf und in genau diesem Moment stellte die Kellnerin ihre Spaghetti vor ihr auf den Tisch. „Bitte sehr.“, sagte sie schnippisch zu der erschrockenen Laura und wandte sich mit einem strahlenden Lächeln zu Benni, der sich eben wieder hinsetzte, um ihm seine Bestellung zu geben. Ariane fiel sofort über ihr Paprika-Steak her, kaum, dass es auf ihrem Tisch lag. Eine unglaubliche Erleichterung überkam Laura. So sollte eine Ariane reagieren! Kurz darauf konzentrierte sich so gut wie jeder auf das, was er da vor sich hatte. Nur Lissi und Öznur diskutierten aufgebracht, welche Geschäfte sie noch unbedingt besuchen mussten. „Leute, ihr könnt doch nicht unseren ganzen Nachmittag verplanen. Wir müssen noch zu diesem kleinen Dämonenbesitzer in Cor, mit dem frechen Mundwerk. Wisst ihr noch?“, platzte Ariane schmatzend dazwischen, als Lissi gerade den elften Dessous-Laden aufzählte, der ein einfaches Muss war. Für Lissi. Carsten schüttelte den Kopf. „Wir können das arme Kind doch nicht einfach mit der gesamten Gruppe überfallen… Ich denke, wenn nur Benni geht, reicht das. Diesen Besuch kann er auch in einer Freistunde während der Schulzeit unterbringen.“ Auf Carstens Vorschlag verdrehte Benni lediglich und dennoch stark aussagekräftig die Augen. Laura konnte seine Reaktion nachvollziehen. Auch wenn Benni kein eifriger Lerner war, hatte er im zweiten Jahr mehr Unterricht als sie und musste obendrauf auch noch seine Pflichten als Schulsprecher erfüllen. Und jetzt sollte er eine freie Stunde seiner wenigen Freizeit dafür aufopfern, ein Kind zu besuchen, dass regelrecht an ihm zu kleben schien und ihn Onkel nannte? Laura fragte sich, ob Carsten von Bennis dichtem Zeitplan nichts wusste, oder einfach mal wieder nur das Ziel hatte, seinen besten Freund etwas zu ärgern. Mit der Freizeit scherzt man nicht!!! Dieses Mal würde Laura Carsten über seine Aussagen zurechtweisen müssen. Aber ihre Moralpredigt konnte noch nicht einmal beginnen. Öznur ließ ihre Gabel sinken und sah Carsten durch ihre Brillengläser verwirrt an. „Willst du so unbedingt in die Dessous-Läden?“ „Nein!“, verteidigte sich Carsten mit tiefrotem Gesicht. „Ich… äh… ich- ich wollte doch nur… freundlich sein!“ Öznur lachte lauthals los, dicht gefolgt von den übrigen Mädchen. Na gut, Carsten hat seine Lektion gelernt., dachte Laura kichernd. Nach Hilfe suchend wandte sich Carsten an den Einzigen, der nicht lachte. „Gutmütiger Trottel.“, kommentierte Benni trocken. Da wurde Ariane auf ihn aufmerksam. Kritisch musterte sie Bennis Waldpilzsuppe. „Sag mal eiskalter Engel, isst du kein Fleisch?“, fragte sie, nachdem sie feststellen musste, dass sich in diesem Gericht nur vegetarische Zutaten befanden. „Ich hab immer gedacht, da du so mega durchtrainiert bist futterst du garantiert Fleisch bis zum Abwinken wie Anne.“ „Was sind das denn für Schlussfolgerungen?“ Anne schaute sie kritisch mit einer gehobenen Augenbraue an, doch Ariane zuckte nur mit den Schultern. „Ist so. Ich hab den Eindruck in der Akademie isst du nichts anderes.“ ~*~ Ariane sah Benni mit ihren neugierigen, braun-grün gesprenkelten Augen an, schien von seinem finsteren Wesen unbeeinflusst. Benni schüttelte den Kopf. Nein, er aß kein Fleisch. Seit seinem dritten Lebensjahr nicht mehr. Er war die kommende Diskussion bereits jetzt schon leid. „Warum denn nicht?“, erkundigte sich die stets von Neugierde beherrschte Ariane. Benni fand diese Frage unnötig und ließ die Antwort aus. Ständig wurde sie gestellt, doch ihm ging es inzwischen einfach nur auf die Nerven, elegant ausgedrückt. Benni hatte keine anderen Erwartungen, es war selbstverständlich, dass Carsten für ihn antwortete. Wahrlich ein gutmütiger Trottel. „Benni mag Tiere halt so sehr, dass er sie nicht essen will. Außerdem verabscheut er das Leiden der Nutztiere bis zu ihrem Tod, nur, damit sie unser Essen sein können.“ Ja, das traf seine Ansichten ganz gut. „Müsstest du nicht dann eigentlich unter Mangelerscheinungen leiden?“, erkundigte sich Öznur. Carsten nahm ihm wie gewohnt die Antwort ab, indem er erklärte: „Nicht, wenn die fehlenden Vitamine richtig ausgeglichen werden. Solange man sich ausgewogen ernährt, geht es einem Vegetarier genauso gut wie einem ‚Allesesser‘. Eigentlich ist überwiegender Fleischkonsum sogar schädlich. Auch wir sollten auf eine ausgewogene Ernährung achten. Und das alles sage ich euch jetzt als Sohn der Direktorin von Kariberas Krankenhaus und nicht als Bennis bester Freund.“ Öznur schien realisiert zu haben, dass sie ihr Gespräch überwiegend mit Carsten führte, anstelle des eigentlichen Angesprochenen. „Wie lange bist du/ist er denn schon Vegetarier?“, fragte sie deshalb. In seinen Gedanken konnte Benni den Seufzer nicht weiter unterdrücken. Wie erwartet würde diese Unterhaltung in einer langen Anekdote enden. Da war es von Vorteil, dass Carsten ihm das Reden abnahm, da ihm all das Erzählen sowieso überdrüssig geworden wäre. „Seit Benni drei ist, isst er kein Fleisch.“, antwortete Carsten, wie prognostiziert. Susanne legte die Stirn in Falten. „Ist es wirklich eine gute Idee, ein kleines Kind vom Fleisch fernzuhalten? Versteht mich nicht falsch, ich finde die Beweggründe von Vegetariern und Veganern sehr nachvollziehbar, gerade in unserer Zeit, wo die Massentierhaltung so ein Problem darstellt. Aber einige Nährstoffe sind ansonsten kaum zu bekommen, wenn man keine Nahrungsergänzungsmittel nimmt.“ Carsten zuckte mit den Schultern. „Zumindest Benni kam all die Zeit problemlos ohne Fisch und Fleisch zurecht.“ „Und außerdem war es auch seine eigene Entscheidung. Niemand hat ihn davon ‚ferngehalten‘.“, mischte nun auch Laura in dem Gespräch mit. Derweil wandte Benni selbst sich von der Gruppe ab und dem gefräßigen, trägen und zugleich hyperaktiven, kleinen Eichhörnchen zu, das sich die ganze Zeit über wie gewohnt in seiner Kapuze zusammengekugelt und geschlafen hatte. Nun beschwerte sich Chip quietschend, er habe Hunger. Während Susanne fragte, wieso er sich mit bereits drei Jahren gegen den Fleischkonsum entschieden hatte, vergrub Chip seinen pelzigen Kopf in der Tüte mit Studentenfutter, die Benni für ihn aus seinem Rucksack geholt hatte. Zur Hälfte zufriedengestellt und zur Hälfte weiterhin meckernd, da er lieber Chips haben würde. Just in diesem Moment fiel ihm auf, dass Laura immer noch schwieg. Mit ihrem scheuen Blick schien sie ihn fragen zu wollen, ob Benni etwas dagegen habe, wenn sie den Mädchen alles erzählte. Benni zuckte als Antwort nur mit den Schultern. Ihm war es gleich. Folglich begann Laura. „Ich kann mich selbst nicht mehr so genau erinnern… ich war gerade mal etwa zweieinhalb. Rebecca, mein Kindermädchen, hat es mir aber öfter erzählt. Es war an O-Too-Samas 40. Geburtstag. Obwohl es gerade mal höchstens ein Grad war, ist Rebecca mit mir, Lucia und meinem zwölf Jahre älteren Bruder Luciano spazieren gegangen. Unterwegs trafen wir auf O-Too-Sama, O-Kaa-Sama, Eufelia-Sensei und dummerweise auch auf meinen inzwischen verstorbenen Großvater und Lukas. Sie wollten das Abendessen ‚abholen‘. Keine Ahnung, warum sie dafür nicht einen Diener geschickt hatten…“ Benni fand dafür eine banale Erklärung: Lauras Vater war so anachronistisch, dass er zu jeder Zeit einen Umsturz erwartete, weshalb er auch nur mit den ihm Vertrautesten die Zubereitung seiner Viktualien überwachte. Dennoch musste Benni die Sorgen des verfolgungswahnsinnigen Mannes als berechtigt ansehen. Nur, dass der Putsch nicht Leon Lenz selbst traf, sondern dessen Kinder, Luciano und Lucia. An jenem verhängnisvollen Tag war es Lukas gewesen, der Luciano und Lucia mit der ruhmreichen Aufgabe betörte, das Volk vor dem Schwarzen Löwen zu schützen. Dies hatte ihnen letztlich das Leben gekostet. Wäre Laura tatsächlich ihrer Krankheit unterlegen, hätte Lukas nichts Legitimes mehr vom Erbe des Vorsitzes des Siebener Rates fernhalten können. Derzeit fuhr Laura mit ihrem Bericht fort: „Wir kamen dann schließlich auf dem Schlachthof an und trafen dort auch auf Benni…“ Ein weiterer Schauder überkam Laura und sie schüttelte sich, als hätten ihre Erinnerungen ein grausames Bild von Tod und Verzweiflung projiziert. Benni war sich dessen bewusst, was sich vor Lauras innerem Auge abbildete. Er selbst hatte diese Bilder deutlicher und detaillierter in Erinnerung als ihm lieb war. „Es war angeblich wie in so einem Psycho-Horrorfilm… Benni saß auf dem Boden eines eigentlich weiß gefliesten Raums und überall war Blut! Auf einem Tisch neben ihm, an der Wand, auf dem Boden und auch auf Bennis Kleidung, an seinen Händen, sogar in seinem Gesicht und seinen Haaren!“ „Igitt!!!“, unterbrach Ariane Laura und schüttelte sich. Verschüchtert schaute Laura erneut zu Benni hinüber, der ihren Blick ruhig erwiderte. Dennoch wandte sie sich schnell wieder ab und fuhr zögernd fort. „Na ja… und Benni saß halt da und… streichelte den Kopf einer blutübergossenen Baby Kuh… Also, ich meine, sie war natürlich tot und der Kopf war nur ein Kopf, also… sie hatte keinen Körper… ähm…“ „Okay, das ist wirklich eklig. Aber eine Frage: Was hat ein Dreijähriger auf einem Schlachthof verloren?!“, fragte Öznur irritiert. Laura seufzte. „Weiß ich doch nicht… Fragt Benni.“ Aufgrund all der fragenden Blicke, die nun auf ihn gerichtet waren, überwand er sich zu einer bescheidenen Antwort: „Ich hatte mit dem Kalb gespielt.“ Benni war noch nie jemand gewesen, dem es lieb war, sich in einem geschlossenen Raum aufzuhalten. Doch der zeitgleiche Aufenthalt mehrerer Menschen, wie sie durcheinander sprachen, mit ihren Gerüchen einen erstickenden Nebel bildeten… Dieses Gefühl war unerträglich. In den Tagen seiner Kindheit gar ausgesprochen radikal. Folglich hatte er sich schlicht ins Freie davon gestohlen. Dabei war es im vollkommen gleich, wie der Tag sein mochte. Er fand jedes Wetter akzeptabel, solange er sich einfach nur in Natur und Freiheit aufhalten konnte. Ebenso ertrug es sich an Leon Lenz‘ Geburtstag. Also war er aufgebrochen, auf eine Erkundungstour durch Zukiyonaka. Seine außergewöhnlichen Sinne und die einst ungebremste Neugier hatten ihn zu dem Schlachthof und dem für sein Alter sehr großen Kalb geführt. Benni war bestürzt, da es eingesperrt in Ketten lag. Es habe doch nichts Böses getan, waren seine Gedanken. Die Trauer und Verzweiflung des wehrlosen Kalbes gaben ihm den Auslöser, es zu befreien. Geschätzt eine Stunde waren sie herumgetollt und hatten Verstecken und Fangen gespielt, als seien sie zwei ganz gewöhnliche Kinder. Dann kam der Metzger, der derzeitige und zugleich letzte Besitzer des Kalbes. Er war sehr erbost, hatte Benni angeschrien und ausgeschimpft, dass er das Kalb freigelassen hatte. Als Benni erwiderte, das Kalb fühle sich doch so traurig und verlassen, begann der Mann höhnisch zu lachen und meinte, es ginge ihm prächtig, der kleine, dumme Junge solle doch sehen, wie groß es sei. Als Benni schließlich berichtete, er könne sich mit Tieren verständigen und fühle das, was sie auch fühlen, wurde der Metzger suspekt zuvorkommend. Er bedankte sich bei Benni für dessen Ehrlichkeit. Er habe nicht gewusst, dass er das arme Kalb so sehr gequält habe. Er wolle es wieder gut machen. Er bat Benni, ihn zu begleiten. Er wolle ihm etwas Spannendes zeigen. Wäre er doch nicht so töricht gewesen und dem Typ gefolgt! Wäre er doch nur mit dem Kalb weggelaufen! Und was tat er? Er erzählte dem armen, unwissenden Kalb voller Begeisterung, es würde sicher total lustig werden. Was da auf es zu kam war nicht lustig. Nicht im Entferntesten. Der Metzger holte ein breites, großes Messer. Jeder Spaß war vergangen. Auch heute noch sah Benni beim Anblick von Rindfleisch, wie der Metzger ausholte und mit einem Schlag den Kopf von dem angsterfüllten Kalb trennte… „Benni?“ Eine angenehm kühle Hand legte sich auf seine unnatürlich überhitzte. Lauras Finger wirkten so schlank und fragil, wie der Rest ihres Körpers. „Ist schon krass mit ansehen zu müssen, wie der Spielgefährte geschlachtet wird… Ich kann verstehen, warum du kein Fleisch mehr isst.“, meinte Öznur mit gesenkter Stimme. Sie schien ihr Steak nun aus anderen Augen zu betrachten. „Komm mir jetzt bloß nicht auf falsche Gedanken! So ist das nun mal in der Natur. Fressen oder gefressen werden. Außerdem essen andere Tiere auch Fleisch und die denken nicht wirklich darüber nach, ob sie vielleicht darauf verzichten wollen.“ Anne steckte sich ein demonstrativ großes Stück ihres Steaks in den Mund. Laura zog ihre Hand von Bennis, um sie zur Faust zu ballen. „Es wird ja noch dreister! O-Too-Sama und O-Kaa-Sama wollten Benni regelrecht dazu zwingen, das Fleisch zu essen! Und zwar genau das, von dem Kalb!“ Ariane verschluckte sich an ihrem Wasser. Nach einigem Husten meinte sie schließlich: „Okay, das ist fies.“ Fies war da noch eine Untertreibung. Selbstverständlich hatte sich Benni stur geweigert, das Fleisch zu verzehren. Und selbstverständlich fanden Lauras Eltern daran ein hochgradiges Missfallen. ~*~ Das war einer der ersten Gründe gewesen, die O-Too-Sama dazu verleitet hatten, Benni zu hassen. Ariane stieß einen Seufzer aus. „Das ist echt krass. Ich kann verstehen, dass du daraufhin kein Fleisch mehr essen wolltest.“ Laura war nicht allzu überrascht, dass Benni schwieg. Auch wenn er sich streng vegetarisch und häufig auch vegan ernährte, drängte er keinem seine Lebensweise auf oder verstrickte sich freiwillig in solche Fleischesser-Vegetarier-Diskussionen. Dennoch war ihm das gequälte Leben und Sterben der Tiere nicht recht. Laura musterte die kleinen Fleischklößchen in ihrer Spaghetti Sauce. Benni hatte es ihr eigentlich nie übel genommen, dass sie Fleisch aß… jedenfalls äußerlich. Seine Gedanken wollte sie lieber erst gar nicht wissen. Wie war das eigentlich für Vegetarier, jemanden, der Fleisch aß zu küssen? Ging er etwa deswegen auf Distanz?!?!? Nein, Laura übertrieb mal wieder. Wie aus dem Nichts schoss eine Gabel hervor und klaute sich eine übergroße Portion Spaghetti. „Hey!“, beschwerte sich Laura bei Ariane, die sich ihr Diebesgut genüsslich in den Mund stopfte. „Du ischt scho langscham, da wollte isch dir etwasch helfen.“, meinte sie, während sie zufrieden schmatzte. „Wie soll ich beim Erzählen denn auch essen?“ Laura schnaubte empört und widmete sich ihrer kaum geschrumpften Portion. Tatsächlich waren die anderen bereits fast fertig, nur sie nicht. Etwa eine halbe Stunde später fand sich die Gruppe auf den Einkaufsstraßen der Hauptstadt Terras wieder. Öznur war bereits im Besitz ihrer roten Lederjacke und Lissi zog den nicht gerade begeisterten Anhang in den vermutlich teuersten Dessous-Laden Damons. „Und was wollen wir hier?“, fragte Anne genervt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sieh doch selbst, Süße!“, meinte Lissi in ihrem Quietschton und nahm provozierend einen überteuerten pinken String-Tanga in die Hand und hielt das verpuschelte Etwas direkt vor Annes Nase. Angewidert stieß sie Lissis Hand weg und sah sich missbilligend in dem Laden um. Ganz im Gegensatz zu Carsten, der versuchte, sich so wenig wie möglich umzusehen. Doch der ganze Laden war regelrecht vollgestopft von aufreizender Unterwäsche, sodass sich sein Blick schließlich auf den rettenden Boden richtete, der ihn dummerweise mit seinen Stickereien nackter Leute nicht minder in Verlegenheit brachte. „Cärstchen, welcher Blauton steht mir besser? Meeresblau oder indigoblau?“ Lissi hielt zwei fast durchsichtige BHs vor sich, um sie Carsten zur Schau zu stellen. „Äh-was…äh da-wüöh-Benni!!!“, japste Carsten. Erschrocken griff er hinter sich, in der Hoffnung, Benni zu erwischen. Nach mehreren Misserfolgen schnappte er sich das Erstbeste, das er zwischen die Finger bekam und riss es nach vorne. „Den soll ich nehmen?“, fragte Lissi. „Hey nein, den wollte ich nehmen!“, schrie Öznur. Laura konnte sich vor Lachen kaum mehr halten. Statt Benni hielt Carsten einen roten BH vor sich, an dessen anderem Ende Öznur hing. „Aber Cärstchen meint, er würde mir stehen.“, meinte Lissi in ihrem verräterischen Unschuldston. „Das ist mir aber herzlichst egal, weil ich ihn zuerst entdeckt hab.“ Völlig überfordert mit der gegenwärtigen Situation und dem Konflikt diese beiden Mädchen, rettete sich Carsten mit seiner für ihn typischen und von ihm unerwünschten Verpeiltheit. „Leute, jetzt beruhigt euch… ähm-äh… Ich- Ich nehm ihn!“, rief er in seiner Verzweiflung, gefolgt von dem Gelächter aller Mädchen. „Ach Cärstchen, ich glaube nicht, dass du der Typ für so was bist.“, brachte Lissi kichernd hervor. Carstens Gesicht wurde tiefrot. Eilig drückte er Öznur den BH in die Hand und floh hinaus ins Freie. Zu Benni. Der hatte höchstens zwei Schritte in den Laden gesetzt und war kurz darauf auch schon wieder unbemerkt verschwunden. Nun stand er außen, gegenüber von dem Laden und streichelte Chip mit seinem Daumen. Als Carsten ihn erreicht hatte, blickte er nur kurz auf und wandte sich dann wieder dem in seine Hand kugelnden Chip zu. „Oh Mann, der Arme.“, meinte Ariane, klang aber nicht mitleidig, sondern eher belustigt. Anne nickte. „Das war peinlich.“ Lissi zuckte mit den Schultern und musterte die beiden blauen BHs in ihren Händen. „Also ich fand’s süß.“ „Na ja, eher zum totlachen.“, witzelte Ariane. Laura wusste nicht, ob das zum Lachen oder Bemitleiden war. Sie hatte gelacht, dennoch tat ihr Carsten leid. Er war manchmal einfach zu nett… Anne warf einen Blick aus dem Schaufenster und musterte Carsten und Benni, die an der Wand des gegenüberliegenden Ladens lehnten, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln. Benni las mal wieder, während Chip auf seiner Schulter aufmerksam die für ihn sehr interessanten Zeichen, auch bekannt als Buchstaben, bewunderte. Carsten hingegen trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er schien sich, abgesehen von diesem speziellen Vorfall eben gerade, insgesamt überhaupt nicht in Terra wohlzufühlen. „Ich hab ‘ne Idee.“, meinte Anne schließlich, „Vielleicht hilft uns ja unser Indigoner-Bubi bei dem mysteriösen Dämonenbesitzer weiter.“ „Was ist denn an dem noch mysteriös, Anni-Banani? Er heißt Jack Masiur, ist zwanzig Jahre alt, total sexy und wie unser Bennlèy ein Bad Boy.“ Lissi gesellte sich wieder zu der Gruppe, mit einer Rüschenstofftüte in der Hand. In der kurzen Zeit hatte sie sich einfach mal so die beiden blauen BHs gekauft. Laura fragte sich, woher das Mädchen wohl das ganze Geld hatte. Anne schnaubte. „Aber das wichtige wissen wir nicht. Zum Beispiel wo er jetzt ist oder was er zurzeit macht.“ „Und dafür brauchen wir Carsten?“, fragte Öznur verwundert und kritisch zugleich. Ein hinterlistiges Lächeln zuckte um Annes Lippen. „Er hat die nötigen Kontakte.“ „Hä?“, fragte Ariane verwirrt. Um die Situation noch dramatischer zu gestalten als sie schon war, machte Anne auf dem Absatz kehrt und ging nach draußen zu den beiden Jungs. Natürlich folgten die Mädchen ihr. Als Anne in die ‚normale‘ Hörweite der Jungs kam -Bennis Sinne mal außen vor gelassen- sagte sie schließlich: „Ich finde, wir sollten die ehemalige Schule der beiden besuchen.“ „Was?“ Carstens Frage war nicht mehr als ein Hauchen, jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. „…Das ist gemein Anne!“, rief Laura schockiert. Susanne seufzte. „Aber leider hat sie Recht. Wir kennen die wahre Macht unseres Feindes immer noch nicht und müssen jede noch so kleine Hilfsmöglichkeit ergreifen, die uns zur Verfügung steht. …Tut mir Leid, Carsten…“ Ariane legte den Kopf schief. „Meint ihr diese Schrottschule?“ Susanne nickte. „Wir wissen, dass sich für eine kurze Zeit Carstens und Jacks Aufenthaltszeit überschnitten haben. Ich bin mir sicher, wir könnten dort etwas finden.“ „Leute, ich-“, setzte Carsten an. Anne klopfte ihm auf die Schulter. „Danke Carsten, ist echt nett von dir, dass du helfen willst.“ Okay, das ist jetzt richtig fies, dachte Laura und konnte Carsten nur bemitleiden, als er geschlagen den Kopf senkte. Er war einfach viel zu nett, um widersprechen zu können. Obwohl es mehr als offensichtlich war, wie schlimm alleine die Vorstellung für ihm war, diesen Ort wieder sehen zu müssen. „Was erhofft ihr euch dort?“ Vollkommen überrascht, dass sich Benni auf einmal in das Gespräch integrierte, fehlten den meisten Mädchen zuerst die Worte. „Hast du nicht zugehört? Typisch. Wir wollen dort mehr über den Dämonenbesitzer von Terra herausfinden.“, antwortete Anne schnippisch. Genauso ruhig wie zuvor fragte Benni: „Von wem? Wollt ihr sie korrumpieren?“ „Hä?“, meldete sich nun auch Laura mit ihrer geistreichen Frage. „Du denkst, wir würden nichts erfahren?“, fragte Janine und Carsten gewann allmählich einen Teil seiner Hautfarbe zurück. Wieder seufzte Susanne. „Das ist auch nun wieder wahr. Wenn uns schon der Verwalter all der Informationen nichts sagen wollte, warum würde es dann die Verwaltung einer grausamen Besserungsanstalt machen?“ „Und wir bringen uns damit auch selbst in Gefahr.“, fügte Laura hinzu. „Habt ihr die Soldaten vor dem Rathaus vergessen? Wäre Benni nicht gewesen, hätten sie uns bereits erwischt. Wir dürfen nicht noch einmal so naiv und unvorsichtig sein, wie vorhin.“ Anne schnaubte genervt. „Es kotzt mich an, das zugeben zu müssen, aber du hast Recht. Das war ‘ne dumme Idee von mir, vergesst sie einfach.“ Öznur klopfte Anne auf die Schulter. „Der erste Schritt in die richtige Richtung.“ Annes Zischen überhörend warf Ariane einen Blick auf die Uhr, die sie seltsamer Weise immer am rechten Arm trug. „Schon sechs Uhr.“ „Dann lasst uns zurück auf die Coeur-Academy gehen.“, schlug Susanne vor. Lissi stampfte mit dem Fuß auf und erzeugte dank ihren High-Heels ein schallendes ‚klack‘. „Och nö, Susi, ich will noch nicht.“ Nervös drehte Janine eine Strähne ihrer blonden Haare zwischen den Fingern. „Bitte, Lissi. Dieser Ort macht mir Angst… Irgendwie erinnert er an Mur.“ Ariane drückte Janine wie eine Puppe an sich. „Och Ninie, du brauchst keine Angst zu haben. Wir beschützen dich.“ Doch nach kurzem Zögern, das Janine die Möglichkeit bot, sich aus Arianes Würge-Umarmung zu befreien, meinte Ariane: „Aber trotzdem… Ich fühl mich hier auch nicht wohl und will einfach nur noch ins Bett! Das war genug Trubel für den nächsten Monat!“ „Dann lasst uns endlich von hier verschwinden.“ Carsten streckte Laura und Benni die Hand entgegen und Laura entging es nicht, wie sehr sein Körper nach wie vor zitterte. Kurz darauf verschwanden die Geschäfte von Terrarium vor ihren Augen in einem farbenfrohen Lichtermeer und ersetzten sie durch den kahlen und doch weit lebendigeren Wald südlich der Coeur-Academy. Laura spürte, wie die Teleportation an ihren Kräften zehrte, doch zu ihrer eigenen Überraschung konnte sie noch auf ihren eigenen zwei Beinen stehen bleiben. Sie hatte in den vergangenen zwei Tagen tatsächlich alle Teleportationen gemeistert, ohne zusammenzubrechen. Die Erkenntnis, dass sie das alles Bennis Energieschub zu verdanken hatte, färbte ihre Wangen mal wieder leicht rötlich. Traurig senkte sie den Blick. Und dennoch hasst er mich… Ariane musterte sie und legte die Hand auf ihre Stirn. „Alles okay?“ Ihre Nachfrage versetzte Laura noch mehr in Verlegenheit. „Äh, ja, klar, alles bestens.“ Doch bei einem Blick auf Benni, stellte Laura fest, dass sie keinen Blick auf ihn werfen konnte, da er schon gegangen war. Er hasst mich, er hasst mich, er hasst mich! Den Tränen nahe folgte Laura den anderen, die den Wald verließen und der hinter den Bäumen auftauchenden, imposanten Schule entgegen gingen. Kapitel 20: Tragische Erkenntnis -------------------------------- Tragische Erkenntnis Eine unwohle Vorahnung riss Benni aus seinem Dämmerschlaf. Misstrauisch richtete er sich in dem für seine geringen Ansprüche viel zu distinguierten Bett auf und lauschte in die Nacht. Das Rauschen der Windböen, der Ruf einer Eule in der Ferne, … Nichts schien diesen Frieden stören zu wollen. Er ging an das kalte Fenster und ließ sein Gesicht von den zarten Strahlen des Mondes liebkosen, der in kurzen Intervallen sein Licht hinter den Wolken verbarg und wenig später wieder hervorlugte. Knappe fünf Minuten ließ er lediglich die dunkle und doch entspannende Atmosphäre auf sich wirken, bis er einen von Panik durchtränkten Schrei vernahm. Er kam aus dem oberen Stockwerk, doch die Stimme war Benni nur allzu vertraut, um sie bedenkenlos ignorieren zu können. Also schlüpfte er in seine schwarzen Schuhe und verließ in seinem Nachtanzug, eine schwarze Jogginghose und ein isochromatisches T-Shirt, den Abteil der Schülervertretung. In der sporadischen Beleuchtung des Mondes stieg er die Treppe hinauf in die Etage des ersten Jahrgangs. Carstens Zimmer annähernd am Ende des Gangs zu finden stellte keine Herausforderung dar. Immer wieder hörte Benni ihn wimmern und auf Indigonisch sprechen. Es waren Sachen wie „Lasst mich in Ruhe“, oder „Ich will das nicht“. Unbewusst beschleunigte Benni seine Schritte. Doch als er die Tür öffnete, schien es sich tatsächlich nur um einen Albtraum zu handeln. Carstens Zimmergenossen, die den silber gewundenen Lettern an der Tür nach zu urteilen Adrian und Jan genannt wurden, hatten alle Mühe damit, den sich im Schlaf umherwälzenden Carsten wach zu rütteln. „Ihr seid zu freundlich.“ Benni schob die beiden Jungs aus dem Weg und verpasste seinem besten Freund eine wörtlich schallende Ohrfeige. Ihre Wirkung zeigte sich augenblicklich, als Carsten abrupt die Augen aufschlug. Schwer atmend richtete er sich in seinem Bett auf und schaute sich um. „Alles okay?“, fragte Benni und musterte Carsten. Die längeren pechschwarzen Haare klebten an der verschwitzten Stirn und seine Hände zitterten, als er sich einige dieser Strähnen aus dem Gesicht strich. Doch eine Antwort bekam Benni nicht. ~*~ „Waaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah!!!“ Weder dass jemand sie gepackt hatte, noch dass sie mehr oder weniger durch die Luft geworfen wurde hatte sie bemerkt. Erst der schmerzhafte Aufprall auf dem Boden, begleitet von einem dumpfen Knall hatte Laura geweckt. Nun erkannte sie auch sofort den Übeltäter. „Was sollte das, Anne?!?“, beschwerte sie sich. Anne zuckte schadenfroh mit den Schultern. „Na was wohl? Ich musste dich buchstäblich aus dem Bett schmeißen, um dich zu wecken. Man ey, du bist schon genauso schlimm wie der Vampir.“ Laura hob den Finger, um irgendetwas entgegnen zu können, doch ein auf sie herunterstürzender Wasserfall schnitt ihr das Wort ab. „Vielen Dank auch Lissi. Jetzt bin ich wach.“, meinte sie ironisch. „Okidoki, dann ist ja gut.“, trällerte Lissi mit ihrer naiven Mädchenstimme. Dafür, dass sie zu einer solch unchristlichen Stund‘ auf war, wirkte das Mädchen überdurchschnittlich gut gelaunt. Diese gute Laune hielt sich bei Laura allerdings arg in Grenzen, als sie einen flüchtigen Blick auf ihre schmale, schwarze Armbanduhr wagte. Es war halb drei nachts. „Ich hoffe, ihr habt einen triftigen Grund, mich zu wecken.“, schnauzte Laura und schätzte die Wahrscheinlichkeit ab, unbeschadet zurück ins Bett zu kommen. Aber so wie Anne vor ihr stand, schien sie gleich Null. „Je nachdem, wie hoch deine Ansprüche sind.“, kommentierte Ariane, noch mürrischer als Laura selbst. Susanne lächelte leicht. „Lasst uns gehen. Wenn bereits die Direktorin persönlich gekommen ist, scheint es ein wirklich triftiger Grund zu sein.“ Öznur erschauderte unter ihrem sehr figurbetonten Nachtkleid. „Was?!? Die Direktorin hat dich im Schlaf heimgesucht?!? Da kann keine Horrorgeschichte mithalten! Oh Gott, zum Glück bin ich nicht bei dir im Zimmer…“ Susannes Lächeln wurde etwas herzlicher und verlor an verräterischer Sorge. „Du übertreibst.“ „Na wer weiß.“, deutete Anne spöttisch an und zog Laura unsanft auf die Beine. Laura wagte nicht zu fragen, ob sie wirklich alle vorhatten, in ihren Schlafanzügen nach außen in die Kälte zu gehen. Der auf dem großen Platz um sie und ihren Kimono peitschende, bitterkalte Wind war schon Antwort genug. Umso erleichternder war es, endlich in das kuschelig warme Gebäude der Büros zu kommen. Laura vermutete fast, dass sie bald öfter zu den Direktoren mussten als die Schulrowdys, als sie auf einmal in einen ihr noch unbekannten Gang im Erdgeschoss einschlugen. Der Gang endete mit einer Holztür, durch die sie traten. Den Raum konnte Laura direkt auf den ersten Blick deuten, es war der Krankensaal. Doch er war nicht nur weiß, wie Laura begeistert feststellte. An den Wänden hingen einige Bilder, mit den schönsten Landschaften, die die Natur zu bieten hatte, die Wände selbst hatten einen leichten Orangeton und die Decke ein fluffiges Wolkenweiß. Beschämt stellte Laura fest, dass sie sich eigentlich hätte erschrecken müssen, was sie nun schleunigst nachholte. Ist irgendwas passiert?!?, fragte sie sich panisch und sah sich um. „Da seid ihr ja endlich.“ Die strenge Stimme der Direktorin war das Zweite, das Laura einen Schreck versetzte. Der dritte Schocker, und hoffentlich der letzte, war offensichtlich der Grund, warum sie so schnell kommen sollten. Und ja, dieser Grund war es wert gewesen, auf die hinterlistigste Art zur unnötigsten Zeit geweckt zu werden. Der Krankensaal war so gut wie leer, nur ein Bett wurde besetzt. Und das ausgerechnet von ihrem besten Freund. „W-Was ist passiert?“, fragte Laura besorgt. Carsten sah fast so übel zugerichtet aus wie an jenem Tag, als er das FESJ verlassen hatte und auf die Coeur-Academy gekommen war. Er war so blass wie der Tod, unter seinen halb geschlossenen, matten lila Augen befanden sich tiefe, dunkle Augenringe. Seine Lippen waren so blau, als hätte er Stunden reglos im kalten Wasser verbracht, entsprechend zitterte auch sein Körper. Der Direktor seufzte. „Nun, das würden wir auch gerne wissen. Er ist bereits seit über einer Stunde hier und hat noch kein Wort über die Lippen gebracht.“ „Hatte er vielleicht einen Albtraum?“, vermutete Janine, doch Susanne schüttelte den Kopf. „Das hat keinen Sinn, so übel wie er aussieht… Das muss mehr als ein Traum gewesen sein.“ „Und was?“, fragte Ariane skeptisch und starrte Benni vorwurfsvoll an. „Eine Erinnerung.“, nahm er schulterzuckend an. „So ein Unsinn, so was geht doch nicht.“, murrte Anne, doch Laura ergriff Partei für Benni. „Klar geht das! Ich selbst hatte schon zwei Mal von Vergangenem geträumt, woran ich mich zuvor nicht erinnern konnte. Und zwar-“ Sie verstummte. Es war anzunehmen, dass es Benni missfallen würde, wenn er erfuhr, ein Teil ihrer beiden Träume gewesen zu sein. Dennoch warf er ihr einen wissenden Blick zu, bevor er seinen Platz an Carstens Bett verließ und zum nächstgelegenen Fenster ging. Als er es öffnete, saß ein Chip auf der Fensterbank, der seinem dreckigen, durchnässten Fell nach zu urteilen, mal wieder in den Schneematsch gefallen war. Unbeachtet, dass auf er auf Bennis T-Shirt nasse Pfotenabdrücke hinterließ, kletterte Chip auf seine Schulter, damit Benni das Fenster wieder schließen und dem frostigen Zugwind Einhalt gebieten konnte. Nachdem er zu seinem ursprünglichen Standort zurückgekehrt war, dieses Mal mit Chip auf seiner Schulter, überwand sich Susanne dazu die Meinung kundzutun, die sich wohl inzwischen in jedermanns Kopf breit gemacht hatte: „Es geht nicht anders, wir müssen wissen, was Carsten geträumt hat.“ Wieder wurde Carsten der Magnet aller Blicke. Doch der hatte immer noch seinen leeren Blick gesenkt und schien geistig überhaupt nicht anwesend. Chip machte einen Eichhörnchensprung von Bennis Schulter auf Carstens Knie, von dem er zuerst runterrutschte und dann wieder hinaufkraxelte, um Carsten mit seinem flauschigen Pfötchen auf die Nase zu schlagen. Carsten blinzelte. Langsam schien er in die Realität zurück zu kehren, bis er verwirrt seine Umgebung musterte. „Was…?“ „Alles okay?“, fragte Laura ihren besten Freund und setzte sich auf die Bettkante, wie Carsten es bereits so oft bei ihr getan hatte, wenn es ihr nicht gut ging. Doch dieses Mal war er es, der betrübt den Kopf senkte. „Ihr wollt, dass ich euch erzähle, was los ist. Ist es nicht so?“ Susanne nickte. „Das ist leider unvermeidbar, wenn wir dir helfen wollen.“ „Entweder du korrigierst das ‚wollen‘, oder das ‚wir‘.“, gab Anne in Begleitung eines fiesen Schnaubens von sich. „Vergiss es, hier wird gar nichts korrigiert.“, erwiderte Öznur trotzig. Carsten seufzte und schlang die Arme um die Knie, als würde er sich tatsächlich vor etwas fürchten. Gezwungenermaßen rollte Chip wieder runter und hopste zurück zu Benni, ehe Carsten meinte: „So oder so werde ich es euch wohl erzählen müssen…“ Jeder Muskel in seinem Körper schien sich anzuspannen, während er sprach: „Wie ihr inzwischen wisst, habe ich Valentin… ähm, Jack Masiur durch meinen Aufenthalt im… in der Schule damals kennengelernt-“ „Ha! Siehst du Anne! Doch eine Erinnerung!“, folgerte Laura schadenfroh und unterbrach damit Carstens ohnehin schon gequälte Erzählung. Ein zurechtweisender Stoß von Ariane sorgte dafür, dass Laura ein „Tut mir leid…“ murmelte und nichts weiteres mehr sagte, sodass Carsten seinen Bericht fortführen konnte. Oder eher musste. „Ich glaube, ihr braucht erst einmal etwas Hintergrundwissen, bevor ich euch… davon erzählen kann. Also, als ich damals an diese Schule kam war ich… mir der Gefahr, die von meinen Mitschülern ausging nicht… sagen wir vollständig bewusst. Dennoch… Ich tat so gut wie alles, um einen Streit zu vermeiden. Machte ihre Hausaufgaben, sonstige Arbeiten für sie und… und so weiter. Valentin, also Jack, nur dass er damals noch Valentin hieß, gehörte zu den wenigen, denen das alles eher egal war. Eigentlich mied man ihn so gut es ging, denn er fing zwar keinen Streit an, aber wenn ihn jemand provozierte, bekam er das bitter zu Bereuen. Nachdem ich mich einige Monate so irgendwie über Wasser halten konnte, gab es eine Art… Zwischenfall. In der Kurzfassung… Also im Prinzip… Ähm, irgendwie habe ich halt einige meiner Mitschüler gegen mich aufgebracht. Zur Rache arrangierten sie es so, dass es aussah als habe ich die Nobelzigarren des Direktors gestohlen.“ Carsten stieß einen bedrückten Seufzer von sich. „Natürlich hat er meiner Aussage keinen Glauben geschenkt. Für ihn war der Fall direkt klar.“ „Das ist mal wieder typisch für den verehrten Herr Adenauer. Er hatte wohl schon immer einen Narren an dir gefressen.“, kommentierte Herr Bôss und machte mit seinem Tonfall die nicht vorhandene Sympathie deutlich, die er für Carstens ehemaligen Direktor empfand. „Wieso denn das? Die Lehrer lieben Carsten allesamt.“, fragte Öznur verwundert. Der Direktor grinste. „Verständlich, bei seinem IQ und dem Charakter. Ich würde sagen, Herr Adenauer glaubt nur das, das seine Augen ihm sagen und Scharfsinn besaß er noch nie. Hinzu kommt Carstens Talent, sich ständig in solche Situationen zu bringen, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und schon steht er dauernd als Sündenbock da.“ Die Direktorin räusperte sich und schaute ihren Mann mit ihren vorwurfsvollen blauen Augen warnend an. „Keine Unterbrechungen mehr. Entschuldige Claus, ich meine Carsten, fahre bitte fort.“ Carsten schien kurz seine Gedanken zu sammeln, ehe er der Bitte der Direktorin widerwillig Folge leistete: „Nun ja… Jedenfalls wurde ich dafür dann auch bestraft. Aus irgendeinem Grund sprach sich das schnell herum und kaum hatte ich die Folterkammer- ähm, ich meine den Strafraum verlassen, wusste jeder Schüler davon. Also auch Valentin/Jack.“ „Und er spielte den lieben Freund und tröstete den armen, verheulten, kleinen Bubi, um dir dann noch mehr Arbeit aufzudrücken.“, bemerkte Anne spöttisch. „Nein, nicht wirklich.“, erwiderte Carsten und bemühte sich, so ruhig wie sonst zu klingen, wenn er auf Annes Kommentar antwortete. Doch dieses Mal gelang es ihm nicht. „Es schien ihn zu ärgern, dass ich einfach so mit mir machen ließ, was andere wollten. Vielleicht hat er auch seine Meinung über mich geändert, weil er herausgefunden hat, dass ich ein Dämonengezeichneter bin… Wer weiß, woran genau es lag, dass er mich plötzlich verteidigte.“ Carsten seufzte wieder. „Das war das erste und einzige Mal, dass tatsächlich die wahren Täter zu Rechenschaft gezogen wurde.“ „Aber du hast bei deiner ‚Bestrafung‘ geheult.“, mischte sich Anne wieder ein. „Das spielt doch keine Rolle!“, wich Carsten mit gerötetem Gesicht aus. „Valentin, Jack oder wie er sich sonst nennt, verbrachte seitdem jedenfalls recht viel Zeit mit mir und nahm mich so ein bisschen vor den anderen Schülern in Schutz. Wobei ich nicht glaube, dass es Freundschaft war, eher… eine gute Bekanntschaft…“ Tatsächlich huschten leichte Andeutungen eines Lächelns über Carstens Gesicht. „Irgendwie hat er mich an Benni erinnert… Aber so wie Benni war er oft auch ziemlich verschwiegen und hat mir nur das Nötigste erzählt. Eines Tages wurde er ins Sekretariat gerufen. Auf mein Fragen hin meinte er nur, dass dies vermutlich ein Bekannter von ihm sei, aber natürlich wusste ich nichts von einem Bekannten. Ich wurde neugierig und folgte ihm… Na ja… und dieser Bekannte war… Lukas Lenz.“ „Was?!?!? Nie und nimmer!“ Laura konnte nicht anders, als ihrem Ärger Luft zu machen. Verdammt, verdammt, verdammt, verdammt! Wenn Lukas dabei ist hat das nie was Gutes zu bedeuten! Verdammt! „Ist das nicht der Neffe von Leon Lenz? Der jüngste und erfolgreichste Politiker Damons?“, vergewisserte sich die Direktorin. Er ist ein Mörder! Ein verdammter Mörder!, schrie es in Laura. Sie verstand nicht, warum die Direktorin so ruhig blieb. Ach so, stimmt ja. Wir hatten Lukas bei dem Bericht von Johannes‘ Entführung extra weggelassen. Warum erwähnt Carsten ihn jetzt also? Oder hat er das schon vergessen? Laura verwarf diesen Gedanken sofort. Carsten besaß ein fotografisches Gedächtnis und mitgenommen hin oder her, er würde nie etwas sagen, das einen Freund in Schwierigkeiten bringen würde. Während Laura noch ihre Gedanken sortierte, fuhr Carsten bereits fort: „Ja, genau der. Ich bin kein Meister im Belauschen, daher war den beiden meine Überraschung wohl nicht entgangen. Lukas meinte, Jack solle mich zum Schweigen bringen, sonst entkäme er dieser Besserungsanstalt nie. Ich habe Panik bekommen und sofort Reißaus genommen, aber natürlich war es Jack ein Leichtes, mich einzuholen…“ Schweigen. „Was ist denn passiert?!?“, drängte Laura Carsten dazu, weiterzuerzählen. „… Ich bin die Treppen hoch, in den zweiten Stock und in den nächstbesten Raum hinein. Dass ich die Tür abgeschlossen hatte, störte Jack überhaupt nicht. Er riss sie einfach aus den Angeln… An den Rest kann ich mich nicht mehr so gut erinnern… Es ging alles so schnell… Jack sagte etwas in der Art wie ‚Sorry, Kleiner.‘, oder so, während ich von irgendetwas getroffen wurde und Glas hinter mir zersplitterte… Dann fiel ich…“ „Aus dem zweiten Stock? Autsch.“ Mitfühlend rieb sich Öznur den Kopf, aber Carsten hatte seinen Blick schon wieder gesenkt. „Immerhin schien er dich nicht töten zu wollen. Kein antiker Begabter stirbt bei so einem Sturz. Ein Dämonenverbundener erst recht nicht.“, bemerkte Susanne das vermutlich einzig Gute an der Situation. „Aber er hat es geschafft, mich zum Schweigen zu bringen.“, erwiderte Carsten betrübt. „Ja schon, aber Hauptsache ist doch, dass es dir gut geh-“ „Das ist nicht das Problem!“, unterbrach Carsten Laura schroff. Erschrocken von diesem scharfen Ton, den er für gewöhnlich nie ansetzte, zuckte Laura zusammen.
„Entschuldige… Ich…“ Seine Schultern bebten, als hätte er immer noch Angst davor, obwohl das Ereignis bereits sechs bis sieben Jahre zurücklag. Besorgt legte Laura einen Arm um die Schultern ihres besten Freundes und tatsächlich lehnte sich Carsten gegen sie, als würde er den Trost wirklich brauchen. Anne musste ihren Beruhigungsversuch natürlich sofort wieder versauen. „Heile, heile Gänschen zu machen bringt jetzt nichts. Hey du Baby, wir wollen jetzt wissen, was dein Problem ist.“ „Anne! Klappe oder raus!“ Susannes Stimme hatte alle Heilungsabsicht verloren. Mit starkem Blick auf Anne deutete sie auf die Tür, doch Anne erwiderte ihren Blick mit ihren Schlangenaugen und blieb an ihrer Stelle stehen. „Konrad, Laura, Eagle oder Johannes zu erlangen, ist Lukas misslungen. Allerdings den Orangenen Skorpion.“ Lauras Bedürfnis, Anne eine reinzuhauen musste schlagartig der Überraschung weichen, die sie fast aus dem Bett fallen ließ, als Benni eintönig die Situation erläuterte. So ähnlich ging es wohl auch Anne, die in weiser Voraussicht den Blicke-Kampf mit Susanne beendete und zwar nicht rausging, aber still blieb. „So ist das also… Valentin ist durch Lukas Lenz aus dem FESJ rausgekommen…“, murmelte der Direktor, eher zu sich selbst. „Worauf genau wollt ihr hinaus?“, fragte die Direktorin den schweigsamen Schulsprecher und angeschlagenen Musterschüler kritisch. Laura ballte zornig die Hand zur Faust. „Mein Cousin ist das Letzte! Er ist Schuld an dem Tod von Luciano, Lucia, Konrads Eltern und weiß Gott, wer sonst noch unter ihm zu leiden hatte! Er war auch derjenige, der Johannes in die Unterwelt entführt hatte, hatte Benni vergiften lassen und hetzte in Spirit eine Horde Zombies auf uns!“ Einige Minuten herrschte Totenstille, als Laura bewusst wurde, wie schwer ihnen Lukas das Leben bisher bereits gemacht hatte. „Warum habt ihr uns das nicht sofort gesagt? Wir müssen eine Anzeige erstatten!“, meinte die Direktorin vorwurfsvoll und richtete sich auf. Susanne seufzte. „Wenn Sie wüssten, wie gerne wir das gemacht hätten und wie viel Stress uns das erspart hätte und uns in Zukunft wahrscheinlich ersparen würde. Aber zu unser aller Bedauern sind Benni und Carsten strikt dagegen…“ Anne schnaubte nun doch wieder. „Ich hoffe allen Ernstes für euch, dass ihr dafür einen verdammt guten Grund habt.“ Carsten seufzte. „Lauras Vater steht immer hinter Lukas. Was dieser alles verbricht, merkt er überhaupt nicht. Er geht sogar so weit, zu behaupten, er würde den Vorsitz des Siebenerrates lieber ihm geben, als seiner eigenen Tochter.“ Auch, wenn er immer noch bedrückt klang, kamen diese Worte nun leichter über seine Lippen. Dafür zuckte Laura betroffen zusammen. „W-Woher weißt du das? …“ Kam das Gerücht oder was auch immer das war bis hinter die Gitterfenster des FESJ und nur nicht zu ihr, die davon sogar betroffen war?!? „Als wir in Indigo waren, hat mich Eagle, nachdem ihr alle wieder zurück wart, zur Seite gezogen.“ Beschämt lachte Carsten auf und wirkte plötzlich wieder nahezu normal, würde er nicht immer noch so erschöpft aussehen. „Um ehrlich zu sein hatte ich gedacht, er würde mir schon wieder ein blaues Auge verpassen wollen. Na ja, jedenfalls hatte er es mir dann erzählt. Er klang wirklich verärgert und besorgt. Ich bezweifle, dass er sich einen Spaß erlaubt hatte. Nicht bei solchen Themen.“ „Wir reden hier von Eagle! Bestimmt wollte er dich nur reinlegen!“, stritt Laura Carstens Aussage verzweifelt ab. Öznur schüttelte den Kopf. „Ich muss Carsten Recht geben, Eagle macht bei solchen Themen keine Scherze.“ Widerwillig musste Laura ihnen glauben. Eagle war zwar ein Arschloch, aber ein anständiges Arschloch. Ihm würde es garantiert auch gegen den Strich gehen, wenn ausgerechnet Lukas die Herrschaft seiner Nachbarsregion übernahm. Die Herrschaft, die eigentlich sie… „Das ist nicht fair… Ich meine… Ich weiß, dass ich einfach nicht für so eine Rolle wie den Vorsitz gemacht bin, aber…“, schluchzte Laura und hielt mit aller Mühe ihre Tränen zurück. Das peinlichste, was ihr jetzt noch passieren konnte war, während der Anwesenheit der Direktoren weinen zu müssen. Die ihren Gefühlskampf natürlich bemerkten. „Hey eiskalter Engel, fass dir ans Herz und nimm das Mädchen mal in den Arm. Das würde ihr sicher gut tun.“ Der Direktor schien seine Worte tatsächlich todernst zu meinen. Noch nicht einmal die leichte Belustigung war zu hören, mit der er sonst den Spitznamen betonte, den er Benni einst gegeben hatte. Laura vergrub ihr Gesicht in Carstens T-Shirt, als hätten sie nun die Rollen des Trösters und Getrösteten getauscht. „Nein.“, murmelte sie so leise, dass außer Benni es höchstens Carsten hätte hören können. „Er hasst mich, er würde mich nie trösten wollen. Ich habe doch fast Chip-“ Carsten strich ihr über das Haar. Er hatte sie gehört. Benni auch. Doch natürlich wurde Laura nicht enttäuscht, als sie merkte, dass Benni sich trotzdem keinen Millimeter gerührt hatte. Etwas anderes hatte sie nicht erwartet. Noch bevor der Direktor zu Wort kommen konnte, kommentierte Ariane: „Das ist mal wieder typisch für dich!“ Laura war überrascht, dass die Standpauke so kurz war. Aber inzwischen schien auch Ariane verstanden zu haben, dass Zurechtweisungen bei Benni keinen Sinn hatten. Genauso wenig wie Schuldeingeständnisse. Was hatte sie sich dabei gedacht? Dass Benni vielleicht Gnade zeigen würde? Räuspernd machte Janine auf sich aufmerksam und meinte zögernd: „Aber wenn das sogar so weit geht, dass Lukas statt Laura die Führungsposition bekommen soll, sollten wir dann nicht erst recht einschreiten? Ich meine… Nicht, dass Yami genauso endet… wie Mur…“ Laura wollte erst gar nicht wissen, wie es war, unter dem Einfluss eines grausamen Diktators leben zu müssen. Dass ausgerechnet Janine dieses Schicksal widerfahren musste… „Wobei wir Lukas zwar nicht beseitigen, ihm aber immer noch Einhalt gebieten können.“, stellte Susanne fest. Anne verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum nicht gleich beseitigen, wenn wir ihn schon aufhalten können?“ „Wenn wir ihn ‚nur‘ aufhalten hat er keine Chance, sich bei Leon Lenz zu beschweren, ohne, dass seine Taten notgedrungen auffliegen werden. Wenn wir ihn allerdings beseitigen, wird sich Lauras Vater seine eigenen Gründe kreieren und das wird fatale Folgen für unseren Gruppenzusammenhalt haben.“, erklärte Carsten. „Dann erkläre mal bitte näher, was du unter ‚fatale Folgen‘ und ‚Gruppenzusammenhalt‘ verstehst.“, verlangte Anne zynisch. Trotz ihrer kritischen Andeutung erwiderte Carsten, inzwischen wieder so ruhig wie sonst: „Unter Gruppenzusammenhalt verstehe ich: Für einander da zu sein. Unter fatale Folgen: Wir werden ohne den Stärksten von uns auskommen müssen.“ Automatisch wanderten alle Blicke zu Benni, sogar Chip richtete seine glänzenden Knopfaugen auf ihn, als habe er tatsächlich verstanden, was Carsten gesagt hatte. „Verdammt ey, immer machst du uns Probleme! Langsam fang ich an zu glauben, wir wären ohne dich besser dran.“ „Anne!“, ermahnten nahezu alle Mädchen außer Anne selbst sie dazu, ihr loses Mundwerk im Zaum zu halten. „Warum eigentlich?“, fragte Öznur daraufhin hastig nach, doch so freundlich ihre Absicht auch gemeint war, Benni hatte noch nicht einmal Notiz von Annes Aussage genommen. „Wie soll ich es beschreiben… So groß seine ‚Liebe‘ zu Lukas ist, oder wie man das bezeichnen soll, so groß ist der Hass, den Leon Lenz für Benni empfindet. Dummerweise hat er was gegen ihn in der Hinterhand und nur ein falscher Schritt, dann hättet ihr euch die Mühe in Indigo sparen können, wie Benni sagen würde.“, erklärte Carsten, den Laura unverzüglich verwirrt mustern musste. „Wie: ‚Was in der Hinterhand‘? Für den Mord an den drei Profi-Kampfkünstlern wurde Benni doch schon bestraft und das war, dachte ich, sein schlimmstes Verbrechen.“ „Mord?!“, fragte Ariane kritisch. „Hast du etwa noch mehr verbrochen?“, ergänzte die Direktorin noch kritischer. Aber von Benni konnten sie keine Antwort erwarten. „Das stärkt unseren Gruppenzusammenhalt jetzt aber auch nicht.“, witzelte Anne spöttisch. „Abgesehen davon, hast du doch so viele Bekannte und Freunde, die dir helfen würden.“, meinte Öznur ermutigend, doch Carsten konnte nur seufzend erwidern: „Das bringt leider rein gar nichts. Daher müsst ihr es auch nicht unbedingt wissen, denn diese Situation ist eine Sackgasse.“ „Ich will es trotzdem wissen!“, beschwerte sich Laura verärgert. Sie konnte ja verstehen, dass Benni seine Geheimnisse hatte, aber so viele wie er hatte sonst wohl keiner… Wobei Laura auch nichts von den Geheimnissen der anderen wusste… Ein amüsiertes Schmunzeln umspielte Carstens Lippen. „Im Prinzip müsstest du es eigentlich auch wissen.“ Ihr wie immer so intelligentes „Hä?“ konnte sich Laura nicht verkneifen, aber eine weitere Erklärung kam nicht. Der Direktor seufzte. „Also ist Valentin nun auf der Seite von Lukas, der unerwarteter Weise auf der Seite dieses Unzerstörbaren zu stehen scheint. Nur, weil Lukas es war, der ihn aus dem FESJ retten konnte…“ „Wie meinen Sie das?“, erkundigte sich Janine. Doch der Direktor schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Gähnen. „Ich bin der Meinung, den Rest können wir besprechen, wenn nicht gerade die Zeit fürs Schlafen ist.“ Die Direktorin gab ihrem Mann zum ersten Mal Recht. „In der Tat solltet ihr wieder ins Bett gehen. Dieser Vorfall befreit euch keinesfalls vom Unterricht.“ Sie wandte sich Carsten zu. „Wobei ich dich bitten möchte, über Nacht hierzubleiben und dich morgen von der Krankenschwester auf bleibende Schäden wie einer posttraumatischen Belastungsstörung untersuchen zu lassen. Sie wird dann entscheiden, ob du in der Lage bist, am Unterricht teilzunehmen, oder nicht.“ Wortlos nickend befolgte Carsten ihre Anweisung. Alle außer Carsten verließen den Krankensaal somit wieder. Wobei, fast alle. Aus den Augenwinkeln bemerkte Laura noch, wie Benni sich neben Carstens Bett auf den Boden setzte, als wolle er ein Gespräch mit ihm beginnen. Gerührt und traurig zugleich seufzte sie. Zumindest um Carsten scheint er sich noch Sorgen zu machen… Als sie wieder in ihren Zimmern waren, stellte Laura bestürzt fest, dass sie mit ihrem Einschlafproblem nur noch etwa eine Stunde Schlaf hätte. Beneidend linste sie zu Ariane rüber, die schon zufrieden vor sich hinschlummerte und wartete sehnsüchtig darauf, dass der Schlaf auch sie übermannen möge. Kapitel 21: Karussell der Gefühle --------------------------------- Karussell der Gefühle Gähnend mühte sich Carsten aus dem Bett und befand sich wenige Minuten später bereits auf dem Weg zur Mensa. Der Besuch bei den anderen Dämonenbesitzern lag knapp eine Woche zurück, ebenso die aus heiterem Himmel zurückgekehrte Erinnerung an Valentins oder eher Jacks vermutlichen Aufenthaltsort: Bei dem Widersacher. Was das betraf, so hielt die Krankenschwester eine posttraumatische Belastungsstörung für unwahrscheinlich, weshalb Carsten auch wieder wie gewohnt den Unterricht besuchte. Nur von seinen Mitschülern erntete er manchmal irritierte Blicke, da sich sein seltsamer Albtraum wie ein Lauffeuer verbreitet hatte. Betrübt setzte sich Carsten auf den Rand des Springbrunnens. Er hatte lange gebraucht, die Krankenschwester davon zu überzeugen, dass mit ihm wirklich alles in Ordnung sei. Und nur Benni war noch schwerer zu überzeugen gewesen. Nein, Carsten wusste, dass er diesen elenden Sturkopf in Wahrheit gar nicht erst hatte überzeugen können. Leeren Blickes betrachtete Carsten seine Umgebung und versuchte, die Erinnerungen an vergangene Tage damit zu überblenden. Die weiße Winterlandschaft hatte sich letzte Woche über Nacht verabschiedet und hinterließ ein ekliges, nasskaltes Tauwetter für die kommenden Wochen. Und ausgerechnet an so einem grauen, trübseligen Tag war Carsten geboren worden. Das war so deprimierend. Er hätte viel lieber im Frühling Geburtstag, so wie Laura. Wenn die Natur und die damit erstrahlende Farbenpracht wieder aus dem Winterschlaf erwacht war. Dieses eintönige Grau-braun seiner Umgebung erinnerte Carsten direkt wieder an das FESJ… An seine ersten Monate dort, als- Zitternd verschränkte Carsten die Arme vor der Brust und versuchte, die Bilder der Erinnerungen aus seinem Kopf zu verbannen. Ein strahlend klingendes Quietschen ließ Carsten hochschrecken. Im nächsten Moment kam ein braunes Fellbüschel auf ihn zugeschossen. Aus Reflex versuchte Carsten ihm auszuweichen, fiel dabei allerdings kopfüber in das immer noch kalte Wasser des Brunnens. „Chip, warum hältst du eigentlich keinen Winterschlaf?!“, beschwerte sich Carsten bei dem Eichhörnchen, das nun wie ein kleines Kind fröhlich im Wasser herumplanschte und von dessen Eiseskälte unbeeindruckt blieb. Zum Glück war es wie immer sehr früh und daher befand sich nur ein weiterer Anwesender in der Nähe. „Kannst du es nicht jedenfalls versuchen, ihm Manieren beizubringen?“, wurde Benni der nächste Betroffene seiner Beschwerde. Zähneklappernd mühte sich Carsten aus dem Brunnen und stotterte sich einen Trockenzauber zurecht. Der allerdings überflüssig wurde, als ihn eine Ladung Wasser von Chips Herumgeplansche nassspritzte. Grummelnd entfernte sich Carsten einige Schritte vom Brunnen und zauberte sich erneut trocken. Natürlich erwiderte Benni nichts, aber Carsten wusste genau, dass sich dieser Sadist auf seine eigene Art amüsierte. „Gehen wir rein?“, fragte Carsten um das Thema zu wechseln und bekam als Antwort ein knappes Nicken. Carsten würde nur zu gerne wissen, wie Benni tatsächlich mit Tieren kommunizieren konnte. Denn kaum war es beschlossene Sache, dass sie reingehen wollten, sprang Chip von dem Brunnen auf Carstens Kopf und schüttelte sich so trocken, dass es aussah, als habe er sich in triefenden Regen gestellt. Ausnahmsweise setzte sich Benni nicht an den Tisch der Schülervertretung, sondern nahm neben Carsten an einem ganz normalen Schülertisch Platz.
Kurz darauf kamen die notorischen Frühaufsteher der Mädchen hinzu, deren Reaktion unterschiedlicher Begeisterung war, als sie sahen, dass Benni zum Frühstücken bei der Gruppe und nicht bei der Schülervertretung saß. „Was hast du hier zu suchen?“, fragte Anne mit der fehlenden Begeisterung. Susanne hingegen empfing Benni so freundlich wie immer: „Schön, dich mal bei uns zu treffen. Guten Morgen.“ Benni erwiderte ein knappes „Morgen.“ und schwieg die restliche Zeit. Auch als Öznur, Ariane, Janine und Lissi kamen, sagte er nichts. Kurz darauf kam Laura, wie immer als Schlusslicht der Gruppe und fiel Carsten spontan, stürmisch um den Hals. „Alles Gute zum Geburtstag!“ Aus Spaß hätte Carsten beinahe gerufen: ‚Willst du mich umbringen?!‘, aber da Laura dadurch vermutlich wieder an eine gewisse Situation denken würde, hielt er sich lieber zurück. Stattdessen mühte er sich zu einem herzlichen „Danke.“, als Laura ihm ein Geschenk in die Hand drückte. Das Geschenk war nicht das Problem, eigentlich konnte Carsten es kaum erwarten, das schwarze Geschenkpapier mit den weißen Punkten aufzureißen. Auch wenn es kindisch klang. Immerhin hielt er zum ersten Mal seit sechs Jahren wieder ein Geschenk in den Händen! Er darf also so denken! Das eigentliche Problem bestand allerdings darin, dass durch Lauras Auftritt nun wohl jedem klar war, um welchen Tag es sich handelte. Und eigentlich mochte Carsten es nicht, wenn so viele davon Wind bekamen. Zwar war er nicht so verschlossen wie Benni, aber dennoch fühlte er sich bei den Gratulationen irgendwie… beschämt. Auch wenn er dafür keinen Grund finden konnte, immerhin war es etwas völlig Normales, wenn man zum Geburtstag gratuliert bekam. Lag es vielleicht an seiner Schüchternheit? „Wie, du hast Geburtstag?“, fragte Öznur kritisch. „Warum hast du uns nichts gesagt?!“ „Na ja, äh…“, setzte Carsten an, wurde allerdings von Ariane unterbrochen: „Du solltest dich was schämen! Weil wir nichts von deinem Geburtstag wussten, können wir dir jetzt nichts schenken! Und jetzt besteht dein Geschenkeberg aus nur einem Buch!!!“ „Also Nane-Sahne, die Geschenke sind doch nicht das Wichtigste an einem Geburtstag.“ Lissi sprang auf und schlang die Arme um Carsten. „Viel wichtiger ist es doch, an so einem Tag bei seinen besten Freunden zu sein! Alles Liebe, mein Süßer!!!“ Nacheinander taten nun alle Mädchen das, das Carsten an Geburtstagen am wenigsten mochte. Sie gratulierten ihm. Mal mehr und mal weniger herzlich, wobei das weniger herzlich eigentlich nur auf Anne zutraf. „Und wann gibt’s Kuchen?“, erkundigte sich Ariane und blickte Carsten erwartungsvoll an. „Was?“, fragte dieser verwirrt. Kuchen? Schnaubend wandte sich Ariane ab, um sich eine Serviette zu schnappen und von irgendwo einen Kugelschreiber heraufzubeschwören. „Also, bevor jemand von euch es wieder verschweigt und ich dadurch keinen Kuchen bekomme, sagt ihr mir alle jetzt euren Geburtstag. Aber pronto.“ Auffordernd schaute sie in die Runde, ihr Blick blieb an Benni haften. Durchdringend sah sie ihn an. „Wann?“ „Fünfzehnter Januar.“ „Verdammt!“, fluchte Ariane und warf kurz darauf einen anklagenden Blick in Lauras Richtung. „Das war es also! Das Ding, das du nach deinem Verschwinden mitgebracht hast! Du weißt schon, beim Neujahrsball am fünfzehnten Januar! Das war also sein Geschenk!“ „Äh…“ Laura lachte verlegen auf. „Eventuell…“ „Das kann doch nicht wahr sein!!!“ Ariane pfefferte die Serviette davon und wurde kurz darauf von einer Elfe ausgeschimpft, die sie versehentlich am Kopf erwischt hatte. „Das ist doch jetzt egal, wir können Carstens Geburtstag ja nachfeiern.“, schlug Öznur vor. „Schön, dass ihr mich fragt, ob ich überhaupt feiern will.“, entgegnete Carsten sarkastisch. „Schäm dich, klar willst du!“, warf Ariane ein und schnippte grausam die kleine Elfe weg. „Also Özi, was hast du vor?“ Öznur zuckte mit den Schultern. „Es ist ja kein wirkliches Nachfeiern. Kommendes Wochenende ist doch der Jatusaner-Markt. Wie wär’s, wenn wir Samstag dahin gehen?“ „Ihr seid wirklich fies.“, kommentierte Susanne. „Was?!? Wieso denn?“, erkundigte sich Öznur betroffen. Susanne lachte heiter auf. „Weil Benni doch am Samstag auch nachmittags Unterricht hat. Wenn, dann sollten wir sonntags hin, damit wir komplett sind. Das wäre zuvorkommender.“ „Oh, das hab ich ganz vergessen… Sorry, hehehe…“, verlegen kratzte sich Öznur am Hinterkopf. Benni schüttelte den Kopf. „Ich kann sowieso nicht mit.“ „Warum?“, fragte Laura enttäuscht. Carsten lachte auf. „Ach so, Benni muss doch noch zu Johannes. Wie wäre es, wenn wir uns mit ihm auf dem Markt treffen? Hausbesuche magst du sowieso nicht.“ Benni zuckte mit den Schultern und Carsten nahm sich die Freiheit, das als ein ‚ja‘ zu deuten. „Dann gehen wir am Sonntag also alle auf diesen Jatusaner-Markt.“ ~*~ Mist, Mist, Mist! Ich hab verschlafen! Warum hat mich keiner geweckt? Rechtzeitig! Verdammt, das ist so gemein! Eilig schlüpfte Laura in ihre Anziehsachen. Schwarz, Rock, Mantel. Wie immer. Sie wusste nicht, warum sie sich jetzt eigentlich noch beeilte. Als allseits bekannter Langschläfer wäre Laura natürlich nie in der Lage, von sich aus um neun Uhr morgens aufzuwachen, um mit dem Bus um zehn nach Jatusa zu fahren. Einen Wecker hatte sie sich auch nicht gestellt, dieses verdammte Gerappel verbreitete viel zu schlechte Laune. Sie war davon ausgegangen, dass Ariane sie wecken würde. Hatte sie ja auch. Um fünf vor zehn. „Wach auf, sonst verpasst du den Bus.“, hatte sie gesagt. Na prima! Ich bin aufgewacht! Und hab ihn trotzdem verpasst!!! Also musste sie mit dem eine Stunde später fahren. Laura machte sich fertig, ging in die Mensa, aß etwas und schlenderte schließlich immer noch vollkommen verstimmt zur Bushaltestelle der Schule vor dem großen Eingangsportal. Und dort stand Laura nun. Und wartete. Und wartete… Und wartete… … Laura warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Punkt elf. Wann kommt dieser Bus?!? Noch nie war sie alleine mit dem Bus in die Stadt gefahren. Eigentlich war sie noch nie in ihrem Leben alleine mit dem Bus gefahren. Langsam stieg in Laura die Panik auf. Was war, wenn der Bus schon früher da war und sie zu spät? Oder… Nein. Nein, das kann nicht sein! Ich wusste es! Ich wusste es!!! Es ist wahr! Es ist wahr!!! Der Bus verwandelt sich gerade in ein Monster!
Es wird mich fressen!!! Nahezu hysterisch ging Laura im Kreis herum, wie ein Löwe in seinem Käfig. Dass ihre Mitschüler sie verwirrt musterten, fiel ihr erst gar nicht auf. Sollte sie laufen? Nein, das würde zu lange dauern. Sie musste den Bus nehmen, ihr blieb keine andere Wahl. Auch wenn dieser sie fressen würde… „Alles okay?“ Ein Mädchen, etwas älter als Laura, mit braunen, gelockten Haaren, musterte sie besorgt. „Der Bus war noch nicht da, oder?“, erkundigte sich Laura, konnte die Hysterie in ihrer Stimme allerdings nicht zurückhalten. Das Mädchen lachte auf. „Oh nein, der kommt erst um viertel nach und hat meistens fünf Minuten Verspätung.“ Laura hörte für ein paar Sekunden mit ihrem im Kreis Gelaufe auf. Viertel nach. Meistens fünf Minuten Verspätung… Ariane hatte sie doch noch rechtzeitig geweckt!!! Das hätte die ruhig sagen können! Bevor Laura wieder dazu kam, im Kreis zu rennen, fragte sie das Mädchen lieber: „Und der Bus verwandelt sich nicht in ein menschenfressendes Monster, oder?“ Das Mädchen lachte wieder auf. „Garantiert nicht.“ Um besonders mysteriös, oder eher bekloppt, zu wirken, meinte Laura nur: „Na, wer weiß…“, als auch der Bus um die Ecke bog. Sie versuchte, sich unbemerkt an das Mädchen zu kletten, um während der Busfahrt nicht völlig aufgeschmissen zu sein. Natürlich war das unbemerkt relativ. „Du möchtest doch sicher auf den Markt, oder?“ Als wäre es dem Mädchen entgangen, dass Laura einen Sitz hinter ihr beschlagnahmt hatte. Zögernd nickte sie. Sie zeigte auf die sich gerade öffnenden Türen. „Dann musst du hier raus.“ „Oh, neiiin! Halt, bleibt offen! Danke! Tschüss! Äh…“ Ungelenk quetschte sich Laura an der einsteigenden, drängenden Menschenmasse vorbei, bei ihrem Versuch, den Bus zu verlassen. Nach mehreren Misserfolgen, bei denen sie immer wieder im Bus landete, schaffte sie es schließlich doch noch nach draußen. Schwer atmend schaute Laura dem wegfahrenden Bus nach. Es war grausam. So etwas würde sie nie wieder in ihrem Leben machen. Das nächste Problem wartete bereits: Wie soll ich die auf diesem riesigen Gelände finden?! Deprimiert schlenderte Laura bereits seit einer halben Stunde auf dem Markt herum, ohne Erfolg. Ihr Handy?
Hatte sie vergessen aufzuladen. Endlich hörte sie eine ihr zwar nicht allzu vertraute, aber dafür umso eindeutigere Stimme: „Onkel, Onkel, Onkel, lass uns zum Riesenrad gehen! Ach nö, ich will lieber zum Autoscooter, das Riesenrad ist langweilig! Aber Mama sagt, Autoscooter sind gefährlich, ich will zum Zuckerwattestand! Aber Zuckerwatte macht die Zähne kaputt… Ich weiß, du gewinnst für mich beim Dosenwerfen eine große, flauschige Katze! Nein, einen Killerwal! Nein, eine Katze! Nein-“ „Wie wär’s mit der Geisterbahn?“, schlug Anne mit verräterischer Freundlichkeit vor. „Ja! Tolle Idee, Jungs-hasser-Tante!“ Naiv und voller Begeisterung zog Johannes Benni zu der Geisterbahn. Dieser hatte sich auf Carstens Drängen hin doch tatsächlich darauf eingelassen, Johannes‘ Mutter anzurufen, um ein Treffen zu organisieren. Sie war nicht davon begeistert, dass auch Johannes gegen diesen Gegner kämpfen musste, doch als sie Benni auf Gott und alles, was ihm lieb sei schwören ließ, ihren Sohn mit seinem Leben zu beschützen, war sie beruhigt. Die arme Frau konnte ja nicht wissen, dass Benni Atheist war. „Hey Laura, schön, dass du auch noch gekommen bist!“, grüßte Ariane sie freudig. „Viertel nach. Viertel nach! Viertel nach!!! Das hätte ich noch geschafft!!!“, schrie Laura anstelle einer Begrüßung. Ariane zuckte mit den Schultern und grinste sie nur belehrend an. Schnaubend wandte sich Laura ab. Sie war mal wieder erstaunt, wie geduldig Benni doch sein konnte, obwohl er gerade als unfreiwilliger Babysitter vor der Geisterbahn stand und das Geschwätz eines zehn bis elf Jährigen über sich ergehen ließ. „Aber die Geisterbahn ist echt eine gute Idee, Anne. Ich möchte auch mal fahren.“, lobte Öznur Anne für ihren Vorschlag, der für diese wohl ein Schuss in den Ofen war. Verstimmt schüttelte sie den Kopf. „Ich will aber nicht.“ Also packte sich Öznur diejenige, die ihr am nächsten stand. „Dann fahr ich halt mit Nane! Wird sowieso viel lustiger mit ihr an meiner Seite, als mit dir.“ „Ähm Özi-“, setzte Ariane an, wurde aber von Öznurs enthusiastischem „Komm schon Nane, das wird lustig!“ unterbrochen. „Also Benni, wir fahren nach euch.“
Doch Benni schüttelte den Kopf. „Das ist Geldverschwendung.“ Anne stöhnte auf. „Oller Geizhals.“ „Och bitte, Onkel. Ich will Geisterbahn fahren!“, flehte Johannes in einem herzzerreißenden Ton. „Jetzt komm schon, Benni!“, forderte Carsten seinen sparsamen, dickköpfigen, besten Freund lachend auf. Doch selbst er konnte Bennis Meinung nicht ändern. Stattdessen bekam er von ihm gekontert: „Fahr du doch.“ „Ähm… Nein, danke…“, lehnte Carsten verschüchtert ab, aber zum Glück war Johannes flexibel. „Mit dir würde ich auch gerne fahren, schlauer Onkel! Willst du, willst du willst du???!!!??? Bitte?“ Seufzend gab Carsten nach. „Na gut…“ „Juhuuu!“ beschwingt sprang Johannes Carsten um den Hals. „Du bist ein lieber schlauer Onkel!“
„Na ja…“ Carstens Wangen hatten sich rötlich gefärbt, bis er es endlich geschafft hatte, den nun zufrieden gestellten Johannes wieder auf den Boden zu bekommen. Carsten wandte sich den anderen zu. „Und ihr?“ „Wir werden garantiert nicht warten!“, schnauzte Anne. „Also ihr Süßen, ich gehe ins Zelt.“, trällerte Lissi. Anne schnaubte. „Ich nicht.“ „Schön zu wissen, was du alles nicht willst.“, mischte sich nun auch Laura ein. „Okay, miese Laune mal beiseite. Wie wäre es, wenn wir uns jetzt einfach alle aufteilen und dann in einer Stunde im Zelt treffen? Ich will noch was essen.“, schlug Ariane vor, aber natürlich nicht, ohne sich dadurch einen eigenen Vorteil zu verschaffen. Immerhin damit war jeder einverstanden. „Ich versteh‘ es immer noch nicht. Warum bin ich mit euch gegangen? Warum?!?“, beschwerte sich Anne nun zum x-ten Mal. Während Lissi ins Zelt gegangen war, Susanne bei irgendeinem Stand noch etwas gucken wollte und sich Ariane, Öznur, Carsten und Johannes zu Tode gruseln wollten, hatten Laura, Janine, Benni und Anne beschlossen, planlos auf dem Markt herumzuwandern und sind natürlich auch allesamt in dieselbe Richtung gegangen. „Du kannst immer noch gehen. Niemand wird dich daran hindern.“, erwiderte Laura gereizt. Ich glaube, wir wären alle eher froh. Anne ruiniert die gesamte Atmosphäre. Na gut, bei der Atmosphäre konnte sich Laura sowieso nichts erhoffen. Janine war total schüchtern, Laura auch und Benni hasste sie immer noch wegen dem Vorfall mit Chip. Das knuffige Eichhörnchen mied Laura seitdem übrigens auch so gut es ging… Als sie deprimiert den Kopf senken wollte, zischte Anne allerdings: „Damit ihr beide dem da schutzlos ausgeliefert seid? Nur über meine Leiche.“ „Soll ich mich über deine Fürsorge nun freuen oder sie als krankhaft ansehen?“, rätselte Janine, überraschend schlagfertig. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Benni über uns herfällt?!?“, fragte Laura Anne empört, die natürlich mit einem „Doch.“ antworten musste. Laura schnaubte. „Selbst wenn, du könntest ihn sowieso nicht aufhalten.“ „Ach ja? Aber du könntest das, oder wie?“, zickte Anne drauf los. Erschrocken zuckte Laura zusammen, wobei sie sich eingestehen musste, dass sie mit so einer Reaktion von Anne hätte rechnen müssen. Die Besitzerin der Grünen Schlange konnte es einfach nicht ertragen, jemandem unterlegen zu sein. Eine Eigenschaft, die Anne mit Eagle teilte. „Nein, Anne, du weißt, dass ich das nicht kann. Genauso gut wie jeder andere von uns.“ Überrascht stellte Laura fest, dass sie noch vollkommen beherrscht war. Im Gegensatz zu Anne. Diese zeigte auf einen dieser komischen Teile, auf die man mit einem Hammer schlug, um seine Stärke sehen zu können. „Beweise es mir.“ Verständlicher Weise brauchte Laura etwas Zeit, um Annes Aussage in dieser ohnehin schon seltsamen Diskussion verstehen zu können. „Du willst also sehen, wie ich versage…“, folgerte sie langsam. Anne nickte als Antwort. „Nur, wenn du danach die Klappe hältst.“, stellte Laura die Bedingung auf und war zufrieden, als Anne diese akzeptierte. Laura wurde schon oft genug wegen ihrer Schwäche gedemütigt, aber wenn sie dafür für den restlichen Tag ihre Ruhe haben würde, nahm sie das gerne in Kauf. Der Kerl am Stand war der reinste Muskelprotz, schien aber keine antike Begabung zu besitzen. „Ein Mal.“, forderte Laura ihn auf und drückte ihm den entsprechenden Betrag in die Hand. „Viel Glück, junge Dame.“, höhnte dieser, ehe er Laura den Hammer gab und sie zuschlug. Während dem Muskelprotz die Kinnlade herunter fiel, kommentierte Anne nur: „Du hast es noch nicht mal zu dem Strich mit antiker Begabung geschafft. Für einen Normalo mag das ja viel sein, aber für jemanden mit antiker Begabung und das auch noch für das Physische, ist das erbärmlich schwach.“
„Du hast versprochen, nichts mehr zu sagen!“, beschwerte sich Laura. „Außerdem gibt’s halt auch bei solchen wie wir es sind Starke und Schwache. Mit einem Strich zu sagen, ab da besitzt du eine antike Begabung, kann man halt nicht!“ Es hatte den Anschein, als wolle Anne noch etwas erwidern, aber sie blieb endlich still. „Hey du Hübsche, das war ja ein wahnsinniger Schlag!“, rief der Typ vom gegenüberliegenden Stand Laura zu. Er war ziemlich groß, hatte dunkelbraunes Haar, leuchtende, blaue Augen und sah für einen Besitzer einer Schießbude ziemlich attraktiv aus. Beschämt kratzte sich Laura am Hinterkopf. Sollte das ein Kompliment sein? „Ähm, danke…“ Der junge Mann wies Laura an, zu ihm rüber zu kommen, die seine Aufforderung zögernd befolgte. „Komm her, die fünf Schüsse gehen aufs Haus. Weil du so süß bist.“ Flirtet der mit mir?!, stellte Laura erschrocken fest. Erst wollte sie einen kurzen Seitenblick auf Benni werfen, hielt sich dann aber doch zurück. Die Verlockung war zu groß, Benni mal ein bisschen auf diese Art zu ärgern. Wer weiß, wann Laura wieder so eine Gelegenheit hätte. Außerdem würde sie gerne wissen, wie er darauf reagieren würde. Obwohl sie eigentlich wusste, dass ihre Mühen auf eine äußerliche Gefühlsregung völlig vergeblich sein würden. Er hasst mich ja sowieso… Laura versuchte trotzdem, sich nichts anmerken zu lassen. „Gerne, vielen Dank.“ „Du musst versuchen, diese Plättchen hier zu treffen. Je nachdem, wie viele du triffst, kannst du dir aus dem entsprechenden Regal etwas aussuchen.“, erklärte der Typ und Laura fiel auch sofort etwas ins Auge: Eine schwarze Mütze mit Katzenohren. Dummerweise war an dem Regal, in dem sie sich befand, eine fünf ausgeschildert. Das pack ich doch nie… Laura atmete tief durch. „Ein Versuch kann ja nicht schaden.“ Der Typ nickte lächelnd und reichte ihr das Gewehr. „Genauso seh‘ ich das auch. Es ist ein recht schweres Modell, aber als Kampfkünstlerin dürfte sich das als kein Problem erweisen.“ Als Laura es ihm abnahm, stellte sie leicht erfreut fest, dass es tatsächlich nicht so schwer war, wie es scheinbar sein müsste. Der Typ begann ihr zu erklären, wie man es anlegte, um abfeuern zu können und stellte dabei unangenehm viel Körperkontakt her. Laura war negativ überrascht, dass Anne darauf gar nicht reagierte, aber sie nahm sich vermutlich ihre Bedingung zu Herzen, blieb still und amüsierte sich sicherlich insgeheim auch noch über Lauras Lage, während diese sich angestrengt auf die Erklärungen konzentrierte, um sich von anderem abzulenken. Denn es war ihr wirklich mehr als unangenehm. Flirteten die Leute tatsächlich so?! Wenn ja, würde Laura nie wieder in ihrem Leben mit jemandem flirten wollen! Als der Kerl endlich fertig war, setzte Laura das Gewehr an, wie ihr beschrieben wurde, und zielte auf ein Plättchen. War das Chip? Nein, sie hatte es sich garantiert nur eingebildet. Wieder!
Das war keine Einbildung! Oder doch? Ständig tauchte ein kleines, flauschiges, fettes Eichhörnchen als Zielscheibe auf, anstelle des Plättchens. Laura merkte, wie stark ihr Körper zu zittern begann. Ehe sie etwas tat, das sie am Ende noch bereuen würde, legte Laura schnell das Gewehr ab. „Tut mir leid… Ich kann das nicht.“ Enttäuscht warf Laura einen Blick auf die Mütze. Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Der Typ bemerkte ihre Enttäuschung über sich selbst und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Schon in Ordnung, aller Anfang ist schwer.“ „Was du nicht sagst.“, gab Laura ihm Recht, als der Typ plötzlich auf Benni zeigte. „Hey du, wie wär’s, wenn du die Schüsse für die junge Dame übernimmst und ihr den Gewinn überlässt?“ „Dann wäre es kein Gewinn mehr.“, erwiderte Benni trocken. Seufzend schüttelte der Typ den Kopf. „Ist der immer so drauf?“ Nun doch etwas amüsiert kicherte Laura. „Ja, leider. Aber vielen Dank für das Angebot.“ „Kein Problem. Wenn du dich doch noch überwindest, komm ruhig vorbei, das Angebot bleibt bestehen.“, verabschiedete sich der Typ aus der Schießbude von ihnen. ~*~ „Vielen Dank.“, bedankte sich Susanne bei dem Herrn am Schmuckstand, als dieser ihr das gewünschte silberne Medaillon reichte. „Ich habe zu danken, junge Dame. Wenn ich fragen darf, für wen ist denn dieses Schmuckstück gedacht?“ „Natürlich dürfen Sie fragen.“, antwortete Susanne offenherzig. „Es ist für meine Schwester. Ich habe irgendwie die Befürchtung, dass wir uns immer weiter auseinanderleben. Da soll sie jedenfalls eine Erinnerung von unserer gemeinsamen Zeit haben.“ Der Herr lächelte sie aufmunternd an. „Ach, junge Dame, glauben Sie mir, darum müssen Sie sich nicht sorgen. Das einzige, dass das starke Band von Geschwistern auseinanderreißen könnte, wäre der Tod und der liegt noch in weiter Entfernung.“ Susanne atmete tief durch. „Ihr habt Recht, manchmal mache ich mir wirklich zu viele Gedanken, dass die Eigenarten meiner Schwester Auswirkungen auf uns haben könnten… Das ist eigentlich gemein, ihr gegenüber. Ich sollte auf sie vertrauen. Auf Wiedersehen und nochmals vielen Dank.“ Susanne war wenige Meter gegangen, als sie hörte: „Hey Süße, wusst‘ ich doch, dass ich dich hier treffe.“ Überrascht drehte sich Susanne um. „Oh, hallo Kaito. Du musst mich mit meiner Schwester verwechselt haben.“ „Oh, deine Schwester ist auch hier? Wo denn? Ich seh sie gar nicht.“
„Sie ist im Zelt. Aber du hast mich vermutlich falsch verstanden…“, versuchte Susanne ihm geduldig zu erklären, dass sie nicht Lissi war. „Im Zelt! Eine wunderbare Idee! Na? Seh‘ ich dich dort in ‘ner viertel Stunde?“ Susanne gab es auf. „Vermutlich. Ich treffe mich dort gleich mit meiner Schwester und einigen Freunden.“
„Na, dann ist ja prima! Also, bis später.“, meinte Kaito gut gelaunt, packte sie an der Taille, zog sie zu sich und küsste sie. Auf den Mund. Mit Zunge. Dann ging er davon. Wie vom Blitz getroffen stand Susanne nun da. Das war doch eben nicht wirklich passiert. Das konnte nicht ihr erster Kuss gewesen sein, das durfte er nicht!
Verzweifelt versuchte sie, die Beherrschung wieder zu erlangen. So aufgewühlt, wie sie eben war, konnte sie nicht ins Zelt zu den anderen gehen. ~*~ Deprimiert saß Laura bei den anderen im Zelt und starrte auf die Cola, die unberührt im Glas umherschwappte. Sie hätte die Mütze nie bekommen, dazu hätte sie jedes Mal treffen müssen. Aber Laura ärgerte sich, dass sie es nicht jedenfalls versucht hatte. „Tschüss Tante, die Onkel mag!“ Johannes zupfte mehrmals an Lauras Rollkragenpullover, bis sie in die Realität zurückkehrte. „Oh… Hm? Tschüss.“ Kurz darauf war der Kleine auch schon mit seiner Mutter und älteren Schwester verschwunden. Laura schnaubte empört. „So ein Rotzlöffel.“ Ariane lachte auf. „Wieso? Weil sogar er jene Sache, die nicht zu übersehen ist, erkannt hat?“ Öznur hob mahnend den Zeigefinger. „Er kann damit auch gemeint haben: Tante, die von Onkel gemocht wird.“ Eindringlich schaute sie Benni an. „Sag, gibt es etwas, was der Kleine weiß und wir nicht?“ „So ein Unsinn, er hasst mich doch.“, murmelte Laura betrübt vor sich hin.
Doch Benni schien noch nicht einmal zugehört zu haben, bis er ausdruckslos Öznurs Blick erwiderte. Janine runzelte besorgt die Stirn. „Alles in Ordnung?“ „Zu viele Menschen auf einem Fleck bekommen ihm nicht so.“, klärte Carsten sie auf. Ariane schlug auf den Tisch und sorgte dafür, dass Lauras Cola fast überschwappte. Schnell trank sie einige Schlucke, während Ariane meinte: „Dann lenke ich dich und deine hypersensiblen Sinne jetzt mal ein bisschen ab. Also: Ihr wisst ja, dass Öznur und ich in die Geisterbahn sind und es war der totale Horror! Also, es war schon schlimm genug, dass da zu Beginn dieser Typ war und mich fast betatscht hätte, aber die Monster, die da ständig aus dem Nichts auftauchten waren furchtbar! Ich hab mich eigentlich nur auf dem Sitz zusammengekugelt und die Augen zugekniffen.“ Anne lachte auf. „Oh Gott, bist du schreckhaft.“ „Das Beste kommt erst noch.“, warf Öznur ein. „Irgendwie hatte Ariane mal gerufen: ‚Öznur, Öznur! Du hast doch gesagt, das wird lustig!‘, aber das hab ich gar nicht gehört. Dafür sagte plötzlich jemand hinter mir mit Schauerstimme: ‚Öznur, ich weiß, was du gestern Nacht getan hast.‘ Da hab ich vielleicht einen Schreck bekommen.“ „Ahaaa und was hast du gestern Nacht getan? Oder eher: Mit wem?“, fragte Lissi nach, doch Öznur schüttelte amüsiert den Kopf. „Gar nichts und gar keiner. Ich bin erschrocken, weil er meinen Namen kannte. Und du Carsten? Wie war deine Fahrt?“ Anne schnaubte erwartungsgemäß. „Garantiert hat der sich vor Angst ins Hemd gemacht.“ Doch Carsten lachte einfach nur. „Ich habe von der Fahrt selbst rein gar nichts mitbekommen. Johannes war viel fesselnder, wie er bei jedem Monster neu los geschrien und es mit wirklich außergewöhnlichen ‚Schimpfwörtern‘ bombardiert hat. Das Highlight war aber, als wir die Geisterbahn verlassen hatten und er ganz locker meinte: ‚Es war doch gar nicht so schlimm.‘“ Nahezu die ganze Gruppe lachte sich darüber kaputt, außer, wie erwartet, Benni und, wie nicht erwartet, Susanne. Lissi schaute ihre Schwester ungläubig an. „Susi?“ Doch Susanne antwortete nicht. Stattdessen schien sie sich irgendwie vor irgendwas verstecken zu wollen und sagte zu Lissi nur: „Da ist dein Freund.“ „Susanne? Was ist denn los?“, fragte Janine besorgt. „Na ja… Kaito hat mich… mit dir verwechselt, Lissi.“ Kritisch runzelte Lissi die Stirn. „Wie ‚verwechselt‘?“ „Ich weiß es nicht…“ Vermutlich unbewusst fuhr sich Susanne über die Lippen. „Er hat dich geküsst?“, fragte Öznur geschockt. Susanne brachte lediglich ein Nicken zustande. „Entschuldigt mich bitte, ihr Lieben.“, trällerte Lissi und stand auf. Kurz darauf gab es ein Donnerwetter, das Laura noch nicht einmal annähernd je erlebt hatte. Als Lissi zurückkam, wich sogar Anne ein Stückchen zurück. „Hast du sofort mit ihm Schluss gemacht?“, erkundigte sich Öznur irritiert. Lissi zuckte mit den Schultern. „Klar.“ „Warum? Also versteht mich jetzt bitte nicht falsch, aber es kann schon passieren, dass ihr verwechselt werdet.“, hakte Ariane nach, doch Lissi schüttelte den Kopf. „Erstens: Ein Freund kann seine Freundin und deren Zwillingsschwester immer unterscheiden. Jedenfalls sollte er es.“
„Aber es kann doch mal passieren.“ Laura wusste selbst nicht, warum sie Kaito in Schutz nahm. „Lucia und ich wurden damals auch ständig vertauscht und das, obwohl Lucia gesund aussah und lange Haare hatte und ich immer totenbleich mit kurzen Haaren war.“ „Aber sicher nur von Fremden.“, meinte Ariane. „Nein, auch von Bekannten, Bediensteten, Freunden und Familienmitgliedern. Nur unsere Eltern nicht. Sogar Eufelia-Sensei ist einmal durcheinander gekommen.“ „Aber Benni nicht.“, widersprach Carsten. „Es ist Benni.“ „Er war zwei Jahre alt und hat euch auseinander halten können. Auch, als ihr noch Babys ward.“ „Woher willst du das wissen? Zu dem Zeitpunkt kanntest du uns noch nicht einmal.“, diskutierte Laura weiter. „Es ist Benni.“ „Okay Carsten, du siehst ein, dass du peinlicherweise ein Eigentor geschossen hast und du Laura, dass Carsten Recht hat und jetzt seid ihr beiden still! Ich will wissen, was Lissi sonst noch für Thesen hat!“ Auffordernd sah Ariane Lissi an. „Na ja, zweitens bezweifle ich, dass er uns tatsächlich nur verwechselt hat und drittens, ob verwechselt oder nicht, niemand stiehlt meiner Schwester den ersten Kuss und kommt ungestraft davon!“ Vermutlich war mindestens jeder, der eine Schwester hatte davon gerührt, sogar Anne hob anerkennend die Augenbraue. „Das hätte ich jetzt ehrlich nicht von dir erwartet.“ Öznur klopfte Susanne über den Tisch hinweg auf die Schulter. „So, also jetzt müsstest du doch bald wieder so lachen können, wie früher.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte Susanne über die Lippen, ehe sie einen kurzen Blick auf ihre silberne Armbanduhr warf. „Die Läden in der Stadt haben heute doch alle geöffnet, oder?“ Verwirrt nickte Öznur. „Ja, wieso?“ Susanne stand auf. „Ich muss noch etwas erledigen… Entschuldigt mich, wir sehen uns dann später in der Schule.“ Und kurzerhand hatte sie das Zelt verlassen. Laura kippte ihre Cola runter und stellte das Glas wieder ab. „Ich geh nochmal zur Schießbude. Der Typ meinte ja, dass das Angebot noch immer gelten würde. Ich will unbedingt diese Mütze haben!“ Ariane lachte auf. „Na dann viel Glück.“ „Werd‘ ich auf jeden Fall brauchen.“, meinte Laura und verließ das Zelt. Das Dumme war, dass dieser Stand auf der anderen Seite des Marktes war. Also beschloss Laura, querfeldein zu laufen. Sie kam an eine weite Grasfläche. Laura fühlte sich so befreit, die Luft war herrlich und so matschig das Tauwetter zurzeit auch sein mochte, es duftete wundervoll. Es stank, war ohrenbetäubend laut und rappelvoll. Die stickige Luft schmeckte nach Bier. Die Übelkeit war schon beim Betreten des Zeltes entstanden. Sie rannte über die Wiese, um so schnell wie möglich auf die andere Seite zu kommen. Benni würde am liebsten ganz weit weg rennen. Taumelnd hielt Laura in der Mitte der Wiese an, um wieder Luft zu bekommen. Meine verfluchte Ausdauer. Dieses verdammte Zelt. Diese verdammten Menschen! Benni stand auf, er hielt es nicht länger hier drinnen aus. Sie spürte ein Stechen in der Brust, ihr Atem wandelte sich zu keuchendem Husten. Wie ein Blitz zuckte ein kurzer und doch gewaltiger Schmerz durch seinen Kopf. Irgendetwas stimmte nicht. Zitternd sank Laura in die Knie. Sie sah alles doppelt, auf dem nassen Gras erkannte sie Blutflecken. „Benni? Wo willst du hin?“, fragte Carsten. In seiner Stimme zeichnete sich deutliche Sorge ab. Alles wurde schwarz und Laura merkte nur noch, wie sie vornüber kippte. „Auf die Wiese.“, antwortete Benni und verließ das Zelt. Der Rest der Gruppe blieb verwirrt zurück, einige Leute in ihrer Nähe musterten sie noch verwirrter. Anne schnaubte. „Na toll, musste der Depp so mit seiner Geschwindigkeit protzen? Jetzt werden wir von jedem angegafft.“ Ariane nickte. „Ich kann ja verstehen, dass er es hier drinnen nicht länger aushält, aber das war nun wirklich nicht nötig.“ Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Normalerweise macht Benni so was auch nicht. Es ist etwas passiert. Ist von euch jemand auf dieser Wiese gewesen?“ „Ich Cärstchen. Als Abkürzung zum Zelt.“, meldete sich Lissi. „Gut, stell sie dir vor.“ „Nein, oooh nein! Ich muss meine Bratwurst noch fertig essen!“, beschwerte sich Ariane, doch kaum war der Kreis geschlossen, verschwanden sie auch schon. Der Markt befand sich außerhalb der Stadt und wegen eines Livekonzerts heute Abend blieb die Wiese frei, nur an einer Seite stand eine gewaltige Bühne. „Oh nein, was ist denn passiert?!“, rief Ariane erschrocken auf. Gemeinsam gingen sie zu Benni, der wenige Meter entfernt auf der Wiese kniete und Laura in seinen Armen hielt. Carsten kniete sich auf die andere Seite und musterte seine beste Freundin besorgt. Dass das wieder ein Anfall war, war offensichtlich, denn sie war totenbleich und aus ihrem Mundwinkel floss eine dünne Blutlinie. „Hatte sie das eben etwa alleine durchstehen müssen?“, erkundigte sich Janine betroffen. Carsten nickte. „Scheint so.“ „Du Vollidiot!“, fuhr Ariane Benni energisch an. „Ich dachte, du hast so super Sinne und dann kommst du trotzdem zu spät!?“ „Nane, ganz ruhig.“ Öznur packte Ariane an den Armen, als könne sie damit verhindern, dass Ariane Benni an die Kehle springen wollte. „Ich soll mich beruhigen?!? Ihr wisst doch, was für eine heiden Angst Laura dabei immer hat und dann war noch nicht einmal jemand von uns für sie da!“ Carsten seufzte. „Das stimmt schon, aber dieses Mal schien sie sehr schnell das Bewusstsein verloren zu haben.“ „Woher willst du das wissen? Folgt jetzt eine Sherlock-Einlage?“ „Anne, dein Sarkasmus ist gerade etwas fehl am Platz.“, kommentierte Öznur Annes Aussage. Unbeirrt zeigte Carsten auf die Blutlache in ihrer Nähe. „Außer in ihrem Gesicht ist Laura nirgends mit Blut befleckt, wobei sie für gewöhnlich bei starkem Husten die Hände vor das Gesicht hält. Das bedeutet, sie hatte noch nicht einmal die Möglichkeit dazu.“ Anne seufzte. „Ich sag’s doch, Sherlock-Einlage.“ Doch Carsten ignorierte sie. „Ein bisschen erste Hilfe kannst du also doch.“, meinte er zu Benni, welcher eintönig erwiderte: „Ich merke es schon, wenn jemand keine Luft bekommt.“ „Wie ‚keine Luft‘?“, fragte Ariane kritisch. „Na ja, Laura wäre vermutlich an ihrem Blut erstickt.“ Ariane schauderte. „Dann danke, dass du ihr das Leben gerettet hast… Oder so…“ Doch wie gewohnt reagierte Benni darauf nicht. Carsten legte seine Hand auf Lauras Stirn und stellte sich wieder hin. „Sie hat vermutlich leichtes Fieber, wir sollten sie zurück in die Schule bringen. Also, hat jemand eine Idee? Denn in den Bus können wir sie so nicht mitnehmen. Ich bin für alles offen.“ Ariane runzelte die Stirn. „Kannst du sie nicht einfach teleportieren?“ „Das kostet Kraft und in Lauras Zustand würde sie das umbringen.“, erinnerte Carsten. „Und sie sollte so unbemerkt wie möglich in die Schule gebracht werden, oder? Jedenfalls wenn wir uns die Gerüchte ersparen wollen.“, vermutete Anne. Carsten seufzte. „Ja, am besten. Doch dadurch können wir nicht durch das Haupttor spazieren und um in das Mädchengebäude zu kommen, müssten wir durch den Gemeinschaftsraum…“ Öznur schnippte mit den Fingern, als hätte sie einen Gedankenblitz. „Eagle!“ „Was?!?“, fragte Carsten geschockt. Nicht der… Doch leider klang Öznurs Erklärung plausibel. „Als Halbdämon hat Eagle doch Flügel, er könnte Laura also problemlos zur Akademie bringen.“ Janine nickte. „Stimmt. Und Lissis, Susannes und mein Zimmer liegt auf der Waldseite, wir könnten ihn also unbemerkt durch das Fenster ins Mädchenhaus lassen.“ „Du musst ihn nur her teleportieren.“, meinte Öznur. Die Mädchen schienen vergessen zu haben, welche Beziehung, beherrscht von Hass und Abscheu, Carsten mit seinem Bruder pflegte. Dennoch gab er sich geschlagen. Laura musste so schnell wie möglich in ein warmes Bett, da sollte es an ihm nicht scheitern. Seufzend gab er sich also geschlagen. „Ich bin gleich wieder da.“, meinte er und verschwand. Kurz darauf tauchte er vor seinem Elternhaus in Karibera wieder auf. Um ihre Stadt lag eine Magiebarriere, die Carsten nur dann durchbrechen konnte, wenn er nur sich selbst teleportierte oder, wenn der Erschaffer dieser Barriere sie für ihn und die Gruppe passierbar machte. Leider war nicht er dieser Erschaffer, also müsste er im Notfall mit Eagle das Dorf erst verlassen. Carsten riss die Tür auf und kam an Saya vorbei. „Haben wir irgendwelche Decken, die nicht aus Tierfell bestehen und ist zufälliger Weise Koja in der Nähe?“ Verwirrt musterte Saya ihn. „In meinem Schlafzimmer müsste eine sein und deine Großmutter ist zurzeit bei dem Schamanen auf der anderen Seite des Dorfes, da sie wieder starke Herzrhythmusstörungen hat…“ Ehe sie etwas Weiteres sagen konnte, rannte Carsten in das Schlafzimmer und fand in einem Schrank tatsächlich einen normalen Kolter. Er rannte an Saya vorbei wieder nach draußen. „Was ist denn los?“, fragte sie besorgt. „Eagle erklärt es dir später!“, rief Carsten ihr über die Schulter zu und tauchte kurz darauf bei seiner nächsten Station per Teleport auf: Dem Trainingsplatz. Eagle hat echt nichts Besseres zu tun, dachte er bei sich, als er seinen Bruder erblickte. „Eagle, du musst schnell mitkommen!“, forderte er ihn trotzdem atemlos auf. „Müsstest du nicht in Cor bei deiner ach so tollen Schule sein?“, fragte Eagle kritisch. „Du musst uns helfen Laura zurück in die Schule zu bringen. Sie hatte einen Anfall.“ Wie erwartetet konterte Eagle nicht mehr. Stattdessen umhüllte ihn eine graue Aura und vor Carsten stand nicht mehr sein Bruder als vermeintlicher Mensch, sondern sein Bruder in seiner wahren Gestalt, als halber Dämon. „Koja hat die Barriere entschärft?“ Carsten schüttelte den Kopf. „Sie ist beim Schamanen.“ „Dann halt dich fest.“, forderte er Carsten mit seiner mächtig wirkenden Stimme auf, packte ihn und flog mit ihm in die Luft. „Was soll das?!?“, rief dieser erschrocken. „Sei still, ich weiß selbst, wie verdammt schwul das aussieht! Aber du musst aus der Barriere raus, um uns teleportieren zu können!“ Natürlich kannte Eagle alle Schwächen von Carsten. „Wir hätten auch einfach aus dem Dorf rausgehen können!“ „Bei deinem Schneckentempo?! Aber wehe du erzählst jemandem was davon!“ „Das habe ich garantiert nicht vor!“ „Jetzt mach schon!“, forderte Eagle Carsten auf. Als er spürte, dass sie die Barriere überwunden hatten, teleportierte er sie zurück nach Cor. Nicht zuletzt auch aus dem Grund, dort endlich wieder von Eagles erwürgendem Griff befreit zu sein. Die Mädchen warteten bereits ungeduldig auf die beiden. „Na endlich!“, meinte Ariane ruhelos. „Benni, gib mir deinen Mantel.“, forderte Carsten seinen besten Freund plötzlich auf und nahm ihm Laura ab, sodass er sich ungestört seines Mantels entledigen konnte. Öznur musterte die Jungs verwirrt. „Wieso?“ „Eagle wird ziemlich hoch fliegen müssen, um von den Menschen hier unentdeckt zu bleiben.“, erklärte Carsten, „Leider ist es dort noch kälter als hier und Bennis Mantel hat wohl von all unseren Jacken die größte Oberfläche.“ Er nahm Benni den Mantel ab, da die Decke alleine höchst wahrscheinlich nicht ausreichen würde. Den durch Bennis Körpertemperatur bereits warmen Mantel legte er um Laura und wärmte die Decke mit seiner Magie auch noch etwas auf, um Laura auch darin einwickeln zu können. Die nun für den Flug vorbereitete Laura gab er schließlich an Eagle weiter, der sie ihm überraschend behutsam abnahm. „Aber flieg nicht zu schnell.“, mahnte Carsten seinen Bruder. Dieser stöhnte auf, als wäre er von seiner Mutter zurechtgewiesen worden. „Ja, ja, ich weiß. Nicht zu schnell, nicht zu hoch aber auch nicht zu langsam oder zu tief. Sag mir lieber, wo ich landen soll.“ „Ich öffne dir ein Fenster zum Wald hin.“, erklärte Janine. Eagle nickte knapp. „Gut, dann trödelt nicht, denn ich bin garantiert früher da als ihr.“ „Wir teleportieren uns.“, meinte Carsten und streckte Janine und Benni die Hand entgegen, doch im Gegensatz zu Janine nahm Benni sie nicht. Carsten seufzte verzweifelt. „Jetzt komm schon.“ „Ich komme nach.“, erwiderte er weitaus ruhiger, also gab Carsten Lissi die Hand. „Und ich werde trotzdem schneller sein.“, murmelte Eagle, doch Carsten war nicht in der Stimmung, etwas Schnippisches zu entgegnen. „Na gut, dann bis gleich und später.“ Etwa zeitgleich verschwand Carsten mit der Gruppe, während Eagle mit Laura in den Armen gen Himmel flog. ~*~ Als sie wieder im Südwald kurz vor der Akademie waren, wagte Öznur einen Blick nach oben. Wie erwartet und von ihm angekündigt, war Eagle auch schon da und flog in einem Kreis über der Schule. Aus dieser Entfernung wirkte er tatsächlich wie ein Adler auf Beutejagd. „Los jetzt.“, drängte Carsten den Rest der Gruppe, der es anscheinend Öznur gleich getan und hochgegafft hatte. Schnell eilten sie über den Campus und die unverschämt vielen Stufen hoch zu Janines Zimmer, in dem sie das Fenster öffneten, durch das Eagle kurz darauf hineinstieg. „Das wurde aber auch Zeit, ihr Schnecken.“, tadelte er. „Wie geht es Laura?“, erkundigte sich Carsten, doch Eagle schüttelte den Kopf. „Nicht besser, falls du dir das erhofft hattest.“ Janine öffnete die Tür zum Flur. „Es ist frei.“ Also huschten alle in Lauras und Arianes Zimmer und Öznur konnte nicht anders, als dabei kichern zu müssen. Es hatte auf sie die Wirkung, als würden sie einem Lehrer einen Streich spielen wollen und nicht einer kranken Freundin helfen. Beschämt biss sie sich auf die Unterlippe, um den Mund zu halten. Das war nicht der richtige Augenblick für so was. Schließlich halfen sie gerade ja wirklich ihrer schwer kranken Freundin… Carsten kramte Lauras Schlafkimono unter ihrem Kopfkissen hervor und nach einer knappen Handbewegung hatte Laura diesen an, während Carsten ihre schwarzen, durch den Taumatsch nassen Klamotten auf den Schreibtischstuhl legte. In der Zeit bemühte sich Ariane Öznur, Lissi und Anne von ihrem Bett fernzuhalten. Eagle legte Laura auf ihrem Bett ab und deckte sie zu. „Ich vermute, meine Arbeit ist getan?“ Carsten nickte als Antwort. „Vielen Dank.“ „Dann kannst du mich ja jetzt zurückteleportieren.“ Doch dieses Mal schüttelte Carsten den Kopf. „Flieg doch.“, gab er sarkastisch von sich. „Wie bitte?!“ Sowohl Eagles Stimme, als auch sein Echo wurden bedrohlich laut. Grob packte er Carsten am Kragen, der von der drohenden Gefahr überraschend unbeeindruckt war. „Denk daran, dass du auf dieser Schule ein Fremder bist. Des Weiteren hat dein Stand hier keine Bedeutung und wenn ich diese Prügelei melden würde, würden die Direktoren oder die Schülervertretung davon Wind bekommen, dass du unerlaubt hier bist/warst. Abgesehen davon schweigt unser Schulsprecher ohnehin nur, weil wir ohne dich Laura nicht so einfach hätten herschaffen können.“ Ein grausiges Licht schien Eagle aufzugehen. „Benedict ist euer… Schulsprecher?“ Carsten nickte. „Und wenn schon.“ Eagle verstärkte seinen Griff und ballte die Hand zur Faust. „Du hast doch selbst gesagt, da oben sei es scheiß kalt. Ich hab nicht den Nerv dazu, wieder eine so weite Strecke hinter mich bringen zu müssen, wie als ich eurem Schulsprecher“ Öznur konnte nicht glauben, wie höhnisch dieses Wort klingen konnte „das Leben gerettet habe. Das hatte mir herzlichst gereicht.“ Aber Carsten schien noch einen Trumpf im Ärmel zu haben. „Um dich teleportieren zu können müssten wir aus der Magiebarriere raus, die die Schule umgibt. Aber gerade als männlicher Fremder, dessen Oberteil durch die Flügel total zerschlissen ist, kannst du nicht einfach durch die Tür des Mädchenhauses hinaus. Der einzige Ausweg wäre wieder das Fenster, aber du weißt doch über meine Kletterkünste Bescheid und ich kann nicht fliegen, weshalb ich eine gewisse Hilfe bräuchte, wenn du verstehst, was ich meine.“ Öznur konnte sich den Grund nicht erklären, doch Eagle ließ Carsten tatsächlich angewidert los. Er warf noch einen kurzen Blick auf Laura. „Dann geh ich mal.“ „Ich begleite dich noch ins andere Zimmer.“, bot Öznur zuvorkommend an. Auf dem Flur ging sie wieder rückwärts, um Eagle genauer im Blick behalten zu können. Dieser schien davon allerdings alles andere als begeistert. „Lauf gefälligst vorwärts, bevor ich dir wieder versehentlich an den Arsch greife, um ihn dir zu retten.“ Öznur zuckte mit den Schultern. „Hier gibt es keine Treppen, die ich runterfallen könnte.“ Unfairer Weise verpasste er ihr einen Gehfehler, dass Öznur mit dem Rücken gegen die Türklinke gestoßen wäre, hätte Eagle sie nicht wieder am Po festgehalten. „Das war kein Versehen.“, stellte sie erzürnt fest, als vom Nachbarzimmer die Türklinke heruntergedrückt wurde. Eagle reagierte erstaunlich schnell und schleuste beide ins Zimmer. Dort verpasste Öznur ihm eine Ohrfeige, damit er sie endlich losließ. „Kein Wunder, dass Laura dich nicht leiden kann. Du bist unerträglich.“ Äußerlich ungerührt öffnete Eagle das Fenster und entfaltete wieder seine mächtigen Schwingen. Er warf Öznur einen kurzen Blick über die Schulter zu. „Was kann ich dafür, dass du einen so verführerischen Körperbau hast?“ Er stieß sich aus dem Fenster und flog davon, während Öznur nicht wusste, ob sie nun sauer auf den zukünftigen Indigoner-Häuptling sein sollte, oder… ~*~ Susanne hatte ganz schön Bammel zu den Mädchen zurückzukehren. Dass sie zurück waren wusste Susanne gewiss, denn sie war zeitgleich mit dem Schulsprecher angekommen. Nur, dass dieser allein unterwegs gewesen war. Sie hatte ihn aus dem Busfenster zur Coeur-Academy wandern sehen und sich gewundert, warum er den Mantel nicht mehr trug, den er zuvor noch angehabt hatte. Doch als Susanne aus dem Bus gestiegen war, war er verschwunden. Sie warf einen kurzen Blick auf das Mädchenhaus und ging nahezu automatisch in die andere Richtung, am Jungenhaus und dem Gebäude mit den Büros und dem Krankenzimmer vorbei, zu der gewaltigen Sportanlage. Auch diese überquerte sie, bis sie zu den Stallungen der Schule kam. Es war, wie als wollten die Einhörner sie mit ihrem Wiehern begrüßen, als Susanne eintrat und den Weg zwischen den Boxen entlang ging, bis sie fand, was sie suchte. Oder eher instinktiv gesucht hatte. Benni hatte seinen Kopf auf den Hals eines schwarzen, glänzenden Einhorns gelegt und schien zu schlafen. Das Einhorn, das neben ihm ‚kniete‘ tat es ihm gleich, nur Chip kraxelte wie immer gut gelaunt auf ihm herum. ‚Flicka‘ wie sie auf der Boxen-Tür lesen konnte, die sie öffnete, um einzutreten. Benni öffnete die Augen und erwiderte ihren Blick. „Du hast dir die Haare schneiden lassen.“ „Und du wirkst keinesfalls überrascht.“, entgegnete Susanne. „Darf ich mich setzen?“ Hinter Benni schnaubte das Einhorn Flicka. „Tu dir keinen Zwang an.“, übersetzte er. Also setzte sich Susanne gegenüber Benni in das saubere, duftende Stroh. „Es ist so schön hier… Nahezu idyllisch. Danke, dass du mir Asyl gewährst.“ Sie lachte verlegen auf. „Wieso?“ „Warum es so schön ist?“ „Das weiß ich selbst. Weshalb gewähre ich dir Asyl?“ Susanne kicherte. „Ariane hat Recht, du hast tatsächlich Humor. Nun ja… Die Mädchen werden vermutlich ein Theater veranstalten, wenn sie mich sehen.“ „Wegen dem vorhin?“ Susanne verstand nicht, was die anderen meinten. Man konnte sich eigentlich nahezu hervorragend mit Benni unterhalten, auch wenn er sichtlich keine Kenntnisse über das weibliche Geschlecht hatte. „Vielleicht auch deshalb.“, sinnierte sie. „Aber nun eher wegen dem Haarschnitt.“ Auf Bennis fragenden Blick hin meinte sie: „Du kannst es als Eigenart einiger Mädchen sehen. Wenn jemand lange Haare hatte und sie sich dann kurz schneidet gilt das als eine Sünde. Vermutlich werde ich jetzt als hässlich abgestuft.“ Er richtete sich auf und musterte Susanne mit einem fast unheimlichen Blick. „Wieso hässlich? Die Frisur steht dir.“ Susanne bemühte sich, nicht zu erröten. Der Schulsprecher, der berühmt berüchtigte eiskalte Engel hatte ihr doch nicht ernsthaft eben ein Kompliment gemacht? „Das sagst du doch sicher nur, weil du wegen… diesem Vorfall… Mitleid mit mir hast.“ Doch Benni schüttelte den Kopf. „Adica sincer.“ Rumänisch? Susanne wurde doch noch überrascht, aber Ariane hatte ja auch von Bennis Sprachtalent erzählt. Aber ihre wenigen Kenntnisse in Rumänisch halfen ihr immerhin, seinen Satz zu übersetzen. ‚Ich meine es ehrlich.‘ „Dann… Danke…“ „Du bist wie Carsten.“, meinte Benni seufzend. Susanne lachte nun endgültig verlegen auf. „Irgendwie schon, stimmt.“ „Eure Selbstzweifel sind hinfällig.“ Susanne konnte ihren Ohren nun gar nicht mehr trauen. Wer bist du und was hast du mit unserem Schulsprecher gemacht? Na gut, sie war sich zwar sicher gewesen, dass Benni auch freundlich sein konnte, sonst wäre es weniger verständlich, dass er Schulsprecher war. Aber dass er so nett war haute Susanne um. „Und du wirst vollkommen falsch eingeschätzt.“ Sie stellte sich wieder hin. „Dann wage ich mich mal in die Höhle des Löwen und… ähm… ich danke dir, für das Gespräch.“ „Moment.“, hielt Benni sie zurück. „Kannst du die Laura geben, wenn sie wieder wach ist?“ Er reichte Susanne etwas aus Stoff. „Die Mütze?“, bemerkte Susanne lachend. „Aber… Aufgewacht… Bedeutet das, sie hatte wieder einen Anfall?“ Benni nickte. „Sag ihr aber bitte nicht, dass sie von mir ist.“ Verwirrt schaute Susanne ihn an. „Wieso nicht?“ „Das ist kompliziert.“ „Nein, ich glaube eher, du bist dir nicht im Klaren, was du für Laura empfindest. Aber denke auch mal daran: Ob sie im Mai nun sterben wird oder nicht, du kannst sie nicht so quälen. Ich kann dir also nicht versprechen, ob ich dich nun erwähne oder nicht. Aber sie wird die Mütze bekommen, sei ganz versichert.“ Susanne warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu und verließ den Stall. ~*~ „Leute, es ist schrecklich! Seht mal!“ Wie als wäre eine Horde Unterweltler hinter ihr her, kam Öznur ins Zimmer gestürmt und zog Susanne mit sich. Ariane fiel die Kinnlade herunter. „Du hast dir die Haare geschnitten? So plötzlich?!“ Susanne seufzte. „Ich will einfach nicht, dass so etwas noch einmal passiert. Klar, dass Kaito die Verwechslung nur vorgetäuscht haben könnte. Aber bei den ganzen Affären, die sich bei Lissi wahrscheinlich noch anhäufen werden, will ich kein Risiko mehr eingehen.“ „Aber Susi… Wenn dir die Frisur gefällt ist das natürlich eine andere Sache aber du mochtest deine langen Haare doch so.“, meinte Janine betroffen, „Du solltest dein Aussehen nicht davon beeinflussen lassen, weil es in dieser Welt Menschen gibt, die…“ Öznur nickte. „Lissis Lovern zu entkommen, indem du dich unscheinbar machst… Das ist keine gute Alternative.“ „Benni meinte, die Frisur steht mir!“, verteidigte sich Susanne. Ariane winkte ab. „Es ist Benni- … Einen Augenblick… Benni?!? Unser eiskalter Engel hat dir ein Kompliment gemacht?!?“ Lissi fiel ihrer Schwester um den Hals. „Du meine Güte, Susi!“ Doch Anne schnaubte, wie immer kritisch. „Der hatte garantiert nur Mitleid mit dir.“ „Er hat mir versichert, dass das nicht der Fall ist und er es ehrlich meint.“, erwiderte Susanne. Anne zuckte mit den Schultern. „Als Goth steht man halt auf schwarze Haare.“ „Okay Leute, es reicht.“, kam Carsten zum ersten Mal zu Wort. „Es kann ja sein, dass wir Bennis Vorliebe für schwarz nicht gerade teilen, aber ihr müsst zugeben, dass er schon einen guten Geschmack hat. Susannes Frisur ist zwar ziemlich ungewohnt, aber sie passt zu ihr. Wenn für euch die Meinung eines Jungen so aussagekräftig ist: Ich finde auch, dass dir die Frisur gut steht.“ Da darauf irgendwie keiner etwas erwiderte, meinte Carsten noch: „Mindestens einer von uns sollte bei Laura sein, damit sie nicht alleine ist, falls sie aufwacht.“ ~*~ Die Mädchen folgten Carstens Rat und so saß auch während der Unterrichtszeit immer jemand, mit Ausnahme von Benni, bei Laura und hielt an ihrem Bett regelrecht Wache. Carsten und Susanne machten dies von allen natürlich am meisten, da sie die geringsten Schwierigkeiten hatten, den Stoff aufzuholen und sich außerdem als Schulsanitäter am ehesten abseilen konnten. Die Lehrer wussten zwar Bescheid, aber nicht alle Schüler konnten den Grund nachvollziehen. Eben war Janine an der Reihe, die während ihrer Schicht eine Lektüre für Deutsch las, um nicht komplett die Zeit zu verschwenden. Doch sie konnte sich einfach nicht auf den Inhalt konzentrieren. Es waren bereits vier Tage vergangen, die Laura gnadenlos durchgeschlafen hatte. Das war kein gutes Zeichen… Janine schreckte auf. Hatte sich Laura eben bewegt? Blinzelnd und zögernd öffnete Laura die Augen. Ihr Blick war beängstigend trüb und leer. „Wo bin ich?“, fragte sie matt. „In der Coeur-Academy.“, antwortete Janine. „Wenn du willst, hole ich schnell Carsten-“ Janine wollte bereits aufstehen, als Lauras panisches „Nein!“ sie zurückhielt. „Geh nicht weg, bitte! Ich will nicht alleine sein!“, flehte sie und versuchte, Janine am Arm zu packen, doch auf halbem Weg versagte ihre Kraft. Zum Glück erlöste das Läuten zur Mittagspause Janine. Sie kniete sich vor Laura ans Bett und nahm ihre Hand in ihre eigene. Eine Geste, die sie schmerzhaft an ihre Kindheit erinnerte. „Ich gehe nicht weg, keine Angst. Und die anderen kommen sicher auch gleich.“ Fünf Minuten später kam der Rest der Gruppe in das Zimmer, alle samt mit Tabletts bewaffnet, auf denen sich etwas zu essen befand. Ihre Miene erhellte sich, als sie sahen, dass Laura endlich aufgewacht war. Carsten stellte sein Tablett auf dem Tisch ab und setzte sich zu ihr aufs Bett. „Wie geht es dir?“ „Wie lange hab ich geschlafen?“ „Vier Tage…“, antwortete Carsten langsam. „Dann vermutlich richtig schlecht…“ Wie vom Donner gerührt schrak Laura hoch. „Meine Eltern!“ Carsten packte sie an den Schultern und drückte sie zurück in die Kissen. „Sie wissen Bescheid.“ Laura schloss die Augen, als wolle sie dieses Problem vorerst verdrängen. „Du musst etwas essen.“, meinte Carsten, aber Laura drehte den Kopf zur Seite. „Keinen Appetit.“ Überraschenderweise erwiderte Carsten nichts, sondern setzte sich an den Tisch, um selbst etwas essen zu können. „Geht ihr jetzt alle wieder in den Unterricht und lasst mich alleine?“, fragte Laura fünf Minuten vor Pausenende. Die Gruppe schaute sich an, jeder mit gemischten Gefühlen kämpfend. „Zur Zeit kann dir nichts passieren.“, antwortete Susanne schließlich. Laura vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen. „Also lasst ihr mich alleine.“ Kopfschüttelnd drückte Susanne Laura eine Mütze in die Hand. „Du bist nie allein.“ Ungläubig schaute Laura zwischen Susanne und der Mütze hin und her. „Wie hast du das geschafft?“ Susanne lachte auf. „Ich hätte es wohl nie geschafft. Die hat dir dein Schutzengel besorgt.“ Laura runzelte die Stirn. „Ich habe keinen Schutzengel. Wenn ich einen hätte, dann…“, meinte sie bedrückt. „Oh doch, den hast du. Schutzengel agieren immer nur im Verborgenen, aber du weißt, wenn es hart auf hart kommt, sind sie für dich da. Und du kannst dich auf deinen Schutzengel verlassen. Deshalb bist du nie allein.“ Susanne drückte kurz Lauras Hand und wies die anderen an, ihr nach draußen zu folgen. „Wann denkt ihr, kommt sie dahinter?“, fragte sie in die Runde, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. „So wie Laura zurzeit neben der Spur ist, dauert das wohl noch eine Weile.“, stellte Ariane seufzend fest. „Aber ich war überrascht, was für einen Sinn deine Aussage tatsächlich macht. Auch wenn sich mir bei dem Gedanken alle Härchen aufstellen, irgendwie ist er tatsächlich etwas in der Art, wie Lauras Schutzengel.“ Carsten seufzte. „Wobei ich mir zurzeit Sorgen um unseren ‚Schutzengel‘ mache. Er wirkt irgendwie… übermüdet…“ „Frag ihn doch einfach, was los ist.“, schlug Öznur vor. „Mit dir und seit neustem auch Susanne redet er ja.“ „Aber ich sehe ihn so gut wie nie…“ Bedrückt schüttelte Carsten den Kopf. „Ich mache mir wirklich Sorgen um Benni… Etwas stimmt nicht mit ihm.“ Kapitel 22: Schlaflose Nächte -----------------------------    Schlaflose Nächte       Selina besuchte eine der beiden Kampfkünstlerklassen im zweiten Jahr der Coeur-Academy. Sie hatte dunkle Haare, dunkelblaue Augen, war durchschnittlich hübsch und recht schlank. Eigentlich war sie nicht gerade talentiert im Kämpfen, aber im Fernkampf hatte sie inzwischen ihre Nische entdeckt. Von ihren Klassenkameraden wurde Selina sehr gemocht, aber leider war das nicht immer so gewesen… Seit einem dreiviertel Jahr hatte sie erst ihre Ruhe, um genau zu sein. Davor war sie das so ziemlich beliebteste Mobbingopfer ihres Jahrgangs gewesen. Eigentlich waren es auch nur drei Mädchen, die an Selina einen Narren gefressen hatten, doch wie das mit dem Gruppenzwang so ist, hatte sie das Gefühl, dass sich auf einmal die ganze Stufe gegen Selina verschworen hatte. Und das, obwohl sie eigentlich total freundlich war, keine voreiligen Schlüsse zog und immer hilfsbereit war. Jedenfalls sagten ihre Freunde so etwas, wer weiß, ob das nun wirklich stimmte… Aus leerem Gerede machte sie sich auch nichts, das war weniger ihr Problem bei den Mobbing-Attacken damals. Aber sie konnte es nicht ertragen, wenn über jemanden schlecht geredet wurde. So wie über ihren Kindergartenfreund Valentin Masiur. Sie war noch ganz klein gewesen und dennoch hatte dieser Junge es geschafft, sich so sehr in ihr Gedächtnis einzubrennen, dass sie nach wie vor gelegentlich an ihn denken musste. Damals lebten beide in Rolexa und waren nahezu unzertrennlich. Valentin war ein netter Junge und immer total lieb zu ihr gewesen. Aber leider galt er ansonsten als Unruhestifter und hatte häufig Ärger bekommen, weil er andere Kinder verprügelt hatte. Dabei waren es immer die anderen Kinder gewesen, die den Streit angefangen hatten… Er schien es damals wirklich schwer gehabt zu haben, bis auf Selina bei irgendjemandem Anschluss finden zu können. Vielleicht war auch das der Grund gewesen, weshalb er war immer etwas traurig gewirkt hatte? Selina wusste es nicht. Doch eines Tages kam er nicht mehr. Nie mehr hatte sie ihn zu Gesicht bekommen, diesen hübschen Jungen mit den hübschen grünen Augen. Dafür aber Lisa Rapuko, die Tochter des Bürgermeisters. Damals noch ein Jahr über Selina, hatte Lisa sie letztes Jahr, bei ihrer Aufnahme auf die Coeur-Academy wiedererkannt. Wir hatten uns eigentlich schon immer gehasst, sinnierte Selina. Lisa wusste natürlich über ihre und Valentins ‚Beziehung‘ Bescheid und nutzte Selinas Unwissenheit gnadenlos aus. So bekam Selina ständig von ihr zu hören, dass Valentin auf das FESJ geschickt wurde, in Wahrheit ein Monster und Mörder sei und so weiter und so fort. Natürlich hatte Selina ihr kein Wort geglaubt, doch sie hätte den Mund halten sollen. Lisa zu widersprechen war der größte Fehler, den Selina je gemacht hatte. Denn wer auch nur ein Wort gegen die Bürgermeistertochter sagte, war der Feind. Und Feinde mussten gedemütigt werden. Grausam und qualvoll. Doch selbst jetzt, wenn Selina auf ihre traurige Schulzeit zurückblickte, geprägt von fiesen Mobbingattacken und dem Auslachen Anderer, würde sie Lisa immer und immer wieder widersprechen. Valentin war keiner für das FESJ. Er war kein Mörder! Und erst recht kein Monster!!! Dennoch hatte sich Selina nicht getraut, zur Schulleitung oder Schülervertretung zu gehen. Lisa hatte ihr diesen Weg schön ‚schmackhaft‘ gemacht. Doch nachdem sie einem halben Jahr lang Lisas Grausamkeiten ausgesetzt war, sollte Selina endlich erlöst werden. Damals kniete sie noch bitter schluchzend vor der Goldkette ihrer verstorbenen Mutter, die Lisa und ihre Gruppe freudig auseinandergerissen hatten, als sie von einem Jungen angesprochen wurde. „Warum meldest du sie nicht?“ Verwundert hatte Selina den Kopf gehoben und schaute in das engelsgleiche Gesicht des Besitzers dieser ruhigen und zugleich kraftvollen Stimme. Benedict Ryū no chi ging in Selinas Klasse und war für die Mädchen der Traumtyp schlechthin. Dennoch wirkte er so furchteinflößend, dass niemand es wagen würde, ein Gespräch mit ihm anzufangen, in der Angst, er würde sie verschlingen oder was auch immer Grausames mit ihnen anstellen, das ihre Fantasie ihnen vorgaukelte. Aber er war halt auch ständig so allein, als würde er die Gesellschaft absichtlich meiden. Daher war Selina auch zu Recht verwundert, als er sie angesprochen hatte. Trotzdem hatte sie geantwortet: „Ich habe Angst, dass sie dann noch gemeiner werden…“ Benedict hob alle Einzelteile der Kette auf und fügte sie beeindruckend schnell wie ein Puzzle zusammen. Auf magische Weise war sie wieder ganz. Als er sie Selina gab, sagte er nur: „Das werden sie nicht.“ Er half ihr auf die Beine und begleitete sie sogar ins Büro der Schülervertretung. Es war so befreiend, endlich den Vertrauensschülern von allem berichten zu können und als diese Lisa schließlich zu sich riefen, fühlte sich Selina durch Benedicts Anwesenheit erstaunlich sicher, auch wenn sie nicht wusste weshalb. Doch Lisa rastete natürlich total aus. „Was soll der Scheiß, du Flittchen?!“, schrie sie und schlug zu. Selina, die damals im Nahkampf noch ein totaler Versager war, hob verängstigt die Arme vor das Gesicht und kniff die Augen zusammen, als sie bemerkte, dass der Schlag sie überhaupt nicht getroffen hatte. Genauer gesagt hatte Benedict Lisas Faust bereits abgefangen, ehe sie sich Selina auch nur um einen Millimeter hätte nähern können. Benedict sagte nichts, doch sein bedrohlicher Blick, der zur Hälfte durch die interessanten schneeblonden Haare verdeckt wurde, sprach Bände. Im Nachhinein musste Selina leicht amüsiert feststellen, dass Benedict sein Handeln damals höchstwahrscheinlich bereut hatte. Die Schülervertretung war so begeistert von seinem Eingreifen gewesen, dass er der diesjährige Schulsprecher werden musste. Der Direktor bezeichnete ihn seit jenem Tag als den eiskalten Engel, sodass Benedict kurz darauf von der ganzen Schule so genannt wurde, die Mädchen gingen ihm nur noch selten aus dem Weg, Lisa setzte allerlei Gerüchte über eine dramatische Beziehung in die Welt und wiederholte das Jahr angeblich nur wegen ihm. Als Selina Benedict gefragt hatte, warum er ihr geholfen hatte, meinte er nur: „Dir sollte es nicht so ergehen, wie einst mir.“ Zwar wurde Selina aus dieser Aussage nie schlau, aber was für einen Grund Benedict auch gehabt haben möge, er war ihr Held. Ob es ihm nun gefiel oder nicht. Doch nun war Selina besorgt um ihren Helden. Zwar sagte Benedict noch nicht einmal im Unterricht etwas, was auch gar nicht nötig war, denn auf dieser Schule legte man nur Wert auf das, das die Schüler auf Papier bringen konnten, doch er war trotzdem aufmerksam und schlau. So schlau, dass er sogar ein Stipendium besaß. Die ganze Klasse war erschrocken, als Benedict im Geschichtsunterricht fast eingenickt wäre, den ausgerechnet der Vampir Herr Norito hielt. Selbst der so ziemlich strengste Lehrer der Schule fand Benedict sympathisch, sodass er ein Auge zudrückte. Aber eben, im Damischunterricht, war er nun wirklich eingeschlafen. „Benedict Ryū no chi. Würden Sie gefälligst die Augen aufmachen und meinen Unterricht mitverfolgen, so wie Ihre Mitschüler.“, mahnte ihn die blonde Elfe Frida Flatterfroh mit scharfer Stimme. Schlaftrunken blinzelte Benedict mehrmals, bis er halbwegs wach war und bemerkte, in welcher Situation er sich befand. „Verzeihen Sie.“, murmelte er beängstigend matt. Auch Frau Flatterfroh schien nun besorgt. „Haben Sie schlecht geschlafen? Sind Sie krank?“, erkundigte sie sich, doch Benedict wandte lediglich den Blick ab. Keine Antwort. Er sah aber wirklich übermüdet aus. Die tiefen, dunklen Augenringe bildeten einen starken Kontrast zu seiner weißen Haut und den weißen Haaren. Frau Flatterfroh schüttelte den Kopf. „Benedict, Sie gehen jetzt unverzüglich auf Ihr Zimmer und hüten das Bett. Für den Rest des Tages sind Sie vom Unterricht befreit.“ Es war offensichtlich, dass Benedict von der Anweisung nicht begeistert war, dennoch erhob er sich ohne ein Wort des Einwandes. Frau Flatterfroh zeigte auf Selina. „Sie begleiten ihn.“ Sie tat wie geheißen. Auf dem Weg zum Jungenhaus musterte sie Benedict erneut. Er sah wirklich krank aus. „Soll ich vielleicht einen Sanitäter holen? Du bist doch mit diesem Indigoner aus dem ersten Jahr befreundet. Ich könnte ihm später in der Pause Bescheid sagen, falls du das möchtest.“ Benedict ließ Selina an der Eingangstreppe vor dem Jungenhaus zurück. „Handel, wie dir beliebt.“, antwortete er nur und ließ die Tür hinter sich in die Angeln fallen.   ~*~   Immerhin war ihr bester Freund ein Stipendiat und Musterschüler und konnte obendrauf auch noch gut erklären. Sonst wäre Laura beim Nachholen des Stoffes der letzten Tage erbärmlich gescheitert. Doch so hatte sie dank Carsten vier Tage in wenigen Stunden verstanden. Überrascht richtete sich Lauras Aufmerksamkeit auf ein Mädchen mit dunklen, gelockten Haaren, das direkt auf die Gruppe zukam. „Du bist doch Carsten, oder?“ „Ähm… Ja, wieso?“, fragte der Angesprochene. Laura bemerkte bewundernd, dass Carsten trotz der Distanz, die er vorerst bei jedem aufgrund seiner Schüchternheit hatte, noch total freundlich klang. Inzwischen fixierte auch die restliche Gruppe das Mädchen und Laura würde nur zu gerne wissen, was in den Köpfen einiger Spezialisten vor sich ging. Sie selbst hatte nicht den leisesten Schimmer, warum jemand aus einer höheren Stufe zu ihnen kam. Auch wenn das Mädchen Laura irgendwie bekannt vorkam… Wo hatte sie sie schon mal gesehen? „Könntest du bitte zu dem Schulsprecher gehen und herausfinden, was mit ihm los ist? In letzter Zeit ist er andauernd müde, bis Frau Flatterfroh ihn heute sogar vom Unterricht befreit hat.“ „Was hat er denn?“, erkundigte sich Laura besorgt. Und warum erfahren wir das erst jetzt?! Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Du bist doch seine Freundin, eigentlich solltest du das am ehesten wissen.“ Laura fiel vor Schreck fast vom Stuhl. „Ich bin nicht seine Freundin!“ Verärgert und verlegen zugleich funkelte sie Lissi an. „Tut mir leid Süße, so ein Gerücht hätte ich niemals in die Welt gesetzt.“, trällerte diese amüsiert. „Um ehrlich zu sein denkt vermutlich jeder Außenstehende, dass ihr ein Paar seid.“, vermutete Susanne. Laura konnte nur noch „Schön wär’s.“ vor sich hin murmeln. Als würden wir wie ein Paar sein… Das gibt keinen Sinn. Immerhin ging Benni Laura mal wieder erfolgreich aus dem Weg. Wäre sie doch nur nicht so talentlos im Umgang mit Schusswaffen! Oder überhaupt irgendwelchen Waffen! Das Mädchen lächelte gutmütig. „Er ist halt kompliziert.“ „Das musst du mir nicht sagen!“, fuhr Laura sie gereizt an und hätte sie vermutlich angesprungen, hätte Carsten sie nicht an der Schulter gepackt und zurück auf den Stuhl gedrückt. „Ich schau mal nach ihm.“, meinte er beschwichtigend und erhob sich. „Ist er auf seinem Zimmer?“ Das Mädchen nickte. „Jedenfalls sollte er dorthin.“ Nachdem Carsten seinen Platz zwischen Ariane und Laura verlassen hatte, verpasste diese Laura einen schmerzhaften Tritt gegen das Schienbein. Verwirrt und verärgert funkelte Laura ihre Zimmerkameradin an. Und wozu sollte das nun gut sein? „Ach Moment, du bist doch das Mädchen neulich! Vom Bus! Oder?“, ging Laura ein Licht auf. Das Mädchen lächelte sie an. „Selina. Freut mich.“ Etwas peinlich berührt kratzte sich Laura am Hinterkopf. „Ich bin Laura… ähähä… Tut mir leid wegen eben…“ Selina lachte auf. „Kein Problem. Aber siehst du, der Bus hat dich doch am Leben gelassen.“ Mit diesen Worten machte auch sie sich verstohlen grinsend von dannen. „Okay, was sollte das eben?!“, fauchte Laura Ariane an. „Also echt Laura, dass du so zickig reagierst passt gar nicht zu dir.“, tadelte Ariane. „Genauso sinnfrei ist es, wenn du dich erst entschuldigst, nachdem du sie wiedererkannt hattest… Auch wenn ich gerne wissen würde, was sie mit dem Bus gemeint hat.“, rätselte Öznur. „Ist nicht so wichtig… Und woher weiß sie dann früher als wir von Bennis Lage?! Obwohl wir mit Benni befreundet sind?!?“, fragte Laura verzweifelt und besorgt zugleich. „So mehr oder weniger befreundet.“, ergänzte Öznur. „Vielleicht gehen sie ja in dieselbe Klasse? Ich will lieber wissen, was du angestellt hast! Mit ‘nem Bus!“ Schnaubend wandte sich Laura ab. „Geht dich nix an…“ „Wohl eher: Es ist zu peinlich, um es zu erzählen.“, bemerkte Anne grinsend. „Ach, lasst mich doch einfach in Ruhe!“, schnauzte Laura, stand auf und stapfte die Treppen runter nach draußen. Bedrückt stellte sie fest, dass sie sich in letzter Zeit wirklich bescheuert benahm. Aber es gab zu viele Dinge, die sie gerade fertigmachten. Als wäre der geheimnisvolle Gegner und ihr wahrscheinlicher Tod nicht schon schlimm genug… Jetzt ging es auch noch Benni schlecht! Traurig und enttäuscht warf Laura einen Blich auf das Jungenhaus, ging allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Warum sagt Benni mir nie etwas?   ~*~   Carsten ging die mittlere Etage des Jungenhauses entlang, bis er bei der Schülervertretung angelangt war. Dafür, dass Benni eigentlich gänzlich anspruchslos war, lebte er hier sehr privilegiert. Carsten hätte eher gehofft, dass Benni einen aufgeweckten, lustigen Zimmergenossen hätte, doch egal. Eigentlich war es sogar besser, wenn er alleine lebte, denn er hatte einen ausgesprochen leichten Schlaf. Daher wusste Carsten auch, dass er wach war, als er in das abgedunkelte Einzelzimmer trat. „Hey, Benni.“ „Was?“, kam Bennis typische Gegenfrage. Carsten wechselte zu Indigonisch, der Sprache, mit der er großgezogen wurde. „Alles in Ordnung?“ Benni richtete sich auf. „Nein.“, antwortete er in derselben Sprache. Carsten ließ sich auf dem schwach beleuchteten Sofa nieder und fuhr in seiner Muttersprache fort. „Na schön, was ist los? Wenn du schon im Unterricht einschläfst, kann das nichts Gutes bedeuten.“ Es entstand eine lang gedehnte Pause, die Carsten geduldig ausnutzte, um Benni in dem spärlichen Licht eindringlicher zu beobachten. Er sah wirklich übel aus, die Sorge aller war durchaus berechtigt. Benni zog die Beine an, sein leerer Blick ruhte auf der weißen Bettdecke. Immer noch keine Antwort. Carsten verließ das Sofa wieder und ging rüber zum Bett. Er verglich die Temperatur seiner Stirn mit der von Benni. „Fieber hast du nicht… Und ich glaube nicht, dass dein Schlaf jemals von den Mondphasen beeinflusst wurde.“ Carstens Blick schweifte im Zimmer umher und kam bei dem Bücherregal zum Stehen. „Stress wegen Hausaufgaben oder Prüfungen hast du sowieso nie… Noten bedeuten dir dafür zu wenig. Daran, dass du zu weit entfernt von freier Natur bist, kann es bei der Lage dieser Schule auch nicht liegen…“, überlegte Carsten laut, immer noch auf Indigonisch. Schließlich seufzte er. „Okay, ich gebe es auf.“ Sein prüfender Blick ruhte wieder auf Benni. Ihm entging die Anspannung in der Stimme seines besten Freundes nicht, als dieser das Ratespiel endlich auflöste. „Ich habe seit Nächten den identischen Traum…“ Carsten wusste genauso gut wie jeder andere, dass das ein schlechtes Omen war. Na gut, bei einem guten Traum eher weniger. Aber ein Traum, der seinem besten Freund, dem stärksten Kämpfer Damons, derart zusetzte, war sicherlich alles andere als gut. Carsten setzte sich neben Benni aufs Bett und spürte trotz der gewissen Entfernung eine Eiseskälte, die von Bennis Körper ausging. „Was hast du geträumt?“ Zu seinem Glück war Benni durch jenen Traum müde genug, um Carsten endlich mal eine ausführliche Antwort zu geben. Immerhin ein Vorteil an seiner Lage. „Je ne sais pas… Dennoch weiß ich, dass es sich andauernd um denselben Traum handelt. Als sei es ein Déjà-vu… Mein Verstand weiß nie, was als nächstes geschehen wird, jedoch mein Herz.“ „Kannst du dich noch an irgendetwas aus dem Traum erinnern?“ Bennis überraschend kurze Aussage war alles andere als ermutigend. „Feuer und Zerstörung.“   ~*~   Es war eine Zumutung, zuhören zu müssen, während die schweren Augenlider dem Zufallen nahe waren. Der Wunsch, einfach aufzustehen, den Klassenraum zu verlassen und sich im Stall in das gefügige Stroh zu legen, war nur allzu immens. Doch Benni war sich durchaus im Klaren, dass er dazu verpflichtet war, seine guten Noten zu halten, um sein Stipendium zu bewahren. Des Weiteren hatte Benni nicht die Laune, all den Stoff aufarbeiten zu müssen, dessen Versäumnis lediglich durch diesen verdammten Traum verursacht würde, wegen dem er jede Nacht hochschrak und sich an ausschließlich zwei Begriffe erinnern konnte. Benni hob seinen Blick und schaute in die warnenden Augen Herr Noritos. Da das Gelass für den Vampir abgedunkelt wurde, verleitete das selbstverständlich erst Recht zum Einschlafen. „Nun, dann wollen wir heute mit dem magischen Krieg beginnen.“, äußerte Herr Norito schließlich, nachdem er sich wieder dem gesamten Kurs zugewandt hatte. „Wie Sie alle hoffentlich wissen, ist das Ende des magischen Krieges der Beginn unserer Zeitrechnung. Das bedeutet, der Krieg gehört seit bereits 179 Jahren der Vergangenheit an. Doch seine Auswirkungen sind auch heute noch zu spüren. Nun, da ich Ihnen das lehren muss, was in unseren Geschichtsbüchern steht, müssen wir kurz die ehemalige Herrscherfamilie wiederholen. Miss Müller?“ Selina erhob sich und begann zu sprechen. „Die Herrscherfamilie ‚Yoru‘ teilte sich mit den Dryaden unseren Kontinent. Sie lebten in friedlicher Koexistenz mit- und nebeneinander. Über den Ursprung der Kaiserfamilie ist nicht allzu viel bekannt. Ihr Urahn, ein Vampir, war der erste und zugleich längste Führer von Rutoké, welches heute als das zerstörte Gebiet bekannt ist. Ein Name wurde nie überliefert, da er nur ‚Herrscher der Nacht‘ genannt wurde, woraus sich der Name Yoru aus dem Japanischen herleiten lässt.“ „Sehr schön, Miss Müller, Sie können sich setzen.“ Selina befolgte die Anweisung. „Jedoch ist zu ergänzen, dass Rutoké nicht nur aus dem heutzutage genannten zerstörten Gebiet bestand. Auch Damon gehörte einst zu Rutoké. Doch dies war der einzige Bereich, der nach dem Krieg wiederaufgebaut wurde. Zur Zeit des Herrschers der Nacht entstanden ebenso die zwölf Dekrete des Yoru-Clans, die den Grundstein einer strengen Etikette bildeten. Benedict, würden Sie uns diese bitte in korrekter Reihenfolge auflisten?“ Widerwillig stand Benni auf, die Blicke, die ihm seine Mitschüler zuwarfen, missachtend. Durch die Vorliebe des Vampirs, Benni nicht minder als einmal in der Woche nach diesem Regelwerk abzufragen, führte dazu, dass Benni es bereits im Schlaf beherrschte. Eine subsidiäre Eigenschaft, wie er nun feststellte. Ohne zu überlegen listete er auf: „Das Volk ist dem Herrscher zu ewiger Treue und unwiderruflichem Gehorsam verpflichtet. Es hat sich entsprechend eines Wesens mit Verstand zu verhalten. Unstimmigkeiten zwischen dem Herrscher und dem Volk werden friedvoll behoben. Es ist der Herrscherfamilie untersagt, mehr als ein Kind zu zeugen. Der Mann hat das Oberhaupt der Familie zu sein. Er hat seiner Gemahlin Liebe, Treue und Ehrlichkeit entgegenzubringen. Er hat seinem Reich mit Herz und Verstand zu dienen. Er hat seinem Sohn den rechten Weg zum Herrscher zu weisen. Die Frau hat für das seelische Wohl der Familie zu sorgen. Sie hat ihrem Gemahl zu gehorchen und ihm zu jeder Zeit eine hilfreiche Stütze zu sein. Sie hat ihrem Reich mit Wohlwollen zu dienen. Sie hat ihrem Sohn ein liebevolles Leben zu bieten und ihn zu einem gütigen und gerechten Herrscher zu erziehen.“ Auf Herr Noritos Nicken hin nahm Benni wieder Platz, als die Hand einer Mitschülerin nach oben schoss. „Stimmt es wirklich, dass das zweite Kind der Yoru-Familie, falls es mal eins gab, umgebracht werden musste? Und wie war das, wenn ein Mädchen geboren wurde? In den Dekreten ist nur von dem ‚Sohn‘ die Rede.“ Herr Norito nickte. „In der Tat würde ein Regelverstoß mit dem Leben des Kindes bestraft werden und auf deine zweite Frage: Überraschender Weise wurde nie ein Mädchen geboren, daher weiß niemand, welche Folgen dies hätte. Wobei ich vermute, sie wären nicht so gewalttätig, wie jener Regelverstoß.“ „Wie ging das eigentlich mit dem Regierungswechsel vor sich?“, erkundigte sich ein Mitschüler auf einem Platz hinter Benni. „Das haben wir letztens erst durchgesprochen.“, herrschte Herr Norito ihn an, woraufhin der Junge kleinlaut erwiderte: „Bitte entschuldigt, ich war letzte Woche krank…“ „Wenn das Oberhaupt der Yorus, also der Kaiser, gestorben ist, wird das dem Zera, also dem Kaiser der Dryaden gemeldet. Der Sohn des ehemaligen Kaisers musste folglich zu dem Schloss des Zera pilgern und wurde dann dort von ihm zum nächsten Kaiser gekrönt. Bei den Dryaden lief das genauso ab, so stand kein Kaiser über dem anderen.“, erklärte sein Sitznachbar. „Hättest du dich gemeldet, wäre es vortrefflich gewesen.“, kommentierte Herr Norito trocken. Benni schloss die ihm schwer wirkenden Augen, als die Pausenklingel ertönte und die Schüler wie Fische aus dem Klassenraum strömten. Als nur noch Herr Norito und er im Raum waren fragte Benni letztendlich: „Stimmt es, dass die ‚Unfähigkeit‘ des Yoru-Clans den magischen Krieg evoziert hat?“ „Zweifeln Sie an der Historizität der uns überlieferten Quellen?“ Benni schüttelte den Kopf. „Also sind Sie der Annahme, dass der Krieg von jemandem angezettelt wurde, von dem die Quellen nichts wussten.“, vermutete Herr Norito. „Ihre Aussage war sehr spekulativ.“, meinte Benni nur, sein Lehrer nickte. „Gut beobachtet, ich bin erfreut, dass Sie trotz Ihrer besorgniserregenden Müdigkeit so gut zuhören. Zu der Zeit, als sich Kampfkünstler und Zauberer gegeneinander wandten, lebten nahezu alle Vampire noch in der Unterwelt, doch uns sind die Schlichtungsversuche des Yoru-Clans nicht entgangen. Ich vermute, der einzige Grund, warum sich Historiker den Krieg nicht erklären können liegt darin, dass sie nichts von dem Verursacher dieses Chaos wissen, weshalb sie die Unfähigkeit der Yorus zu dem Auslöser machten. Bedauernswerterweise gibt es darüber allerdings nur Legenden.“ Legenden… Benni erhob sich. „Habt Dank.“ Kapitel 23: Geschichten und Legenden ------------------------------------    Geschichten und Legenden       „Haaaaalt stop! Laura, wo willst du hin?“, hielt Ariane sie nach dem Abendessen zurück. „Auf mein Zimmer und ins Bett. Ich bin k.o.“, antwortete diese matt. Zum Glück gab es bald zwei Wochen Ferien. Laura hielt es nicht mehr aus. Daran war noch nicht einmal der unbekannte Gegner oder ihre Krankheit schuld, die ihr bei jedem Sportunterricht zu schaffen machte. Die Schule, der Unterricht und der knallharte, vollgestopfte Stundenplan waren so kräftezehrend, dass Lauras Leben nur noch aus Schule, Essen und Schlafen bestand. Letzteres von allem am wenigsten. Sie wollte jetzt einfach nur noch ins Bett. Doch Ariane hatte andere Pläne. „Zimmer: Ja. Ins Bett: Auf keinen Fall!“, beorderte sie. Überfordert stöhnte Laura auf. „Wieso nicht? Ich bin müde. Ich will schlafen!“ Doch dafür erntete sie von Ariane eine Kopfnuss. „Schäm dich! Heute hat Susanne Geburtstag und wir feiern in Lissis rein. Die haben extra den Ballturm reserviert und es gibt sogar Kuchen!!!“ „Hä?“, gab Laura nur von sich. Dieses Mal war es Ariane, die aufstöhnte. „Wusstest du nicht, dass man den Turm für Feiern reservieren kann?“ „Nein, aber wie meinst du das mit dem Reinfeiern?“ „Dass Lissi morgen Geburtstag hat und wir bis nach Mitternacht aufbleiben, um in ihn hinein zu feiern. Was denn sonst?“, erklärte Ariane, doch Laura verstand es immer noch nicht und warf ihr einen entsprechend planlosen Blick zu. „Lissi wurde ein paar Minuten nach Mitternacht geboren. Ich ein paar davor.“ Laura hatte gar nicht bemerkt, dass nicht nur sie und Ariane auf dem Weg zum Mädchenhaus waren. „Oh, ach so. Soll ich dir jetzt trotzdem gratulieren? Na egal, alles Gute.“ Verlegen lachte Laura auf. Susanne warf ihr dieses heilende Lächeln zu, das eine ähnliche Ausstrahlung hatte, wie Arianes strahlendes Grinsen. Laura musterte Lissis ruhige und schlaue Zwillingsschwester genauer. Sie hatte sich immer noch nicht wirklich an Susannes neue Frisur gewöhnt, auch wenn diese angeblich schon einige Komplimente dafür bekommen hatte. Sie stand ihr ja auch richtig gut. Es war nur… ungewohnt. Statt nun wie erhofft ins Bett zu gehen, zog sich Laura also brav etwas Schönes an, wie Ariane es ihr befahl und ging mit ihr und Susanne gegen acht in den Ballturm. Die gesamte Gruppe war da und einige Freunde von Lissi oder Susanne, die Laura nur zum Teil aus ihrer Klasse kannte. Carsten hatte es sogar geschafft Benni mitzuschleppen. Besorgt bemerkte Laura, dass dieser tatsächlich krank wirkte, als hätte er seit Tagen schlecht geschlafen. Zwar hatte Carsten gestern nach ihm gesehen, doch Laura wusste immer noch nicht, was nun eigentlich mit ihm los war. Deprimiert wandte sie sich Susanne zu, um sich abzulenken. „Habt ihr eigentlich immer so gefeiert?“, erkundigte sich Laura. Susanne schüttelte den Kopf. „Unsere Mutter hat uns das erst seit letztem Jahr erlaubt. Davor haben wir entweder nur an meinem oder an Lissis Geburtstag groß gefeiert.“ Gut gelaunt gesellte sich Lissi zu den beiden, als sie bemerkte, dass es in dem Gespräch auch um sie ging. „Also genauer gesagt nur an Susis.“ „Hä? Das gibt doch keinen Sinn.“, bemerkte Laura verwirrt. Wenn, dann sollten sie doch eher an Lissis Geburtstag feiern, da Nachfeiern ja kein Problem darstellte und Susanne vermutlich auch nichts dagegen hätte. Aber da Susanne die Ältere war und immer an ihrem Geburtstag gefeiert wurde… Hieß das, dass Lissi immer vorfeierte? Lissi zuckte mit den Schultern. „Madre ist halt etwas eigen.“ Bedrückt wandte sich Susanne ab. Laura wollte Lissi einen fragenden Blick zuwerfen, doch auch diese war schon wieder auf und davon. Das scheinen ja tolle Familienverhältnisse zu sein…, überlegte Laura ironisch. Aber einen Vorteil hatte dieser Abend: Benni konnte ihr dieses Mal nicht einfach so aus dem Weg gehen. Da sie gerade sowieso peinlicher Weise alleine dastand, beschloss sie also, ihren besten Freund über Bennis Lage auszuquetschen. Im Idealfall würde sie sogar nach einer Ewigkeit wieder mit Benni selbst sprechen können. „Hey Jungs, wie geht’s?“ Benni warf ihr einen kurzen Blick zu und wandte sich sofort wieder ab. Verdammt, das war wohl keine so geglückte Begrüßung…, ärgerte sich Laura insgeheim. Ihre und Bennis Beziehung war seit jenem Vorfall mal wieder unter dem Nullpunkt. Noch bevor sie sich aus ihrem Fettnäpfchen rausreden konnte, mischte sich Lissi schon wieder ein. Heute ist sie irgendwie gesprächiger als sonst… Jedenfalls platzt sie normaler Weise nicht in Gespräche rein. „Also, ihr ganzen Süßen, die nun hier sind: Was sollen wir machen? Ich hab’s leider nicht geschafft, an Alkohol zu kommen, deswegen müssen wir uns irgendwie anders vergnügen.“, sagte sie singend, an jeden im Saal gerichtet. „Könnt ihr euch denn nur amüsieren, wenn Alkohol mit im Spiel ist?“, erkundigte sich Ariane kritisch. Lissi zuckte mit den Schultern. „Man hat weniger Hemmungen.“ „Seit wann hast du Hemmungen?“, bemerkte Anne in ihrem schnippischen Ton. Auch wenn Laura sie immer noch nicht mochte, musste sie ihr insgeheim Recht geben. Lissi und Hemmungen? So ein Blödsinn. Wenn die doch nüchtern schon hemmungslos wirkte, wie wäre das dann erst mit Alkohol? „Wie wär’s mit Wahrheit oder Pflicht?“, schlug ein Mädchen aus Lauras Klasse vor. Ariane stöhnte auf. „Oh nein, alles, nur nicht das. Ich flehe euch an!“ „Was ist denn daran so schlimm?“, fragte Öznur nach, doch Ariane winkte ab. „Wenn Jungs mitmachen geht es doch immer nur um Liebe und so weiter. Ehrlich, wird euch das nicht irgendwann langweilig? Das macht doch keinen Spaß.“ „Ich bin auch dagegen, dass wir das spielen.“, griff Laura ihrer Zimmergenossin unter die Arme. „Ach Lauch, Nane-Sahne, ihr seid solche Spaßverderber.“, beschwerte sich Lissi. „Denk mal nach Lauch, wir würden dadurch vielleicht sogar herausfinden können, was Bennlèy von dir hält.“ Laura stolperte einen Schritt zurück. Beschämt und vorwurfsvoll funkelte sie Lissi an. Wie konnte sie das einfach so ansprechen?!? Vor lauter fremden Leuten, mit denen Laura noch nicht mal irgendwas zu tun hatte! Und noch schlimmer: Direkt vor Benni!!! „Mir reicht’s.“, murmelte Laura verärgert und nicht wissend, wo sie nun hinschauen sollte. Sie entschied sich für den letzten Ort, an dem sie keinen neugierigen Blick erwartete, den goldenen Boden. Doch als Laura ihr Spiegelbild sah, wie es verzweifelt zu ihr hinaufblickte, wandte sie sich kopfschüttelnd wieder ihrem Freundeskreis zu. „Holt mich, wenn ihr nicht mehr drauf aus seid, mich zu ärgern.“ Energischen Schrittes verließ sie den Saal. Sie war gerade Mal auf der Höhe der Reitbahn, als Ariane sie bereits eingeholt hatte. „Laura, jetzt bleib doch mal stehen!“, rief sie und hielt vor Laura an, um zu verhindern, dass diese weiter ging. „Was?!“, fauchte Laura gereizt, den Tränen nahe. „Sag jetzt nicht, dass du mir nur hinterhergelaufen bist, um mir klar zu machen, wie blöd ich mich eben verhalten hab. Das weiß ich auch selbst!“ Laura wollte an Ariane vorbei gehen, doch diese versperrte ihr weiterhin den Weg. „Das will ich nicht, glaub mir. Ich kann verstehen, warum du das Weite gesucht hast. Das eben war wirklich nicht das taktvollste, das Lissi von sich gegeben hatte.“ Deprimiert ging Laura weiter nach Westen, in Richtung Ställe. Ariane hielt sie nicht mehr zurück, sondern lief neben Laura her, bis sie schließlich die Ställe betraten. Die Einhörner warfen den beiden Mädchen neugierige Blicke zu, wandten sich allerdings nach und nach wieder leise schnaubend ab, als würden sie wissen, dass Laura gerade ziemlich angefressen war. „Sooo und was willst du nun hier?“, erkundigte sich Ariane neugierig. Laura seufzte. „Keine Ahnung, ich wollte nur nicht in der Nähe des Ballturms bleiben.“ Und die Stallungen waren auch gemütlich warm, im Gegensatz zu dem immer noch kalten Wetter außen. Auch, wenn dieses bereits viel besser war, als vor einigen Wochen. „Warum hat Lissi das sagen müssen? Jetzt weiß jeder, was ich von Benni halte…“, meinte Laura, eher zu sich selbst. Dennoch antwortete Ariane: „Ich glaube, sie wollte einfach nur deine Stimme für das Spiel gewinnen. Dass sie dich damit bloßstellte, hat sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt.“ „Trotzdem… Was denkt Benni jetzt nur von mir?“ Niedergeschlagen ließ sich Laura auf einen Hocker fallen, Ariane kniete sich vor ihr auf den Boden, um weiterhin im Auge behalten zu können, ob Laura demnächst mal wieder losheulen würde. „Um ehrlich zu sein glaube ich, dass sich seine Meinung dadurch nicht verändert hat.“, vermutete sie. Diese Aussage ließ Laura hochschrecken. „Was?!?“, schrie sie auf, einige Einhörner gaben ein beängstigtes Wiehern von sich, durch Lauras schrillen Ton alarmiert. Ariane blieb jedoch weiterhin ruhig und legte ihre Hände auf Lauras Knie. „Du weißt doch selbst, wie scharfsinnig unser eiskalter Engel ist und dass er deine Gefühle garantiert schon bemerkt hat. Denkst du, er denkt jetzt anders über dich, nur weil Lissis Aussage das bestätigt hat, was er längst wusste?“ „Warum macht er dann nie was?“, wollte Laura verzweifelt wissen. „Bin ich ihm so egal?!?“ Schluchzend ließ sie sich von Ariane in den Arm nehmen, die alle Mühe hatte, Laura wieder zu beruhigen. „So ein Unsinn… Er sieht dich mindestens als eine gute Freundin.“ „Woher willst du das wissen?!?“, schrie Laura verzweifelt. Sie wollte nicht länger unwissend bleiben. Sie wollte endlich wissen, was Benni nun für sie empfand. Selbst wenn es nicht das wäre, was Laura sich wünschte. Aber sie wollte es wissen! Ariane seufzte und schob Laura so weit von sich weg, dass sie einander in die Augen sehen konnten. „Ich glaube, ich muss es dir sagen. Du kommst sowieso nicht dahinter.“ „Hey! Na vielen Dank auch!“ Das war nicht gerade hilfreich, Laura aufzuheitern. Ariane kicherte jedoch nur. „Es ist halt so. Erinnerst du dich, was Susanne zu dir über die Mütze gesagt hat?“ „Dass die von meinem Schutzengel ist?“, vermutete Laura. Ariane nickte. „Das ist doch Schwachsinn, wie gesagt, ich hab keinen Schutzengel! Keine Ahnung, was Susanne damit meinte!“ Auf Arianes Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. „Siehst du? Ich sagte doch, dass du nie dahinter kommen würdest. Also, um erst mal eine Sache ins Licht zu rücken…“ Urplötzlich lachte Ariane drauf los. „Ha, ins Licht rücken! Eindeutig mein Job!“ Als sie sich wieder gefangen hatte meinte sie: „Okay, um dich nun zu erleuchten: Als du damals auf der Wiese zusammengebrochen warst, hatte keiner von uns eine Ahnung, was passiert war. Aber der eiskalte Engel war von der einen auf die andere Sekunde verschwunden. So sehr es mich auch nervt, dass gerade er den Helden spielen durfte, ohne ihn würdest du dir um das in über zwei Monaten keinen Kopf mehr machen müssen, da du gar nicht mehr hier wärst.“ Garantiert sah Laura gerade völlig bedeppert aus, wie sie Ariane anstarrte. „Benni hat mich…“ „Nicht nur das.“, meinte diese. Als würde es etwas geben, das Laura noch mehr aus der Bahn werfen könnte. Nun gut, Bennis Eingreifen war eigentlich nicht überraschend, da er sie schon immer beschützt hatte. Immerhin war das sein Job. Moment… Beschützt… Ariane wedelte mit der Hand vor Lauras Gesicht. „Hey, hör mir bitte zu, wenn ich mal die Allwissende spielen darf!“ „Äh- ja?“ Ariane stöhnte. „Was ich sagte: Diese Mütze-“ „Ach hier seid ihr.“ „Sehr schlechtes Timing, Carsten.“, wies Ariane ihn gereizt zurecht. Carsten lachte verlegen auf. „Oh, verzeiht. Ich wollte eigentlich nur sagen, dass Lissi wegen dir das totale Theater veranstaltet.“ Verwirrt schaute Laura ihn an. „Hä?“ Carsten wollte bereits antworten, doch da kam schon Lissi an ihm vorbeigeschossen. „Oh Gott Lauch, es tut mir so leid! Bitte sei nicht böse, ich wollte das doch gar nicht!!!“ Lissis Geschwindigkeit und Kraft war so überragend, dass sie Laura bei ihrer Umarmung erst mal vom Stuhl schmiss. „Aua…“ Mit einer Beule am Hinterkopf mühte sie sich wieder auf, nachdem Lissi von ihr runter geklettert war. Kaum stand Laura, sorgte Lissi mit ihrer Umarmung dafür, dass Laura noch mehr blaue Flecken bekam. „Es tut mir so leid, es tut mir so leid, es tut mir so leid! Kannst du mir je verzeihen?“ Zum Glück schritt Ariane ein und rettete Laura vor Lissis schmerzhaften Entschuldigungen. „Ich denke Laura könnte das, wenn du sie am Leben lassen würdest.“ Kaum waren diese Worte gesprochen, war Lissi wieder bester Laune. „Oh, supi! Also kommt jetzt endlich zurück zu den anderen! Ihr könnt ja vorschlagen, was wir machen!“ Sie packte Laura mit der einen und Ariane mit der anderen Hand. Widerstandslos ließen sie sich von Lissi zurück in den Ballturm zerren. Carsten folgte ihnen, sichtlich amüsiert. Laura warf einen Blick über die Schulter zurück zu den Stallungen. Das was Ariane ihr hatte mitteilen wollen… Hatte sie damit etwa gemeint, dass… Die Hitze stieg in ihre Wangen, als sich in Lauras Kopf die Puzzleteile zusammensetzten.   Im Ballturm stellte Laura verwundert fest, dass nur noch ihre Gruppe und zwei weitere Mädchen da waren. „Wo sind denn die anderen?“, fragte sie verwirrt. Öznur zuckte mit den Schultern. „Wir hatten einige Meinungsverschiedenheiten, da sie vorgeschlagen hatten, unseren Schulsprecher loszuschicken und Alkohol zu besorgen.“ Ariane lachte auf. „Gott, ich glaub‘s nicht. Als wäre das das einzig tolle an den Feiern. Und was hat unser Schulsprecher gesagt?“ Als Öznur an Bennis Stelle antworten wollte, befahl Ariane ihr mit eindeutiger Geste, zu schweigen. „Niemand nimmt ihm diese Antwort ab. Ich will es aus seinem Mund hören und zwar mit demselben Ton, den er auch bei denen hatte.“ Mit seinem ruhigen Pokerface erwiderte Benni Arianes bestimmenden Blick. Er ging ihrer Bitte, oder eher ihrem Befehl, tatsächlich nach, als er mit tiefer, ruhiger Stimme sagte: „Die Verkommenheit der Menschen ist immer und wieder frappierend.“ Ariane lachte auf. „Oha, das ist krass. Jetzt hast du vermutlich ein paar Fans weniger.“ Doch Benni zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Also Nane-Sahne? Was machen wir jetzt?“, drängte Lissi. Ariane grinste schelmisch. „Kennt ihr das Werwolf-Spiel?“ Verwirrt musterte Laura sie. „Hä?“ „Okay, ich erklär’s euch.“, meinte Ariane zufrieden. „Wir setzen uns in einen Kreis, es gibt ein Dorf und den Spielleiter. Jeder Bewohner des Dorfes bekommt eine Rolle, die ihm spezielle Fähigkeiten im Spiel verschafft. Die erste ist der Werwolf, von dem es meistens mehrere gibt. Sie einigen sich auf eine Person, die sie töten wollen.“ „Das ist ja ein ganz schön brutales Spiel…“, kommentierte Susanne erschrocken. Ariane winkte ab. „Ach Unsinn. Die zweite Rolle ist die Hexe, sie kann einem das Leben retten, wenn er von einem Werwolf getötet werden sollte, wobei das nur einmal geht. Eine weitere Möglichkeit wäre, noch jemanden zu töten, wenn sie was gegen diese Person persönlich hat, oder in ihm einen Werwolf vermutet. Sonst kann sie auch einfach gar nichts tun. Dann gibt es noch Amor, der zu Beginn ein Liebespaar bestimmt und den Rest des Spiels Bauer ist. Das Besondere… oder eher der Nachteil… am Liebespaar ist, wenn einer getötet wird, stirbt auch der andere. Der Bauer ist einfach nur ein stink normaler Dorfbewohner, der zusammen mit den anderen Tagsüber abstimmt, wer vermutlich der Werwolf ist und getötet werden soll. Ach so, dann gibt es noch das blinzelnde Mädchen und die Seherin. Das blinzelnde Mädchen darf, wie der Name schon sagt, als einzige blinzeln, wenn die anderen Rollen ihren Aufgaben nachgehen. Aber es sollte dabei am besten nicht entdeckt werden, da die Werwölfe sicherlich nicht zulassen werden, dass sie bei der Abstimmung für einen von ihnen ist. Die Seherin darf jede Runde die Rolle einer von ihr ausgewählten Person erfahren.“ Öznur schnipste mit den Fingern. „Stimmt, ich kenn das Spiel, das ist cool! Aber gibt es nicht noch den alten Mann und den Jäger?“ Ariane stöhnte auf. „Schon, aber das werden mir sonst zu viele.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Klingt gut, aber dann solltest du die Spielleiterin sein.“ „Klar, das soll ich immer.“, meinte Ariane mürrisch. „Aber wenn’s sein muss… Dann bringt mir mal Stift und Papier.“ Mit einer einzigen Handbewegung ließ Susanne die gewünschten Utensilien auftauchen und reichte sie an Ariane weiter. „Also… wie viele sind wir? Zehn. Gut, Werwolf… Werwolf… Hexe…“, murmelte Ariane, während sie die Rollen auf das Papier kritzelte. Als sie schließlich fertig war, riss sie es in Streifen und faltete die Fetzen zusammen. „Alle Mann einen Kreis bilden!“ Wie schon bei Carstens Teleportationen sah die Kreisbildung bereits richtig professionell aus. Außer Laura, die einen zögernden Versuch startete, sich neben Benni zu setzen. Ihren Blick auf ihm ruhend, ließ sie sich auf dem Boden nieder, doch Benni ignorierte sie gekonnt und massierte sich die Schläfen. „Es necesario?“, fragte er Carsten zugewandt. Dieser seufzte. „Es cortesía.“ Laura beugte sich zu Benni rüber. „Was ist denn los?“, erkundigte sie sich besorgt. Endlich erwiderte Benni ihren Blick, doch er schüttelte lediglich den Kopf, wandte sich wieder ab und nahm einen der Zettelchen aus Arianes Hand. Laura tat es ihm gleich. „Okay, schaut still und heimlich nach, welche Rolle ihr habt und legt den Zettel dann wieder zusammengefaltet vor euch.“, meinte Ariane. Laura tat wie geheißen und öffnete das Zettelchen. Sie hatte das Gefühl, das Blut würde in ihren Adern gefrieren. Eine unsagbare Angst überkam sie. Werwolf Sie war ein Werwolf?! Nein, nein, das kann nicht sein! Ich will kein Werwolf sein! Heißt das… Ich muss jemanden töten? TÖTEN? Aber dann… Dann wäre ich doch ein Mörder… Nein, ich will nicht! Mit zitternden Fingern faltete Laura den Zettel wieder zusammen und legte ihn vor sich auf den Boden. Den grausamen Zettel, der mit einem Wort seine ganze Brutalität innehatte. Sie würde jemanden töten müssen… Aber das wollte sie nicht! Wen sollte sie denn von all denen töten wollen??? Laura kam eine Idee. Vielleicht… Anne! Sie warf Anne einen flüchtigen Blick zu, die ihren Zettel bereits vor sich liegen hatte, ohne eine Gefühlsregung im Gesicht. Auch sie beherrschte das Pokerface. Im Gegensatz zu Laura, die am ganzen Körper zitterte. Ich werde jemanden töten müssen… Klar, es ist nur ein Spiel, aber… Ariane stellte sich in die Mitte des Kreises und zeigte auf die beiden Mädchen, die vermutlich zu Susannes Freundeskreis zählten, da sie von der Alkoholdiskussion nicht betroffen schienen. „Damit ich nicht peinlicher Weise dumm rum stottere, sagt ihr mir am besten jetzt eure Namen.“ „Sina.“, stellte sich das Mädchen mit den hellbraunen, gelockten Haaren vor, das neben Susanne saß. „Und ich bin Sarah.“, meinte das andere Mädchen neben Sina mit langen, dunkelbraunen Locken. Ariane setzte sich zwischen Lissi und Carsten, da sie offensichtlich keine Lust hatte, die ganze Zeit in der Mitte des Kreises zu stehen. „Okay… Also, es war einmal ein Fischerdorf. Es war zwar klein, aber dafür kannte jeder jeden und alle hatten sich lieb. Doch eines Nachts… Das Dorf schläft bereits friedlich…“ Da alle anderen bei dieser Aufforderung die Augen schlossen, tat Laura es ihnen gleich, während Ariane weiter sprach. „… Da wachte Amor auf, der ein Liebespaar bestimmt.“ Es entstand eine kurze Pause, bis Laura Ariane kichern hörte. „Amor hat durchaus eine… exotische Entscheidung getroffen. Wir haben hier ein wunderschönes Paar.“ Wieder kicherte Ariane. Laura überlegte. Ob Amor vielleicht… Mich und Benni…? Nein, vermutlich nicht… Aber vielleicht… Sich Hoffnungen machend, hörte Laura Arianes Worte, die ihr das Blut in den Adern gefroren: „Die Werwölfe wachen auf.“ Laura öffnete ihre Augen und sah sich um, wer der andere Werwolf, der andere Mörder, sein würde. Erschrocken sah sie, dass auch Anne ihre Augen geöffnet hatte, mit einem fiesen Grinsen auf dem Gesicht. Nein!, schrie es in Laura. „Die Werwölfe wählen ein Opfer aus.“, fuhr Ariane fort, während absolute Stille herrschte. Nur Lissi spielte an ihrem klimpernden Armband herum. Es war zu erwarten. Laura war noch nicht einmal überrascht, als Anne auf Benni zeigte. Nein!!! Wild und wie der letzte Depp um sich fuchtelnd versuchte sie Anne zu erklären, dass Benni nicht getötet werden sollte. Alles! Jeder! Nur nicht Benni!!! Doch Anne blieb bei ihrer Meinung. Ariane kratzte sich am Hinterkopf. „Ähm… Die Werwölfe können sich nicht entscheiden…“ Wieder zeigte Anne auf Benni, mit einem bestimmenden Blick in den Augen. Sie wollte ihn, keinen anderen. Wieder schüttelte Laura den Kopf. Sie wollte jeden anderen, nur nicht ihn. Ariane seufzte. „Die Werwölfe diskutieren weiter… Vielleicht sind sie kompromissbereit?“ Und tatsächlich. Zu Lauras Erleichterung gab Anne nach. Ihr Finger wanderte weiter, entfernte sich von Benni, bis er auf Carsten zeigte. Nein, der auch nicht!!!, versuchte Laura Anne klarzumachen. Doch von dieser Entscheidung würde sich die nicht abbringen lassen, das wusste Laura genau. Ebenso Ariane. „Der zweite Werwolf sollte sich vielleicht auch kompromissbereit zeigen.“ Laura kamen die Tränen in die Augen, als sie sich geschlagen gab. Ariane seufzte erleichtert auf. „Nach dieser schnellen Entscheidung schlafen die Werwölfe wieder ein…“ Laura schloss die Augen wieder. Sie zitterte am ganzen Körper. Carsten würde sterben… „… und die Hexe wacht auf.“ Nach einer kurzen Pause meinte Ariane ganz mysteriös: „Die Hexe hat sich entschieden. Nun wacht die Seherin auf und wählt die Person, deren Identität sie aufdecken möchte.“ Wieder entstand eine kurze Pause, bis Ariane weiter sprach: „Die Seherin trifft eine überaus durchdachte Entscheidung. Mit wehendem Kleid macht sie sich auf den Weg zum Opfer. Schließlich wird es wieder Tag. Das ganze Dorf wacht auf.“ Nun öffnete jeder seine Augen. Sich wie vom Teufel verfolgt fühlend, schaute sich Laura in der Runde um. Wer war was? Wusste jemand, dass sie eine Mörderin war? Ariane erzählte weiter: „Wie jeden frühen Morgen begann die Milchfrau Sina -die Milch war heute besonders gut- ihre Runde bei ihrer Affäre. Langsam öffnete sie die knarzende Tür, doch etwas war anders. Statt mit einem stürmischen Kuss, wurde sie von einem kalten Luftzug aus der offenen Schlafzimmertür empfangen. In freudiger Erwartung ließ sie ihre Jacke fallen.“ Öznur warf Ariane einen kritischen Blick zu. „Wird das jetzt ein Porno?“ Nun ruhte auch Lissis erwartungsvoller Blick auf der Erzählerin, die ihrer Aufgabe unbeirrt folgte: „Doch was war das? Ihr Schatz lag totenbleich auf dem Bett, eine riesige Wunde klaffte in seiner Brust.“ Lauras Zittern verstärkte sich. Sie wusste, von wem Ariane sprach. Nur diese Sache mit Affäre und stürmischer Kuss verwirrte sie… „Selbst der Dornröschen-Kuss vermochte es nicht, ihn zu wecken, doch er lebte noch.“ Erleichtert atmete Laura auf. „Schnell rief sie nach dem Arztheiler.“ Öznur schaute sie nun verwirrt an. „Arztheiler? Was ist denn das für ein Beruf?“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Nur mit Mühe konnte sie Benni überreden, seinen größten Frauenkonkurrenten Carsten mit in die Krankenstation zu nehmen.“ Während alle Mädchen loslachten -nur Anne verdrehte verstimmt die Augen- tauschten Carsten und Benni einen kurzen Blick aus. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, meinte Ariane: „Doch die Frauen des Dorfes sandten nach Rache, es musste ein Schuldiger gefunden werden. War es vielleicht Lissi, die Affären-Königin?“ Öznur, Anne und Sarah meldeten sich sofort, auch Sina schloss sich ihnen kurz darauf an. Zögernd hob Laura ebenfalls ihre Hand. Für irgendjemanden musste sie immerhin stimmen… „War es Öznur?“ Bei ihr meldete sich nur Lissi. „Anne, die Polizeikommissarin des Dorfes?“ „Polizeikommissarin?“, fragte Janine verwirrt, meldete sich aber, als sie sah, dass sich Benni, Carsten und Susanne für diese ‚Polizeikommissarin‘ entschieden hatten. Ariane zuckte erneut mit den Schultern. „Und da alle Stimme vergeben sind, können sich die restlichen Personen diese Runde in Sicherheit wiegen. Angeführt von Sina beschließt das Dorf, dass Lissi sterben muss, denn jeder wusste, dass die Affären-Königin selbst mit Carsten eine Beziehung hatte, bevor sie von Sina abgelöst wurde und welch besseren Grund hat man für einen Anschlag als Rache?“ Laura bemerkte belustigt, dass sich Carstens Gesicht durch Arianes Geschichte rötlich gefärbt hatte. Lissi hingegen schluchzte betroffen, doch Ariane blieb ungerührt. „Lissi wird ermordet und das Dorf schläft ein.“ „Ihr seid so gemein.“, kommentierte Lissi gespielt dramatisch ihre Situation, klang aber bei weitem nicht so betroffen, wie Laura sich fühlte, als Ariane sagte: „Die Werwölfe wachen auf.“ Natürlich zeigte Anne wieder auf Benni. Nein, nein nein!!! Wieder versuchte Laura ihr klarzumachen, dass sie nicht Benni nehmen sollte. Benni sollte nicht sterben! „Die Werwölfe können sich erneut nicht entscheiden.“ Wieder verharrte Anne auf ihrer Entscheidung und wieder versuchte Laura, sie davon abzubringen. Benni soll nicht sterben!!! „Okay, es scheint eine schwierige Entscheidung zu sein, wäre vielleicht wieder ein Kompromiss möglich?“ Anne deutete Laura an, dass sie entscheiden sollte. Zitternd schaute sich diese in der Runde um. Wen würde sie töten wollen??? Sie wollte keinen töten, sie wollte keine Mörderin sein! Schließlich zeigte sie auf die Person, die ihr am ehesten in den Sinn kam. Auf Anne. Ariane stöhnte auf. „In diesem Fall muss das Schicksal -also ich- entscheiden und es entscheidet, dass die Person, dessen Schicksal es scheinbar ist zu sterben… Sterben wird.“ Verwirrt schaute Laura sie an. Warum spricht Ariane immer in Rätseln? Doch diese meinte bereits: „Erschöpft von dieser schwierigen Entscheidung schlafen die Werwölfe wieder ein, doch die Hexe spürt, dass etwas nicht stimmt und wacht mit mulmigem Gefühl auf.“ Laura lauschte in die Stille, in der sich die Hexe entschied. „Die Hexe hat ihren Rettungstrank bereits verbraucht… Deshalb handelt sie nicht und schläft wieder ein. Die Seherin wacht auf.“ Nach einer verdächtig kurzen Pause meinte Ariane: „Mit wallendem Rocke -sie hat sich umgezogen- schreitet die Seherin zu der Person, die ihre Glaskugel für sie ausgesucht hat und deckt ihre Identität auf. Alle schlafen wieder ein. Schließlich wacht das ganze Dorf auf. Wieder einmal ist es die Milchfrau Sina die als erste auf den Beinen war. Sie wollte ihren Geliebten im Krankenhaus besuchen, doch bereits im Flur fanden sich die ersten Blutspuren. Sie stürzte ins Zimmer, doch Carsten schnurfelte seelenruhig in seinem Bett, es war der Arztheiler Benedict, der tot zu ihren Füßen lag.“ Laura konnte nicht anders, als sie ein betroffenes „Bitte nicht…“ murmelte. Warum Benni? Warum?!? Doch besagter ‚Arztheiler‘ blieb ungerührt, obwohl er eben gestorben war. „Schreiend alarmierte sie die Polizeikommissarin. Diese ahnte bereits, wer das Opfer war, denn das gestrige Opfer, Carsten, war immerhin in den Krankensaal umgezogen. Doch nicht Carsten war tot, sondern Benni, ihre heimliche große Liebe.“ „Wie bitte?!?“, donnerte Anne. Es missfiel ihr, das war mehr als deutlich. Anne und Benni? Verwirrt schaute Laura zwischen den beiden her. Sogar sie erkannte, dass Amor damit beabsichtigt hatte, Anne zu ärgern. Bei jedem anderen hätte sie vermutlich vor Eifersucht gekocht, aber nicht bei Anne. Das war zu offensichtlich. Ariane zuckte grinsend die Schultern. „Ihre Leidenschaft für ihn war grenzenlos, doch bisher hatte sie es hinter einer kalten Fassade verstecken können. Vom tosenden Schmerz übermannt rannte sie hinaus aufs offene Meer und schwamm bis hinter den Horizont und kam nicht mehr zurück. Das Dorf empfand Mitleid und so verbrannten sie Benni und warfen seine Asche ins Meer, sodass sie wenigstens dort vereint werden.“ Anne spielte einen Würgereflex vor. „Ihr habt sie nicht mehr alle.“ „Was sie nicht wussten war, dass soeben ein Werwolf, dessen Existenz nicht einmal bewusst war, gestorben war, ebenso wie die Seherin, der auch ihre Kleider und Röcke nicht geholfen hatten, ihre wahre Identität als Seher-Benedict zu verstecken. Doch dem Dorf war klar, es musste einen Mörder geben, der nun sterben musste. War es Carsten, der ewige Frauenkonkurrent von Benni?“ Carstens Gesicht rötete sich, als Sina und Öznur ihre Hand hoben. Ariane hob die Augenbrauen, fuhr aber fort: „War es Laura, ohne Identität?“ Laura schnaubte. „Danke…“ Erschrocken schaute sie Carsten an, der sich doch tatsächlich meldete. Ebenso Susanne und Janine. Wissen sie es? Aber wie haben sie das herausgefunden?!? Das gibt keinen Sinn!!! Laura bemühte sich, Bennis Pokerface zu imitieren, was vermutlich total in die Hose ging. „Die liebliche Janine?“, fragte Ariane weiter, doch für Janine meldete sich niemand. „Sarah, die beste Freundin der Milchfrau Sina, die all ihre Geheimnisse kannte?“ Niemand. „Oder gar die Intrigenspinnerin Sina selbst?“ Die ‚beste Freundin der Milchfrau‘ meldete sich. „Vielleicht Susanne, die Arztheilerhelferin, die meinte, dass es an der Zeit für sie sein würde, aufzusteigen?“ Keiner. „Oder Öznur, die Jungdesignerin? Die ihre Stücke bisher nur der Seherin angedreht hatte und genau wusste, dass, wenn herauskäme, dass Benni der Seher sie trug, ihr Berufswunsch keine Chance hatte?“ Wieder keiner. „Okay, dann ist die Entscheidung gefallen… Moment, Laura? Was ist mit deiner Stimme?“ Laura kratzte sich am Hinterkopf. „Ich äh… Kann ich mich auch enthalten?“ Sie wollte für keinen stimmen! Doch zu ihrem Ärgernis schüttelte Ariane den Kopf. „Komm schon, melde dich einfach für einen.“ Laura zeigte auf Anne. Ariane stöhnte auf. „Die ist tot.“ Sie zeigte auf Lissi. „Die auch.“ „Ich will für keinen stimmen!“, beschwerte sich Laura, doch Ariane ließ sich nicht abbringen. „Dann nehmen wir halt die Mitte, die zwischen Anne und Lissi sitzt. Keine Sorge, Özi. Laura ist eh überstimmt.“ Ariane wandte sich wieder der gesamten Gruppe zu. „Und so wurde Laura das Opfer des Teufelstrios, die ihre Rolle als unwichtigste im Dorf ansahen. Carsten, der nun einzige Frauenschwarm, Susanne, die aufgestiegene Arztheilerin und Amo-anda. Das Trio, das sich nach oben geschlafen und gemordet hatte, brachte Laura kaltherzig um und übernahm die Kontrolle über das Dorf. Denn die einzige noch existierende Bedrohung, der zweite Werwolf, war nun auch tot.“ Laura kamen die Tränen, sie konnte nicht mehr. „Das ist so gemein von euch.“, schluchzte sie. Carsten seufzte. „Laura, das ist nur ein Spiel.“ „Aber ihr wolltet mich töten! Ihr habt mich getötet!“, schrie sie das ‚Teufelstrio‘ an. Das ist so gemein… Janine lachte auf. „Komm schon, nimm es nicht so ernst. Wie gesagt, es ist nur ein Spiel.“ „Apropos nicht so ernst…“ Bedrohlich funkelte Anne Janine an. „Was hast du dir dabei gedacht, mich und den da zu nehmen?!? Na warte, süß hin oder her, jetzt kannst du was erleben!!!“ Anne sprang auf und wollte auf Janine los, als Öznur sie am Handgelenk packte und warnend anschaute. „Es ist nur ein Spiel. Du und Benni, das ist ja gerade der Witz bei der Sache. Besonders, weil vermutlich du darauf verharrt hast, ihn zu töten. Du musst dir schon eingestehen, dass diese Ironie des Schicksals zum totlachen ist.“ Anne schnaubte. „Find ich nicht.“ Lissi stöhnte auf. „Gott, Anni-Banani, bist du empfindlich. Wie wär’s, wenn wir jetzt etwas Karaoke singen?“ Die Meinung der Gäste teilte sich in ‚super Idee‘ und ‚was für ein Scheiß‘. „Ich will lieber nochmal das Werwolf-Spiel…“, murrte Laura beschämt, obwohl das Werwolf-Spiel ihren Nerven offensichtlich nicht gut tat. „Ich kann nicht singen…“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Ich doch auch nicht, dann drücken wir uns halt davor.“ „Oh nein, jeder singt!“, mischte Sarah mit. „Du kannst uns nicht zwingen.“, zischte Anne drohend. „Aber es ist doch dämlich, wenn nicht jeder singt.“, diskutierte auch Öznur mit. Während nahezu jedes Mädchen versuchte, seine Meinung durchzusetzen, bemerkte Laura, wie Benni und Carsten kurz miteinander sprachen und schließlich beide aufstanden. „Hey, halt! Wo wollt ihr hin?!?“, rief Öznur ihnen zu, als sie bereits bei der Tür waren. Anne lachte auf. „Geht ihr etwa nur zu zweit aufs Klo?“ Carsten schüttelte den Kopf. „Ich muss was holen gehen und Benni ist nicht davon angetan, beim Karaoke mitmachen zu müssen. Wir kommen später wieder, keine Sorge.“ Ariane schnaubte. „Dich hätte ich schon gerne singen gehört, eiskalter Engel. Dann hätte ich wieder eine Wette gegen Anne gewinnen können.“ Doch Benni schüttelte bestimmt den Kopf und verließ den Ballturm. Carsten winkte den Mädchen noch kurz zu, ehe er es seinem besten Freund gleich tat und nach außen ging. Ariane schnaubte. „Feigling.“ „Lass ihn doch, Nane.“, nahm Susanne Benni in Schutz. „Er scheint wirklich ziemlich fertig zu sein. Wir sollten ihm etwas Ruhe lassen…“ Auch Sina mischte mit. „Es ist schon beeindruckend genug, dass er mit euch befreundet ist.“ „Was soll das denn heißen?!?“, rief Laura empört. „Oh, bist du tatsächlich seine Freundin?“, erkundigte sich Sarah. Lauras Gesicht wurde tiefrot. „Nein…“ „Nicht offiziell.“, ergänzte Öznur. Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde platzen, so vollgepumpt mit Blut war er. Aber sie wollte darauf nichts erwidern, nicht in der Gegenwart der beiden Mädchen, die sie gar nicht wirklich kannte. Auch, wenn die eine plötzlich Carstens Affäre war… Deprimiert stellte sich Laura dem nächsten Programmpunkt von Lissis und Susannes Geburtstagsfeier: Dem Karaoke. Sie wollte nicht singen. Sie konnte nicht singen. Sie war noch nicht einmal in der Stimmung zu singen. Immerhin ist Benni mir schon wieder aus dem Weg gegangen… Er hasst mich immer noch… Aber die gute Laune kam so halbwegs zurück, als Laura bemerkte, dass einige der anderen Mädchen auch nicht singen konnten, so wie Ariane, die das bereits vorhergesagt hatte. Sogar ohne Alkohol konnten sie sich amüsieren und brachten die peinlichsten Gesangseinlagen auf das Parkett. Die Überraschung des Abends war allerdings Janine. Sie hatte einen wunderschönen Sopran und lieferte eine so eindrucksvolle Darbietung des Liedes einer Symphonic-Metal-Band, dass den Mädchen der Mund offen stehen blieb. Auch Lissi und ebenso ihre Zwillingsschwester konnten verdammt gut singen, aber Janine… Sie war einfach der Hammer. Trotz dem unschönen Anfang musste sich Laura eingestehen, dass die Feier irgendwie Spaß gemacht hatte. Gegen eins, nachdem alle Lissi alles Gute gewünscht hatten, die zehn Minuten nach Mitternacht geboren wurde, verabschiedeten sich Sina und Sarah. Etwa fünf Minuten später kam Carsten tatsächlich zurück. Mit Benni im Schlepptau, der so wirkte, als könne er es bei seiner Übermüdung nicht gebrauchen auf solche Feiern zu gehen. Öznur schnaubte. „Erfolgreich gedrückt. Und wie habt ihr euch eben amüsiert?“ Carsten zuckte mit den Schultern. „Sei nicht so doppeldeutig.“ Er hielt ein Buch in die Höhe, das Laura sofort wiedererkannte. -Die Legenden des magischen Krieges- Ihr Geburtstagsgeschenk an ihn. „Benni hatte eine Vermutung, wie wir mehr über unseren Unzerstörbaren erfahren könnten… Tatsächlich haben wir hier etwas Nützliches entdeckt.“, meinte er. Öznur stöhnte auf. „Wir sind hier auf einer Feier… Erspart mir euren Geschichtsunterricht.“ Doch Carsten schüttelte grinsend den Kopf. „Kommt mit in den Stall. Ach so und alles Gute, Lissi.“ „Bekomm ich als Geschenk ein Küsschen?“, erkundigte sich das Geburtstagskind erfreut. Carstens Wangen färbten sich rot. Verlegen lachte er auf. „Lieber nicht.“ Widerwillig folgten die Mädchen ihm und Benni in den Stall. Carsten nahm ein Stück Kreide und begann, ein sehr großes Pentagramm mit seltsamen Symbolen auf den Steinboden des Gangs zu zeichnen. „Was machst du da?“, fragte Ariane kritisch. „Ist das nicht das magische Zeichen, dass verhindert, dass Magie rein oder raus kommt?“, vermutete Susanne. Carsten nickte. „Das ist notwendig… Kommt alle in den Kreis.“ Die Mädchen taten, was er verlangte, nur Benni ging in eine der Boxen und lehnte sich gegen das schwarze, glänzende Einhorn, das auf dem weichen Stroh lag. „Hey, komm her!“, befahl Ariane, doch Carsten schüttelte den Kopf. „Lass ihn, Benni weiß bereits von allem.“ „Also, was habt ihr so schlaues herausgefunden?“ Kritischen Blickes musterte Anne erst Carsten und dann Benni, der vermutlich nicht schlief aber die Augen geschlossen hatte. Carsten öffnete das Buch und Laura war wie gebannt davon, wie perfekt seine schöne Stimme mit den magisch wirkenden Worten harmonierte. „Der magische Krieg, eine gewaltige Schlacht, die das Leben vieler forderte. Eine Schlacht, die wie aus heiterem Himmel entstanden schien. Doch dem war nicht so. Ein Wesen, mehr als Tier, Mensch oder Vampir, hatte sie verursacht. Es kontrollierte die Menschen. Wollte, dass sich die Welt durch ihr eigenes Chaos zerstörte. Chaos und Zerstörung. Das Wesen liebte dies, mehr als alles andere. Doch ihm konnte Einhalt geboten werden. Drei junge, mächtige Krieger wagten sich zu ihm. Die Schlacht war schwer, der Preis zu hoch. Doch sie kämpften und gewannen. Aber man konnte es nicht töten. Das Monster wurde gebannt, in die tiefsten Tiefen der Unterwelt. Auf das es der Welt nie wieder schaden möge.“ Carsten klappte das Buch wieder zu. Nachdenklich setzte sich Susanne auf den Boden. „Immerhin stimmt das mit dem überein, was wir bereits wussten…“ Janine schauderte. „Das heißt, dass wir es mit dem Verursacher des magischen Kriegs zu tun haben?“ „Es ist nur eine Vermutung…“, überlegte Carsten, „Aber wie Susanne schon sagte, es passt perfekt zu dem, was wir von Benni und Konrad erfahren haben.“ „Dann sollten wir wirklich das tun, wozu Eufelia uns geraten hat… Die Verbindung zu den anderen Dämonenbesitzern und unseren Dämonen stärken.“, meinte Ariane nachdenklich. Anne schnaubte. „Ich stelle die Richtigkeit dieser Informationen, die wir bereits haben, immer noch infrage.“ Carsten zuckte mit den Schultern. „Bitte, ich weiß, dass du dich davon nicht abbringen lässt. Aber wir sollten in den Osterferien wirklich los in eure Regionen, damit ihr die Prüfung für eure Dämonenform absolvieren könnt.“ „Aber die fangen doch schon nächste Woche Freitag an!“, stellte Öznur erschrocken fest. Anne lachte auf. „Prüfungsangst? Ich glaub nicht, dass man für so was lernen muss.“ Laura bemerkte, dass auch Janine nervös war. „Heißt das… wir müssen nach Mur?“ Schaudernd schüttelte sich Laura. Die Region, in der Armut und Kriminalität Alltag war. Jene Region, in der ein Diktator herrschte… „Wir müssen halt sehr vorsichtig sein, dann geht alles gut.“, meinte Susanne beruhigend. „Allerdings sollten wir uns immer teleportieren, denn durch die Flüge verlieren wir eine Menge Zeit und es würde für jeden von uns zu kostspielig werden.“ Laura schauderte erneut. „Aber ich kann doch nicht-“ Carsten warf einen kurzen Blick auf Benni, der entweder tatsächlich eingeschlafen war, oder einfach nur keine Lust hatte, seine Augen aufzumachen. „Vielleicht hilft er dir ja wieder…“ „Du weißt doch, dass er mich immer noch wegen… na ja, du weißt schon… diesem Vorfall… hasst…“ Laura wischte sich eine Träne weg, die sich aus ihrem Auge gestohlen hatte. „Wir nehmen immer die am nächsten liegende Region… Das kostet dann weniger Energie.“, meinte Carsten tröstend und wandte sich entschuldigend zu Janine. „Das bedeutet allerdings, dass wir mit Mur anfangen werden…“ Susanne legte der am ganzen Körper zitternden Janine eine Hand auf die Schulter. „Das wird schon…“ Kapitel 24: Mut zum Handeln ---------------------------    Mut zum Handeln       Die sechste Stunde am Freitag war vorbei, die letzte Stunde vor den Osterferien. Es war soweit. Die Reise zu den Schreinen der Dämonen begann. Bedrückt folgte Janine Susanne, Öznur und Carsten in den Südwald außerhalb der Coeur-Academy, nachdem sie ihre Sachen aus den Zimmern geholt hatten, die sie für zwei Wochen brauchen würden. Der Schulsprecher war bereits da und lehnte mit geschlossenen Augen an einem Baum, dessen Knospen schon zu sprießen begannen. Als Carsten auf Benni zukam, öffnete er schließlich seine Augen. Die beiden wechselten einige Worte in einer Sprache, die Janine noch nie zuvor gehört hatte, bis sich Carsten wieder den Magiermädchen zuwandte. „Wie geht es ihm?“, erkundigte sich Susanne besorgt. Janine war von ihrer ausnahmslosen Nächstenliebe schon immer beeindruckt gewesen. Selbst die kalte, abweisende Art des Schulsprechers hielt sie nicht davon ab, ihm Empathie und Fürsorge entgegenzubringen. Susanne war wahrlich wie ein Engel auf Erden. „Nicht wirklich gut…“, antwortete Carsten. In seiner Stimme war deutlich zu hören, wie sehr ihn die Situation seines besten Freundes belastete. Nun warf auch Janine einen Blick auf Benni. Im Gegensatz zu den Übrigen, die bei diesen 17° noch eine Jacke über einem langärmeligen Oberteil trugen, hatte er lediglich einen schwarzen Kapuzenpullover an, auf dem eine Skeletthand und das Wort ‚DEATH‘ abgebildet waren. Des Weiteren trug er wie gewohnt eine schwarze Jeans und schwarze Schuhe. Janine musterte Bennis Gesicht, das sich teils hinter den strahlenden weißblonden Haaren verbarg. Sein Blick war leer, das schwarze Auge wirkte matt und trostlos, darunter befanden sich tiefe, dunkle Augenringe. Janine schauderte. Erst jetzt fiel ihr auf, wie ähnlich Benni einem Vampir doch war. Öznur schien ihr Unbehagen anders zu deuten. „Keine Angst, wir sind doch bei dir.“, versuchte sie Janine zu erheitern, als die Mädchen der Kampfkünstlerklasse dazu stießen. Tatsächlich hatte jeder, sogar Lissi, Janines Ratschlag befolgt und sich eher unscheinbar gekleidet, mit weniger edel wirkender Kleidung. „Wollen wir los?“ Annes Frage ließ Janine nun tatsächlich aus dem Grund erzittern, den Öznur zuvor vermutet hatte. Ich habe Angst… Was ist, wenn ich die Prüfung nicht bestehe? Oder noch schlimmer, wenn die Regierung uns alle erwischt?!? Doch sie wusste, wenn nicht jetzt, dann würden sie halt später nach Mur müssen. Immerhin würde sie so das alles schnell hinter sich haben. Janine reichte Carsten ihre zitternde Hand, der ihr kurz ein aufmunterndes Lächeln schenkte, als Laura zögernd meinte: „Und… was ist jetzt mit mir?“ Carsten schaute von Laura zu Benni und wieder zurück. „Für die erste Teleportation müsste deine Kraft eigentlich ausreichen. Die zweite… könnte auch gerade so gehen.“, sprach er ihr Mut zu. Mitfühlend senkte Janine den Kopf. Sie wusste genau, was Laura durchmachen musste. Zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber sie hatte es oft genug miterlebt, wenn… Janine atmete tief durch, ehe ihr die Tränen kommen konnten. Nicht nur die schlechten Verhältnisse in Mur und die Regierung waren der Grund, dass sie ihre Region fürchtete. Auch die ganzen Erinnerungen, die ihr ständig das Herz zerrissen. Kurz darauf war der Kreis vollständig und Carsten sprach die Worte, bei denen Janine das Gefühl hatte, sie würden sie ins Verderben stürzen…   Mur war trostlos und grau. Viele Häuser wirkten einsturzgefährdet und dennoch waren sie bewohnt. Die Straßen waren mit Schlaglöchern übersehen und noch gefährlicher als die Häuser. Nachts hörte man Schüsse und Geschrei, tagsüber waren sie so überfüllt, dass man jederzeit damit rechnen musste, plötzlich aus der Menge gezogen und verschleppt zu werden. Die Wahrscheinlichkeit dass man dies überleben würde ging gegen Null. Niemand half hier einem anderen, das Wichtigste war, zu überleben. Jeder war sich selbst der Nächste. Die Gruppe folgte Janine aus der düsteren Gasse hinaus, die sie sich vorgestellt hatte, damit sie nicht mitten in der Menschenmenge landen würden. Durch die überfüllten Straßen, vorbei an heruntergekommenen Häusern und Geschäften. „Fangt keinen Streit an, nur weil jemand euch angerempelt oder blöd angemacht hat.“, hatte sie die anderen zuvor gewarnt. „Und passt gut auf eure Sachen auf… Es laufen hier viele Diebe herum.“ Janine lebte in der Hauptstadt Web, der schlimmste Ort von allen. Denn hier war die Kriminalitätsrate am höchsten. Sie hatte schon öfter einen Banküberfall, einen Mord oder einen Selbstmordattentat miterlebt. Die Angst und der Tod waren stete Begleiter. Janine hoffte für jeden, dass die fünfzig Meter zu ihrer Wohnung nichts passieren würde. „Hey Süße, was macht so ein hübsches Ding wie du denn hier? Wie wär’s? Lust auf’n bisschen Fun?“ Erschrocken drehte sich Janine um. „Nein danke.“, lehnte Öznur zwar höflich, aber dennoch bestimmt ab. Der Mann ließ sich allerdings nicht abbringen. „Ach was, vertrau mir, das wird lustig. Du kannst deine Freundinnen gerne mitnehmen, ich kenn nen Pub ganz in der Nähe.“ „Nun ja…“ Öznur schien zu überlegen. Özi, geh einfach weiter!, würde Janine am liebsten rufen aber es war klar, dass der Typ selbst dann nicht locker lassen würde. Aber Öznur schien kaum verunsichert. „Sorry, ich glaub ich bin zu heiß für dich.“ Sie warf dem Mann einen Luftkuss zu. Wie ein Feuer speiender Drache schoss eine Stichflamme zwischen ihren Lippen hervor und versengte dem Typ die Nase. Vor Angst zitternd und schreiend nahm er Reißaus. Die Mädchen würden sich vermutlich die ganze Zeit darüber lustig machen, wie rot die Nase des Typen geworden ist, würde Janine sie nicht weiter antreiben. Sie wollte nicht länger auf diesen Straßen sein! Zum Glück standen sie kurz darauf vor einem der großen Blockhäuser. Die Tür war offen. Die Tür war immer offen. Janine würde nur zu gerne wissen, warum. Sie hatte deswegen immer Probleme beim Einschlafen gehabt, da sie Angst hatte, jemand würde in das Haus kommen und ihre Wohnungstür aufbrechen. Janine klingelte im vierten Stock und wies die anderen an, schnell ins Haus zu gehen. Das Treppenhaus wirkte genauso verfallen wie man es von außen befürchten würde. Die Lichter flackerten, insofern die Lampen überhaupt noch funktionierten, und an einigen Stellen bröckelte der Putz ab. Die Treppen waren steinern und es war an einigen Stellen gefährlich sie zu betreten, da die Platten manchmal nur lose drauf lagen. Zwar hatte sie die anderen gewarnt, doch natürlich schaffte es jemand, falsch aufzutreten. „Auaaaaa…“ Laura stöhnte vor Schmerz auf, die Hand auf das blutende Knie gepresst. Zuvorkommend wie immer half Carsten seiner besten Freundin auf die Beine. „Geht’s?“, erkundigte er sich. Laura verzog das Gesicht. „Nein, es tut schrecklich weh…“ Anne lachte auf. „Du wurdest gewarnt. Das kommt davon, wenn man so unvorsichtig ist.“ „Anne!“, ermahnte Öznur ihre Zimmergenossin. „Das ist nicht gerade hilfreich.“ „Abgesehen davon war ich auch vorsichtig.“, meinte Laura mürrisch, während sie ihr Gewicht auf das linke, das heile Bein verlagerte. „Du bist vermutlich wegen der Teleportation doch etwas erschöpft.“, vermutete Susanne. Laura wollte die nächste Stufe hochgehen, ließ es aber aufgrund des wieder aufkommenden Schmerzes dann doch bleiben. Ehe sie einknicken konnte, stützte Carsten sie wieder. „Benni, jetzt hilf mir doch mal!“, forderte er seinen besten Freund auf. Janine verstand nicht, warum sich der Schulsprecher jedem gegenüber so kaltherzig benahm. Selbst bei seiner Sandkastenfreundin, die sogar Gefühle für ihn hegte. Außer Tieren. Tiere schienen die einzigen, die er in sein Herz ließ. Benni erwiderte nichts. „Bitte, Benni. Wenn ich Laura tragen würde, fliegen wir beide am Ende noch die Treppe runter.“ Carstens Argument schien ihn überzeugt zu haben. Janine fand es niedlich, wie sich Lauras Wangen purpurrot färbten, als Benni sie auf die Arme nahm und die Stufen weiter hoch trug. „Du hast sie abgelenkt, oder?“, bemerkte Carsten nüchtern, an Ariane gewandt. Diese kicherte amüsiert. „Eigentlich hab ich sie nur gefragt, wie es ihr geht. Dass sie dabei zu weit vorne auftritt hab ich eigentlich nicht gewollt. Aber so im Nachhinein… bin ich mit meiner Tat zufrieden.“ Öznur lachte leise auf. „Du Monster. Die Arme ist doch total verlegen.“ Janine konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Inzwischen wussten die Mädchen, warum Laura und Benni mal wieder im Clinch lagen. Janine konnte nur zu gut verstehen, warum Benni wahrscheinlich sauer auf sie war, dennoch wollte Laura das ja eigentlich nicht. Es war ein Versehen gewesen. Wenn auch ein ziemlich dämliches. Im Endeffekt sollten die beiden einfach gemeinsam in einen Raum gesperrt werden, dann würden sie sich früher oder später schon wieder vertragen müssen. Im vierten Stock wartete man bereits auf die Gruppe. „Janine, ich bin so glücklich, dich zu sehen! Geht es dir gut?!? Ach, du siehst so gesund aus, ich bin so froh.“ Kaum war Janine oben angekommen, landete sie bereits in den Armen ihrer Adoptivmutter. Ebenso glücklich, sie endlich wiederzusehen, erwiderte Janine die Umarmung. „Mir geht es besser denn je.“ Die Frau schob Janine etwas von sich weg und musterte sie eindringlich. Schließlich wandte sie sich der übrigen Gruppe zu. „Ich bin Annalena. Oh, es freut mich so zu sehen, dass Janine so viele nette Leute als Freunde hat.“ Annalenas Blick fiel auf Laura. „Ach, hast du eine dieser Stufen erwischt? Das tut mir so leid. Kommt doch alle mit rein, dann könnt ihr euch setzen.“ Gemeinsam mit den anderen betraten sie die Wohnung. Sie war klein und hatte neben Küche und Bad nur ein weiteres Zimmer. Doch Janine hatte einen großen Teil ihrer Kindheit hier verbracht. Für sie wirkte es gemütlich und nostalgisch. Sie hatte das Gefühl, nach ewig langer Zeit endlich wieder zu Hause zu sein. Denen, die mehr gewohnt waren, sprach Janines Lebensstil allerdings weniger zu. „Oha, hier wohnst du? Das tut mir leid.“, kommentierte Anne. „Tut mir leid, dass du so anspruchsvoll bist.“, erwiderte Janine ruhig. Was hätte sie von Anne anderes erwarten sollen? Sie war eine Prinzessin, natürlich war sie da mehr gewöhnt. Annalena führte die Gruppe in die Küche, das größte Zimmer, wo Benni Laura auf einem Stuhl absetzen konnte. Carsten kniete sich kurz darauf vor sie und verarztete ihr Knie. Janine bewunderte das Geschick des Indigonerjungen. Er war nicht nur überragend in der Schule, sondern auch ein guter Arzt, wie sie nun feststellte. Aber was sollte man von dem Sohn der Leiterin des größten und vermutlich auch besten Krankenhauses Damons anderes erwarten? Kaum war er fertig, meinte Ariane plötzlich: „Also gut und was gibt’s zu essen?!?“ „Essen?“, fragte Janine erschrocken und verwirrt zugleich. „Ich dachte, wir machen uns sofort auf den Weg zum Schrein!“ Peinlich berührt stellte sie fest, dass auch sie Hunger hatte, doch durch diese ganzen Sachen wegen Prüfung und Mur und Gefahr und so weiter hatte sie völlig vergessen, dass sie in der Schule nichts mehr gegessen hatten. Annalena seufzte. „Bitte entschuldigt, ich hatte gar nicht daran gedacht, dass ihr vielleicht noch etwas essen wollt, bevor ihr euch auf die Weiterreise macht…“ Susanne lächelte. „Bitte entschuldigen Sie sich nicht, uns tut es leid. Wir hätten eigentlich in der Schule was essen können aber um ehrlich zu sein…“ Beschämt lachte sie auf. „Bei der ganzen Nervosität hat wohl niemand mehr daran gedacht.“ Mitfühlend lächelte nun auch Annalena. „Das ist vollkommen nachvollziehbar. Soll ich schnell etwas kaufen gehen?“ Carsten winkte ab. „Nein, bitte machen Sie sich keine Umstände. Susanne hat recht, wir hätten das davor besser planen sollen. Können Sie mir sagen, ob es hier in der Nähe einen Supermarkt oder dergleichen gibt? Insofern es in Ordnung ist, dass ich Ihre Küche benutze…“ „Heißt das, du kochst?!“, fragte Laura nach und klang überraschenderweise total begeistert. Carstens Wangen färbten sich rötlich. „Wenn du willst…“ „Klar!!!“, rief sie außer sich. „Nun… Ja, zwei Straßen weiter ist tatsächlich einer. Wenn du raus gehst links abbiegen, die nächste Straße rechts und dann wieder links.“, erklärte Annalena.  „Na gut, wenn ihr noch eine Stunde wartet, kann ich euch was kochen.“ Carsten stellte sich wieder hin. Er zog die Kapuze über den Kopf und vom einen auf den anderen Moment wechselte sich der Ton seiner Hautfarbe. Auch ohne Janines Warnung wusste er, dass es gefährlich war, als Indigoner in Mur herumzulaufen. Immerhin konnte eigentlich niemand aus Mur raus. Rein war ebenso kompliziert. Doch dass er so plötzlich ohne irgendeinen Zauberspruch seine Hautfarbe ändern konnte, war extrem beeindruckend. Janine fragte sich, ob sie das auch irgendwann lernen könnte. „Am besten, Benni oder Anne begleiten dich.“, schlug Susanne sorgsam vor. „Wieso denn das?“ Anne musterte sie misstrauisch. „Damit Carsten nicht alleine durch Web muss. Hier ist es schließlich extrem gefährlich.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Dann am besten der eiskalte Engel, so bleich wie der ist. Meine Nation sieht man mir recht schnell an und ich habe keinen Hokuspokus in der Hinterhand.“ Susanne nickte. Fragend schaute sie Benni an, der gleichgültig mit den Schultern zuckte und sich ebenso die Kapuze seines Pullovers überzog. Wobei dadurch seine düstere Ausstrahlung noch unheimlicher wurde… „Wir sind gleich wieder da.“, meinte Carsten beruhigend, da ihm Janines und Susannes Sorge um ihn natürlich nicht entging. Nachdem die beiden Jungs die Wohnung verlassen hatten, machte sich Ariane gleich auf, die Küche zu erkunden. Man konnte nur mit Feuer heizen, weshalb in der Küche ein großer Kachelofen stand. Auf diesem wiederrum standen Fotos und wie alle inzwischen wussten, liebte Ariane Fotos. Neugierig musterte sie die beiden Bilder, die in etwas schäbigen Rahmen steckten. „Okeeeee, bevor ich wieder irgendwelche Verwandtschafts-Theorien aufstelle, wegen denen ich von Lissi eine Standpauke bekomme… Kannst du mir sagen, wer das alles ist? Denn eins weiß ich: Außer dich kenn ich keinen.“, meinte Ariane und schaute Janine auffordernd an. Betrübt ging sie auch zum Ofen und zeigte auf das linke Bild, auf dem mehr Personen drauf waren. Fünf, um genau zu sein. „Das ist meine Familie…“, erklärte Janine. „Meine Mutter, mein großer Bruder, ich, meine große Schwester und mein Vater. Doch außer mir…“ Sie brach ab, als das Gefühl, jemand würde ihr Herz in tausende Stücke sprengen, zu unerträglich wurde. Stattdessen wandte sich Janine an das rechte Foto. „Als ich sechs war, hat mich Annalena mit ihrem Mann aus dem Waisenhaus geholt. Aber vier Jahre später ist er… auch…“ Nun konnte sie nicht mehr an sich halten. Stumm rannen die Tränen über ihre Wangen, die sie zuvor noch mit Mühe versucht hatte zurückzuhalten. „Oh… Das tut mir so leid, Ninie.“ Mitfühlend nahm Ariane sie in die Arme. Doch Janine wollte weder Trost noch Mitleid. Es war nun mal so, daran konnte Ariane auch nichts ändern. Und sie musste damit klarkommen. Dennoch… In Arianes Umarmung fühlte sie sich geborgen, als würde diese ihr etwas von ihrem Licht abgeben… „Aber wie sind die denn alle gestorben?“, fragte Anne nach. Janine zuckte zusammen, während Öznur der Prinzessin gegen das Schienbein trat. „Ich darf doch mal fragen.“, meinte diese mürrisch. „Nein, darfst du nicht.“, zischte Ariane sie an. „Ist schon gut…“ Janine löste sich aus Arianes Umarmung, die sie nur widerwillig losließ. Unbeabsichtigt wanderte ihr Blick zu Laura. „Sie starben alle an Karystma.“ „A-alle?“ Die Prinzessin von Yami brachte das Wort nur keuchend hervor. Janine nickte. Äußerlich ruhiger, als sie sich in Wahrheit fühlte. Auch wenn sie ihre Tränen wieder unter Kontrolle hatte, am liebsten würde sie sich nun in ein Zimmer verkriechen, ganz allein, und ihnen dort freien Lauf lassen. Doch Janine wollte nicht in Gegenwart der anderen weinen. Sie konnte es noch nicht einmal. Selbst wenn sie wollte, sie schaffte es nicht, das volle Ausmaß ihrer Gefühle in aller Öffentlichkeit zu zeigen. Ein bedrückendes Schweigen entstand, eine Stille, die niemand wagte zu brechen. Nur die alte Küchenuhr, die jede Sekunde tickte. Als der Sekundenzeiger zum fünften Mal an der Zwölf vorbeigekommen war, klingelte es und wenig später traten Carsten und Benni durch die Wohnungstür. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Susanne besorgt und erleichtert zugleich. „Das sollten wir eher euch fragen…“, erwiderte Carsten und stellte die Einkäufe auf dem Tisch ab. „Ihr wirkt allesamt ziemlich niedergeschlagen.“ Anne seufzte. „Warum wohl, wenn auf einmal jeder abzukratzen scheint.“ Wieder verpasste Öznur ihr einen Tritt. Carsten schaute etwas verwirrt in die Runde, doch als sein Blick auf die Fotos auf dem Kamin fiel, meinte er nur: „Ach so…“ „Aber euch ist nichts passiert?“, fragte Susanne noch einmal. Carsten zuckte lächelnd mit den Schultern. „Nein, die waren alle lieb. Vermutlich, weil sie immer mindestens fünf Meter Abstand zu Benni hielten.“ Ariane lachte auf. „Da ist so eine Ausstrahlung natürlich praktisch.“, bemerkte sie amüsiert. Carsten grinste kurz in Bennis Richtung, welcher allerdings seiner Ausstrahlung alle Ehre machte und nichts auf Carstens Blick oder Arianes Kommentar erwiderte. Carsten krempelte sich die Ärmel seines Hemdes auf Ellenbogenhöhe. „Na gut, auf geht’s.“, scherzte er und machte sich an die Arbeit. Während er dabei war, die langen, dünnen Nudeln ins kochende Wasser zu tun meinte er verlegen. „Ähm, Leute… Wenn ihr mir beim Kochen unbedingt zuschauen müsst, könnt ihr auch helfen…“ Und so kam es, dass alle gemeinsam kochten, bis auf Anne, Laura und der eiskalte Engel, die sich dafür nicht so begeistern konnten. Nach knapp einer Stunde, wie Carsten vorhergesagt hatte, war das Essen fertig und die Mädchen waren begeistert. Kein Wunder, dass sich Laura so gefreut hatte, als Carsten meinte, er würde heute für sie kochen! Er war ein Profi! Janine hätte nie gedacht, dass Nudeln aus Mur so gut schmecken konnten. Dieser Ansicht schien tatsächlich jeder, sogar die Essenskennerin und -liebhaberin unter ihnen. „Oh man Carschten, wie hascht du scho koschen gelernt?!?“, schmatzte Ariane. Verlegen zwirbelte Carsten eine Strähne seiner recht langen, schwarzen Haare. „Koja hatte früher häufiger mit mir gekocht aber ansonsten… Keine Ahnung…“ „Ischt ausch egal, jedenfallsch koschst du abschowort immer, ischt dasch klar?!?“ Ariane schaute ihn bestimmend an, als sei die Sache bereits geklärt und nahm sich eine große Portion Hähnchen aus der Extraschale. Aus Rücksicht auf Benni hatte Carsten es nicht wie eigentlich verlangt in der Soße, sondern separat gekocht. Nachdem schließlich jeder gesättigt und zufrieden war, machten sie sich auf den Weg zum Dämonenschrein. Ganz zu Janines Unzufriedenheit… Besonders, da sich ihnen noch ein Problem in den Weg stellte. Der Schrein lag nicht gerade um die Ecke, genauer gesagt, sieben bis acht Kilometer außerhalb Web und sie mussten auch noch so unbemerkt wie möglich hinkommen. Öznur stöhnte auf. „Bitte sagt nicht, dass wir dahin wandern müssen.“ Carsten faltete die riesige Karte von Damon wieder zusammen, die er vorsorglich mitgenommen hatte. „Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.“ „Na prima.“, murrte auch Laura, die Hand auf ihr verletztes Knie gepresst. „Es tut immer noch weh.“, erklärte sie. „Kennst du einen Ort in der Nähe des Schreins, an den wir uns teleportieren könnten?“ Fragend schaute Carsten Janine an, die seinem Blick verlegen auswich. Sie mochte so viel Aufmerksamkeit nicht, dabei fühlte sie sich, als würde sie ausspioniert werden… „Nun ja… Das Waisenhaus, in dem ich damals lebte liegt zwischen Web und dem Schrein… Dann wären es vielleicht nur noch vier Kilometer… Oder so…“ „Das ist doch immerhin etwas.“, meinte Carsten optimistisch und hielt Janine seine Hand hin. Janine warf Annalena einen letzten Blick zu. „Es tut mir leid, dass wir schon wieder weg müssen…“ Ihre Pflegemutter winkte ab. „Ihr tragt alle eine große Bürde. Ich bin unglaublich froh, dass ich euch kennenlernen durfte, also vielen Dank, dass ihr vorbeigekommen seid.“ Sie lächelte in die Runde. „Passt mir bitte gut auf sie auf.“ Ariane grinste. „Darauf können Sie wetten.“ Janine lächelte die Frau dankbar und liebevoll an, die sie vor dem Leben in Einsamkeit gerettet hatte. Annalena war ohne Frage eine Kämpferin. All das, was sie für Janine getan hatte, trotz der Verluste und der Schmerzen, die sie selbst hatte ertragen müssen…  und Janine selbst floh einfach. Floh vor allem und jedem. Kaum war der Kreis gebildet, sprach Carsten wieder den Zauber. Bedrückt beobachtete Janine, wie ihre Pflegemutter hinter den farbenfrohen Lichtstrahlen verschwand, bis sich diese wieder auflösten.   Das Waisenhaus lag in einem kleinen Dorf, ebenso heruntergekommen wie Web. Der Unterschied war, auf dem Land kannte jeder jeden und alle mochten sich. Es war so, wie Ariane es beim Werwolf-Spiel erzählt hatte. Nur, dass es hier keine Werwölfe gab, keine Hexe, keine Seherin… Aber dafür viele Kinder. Die Kinder, die vor dem alten Waisenhaus spielten, unterbrachen ihr Geschrei und Gelächter, um die eben plötzlich aufgetauchte Gruppe voller Neugierde und auch Misstrauen zu beobachten. Eine Nonne stürzte aus der Eingangstür. „Was in Gottes Namen hat das zu bedeuten?!? Wer sind Sie?!?!?“ „H-Hallo, Schwester Vitoria.“, grüßte Janine zögernd. Die ältere Frau in der schwarzen Kutte musterte sie von Kopf bis Fuß. „Sag… Janine, bist du das, Kind?“ Janines Lippen umspielten ein schwaches Lächeln, als die Schwester sie plötzlich in die Arme schloss. „Wie groß du geworden bist! Dir scheint es so gut zu gehen, da bin ich ja erleichtert.“ Hinter Janines Rücken kicherten einige der Mädchen. „Keine Sorge, Schwester. Wir sorgen schon dafür, dass niemand unserer Ninie zu nahe kommt.“, meinte Ariane und klang trotz des Grinsens auf ihrem Gesicht todernst. Die Nonne musterte Janines Freundeskreis. „Seid ihr etwa alle…?“ „Die beiden Jungs nicht, aber sonst ja.“, antwortete Janine. „Janine, halt bloß die Klappe!“, zischte Anne erschrocken. „Keine Sorge, die Schwestern aus diesem Waisenhaus wissen Bescheid und sagen keinem etwas.“, beruhigte Janine sie. Kritisch verschränkte die Prinzessin die Arme vor der Brust. „Ich hoffe es für dich.“ Die Nonne wies lächelnd zu der Tür. „Wollt ihr nicht reinkommen?“ „Um ehrlich zu sein… Müssen wir zu dem Dämonenschrein.“, erklärte Janine zögernd. Schwester Vitoria hob die grauen Augenbrauen. „Ist es etwa schon so weit?“ „Wir müssen zu Halbdämonen werden, damit wir eine Chance gegen dieses Wesen haben, das vermutlich die ganze Welt zerstören will…“, meinte Öznur beängstigt. Doch die Schwester wirkte keines Falls überrascht, als sie sagte: „Ich bete zu Gott, dass ihr erfolgreich sein werdet. Ihr müsst wissen… besonders du, Janine, dass der Diktator, der zurzeit über Mur herrscht, mit einem mächtigen Wesen verbunden ist, das ihm überhaupt zu solch einem Aufstieg verholfen hat. Es scheint sich hier um ein und dasselbe Monster zu handeln.“ „Was?!?“ Erschrocken zuckte Janine zusammen. Während er nachdachte, verschränkte Carsten die Arme vor der Brust. „Das Wesen scheint sehr viel Einfluss auf die Politik auszuüben… Durch Lukas in Yami zum Beispiel. Mur und Terra scheint er auch zu kontrollieren…“ Anne hob eine Augenbraue. „Wie kommst du denn da drauf?“ „Weil Terra sowieso gegen die Dämonenbesitzer ist.“, erklärte er. „Es kann gut sein, dass dieser Unzerstörbare dort heimlich mitmischt, wenn man an den Vorfall mit den Soldaten neulich denkt. Außerdem ist es auch ausgerechnet Jack, der aus Terra kommt, welcher durch Lukas auf seiner Seite zu stehen scheint.“ Janine bemerkte, wie der eiskalte Engel und Carsten einen kurzen Blick austauschten. Noch ehe jemand fragen konnte, meinte Carsten auch schon: „Der Mann, den wir zusammen mit 9510… ähm, ich meine Max, in Spirit getroffen haben… Wir vermuten, dass das Jack war.“ „Das erklärt jedenfalls die Steinwand bei Konrads Angriff.“, überlegte Susanne. „Immerhin herrscht der Orangene Skorpion über die Erde.“ Carsten nickte. „Und ich habe das ungute Gefühl, dass er bereits ein Halbdämon ist.“ Anne zuckte desinteressiert mit den Schultern. „Ist ja schön und gut, dass wir nun endlich kapiert haben, dass ein Halbdämon gegen uns ist, der auch noch zufällig ein Junge ist. Aber wie wär’s, wenn wir uns endlich auf den Weg zum Schrein machen? Wir haben immer noch eine weite Strecke vor uns. Besonders, da einige Spezialisten ja nicht laufen können.“ Überhaupt nicht unauffällig deutete sie auf Öznur und Laura. „Tut mir ja leid, dass ich hingefallen bin.“, murrte die zweite Prinzessin. „Mir auch.“, zischte Anne zurück. Zum Glück trat Schwester Vitoria zwischen die beiden adligen Mädchen. „Wenn ihr wollt, könnt ihr ruhig hierbleiben. Ich bezweifle sowieso, dass ihr mit eurem Gepäck wandern wollt. Die Kinder freuen sich bestimmt, wenn man ihnen Gesellschaft leistet… Denn die meisten sind Ausgestoßene… Sie wurden nachts hier abgesetzt, da die Eltern mit einem Kind wohl kaum über die Runden gekommen wären.“ „Von den eigenen Eltern ausgesetzt… Das ist ja schrecklich.“, murmelte Susanne betroffen. Öznur schnaubte. „Das ist krank!“ „Die ganze Menschheit ist krank.“, mischte sich der eiskalte Engel mit seiner ruhigen Stimme ein. „Nein!“, verteidigte Janine die… Menschheit. Die Menschheit, die sie kannte, die nur auf Geld, Spaß und Macht aus war… „Nicht alle.“, korrigierte sie sich. „Zum Beispiel Annalena. Nachdem mein Pflegevater gestorben war, hatten wir kaum Geld zum Überleben… Dennoch hatte sie mich nicht weggeschickt!“ Benni warf ihr diesen kalten Blick zu, der einem das Blut in den Adern gefror, doch er erwiderte nichts. „Ähm ja… Also wollen wir jetzt los?“, wechselte Ariane das Thema. Anne zuckte mit den Schultern. „Wer von euch will hier bleiben ist die Frage.“ Janine hätte sich am liebsten gemeldet. Wenn sie doch nur wie die anderen die Wahl hätte, entscheiden zu können, ob sie nun mitwollte oder nicht… Der Schrein der Gelben Tarantel, die eine Prüfung für sie bereithielt oder bei Schwester Vitoria und den anderen Nonnen und Kindern im Waisenhaus, die sich bald bei Kakao und Kuchen zusammensetzen würden… Wenn sich Janine doch nur entscheiden dürfte. Aber für sie stand es bereits fest… Sie musste zum Schrein. Laura hatte das Glück und durfte sich entscheiden, doch ihr schien es weniger leichtzufallen, sich von der Gruppe trennen zu müssen. Als sie einen kurzen Blick in Bennis Richtung warf, war es offensichtlich, warum. Janine lachte in sich hinein. Benni konnte noch so wütend auf Laura sein, er würde sie wohl nie verscheuchen können. „Benni… Du kannst ruhig auch hierbleiben, wenn du möchtest.“ Verwundert schauten Laura und Janine zeitgleich zu Carsten. Benni nickte matt. Er wirkte eher krank als müde… Auch Öznur und Lissi seilten sich ab, beide aus dem Grund, dass sie ziemlich lauffaul waren und eine gewisse Spinnenpanik besaßen. Zu Janines Erleichterung ließ sich Susanne allerdings nicht von Kakao, Kuchen und einem gemütlichen Raum zum Entspannen locken, genauso wenig wie Ariane. Denn die beiden und Carsten waren diejenigen, die Janine am liebsten um sich hatte, mit ihrer lichtähnlichen, heilenden Ausstrahlung. Dennoch hatte Janine ein ungutes Gefühl, als sich die Gruppe trennte. Es war irgendwie falsch. Die Wanderung war, wie zu erwarten, die reinste Folter. Zum Glück war es noch recht kühl, sodass die Sonne, die gelegentlich hinter den Wolken auftauchte eher angenehm war, statt auf dem Kopf zu brennen. Als Kampfkünstler waren Ariane und Anne den Magiern natürlich im Vorteil, doch auch Carsten hatte eine erstaunliche Ausdauer, wie die Mädchen feststellen mussten. Das FESJ hatte ihn vermutlich ganz schön auf Trab gehalten, denn er war zwar sehr hübsch, aber nicht sonderlich muskulös. Sogar Janine dachte so. Endlich waren sie am Schrein angekommen und statt ihn ins Augenmerk zu nehmen, wie die sportlicheren unter ihnen, setzten sie und Susanne sich auf die Treppe vor dem Eingang. Carsten reichte den Mädchen eine Wasserflasche, aus der beide begierig tranken. Anne lachte auf. „Dafür, dass ihr so ein erstaunliches Tempo an den Start gelegt hattet, seht ihr nun ziemlich erbärmlich aus.“ Ein Stoß von Ariane in Annes Rippen sorgte dafür, dass sie still wurde. Als Janine Carsten die Flasche zurückgegeben hatte, wagte sie einen Blick über die Schulter und schaute sich den Schrein an, auf dessen Treppen sie saß. Es war ein kleiner, um nicht zu sagen winziger japanischer Tempel, gänzlich hölzern und in keinster Weise verziert. Anne schnaubte. „Für dieses Mini-Ding sind wir also hergekommen?“ Janine ignorierte ihren Kommentar, stellte sich hin und ging die Stufen hinauf, bis sie vor dem Eingangsportal stand. Eine schlichte Holztür. Es war ein seltsames Gefühl, die schwere Tür zu berühren. Sie gar zu öffnen. Janine trat ein. Das Innere des Tempels war dunkel und leer, als wäre ewig keiner mehr hier gewesen. An den Wänden hingen große Spinnenweben. „Hier ist es unheimlich…“, sprach Susanne Janines Gedanken aus. Sie stand dicht hinter ihr und klammerte sich an ihren Arm. Als wäre Janine mutiger… So ein Blödsinn, auch sie zitterte am ganzen Körper. Wer musste hier immerhin die Prüfung bestehen? Janine atmete tief durch und ging weiter in den Schrein hinein, als hinter ihnen die Tür knallend in die Angeln fiel. Erschrocken drehten sich die beiden Mädchen um. „Carsten, Ariane, Anne?!?!?!?“, schrie Janine, doch so deutlich sie ihre Stimme auch hören konnte, von ihren Freunden außerhalb des Tempels bekam sie nichts mit. „Was ist hier los?“, fragte sie verzweifelt, als Susanne an ihrem Ärmel zupfte. Verwirrt drehte sich Janine um. Da, wo eben nur Leere war, stand nun ein kleiner, hölzerner Tisch. Im Gegensatz zum Rest des Schreins war er wunderschön verziert, als wäre er tatsächlich aus einem Tempel und nicht für diesen düsteren Ort gedacht. Nun war es Janine, die sich an Susannes Ärmel klammerte, als die beiden auf den Tisch zugingen. Auf ihm standen zwei Becher, gefüllt mit einer glasklaren Flüssigkeit. Von oben hörte Janine eine Stimme, eine weibliche Stimme, erfüllt von Macht. „Du musst dich entscheiden.“ Erschrocken schaute sie zur Decke des Schreins, doch da war keiner. Die Frau sprach allerdings weiter: „Gib deiner Freundin den von dir ausgewählten Becher. Lass sie davon trinken.“ Die Stimme verschwand und sie würde nicht mehr auf die tausenden Fragen antworten, die in Janines Kopf herumschwirrten. Susanne warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Sie hatte die Stimme offensichtlich auch gehört, daran bestand kein Zweifel. Immerhin hieß das, dass Janine nicht verrückt war. „Welchen nimmst du?“, fragte Susanne sie. Planlos schaute Janine auf den Tisch, musterte die beiden Kelche. Ist das die Prüfung? „I-Ich weiß es nicht…“, stotterte sie. Sie hatte Angst, riesige Angst. Was war, wenn sie Susanne den falschen Becher geben würde? Würde sie dann sterben?!? Susanne legte Janine ihre Hand auf die Schulter. Beide zitterten, Janine war nicht allein mit ihrer Angst. Sie schloss die Augen, ließ ihr Herz entscheiden. Schließlich nahm sie den rechten Becher und hielt ihn Susanne entgegen, die ihn ihr langsam aus der Hand nahm und an die blassen Lippen setzte. Susanne hielt inne. „Denkst du, ich muss ihn austrinken?“ Ohne überhaupt die Stimme fragen zu müssen, wusste Janine die Antwort bereits. „Ja…“ Ihre beste Freundin holte tief Luft und trank einen Schluck und noch einen und noch einen, bis der Becher leer war. „Susi? Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Janine besorgt. Susanne blinzelte mehrmals und stellte den Becher zurück auf den Tisch. „Ich weiß nicht…“, antwortete sie schließlich. Sie klang beängstigend erschöpft. Janine packte Susanne am Arm und drehte sie zu sich um. Sogar durch die Jacke fühlte sie die eisige Kälte, die von Susannes Körper ausging. Ihr Gesicht war schneeweiß. „Susi?!?“ Eine einzige Bewegung, so schnell, dass Janine es kaum sehen konnte. Sie spürte nur, wie sich Susanne an ihren Armen festkrallte, als drohte sie, zu stürzen. Ein keuchender Husten schüttelte sie, behinderte sie beim Atmen. Janine entdeckte eine hauchdünne Atemwolke. „Susi?!?!?!?“, krisch sie. „Susanne, was ist los mit dir?!?“ Tränen schossen Janine in die Augen. Hatte sie ihr etwa den falschen Becher gegeben?!? Susanne antwortete nicht, ihr Husten verschlang jedes Wort, das über ihre blauen Lippen kommen könnte. „Susanne!!!“ In Strömen rannen die Tränen über Janines Wangen. „Bitte, halt durch ich… ich- helfe dir!“ Aber wie soll ich… Ihr Blick fiel auf den Tisch. Ein Becher war noch gefüllt. Das Gegengift!!!, schoss es ihr durch den Kopf. Vorsichtig half sie Susanne, sich auf den Boden setzen zu können und griff eilig nach dem anderen Becher. Mit bebenden Händen, sodass der Inhalt drohte, über den Rand zu schwappen, setzte sie ihn Susanne an die Lippen und half ihrer besten Freundin zu trinken. Janine atmete erleichtert auf, als der Becher leer war und sich Susannes Lippen wieder rötlich färbten, ihre Wangen einen rötlichen Schimmer bekamen. Ihre beste Freundin im Auge behaltend, stellte Janine den Becher zurück auf den Tisch. Susanne war immer noch beängstigend blass und ihre Lippen und Wangen waren zu rot. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. „K-Keine Angst Susi, es ist alles okay. Dir geht es gut, das Gegengift hat gewirkt.“ Unter Tränen schaute Janine Susannes Gesicht an, es glitzerte durch den Schweiß. „D-Dir geht es doch gut, oder? Susanne!!!“ Schreiend und weinend schloss Janine ihre beste Freundin in die Arme, klammerte sich an ihren schwachen Körper, der auf einmal kochend heiß war. „Was ist los mit dir?!?!?“ Ich habe Angst… Was soll ich tun?!? „Bitte Susi, stirb nicht! Du- Du bist doch meine beste Freundin! Du darfst nicht sterben!!!“ Von der Angst zerfressen, von der Verzweiflung übermannt konnte Janine nicht mehr denken. „Du darfst nicht sterben! Du nicht auch noch!!! Ich will keinen von euch mehr verlieren müssen!!!“ Niemand soll mehr sterben, keiner! Weder Susanne, noch Carsten, Ariane oder Anne, die vor dem Schrein warteten und nicht wussten, dass eine Freundin gerade von innen verbrannte. Auch nicht Lissi, die ihre Schwester zu verlieren drohte, oder Öznur. Oder auch Laura, deren Leben bereits in weniger als zwei Monaten vorbei sein könnte. Janine schluchzte. Niemand… Auch nicht der eiskalte Engel, der schon einmal dem Tod viel zu nahe gekommen war. Moment… Es fiel schwer, sich konzentrieren zu können. Es war unmöglich. Doch sie musste sich konzentrieren! Susanne lebte noch. Noch hatte Janine die Möglichkeit, ihre beste Freundin zu retten! Der eiskalte Engel… Benni… Wurde damals von einer Eisblume vergiftet… Auch er war kalt, hatte schneeweiße Haut, blaue Lippen und eine Atemwolke, als würde er von innen erfrieren. Carsten hatte… er hatte… die Feuerblume als Gegenmittel gebraucht, die ich gemeinsam mit Öznur, Anne und Eagle von den Drachen holen musste… Das Gegenstück zur Eisblume… Aber… Wenn man zu viel von der Feuerblume benutzen würde, dann… dann… dann müsste sich die Wirkung umkehren! Mit einem Schlag war alles klar, Janine wusste, was passiert war. Sie hätte Susanne nichts Ungefährliches geben können, da in beiden Bechern Gift war! Ein Gift, das sich mit seinem Gegenstück aufheben ließ! Aber der Becher mit der Feuerblume war vermutlich voller gewesen als der mit der Eisblume. Was soll ich nur tun? „Was soll ich tun?!?“, schrie Janine Susanne an, doch von ihr konnte sie keine Antwort erwarten. „Komm schon Susi, du darfst nicht sterben! Sag mir, was ich tun soll!!!“ Susannes rote Lippen blieben still, öffneten sich nicht, um ihr antworten zu können. „Susi!!! Denkst du, ich könnte dich einfach so retten, wenn ich will?!? Du weißt doch, dass ich meine Energie nicht beherrsche!!!“ Schluchzend beugte sich Janine über ihre kochend heiße beste Freundin. Ja, sie beherrschte die Gift-Energie… theoretisch. Wie sollte sie denn das eine Gift mit dem anderen ersetzen?!? Wo war Carsten, wenn man ihn brauchte?!?!?! „Wie soll ich meine Energie anwenden, wenn ich nicht weiß wie?!?“, schrie sie in den Tempel, in der Hoffnung, jemand könnte sie hören. Würde ihr jedenfalls diese Stimme eine Antwort geben… „Bitte… Ich… ich will ihr ja helfen! Sag mir wie! Mir egal, was ich machen muss. Hauptsache Susanne überlebt!“ „Es ist nicht so schwer, wie du denkst.“ Janine schrak hoch, schaute zur Decke. „Spüre die Energie. Spüre das Gift, in dem Körper deiner Freundin. Fühle seine Präsenz, wie es sich in ihrem Blut ausbreitet. Dann mache es so, wie die anderen Dämonenbesitzer mit deren Energien. Lasse das Gegengift in ihrem Körper entstehen. Aber nur so viel, wie benötigt wird.“ „W-Wie meinst du das?“, fragte Janine die Stimme. Stille. Noch nicht einmal Susannes keuchenden Atem konnte sie hören. Aber sie konnte das Gift spüren, das durch ihre Adern strömte. Eine unglaubliche Macht, unbekannt und vertraut zugleich. Erschreckend und doch auch beruhigend. Janine senkte ihren Blick. „Ich habe Angst, Susi. Was ist, wenn ich es nicht schaffe?“ Auch von Susanne kam keine Antwort. Janine fühlte sich alleine, einsam, verlassen. Dieses Gefühl hatte sie schon einmal. Als ihr Bruder gestorben war, der einzige der Familie, der Janines fünften Geburtstag miterlebt hatte. Sie saß an seinem Sterbebett, weinte und sah mit an, wie ihn das Leben verließ. Und Susanne? Würde sie bei ihr auch nur zuschauen können? Janine atmete tief durch und musterte ihre beste Freundin. Sie war so gut wie tot… Aber wenn ich nicht jetzt etwas mache, ist es sowieso zu spät… Zitternd schloss Janine die Augen. Wenn sie es nicht wenigstens versuchte, dann würde sie sich nur noch mehr Vorwürfe machen. Sie wollte ihre beste Freundin nicht tatenlos aufgeben! Es war nicht dunkel. Janine konnte trotz der geschlossenen Augen etwas erkennen. Ein Gefühl, dass ihrer Vorstellungskraft ein deutliches Bild verlieh. Ströme, in einem blassen und doch feurigen Rot. Beinahe so, als würde sie das Blut durch Susannes Adern rauschen sehen. Janine legte eine Hand über diese Ströme. Sie wusste nicht, wieso. Sie hatte jedoch den Eindruck, dass es ihr so leichter fallen würde. Dann setzte sie ihre Energie frei. Sie war blau. Blau, wie das Eis. Auch das Eis begann, sich in reißenden Strömen auszubreiten. Verschlang das Feuer. Nach und nach erzeugte Janine immer wieder ein bisschen was von dem eisblauen Gift. Vorsichtig. Sie hatte zu große Angst, zu viel freizusetzen. Es dauerte gefühlte Ewigkeiten. Doch dann, irgendwann verschwand das Rot. Es verschwand auch das Blau. Es wurde alles schwarz. Zögernd öffnete Janine ihre Augen wieder. Doch es blieb schwarz. „W-Wo bin ich?!?“ „Du brauchst keine Angst zu haben.“ Wieder diese Stimme. Janine schielte nach oben. Über ihr, als würde das Nichts eine Decke haben, prangte eine gewaltige Spinne. Der Kopf, der Rumpf und alle acht Beine waren gelb. Sie schien zu leuchten, strahlte gelb. Bestand nicht aus Knochen und Haaren, sondern war pure Energie. „D-Du bist…“ Die acht Augen der Spinne schienen zu lächeln, ihre Stimme war warm und bemutternd und dennoch mächtig, als sie antwortete, ohne dass sie zu sprechen schien: „Die Gelbe Tarantel. Jedenfalls nennt ihr mich in eurer Welt so.“ „Was ist mit Susanne?!? Geht es ihr gut?!?!?“ „Du brauchst dich nicht zu sorgen. Sie ist erschöpft, doch am Leben.“ Erleichtert atmete Janine aus, in ihren Augen sammelten sich wieder Tränen. Freudentränen. Ich hab’s geschafft… Susanne lebt! Die Spinne krabbelte an einer nicht existierenden Wand hinunter zu Janine. Bedrohlich und einschüchternd stand sie mit der Größe eines Wolkenkratzers vor ihr. „Ich bin stolz auf dich, mein Kind.“, sprach die mütterliche Spinne. „Du hast es trotz deiner Angst und Verzweiflung geschafft zu agieren und dadurch das Leben deiner Freundin gerettet. Du hast dir eine Belohnung verdient, findest du nicht?“ Janine lächelte unter Tränen. „Eigentlich ist es mir Lohn genug, dass Susanne noch lebt.“ Die mächtige Stimme lachte. „Du hast ein reines Herz, voller Liebe und Zuneigung. Und dennoch lebst du voller Trauer und Angst. Du hast dir mein Geschenk verdient.“ Die Spinne kam auf Janine zu, doch sie schien keine Spinne mehr zu sein. Die Energie, aus der sie bestand, verformte sich, wurde zu einer strahlenden, wunderschönen Frau in wehenden Gewändern. Sie nahm Janines Gesicht zwischen die Hände, doch Janine spürte keine Hände. Nur Energie. Reine, mächtige Energie. Die Frau beugte sich zu Janine hinunter und küsste sie auf die Stirn. Es war eine federleichte Berührung, doch eine gewaltige Macht strömte in Janine, stärkte sie, veränderte sie. Die Frau löste sich auf, auch die Spinne war nicht mehr da. Das Nichts begann, sich in gelben Strahlen aufzulösen. Als Janine die Augen öffnete, stand sie wieder in dem Tempel. „Janine, alles in Ordnung?!?“ Schwungvoll wurde die Tür aufgerissen und Carsten, Ariane und Anne stürmten hinein. Mit ihnen das strahlend gelbe Licht der Sonne, das den verlassenen, verstaubten Schrein erhellte. „Ja… Mir geht es schon gut, aber…“ Janine war immer noch völlig benommen. War das alles gerade tatsächlich passiert? Hatte sie sich das wirklich nicht eingebildet? Aber sie fühlte sich so stark, so mächtig… „Susi!“ Erschrocken drehte sie sich um. Susanne lag wie zuvor ohne Bewusstsein auf dem Boden, doch der Tisch war verschwunden. Zitternd ging sie zu ihr rüber. Carsten ließ sich neben ihr auf die Knie und fühlte zielsicher Susannes Puls. „Sie lebt…“, meinte er schließlich. Erleichterung überschwemmte Janine. Sie konnte es nicht oft genug hören. Susanne lebt! „Was ist denn passiert?“, erkundigte sich Ariane besorgt. Janine berichtete ihnen von den beiden Giften und dass sie schließlich gar selbst Hand anlegen musste. „Aber das heißt doch, dass du die Prüfung bestanden hast.“, stellte Anne fest. Sie, Ariane und Carsten musterten Janine in dem schwachen Licht eindringlich. „Du bist so… gelb…“, behauptete Ariane zögernd. „Also im ernst, du hast so ein gelbes Leuchten.“ „Und deine Augen haben diesen Schlitz als Pupille.“, ergänzte Anne. „Wovon redet ihr?“ Janine lachte verlegen auf. Hier war kein Spiegel, sie wusste also nicht, wie sie nun aussah. Anne zuckte mit den Schultern. „Siehst du schon früher oder später. Lasst uns zurückgehen.“ Besorgt musterte Janine die schlafende Susanne, die von Carsten hochgehoben und auf den Armen nach außen getragen wurde. „Ich dachte, du hast den eiskalten Engel Laura tragen lassen, da du nicht stark genug bist.“, bemerkte Anne spöttisch. Carsten verdrehte die Augen, doch seine Wangen färbten sich rötlich. „Ihr wisst genau, warum ich wollte, dass Benni Laura trägt. Abgesehen davon hat er einen sicheren Gang. Ich wäre vermutlich tatsächlich mit ihr die Treppe runtergeflogen. Aber das heißt nicht, dass ich zu schwach bin, euch Fliegengewichte zu tragen.“ „‘Fliegengewichte‘?!? Na warte!“ Anne stürmte aus dem Tempel raus, auf Carsten zu. Doch da er Susanne trug, konnte sie ihm nichts antun, ohne dass sie damit auch Susanne verletzen würde. Carsten streckte Anne lediglich frech grinsend die Zunge raus, während sich Ariane königlich amüsierte. Auch Janine konnte nicht anders als lachen. Sie fühlte sich von allem so befreit, als wäre ihr eine große Last von den Schultern genommen worden. Kapitel 25: Mut zum Vertrauen -----------------------------    Mut zum Vertrauen       Idiot, Idiot, Idiot! Carsten ist so ein Idiot! Verärgert musterte Anne den schwächlich wirkenden Indigonerjungen, während sie auf dem Rückweg zum Waisenhaus waren. Sie konnte nicht verstehen, was die anderen Mädchen an ihm und dem eiskalten Engel so toll fanden. Beide waren einfach nur Idioten! Mit der untergehenden Sonne auf der linken Seite, die die Savannen-ähnliche Landschaft rötlich färbte, erreichten sie schließlich das erbärmlich ärmliche Waisenhaus, aus dem sofort Lissi und Öznur stürmten. „Oh mein Gott Susi, was ist passiert?!?“, krisch das nervige Flittchen mit schriller Stimme und rannte zu ihrer Schwester, welche immer noch bewusstlos in den Armen des Indigonerbubis lag. „Es tut mir so leid… Sie wurde bei meiner Prüfung… vergiftet…“, berichtete Janine betroffen, jedoch ergänzte der Indigonerbubi beruhigend: „Aber keine Sorge, es geht ihr wieder besser.“ Das Flittchen wandte sich langsam von ihrer Schwester ab und stattdessen Janine zu, ebenso Öznur. „Du siehst so… anders aus.“, bemerkte Annes Zimmergenossin geistreich. Wie immer, wenn sich alle Aufmerksamkeit auf Janine richtete, färbten sich ihre Wangen rötlich. „Ich-“, setzte sie an, doch das Flittchen unterbrach sie, indem sie sie am Arm packte und in das Innere des Waisenhauses zerrte. „Komm Schätzchen, das kann man nicht erklären. Du musst dich einfach im Spiegel bewundern.“ Anne, Öznur, Ariane und der Indigonerbubi mit Susanne folgten ihnen. Missmutig schaute sich Anne um. Das Waisenhaus war eigentlich nichts weiter als eine kleine Bruchbude. Wände, Böden und Decken waren allesamt aus hellem, billigem Holz, das bedürftige Mobiliar dunkel und alt. Hin und wieder huschten einige nervige Kinder an ihnen vorbei, während sie die Gäste neugierig betrachteten. Schwester Vitoria kam ihnen entgegen. „Grüßt Gott, ihr Lieben. Wie ich sehe, wart ihr erfolgreich. Das freut mich.“ Anne schnaubte. Es war nicht zu verkennen, dass sie, genauer gesagt Janine, erfolgreich war, die wie gerufen auf die Gruppe zugestürmt kam, überraschend aufgelöst. „Leute, das ist schrecklich!“, schrie das Blondchen verzweifelt. „Wie soll ich denn jetzt noch unter die Menschen gehen können?!? Die erkennen doch sofort, was ich bin!“ Anne hob eine Augenbraue. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Wenn es ja nur so wäre, dass Janines Haare nun eher gelb als blond waren und die Pupillen der hellblauen Augen nur ein Schlitz waren, wäre es ja nicht allzu schlimm. Das Problem war, dass Janine leuchtete. Sie strahlte regelrecht von innen heraus. Und zwar gelblich. Dieses Strahlen war so kraftvoll, dass noch nicht einmal ihre Kleidung es ganz verdecken konnte. Außerdem hatte sie nun auch dieses schwache Echo, die zweite Stimme, wie Anne sie bereits bei Konrad und dem Hauptmann, der nicht wie ein Hauptmann wirkte, gehört hatte. Und… bei dem vermummten Typ, den sie bei dem Überfall in Spirit getroffen hatten. Typisch Jungs. „Das stellt natürlich ein Problem dar…“, machte Ariane offensichtliches Kund. „Aber die Jungs wirken doch allesamt noch ziemlich normal.“, bemerkte Öznur. „So wie ich das mitbekommen habe, kann man seine ‚wahre Gestalt‘ irgendwie verbergen. Du solltest Eagle, Flo oder Konny fragen.“ Der Indigonerbubi schaute sie verwirrt an. „Du nennst Konrad, einen blutsaugenden Vampir, Konny? Und Florian, den Hauptmann einer Armee Flo?“ Öznur zuckte grinsend mit den Schultern. „Besser als Bennlèy oder Cärstchen, findest du nicht?“ Amüsiert lachte der Indigonerbubi auf. Schnaubend wandte sich Anne ab. Alles Idioten. Während die Schwester dem Indigonerbubi ein Zimmer zeigte, wo er Susanne endlich in ein Bett legen konnte, gingen die Mädchen in den Gemeinschaftsraum, wo sie neben den kleinen, lärmenden Bälgern auch auf die Prinzessin von Yami und den eiskalten Engel trafen. Es zeigte sich, dass das Prinzesschen erstaunlich gut mit kleinen Kindern klarkam, da diese sich begeistert um sie scherten, während sie ihnen ein Buch vorlas. Der eiskalte Engel war natürlich so teilnahmslos wie immer, wie er da auf einem alten Sofa lag und seelenruhig schlief. Das konnte doch nicht wahr sein!!! Da wäre eben fast eine Dämonenbesitzerin verreckt, da Janine einige Probleme bei der Prüfung hatte und der pennte einfach! Entnervt schnaubend pflanzte sich Anne auf einen schäbigen Holzstuhl an den noch schäbigeren Tisch, als auch der Indigonerbubi kam und sich zum Prinzesschen auf den Boden setzte. „Wann geht’s weiter?“, erkundigte sich Ariane erwartungsvoll. Der Indigonerbubi zuckte mit den Schultern. „Wenn Susanne aufgewacht ist.“ „Und Benni.“, ergänzte Öznur belustigt, doch der Indigonerbubi schüttelte den Kopf. „Benni schläft nicht, das kann er bei so einem Lärm gar nicht.“ Ariane verließ ihren Sitzplatz auf dem Boden und ging zu dem alten Sofa, auf dem der eiskalte Engel lag. „Dann kannst du auch die Augen aufmachen und dich jedenfalls passiv an unserem Gespräch beteiligen.“, forderte sie. Tatsächlich richtete sich der eiskalte Engel kurz darauf auf, blieb jedoch weiterhin still. Schadenfroh bemerkte Anne, dass er wirklich nicht so fit wirkte, wie sonst. Ja, sie wusste, dass das gemein war, aber so war sie nun mal. Sie mochte Benni nicht, genauso wenig wie Carsten, Eagle oder die anderen Jungs, mit denen sie gegen diesen Unzerstörbaren kämpfen musste. Genauer gesagt mochte sie überhaupt keinen Jungen. Um das Gespräch wieder aufzunehmen fragte Ariane: „Also, wo geht es als nächstes hin?“ „Nach Dessert.“, antwortete Carsten. „Lecker!“, kommentierte Ariane begeistert. Lachend verdrehte der Indigonerbubi die Augen. „Du weißt, dass ich die Region meine.“ Schmollend verschränkte Ariane die Arme vor der Brust. „Ich hab trotzdem Hunger.“ Während sich der größte Teil der Gruppe mal wieder über den Namen von Annes Region lustig machte, rief sich diese die Karte von Damon in den Kopf. „Du Vollidiot!!!“, herrschte sie schließlich Carsten an. Erschrocken erwiderte der Indigonerbubi ihren Blick. „Was hast du?“ „Das fragst du noch?!?“, erzürnt sprang Anne auf, „Im Gegensatz zu Mur ist Dessert eine benachbarte Region von Cor! Also warum sind wir erst hierhin gegangen?!?“ Noch ehe der Indigonerbubi antworten konnte, zeigte Anne auf die kranke Prinzessin von Yami. „Ich dachte, du seist so rücksichtsvoll, dass du für Laura immer nur die kürzesten Strecken zum teleportieren nimmst, also warum erschwerst du es ihr so unnötig?!?“ Na gut, die Sorge um Laura war natürlich nur oberflächlich, eigentlich nervte es Anne, dass sie eventuell bereits ihre Prüfung hinter sich gehabt hätte, hätte der Depp tatsächlich die kürzeste Route genommen. Doch besagter Depp blieb zu Annes Ärgernis völlig ruhig, als er meinte: „Da hier in Mur die Dämonenbesitzer immer noch verfolgt werden, habe ich es bevorzugt, euch erst hierhin zu bringen. Bisher wissen nur wenige von unserem Vorhaben Bescheid und damit ist auch die Wahrscheinlichkeit geringer, von Gegnern überrascht zu werden.“ Schnaubend stellte Anne fest, dass dieser Grund nur besonders vorausschauend und nicht total bescheuert war. Sie gammelten erst fünfzehn Minuten im Gemeinschaftsraum des winzigen Waisenhauses, als der eiskalte Engel dem Indigonerbubi etwas in einer Sprache sagte, die Anne noch nie zuvor gehört hatte. Wobei sie Indigonisch vermutete, denn das war so ziemlich die einzige Sprache, die außer den beiden Deppen niemand kannte. Damon war etwas in der Art wie ein Kontinent, bestehend aus mehreren Regionen, die folglich alle ihre eigene Sprache hatten. Auch wenn diese im Laufe der Zeit immer mehr an Wichtigkeit verloren und stattdessen die ‚Kontinentalsprache‘ Damisch ihren Platz einnahm. Das konnte man ziemlich gut an der Prinzessin von Yami erkennen, die durch ihre Region eigentlich perfekt Japanisch beherrschen müsste, aber trotzdem so gut wie gar nichts lesen konnte. Nun gut, Laura war auch nicht besonders helle… Anne fragte sich eher, wie Janine Damisch lernen konnte, obwohl Mur eigentlich ausschließlich Russisch sprach. Wobei sich dort inzwischen auch so langsam das Damisch zu verbreiten schien, wenn sie an die Nonnen dachte, oder diesen Idioten, den sie auf der Straße getroffen hatten und dem Öznur die Nase versengt hatte. Der Indigonerbubi erwiderte etwas, auch auf Indigonisch, und verließ schließlich den Raum. Wenige Minuten später kam er zurück, dicht gefolgt von Susanne. Lissi fiel ihrer Schwester überglücklich um den Hals. „Zum Glück geht es dir wieder gut.“ Von der freudigen Erleichterung, dass Susanne aufgewacht war abgeneigt, murrte Anne: „Das heißt, wir können endlich los?“ Heute würden sie wohl nicht mehr zum Schrein kommen, da die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden war und es nachts in Dessert scheißkalt war. Da ging keiner freiwillig vor die Tür. Trotz ihres fiesen Tonfalls lächelte Susanne sie an. „Tut mir leid, dass ihr meinetwegen warten musstet.“ Nun bekam Anne doch ein schlechtes Gewissen. Es war zwar nicht so, dass sie Susanne als herzliche Freundin betrachtete, aber sie war immer so nett und zuvorkommend zu jedem, sogar zu Anne… Vielleicht würde sie sich in Zukunft bemühen, etwas netter zu Susanne zu sein. Vielleicht. Die Nonne legte eine Hand auf die Schulter von Janine, die andere auf Susannes. „Ich wünsche euch viel Erfolg.“ Die Mädchen gingen zum Indigonerbubi und dem eiskalten Engel. Um bloß nicht einem der beiden Jungs die Hand geben zu müssen, stellte sich Anne zwischen Öznur und Ariane, als der Indigonerbubi schließlich den Zauber zum Teleportieren sprach.   „Das kann doch nicht wahr sein, bitte sag, dass ich mir das nur einbilde! Warum ist es plötzlich so kalt?!?!?“, meckerte die Besitzerin des Weißen Hais zitternd. Ebenso fröstelnd aber dennoch beherrscht antwortete Anne: „Wir sind hier in der Wüstenregion, das ist immer so.“ „Mein Beileid.“, murmelte Öznur, während sie sich eine Jacke aus ihrem Koffer holte, die allerdings nicht allzu wirkungsvoll war. In Dessert war es nämlich nachts häufig noch kälter als in den anderen Regionen im Winter. Da die ‚Hauptstadt‘ Sandcastle, in der Anne als Prinzessin natürlich lebte, ebenso wie die Coeur-Academy von einer Magiebarriere geschützt wurde, hatten sie sich gezwungenermaßen vor das große Holzportal teleportieren müssen. Eine gewaltige, steinerne Mauer umgab die Stadt und schützte sie vor feindlichen Angriffen, auch wenn zurzeit nur in Mur ein indirekter Krieg herrschte und alle anderen Regionen in Frieden miteinander lebten. Doch Anne wusste, dass für einige dieser Regionen der Friede nichts weiter als eine Farce war und sie eigentlich nach noch mehr Macht und Besitz strebten. Das schwere Holztor öffnete sich mühsam, sodass die Gruppe eintreten konnte. Wie vorausgesagt wagte es nach Einbruch der Dunkelheit keiner mehr auf die Straßen, die zwar täglich freigeräumt, aber dennoch immer wieder vom Sand verdeckt wurden. Auf der Hauptstraße, die sie entlanggingen, um zu Annes Zuhause zu kommen, dem Palast von Dessert, trafen sie allerdings mehr Leute an, die allesamt die Prinzessin erkannten und sie respektvoll grüßten. Vor einem Pub hielt der eiskalte Engel plötzlich an und zog den Indigonerbubi beiseite, während er ihm etwas auf Indigonisch mitteilte. Anne hatte schon Interesse, was er ihm gesagt hatte, da Carsten plötzlich entnervt aufstöhnte. „Das kann doch nicht wahr sein!!! Ich habe Saya gebeten, ihm nichts davon zu sagen!“ Nun hatte Anne doch eine gewisse Ahnung, von wem sie da sprachen. Diese Vermutung bestätigte sich, als Carsten auf Arianes Frage, was los sei, antwortete: „Benni meint, Eagle sei in dieser Bar und würde auf uns warten.“ „Och nö.“, kommentierte Laura, ebenso begeistert wie der Indigonerbubi. Öznur zuckte mit den Schultern. „Ob ihr ihn mögt oder nicht, wir sollten reingehen und ihn begrüßen.“ „Dann kann ich ihn auch fragen, wie man seine Kräfte verbergen kann!“, bemerkte Janine hoffnungsvoll. Sehr zu Annes Missfallen hatte sie von dem Indigonerbubi dessen Jacke mit Kapuze bekommen, mit der sie jedenfalls ihr Gesicht und ihre Haare verbergen konnte. Damit das Leuchten nicht auffiel, hielt sie sich möglichst an beleuchteten Stellen der Straße auf, dicht bei dem Indigonerbubi, Susanne und Ariane, die ihr einen gewissen Schutz boten. „Gute Idee, gehen wir rein.“, meinte Öznur und öffnete die Tür. Sofort kam ihnen eine regelrechte Wolke aus Zigarettenrauch und Alkoholgestank entgegen, sodass Anne die Nase rümpfen musste. Gegen Zigaretten hatte sie nichts, sie selbst hatte sich gerade mal vor zwei Monaten mühsam vom Rauchen verabschiedet, da dieses ‚Hobby‘ zu Stress mit ihrer Mutter geführt hatte. Aber von Alkohol war sie noch nie begeistert gewesen. Auch die übrigen schienen von der Atmosphäre weniger entzückt, bis auf Lissi versteht sich. Als sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, das nur auf der Bühne die Bauchtänzerinnen beleuchtete, schaute sich Anne um, um den zukünftigen Häuptling von Indigo zu entdecken. Welcher die eintretende Gruppe bereits erblickt hatte. „N’Abend Leute!“, grüßte Eagle gut gelaunt und winkte ihnen mit einem Bierglas in der Hand zu. In den Mundwinkeln steckte mal wieder eine Kippe und auf seinem Schoß saß eine der Bauchtänzerinnen, sich sichtlich wohlfühlend. Von der einen auf die andere Sekunde platzte Anne der Kragen. „Du notgeiler Vollidiot, was hat das zu bedeuten?!? Machst du dich etwa an jedes halbwegs hübsche Mädchen mit großer Oberweite ran?!?“ Geladen stapfte Anne zur Theke, an der dieses Arschloch mit der verwirrten Tänzerin saß, um ihn aus nächster Nähe anbrüllen zu können. „Das weibliche Geschlecht ist nicht dafür da, um euch Typen zu unterhalten. Kapier das endlich!“ Ebenso wütend funkelte sie das schwarz gelockte, dunkle Mädchen an. „Und du lass dich nicht auf solche Idioten ein! Verschwinde!!!“ Völlig verängstigt stolperte sie von dem Schoß des bescheuerten Häuptlingssohns und hastete zurück zu ihren Bauchtänzerfreundinnen. Widerwärtig gechillt hob Eagle beruhigend die Hände. „Komm mal runter, wir haben uns nur unterhalten.“ Anne schnaubte und packte Eagle am Kragen seines grauen Hemdes. „Jetzt hör mir mal zu du Arschloch,“, zischte sie ihn aus nächster Nähe an, „wenn ich dich noch ein einziges Mal mit irgendeinem Mädchen erwische, dann bist du tot. Haben wir uns verstanden?!?“ Jemand packte Anne an der Schulter und zog sie von Eagle weg. „Jetzt beruhige dich mal wieder.“, redete Öznur beschwichtigend auf sie ein. „Es klingt ja fast so, als wärst du seine Freundin und hättest ihn beim Fremdgehen erwischt. Es ist nicht so schlimm wie du denkst, wenn ein Junge ein bisschen mit einem Mädchen flirtet. Außerdem schien die auch nicht wirklich abgeneigt, dass du sie hättest verteidigen müssen.“ Angewidert schob Anne Öznurs Hand von ihrer Schulter. „Jungs wollen sich nur amüsieren, nichts weiter. Das ist einfach nur widerlich.“ Immerhin gab Öznur es seufzend auf. „Wie wär’s, wenn wir jetzt zu dir nach Hause gehen würden?“ „Meinetwegen.“, murrte Anne. Der zukünftige Häuptling von Indigo hatte ihr nun endgültig die Laune verdorben. Als sie wieder die sandige Hauptstraße zum Palast entlanggingen, fragte Janine plötzlich: „Ähm Eagle… Wie kann man eigentlich sein Aussehen wieder normal wirken lassen? Ich meine… Du hast doch deine Dämonenform und wirkst trotzdem fast wie ein normaler Mensch.“ Seelenruhig erwiderte der bescheuerte Häuptlingssohn Janines Blick, seine Mundwinkel hoben sich leicht. „Ach, du hast deine Prüfung bereits bestanden? Herzlichen Glückwunsch.“ Mit einem rötlichen Gesicht wandte sich Janine schnell ab. „Danke…“ Anne hätte dem Idioten nur zu gerne einen Tritt in eine gewisse Stelle verpasst. Macht der sich echt an jedes Mädchen ran?!? Dass Eagle es eigentlich nur nett gemeint hatte kam für Anne natürlich nicht infrage. „Die Kraft zu unterdrücken funktioniert genauso, wie das Beherrschen der Energie.“, erklärte der bescheuerte Indigoner, „Du musst es dir nur vorstellen.“ Kritisch musterte Anne ihn. Das war doch nicht im Ernst so einfach. Janine blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Das gelbe Leuchten um sie begann zu wabern und wurde immer kleiner, bis es schließlich in ihrem Inneren zu verschwinden schien. Als Janine die Augen öffnete, waren es wieder die großen, kreisrunden Pupillen. Öznur legte den Kopf schief. „Das ist nicht im Ernst so einfach, oder? Da hätten sogar wir drauf kommen können.“ Doch der Indigoner-Idiot zuckte nur lachend mit den Schultern. „Tja…“ Der Palast von Sandcastle, Annes Zuhause, ähnelte ein bisschen dem Taj Mahal. In den Ecken des gewaltigen Palasthofes, welcher von einer weißen Mauer umrundet wurde, schossen elfenbeinweiße Türme in die Höhe, die das in der Mitte thronende Hauptgebäude zu bewachen schienen, allesamt in ein wunderschönes Lichtspiel getaucht. Der Garten um den Mauern des Palasthofes war tagsüber saftig grün, was er den zum Palast führenden Bächen zu verdanken hatte, die von oben betrachtet ein Kreuz bildeten und im Inneren des Palastes aufeinandertrafen. Die Mädchen kamen gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Erst recht nicht, als sie in das Innere des Palastes traten, das von seinem goldenen Glanz her mit der Coeur-Academy konkurrierte. Die Bediensteten waren selbstverständlich sofort zur Stelle und kümmerten sich bereits um ihr Gepäck, während sie die marmorweiße Treppe, die von einem roten Teppich bedeckt wurde, hinaufstiegen und weiter geradeaus gingen, direkt in den Thronsaal. Dort wurden sie bereits von Annes Mutter erwartet. Sie war eine sehr schöne, stattliche Dame mit etwa derselben dunklen Hautfarbe wie Anne und dunklen, braunen Augen. Ihre Haare fielen in wallenden schwarzen Locken über ihre Schultern und ließen sie trotz ihres Hosenanzuges sehr weiblich wirken. Im Gegensatz zu Anne, deren Auftreten nicht so sanft und graziös war, wie es sich eigentlich für eine Märchenprinzessin gehörte. „G-Guten Abend, Ihre Majestät…“, stammelte Ariane. Nicht wissend, wie sie sich in der Gegenwart einer Königin verhalten sollten, knieten sie und Öznur respektvoll und deutlich planlos nieder. Annes Mutter lachte auf. „Wir leben doch längst in einer modernen Zeit, ihr müsst euch nicht verbeugen.“ Peinlich berührt standen Ariane und Öznur auf. „Und als Freunde meiner Tochter müsst ihr mich auch nicht so ansprechen, Sultana reicht völlig.“, fuhr sie fort. Sehr bescheiden, dachte Anne sarkastisch. Sultana war etwas in der Art wie der Spitzname ihrer Mutter, ganz dezent auf ihren Status hinweisend. Anne wusste nicht, wie es zu diesem Namen kam, doch sie wurde von jedem so genannt. Selbst von ihrer Tochter, die nicht den leisesten Schimmer hatte, wie ihre Mutter eigentlich hieß. Sultana verließ ihren Platz am Tischende, wo erst vor wenigen Minuten noch eine Konferenz abgehalten worden war. Mit der Zeit hatte Anne Übung darin bekommen, nachträglich die Termine ihrer Mutter zu erahnen. „Guten Abend Eagle, schön dich mal wieder zu sehen.“, grüßte sie den Häuptlingssohn freundlich. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite.“, erwiderte dieser, während Anne bei diesem Austauschen der Verbindlichkeiten am liebsten kotzen würde. Zu ihrem Ärgernis mochte Sultana Eagle nämlich. „Und du musst sein jüngerer Bruder Crow sein, ist es nicht so?“, erkundigte sie sich, dem Indigonerbubi zugewandt und streckte ihm zur Begrüßung die Hand hin. Carsten erwiderte ihre Begrüßung mit einem schwachen Händedruck. „So kann man es auch ausdrücken.“ „Hä? Ich dachte Crow sei nur dein Zweitname.“, bemerkte Ariane verwirrt. Der Indigonerbubi zuckte mit den Schultern. „Aber mein offizieller.“ Öznur legte den Kopf schief. „Spar dir das Erklären, wir werden es sowieso nicht kapieren.“ In der Zeit hatte sich Sultana der Prinzessin von Yami zugewandt. „Es freut mich auch, die Erbin des Lenz-Clans begrüßen zu dürfen. Du bist so groß geworden! Wobei, als ich dich das letzte Mal gesehen habe warst du auch erst um die Vier.“, witzelte sie, wurde allerdings sofort wieder ernst. „Ich möchte dir mein herzliches Beileid zu dem Vorfall mit deinen Geschwistern ausdrücken.“ Teils verlegen, doch überwiegend bedrückt wich Laura ihrem Blick aus. „D-Danke… Schon in Ordnung… oder so…“ Ihr Blick fiel nun auf den eiskalten Engel. „Und du musst Benedict sein, ist es nicht so? Ach herrje, du bist ja auch in die Höhe geschossen im Vergleich zu damals. In den letzten Treffen habe ich allerdings viel Widersprüchliches von dir gehört. Wobei du dich doch zu einem sehr vernünftigen jungen Mann entwickelt zu haben scheinst, daher vermute ich, dass das alles nur leeres Gerede zum Zeitvertreib ist.“ „بسيار خشنود“, erwiderte der eiskalte Engel auf Persisch, der Sprache von Dessert, was so viel wie ‚Sehr erfreut.‘ bedeutete. Anne schnaubte. Muss der echt so mit seinen Sprachkenntnissen angeben? Schließlich wandte sich Sultana dem Rest der Gruppe zu. „Nun, die Übrigen von euch kenne ich leider nicht beim Namen und ich möchte Anne auch die ganzen Höflichkeiten der Vorstellung ersparen, weshalb ich euch vorerst kollektiv mit einem Guten Abend begrüße, falls ihr damit einverstanden seid.“ Ohne abzuwarten, ob die Restlichen überhaupt zustimmten, fuhr sie fort: „Allerdings vermute ich, dass ihr nach einer solch langen Reise bestimmt hungrig seid, weshalb ich euch auch nicht länger warten lassen möchte.“ „Juhuuuu, Essen!“, rief die notorisch heißhungrige Ariane begeistert. Doch auch Anne knurrte der Magen, weshalb sie es ihr zur Ausnahme mal nicht übelnahm. „Ähm… Moment mal…“, schaltete sich Öznur zögernd ein, „Sie haben Anne doch noch gar nicht richtig begrüßt…“ Sultana lachte auf. „Macht euch darum keine Sorgen, Anne ist zurzeit mal wieder in ihrer Trotzphase. Das merkt eine Mutter sofort. Ich werde mich später mit ihr unterhalten, wenn sie besserer Laune ist.“ Offensichtlich provozierend wuschelte sie Anne durch die hellbraunen, kurzen Haare, die davon überhaupt nicht begeistert war und das durch ein lautstarkes Schnauben zum Ausdruck brachte. Der Speisesaal war nicht minder prunkvoll als der Rest des Schlosses und Ariane konnte nicht aufhören zu schwärmen, dass sie am liebsten jeden Tag so essen würde, wenn das Essen so gut wäre, wie das Schloss schön. Für Anne wiederum war das alles natürlich selbstverständlich und auch die Prinzessin von Yami und der erste Häuptlingssohn waren die entsprechenden Verhältnisse gewöhnt, weshalb sie sich nicht so beeindrucken ließen, wie die Übrigen. Doch auch der eiskalte Engel und der Indigonerbubi wirkten nicht gerade bewundernd. An der gewaltigen Holztafel saßen neben den Gästen nur Anne und ihre Mutter, was die meisten Mädchen stutzig machte. „Dass du keine Geschwister hast ist ja offensichtlich aber wo ist denn dein Papa, Anne?“, erkundigte sich Ariane neugierig. Anne hatte mit einem Schlag das Gefühl, ein Blitz würde ins Schloss einschlagen und direkt sie treffen. Nicht wissend, was sie antworten sollte, starrte sie Ariane einfach nur fassungslos an, während in ihr ein schmerzender Zorn toste. „D-Das geht dich rein gar nichts an!“, erwiderte sie schließlich schnippisch. Niemanden hatte das zu interessieren! Ariane legte verwirrt den Kopf schief, erkannte aber, dass ihr Leben gefährdet war und blieb daher intelligenter weise still. Im Gegensatz zu Lissi. „Gab’s bei euch daheim Stress, Banani? Keine Sorge, ich weiß wie das ist. Du kannst es uns getrost erzählen.“ „Nein, du weißt nicht wie das ist!!!“, brüllte Anne die Tussi an, die bescheuert ungeschickt vor Schreck vom Stuhl fiel. Sie spürte, wie sich in ihren Augen doch tatsächlich Tränen sammelten. Tränen!!! Das konnte doch nicht wahr sein! Sie würde garantiert nicht heulen, sie war nicht so eine Heulsuse wie das Prinzesschen von Yami!!! Demonstrativ schob sie den Stuhl zurück, stand auf und stampfte eilig aus dem Speisesaal, bevor sie tatsächlich gegen ihre Gefühle verlieren konnte. Sie musste hier weg, musste vor diesen ganzen Idioten fliehen. So peinlich es auch war.   ~*~   Verwirrt schaute Öznur ihrer Zimmergenossin nach. Anne war ja sehr launisch, aber nicht launisch in dem Sinne. „Schlechtes Thema?“, stellte Ariane fragend fest, inzwischen daran gewöhnt, irgendwie in Fettnäpfchen zu treten. Doch auch Annes Mutter, Sultana, schien überhaupt nicht gut darauf anzusprechen zu sein. „Entschuldigt mich bitte, doch ich habe noch einen Bericht zu der letzten Konferenz zu beenden.“ Mit diesen Worten stand auch sie auf und verließ den Speisesaal. „Das muss man doch nicht so umschreiben, wenn man meint, man möchte sich um seine Tochter kümmern… Oder?“, erkundigte sich Janine zögernd. Eagle schüttelte den Kopf. „Anne ist zu stolz, um sich trösten zu lassen und Sultana zu stolz, um zu trösten.“ „Aber was ist denn los? Ist ihr Vater etwa gestorben?“ Anders konnte Öznur es sich nicht erklären. Wieder schüttelte Eagle den Kopf. „Ich denke, es sogar wäre besser, wenn dem so wäre. Zumindest aus Annes Sicht.“ „So ein Unsinn, man kann sich doch nicht wünschen, dass die Eltern sterben!“ Öznur konnte nun gut verstehen, warum Janine so eine Einstellung hatte. Ihre Verwandten waren allesamt tot, ebenso ihr Pflegevater. Daher war es selbstverständlich, dass sie so denken musste. Überraschender Weise mischte sich auch Carsten in das Gespräch ein. „Nicht jeder liebt seine Eltern.“ „Ach halt doch die Klappe.“, herrschte Eagle seinen Halbbruder an. „Als hättest du es bei uns Zuhause so schlecht.“ Innerlich verdrehte Öznur die Augen. Manchmal musste sogar sie Laura und Carsten Recht geben. So sexy Eagle auch war, er konnte echt ein totaler Vollpfosten sein. Doch Carsten blieb ganz ruhig. „Abgesehen davon, dass ich offen gesagt bei euch tatsächlich nicht so glücklich bin, meinte ich eigentlich Benni.“ Ariane überlegte. „Irgendwie hab ich mir das bei dem eiskalten Engel gedacht, auch wenn ich gerne wissen würde, warum.“ „Schon, aber mich interessiert gerade eher, was mit Anne los ist… So war sie noch nie! Ich meine… Sie hätte fast geweint!“, rief Öznur verzweifelt. Sie machte sich riesige Sorgen um Anne. Anne weinte nie, das passte gar nicht zu ihr. Also was war nun los? Was konnte so schlimm sein, dass die Prinzessin von Dessert ihren Gefühlen unterlegen war?!? Nachdenklich stützte Eagle den Kopf auf seiner Hand ab. „Nun… Ich kann mir denken, warum.“ „Dann sag!“, drängte Ariane. Seufzend gab sich Eagle geschlagen. „Wie immer kursieren bei den anderen Adligen Gerüchte um jemanden, wenn etwas passiert ist. Daher bin ich mir nicht sicher, wie viel Wahrheit da tatsächlich drinnen steckt. Ich weiß nicht, wie lange das schon vor sich ging, jedenfalls war ihr Vater scheinbar ein absolutes Arschloch. Obwohl er verheiratet war und eine Tochter hatte, hatte er wohl verdammt viele Affären. Es ging angeblich sogar so weit, dass er sich nachts an junge Mädchen in Discotheken rangemacht hat…“, seufzend fuhr Eagle fort, „Jedenfalls gab es unter seinen Gespielinnen nicht nur Freiwillige, wenn ihr versteht, was ich meine.“ „Galant ausgedrückt… Ja, wir verstehen vermutlich alle, worauf du hinauswillst.“, meinte Susanne. Eagle zuckte mit den Schultern. „Vor etwa drei bis vier Jahren hatte die Polizei schließlich geschnallt, wer der Verbrecher war, aber ein Opfer gönnte er sich noch…“ „Hä?“ Laura war vermutlich die Einzige, die Eagles Andeutung nicht kapiert hatte, denn die restlichen Mädchen senkten betroffen die Köpfe. „Kein Wunder, dass Anne bei Jungs so ausrastet…“, meinte Ariane nachdenklich. „Und auch, dass sie uns nichts davon erzählen möchte.“ Als wäre ihr kalt, schlang Janine die Arme um ihren Körper. „Wie kann ein Mensch nur so grausam sein? Das hat sie nicht verdient…“   ~*~   Der eisige Nachtwind schien sie auspeitschen zu wollen, während das Wasser ohrenbetäubend laut rauschend an ihr vorbeifloss, als würde es auf seinem Weg nach unten in die Gärten absichtlich einen solchen Lärm machen. Die Kälte war ihr allerdings egal. Auch der Krach, den die Bäche verursachten. Eigentlich war ihr alles egal. Alles, außer das Eine. Sie hatte ihm vertraut und das war ihr Fehler gewesen. So lief es nun mal im Leben. Die, die einem am wichtigsten waren, waren auch die Gefährlichsten. Denn man vertraute ihnen… Schluchzend zog Anne die Beine an und schlang ihre Arme drum, als würde sie sonst in Stücke zerfallen. Ihr war kalt. Eisig kalt. Sowohl äußerlich als auch innerlich. Und sie fühlte sich einsam… Niemand konnte verstehen, wie es war, auf diese Art und Weise vom eigenen Vater verraten zu werden… Ein warmer Stoff legte sich über ihre Schultern. Erschrocken fuhr Anne herum. „Was willst du hier?!?“, schrie sie Carsten an. „Ich wollte wissen, wie es dir geht.“, erwiderte dieser ruhig. Er wollte wissen, wie es mir geht? Ich bin doch nicht bescheuert! „Als ob du dich dafür interessieren würdest!“ Trotzig drehte sich Anne von ihm weg. Sie wollte nicht, dass irgendjemand sah, dass sie geweint hatte. Doch natürlich wusste der Idiot davon. Es war zu Annes Ärgernis nur schwer zu übersehen. „Das hat dich nicht zu interessieren! Verschwinde!!!“, brüllte sie ihn an, ohne ihm in die Augen zu schauen. Eigentlich wollte Anne nicht, dass er ging. Was? Sie wollte es nicht? Was war los mit ihr?!?!? Natürlich wollte sie, dass er sie in Ruhe ließ! Aber… Eigentlich wünschte sie sich, dass es auch nur einen in ihrer tristen Welt gab, der sich tatsächlich für ihre Gefühle interessierte. Sich um sie sorgte… Der ihr helfen wollte! Anne bemerkte, wie sich der Indigonerbubi neben sie setzte. „Ich sagte, verschwinde.“, schnauzte sie ihn an. Er ist immer noch ein Junge und Jungs sind alle gleich! Sie wollen nur ihren Spaß!!! Als habe der Indigonerbubi ihre Gedanken gelesen, erwiderte er: „Es tut mir ehrlich leid, was du da durchmachen musstest. Doch wir sind nicht alle so. Es ist eher… es sind nur ganz wenige.“ Er seufzte. „Doch genau diese Wenigen sorgen für den größten Schaden. Und der Rest muss dann irgendwie versuchen, all das… das ganze zerstörte Vertrauen, wieder aufzubauen.“ Und mit diesen Worten nahm er sie einfach in die Arme. „W-Was soll das?!? Lass mich los!“, schrie Anne verwirrt und versuchte, sich von ihm loszureißen. Doch ihr Befreiungsversuch war nur halbherzig. Will der mir etwa wirklich helfen? …  Anne verstand nicht, was mit ihr los war. Eigentlich hätte sie sofort gedacht, Carsten würde sich an sie ranmachen wollen. Aber sie wusste, dass der Indigonerbubi so etwas nie machen würde. Das passte einfach nicht zu ihm. Er hielt sie einfach wortlos in seinen Armen. Und Anne bemerkte, dass es sie tatsächlich beruhigte… Was? Es beruhigte sie?!? Das kann doch nicht wahr sein! „Was ist das für ein fauler Zauber?!?“, schnauzte Anne den Indigonerbubi gereizt an. „Das ist kein Zauber.“, antwortete dieser ruhig, ohne seinen Griff zu lockern. „Ich möchte dir nur helfen.“ Er will mir helfen? „Warum? Ich meine… Ich will deine Hilfe doch gar nicht! Und außerdem… Warum solltest ausgerechnet du mir helfen wollen?“ Anne konnte Carsten einfach nicht verstehen. Sie hatte ihn so oft vor all den anderen bloßgestellt, hatte ihn aus Schadenfreude gedemütigt und auch verletzt… Und er wollte ihr dennoch helfen? Er sorgte sich trotzdem um sie?!? „D-Danke…“, murmelte Anne verlegen, doch der Indigonerbubi erwiderte nichts. Tatsächlich war es einfach nur beruhigend, sich von Carsten trösten zu lassen. Auch wenn Anne es nur widerwillig zugeben konnte. Er hatte diese beruhigende Wirkung auf jemanden. Es hatte den Anschein, als könne er einen zwar nicht von seinem Leiden befreien, ihm aber einen großen Teil abnehmen. Und dabei tat Carsten so gut wie gar nichts. Er hielt Anne lediglich in seinem Arm. Anne wusste nicht, wie lange sie nun in Carstens Armen lag, bis sie sich völlig beruhigt hatte. Nun gut, in diesem Fall war völlig eher relativ. Etwas unsanft schob sie Carsten von sich. „Kannst du mich zum Schrein teleportieren?“ Dieser musterte sie verwirrt und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Es ist schon elf… Du willst doch nicht im Ernst jetzt noch die Prüfung machen?“ „Ich bin nicht müde.“, widersprach Anne, als hätte Carsten sie aufgefordert, ins Bett zu gehen. „Ich will diese dämliche Prüfung einfach nur hinter mir haben.“ Der Indigonerbubi warf einen kurzen Blick in den sternklaren Nachthimmel, während Anne ungeduldig auf seine zögernde Antwort wartete. „Na gut… Aber dafür müssen wir Sandcastle wieder verlassen, sonst kann ich uns nicht teleportieren.“ Gleichgültig zuckte Anne mit den Schultern. Während sie durch das Schloss gingen, trafen sie keine Menschenseele. Zurück in den Speisesaal zu den anderen wollte Anne nicht mehr. Höchst wahrscheinlich hatte Carsten sein Wissen von jenem Vorfall von dem zukünftigen Häuptling… Der hätte auch ruhig mal die Klappe halten können! Wobei andererseits… Dann hätte sie vermutlich nie eingesehen, dass Carsten eigentlich ganz okay war… Es fiel ihr ja immer noch schwer, das zu akzeptieren. Schweigend gingen sie durch die leicht erleuchteten Gänge des Schlosses, zurück auf die sandigen Straßen von Sandcastle. Es kam Anne wie eine endlose Tour vor, als würde sie sich auf den Weg zu ihrer Hinrichtung begeben. Bis sie endlich an das große Eingangstor der mächtigen Hauptstadt von Dessert kamen. Widerwillig reichte sie Carsten ihre zitternde Hand. „Bist du nervös?“ Verbissen starrte Anne ihn an. Hatte sie sich das nur eingebildet oder schwankte in Carstens Stimme tatsächlich ein Hauch Spott mit?!? „Nein, bin ich nicht.“, schnaubte sie gereizt. „Und lass dir eine Sache gesagt sein: Nur weil du eben einen auf guten Freund machst, heißt das noch lange nicht, dass du dich über mich lustig machen darfst!“ Carsten erwiderte Annes erzürnten Blick mit seinen lieben lila Augen, die Anne sofort an einen kleinen Welpen erinnerten. Mit einem schwachen Lächeln erwiderte er: „Ich will nicht nur einen auf guten Freund machen, ich will ein guter Freund sein. Und deshalb mache ich mich auch nicht über dich lustig.“ „Ach was soll’s! Los, teleportier uns endlich.“, wechselte Anne das Thema, von Carstens Hundeblick in Verlegenheit gebracht. Sie empfand rein gar nichts für ihn! Also, keine Liebe oder so was! Sie bekam nur ein schlechtes Gewissen, weil er es tatsächlich nur gut zu meinen schien! Ein schlechtes Gewissen? Bei einem Jungen?!?!?!? Was ist nur mit mir los?!? Carsten, der Anne während ihrem inneren Gefühlschaos einfach nur schweigend beobachtet hatte, sprach schließlich seinen komischen Teleport-Zauber, als er erkannte, dass sie sich nun endlich auf ihr Ziel konzentrieren würde.   Fröstelnd vergrub Anne die Hände in ihrer Jacke, die sie sich noch schnell aus dem Schloss stibitzt hatte, ehe sie dieses gemeinsam mit dem Indigonerbubi verlassen hatte. Nun stand sie vor dem erhabenen Schrein der Grünen Schlange. Die stützenden Säulen des Tempels ragten nur noch zur Hälfte aus dem Sand, der gesamte untere Teil war unter ihm vergraben. Wie soll ich denn da rein kommen? Während Anne noch überlegte, verpasste sie sich selbst in Gedanken eine Ohrfeige. Ich beherrsche doch den Sand, ich Depp. Sie stellte sich vor, der Sand würde vor ihr weichen und ihr den Weg zum Eingang des Tempels freimachen. Wie Moses in der Bibel die Wellen teilte, so wich vor ihr der Sand zur Seite und ließ sie passieren. „Kommst du nicht mit?“, fragte Anne den Indigonerbubi, der bisher nur schweigend beobachtet hatte. Sie mochte ihn immer noch nicht! Aber sie hasste ihn auch nicht so sehr, dass er in der Wüste bei Nacht erfrieren sollte. Wortlos folgte der Indigonerbubi ihr und sie gingen gemeinsam in den pompösen Tempel. Ein Vorteil, dass sie den Indigonerbubi mitgenommen hatte war, dass er immerhin für Licht sorgte. Sonst wäre Anne bei dieser Dunkelheit womöglich über irgendetwas gestolpert und hätte sich nur noch mehr blamiert. Sie bekam bei dem Gedanken, dass sie sich bei jemandem ausgeheult hatte, immer noch Aggressionen. Und dann war es auch noch ein Junge! Im Nachhinein war ihr das erst recht peinlich. Peinlich und entwürdigend. In der Mitte des Tempels angekommen, verschränkte Anne die Arme vor der Brust und tippte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden. „Ich bin da. Und jetzt?“ Eine schemenhafte Bewegung hinter einer Säule erregte ihre Aufmerksamkeit. „Was war das?“ „Was war was?“ Verwirrt schaute der Indigonerbubi in die Richtung, in die auch Anne blickte. Zischend funkelte Anne ihn an. „Da war was. Hast du’s nicht gesehen?“ Doch der Indigonerbubi schüttelte nur den Kopf. „Vorsicht!“, schrie Anne erschrocken auf und stieß den Indigonerbubi beiseite, als etwas von hinten auf ihn zugeschossen kam. Kleine und doch schmerzhafte Stiche schienen sich in ihre Haut zu Bohren, ehe Carstens Licht für Anne erlisch.   „Hey du, ist alles in Ordnung?“ Anne bemühte sich, die Augen zu öffnen, doch sie erkannte nichts als Schatten. Schatten, von einem grellen Licht verursacht. „W-was ist passiert?“, fragte sie matt. „Das wollte ich eigentlich dich fragen.“, höhnte die männliche Stimme auf Persisch. Männliche Stimme… Erschrocken riss Anne die Augen auf und zog einen kleinen Dolch aus ihrer Jackentasche. Amüsiert lachte der Typ auf. „Ich denke, dir geht’s gut.“ „Verschwinde, sonst schneid ich dir die Kehle durch.“, drohte Anne ihm auf ihrer Muttersprache, da der Kerl nichts anderes zu sprechen schien. Er musterte sie aus seinen glänzenden dunkelgrünen Augen und packte Anne schließlich am rechten Unterarm. Bei dem plötzlich aufkommenden, höllischen Schmerz, ließ Anne ihr Messer fallen. Doch als sie ihren Arm befreien wollte, ließ er sich kaum bewegen und fühlte sich wie eingeschlafen an. „Lass es lieber bleiben, das Biest hat dich ganz schön erwischt.“, riet ihr der Vollidiot. „Was du nicht sagst.“, spottete Anne. „Und jetzt lass mich los.“ Aber natürlich hörte er nicht auf sie. Stattdessen schob er Annes blutbefleckte Jacke hoch und legte eine kleine, aber dafür sehr tiefe Bisswunde frei. „Es wäre besser, du hältst still.“, meinte der Kerl und hob Annes Arm an seine Lippen. „Was zum- Lass das, ich mach das allein!“, herrschte sie ihn an. Was bildet der sich ein?!? Mit ruhigem Blick musterten die grünen Augen des Schwachkopfs sie erneut. „Hast du je Gift aus einer Wunde gesaugt?“, erkundigte er sich, schien die Antwort allerdings bereits zu wissen. „Na und?“, konterte Anne, „Du etwa?“ „Wir Nomaden leben geradezu mit den Schlangen… Da ist es selbstverständlich. Und jetzt halt still.“ Noch ehe Anne erneut protestieren konnte, machte sich der Nomade ans Werk. Anne hätte eigentlich erwartet, dass es ein ekelhaftes Gefühl wäre, zu spüren, dass einem das Gift aus den Adern gesaugt wird. Aber dass sie sich gerade von einem Jungen helfen lassen musste… Dieses Gefühl war viel widerlicher! Und erneut entwürdigend. Umso erleichterter war Anne, als endlich das gesamte Gift weg war. Nicht, weil es weg war, sondern weil dadurch der Typ endlich aufhörte, sie berühren zu müssen. Wortlos stand Anne auf und klopfte sich den Sand von ihrer Kleidung, während der Typ sie erwartungsvoll musterte. „Was willst du noch?!?“, schnauzte Anne ihn gereizt an. „Nun… ich warte immer noch auf ein ‚Danke‘.“ „Erst betatschst du mich und dann erwartest du nicht im ernst auch noch Dank?!?“, beschwerte sich Anne. Jungs! Unverbesserlich! „Ich erwarte Dank dafür, dass ich dir eben das Leben gerettet habe.“, verbesserte sie der Idiot. Trotzig wandte sich Anne in die entgegengesetzte Richtung. „Vergiss es. Und nun, verschwinde aus meinen Augen. Wenn ich bis drei gezählt hab will ich, dass du verschwunden bist!“ „Du bist eine Prinzessin, nicht wahr?“, bemerkte er nüchtern. „Woher willst du das wissen?“ Der Kerl lachte auf. „Das merkt man sofort an deinem Verhalten.“ „An meinem Verhalten?!?!?“ Wutentbrannt drehte sich Anne wieder um. Der Typ vollbrachte eine spöttische Verbeugung, die Annes Mordlust nur weiter anheizte. „Ich bin Kian. Freut mich, Eure Majestät.“ „Mich nicht.“, zischte Anne. „Nun… Dürfte ich dann wenigstens Euren Namen erfahren?“ „Nur, wenn du danach verschwindest.“ „Nur, wenn Ihr Euch bedankt.“ „Nein! Ich werde mich nicht bedanken! Ich bedanke mich bei keinem Jungen!“, noch während Anne diese Worte sprach erinnerte sie sich, dass sie sich erst vor kurzem bei einem Jungen bedankt hatte… Das zählt nicht! Der Kian-Vollpfosten musterte sie weiterhin amüsiert. „Dann steht Ihr eben in meiner Schuld.“ Ich stehe in seiner Schuld?!?!? Vergiss es, ich stehe in keiner Schuld! Doch Anne musste sich eingestehen, dass der Idiot Recht hatte… So widerwärtig es auch war. „Na gut, was willst du? Sag ‚einen Kuss‘ und ich reiß dir irgendwas ab. Sag ‚mehr‘ und du bist tot.“ „Ich brauche deine Hilfe.“ Kians Antwort verblüffte Anne, doch sie bemühte sich, ihr Gesicht zu wahren und fragte nur kühl: „Wobei?“ „Mir wurde etwas sehr Wichtiges gestohlen, es handelt sich um einen Speer. Doch er ist nicht einfach nur ein Speer. Er hat in den Händen gewöhnlicher Menschen seinen eigenen Willen, nur einem Dämonenverbundenen gehorcht er.“ „Eine Dämonenwaffe!“, sagte Anne das Erste, dass ihr in den Sinn kam. Kian musterte sie kritisch. „Woher weißt du das?“ „Das geht dich nichts an!“, zischte Anne warnend. Auch wenn dieser Idiot ihr deprimierender Weise das Leben gerettet hatte, Anne vertraute keinem ihr Geheimnis an, dass sie eine Dämonenbesitzerin war. Dem da erst recht nicht! Immerhin war er ein Junge! „Nun gut, ich helfe dir, auch wenn ich dich nicht leiden kann.“, meinte sie schließlich nach langem Überlegen. Dieser Kian ist mir scheißegal, ich will aber wissen, was es mit dem Speer so auf sich hat. „Danke vielmals, Majestät.“ Kian grinste Anne frech an. „Doch dann mag ich Euch auch nicht.“ Desinteressiert zuckte Anne mit den Schultern. „Schön für dich.“ „Ja, schön.“ „Schön.“ „Super.“ „Ist gut.“ „Prima!“ „Klappe!“ „Sei nicht so unhöflich!“ „Wer ist hier unhöflich?!?“ „Na du!!!“ „Ach, halt die Schnauze!“ Entnervt wandte sich Anne ab. Dieser dämliche Kian ging ihr total auf die Nerven. Nach einem längeren, trotzigen Schweigen meinte der Vollidiot schließlich: „Wollen wir nun aufbrechen oder nicht?“ „Das liegt an dir. Ich weiß ja nicht, wo du hinwillst.“, erwiderte Anne schnippisch. „Dann folgt mir einfach, Eure Hoheit.“, höhnte der Trottel. In wenigen Sekunden hatte er sich seinen nachtblauen Turban um den Kopf gewickelt, der seine schwarzen Haare verdeckte und ihn vor den Strahlen der Sonne und dem Staub des Sandes schützte. An sich war seine gesamte Kleidung die eines traditionellen Wüstenvolkes. Anne sah solche Trachten eigentlich nur noch an wenigen Feiertagen und sie persönlich war auch froh darüber, dass sie nicht tagtäglich in so langen Sachen rumlaufen musste, die ihre Bewegungsfreiheit stark einschränkten. Kian sagte allerdings gar nichts über ihren Kleidungsstil, auch nicht, als sie sich ihrer Jacke entledigte, in der sie bei diesen Temperaturen sonst eingehen würde. Zufrieden stellte Anne fest, dass ihre Dämonenkräfte sich als nützlich erwiesen, da die Bisswunde der Schlange nur noch kleine Löcher waren, frei von Blut. Ihren Sicherheitsabstand von mindestens einem Meter einhaltend trottete Anne neben dem Vollidioten her, durch die Hitze der Wüste. Blinzelnd blickte sie in die Sonne. „Weißt du, wie lange ich bewusstlos war?“, erkundigte sie sich bei dem Nomaden-Depp. Als sie mit dem Indigonerbubi im Schrein angekommen war, war es doch erst um die elf Uhr nachts gewesen… Jetzt war es eher elf Uhr mittags. „Ich bin mir nicht sicher… Gefunden habe ich Euch gegen Sonnenaufgang, doch ich weiß nicht, wie lange Ihr bereits zuvor bewusstlos wart.“ Anne überlegte, ob sich die anderen inzwischen fragten, wo sie steckte. Doch eigentlich war es ihr egal, es sorgte sich ja sowieso niemand um sie. Noch nicht einmal ihre Mutter… Anne warf einen flüchtigen Blick auf den Nomadenjungen. Er hatte garantiert eine große Familie. Kontrollierende Eltern, die sich für einen nur das Beste wünschten, nervige Geschwister, die einen zum Spaß ärgerten… Auch wenn sich Anne das Familienleben eher stressig und anstrengend vorstellte… Sie wünschte sich manchmal wirklich, in einer einfachen Familie leben zu können. Mit normalen Eltern. Es war seltsam, wie einsam sie sich mit einem Schlag fühlte… Vor einer riesigen Felswand war ihre Reise schließlich zu Ende. „Da sind sie.“, meinte Kian. Anne schaute die steilen Steinklippen hinauf. „Wo ‚da‘? Ich seh hier nichts als Sand und Steine.“ „Nicht da oben, da drinnen.“, erklärte Kian. „Oh prima. Und wie stellst du dir vor, kommen wir rein? Gibt’s irgendeinen Geheimeingang? Oder brauchen wir wie in 1001 Nacht ein Zauberwort? Soll ich’s mal mit ‚Sesam öffne dich‘ versuchen?“, blaffte Anne. Sie konnte es nicht lassen, es war einfach ein zu großer Spaß, einen Jungen bloß zu stellen. Doch der Nomaden-Depp erwiderte ihren Sarkasmus mit seinem typischen frechen Grinsen. „Ich werde Euch nicht daran hindern, falls Ihr alle Getreidesorten durchgehen wollt, Majestät.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Keine Lust. Gibt’s nun irgendeinen Eingang oder nicht?“ Flink und überraschend sicher begann Kian, die Steinwand hinaufzuklettern. Anne fasste das sofort als Herausforderung auf und folgte ihm, mit der Absicht, ihn zu überholen und als Erste am Ziel zu sein. Da sie jedoch peinlicher Weise nicht wusste, wo genau eigentlich das Ziel war, endete es damit, dass Kian etwa drei Sekunden vor ihr angekommen war. Also ein Unentschieden. Kian sah das allerdings etwas anders. „Wie heißt es so schön: Ladies first.“ „Elender Chauvinist.“, zischte Anne zurück und quetschte sich durch den schmalen Spalt in der Steinwand, der sie ins Innere der Klippe führte. Vorsichtig tastete sie sich durch den dunklen, schmalen Gang, der kein Ende nehmen wollte. Die Orientierung verlor sie dabei nie, der Gang führte auch nur in eine Richtung. Und zwar immer weiter geradeaus. Immer tiefer, in das Innere der Klippen. Dem dunklen, einengenden, bedrohlichen Gang konnte sie also trauen. Dem sarkastischen, hilfsbereiten Nomadenjungen nicht. Immerhin war er ein Junge und männlichen Wesen vertraute Anne bekanntlich nie. Es würde sie auch nicht wundern, wenn der Depp sie geradewegs in eine Falle lockte. Endlich schien der lange Gang sein Ende zu nehmen. So deutete Anne jedenfalls das schwache, gelblich flackernde Licht, dass sich an den engen kantigen Wänden abzeichnete. Ihre Erwartungen bestätigten sich, als sie mit Kian in einer unterirdischen Seitengasse den Geheimgang verließen. Kein potentieller Gegner war in Sicht… außer Kian versteht sich. Dieser wies ihr mit kurzen Gesten an, ihm zu folgen. Das linderte ihr Misstrauen zwar in keinster Weise, doch Anne tat, was er verlangte. Vorsichtig huschten sie durch die unterirdischen Gänge, die gelegentlich von an den Wänden hängenden Fackeln erhellt wurden. Warum kennt der sich hier so gut aus?, überlegte sie, während sie um die Ecke spähte und als die Luft garantiert rein war, ihm weiter geradeaus folgte. Ihr Weg endete schließlich vor einem riesigen Abgrund. „Willst du mich verarschen?!“, herrschte Anne Kian auf Persisch an. „Was hat so ein Abgrund im Inneren eines Bergs zu suchen?!“ Doch der Nomaden-Depp zuckte nur mit den Schultern, stattdessen deutete er auf die andere Seite vom Abgrund. Dort ging der Weg zwar nicht weiter, dennoch gab es einen steinernen Vorsprung. Auf diesem Vorsprung stand ein Altar und auf diesem Altar lag… „Ist das dieser Speer?“, erkundigte sich Anne. Kian nickte. „Kannst du ihn bitte holen?“ Sie warf dem Idiot einen vorwurfsvollen Blick zu. War Kian einfach nur zu blöd es zu bemerken oder wollte er sie tatsächlich in eine Falle locken? Denn dass das eine Falle war, war so wahrscheinlich, wie dass das Flittchen dumm wie Stroh war. „Ich bin doch nicht bescheuert. Du denkst doch nicht ernsthaft, dass jemand diesen Speer stiehlt und ihn dann unbewacht ein paar Meter hinter einer Schlucht versteckt, ohne dafür zu sorgen, dass er auch dort bleibt. Entweder tauchen plötzlich die Diebe auf und überraschen uns oder das Entwenden sorgt dafür, dass die Höhle einstürzt. Was wäre dir lieber?“ Kian schaute sie verwirrt an. „Passiert das ständig in euren Actionfilmen?“ Schnaubend wandte sich Anne ab. „Unsere Actionfilme sind sehr lehrreich. Durch sie hab ich gelernt, wie man dämliche Nomadenbubis k.o. schlägt.“ „Fein. Nun, dann weißt du ja, was passieren könnte und holst jetzt den Speer.“, schlug der Idiot beschwichtigend vor, den zweiten Teil ihrer Aussage ignorierend. „Nein.“ „Doch.“ „Nein!“ „Doch!“ „Nein!!!“ „Doch!!!“ „NEIN!!!!!“ „Hast du etwa Angst?“ Verbissen warf Anne dem Nomaden-Depp einen sehr verärgerten Blick zu. Sie hatte keine Angst! Sie hatte vor gar nichts Angst! Durch ihren verletzten Stolz gab Anne schließlich nach. „Na schön, ich hol ihn.“ Dank der Sprungkraft eines Besitzers der antiken Begabung fürs physische, war es Anne ein Leichtes, auf den Vorsprung zu kommen. Das erste, was sie dort tat, war, diese Dämonenwaffe kritisch zu mustern. Der Stiel des Speeres war zwar aus Holz, war jedoch über und über mit bunten Tieren bemalt, die wohl die Dämonen sein mussten. Seine Spitze war aus einem silbern schimmernden Metall gefertigt, das stark dem Kreuzanhänger ähnelte, den Laura in letzter Zeit nicht mehr abzunehmen schien. Zögernd nahm Anne den Speer schließlich in die Hand und… Schaute sich verwirrt um. Nichts, aber auch rein gar nichts passierte. Es tauchten weder Gegner auf, noch stürzte die Höhle in sich zusammen. Das gibt doch keinen Sinn…, grübelte Anne. Wenn der Speer tatsächlich so wertvoll und mächtig wäre, würde man ihn doch garantiert irgendwie bewachen! „Au!“ Erschrocken starrte Anne auf den Speer, den sie fest umklammerte. Grüne Energieblitze zuckten um ihn, wanderten Annes Hand hinauf und weiter ihren Arm entlang. Kians: „Lass ihn los!“, schaffte sie irgendwie, zu überhören, so sehr hielten die grünen, leuchtenden Energieblitze sie in ihrem Bann. Erst, als Kian ihr den Speer aus der Hand riss, nahm Anne die Geschehnisse um sie herum wieder wahr. Ebenso den Schmerz, der wie ein Donner in ihr Herz einschlug. Keuchend krümmte sich Anne. „Was ist das?!?“ „Was denkst du, weshalb man den Speer nicht bewachen muss? Er hat seinen eigenen Willen und kann sich daher auch gut selbst verteidigen.“, erklärte Kian, während er ihr wieder auf die Beine half. So ungern sich Anne auch helfen ließ. Irritiert schaute sie den Nomanden-Depp an und sah dabei vermutlich selbst wie der letzte Depp aus. „Wie kann das sein? Ich dachte-“ Ich dachte, Dämonenbesitzern gehorcht er…, beendete Anne ihren Satz im letzten Moment in ihren Gedanken. Doch Kian war zwar ein Idiot, aber zu ihrem Verdruss offensichtlich nicht dumm, denn er verstand, worauf sie hinaus wollte. „Willst du mich jetzt töten, da ich etwas weiß, was niemand wissen sollte?“, scherzte er. Anne schnaubte. „Ja, das würde ich in der Tat am liebsten.“ „Doch im Gegensatz zu dir, bin ich bewaffnet.“ „Wie kann das eigentlich sein?!? Der Speer sollte eigentlich bei dir eine Abwehrreaktion zeigen und nicht bei mir!“ Kian zuckte mit den Schultern. „Vielleicht mag er dich nicht?“ „So ein Blödsinn.“, erwiderte Anne gereizt. „Als würde eine Waffe Gefühle haben.“ Kian klang ziemlich beleidigt, als er meinte: „Du solltest sie nicht unterschätzen. Die Waffen handeln eigenständig, das heißt, sie können sich aussuchen, wem sie erlauben, dass er sie benutzt.“ „Aber im Gegensatz zu mir bist du kein Dämonenbesitzer!“ Kian lachte auf. „Unterscheidest du die Menschen etwa immer so? Männer sind allesamt schlecht, Dämonenbesitzer sind die einzigen, die Waffen benutzen können, …“ „Na und? Es ist so!“ Der Nomaden-Depp schien einen Moment lang zu überlegen, falls er dazu überhaupt in der Lage war. Schließlich schlug er vor: „Wie wäre es, wenn du mir versprichst, nicht mehr so voreingenommen zu sein? Dafür schenke ich dir den Speer.“ „Was ist denn das für ein Deal?“, fragte Anne verwirrt. Kians Blick verunsicherte Anne noch mehr. Er war so… freundlich und sanft. Fast so wie bei dem Indigonerbubi. „Du hast eigentlich einen richtig tollen Charakter, würdest du nicht ständig auf deiner Einstellung verharren. Ich wünsche mir, dass auch die anderen diesen Charakter erkennen können.“ Anne spürte, wie zum ersten Mal in ihrem Leben ihr das Blut in den Kopf schoss und sie tatsächlich verlegen wurde. „Du glaubst das doch nicht im Ernst.“ Kian schüttelte seufzend den Kopf. „Doch, glaube ich. Wie willst du später eigentlich über Dessert herrschen, wenn du so eine Meinung über circa die Hälfte der Menschheit hast?“ „Ich kann euch Männern einfach nicht vertrauen, selbst, wenn ich es wollte.“, meinte Anne schließlich. „Dann musst du es halt lernen. Du bist doch auch mit mir an diesen Ort gekommen, obwohl du gedacht hast, dass es gefährlich werden könnte.“ „Ach verdammt, halt den Mund! Ich weiß doch selbst, dass jeder denkt, ich hätte sie nicht mehr alle!“ Deprimiert biss sich Anne auf die Unterlippe. „Und ich weiß auch, dass ich tatsächlich so naiv bin und dir inzwischen wirklich vertraue…“ Sie warf einen flüchtigen Blick auf Kian und bemerkte sein Grinsen. „…Was?“ Doch Kian grinste einfach nur weiter. „Was ist?!?“, fragte Anne wütend und wurde erneut verlegen. „Na ja, ich finde es einfach schön, dass du endlich einsiehst, dass du auch mit Jungs klarkommen kannst.“, erklärte Kian ihr schließlich, ohne dabei mit dem Grinsen aufzuhören. „Dann hab ich ja doch nichts zu befürchten, wenn ich ihn dir tatsächlich gebe.“, mit diesen Worten drückte er ihr einfach so den Speer in die Hand. „Aber er-“ Doch als Anne auf den Speer blickte, gab es dort keine Energieblitze mehr, die ihr noch irgendwie schaden konnten. Sie musste sich eingestehen, dass Kian tatsächlich nicht so war, wie sie sich die Typen alle vorstellte. Im Gegenteil. Er war so wie der Indigonerbubi, eigentlich ganz lieb… Anne atmete tief durch. Sie würde nun etwas tun, was sie noch nie in ihrem Leben getan hatte: „Danke, Kian.“ Doch als sie den Kopf hob, war besagter Kian verschwunden und hinterließ lediglich die steilen, kantigen Felsen, den bodenlosen, schwarzen Abgrund und den Dämonenspeer, den sie fest umklammert in ihrer Hand hielt. Seufzend wandte sich Anne der gegenüberliegenden Seite zu. Jungs… Wie zuvor sprang sie. Doch die andere Seite der Höhle schien plötzlich viel weiter entfernt als zuvor. Zu weit. Schreiend fiel sie in den Abgrund und verlor sich im Nichts.   Anne spürte keinen Aufprall. Doch sie fiel auch nicht mehr. Den Speer weiterhin fest umklammert schaute sie sich im Nichts um. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Nichts, denn es war nichts weiter, als eine schwarze, gähnende Leere zu sehen. „Hallo Anne, ssschön zzzu sssehen, dasss du wohlauf bissst.“ Erschrocken drehte sich Anne um und stand direkt vor einer gewaltig großen Schlange, deren leuchtendes Grün um sie pulsierte und ihr eine nahezu göttliche Ausstrahlung verlieh. Fast automatisch wollte Anne schon vor dem Dämon auf die Knie gehen, als dieser meinte: „Lasss, dasss brauchssst du nicht. Wir sssind ssschliessslich hier, um dich zzzu feiern.“ „Heißt das… Ich habe bestanden?“, fragte Anne so kleinlaut, wie sie sich fühlte. Zwar hatte sie eigentlich keine große Angst, vor der Herrscherin des Sandes, doch dafür umso größeren Respekt. Die Schlange schien zu nicken. Doch statt sich zu freuen, erkundigte sich Anne weiter: „Was ist mit Kian? Wo ist er?“ Die Schlange kugelte sich buchstäblich vor Lachen auf dem vermeintlichen Boden des Nichts und Anne tat gut dabei, sicherheitshalber einige Meter zurückzuweichen. Als sich das riesige Reptil schließlich gefangen hatte, antwortete es: „Du ssscheinssst ihn ja tatsssächlich zzzu mögen! Dann verrate ich esss dir auch: Er issst bei dir, er hält deine Hand.“ „Was?!?!?“ Nahezu panisch schaute Anne neben sich. Doch da war niemand, genauso wenig wie auf ihrer anderen Seite. Kein Kian. Mit ihrer spitzen Schwanzspitze, die nicht minder strahlte, als der Rest des Körpers, deutete die Grüne Schlange auf den Speer. Und Anne verstand gar nichts mehr. „Er issst die Ssseele desss Ssspeeresss.“, erklärte sie. Betroffen musterte Anne die Waffe, die der menschlich aussehende Kian ihr geschenkt hatte. „Und ich hab gesagt, Waffen haben keine Gefühle…“, murmelte sie bedrückt. Wieder kugelte die lachende Schlange auf dem Boden herum. „Ich denke, er nimmt esss dir nicht übel.“ Als sich die Schlange wieder aufgerichtet hatte meinte sie: „Doch nun lasss unsss zzzu dem kommen, wessshalb du hier bissst.“ Noch während sie das sagte, schwand das riesige Wesen. Es schrumpfte, veränderte seine Form. Vor Anne stand nicht mehr das grün leuchtende Reptil, sondern eine wunderschöne grün strahlende Frau, mit langen, glatten Haaren und engen Gewändern, die ihre schlanke, athletische Figur betonten. Diese Frau beugte sich behutsam zu ihr hinunter, berührte mit ihren Lippen sachte Annes Stirn und war im nächsten Moment wieder verschwunden.   „Anne? Ist alles in Ordnung? Mach die Augen auf!“ Mühsam öffnete Anne ihre schweren Augenlider. „Was ist…“ Carstens Gesichtsausdruck wandelte sich von Sorge zu Erleichterung. „Ein Glück, es geht dir gut. Die Bisswunden der Schlange sind zwar komplett verheilt und das Gift schien sich auch im Nichts aufgelöst zu haben, doch du warst trotzdem nicht bei Bewusstsein…“ Immer noch nicht ganz bei Kräften richtete sich Anne mit Carstens Hilfe auf. „Übrigens… Herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Prüfung.“, gratulierte der Indigonerbubi schließlich, als Anne sicher auf beiden Beinen stand. „Woher-“ Anne schaute an sich herunter. Erschrocken stellte sie fest, dass es mehr als offensichtlich war, dass sie die Prüfung bestanden hatte. Denn im Gegensatz zu Janine, sah sie kaum mehr menschlich aus. Grüne Schuppen, die ihre Haut bedeckten, verstärkten das grüne Strahlen ihres Körpers, der sich viel stärker und mächtiger anfühlte, als zuvor. Anne erinnerte sich an die Erklärung des zukünftigen Indigonerhäuptlings und konzentrierte sich darauf, ihre Energie im Inneren zu verbergen und ihr menschliches Aussehen zurückzuerlangen. Es funktionierte tatsächlich. Nun konnte sie sich anderen Sorgen widmen. „Weißt du, wo mein Speer ist?“ Bis zum Ende hatte sie die Dämonenwaffe nicht losgelassen, doch nun befand sie sich wieder in der Realität, außerhalb des Prüfungsortes und des Nichts. Carsten deutete auf einen Altar, der sich im hinteren Teil des Tempels befand. Anne konnte schwören, dass bei ihrem Eintreten der Tempel komplett leer war. Also wie kam dieser Altar auf einmal dahin? Als sie jedoch zu dem Altar rüber ging, entdeckte sie den Speer, der dort seelenruhig lag. Ein Lächeln umspielte Annes Lippen, als sie ihn in die Hand nahm und sich zum Eingangstor begab. „Ach so, da ist noch etwas.“, meinte Anne, dem Indigonerbubi wieder zugewandt. „Es tut mir leid, dass ich immer so fies zu dir war… Ich werd' versuchen, mich zu bessern.“ Verwirrt legte Carsten den Kopf schief. „Woher kommt dieser Sinneswandel?“ „Sagen wir einfach, ein Freund hat mir beigebracht, dass ein kleiner Teil der Typen doch ganz in Ordnung ist.“, antwortete sie schulterzuckend. „Oh, aber damit wir uns nicht falsch verstehen…“ Drohend bohrte Anne ihren Zeigefinger in Carstens Brust. „Wenn du auch nur irgendein Wort über heute Nacht verlierst, bring ich dich um. Kapiert?!?“ Sie konnte nicht nachvollziehen, warum Carsten plötzlich lachte, aber immerhin versprach er ihr, nichts zu verraten. Kapitel 26: Mut zum Erkennen ----------------------------    Mut zum Erkennen       „Wo in Allahs Namen habt ihr gesteckt?!?“ Stürmisch fiel Öznur Anne um den Hals. Auch wenn die mürrische Prinzessin solche Arten der Zuneigung verabscheute, schüttelte sie ihre Zimmergenossin nicht ab. Vielleicht lag es daran, dass Öznur schon im Nachthemd war? Denn es war ein Uhr morgens und die meisten hatten bereits schlaflos im Bett gelegen, als sie die Botschaft erreichte, die Prinzessin sei wieder zurück. „Weißt du eigentlich, was für Sorgen wir uns um dich gemacht haben?!? Erst rennst du den Tränen nahe aus dem Raum und dann bist du mit Carsten auch noch spurlos verschwunden! Ich hatte so eine Angst um euch beide!!! Mach das nie wieder!“, schimpfte Öznur Anne aus. Sie stutzte. Irgendwie hatte sich Anne verändert. Sie… wirkte halt so anders. „Ihr habt euch doch nicht ernsthaft aus dem Schloss geschlichen und die Dämonenprüfung absolviert?“, bemerkte Eagle nüchtern, der total sexy nur eine Jogginghose trug und dadurch seinen atemberaubenden, muskulösen Oberkörper frei gab. Öznur musterte Anne genauer. Sie wusste nicht, woran sie es erkannte, doch der heiße Häuptlingssohn hatte Recht. Wie Janine wirkte Anne nun mächtiger und hatte ebenfalls dieses sehr leise, weibliche Echo des Dämons, das bei einem für Anne typisch unfreundlichem Zischen zu hören war. Aber sonst sah sie wie immer aus… „Du hast deine wahre Gestalt schon versteckt?“, folgerte Öznur enttäuscht. „Schade…“ Sie hätte Anne nur zu gerne als Halbdämonin gesehen. Diese schnaubte. „Glaub mir, es ist besser so.“ Lissi legte den Kopf schief. „Wieso denn Banani? Hast du auf einmal eine grüne Schlangenhaut bekommen???“ Da Anne darauf demonstrativ nichts erwiderte, musste es wohl oder übel so sein. „Ich frage mich ja eher, wie du es geschafft hast, Carsten am Leben zu lassen.“, wechselte Ariane das Thema. Das war eine gute Frage, denn Eagles süßer Halbbruder sah tatsächlich noch vollkommen munter aus. Besonders unter den Umständen, dass er eben mit der Jungshasserin persönlich unterwegs gewesen war. Und dann waren sie auch noch ganz alleine… „Hat’s da etwa geknistert?“ Öznur konnte nicht anders, sie musste die Zweisamkeit der beiden so zweideutig sehen. Anne stemmte die Fäuste in die Hüften. „So ein Unsinn. Noch so eine dämliche Anmerkung und du spürst Geknister. Und zwar kein angenehmes.“ „Ach komm schon Anne, Öznur scherzt doch nur.“, beruhigte Susanne sie, von Drohung der Prinzessin unbeeindruckt. „Außerdem musst du uns schon Recht geben, wenn wir etwas übertrieben reagieren. Denn dafür, dass Carsten eine männliche Person ist, scheinst du ziemlich gut mit ihm zurechtzukommen.“ Anne verschränkte die Arme vor der Brust. „Vielleicht liegt es daran, dass er sich verhältnismäßig ‚weiblich‘ verhält, im Vergleich zu den übrigen Deppen in der Welt.“ „Soll ich das als Kompliment sehen?“ Carsten musterte Anne mit einem Blick gemischt aus Kritik und Belustigung. „Nein.“, erwiderte diese vorhersehbar. Eagle grinste amüsiert, konnte sich aber zumindest seinen fiesen Kommentar verkneifen. Er wusste genau, dass die meisten Mädchen eher auf Carstens Seite stehen würden als auf seiner. Öznur war sich nicht sicher, auf wessen Seite sie wäre. Klar, Eagle war tatsächlich das reinste Arschloch, wenn es um seinen Halbbruder ging. Aber er konnte auch ganz schön freundlich und hilfsbereit sein, wenn sie an den Vorfall mit Laura auf dem Jatusaner-Markt zurückdachte. Außerdem war er zwar nicht viel hübscher, aber dafür tausend Mal männlicher als Carsten, auch wenn das fies und oberflächlich klang. „Okeee, da es Anne und Carsten offensichtlich gut geht können wir ja endlich wieder ins Bett. Sonst schlaf ich noch im Stehen ein!“, meckerte Ariane, deren Schlaf ihr neben dem Essen das heiligste war. Aber sie hatte Recht, auch Öznur war todmüde und angeblich würde das nächste Prüfungsopfer sie selbst werden. Auch wenn die Prüfungsangst ihr den letzten Nerv raubte, etwas schlafen wollte sie trotzdem noch. So wie der Rest, denn es verging noch nicht mal eine Minute und schon hatte sich die Gruppe nach einem knappen ‚Gute Nacht‘ wieder auf die Gästezimmer verteilt.   Der Abschied von Sultana ging ziemlich schnell, da diese kurz darauf eine Konferenz hatte. Oh Mann, das war das erste Mal, dass Öznur die negativen Seiten eines Regenten zu Gesicht bekam. Sie hatte ursprünglich Laura und Anne immer um ihren Status beneidet. Doch nun, da sie Sultana kannte, war ihr das alles viel zu stressig und den Haufen Geld, den man verdiente und das Privileg, in einem Palast leben zu dürfen, konnte man gar nicht richtig auskosten. Die Bediensteten waren auch eher ein notwendiges Mittel, da es ein Ding der Unmöglichkeit war, neben dem Regieren über eine ganze Region auch noch den Haushalt zu führen. „Freizeit gleich Null.“, murmelte Öznur deprimiert, als sie die sandigen Straßen von Sandcastle in der Morgensonne zurück zum Eingangstor gingen. „Was?“, fragte Ariane verwirrt. „Ich weiß, dass es nervig ist, dass einem für diese Prüfungen die Ferien draufgehen, aber so wenig Freizeit haben wir jetzt auch nun wieder nicht.“ Öznur schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich meinte eigentlich das Leben als Herrscher über eine Region.“ Eagle lachte auf. „Ja, der Herrscher hat echt die Arschkarte gezogen.“ Doch Anne zuckte mit den Schultern. „Also noch habe ich es ziemlich angenehm. Es gibt zwar einige Sonderstunden, die wir haben um Etikette und so weiter zu lernen, aber als Kind eines Herrschers ist das Leben eigentlich ganz normal.“ Auch die Prinzessin von Yami schaltete sich in das Gespräch ein. „Es stimmt schon, dass wir es noch ziemlich angenehm haben, aber die Erwartungen, die man jetzt schon von uns hat sind erdrückend.“ Anne gab wieder ihr Zischen von sich. „Das liegt doch nur daran, dass du von Politik und dem ganzen Regieren keine Ahnung hast. Du bist einfach nicht für dieses Herrscherzeug gemacht.“ „Na vielen Dank auch!“, fuhr Laura Anne an, welche sie ganz deutlich verletzt hatte. „Ich weiß selbst, dass ich eine grottenschlechte Prinzessin bin und eigentlich an Lucias und Lucianos Stelle hätte sterben sollen! Schön, dass mir das jeder ständig vorwerfen muss!!!“ Ehe sie die Tränen übermannten, wollte sich Laura von der Gruppe trennen, doch Carsten packte sie noch rechtzeitig an der Hand und hielt sie dadurch zurück. „Laura, so hat Anne das nicht gemeint.“, meinte er beschwichtigend. „Ach, und wie sonst?!? So meint das doch jeder!“, schrie sie unter Tränen. Bemitleidend und nicht wissend, was sie tun sollte, beobachtete Öznur, wie Carsten Laura in seine Arme schloss, die herzzerreißend zu schluchzen anfing. Den anderen schien es etwa genauso zu gehen, außer dem eiskalten Engel. Als sie ihn in ihrem Blickfeld erhaschte, konnte sie Arianes Aggressionen nur zu gut verstehen. Eigentlich sollte er es sein, der Laura in die Arme nahm und nicht Carsten. Doch Benni stand einfach nur da, die Hände in den Hosentaschen seiner schwarzen Jeans und beobachtete ausdruckslos das Geschehen. Wobei Öznur ebenso besorgt feststellte, dass sich der Zustand des eiskalten Engels auch kaum gebessert hatte. Eher das Gegenteil war der Fall. Er wirkte beängstigend übermüdet und schien aus Öznurs Sicht auch kaum dazu in der Lage zu sein, irgendetwas zu machen. Stattdessen schritt nun Ariane ein. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf Lauras zitternde Schulter. „Laura, so eine ähnliche Diskussion hatten wir doch schon mal. Auch, wenn ich deine Geschwister nicht kenne, ich bezweifle, dass ich beide zusammen auch nur annähernd so mögen würde, wie dich.“ „Du hast Recht.“, schluchzte Laura, ihr Gesicht in Carstens Jeansjacke vergraben. „Lucia und Luciano waren viel freundlicher, zuvorkommender, stärker und schlauer als ich. Ich würde nie an sie rankommen.“ Ariane stöhnte auf. „So rum hab ich das nicht gemeint.“ Überraschender Weise war es nun Eagle, der sich in das Gespräch einmischte. „Laura, jetzt hör mal…“ Er packte sie an den Schultern und befreite sie aus Carstens Umarmung, der das nur widerwillig zuließ. Das Vertrauen der Brüder war einfach nur zum Heulen, doch Carsten schien zu wissen, dass Eagle, was Laura betraf, ein weiches Herz hatte, da er sie trotz des Widerwillens losließ. Verlegen wich Laura Eagles Blick aus. Es war ihr offensichtlich peinlich, dass irgendjemand sah, dass sie tatsächlich geweint hatte. Doch auch Eagle war stur. „Sieh mich an.“ Als Laura auch dieser ‚Bitte‘ keine Folge leistete hob Eagle ihren Kopf sachte am Kinn, dass sie keine andere Wahl hatte, als ihm in die Augen zu schauen. „Ich kannte deine Geschwister und glaub mir, besonders Luciano habe ich sehr gemocht. Er hatte in mir schon damals die Leidenschaft fürs Kämpfen geweckt.“, berichtete er. „Aber du kannst dich nicht mit ihnen vergleichen, weil ihr einfach zu verschieden seid, um verglichen zu werden. Im Gegensatz zu den Beiden hast du etwas Unbeschreibliches an dir. Du hast eine Ausstrahlung, die alle anderen in ihren Bann zieht. Mein Vater hatte damals überlegt, über Lucia und mich eine Verbindung zu Yami herzustellen, aber schon damals habe ich protestiert und gemeint, dass ich viel lieber dich-“ Verlegen räuspernd wandte Eagle sich ab, während Öznur und einige andere Mädchen sich damit abmühten, ein Kichern zu unterdrücken. Sogar Laura schien verstanden zu haben, worauf er hinauswollte und ihre sonst so blassen Wangen färbten sich leicht rötlich. „Kaum zu glauben, dass ich das je sagen würde, aber Eagle hat Recht.“, meinte Carsten und warf seinem älteren Halbbruder ein schwaches Lächeln zu, das dieser spöttisch erwiderte. „Du bist weder Lucia noch Luciano, daher hat auch niemand das Recht, dich mit ihnen zu vergleichen. Und du siehst, diejenigen, die dich und Lucia kennen, würden dich ihr vorziehen.“ „Nur Eagle.“, erwiderte Laura betrübt. „Na vielen Dank.“, beschwerte sich dieser sarkastisch. „Deine Eltern kannst du nicht zählen. Das, was sie für dich empfinden, empfinden sie ebenso für deine Geschwister.“, widersprach Janine mitfühlend. „Und Benni sieht das so ähnlich wie Eagle.“, ergänzte Carsten, mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. Doch Laura schüttelte lediglich den Kopf. Seufzend gab sich Carsten geschlagen und warf dem übermüdeten Schulsprecher einen auffordernden Blick zu. „Bitte, einmal in deinem Leben: Laura oder Lucia?“ „Laura.“, antwortete Benni erstaunlicherweise tatsächlich. Und es kam regelrecht wie aus der Kanone geschossen. „Na also.“ Zufrieden wandte sich Carsten wieder Laura zu, die ganz offensichtlich nicht fassen konnte, was sie gerade gehört hatte. Ariane stemmte die Fäuste in die Taille und baute sich vor Laura auf. „Da hast du’s gehört und ich beuge mich nicht zu weit übers Geländer, wenn ich mal behaupte, dass die Meinung des eiskalten Engels für dich am meisten zählt. Also möchte ich ab sofort nie wieder vor dir hören, dass du Lucia oder Luciano unterlegen bist.“ Gleichgültig zuckte Anne mit den Schultern. „Außer in Politik und im Kämpfen versteht sich.“ Froh, dass sie so ziemlich immer Schuhe mit recht hohen Absätzen trug, trat Öznur Anne auf den Fuß, dass sogar diese verstanden hatte, dass sie solche Kommentare besser lassen sollte, wenn sie kein Loch im Fuß haben wollte.   Nach der Teleportation zu ihrer Heimat breitete Öznur genüsslich die Arme aus. „Wie schön, endlich mal wieder daheim zu sein.“ Sie atmete die frische Luft ein, die in den Bergen wirbelte und eine gemütliche Wärme hatte, im Gegensatz zu dem eisigen, peitschenden Wind in Cor. Öznur lebte in einem kleinen, nostalgischen Dorf, dass sich an einem besagter Berge hochschlängelte und dessen Häuser auf Vorsprüngen direkt vor dem steilen Abgrund gebaut waren. Nichts, für Leute die nicht ganz schwindelfrei waren, denn obwohl Erdrutsche erstaunlich selten vorkamen, musste man gut aufpassen, dass man sich nicht zu weit den Klippen näherte. „Beneidenswert schön hier.“, kommentierte Eagle Öznurs Zuhause und schaute sich begeistert um. Diese grinste ihn wissend an. Durch ihren Ausflug nach Ivory um das Gegenmittel für Bennis Vergiftung zu holen, hatte sich herausgestellt, dass man Eagle getrost als ‚Kind der Lüfte‘ beschreiben konnte. Da waren die Berge ein idealer Ort für ihn. Im Gegensatz zu Laura, die beängstigend blass geworden ist. Auch wenn Carsten sie vorsichtshalber stützte, damit ihre Beine nicht nachgaben, stand nun deutlich fest, dass sie keine weiteren Teleportationen mehr unbeschadet aushalten konnte. Öznur fragte sich, ob Laura die mickrige Teleportation zum Schrein überhaupt noch würde überstehen können… Die Tür eines nahe gelegenen Hauses auf ihrem Vorsprung wurde aufgerissen und zwei Mädchen, die zwei Jahre älter als Öznur waren und sich zum Verwechseln ähnlich sahen, kamen herausgestürmt. „Willkommen daheim, Özi!“, rief die ältere der Zwillinge begeistert und schloss ihre kleine Schwester in die Arme. Dasselbe wiederholte sich mit der zweiten Schwester. „Das sind Özdem und Özlem, meine älteren Schwestern.“, stellte Öznur sie ihren Freunden vor. „Hi.“ „Freut mich, euch kennenzulernen.“ „Wie geht’s?“, grüßten einige ihre Schwestern. Özdem, die ältere der beiden, musterte Öznurs Freundeskreis interessiert. „Welcher der drei Hotties ist deiner? Ich hätte ja so eine Vermutung…“ Öznur schnaubte amüsiert und zum Teil auch verlegen. „Keiner.“ „Was? Keiner? Das glaub ich dir nicht!“, fuhr Özlem sie geschockt an. Özdem legte einen Arm um Öznurs Schultern. „Die Tage der Trauer sind längst vorbei, Schwesterchen. Wird Zeit, dass du dir ‘nen Neuen suchst. Ich bezweifle, dass dir das bei dieser Auswahl Probleme bereitet.“ „Ach, lasst mich doch.“ Öznur wandte sich entnervt aus dem Griff ihrer Schwester. „Mein Liebesleben geht euch nichts an.“ „Tage der Trauer?“, bemerkte Ariane verwirrt. „Sag nicht, dass dich mal ein Typ abserviert hat.“ Betrübt schüttelte Öznur den Kopf. Eigentlich war sie schon drüber hinweg, aber darauf angesprochen zu werden schmerzte immer wieder. „Er ist gestorben…“ „Sebastian war ein süßer Kerl und die beiden hatten auch überhaupt keine Schwierigkeiten. Es gab fast nie Streit. Aber leider war er unheilbar krank…“, erklärte Özlem betrübt und setzte ihre grüne Brille ab, um diese mit einem Brillentuch zu putzen. „Hatte er Karystma?“, fragte Janine mitleidig. Öznur nickte als Antwort nur. Sie wusste, dass Janine ihre Trauer verstehen konnte. Besser, als die meisten anderen, unter ihren Freunden. Sonst würde nur noch Laura infrage kommen, die der Tod ihrer Geschwister immer noch das Leben schwermachte. Eagle seufzte. „Mein Beileid.“ Anne musterte ihn kritisch, doch ehe sie einen bissigen Kommentar fällen konnte, meinte dieser: „Hey, meine Mutter ist auch an Karystma gestorben. Das ist kein oberflächliches ‚Du tust mir leid‘.“ Öznur warf dem sexy Indigonerhäuptlingssohn einen Blick zu, gemischt aus Mitleid und Dankbarkeit, ehe ihre Schwestern sie links und rechts am Arm packten und regelrecht ins Haus schleiften. „Los komm Özi, wir müssen unbedingt wieder rein. Es läuft gerade ein Interview im DZV mit Jacob Yoru!“, quietschte Özlem. „Hä? Mit wem?“, fragte Ariane verwirrt, die den Schwestern mit den übrigen folgte. „Jacob Yoru!“ Lissi starrte sie vorwurfsvoll an. „Sag bloß, dass du den nicht kennst!“ Doch Ariane schüttelte den Kopf. Inzwischen waren sie im Wohnzimmer angekommen, dessen eine recht schmale Wand nahezu ganz von einem großen Flachbildfernseher in Anspruch genommen wurde und nur noch Platz für ein Regal über dem Bildschirm war. Özlem zeigte auf den Mann, der locker auf einem roten Sofa saß und von dem Moderator ausgefragt wurde und freundliche, ausführliche Antworten gab. „Das ist Jacob Yoru.“, stellte sie den hübschen Mann im Fernseher vor. „Er war vor etwa achtzehn Jahren noch ein ganz berühmter und bei den Frauen heiß begehrter Sänger gewesen, doch dann hatte er ganz plötzlich dem Showbusiness den Rücken zugekehrt.“ „Daher ist es auch recht unwahrscheinlich, dass ihr ihn kennt.“, ergänzte Özdem. Doch Lissi erwiderte ihren Kommentar schnaubend: „Jeder, der viel Wert auf gute Musik und hübsche Typen legt, muss ihn kennen.“ „Da hat sie allerdings Recht.“, bestätigte Özlem grinsend. Natürlich kannte Öznur durch ihre nahezu verrückten Schwestern Jacob Yoru bereits und musste ihnen auch Recht geben, denn Jacob gehörte zu den Typen, die dem Idealbild des Mannes am ehesten entsprachen. Zwar war er nicht so muskulös, wie der eiskalte Engel oder Eagle, doch er war auch kein Spargeltarzan und das eindrucksvolle Tattoo, dass seinen rechten Oberarm zierte konnte sich sehen lassen. Des Weiteren hatte Jacob ein sehr hübsches Gesicht mit regelrecht eleganten Zügen und in seinen nachtschwarzen, freundlichen Augen schien ein winziger Sternenhimmel zu funkeln. Die etwas längeren, glatten, dunkelroten Haare wirkten irgendwie weich und fluffig und wenn man ihn reden hörte wusste man sofort, dass dieser Typ der Gattung Gentleman zuzuordnen war. Außerdem wusste Öznur, dass er mindestens zehn Jahre älter sein musste, als er eigentlich aussah. Denn vom Aussehen war er höchstens Mitte dreißig, eher noch Ende zwanzig, doch sie wusste, dass er eigentlich Anfang vierzig war. „Moment… Yoru? Das war doch einst die Familie, die bis zum magischen Krieg über das Reich herrschte, dass heute als ‚zerstörtes Gebiet‘ bekannt ist.“, bemerkte Susanne verwundert. Carsten nickte. „Und nicht nur das… Seht ihr das Zeichen da an seiner Schulter, dass sich in der Tätowierung befindet?“ Öznur bemühte sich, das Zeichen, von dem Carsten sprach zu entdecken, aber es blieb ohne Erfolg. „Nein, wo denn?“ Ariane gab schließlich auch auf. „Dieses Kleeblattkreuz in der Mitte des Tattoos, dass Lauras Anhänger ähnelt und in dessen Mitte ein Pentagramm ist.“ Auf Carstens Beschreibung konnte Öznur es schließlich doch noch sehen. „Was ist damit?“ „Das ist das Zeichen eines Dämonenforschers.“ „Also jemand, der von einem Dämon die Berechtigung bekommen hat, über die Dämonen zu forschen, ohne in Gefahr zu laufen, von ihnen umgebracht zu werden?“, vermutete Susanne nachdenklich. Carsten nickte. „Vielleicht weiß er etwas über unseren Feind. Besonders, da er ein Yoru ist und daher auch über seine Familiengeschichte Bescheid wissen sollte, die bei dem magischen Krieg durchaus nicht untätig gewesen ist.“ „Denkst du, er wird sein Wissen einfach so an ein paar dahergelaufene Kinder weitergeben, unter denen sich offensichtlich auch einige Groupies befinden?“, kommentierte Anne kritisch, doch Carsten zuckte nur mit den Schultern. „Natürlich steht es nicht hundertprozentig fest, ob er es uns erzählen würde. Aber da er ein Dämonenforscher ist, können wir ihm vertrauen und ihm daher auch euer Geheimnis verraten, in der Hoffnung, dadurch die Relevanz dieser Informationen zu bestärken.“ „Carsten hat Recht, ein Versuch kann nicht schaden.“ Susanne schaute Öznurs Schwestern fragend an. „Wisst ihr, wo sich Jacob Yoru zurzeit aufhält?“ Özlem grinste. „Hältst du uns für verrückte Stalker? Aber für gewöhnlich lebt er mit seiner Frau in einer Villa in Zukiyonaka, also in Yami.“ „Danke schön.“ Susannes Höflichkeit für übertrieben findend winkte Özlem ab. „Nichts zu danken, das weiß eigentlich jeder.“ „Wollen wir uns nicht langsam auf den Weg zum Schrein machen?“, wechselte Ariane plötzlich das Thema. „Ja, gute Idee…“, gab Öznur ihr Recht, doch die Erkenntnis, jetzt eine Prüfung absolvieren zu müssen, ließ sie erschaudern. Sie war gar nicht in Prüfungslaune! Okay, eigentlich war Öznur nie in Prüfungslaune, aber es waren Ferien! Da konnte sie so was erst recht nicht vertragen! Ihre älteren Schwestern schauten sie traurig an. „Willst du wirklich schon gehen? Kannst du nicht noch warten, bis Mama und Papa mit Nasi zurückgekommen sind?“ Özlems Ton klang schon beinahe flehend, fast so wie Özdems, als sie meinte: „Wir haben dich jetzt schon fast seit einem viertel Jahr nicht mehr gesehen und kaum kommst du endlich zurück, bist du kurz darauf auch schon wieder auf und davon.“ „Es tut mir leid… Ehrlich… Aber es geht halt nicht anders.“, meinte Öznur und seufzte bedrückt. Eigentlich würde sie ja liebend gerne länger bleiben und hatte sich gefreut, auch ihre Eltern und ihre kleine Schwester wiederzusehen. Aber andererseits war es ja nicht nur sie, die noch eine Prüfung vor sich hatte. Die übrigen Mädchen wollten ihre ja auch noch so schnell wie möglich hinter sich bringen, um danach den Rest der Ferien genießen zu können. Ihre Schwestern klopften ihr aufmunternd auf die Schultern. „Wir verstehen schon.“, meinte Özdem. „Viel Glück.“, fügte Özlem hinzu. „Danke, Leute.“ Nach einer ausgiebigen Verabschiedung, bei der Öznur ihre Schwestern  mehrmals drücken musste, bis diese schließlich einsahen, dass sie nun echt losmusste, verließ die Gruppe Öznurs Zuhause wieder. „Du bist echt total zu beneiden.“, meinte Laura schließlich bedrückt, als die gesamte Gruppe durch das Dorf schlenderte, weg von Öznurs Familienhaus. „Du hast eine riesige Familie die dich liebt und brauchst dir noch keine großen Gedanken um deine Zukunft zu machen.“, fügte sie hinzu. Während Anne schon genervt aufstöhnte, da sie schon wieder eine Heulattacke von Laura kommen sah, legten Carsten und Ariane nahezu synchron jeweils einen Arm um Lauras Schultern. „Die hast du doch auch.“, meinte Carsten aufmunternd. „Und wehe, du fängst jetzt wieder an, uns zu widersprechen. Denn inzwischen sind wir doch auch eine Familie geworden.“ Ariane zwinkerte Laura aufmunternd zu. „Ja, ja, so ist die Jugend von heute. Die Freunde sind wichtiger, als die eigene Familie. Eine Schande ist das, sage ich euch. Eine Schande.“, murrte der alte Opa genervt, der der Gruppe entgegen kam. „Guten Tag, Herr Misier.“, grüßte Öznur halbherzig ihren nervigen Nachbarn. „Sei gegrüßt, Fräulein Albayrak. Meines Wissens, sind deine Eltern außer Haus. Es ist eine gewaltige Unverschämtheit, nach Hause zurückzukehren und noch nicht einmal die eigenen Eltern zu grüßen.“, tadelte der Opa ihr. „Glauben Sie mir, ich hätte sehr gerne gewartet, bis sie wieder zurück sind. Doch leider haben wir es sehr eilig.“, erklärte Öznur gereizt. Wir haben es eilig, diesem Vollidiot zu entkommen., setzte sie in Gedanken hinzu. „Ja, ja, so ist das mit der Jugend. Immer haben sie es eilig. Immer irgendwo unterwegs, unbedacht, dass sich die Eltern daheim um sie sorgen.“ „Aber bitte, mein Herr. Sie waren doch auch einst jung und können es doch sicherlich nachvollziehen, wenn man nicht immer die Zeit hat, ganz ruhig auf die Eltern zu warten, wenn wichtige Termine einzuhalten sind.“, schritt Susanne beschwichtigend ein. Der alte Mann murmelte etwas Unverständliches und machte sich mit seiner Gehhilfe wieder auf den Weg zu seinem Haus, das leider neben dem von Öznur lag. Auf dieses Treffen hätte sie nur zu gerne verzichtet. „Dein Nachbar?“, vermutete Anne das Offensichtliche. Öznur seufzte. „Leider.“ „Wo gehen wir eigentlich hin? Ich dachte, der Schrein liegt außerhalb.“, fragte Ariane verwundert nach. „Zum Friedhof.“, antwortete Öznur knapp, als sie wie auf Kommando vor der steinernen Friedhofsmauer standen und ihn durch ein niedriges Holztor betraten. Der Friedhof folgte dem Berg hinauf und es ging zu Öznurs Verdruss leider ziemlich steil hoch, bis sie an dem Grab ankam, dass sie besuchen wollte. Es war ein schlichtes und doch hübsches Grab, dass regelmäßig gepflegt wurde und zurzeit mit Tulpen und Osterglocken bepflanzt war. „Dein ‚Ex‘?“, vermutete Lissi vorsichtig. Öznur nickte betrübt. „Ich weiß, dass das bescheuert klingt, aber ich wollte ihn um Glück bitten.“ „Das klingt überhaupt nicht bescheuert.“, widersprach Laura und bemühte sich, zu Lächeln. „Ich mach das auch häufig.“ Nachdem etwa fünf Minuten totales Schweigen herrschte, meinte Öznur schließlich zögernd: „Also… Wir können jetzt los…“ Sie verließen den Friedhof und schleusten sich in eine menschenleere Gasse, in welcher Carsten sie zu dem Schrein des Roten Fuchses teleportierte. „Wahnsinn.“ Öznur staunte nicht schlecht, als sie dem zwar kleinen und doch anmutigen Schrein auf der Spitze des höchsten Berges in der Umgebung gegenüberstand. An jeder Säule war eine Fackel befestigt, die nie zu erlöschen schien und der Schrein wirkte, wie als wäre er aus dem Berg gemacht. Denn er bestand aus demselben Gestein und schien sich sogar mit dem Boden zu vermischen. Doch Öznur blieb keine Zeit, die weitläufige, freie Umgebung weiterhin zu bewundern, da Lauras erschöpftes in die Knie sinken die Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie schien sich unter dem Schmerz, der ihr Husten verursachte zu krümmen und war kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Auch Öznur hatte ihre Probleme bei Verstand zu bleiben. Denn als sie erkannte, dass sich in Lauras gequältem Husten wieder Blut mischte, überkam sie ein leichter Schwindel. Auch wenn Carsten sofort reagiert hatte und Laura beruhigend in die Arme nahm, stand es außerhalb seiner Möglichkeiten, ihr den Schmerz auch nur irgendwie zu erleichtern. Öznur sowie die anderen Mädchen wollten auch zu Laura gehen, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie nicht allein war und jeder an sie dachte. Doch ihre Pläne änderten sich schlagartig zu verblüfftem Zuschauen, als sich ausgerechnet Benni zu Laura runterkniete. Wie versteinert beobachtete Öznur, wie Carsten die am ganzen Körper zitternde Laura an Benni übergab und dieser sie überraschend sanft und behutsam entgegennahm. Eine unbeschreibliche Macht umgab die beiden, die in einer schwarzen, flackernden Energieaura sichtbar wurde. Sie hypnotisierte einen regelrecht aber zugleich löste sie auch Angst, Schrecken und Respekt vor dieser Macht aus. Es war ebenso beeindruckend, dass Benni trotz seines sichtlichen Schlafmangels noch in der Lage war, an Laura Energie weiterzugeben und sicher wieder auf den Beinen stehen konnte, um der immer noch zitternden Laura aufzuhelfen. „Danke.“, meinte Carsten erleichtert an ihrer Stelle, da Laura trotz des Energieschubs noch nicht in der Lage war, irgendetwas sagen zu können. „Die frische Luft wird ihr gut tun… Am besten, wir warten außen, okay?“, meinte der süße Indigonerjunge an Öznur gewandt. „Ich bleibe auch bei ihr, falls du nichts dagegen hast…“, kam auch Ariane zu Wort. „Kein Problem.“ Öznur winkte verständnisvoll ab. Sie wusste, dass Laura besonders jetzt ihre engeren Freunde um sich haben musste. Denn auch wenn sie jetzt wieder ganz bei Kräften war, nahm ihr das noch lange nicht die Angst vor ihrem eventuellen Tod in etwa einem Monat. Ursprünglich hatte Öznur Laura beneidet, da der eiskalte Engel sich ja doch um sie kümmerte, wenn es drauf ankam. Doch eigentlich war sie eher zu bemitleiden, wie sich ihr wahrscheinlicher Tod von Tag zu Tag näherte und ihre Angst ins unermessliche hob. Öznur atmete tief durch. „Ich mach mich dann mal auf den Weg… Gute Besserung, Laura.“ Vorsichtig drückte sie Laura kurz an sich und stellte besorgt fest, dass diese tatsächlich stark zitterte und sich einige Tränen aus ihren Augen gestohlen hatten. „Viel Glück.“ Carsten lächelte sie aufmunternd an, während Öznur der Gruppe den Rücken zukehrte und die steinerne Tür zum Inneren des Schreins aufstemmte. Noch ehe sich überhaupt irgendeiner dazu entschließen konnte, ihr zu folgen, fiel die Tür hinter Öznurs Rücken lautstark zurück in die Angeln. „Hey, was soll das?!?“, rief Öznur erschrocken und hämmerte gegen die Tür, aber nur um festzustellen, dass sie damit nichts erreichen würde. Eingeschüchtert wandte sie sich wieder dem stockdunklen Raum zu, dessen Finsternis sie zu erdrücken schien. „Ähm… Also ich bin jetzt hier und bereit, … deine Prüfung zu machen.“ In den Ferien. Kaum waren ihre Worte verklungen, flammte auf beiden Seiten jeweils eine Kerzenreihe auf und vertrieb die Dunkelheit zum Teil mit ihrem wärmenden Licht. Am Ende der Reihe entzündeten sich von Geisterhand weitere Kerzen, die eine weitere Tür umrahmten und regelrecht zu rufen schienen, dass Öznur durch diese Tür gehen sollte. Öznur folgte dieser dezenten Einladung. Nur, dass sie dieses Mal die Tür nicht selbst öffnen musste, da die Tür persönlich ihr die Mühe abnahm und langsam aufschwang. Von dem grellen Tageslicht geblendet, dass Öznur auf einmal entgegen schien, verließ sie wieder den Schrein und landete auf einer Lichtung in einem saftig grünen Wald, der sich nicht anmerken ließ, dass es eigentlich gerade erst Frühlingsanfang war. Wo bin ich denn hier gelandet? Das war garantiert nicht Monde. Verwirrt drehte sich Öznur um. Die Tür, aus der sie gekommen war, war tatsächlich noch da, und steckte in einem Felsen fest. Doch als Öznur sie wieder öffnen wollte, musste sie verärgert feststellen, dass das nicht möglich war. Eine lautstarke, ziemlich unfreundlich klingende Unterhaltung erregte ihre Aufmerksamkeit. Neugierig, was da vor sich ging, folgte Öznur den kaum überhörbaren Stimmen, bis sie ihre Besitzer fand. Sicher hinter einem Baum versteckt, beobachtete Öznur die beiden Streithähne. Beide Typen waren ein paar Jahre älter als sie, vielleicht um die zwanzig und sahen ziemlich gut aus. Der eine hatte eine leichte Ähnlichkeit mit Eagle, hatte aber durchstechende, rote Augen und seine pechschwarzen Haare fielen ihm strähnig über die Schultern. Der andere hatte ein gepflegteres Äußeres und sah mit seiner hellen Haut und den hellblonden Haaren dem eiskalten Engel ähnlich, auch wenn er kein so feines Gesicht hatte, wie Benni, sondern eher grobe Gesichtszüge, dunkelblaue Augen und seine hellblonden Haare auch nicht so seidig glatt waren, sondern sich zu leichten Locken kräuselten. Beide wirkten allerdings so temperamentvoll und impulsiv wie Eagle, da sie bei ihrer Meinungsverschiedenheit kein Blatt vor den Mund nahmen und sich mit Anne-ähnlichen Ausdrücken beschimpften. „Du dämliches Arschloch, wir sind doch nur wegen deiner Scheißidee hier gelandet!“, brüllte der Schwarze, woraufhin der Weiße nicht minder unfreundlich erwiderte: „Und welches untalentierte Schwein hat das Flugzeug zum Absturz gebracht?! ICH garantiert nicht.“ Öznur entschloss sich, die Jungs lieber in Ruhe zu lassen und sich leise aus dem Staub zu machen, doch natürlich zerstörte ein klischeereich brechender Stock ihr Vorhaben. Mit einem Schlag brach der Streit ab. „Wer ist da?“, erkundigte sich einer der beiden mit drohendem Unterton, der Öznur nicht so recht überzeugte, ob sie sich nun zu erkennen geben oder doch lieber wegrennen sollte. Die Entscheidung wurde ihr glücklicher Weise abgenommen, als hinter ihr jemand fragte: „Du! Was willst du hier?“ Zögernd drehte sie sich zu den beiden Männern um und meinte vorsichtig: „Ich-Ich hab mich verirrt und da habe ich Stimmen gehört und wollte wissen, von wem sie stammen… Vielleicht hättet ihr mir helfen können. Aber ich wollte wirklich nicht lauschen! Ehrlich!“ Der Schwarze stöhnte entnervt auf. „Na prima, ein im Wald herumirrendes Weib hat uns gerade noch gefehlt.“ „Hey!“, rief Öznur empört auf. „Halt die Klappe, Ecul!“, fuhr der Weiße den schwarzen Mann an. „Du hast doch gehört, sie hat sich auch verlaufen. Wir sollten ihr helfen.“ Besagter Ecul verschränkte die Arme vor der Brust und murrte: „Die ist garantiert nichts weiter als ein Hindernis.“ „So ein Blödsinn!“, widersprach Öznur auf Italienisch, ihrer Muttersprache. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Jungs die ganze Zeit nur Italienisch und sonst nichts anderes gesprochen hatten. Der helle Typ schüttelte entnervt den Kopf. „Am besten, du ignorierst meinen Bruder einfach… Er ist halt ein totaler Idiot. Ich bin Erbenet, freut mich.“ Der Typ mit dem seltsamen Namen reichte Öznur die Hand, doch nicht, um sie Öznur zur Begrüßung zu schütteln, wie sie nun feststellte, sondern um ihr zuvorkommend auf die Beine zu helfen. Ecul winkte genervt ab. „Dann kommt sie halt mit, ist mir doch scheiß egal.“ „Das scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen.“, erwiderte Öznur schnippisch. Während Ecul missmutig die Augen verdrehte, war Erbenet sichtlich amüsiert, von Öznurs Kommentar. „Versprich mir aber bitte, dass du ihn am Leben lässt, denn er schuldet mir noch ‘nen Hunderter.“, witzelte er. Öznur erwiderte sein kesses Grinsen. „Ich versuche, mich zurückzuhalten.“ „Meine Scheiße, da haben sich ja zwei gefunden.“, erwiderte Ecul. Öznur wusste nicht, ob sie sich je an diesen Idiot gewöhnen könnte, der sogar noch mürrischer war als Anne. Wobei diese durch ihren nächtlichen Ausflug mit Carsten sie ganz schön überrascht hatte. …Öznur konnte nicht anders, als das doppeldeutig zu sehen.   Tatsächlich war es ein Ding der Unmöglichkeit, sich an Eculs Art zu gewöhnen, der das genaue Gegenteil von seinem Bruder zu sein schien. Erbenet war alles, was Ecul nicht war. Freundlich, gentelmanlike, hatte Humor und konnte sich doch auch sehr gepflegt unterhalten und vermied in Öznurs Gegenwart jegliche Schimpfwörter, die in die krassere Richtung gingen. So dauerte es gerade mal drei Tage und sie und Erbenet wurden schon von Ecul aufgezogen, ihn mit ihren ‚verdammten Schnulzereien‘ in den Wahnsinn zu treiben. Eigentlich hielt er von Öznur überhaupt nichts und betrachtete sie trotz ihrer Mühe, irgendwie nützlich zu sein, ständig als fünftes Rad am Wagen. Seufzend ließ sich Öznur auf einem liegenden Baumstamm nieder, als Ecul ihr mal wieder die Meinung gesagt hatte. Eigentlich war ihr das ja scheiß egal, aber es waren nun schon drei Tage vergangen und die Prüfung war immer noch nicht zu Ende. Falls sie überhaupt angefangen hatte… Doch obwohl Öznur weder Hunger noch Durst hatte und eigentlich auch kerngesund war, fühlte sie sich nicht gut, nahezu krank und das Bedürfnis, diese Prüfung endlich hinter sich zu haben, wuchs umso mehr. Sie konnte ebenso wenig verstehen, warum das bei ihr so lange dauerte, denn Janine und Anne waren doch ziemlich schnell wieder zurück gewesen. Würden die anderen überhaupt drei ganze Tage oder gar noch länger auf Öznur warten? Oder hatten sie ihr eine Nachricht hinterlassen, auf der stand, dass sie sich schon mal auf den Weg zu den anderen Dämonenschreinen gemacht hatten und Öznur ihnen Bescheid sagen sollte, wenn sie fertig war? Deprimiert nahm sie ihre Brille ab und rieb sich die Augen, als sei sie müde. „Alles okay?“, erkundigte sich Erbenet besorgt, der Holz aufschichtete und für die kommende Nacht ein Feuer vorbereitete. „Ja, ja, es geht mir gut.“, antwortete Öznur matt. Erbenet lächelte sie mitfühlend an. „So klingst du aber nicht wirklich. Du willst auch endlich hier raus, hab ich recht?“ Betrübt nickte sie. Erbenet ließ von dem Holzhaufen ab und setzte sich neben Öznur auf den Stamm. Sanft legte er ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie an sich. „Glaub mir, ich will auch endlich, dass das alles vorbei ist.“ Verlegen lachte er auf. „Ich halt’s nicht länger mit Ecul aus, er ist einfach unmöglich.“ Durch ein Nicken zeigte sie, dass sie seiner Meinung war. „Viel lieber wär ich nur mit dir unterwegs…“, murmelte er vor sich hin. Öznur spürte, wie das Blut ihr in den Kopf schoss, doch sie erwiderte nur flirtend, indem sie sich an ihn kuschelte: „Jaaa, ich auch.“ Erbenet lachte verschämt auf. „Dann mach ich uns mal Feuer, damit wir’s etwas romantischer und auch wärmer haben.“ „Lass mal, ich mach das.“, hielt Öznur ihn zurück. Verwirrt musterte Erbenet sie. „Okay…“ Um ein bisschen mit ihrem Können zu trumpfen, konzentrierte sich Öznur auf die Feuerstelle und in noch nicht einmal einer Sekunde tanzten kleine Flammen auf ihr, die nach und nach an Größe gewannen, bis sie zu einem gemütlichen Lagerfeuer gewachsen waren. Beeindruckt stieß Erbenet einen Pfiff aus. „Wahnsinn, das war aber keine Magie, oder? Wie hast du das gemacht?“ „Tja, das wüsstest du wohl gerne.“, neckte sie ihn. Sich geschlagen gebend gab Erbenet ihr amüsiert einen Kuss auf die Wange, der Öznur erröten ließ. „Dann sagst du’s mir halt nicht.“ „Igitt, ich geh kotzen.“ „Halt die Klappe, Ecul.“ Genervt musterte Erbenet seinen Bruder, der prompt auf dem Absatz kehrt gemacht hatte und dorthin zurückging, von wo er gekommen war. „Was für ein Idiot.“, murrte Öznur, verärgert, dass Ecul die Atmosphäre zerstört hatte. Erbenet grinste sie aufmunternd an. „Ach was, im Endeffekt ist der nur neidisch.“ Nach einer Weile, die sie aneinander gelehnt die Flammen beobachtend verbracht hatten, meinte Erbenet schließlich: „Ich würde dir gerne was zeigen.“ „Jetzt noch?“, fragte Öznur verschlafen. Sie wusste nicht, wie lange schon die Sterne am Himmel funkelten, doch sie war aus irgendeinem Grund todmüde. Erbenet nickte. „Glaub mir, es wird dir gefallen.“ Durch die Neugierde wachgerüttelt, war keine große Überredung mehr nötig. Erwartungsfreudig folgte Öznur Erbenet durch den dunklen Wald, der nur von dem Mond und den Sternen erleuchtet wurde.  Sie erreichten eine unheimliche, dunkle Höhle, die Öznur alles andere als einladend und romantisch fand. Am Höhleneingang wartete bereits eine unbenutzte Fackel, die Erbenet aus ihrer Halterung nahm. „Kannst du sie mit deinem seltsamen Feuer-Ding, das du mir nicht verraten möchtest, anzünden?“, erkundigte er sich sarkastisch. Öznur lachte auf. „Na gut, ich kann’s versuchen.“ Ein einziger Gedanke reichte schon und die Fackel begann, ihre Aufgabe zu erfüllen. „Danke schön.“ Erbenet grinste sie schelmisch an und ging in das Innere der Höhle. Öznur folgte ihm. Die Höhle war zwar dunkel, seltsam feucht und sehr eng, aber dennoch wirkte sie gemütlich. Nicht zuletzt durch den warmen Fackelschein und dass Erbenet angeblich aufgrund des Platzmangels seinen Arm um Öznur legte und sie sich an seinen muskulösen Körper schmiegen konnte. Das Ende der Höhle haute sie allerdings total um. Sie kamen an einem versteckten Teich an, in dem sich der Mond und die Sterne spiegelten und das Licht der Fackel unnötig, eher störend machten. „Wie schön!“, rief Öznur und wollte sich begeistert zu Erbenet umdrehen, doch dieser war irgendwie verschwunden. „Ähm… Erbenet?“ „Hier!“, antwortete er schließlich und kam von der anderen Seite auf Öznur zu. „Tut mir leid, ich hab nur die Fackel weggebracht.“ Erleichtert atmete Öznur auf und beobachtete gemeinsam mit ihm das magische Naturschauspiel, während sie im weichen Gras saßen. „Ich will hier nicht mehr weg.“, murmelte Öznur gedankenverloren vor sich hin. „Musst du doch nicht.“, erwiderte Erbenet amüsiert. „Ecul kennt diesen Ort nicht und kein normaler Mensch traut sich in diese Höhle. Wir sind hier also ganz unter uns.“ Und er überraschte Öznur, mit einem stürmischen Kuss, den sie hingebungsvoll erwiderte. Sie schienen zu verschmelzen, wiegten sich in der Wonne purer Leidenschaft, vergaßen zu atmen. Umso schmerzhafter war es, als sich ihre Lippen schließlich trennten. Keuchend lag Öznur auf der Wiese, Erbenet war über sie gebeugt. Doch bevor sie dazu kam, ihn wieder zu sich runter zu ziehen, erregte ein beißender Geruch ihre Aufmerksamkeit. Er kam aus der Höhle. „Was ist das?!?“, rief sie erschrocken und richtete sich zum Teil auf, um einen besseren Blick in die Höhle zu bekommen. Sie erkannte nicht viel, aber obwohl die Höhle eigentlich stockdunkel sein sollte, sah sie ein leichtes, flackerndes Licht, dass vom Eingang zu kommen schien. Mit einem Schlag wusste Öznur, worum es sich handelte. „Ein Feuer!“ „Keine Sorge, dieses Gebiet ist gänzlich von Felsen umgeben. Wir sind hier sicher.“, versuchte Erbenet sie zu beruhigen. Erfolglos. „Ja aber… Dein Bruder!“, erinnerte Öznur ihn an Ecul. Erbenet schüttelte desinteressiert den Kopf. „Der kommt schon alleine zu Recht.“ „Aber er ist doch dein Bruder!“, erwiderte Öznur besorgt. „Es spielt keine Rolle, ob wir ihn mögen oder nicht, wir müssen zumindest nach ihm schauen!“ Sie wollte sich komplett aufrichten, doch Erbenet drückte sie zurück ins Gras. „Ignorier ihn einfach.“ Er beugte sich so tief über sie, dass sich ihre Lippen fast berührten. „Entweder er schafft es, oder er schafft es nicht. Viel wichtiger ist doch, dass wir uns haben.“ Öznur schluckte schwer. Dieser verführerische Blick in seinen dunklen Augen, diese Lippen, die danach schrien geküsst zu werden, der starke, männliche Körper, der sie am Boden festhielt… Öznur musste sich eingestehen, dass sie gar nicht weg wollte. Sie wollte bei Erbenet bleiben, selbst, wenn dafür sein Bruder… Öznur atmete tief durch. „Nein. Ich will nichts mit jemandem haben, der seinen Bruder links liegen lässt.“ Erbenet schaute sie irritiert an. „Wie meinst du das?“ Ein Bild von Öznurs Familie schoss ihr durch den Kopf. Ihre Eltern, ihre beiden großen Schwestern, ihre kleine Schwester… Sie war viel zu kurz bei ihnen gewesen. Hatte über die Hälfte ihrer Familie noch nicht einmal getroffen! Eine eiskalte Einsamkeit überkam Öznur.  „Liebst du deinen Bruder nicht? Ich meine… Er ist doch dein Bruder!“, fragte sie. Erbenet schüttelte den Kopf. „Ich hasse ihn. Es ist besser, wenn er tot ist.“ Verdammt, war es nur Einbildung, oder klang Erbenets Stimme gerade wirklich genauso wie die von Eagle? Und warum hatte Öznur gerade Carstens lachendes Gesicht vor Augen? Vielleicht, da sie sich die beiden Brüder auch gut in einer ähnlichen Situation vorstellen konnte? Würde Eagle ebenso wenig handeln wie Erbenet, wenn sein Bruder in Gefahr war? Mit einem Schlag wurde Öznur wütend. Auf beide Jungs. „Lass mich los.“ Ihr Ton hatte etwas Befehlendes an sich. „Er ist es nicht wert.“, erwiderte Erbenet. „Nein, du bist es nicht wert. Lass mich los, bevor ich dir wehtun muss.“, drohte Öznur ihm, „Glaub mir, ich kann das.“ Wie als wolle sie ihre Worte unterstreichen ließ Öznur kleine Flammen um ihre Fingerspitzen tanzen. Erbenet ließ sie los. Hastig richtete sich Öznur auf und brachte einige Meter Abstand zwischen sich und dem muskulösen jungen Mann. Doch er schien sie in keinster Weise aufhalten zu wollen. Öznur wandte sich um und wollte zur Höhle rennen, als etwas Hartes ihre Schulter traf. Tausende Sterne explodierten vor ihren Augen. Mit einem Schrei stürzte sie zu Boden. Ihre Schulter fühlte sich an, als stünde sie in Flammen. Bedrohlich baute sich Erbenet vor ihr auf. „Bist du immer noch der Meinung, um jeden Preis zu diesen albernen Prinzipien zu stehen?“ Öznur kniff die Augen zusammen. Alles in ihrem Kopf drehte sich. Panik breitete sich in ihr aus. Er wird mich umbringen! Langsam ging er auf sie zu. Er wird mich hier und jetzt umbringen! Blieb vor ihr stehen. Ich muss mich wehren! Irgendwie! Aber mir fällt kein Zauber ein! Hob den massiven Holzstock über seinen Kopf. Aber ich herrsche über das Feuer! Wie ein Blitz durchzuckte Öznur diese Erkenntnis. Kaum hatte sie ihre Gedanken gesammelt, tat das Feuer wie geheißen. Mehrere Feuerbälle schossen auf Erbenet zu, welcher aus Reflex die Arme vors Gesicht hielt. Ungelenk stolperte Öznur auf die Beine. Ihre Schulter tat immer noch schrecklich weh. Aber sie musste hier weg. Sie rannte zur Höhle und ließ hinter sich eine Feuerwand auflodern, in der Hoffnung, Erbenet würde sie nicht durch diese verfolgen können. Mithilfe ihrer Feuer-Energie leuchtete sie sich den Weg zurück zum Höhleneingang, der in flackerndes Rot getaucht war. Schwer atmend blieb Öznur stehen und betrachtete den Wald, welcher zu einem Gebiet der Zerstörung wurde. Die gelbroten Flammen schlängelten sich die Bäume hoch und tanzten auf dem Gras ihr Ballett des Todes. Zum ersten Mal verfluchte sie ihre hohen Schuhe, die für das Rennen durch einen brennenden Wald gänzlich ungeeignet waren. Dafür erwies sich ihre Feuer-Energie als umso nützlicher, da ein einziger Gedanke reichte, damit die Flammen ihr den Weg frei gaben, den sie kopf- und orientierungslos entlanghastete. „Ecul!“, schrie sie in den Flammenwald, bekam aber keine Antwort. Doch ihr Instinkt hatte sich bewährt, als sie die inzwischen erloschene Feuerstelle wiederfand. Das einzige in diesem Wald, das bisher von den Flammen unberührt war. Mit ihr fand sie auch Ecul. „Ecul, geht es dir gut?!“ Sie bemühte sich, Ecul auf die Beine zu helfen, der schwer atmend und hustend die Besinnung wiederfand. „Was willst du hier? Das ist zu gefährlich für jemanden wie dich.“ Öznur überhörte seinen teils immer noch bissigen Kommentar, den er mit viel Mühe über die Lippen gebracht hatte und antwortete nur: „Ich will dir helfen. Auch wenn Erbenet versucht hat, es zu verhindern.“ Während Öznur ihm auf die Beine half, gab Ecul ein gequältes Lachen von sich. „Das sieht ihm ähnlich. Einen Wald in Brand zu stecken, um mich loszuwerden.“ Öznur wollte schon widersprechen, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass Ecul Recht hatte. Erbenet war nicht so, wie er vorgetäuscht hatte, zu sein. „Das ist jetzt auch egal, wir müssen versuchen hier rauszukommen.“, meinte sie schließlich. Während sie Ecul stützte, was durch die schmerzende Schulter verdammt schwierig war, versuchte sich Öznur an den Weg zurück zu erinnern. Doch auf der anderen Seite der Höhle würde Erbenet auf sie warten, also brauchte sie einen anderen Zufluchtsort. Der Schrein!, schoss es Öznur durch den Kopf. Aber wo war der? „W-Weißt du noch, wo wir uns damals getroffen hatten?“ Ecul überlegte kurz und antwortete: „Da lang.“ Öznur ging in die Richtung, in die er gezeigt hatte und verließ sich völlig auf Eculs Orientierungssinn. Dieser fragte überhaupt nicht erst, warum die Flammen vor ihnen wichen, als wäre er entweder nicht daran interessiert oder würde es bereits wissen. Tatsächlich kamen sie nach einer anstrengenden Stunde wieder an der Lichtung an, bei der sich im Felsen die Steintür befand. Sie waren gar nicht mal so weit von ihr entfernt gewesen, wie nach einer dreitägigen Reise eigentlich zu erwarten wäre… Bitte sei offen, flehte Öznur in Gedanken, als sie den Türgriff runter drückte. Glück gehabt! Mit ihren letzten Kräften stieß sie die schwere Tür auf und hievte sich und Ecul in das dunkle Innere des Schreins. Erschöpft und erleichtert zugleich atmete sie auf, auch Ecul schien es besser zu gehen. Er warf ihr einen kurzen Blick mit seinen roten Augen zu. „Danke.“ Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf Öznurs Lippen aus. „Nichts zu danken. Eigentlich bist du ja derjenige, der ganz okay ist, im Gegensatz zu deinem Bruder.“ Amüsiert grinsend richtete sich Ecul auf, schaffte es auch problemlos ohne Öznurs Hilfe. „Na dann…“ Erschrocken wich Öznur zurück. Vor ihr stand nicht mehr Ecul. Also… nicht mehr ganz. Der Mann hatte immer noch Eculs Aussehen, doch seine pechschwarzen Haare waren feuerrot und er schien von innen her rot zu leuchten. „D-Der Rote Fuchs?!“ Der rote Mann musterte sie durch Eculs Augen mit einem amüsierten Blick. „Erraten.“ Öznur schlug sich mit der Hand auf die Stirn. „Und ich habe ihn einen Idioten genannt…“, murmelte sie beschämt vor sich hin. Der Rote Fuchs lachte amüsiert auf und half Öznur trotz ihres Zögerns auf die Beine. Ein kurzer stechender Schmerz fuhr durch ihre Schulter, aber sie war zu überfordert mit der Situation, um ihn zu bemerken. „Ich hatte schon die Sorge, du lässt mich im Feuer verkokeln.“, scherzte er, wohl wissend, dass der Herrscher des Feuers nie seinem Element unterlegen wäre. „Es tut mir leid…“, setzte Öznur betroffen an. „Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen.“, winkte der Rote Fuchs ab. „Mir tut es leid, dich so hinters Licht geführt zu haben.“ „Du- Sie meinen wegen Erbenet? Ja, das war wirklich gemein.“ Verstimmt verschränkte Öznur die Arme vor der Brust. Sie musste ja ausgerechnet mit dem Falschen rummachen! Dieses Mal bemerkte sie ihre schmerzende Schulter allerdings und zuckte leicht zusammen. „Dann bekommst du einen kleinen Trostpreis.“ Der Rote Fuchs berührte sie vorsichtig an den Schultern. Der Schmerz war mit einem Schlag verschwunden. „Besser?“, fragte er mit einem schelmischen Grinsen. Öznur nickte lediglich. Krass. Ich merke nichts mehr. Für einen kurzen Moment verstärkte er seinen Griff und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen, der die Wärme einer Kerze hatte. Belustigt zwinkerte er Öznur zu, die vor Scham leicht rot geworden ist, ehe er ihr den Rücken kehrte und in den Flammen verschwand, die plötzlich aufgetaucht waren. Öznur blieb zurück, doch mit dem Verschwinden der Flammen entzündeten sich wieder die Kerzen und wiesen Öznur den Weg aus dem Schrein hinaus, nach Monde zu ihren Freunden. Öznur atmete tief durch. Sie wusste, dass sie sich verändert hatte und konnte sich auch schon denken, wie sie nun aussah. Und sie wusste, dass sie es geschafft hatte! Sie hatte die Prüfung bestanden! Mit diesem Wissen stieß sie mit neu gewonnener Kraft die steinerne Tür auf und trat hinaus ins Licht, in ihre Welt. Kapitel 27: Mut zum Führen --------------------------    Mut zum Führen       Das Warten war todlangweilig. Zwar war Özi-dösi bisher ‚nur‘ eine dreiviertel Stunde lang weg, aber Lissi wurde trotzdem ungeduldig. Entnervt schaute sie sich um, um herauszufinden, ob die anderen auch der Meinung waren, dass Özi-dösi ne Trantüte war. Aber die schienen alle irgendwie eine Beschäftigung gefunden zu haben. Lauch, die zuvor noch Blut hustend zusammengebrochen war, saß mit dem knuffigen Cärstchen auf einem Felsen und führte eine bedrückte Unterhaltung mit ihm, während Cärstchen sich alle Mühe gab, sie wieder aufzuheitern, was ihn umso süßer machte. Lissis erotischer Bennlèy saß neben den beiden auf dem Fels und las geistesabwesend ein Buch. Ihrer Meinung nach sahen seine tiefen, dunklen Augenringe gar nicht mal so übel aus, da Bennlèy dadurch nur noch mehr wie ein sexy Vampir aussah als er ohnehin schon wirkte. Er war einfach zum Anbeißen… Oder umgekehrt. Lissi war beides Recht. Lauch wusste gar nicht, was für ein Glück sie mit ihm hatte! Ehe Lissi ihrem Anflug von Eifersucht nachgab, wandte sie sich an den zweiten heißen Typen im Bunde. Eagle-Beagle stand etwas abseits von der Gruppe, damit niemand seinen Zigarettenqualm einatmen musste. Der Hauptgrund war natürlich Lauch, die gesundheitlich immer noch ziemlich angeschlagen war. Verdammt noch mal, Lauch du Glückspilz! Der süße Typ kümmert sich rührend um dich, der erotische ist dein potentieller Lover und der heiße steht auf dich! Eingeschnappt wandte sich Lissi ab. Sie konnte es noch nicht einmal verstehen, warum Laura bei den Typen offensichtlich so gut ankam. Na gut, sie war schon süß und hatte ein bildhübsches Gesicht, aber körperlich hatte sie bis auf ihre schmale Figur gar nichts zu bieten und auch wenn Lissi wusste, dass das fies klang, ihr Charakter war auch nicht gerade der beste. Er war halt zu pessimistisch und heulerisch. Seufzend zwirbelte Lissi an einer schwarz gelockten Strähne. Sie wollte nicht schlecht über Lauch denken… Eigentlich war sie ja total bemitleidenswert. Und sie müsste es inzwischen auch gewohnt sein, nicht immer das zu bekommen, was sie wollte. Es war schon immer so gewesen, dass man jemand anderen Lissi vorzog. Schon seit ihrer Geburt, um genau zu sein. Madre und Padre hatten eigentlich nur ein Kind gewollt und dieses eine Kind sollte natürlich auch so sein, wie man sich ein perfektes Kind vorstellte. Susi war so ein Kind, das stand von Anfang an fest. Sie war hübsch, höflich, freundlich, zuvorkommend und nicht zuletzt intelligent und fleißig. Eben perfekt, dachte Lissi stolz über ihre Schwester. Leider hatten ihre Eltern sie als Zweitgeborene sofort aufgegeben. Sie hatte noch nicht einmal die Möglichkeit bekommen, sich ihnen zu beweisen. Inzwischen hatte Lissi auch keine Lust mehr darauf. Sie war nun mal wilder und aufmüpfiger als ihre Schwester und nicht so schlau wie sie. Aber seinem Kind deswegen die Fürsorge vorzuenthalten konnten nur Lissis Eltern machen. Sie gönnten ihr gar nichts! Als sie von Susi erfuhren, dass sie die Besitzerin des Pinken Bärs geworden sei, platzten die förmlich vor Stolz. Doch als Lissi begeistert hinzugefügt hatte, dass der Blaue Wolf sie auserwählt habe… Na ja, eigentlich war nicht wirklich was passiert, doch Lissi konnte sich noch genau an den Blick ihrer Eltern erinnern. Dieser verwunderte, misstrauische Blick, der so viel sagte, dass es schwer gewesen wäre, ihn zu ignorieren. ‚Was redet die denn für dummes Zeug?‘ ‚Als würde der Blaue Wolf die auserwählen, sie kann doch gar nichts.‘ Und so weiter. „Lissi? Ist alles in Ordnung?“ Lissi schrak hoch und schaute in die grün-blau strahlenden Augen ihrer Schwester, die sich besorgt vor sie gebeugt hatte. „Klar, wieso fragst du Susi?“ Seufzend setzte sich Susi neben sie. „Du hast so deprimiert ausgesehen.“ „Ach was.“ Lissi sprang auf und streckte sich, um ihren eingeschlafenen Körper aufzuwecken. „Mir ist nur todlangweilig. Hoffentlich braucht Özi-dösi nicht noch länger.“ Aber natürlich konnte sie Susi mit diesem Argument nicht überzeugen. Immerhin waren sie Zwillinge und obendrein war Susi auch noch superschlau. Ihr konnte es nicht entgehen, wenn Lissi mal Trübsal blies. „Echt Susi, du machst dir zu viele Sorgen. Mir geht’s gut!“ Lissi grinste ihre Schwester an. Sie wollte nicht, dass Susi mitbekam, dass ihre Eltern Lissis Stimmung so vermiesen konnten, obwohl sie noch nicht einmal anwesend waren. Immerhin fiel es Susi auch nicht leicht, damit klar zu kommen. Im Endeffekt musste sie darunter noch mehr leiden als Lissi selbst, die persönlich das Opfer der Abneigung ihrer Eltern war. Susi erwiderte Lissis Grinsen mit einem schwachen Lächeln, als sich endlich das Steintor zum Schrein öffnete. Erwartungsvoll gaffte Lissi zum Durchgang, aus dem Özi-dösi trat. Mit einem so breiten Grinsen im Gesicht, dass es ganz offensichtlich war, dass sie bestanden hatte. Zusammen mit Nane-Sahne war Lissi die erste bei Özi-dösi und betrachtete die frisch gebackene Halbdämonin ganz genau, nachdem sie ihr hyperaktiv um den Hals gefallen war. Auch die anderen schienen inzwischen gekommen zu sein, denn Lissi hörte ganz genau, wie Eagle-Beagle pfiff und meinte: „Klingt vielleicht komisch, aber Fuchs steht dir wirklich gut.“ Özi-dösi lachte beschämt auf und Lissi überlegte für den Bruchteil einer Sekunde, ob aus ihr und Eagle-Beagle nicht vielleicht doch was werden könnte. Immerhin passten sie ziemlich gut zusammen. „Nun, danke… Oder so.“, erwiderte Öznur sarkastisch, gefolgt von einer tiefen, männlichen Stimme, die ihre Worte ganz leise nachflüsterte. Aber so seltsam Eagle-Beagles Aussage auch klang, er hatte Recht. Özi-dösi hatte nun braun-rote, ins Schwarze übergehende Fuchsohren, Schnurrhaare und einen flauschigen Fuchsschwanz. Ihre Augen waren feuerrot und hatten nichts weiter als einen Schlitz als Pupille. Dennoch ließen sie Özis Blick nicht nur furchteinflößend sondern auch verführerisch wirken. Es sah wirklich unglaublich heiß aus. Nachdem jeder die ‚neue‘ Özi ausgiebig in Augenschein genommen hatte, außer Bennlèy und Anni-Banani natürlich, die weniger der Typ für so was waren, verbarg auch Özi-dösi ihre Gestalt, so wie es bereits Ninie und Anni-Banani getan hatten. Eigentlich fand Lissi, dass das die reinste Verschwendung war. Als Halbdämon sah man doch total hübsch und sexy aus, also warum musste man sein wahres Ich verstecken?!? Aber sie konnte sich die Antwort schon denken, so bescheuert sie auch war: Um nicht von den dämlichen Menschen als Halbdämon erkannt zu werden, da die sonst die Krise bekommen und sie abschlachten würden. Wie bescheuert. „Aaaaaalsoooooo ihr Süßen, können wir weiter?“, erkundigte sich Lissi drängend. Immerhin war sie die nächste, die ihre Prüfung machen würde und sie wollte auch so eine heiße Dämonenform wie Öznur haben. Da ihr Dämon dem Roten Fuchs ziemlich ähnlich sah, konnte sie sich so was auch erhoffen. Carsten warf einen besorgten Blick auf Lauch, der ihn mal wieder total süß wirken ließ. „Am besten, wir teleportieren uns nur bis zur Küste und fahren mit dem Schiff zu deinem Schrein.“, überlegte er. Lissi warf ihrem schnuckeligen Indigoner einen Luftkuss zu. „Kein Problem, Darling. Ich hab sowieso keinen Plan, wo sich dieses Häuschen befindet.“ Anni-Banani schnaubte entnervt. „Hast du eigentlich je von irgendwas ‘nen Plan?“ „Aber sichi, Banani.“, erwiderte Lissi in ihrem Sing-Sang-Ton. Sie nahm Anni-Bananis Kommentare nie ernst. Klar, eigentlich müssten sie verletzend sein, aber es war Anni-Banani! Sie war immer so mies drauf, also konnte Lissi das einfach nicht ernst nehmen. „Es gibt da ein Kreuzfahrtschiff am Hafen von Ares, das in einer Stunde über die Schrein-Insel nach Kara fährt. Falls wir Glück haben, erreichen wir es noch beizeiten.“, erklärte Cärstchen. „In Ares war ich schon mal. Sogar am Hafen.“, meinte Özi-dösi erfreulicher Weise. „Aber hätten wir dann nicht rechtzeitig reservieren sollen? Und außerdem… Ist ein Kreuzfahrtschiff nicht ziemlich teuer? …“ So zögernd Ninies Bemerkung auch war, so knuffig war sie. Ninie erinnerte Lissi an ihr Schwesterherz. Beide waren zwar schüchtern, aber trotzdem freundlich und süß. „Lass das mal meine Sorge sein.“, schaltete sich Eagle-Beagle plötzlich ein, nahm Cärstchens Hand und drückte auf ihr seine Zigarette aus. Dieser wich erschrocken zurück und kühlte die verbrannte Stelle mit seiner Magie. „Verdammt noch mal Eagle, was soll das?!?“, beschwerte sich das arme Cärstchen bei seinem sexy, großen Bruder. Özi-dösi stöhnte genervt auf. „Und ich habe gedacht, dass ihr euch inzwischen etwas besser leiden könnt…“ „Ich möchte gar nicht erst wissen, wovon du erst nachts träumst.“, kommentierte Eagle-Beagle ihre Hoffnungen. „Oke Leute, Spaß beiseite.“, schritt Nane-Sahne schließlich schlichtend ein, „Wenn dieses Schiff tatsächlich in einer Stunde davondampft, wie Carsten es sagt und Eagle davor auch noch ein Hühnchen mit der Crew rupfen muss, damit die uns mitfahren lassen, sollten wir uns vielleicht so langsam auf den Weg machen. Findet ihr nicht auch?“ „Ja, das wäre von Vorteil.“, gab Anni-Banani ihr mit ihrem sarkastischen Tonfall Recht. „Also los, Carsten.“ Özi-dösi hob überrascht eine Augenbraue. „Wow. Carsten? Nicht Depp, Idiot, Schwächling oder Indigonerbubi? Einfach nur Carsten? Ist das dein Ernst?!“ Anni-Banani schnaubte genervt. „Ja. Los jetzt.“ Lissi begab sich auf ihren gewohnten Platz im Kreis zwischen Susi und Özi-dösi und ärgerte sich darüber, mal wieder nicht an der Seite einer der süßen Typen zu stehen, obwohl diese dieses Mal sogar zu dritt waren.   Das Erste, das Lissi nach der Teleportation wahrnahm, war der wohlige und vertraute Duft des Meeres, der sie an die Küsten und Strände von Kara erinnerte. Auch der Wind war nicht eisig kalt, sondern genauso lauwarm, wie der Wind in den Bergen, wo Öznurs Schrein stand. Lissi liebte das Meer, auch wenn sie nicht wusste, wieso eigentlich. Sie mochte es einfach und fertig. Im Hafen tummelten sich haufenweise Menschen herum. Menschen, die Familienmitglieder verabschiedeten, Hafenarbeiter und hin und wieder erhaschte Lissi einen Blick auf Matrosen in ihren süßen weißblauen Matrosenanzügen. Es war laut und voll, doch Lissi machten große Menschenmengen nichts aus. Im Gegenteil, sie fühlte sich sogar wohl in ihnen. Im Gegensatz zu Bennlèy, der still und unbemerkt sein Leid ertrug. Er tat Lissi leid, doch was sollte sie machen? Ihn um den Hals fallen würde ihr zwar Freude bereiten, aber seine Situation nicht gerade bessern. „Gebt mir fünfzehn Minuten.“, meinte Eagle-Beagle mit seiner sexy tiefen Stimme und verließ die Gruppe, um weiß Gott wen aufzusuchen, der sie aufs Schiff bringen könnte. Anni-Banani verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich würde nur zu gerne wissen, wie er den Kapitän umstimmen möchte.“ „Ich schwanke zwischen Autorität und Stärke.“, sinnierte Susi und klang dabei ungewohnt sarkastisch. Derweil hatte Cärstchen endlich entdeckt, dass Bennlèy nicht ganz fit war. „Geht’s noch?“, erkundigte er sich besorgt. Bennlèy schüttelte ausdruckslos den Kopf und erwiderte irgendetwas auf einer Sprache, die Lissi unbekannt war. Nach tatsächlich höchstens einer viertel Stunde kam Eagle-Beagle wieder. „Alles geregelt.“, meinte er nur, war mit dem Ergebnis aber sichtlich zufrieden. „Hast du ihn erpresst oder vermöbelt?“, erkundigte sich Anni-Banani kritisch. Eagle-Beagle verschränkte die Arme vor der muskulösen Brust. „Nichts von beidem. Der Kapitän war mir noch einen Gefallen schuldig.“ „Also erpresst.“ Eagle-Beagle ignorierte Anni-Bananis schnippischen Kommentar und erklärte, an die Gruppe gewandt: „Er hat gemeint, es sei kein Problem uns für diese kurze Strecke mitzunehmen, aber leider sind alle Zimmer belegt. Auch die erste Klasse…“ „Wow, bist du verwöhnt.“, murmelte Cärstchen vor sich hin und verdrehte die magischen, lila Augen. „Halt einfach die Klappe, wenn du nach den Ferien wieder die Coeur-Academy besuchen möchtest.“ Um zu zeigen, dass die Drohung ernst gemeint war, stieß Eagle-Beagle Cärstchen mit solcher Wuchte gegen einen Container, dass er sich garantiert den Kopf aufgeschlagen hätte, wenn Bennlèy den Aufprall nicht in letzter Sekunde verhindert hätte. Im Bruchteil eines Herzschlags waren die Rollen vertauscht und es war Bennlèy, der Eagle-Beagle gegen den Container drückte und mit seinem Unterarm dessen Kehle zupresste. „Ich bin müde und folglich gereizt, also mäßige dich lieber.“ Die unheimliche Kälte in Bennlèys Stimme jagte Lissi einen Schauder über ihren Rücken und sie rechnete damit, dass er jeden Moment Eagle-Beagles Herz rausreißen oder ihn sonst wie töten würde. Da war es umso erleichternder, als Bennlèy von ihm abließ und Eagle-Beagle keuchend in die Knie sackte. „Geht’s?“, erkundigte sich Susi besorgt. Lissi fand es beeindruckend, dass sich ihre Schwester um jemanden sorgte, der kurz davor drauf und dran war, sein eigenes Brüderchen zu verprügeln. Sie war halt eine gute Seele, die keinem etwas Schlechtes wünschte. Doch Eagle-Beagle schlug ihr gütiges Angebot, ihm zu helfen, grob aus. „Lass mich.“ Nicht gerade sanft schlug er ihre Hand weg. „Hey! Wenn du schon eingeschnappt sein musst, lass das nicht an meiner Schwester aus! Sie wollte nur helfen!“ Eagle-Beagle warf mit einigen der anderen einen verwirrten Blick auf Lissi. Verstimmt schüttelte sie den Kopf. So heiß er auch war, er war das reinste Arschloch. Nachdem er sich wieder gefasst hatte, richtete sich Eagle-Beagle auf. „Sorry…“, murmelte er nur in Susis Richtung, doch sie war bekanntlich die Gutmütigkeit in Person. „Kein Problem, es ist ja nichts passiert.“ „Du solltest dich lieber bei Carsten entschuldigen!“, wies Lauch ihn verärgert zurecht. Eagle-Beagle warf seinem Brüderchen einen sehr unfreundlichen Blick zu, der alles andere als eine Entschuldigung war. Um die angespannte Situation zu retten, machte Nane-Sahne einen demonstrativen Schritt zu den Schiffen. „Soooo, ihr Lieben. Wie wär’s, wenn wir uns statt die Köpfe einzuschlagen endlich an Board begeben und die gemütliche, von der Sonne begleitete Fahrt zur Schrein-Insel genießen?“ Özi-dösi nickte. „Das klingt sehr überzeugend. Und am besten sorgen wir für etwas Abstand zwischen Carsten und Eagle. Euer Bruderhass versaut uns noch alles!“ „Gute Idee!“, stimmte Nane-Sahne begeistert zu und schob sich prompt zwischen die Brüder und ihre mangelnde Geschwisterliebe. Während Eagle-Beagle trotzig, nahezu kindisch, murmelte: „Das ist nicht mein Bruder.“ Auch ohne Worte einigten sich alle darauf, das einfach so stehen zu lassen. Allerdings war es Lissi nicht entgangen, dass Cärstchen bei Eagle-Beagles Kommentar einen seeeeehr traurigen Gesichtsausdruck gehabt hatte.   Trotz der ausgebuchten Zimmer war das Schiff, auf dem sie reisten, so groß, dass problemlos doppelt so viele Leute untergekommen wären. Und es war alles vorhanden! Swimmingpool, Bowlingbahn, ein Wellnessbereich und nicht zuletzt heiße Typen und sexy Mädels, die leicht bekleidet an der Bar chillten, obwohl es noch kein Sommer war. Lissis Paradies. Die Fahrt war tatsächlich sehr erholsam. Nicht zuletzt aus dem Grund, weil das Schiff groß genug war, dass sich gewisse Leute ohne Probleme aus dem Weg gehen konnten und es so endlich mal zu keinen Reibereien zwischen Eagle-Beagle und Anni-Banani, Cärstchen oder Bennlèy kam. Auch wenn Lissi sich überwiegend mit heißen Kerlen und Mädels an der Bar unterhielt, entgingen ihr die Tätigkeiten der anderen nicht. Anni-Banani und Nane-Sahne hatten prompt zwei ganze Bahnen des Pools erobert und lieferten sich nun extreme Schwimmwettbewerbe, während Ninie und Susi ihre teils sehr seltsamen Aufgaben amüsiert beobachteten. Özi-dösi ergatterte einen Sonnenstuhl und tat das, was sie am besten konnte: Mit ihrer lockeren und zugleich temperamentvollen Art der Magnet aller Jungenblicke werden. Die sich jedoch nicht trauten, sie anzusprechen, da Eagle-Beagle neben Özi-dösi chillte und die beiden so eindeutig flirteten, dass Lissi schon vermutet hätte, Eagle-Beagle würde auf Özi-dösi und nicht auf Lauch stehen. Lauch störte das allerdings überhaupt nicht. Sie hatte sich in den Schatten verkrümelt und zeichnete seelenruhig vor sich hin. Neben ihr saß Cärstchen, der in irgendeinem unnötig dicken Wälzer las. Nur wo Bennlèy war, konnte Lissi nicht herausfinden. So ein Mist. Aber sie konnte die Gelegenheit riechen, die sich ihr bot. Lauch war immerhin viel zu sehr mit ihren Manga-Zeichnungen beschäftigt, um eifersüchtig werden zu können. Also entfernte sie sich kurzerhand von der Bar und machte sich auf die Suche nach ihrem Lieblings-Bad-Boy. Aufgrund der Größe des Schiffes wurde ihre Suche ziemlich erschwert, aber dennoch fand sie ihn in verhältnismäßig kurzer Zeit. Bennlèy lehnte an der Reling des Schiffes und schaute ausdruckslos hinaus aufs Meer. Lissi gesellte sich neben ihn und lächelte ihn flirtend an, doch erwartungsgemäß reagierte er nicht darauf, sondern blickte weiterhin Richtung Horizont. „Komm schon Bennlèy, du musst dich auch mal etwas amüsieren!“, forderte sie ihn auf. Bennlèy schüttelte den Kopf. „Ich würde Schlaf bevorzugen.“ „Und warum schläfst du dann nicht?“, hakte Lissi nach. „Weil ich dann wieder träume…“ Lissi warf dem heißen Typ neben ihr noch einen kurzen, mitleidigen Blick zu, ehe sie es ihm gleich tat und hinaus aufs Meer starrte. Sie wusste zwar nicht, was es dort Interessantes gab, aber es hatte eine beruhigende Wirkung, von weitem die sanften Wellen zu beobachten. Nach längerer Pause war es schließlich Bennlèy, der ihr eine Frage stellte. „Was möchtest du eigentlich?“, fragte er sie auf ihrer Geburtssprache Spanisch. Lissi zuckte mit den Schultern. „Ich wollte einfach mal schauen, wie es dir geht.“ Sie dachte, ein leichtes Stirnrunzeln zu erkennen. „Sonst nichts?“ „Huch? Du denkst ernsthaft, ich wäre nicht nur wegen dir hier?“ „Nicht aus so einem banalen Grund.“, erwiderte Bennlèy ruhig. Lissi lachte verlegen auf. „Du bist wirklich der Meinung, man könnte sich mit mir normal unterhalten?“ „Sí.“, meinte Bennlèy tonlos. Lissi spürte, wie das Blut in ihrem Kopf pulsierte. „Wow… Danke. Das höre ich zum ersten Mal.“ „Wieso?“ „Weil ich doch so dumm und naiv bin.“, antwortete Lissi grinsend. „Das nehme ich dir nicht ab.“ Sie musterte Bennlèy verwirrt. „Glaubst du wirklich, ich würde nur die Dumme spielen?“ Endlich erwiderte Bennlèy ihren Blick. „Lo sé.“ „Hast du einen Beweis?“, fragte sie ihn herausfordernd. „Du hast eine Frage, die man auch Doppeldeutig verstehen könnte, recht ernst beantwortet.“, lautete seine Antwort. „Uuuuh, war sie denn doppeldeutig gemeint?“ Lissi klang ziemlich begeistert, obwohl sie sich die Antwort denken konnte. „No.“ Lissi seufzte betrübt. „Und was wäre, wenn es tatsächlich so mehr oder weniger stimmen würde?“ „Dann wäre ich am Grund interessiert.“ „Ich habe einfach keine Lust, mich anzustrengen, damit man mich mag.“, meinte sie. Für gewöhnlich wollte Lissi nicht darüber reden. Es war keine schöne Geschichte, die man nebenbei beim Smalltalk oder in einem Gespräch generell zur Schau stellen wollte. Aber jetzt, wo sie Bennlèys ruhigen und weder drängenden noch neugierigen Blick auf sich spürte, bekam sie den Wunsch, ihm einfach alles anzuvertrauen. Sie wusste nicht wieso. Sie wusste nur, dass Bennlèy genau der richtige Gesprächspartner für sie war. „Das Problem ist einfach, dass meine Eltern Susi schon immer viel lieber hatten als mich. Sie ist halt perfekt… und ich nicht. Ich nehm’s ihr nicht übel, sie kann ja nichts dafür, dass Madre und Padre so denken. Aber ich auch nicht!“ Bedrückt wandte sich Lissi ab und beobachtete die Wellen, die gegen das Schiff bretterten. „Eine Zeit lang habe ich wirklich versucht, mich anzustrengen. Ich wollte, dass sie stolz auf mich sein konnten. Aber das hat sie gar nicht interessiert. Egal wie viel Mühe ich mir gab, oder je geben würde, ich werde Susi nie das Wasser reichen können. Wenn es nach meinen Eltern geht, bin ich nutzlos und werde nichts dran ändern können… Dann muss ich mir auch keine Mühe mehr geben, noch irgendwie eine Bestätigung von ihnen zu bekommen.“ Lissi spürte, dass sich in ihren Augen Tränen sammelten. „Ich kann nichts dafür… Ich habe mir nicht ausgesucht, ich zu sein!“ „Hatte man je eine Wahl?“ Sie musterte Bennlèy verwirrt. „Was?“ Dieser erwiderte, wieder ausdruckslos das Meer beobachtend: „Es wird immer welche geben, die dich für irgendetwas verurteilen, obwohl du nichts dafür kannst. Ob du nun mit ihnen verwandt bist oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Man hat einfach keine Wahl. Nur, ob man es akzeptiert damit zu leben, oder nicht.“ Seufzend musste sich Lissi eingestehen, dass er Recht hatte… „Aber es ist trotzdem unfair.“ „Wenn Fairness eine Rolle spielen würde, gäbe es kein Leid.“ „Sag mal… Redest du aus eigener Erfahrung?“ Sie bekam keine Antwort, was bereits Antwort genug war. Doch ehe Lissi dazu kam, ihn irgendwie zu diesem Thema auszufragen, hörte sie Cärstchens Stimme hinter sich: „Hey Leute, wir sind gleich da.“ Er schien nicht wirklich verwundert, dass sich Lissi gerade mit Bennlèy unterhalten hatte, obwohl jeder normale Mensch vermutlich erwartet hätte, dass das überhaupt nicht möglich wäre. Lissi seufzte. Nun, da sie so kurz vor ihrer Prüfung stand, war sie doch etwas nervös. Für gewöhnlich waren ihr ja Prüfungen im Allgemeinen total egal, aber diese war etwas anderes. Man könnte tatsächlich sagen, ihr Leben hinge von dem Ergebnis ab. Die vor kurzem noch auf dem Schiff verstreute Gruppe kam nun wieder zusammen und beobachtete den grünen Fleck, der am Horizont erschien und nach und nach größer wurde. Die Insel schien sehr klein und große Bäume schützten den Schrein vor neugierigen Blicken. „Na dann wollen wir mal.“, meinte Eagle-Beagle und wies auf eins der Rettungsboote. „Ähm… Müssen wirklich alle mit?“, erkundigte sich Lauch zögernd. Anni-Banani stöhnte auf. „Komm mir jetzt nicht schon wieder mit dieser Knie-Ausrede.“ Lauchs Wangen bekamen einen leichten Rot-Stich. „Das nicht aber ich…“ Cärstchen lächelte sie mit diesem süßen Cärstchen-Lächeln an. „Keine Sorge, du musst nicht mit.“ Lauch atmete erleichtert auf. „Danke.“ Lissi merkte, wie sich kurz Bennlèys und Cärstchens Blicke tauschten, bevor Bennlèy einfach nur zu ihr meinte „Buena suerte.“ und ging. Eagle-Beagle verschränkte die Arme vor der Brust und grinste hämisch. „Kaum zu glauben. Euer eiskalter Engel kneift.“ „Er hat schon seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen. Da ist es nicht verwunderlich, dass er keine Lust hat.“, erwiderte Cärstchen genervt. Doch Eagle-Beagle ignorierte seinen kleinen Bruder einfach. „Gibt’s sonst noch jemanden, der Schiss bekommen hat? Jetzt oder nie. Wenn wir im Boot sind, gibt’s kein Zurück mehr.“ Ninie errötete zwar leicht, aber sie sagte trotzdem nicht, dass sie lieber hier bleiben würde. Eagle-Beagle zuckte nur mit den Schultern. „Dann los.“   Alle in einem Rettungsboot sitzend erreichten sie schließlich die Insel. „Wir haben maximal eineinhalb Stunden. Wenn wir bis dahin nicht wieder an Board sind fährt das Schiff ohne uns weiter.“, meinte Eagle-Beagle, als sie den Strand der Schrein-Insel betraten. Anni-Banani stöhnte genervt auf. „Na toll. Wir haben doch keinen Schimmer, wie lange wir auf Lissi werden warten müssen.“ Drohend hielt sie ihren Zeigefinger vor Lissis Gesicht. „Also lass dir eins gesagt sein: Wenn du in diesen eineinhalb Stunden nicht fertig mit deiner Prüfung bist, lassen wir dich alleine auf dieser gottverlassenen Insel zurück. Haben wir uns verstanden?“ „Nein, haben wir nicht.“ Susi zog Lissi am Arm weg von der aggressiven Prinzessin. „Wenn du zurück willst, bitte. Ich werde dich nicht daran hindern. Aber denk dran: Wir sind ein Team und folglich halten wir auch zusammen, egal was passiert!“ Nane-Sahne zeigte mit dem Daumen zurück zum Schiff. „Ich find’s ja echt süß, was du da gesagt hast und unterstütze das auch. Ehrlich. Aber… Irgendwie passen unsere beiden Zurückgebliebenen dann nicht wirklich in deine Vorstellung, oder?“ Susi seufzte. „Wir müssen Rücksicht auf Bennis Situation nehmen. Ich denke, ihr seht alle ein, dass wir ihn besser schonen sollten, bis wir wissen, warum er immer so schlimm zu träumen scheint und wie wir ihm helfen können.“ „Und Laura ist bei einer Prüfung des Herrschers über das Wasser gefährlich falsch aufgehoben.“, ergänzte Cärstchen. Nane-Sahne schaute ihn verwirrt an. „Wieso?“ „Sie kann nicht schwimmen.“, lautete seine Antwort. Anni-Banani lachte zwar kurz auf, behielt ihre gemeinen Gedanken aber glücklicherweise für sich. Um nicht noch mehr Zeit zu vertrödeln, machten sie sich endlich auf den Weg zum Mittelpunkt der Insel, wo der Schrein lag. Zwar gab es einen Pfad, der sie dorthin führte, doch der war so verwildert und kaum begehbar, dass man ihn nicht mehr Pfad nennen konnte. Lissi wollte gar nicht wissen, wie viel Zeit sie schon verplempert hatten, als sie das Gestrüpp endlich durchquert hatten und vor dem Schrein standen. Der Tempel bestand aus leuchtend blauen Steinen, sah aber sonst wie ein gewöhnlicher Tempel aus. Wie langweilig… Lissi musterte das riesige Steintor, das sich zum Glück magisch von alleine öffnete und ihr damit die Mühe ersparte, es aufzudrücken. Trotz ihrer Nervosität ging sie schnellen Schrittes in das Innere des Tempels. Die übrigen der Gruppe wurden noch nicht mal ausgesperrt. Sie konnten ihr problemlos folgen. Was Lissi direkt kritisch stimmte. Kaum war auch der letzte im Tempel, fiel die Tür laut krachend in die Angeln. Erschrocken drehten sich einige der Mädchen um und musterten die Dunkelheit, in die das Tor nun getaucht war. „Das gefällt mir ganz und gar nicht.“, hörte Lissi Anni-Banani reserviert murmeln. Nach kurzem Schweigen meinte Özi-dösi: „Ähm… Mir auch nicht. Leute, ich kann hier kein Feuer machen.“ „Meine Licht-Energie funktioniert auch nicht!“, stellte Nane-Sahne erschrocken fest. Cärstchen murmelte irgendeinen seltsam klingenden Zauberspruch und kurz darauf leuchtete über seiner Handfläche ein in allen erdenklichen Farben schillerndes Licht. „Magie schon, wenn auch bedenklich schwach.“ Lissi sah, wie Eagle-Beagle im fahlen Licht leicht die Stirn runzelte. „Das ist kein gutes Zeichen…“ Kaum war sein letztes Wort gesprochen, hörten sie ein dunkles Grollen. Unter ihren Füßen begann die Erde zu beben. Lissi suchte Halt am Arm ihrer Schwester, die selbst fast das Gleichgewicht verlor. Ein Blick nach unten, verriet ihr, dass sich durch das Beben Risse im Gestein des Tempels bildeten, die sich mit einem ohrenbetäubenden Krach spalteten und den Abgrund der Insel entblößten. Aus diesem Abgrund kamen gewaltige Wassermassen hochgeschossen. „Iiiiih, Carsten, mach was!“, hörte Lissi Öznur auf der anderen Seite der Kluft rufen, doch von Cärstchen kam keine Antwort. „Carsten?!“, rief nun auch Susi durch die Strahlen aus Wasser, die inzwischen wie ein starker Regen auf sie nieder schütteten. Immer noch an den Arm ihrer Schwester gekrallt und patschnass, folgte Lissi Susi durch den Wasserstrom, der ihnen inzwischen bis zu den Knien reichte, bis sich Susi plötzlich von ihr los riss. „Carsten, ist alles okay?“, fragte sie besorgt und half Cärstchen auf die Beine. „Na ja…“, antwortete er lediglich matt und hielt sich den Kopf, als habe er starke Kopfschmerzen. Auch Özi-dösi und der Rest der Gruppe hatte nun zu ihnen gefunden. „Hol uns hier raus, Carsten!“, schrie sie. „Das geht nicht!“, stieß Cärstchen zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. „Wie, ‚das geht nicht‘? Verdammt noch mal, ich hab keine Lust, hier zu ersaufen.“, herrschte Eagle-Beagle sein kleines Brüderchen an. Susi, die Cärstchen immer noch stützen musste, weil dieser seltsamer Weise völlig kraftlos war, warf Lissi einen wissenden Blick zu. „Lissi, das ist deine Prüfung. Der Dämon setzt Carsten absichtlich außer Kraft, damit er als erfahrener Magier nicht in der Lage ist, uns zu helfen.“ „Das heißt… Lissi ist diejenige, die uns hier raus schaffen muss?“, bemerkte Nane-Sahne leicht geschockt. Anni-Banani schnaubte genervt. „Na prima, können wir uns ja gleich jetzt umbringen.“ „Anne!“ Vorwurfsvoll schaute Susi sie durch die strömenden Wassermassen an, die den Wasserspiegel bereits auf Hüfthöhe stiegen ließen. Anni-Banani zuckte lediglich mit den Schultern. „Was denn? Ist doch so. Als wäre die in der Lage, uns hier lebend rauszuschaffen.“ „Das ist aber auch nicht gerade hilfreich, Anne.“, nahm Özi-dösi Lissi in Schutz und warf ihr einen aufmunternden Blick zu. Doch Lissi wich diesem beschämt aus. Zum ersten Mal wusste sie, dass Anne Recht hatte. Sie würde es nie und nimmer schaffen, diese ganze Gruppe irgendwie aus dem Tempel zu bekommen. Was könnte sie denn ausrichten? Für gute Ideen und Pläne waren Cärstchen und Susi am besten geeignet und für Stärke und Kampf Anni-Banani und Eagle-Beagle. Lissi war weder für das eine, noch für das andere zu gebrauchen. Sie war doch nichts weiter als das Girlie schlechthin, das jedem hübschen Jungen schöne Augen machte und noch nicht einmal in der Lage war, mit ihrem absoluten Traumtyp zusammenzukommen. Wie sollte sie also hier irgendwie von Nutzen sein können? Das Wasser stand inzwischen schon so hoch, dass die nicht so großen Gruppenmitglieder wie Lissi, Susi und Ninie es nicht mehr so leicht hatten, sich mit bloßem Herumstehen über Wasser zu halten. „Na ja… Immerhin hast du Recht, Carsten. Laura wäre hier wirklich falsch aufgehoben, wenn sie tatsächlich nicht schwimmen kann…“, erkannte Nane-Sahne das wohl einzig Positive an dieser Situation.   ~*~   Betrübt starrte Laura auf ein leeres Blatt in ihrem Skizzenblock, nicht wissend, was sie nun zeichnen sollte. Sie konnte Stunden in dieser Position verharren und es würde trotzdem zu keinem produktiven Ergebnis kommen… Bisher war es zum Glück nur eine halbe Stunde. Laura schämte sich, die anderen nicht begleitet zu haben. Inzwischen würden die auch garantiert vom Grund wissen, weshalb sie lieber auf dem Schiff bleiben wollte. Laura konnte nicht schwimmen. Sie wusste nicht wieso, aber irgendwie bekam sie immer sofort Panik und war somit nicht in der Lage, sich über Wasser zu halten. Das lag garantiert an ihrer beschissenen Ausdauer! Also am Karystma!!! So. Und deswegen saß sie nun hier, körperlich nicht in der Lage, die anderen zu unterstützen und vollkommen unkreativ, um sich zumindest mit einer Zeichnung ablenken zu können. Und an all dem war nur das Karystma schuld! Seufzend gab sie den Versuch auf, noch irgendetwas auf Papier zu bringen und verstaute den Zeichenblock wieder in ihrem Koffer, als ein unheimliches, tiefes Grollen sie hochschrecken ließ. Ein Blick in die Richtung, aus der das Geräusch kam, zeigte ihr den Verursacher. Riesige Wellen brachen am Strand der Schrein Insel und vergruben nicht nur den Sand sondern auch höher gewachsene Pflanzen unter sich und rissen sie samt Wurzel hinaus aufs Meer, um noch größeren Wellen den Platz frei zu machen, die vereinzelt bereits einige Palmen entwurzelten. Noch ehe Laura einen klaren Gedanken fassen konnte, rannte sie bereits das Schiffsdeck entlang, um Benni zu finden. Er wusste sicher, was sie machen mussten! Außer Atem erreichte sie ihn schließlich. Wie erwartet, hatte Benni das Geschehen auch mitbekommen und beobachtete mit seiner ausdruckslosen Miene, wie die Wellen über die Insel herfielen, auf der sich ihre Freunde befanden. Etwa zeitgleich mit Laura, kam auch ein älterer Mann in hochrangiger Dienstkleidung auf Benni zu. „Sie sind doch mit Herrn Eagle Bialek und den anderen jungen Leuten auf der Insel bekannt, oder?“, fragte er. Benni nickte als Antwort nur. Der Mann räusperte sich und klang dabei leicht verlegen. „Ich bin Bruno Weser, der Kapitän dieses Schiffes, sehr erfreut.“ Er reichte Benni die Hand. „Ryū no chi, Benedict.“, erwiderte er trocken. Die Hand des Kapitäns wanderte zu Laura weiter. „Ähm… Lenz, Laura.“, stellte sie sich hastig vor, überrascht, dass sie offensichtlich auch als Mitglied der Gruppe anerkannt wurde. Erneut räusperte sich der Kapitän. „Nun, ich bin froh, jedenfalls Sie hier antreffen zu können. Aufgrund der aktuellen Vorkommnisse muss ich das Schiff weiter von dieser Insel entfernen, um möglichen Gefahren zu entgehen. Da jedenfalls Sie noch hier sind, würde ich Sie gerne um Ihr Einverständnis bitten. Wir würden natürlich Ausschau nach Ihren Freunden halten und sie bei ihrer Rückkehr wieder auf’s Schiff bringen. Doch ich kann die Passagiere nicht solch einer Gefahr aussetzen.“ „Nie im Leben!“, platzte es Laura heraus. „Wir können sie nicht so einfach im Stich lassen!“ Flehend schaute sie Benni an. Dieser erwiderte kurz ihren Blick und meinte dann nur zum Kapitän: „Erfüllen Sie Ihre Pflichten.“ Während Laura die Kinnlade herunterfiel, stieß der Kapitän einen erleichterten Seufzer aus. „Ich danke Ihnen.“ „Unter der Bedingung, dass Sie eine maximale Entfernung von vier Meilen einhalten.“, ergänzte Benni mit seiner unheimlichen, autoritären Stimme, auf die der Kapitän nur noch ein „Natürlich.“, zu antworten wusste. Während er sich wieder aus dem Staub machte, überlegte Laura, ob sie Benni nur böse angucken, oder ihm gleich gegens Schienbein treten sollte. Sie entschied sich aber dann doch für die erste Möglichkeit. Als Benni mal wieder gekonnt ihren Blick ignorierte, meinte sie wütend: „Warum hast du dem Kerl das erlaubt? Wie hätten auf die Insel gemusst, nicht weg von ihr!“ „Das würde ihnen auch nicht helfen.“, meinte er trocken und betrachtete weiterhin die wachsenden Wellen, die die Insel bald auf den Grund des Meeres schicken würden. Laura schaute ihn entgeistert an. „Woher willst du das wissen?!?“ Doch Benni schwieg mal wieder nur. Empört schnaubte sie. „Du bist doch nur zu müde und hast eigentlich überhaupt keine Lust, um irgendetwas zu machen, stimmt’s? Na schön, mir soll’s Recht sein.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte energisch davon. Schließlich fand sie sich bei den Rettungsbooten wieder. Planlos überlegte Laura, wie man die Dinger wohl auf’s Wasser bekam und versuchte sich daran zu erinnern, wie Eagle das angestellt hatte. Tatsächlich schaffte sie es, so zu improvisieren, dass das Boot schließlich auf den Wellen schaukelte, auch wenn sie bei dem Aufprall pitschnass geworden war. Aber das Schaukeln des Bootes glich eher einer Achterbahnfahrt, wie Laura nun feststellen musste. Zwar hatte sie Glück gehabt, sich etwas von dem monströsen Schiff zu entfernen, um nicht zerquetscht zu werden, doch dafür trieb die stürmische Strömung sie jetzt immer weiter auf das Meer hinaus, zwischen das Schiff und die Insel. Verängstigt bemerkte Laura, dass ihr Vorhaben wohl doch keine so gute Idee war…   ~*~   So langsam bekam es Lissi tatsächlich mit der Panik zu tun. Den Boden unter den Füßen hatten sie schon längst verloren und das Wasser stieg immer weiter an, der Decke des Tempels entgegen. „Durch’s Tor können wir nicht verschwinden… Es lässt sich nicht öffnen.“, meinte Eagle-Beagle, der eben gerade wieder aufgetaucht war. „Egal was wir machen, es wird keine Wirkung zeigen.“, sinnierte Susi, die von allen noch am zuversichtlichsten schien. „Nur Lissi ist in der Lage, uns hier raus zu bekommen.“ Anni-Banani schnaubte. „Dann sollte die endlich mal die schon längst eingerosteten Rädchen in ihrem Hirn anwerfen.“ „Gemein sein hilft uns hier auch nicht weiter.“, meinte Nane-Sahne seufzend. Gleichgültig zuckte Anni-Banani mit den Schultern. „Auf gut Freund machen auch nicht.“ Özi-dösi warf Lissi einen flehenden Blick zu. „Lissi, bitte, lass dir was einfallen! Ich hab keine Lust kurz nach meiner bestandenen Prüfung gleich zu ertrinken!“ Inzwischen hatten sie bereits die Decke erreicht und damit den letzten Ort, an dem es noch Luft zum Atmen gab. Verzweifelt musterte Lissi die mit wellenartigen Schnörkeln verzierte Decke des Wassertempels. „Ich hab keine Ahnung!“, gestand sie schließlich. Sie warf ihrer Schwester und dem Rest der Gruppe einen entschuldigenden Blick zu. „Ich kann es einfach nicht… Es tut mir Leid…“ Cärstchen und Susanne wandten betrübt den Blick ab, Ninie schluchzte sogar etwas vor Angst. Eagle-Beagle seufzte. „Scheiße war’s…“ Ein weiteres Beben erschütterte den Tempel und die Wassermassen sosehr, dass sich Lissi den Kopf an der Tempeldecke anstieß. Sie hörte noch, wie Susanne verzweifelt ihren Namen rief, ehe sich das tosende Wasser zwischen sie drängte. Das letzte, an das Lissi sich erinnern konnte, war, wie das sonst so strahlende, blaue Wasser, was sie so sehr mochte, zu einem dunklen Abgrund wurde.   ~*~   Keuchend und hustend schüttelte Laura sich von der kalten Welle, die ihr entgegenschwappte und verschluckte sich am salzigen Wasser. Hustend hielt sie sich am Rand fest, als eine weitere Welle von der anderen Seite über ihr brach. Das Boot drohte bereits zu kentern, als aus dem Wasser zwei Hände auftauchten und es sicher festhielten. Laura wollte schon erleichtert aufatmen, als sie bemerkte, dass diese Hände leicht schuppig waren und Schwimmhäute hatten. „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte eine sanfte und glasklare Stimme. Befreit atmete Laura durch. Warum auch immer, diese Stimme hatte eine so beruhigende Wirkung, dass Laura beinahe vergaß, dass sie sich eben gerade noch in Lebensgefahr befunden hatte. „J-Ja, ich denke schon.“, antwortete sie. Die Besitzerin dieser wunderschönen Stimme tauchte auf. „Dann ist ja gut.“ Sie hatte ein feines, blass-grünes Gesicht, dessen blutrote Lippen Laura freundlich anlächelten. Neben ihr sah Laura eine golden glänzende Schwanzflosse aus dem Wasser ragen. Die Meerjungfrau warf ihr einen forschenden Blick aus ihren glitzernden, meeresblauen Augen zu. „Was treibt dich so allein hier raus?“ „Meine Freunde sind auf dieser Insel, die gerade unter geht!“, erklärte Laura aufgebracht und deutete zu der Insel. Doch diese war… verschwunden. Zitternd ließ sie ihren Arm sinken. Es war zu spät. Laura spürte, wie sich in ihren Augen Tränen sammelten. Sie konnte nicht glauben, dass sie tot waren. Aber die Insel war verschwunden! Sie befand sich nun auf dem Meeresgrund und mit ihr Carsten, Ariane, Janine, Susanne, Lissi, Öznur, Anne und Eagle. Es machte keinen Unterschied, mit wem sie nun gut und mit wem sie schlecht befreundet war… Sie würde keinen von ihnen mehr wiedersehen können. Die Meerjungfrau schien Lauras Gefühle aus ihrem Gesicht gelesen zu haben. „Es tut mir Leid… Kann ich dir irgendwie helfen?“ Schluchzend schüttelte Laura den Kopf. „Wie denn?“ Die Meerjungfrau streckte ihr die leicht schuppige Hand mit den Schwimmhäuten entgegen. „Komm mit, ich kann dich zu ihnen bringen. Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren!“ Die Worte der Meerjungfrau klangen vielversprechend und Laura wusste, dass noch ein kleiner Funken Hoffnung bestand. Vielleicht waren sie noch am Leben… Inzwischen hatte sich das Meer wieder völlig beruhigt und das Boot schaukelte so gemütlich auf dem Wasser, dass es nach diesem Sturm den Anschein hatte als würde es sich gar nicht mehr bewegen. Zögernd ergriff Laura die Hand der Meerjungfrau. „Aber ich- ich kann nicht schwimmen!“, fiel ihr peinlicher Weise wieder ein. Die Meerjungfrau warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu. „Du musst nicht schwimmen können, dafür hast du ja mich.“ Stimmt. Laura nickte zuversichtlich und holte tief Luft. Nahezu schmerzhaft zog die Meerjungfrau sie aus dem Boot in das dunkle, eiskalte Wasser. Als sie sich schließlich von diesem Kälteschock erholt hatte, öffnete Laura ihre Augen, die durch das Salzwasser zu brennen anfingen. Als ihre Sicht klarer wurde, erkannte sie die Meerjungfrau, die sie immer tiefer in den schwarzen Ozean zog. Als diese einen Blick über ihre ebenso schuppige Schulter warf, lächelte sie Laura an. Doch dieses Lächeln wirkte Unterwasser auf einmal nicht mehr so tröstend und beruhigend. Es war eher angsteinflößend… „Keine Angst, du bist gleich bei deinen Freunden.“ … Etwas stimmte nicht. Instinktiv versuchte Laura, sich loszureißen. Doch die Hände der Meerjungfrau hielten ihren Arm so fest, dass sich ihre Klauen in Lauras Fleisch schnitten. Warmes rotes Blut sickerte hinaus in eiskaltes Wasser. Ihr Schmerzensschrei erstickte im Wasser und füllte ihre Lungen mit der grausamen Flüssigkeit. Die Meerjungfrau zog Laura zu sich und legte ihre zweite Klaue um ihren Hals. Laura klammerte sich an diese Klaue, versuchte sie kraftlos von sich zu reißen. Sie konnte nicht atmen. Sie bekam keine Luft! „Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn du dich nicht wehrst, tut es auch nicht so weh.“ Die Meerjungfrau riss ihr gewaltiges Maul auf. Laura konnte mehrere Reihen spitzer Fangzähne erkennen, die sich auf ihr Gesicht zubewegten. Hilfe!!!, schrie es in Laura, doch jegliche Befreiungsversuche waren vergebens. Noch während sie sich verzweifelt versuchte zu wehren, kniff sie die Augen zusammen und wartete auf den tödlichen Schmerz. Das war es. Sie würde noch nicht einmal ertrinken. Genauso wenig würde sie ersticken, sondern- Auf einmal lockerten sich die Griffe der Meerjungfrau. Automatisch versuchte Laura einzuatmen, füllte ihre Lungen damit allerdings nur mit noch mehr Wasser. Doch da spürte sie einen Arm, der sie fest unter der Schulter packte und wieder nach oben zog. An der Oberfläche angekommen schnappte Laura verzweifelt nach Luft, doch das Wasser in ihren Lungen sorgte für einen quälenden Husten. Während sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen, spürte Laura, wie sie auf einen zwar schaukelnden, aber verhältnismäßig festen Boden kam. In ihren Husten mischte sich ein Schluchzen, das nur dazu führte, dass Lauras Husten umso stärker wurde. Sie hörte durch das Wasser in ihren Ohren nur gedämpft, wie jemand seufzte und dann eine Hand auf ihre Schulter legte. Vermutlich um sie zu beruhigen und auch zu stützen, da Laura am ganzen Körper zitterte. Erst jetzt übermannte sie die ganze Angst und immer noch hatte Laura diese Schreckensgestalt vor Augen. „Sie wollte mich auffressen!“, schrie sie ihre Angst heraus. „Sie wollte mir überhaupt nicht helfen, sie wollte mich auffressen!!!“ Ihr Schrei erstickte in einem weiteren Gemisch aus Husten und Schluchzen und zusammen mit Wassertropfen liefen Tränen über ihre Wangen. Allein die Vorstellung, etwas würde einen bei lebendigem Leibe verschlingen wollen, war schon furchteinflößend. Doch dieses Etwas vor sich zu sehen, war eine ganz andere Erfahrung. Eine viel schlimmere. Laura merkte, wie jemand sie zögernd in die Arme schloss. Zitternd krallte sie sich am T-Shirt dieser Person fest und vergrub ihr Gesicht in ihrer Brust, in der Angst, die Meerjungfrau würde zurückkommen. Die Panik verstärkte ihr Schluchzen und Husten umso mehr. „Laura… Es ist vorbei, du brauchst keine Angst mehr zu haben.“, hörte sie Benni sagen. Allein das erste Wort hätte genügt, um sie zu beruhigen. Langsam ebbte ihr Schluchzen ab, der Husten war zwar nach wie vor schmerzhaft, doch beruhigte sich allmählich. Zitternd atmete sie den sanften Duft von ihrem ebenso durchnässten Retter ein.   ~*~   Blinzelnd öffnete Lissi ihre Augen. Sie hatte fürchterliche Kopfschmerzen, noch nicht einmal ein Kater konnte es damit aufnehmen. Doch ihre Sicht war klar, wie sie überrascht feststellte. Forschend schaute sie sich um, soweit das bei dieser Dunkelheit überhaupt möglich war. Sie erhaschte einen Blick auf einige, reglose Körper, die im Wasser umhertrieben. Alleine dieser Moment löste in Lissi einen gewaltigen Schrecken aus. So schnell es ihr halb eingefrorener Körper zuließ, tauchte sie zu den anderen, bis sie bei ihrer Schwester angekommen war. Susi, Susi wach auf!, schrie Lissi sie in ihren Gedanken an. Schluchzend drückte sie Susis leblosen Körper an sich. Du darfst nicht tot sein! Du bist doch meine Schwester, du kannst nicht tot sein!!! Lissi hatte keine Ahnung, wie man einen Puls fühlen konnte. In den Filmen machten sie es immer irgendwo beim Handgelenk, aber Lissi wollte nicht verzweifelt nach einem Herzschlag suchen, wenn sie ihn vielleicht nie würde finden können. Erneut schaute sie sich im dunklen Tempel um. Außer ihr war offensichtlich keiner bei Bewusstsein. Seltsam…, überlegte Lissi. Es gibt doch garantiert Leute, die viel länger die Luft anhalten können, als ich. In diesem Moment fiel Lissi auf, dass es ihr überhaupt nicht an Sauerstoff zu fehlen schien. Im Gegenteil, sie fühlte sich eigentlich ganz okay, bis auf diese bescheuerten Kopfschmerzen. Cool, ich kann Unterwasser atmen!, folgerte Lissi begeistert. Hätte sie das nur früher gewusst! Dann hätte sie anstelle von Eagle-Beagle runter zur Tür schwimmen können und hätte versucht, sie zu öffnen!!! Jetzt war es zu spät! Sie lebte noch, weil sie Unterwasser atmen konnte und die anderen waren alle tot, weil sie das nicht konnten und weil Lissi einfach zu blöd war, sie zu retten!!! Auch wenn man Unterwasser nicht wirklich weinen konnte, wusste Lissi, dass sie eben genau das tat. Sie war schuld daran, dass nun alle tot waren. Sie alleine! Anni-Bananis Zweifel waren berechtigt gewesen! Und dabei hatte sie doch kurz davor noch regelrecht aufmunternde Worte von Bennlèy gehört… Er lag wohl doch falsch, als er meinte, Lissi sei schlauer als sie es den anderen zeigte. Traurig musterte sie ihre leblose Schwester, als diese leicht schmerzverzerrt den Mund öffnete, als wolle sie Luft holen oder irgendetwas sagen. Ungläubig musterte Lissi Susi. War sie etwa doch noch am Leben?!? Eine leichte Hoffnungswelle überkam Lissi. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren… Vielleicht waren die anderen ja auch noch am Leben! Sie musste sie irgendwie hier rausbekommen!!! Hastig schaute sich Lissi in dem Tempel um, fluchend, dass sie nicht auch noch die Fähigkeit hatte, im Dunklen sehen zu können. Sie kam zu dem Entschluss, es erst einmal wie Eagle-Beagle zu versuchen und die Tempeltür zu öffnen. So schwer es Lissi auch fiel, sie musste ihre Schwester loslassen, um so schnell wie möglich zum Tor zu tauchen. Mit aller Kraft zog und drückte sie dran, doch das Tor ließ sich in keine der beiden Richtungen öffnen. Da kam Lissi wie ein Gedankenblitz eine weitere Idee durch den Kopf geschossen. Susi hatte ja gemeint, dass nur Lissi in der Lage wäre, sie hier irgendwie raus zu bekommen. Mit Kraft hätten Eagle-Beagle oder Anni-Banani das ja auch schaffen können, also musste es etwas sein, dass sie nicht besaßen. Und überall um Lissi herum war Wasser! Das Element, das ihr Dämon und folglich auch sie beherrschte! Ein zuversichtliches Lächeln huschte über Lissis Lippen. Die Idee schien tatsächlich nicht so bescheuert. Mit aller Kraft ließ sie die gewaltigen Wassermassen, die sie und ihre Freunde fast umbrachten, gegen die Decke des Tempels drücken. Laut krachend zerbarst die Decke schließlich in kleine Steinchen und das Wasser zog Lissi und die anderen in atemberaubender Geschwindigkeit zur Oberfläche. Erleichtert atmete Lissi wieder die normale Luft ein. Sie hatte es geschafft!!! In nicht allzu weiter Entfernung sah sie bereits ein Rettungsboot auf dem Wasser! Sicherlich waren das Bennlèy und Lauch, die sie nun wieder zurück zum Schiff bringen würden. Begeistert tastete sie auf ihrem Kopf herum, doch da waren nirgends süße Wolfsöhrchen und ein Blick nach hinten verriet ihr, dass sie auch kein Wolfsschwänzchen hatte. Lissi war verwirrt. Sie hatte die Prüfung doch bestanden, oder? Also warum sah sie dann nicht irgendwie anders aus? Mehr wie ein Wolf und total sexy?!? Verwundert bemerkte sie einen Schatten unter sich vorbei huschen, kurz darauf zerrte sie irgendetwas wieder nach unten. Erschrocken schrie Lissi auf und verschluckte sich dabei. Als sich ihre Augen und Lungen wieder an das Wasser gewöhnt hatten, schaute Lissi direkt in die zornig funkelnden Augen einer Fischfrau. „Sag, warst du es?!?“, schrie sie Lissi an. „Warst du es, die meine Schwester umgebracht hat?!?“ „Hä?“, äußerte Lissi nur, freudig überrascht, dass sie sogar in der Lage war, Unterwasser zu reden. Die Fischfrau packte Lissi mit ihren schuppigen Händen und schüttelte sie. „Du warst doch auf dieser untergehenden Insel! Meine Schwester hat den Krach gehört und wollte nachsehen, ob sie dort vielleicht etwas zu essen finden würde! Als sie nach einiger Zeit nicht zurückkam, bin ich mit meinen weiteren Schwestern los, um sie zu suchen und wo fanden wir sie?!?“ Auch wenn das nach einer rhetorischen Frage klang, zuckte Lissi mit den Schultern. „Keine Ahnung, wo?“ „Auf dem Meeresgrund!“, brüllte die Fischfrau sie aufgebracht an. „Ein paar Meter entfernt von ihrem Kopf!!!“ Lissi wollte irgendwas erwidern, brachte aber nur ein „Oh.“ zustande. „Gib’s zu! Du und deine Freunde habt sie getötet!“, zischte die Fischfrau. Panisch schüttelte Lissi den Kopf. „Nein, haben wir nicht, bitte glaub mir! Keine Ahnung, wer das war! Wir waren bis eben noch im Tempel der Insel eingesperrt!“ Die Fischfrau stieß Lissi verärgert zurück. „Du siehst nicht so aus, als würdest du lügen… Aber das ist mir gleich. Meine Schwestern und ich sterben vor Hunger. Da kommen du und deine Freunde uns gerade recht.“ Lissi brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, was die grünhaarige Fischfrau meinte. Kostbare Sekunden, in denen ein ganzer Schwarm Fischfrauen vom dunklen Meeresgrund auftauchte und auf Lissi und die anderen zuschoss. Als Lissi es endlich verstanden hatte, hatten sie sie schon fast erreicht. „Was? Äh nein, halt, ihr könnt uns nicht essen!!!“, rief sie verzweifelt. Zerknirscht bis Lissi die Zähne zusammen. Sie hatte ihre Schwester und ihre Freunde doch nicht vor dem Ertrinken gerettet, nur, damit sie jetzt gefressen wurden! „Wehe ihr krümmt ihnen auch nur ein Haar!“, brüllte Lissi und ließ den Fischfrauen-Schwarm von einer so starken Strömung erfassen, dass sie gar nicht mehr vorankamen. Lissi atmete erleichtert auf, als die Fischfrauen endlich gecheckt hatten, dass sie Lissis Wasser-Energie nicht unterschätzen sollten und die Fliege machten. Sie wollte sich gerade wieder daran machen, aufzutauchen, als sie selbst von einer mächtigen Strömung erfasst wurde und zurück in die Tiefe gezogen wurde.   „Aua, aua, aua!“ Lissi rieb sich den schmerzenden Kopf. Jetzt tat er noch mehr weh als im Tempel. Verwirrt schaute sie sich um. Sie befand sich in völliger Dunkelheit. Man könnte sagen, in einem Nichts. „Äh… Hallo?“, rief Lissi in die Finsternis. Hinter ihr hörte sie ein tiefes, furchteinflößendes Knurren. Erschrocken drehte sich Lissi um. Da stand ein riesiger Wolf, mit blauem Fell, umgeben von einem strahlenden, blauen Leuchten. „Äh… Hi! Wer bist du?“, fragte Lissi vorsichtig nach, nachdem sie ihn versucht freundlich gegrüßt hatte. Der blaue Wolf knurrte erneut. „Das müsste man eigentlich sehen.“ Lissi zuckte mit den Schultern. „Ein blauer Wolf?“ Sie stutzte. „Moment… Der Blaue Wolf! Mein Dämon!“ „Nicht dein Dämon, aber sonst richtig.“, erwiderte der riesige Blaue Wolf und legte sich auf die Vorderpfoten, um Lissi aus seinen meerblauen Augen kritisch zu mustern. „Ähm… Gibst du mir jetzt die Dämonenform?“, fragte Lissi freudig nach. „Um ehrlich zu sein weiß ich es noch nicht.“ „Was!?“ Lissi schaute ihn verwirrt an. „Aber ich hab die anderen doch gerettet! Ich hab die Prüfung bestanden! Warum willst du mir dann also nicht die Dämonenform geben?!?“ Der Blaue Wolf seufzte. „Stimmt schon, du hast sie gerettet. Aber erst dann, als es eigentlich schon zu spät war. Der Sinn deiner Prüfung war nicht nur, sie zu retten. Du solltest sie aus ihrer misslichen Lage führen. Und das geht nicht, wenn sie bereits bewusstlos sind. Abgesehen davon…“, wieder knurrte der Blaue Wolf und klang ziemlich verärgert, „Abgesehen davon hättest du auch nicht gleich die ganze Decke zerstören müssen. Die Insel auftauchen zu lassen ist mir ein leichtes, aber den Herrscher des Wassers einen Tempel aus Stein reparieren zu lassen ist unsagbar kompliziert.“ Lissi stöhnte auf. Na toll, sie war durchgefallen. Beschämt wich sie dem vorwurfsvollen Blick des Dämons aus. „Also… Wann darf ich die Prüfung wiederholen?“, fragte sie, als sei das eine gewöhnliche Klassenarbeit. In den blauen Augen des Wolfes blitzte für den Bruchteil einer Sekunde ein Funken Mitleid auf. „Ich habe nicht gesagt, dass du versagt hast.“, erwiderte er, etwas sanfter. Die Hoffnung kehrte zu Lissi zurück. „Ich habe gesagt, dass du meine Erwartungen nicht erfüllt hast.“, ergänzte er, wieder strenger. „Also heißt das, ich habe tatsächlich nicht bestanden.“, bemerkte Lissi, nun doch wieder enttäuscht. Enttäuscht von sich selbst, es mal wieder verkackt zu haben. Dabei müsste sie das doch inzwischen eigentlich schon gewöhnt sein. Dass sie eine Enttäuschung war. Das blaue Strahlen um den Wolf wurde stärker, sodass sich Lissi die Hand vor die Augen halten musste. Als es sich wieder normalisierte, war der Wolf zu einem Mann mit einem sehr attraktiven Körperbau geworden, dessen schulterlange, blaue Haare zu einem knappen Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Doch er schaute Lissi immer noch aus denselben meerblauen Augen an. „Du hast es zwar nicht geschafft, den eigentlichen Sinn der Prüfung zu erfüllen, doch durch deine Handlungen hast du gezeigt, dass du durchaus in der Lage bist, dein Rudel zu schützen. Selbst, als die eigentliche Prüfung bereits vorbei war.“ Der menschliche Blaue Wolf schien einige Zeit zu überlegen, bis er schließlich seufzend meinte: „Ich habe dich nicht grundlos als Dämonenbesitzerin auserwählt, Mädchen. In dir steckt mehr als du es den anderen oder dir selbst zeigen möchtest. Viel mehr als das, was die Menschen von dir zu wissen glauben. Lerne, dich selbst wiederzufinden. Lerne es denen zuliebe, die dir wichtig sind. Lerne es Damon zuliebe. Diese Welt braucht dich.“ Er packte Lissi an den Schultern und bei einem einzigen Kuss auf die Stirn spürte sie, wie Unmengen von Energie in ihren Körper strömten. Kapitel 28: Mut zum Opfern --------------------------    Mut zum Opfern       Mühsam öffnete Susanne ihre Augen. Sie war völlig erschöpft und ihre Lunge fühlte sich an als bestünde sie aus unsagbar schweren Backsteinen. Während ihre Sinne zu ihr zurückkehrten, begann sie, sich vorsichtig aufzurichten. „Susanne, wie geht es dir?“, hörte sie gedämpft, wie Janine sie fragte und ihr beim Aufsetzen half. Susanne hustete, in der Hoffnung, das Wasser würde dadurch ihre Lunge wieder verlassen. „Es ging mir zwar schon besser, aber den Umständen entsprechend gut, denke ich.“ Sie schaute sich um. Ihr Untersatz schwankte leicht, was daran lag, dass sie sich zusammen mit dem Rest auf einem Rettungsboot befand. Scheinbar waren es Benni und Laura gewesen, die sie und die anderen aus dem Wasser gefischt hatten. Susanne warf den beiden ein dankbares Lächeln zu, als ihr verwundert die besorgniserregende Stille auffiel. Erneut blickte sie in die Runde. Tatsächlich waren inzwischen alle bei Bewusstsein, doch niemand sagte auch nur ein Wort. Sie warfen sich nur bedrückte Blicke zu oder sahen hinaus auf das Meer, als würden sie noch irgendetwas oder irgendwen erwarten. Und Susanne wusste sofort, wer noch fehlte. Wer für diese unheimliche Stille verantwortlich war. „Wo ist Lissi?“, fragte sie Janine, mit einer unwohlen Ahnung, dass sie die Antwort gar nicht hören wollte. Diese schüttelte mitleidig den Kopf. Bitte nicht… Die Sorge wandelte sich rasend schnell in Angst. Hilfesuchend warf Susanne einen Blick auf Benni. Er saß bei Carsten und Laura und beobachtete schweigend, wie sich sein bester Freund um die völlig aufgelöste Laura kümmerte. Susanne war zwar daran interessiert, was wohl passiert war, doch Laura saß immerhin lebend im Rettungsboot. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die sich vermutlich noch irgendwo auf dem Meeresgrund befand. Schlimmstenfalls sogar begraben von den Trümmern des untergegangenen Tempels. Dennoch tröstete sie sich mit der Tatsache, dass Benni nichts unternahm, um ihr zu helfen. Das müsste zumindest bedeuten, dass sich Lissi nicht in Lebensgefahr befand! „Es ist schon seltsam…“, sinnierte Anne plötzlich, „Immerhin scheint Lissi die einzige zu sein, die es nicht rausgeschafft hat.“ „Ich geh um ehrlich zu sein davon aus, dass es sogar sie war, die uns gerettet hat.“, meinte Ariane und seufzte bedrückt. Anne schüttelte den Kopf und gab ihr schlangenartiges Zischen von sich. „Woher willst du das wissen?“ „Und woher willst du wissen, dass Lissi es nicht war?“, konterte Susanne und ärgerte sich insgeheim über Annes fehlendes Vertrauen. „Immerhin ist sie die einzige von uns, die fehlt. Vielleicht ist ihr ja irgendetwas zugestoßen, als sie uns gerettet hat oder sie befindet sich wieder im zerstörten Tempel, weil sie ihre Prüfung tatsächlich bestanden hat.“ Susanne hoffte natürlich zweiteres, doch jede Minute, die verstrich, ließ ihre Hoffnung immer weiter sinken. Schließlich hielten ihre Nerven es nicht mehr aus. Hilfesuchend wandte sie sich an den einzigen, der noch am ehesten wissen könnte, wie es um Lissi stand. An Benni. „Kannst du denn nichts machen?!“ Wie sonst auch die Ruhe in Person, schüttelte Benni den Kopf. „Das ist nicht von Nöten.“ Kurz darauf tauchte Lissi einige Meter entfernt vom Rettungsboot auf, erblickte sofort den Rest der Gruppe und winkte ihnen lachend zu, ehe sie zu ihnen schwamm. Susanne fiel ein Stein vom Herzen und nachdem Carsten und Ariane Lissi in das Innere des Bootes geholfen hatten, konnte sie nicht an sich halten und fiel ihrer Schwester überglücklich in die Arme. „Dir geht es gut, so ein Glück!“ „Klar geht es mir gut Susi, was hast du denn anderes erwartet?“, erwiderte Lissi zufrieden, doch Susanne merkte, dass auch sie erleichtert war alles hinter sich zu haben. „Du hast doch tatsächlich die Prüfung bestanden, hätte ich nicht erwartet. Glückwunsch.“, meinte Anne und klang sogar verhältnismäßig freundlich. Susanne musterte ihre Schwester nun genauer. Sie hatte wie Öznur Ohren auf dem Kopf bekommen, nur dass ihre schwarz und die eines Wolfes waren, sowie der schwarze Wolfsschwanz. Ihre blau-grünen Augen gingen nach innen in ein reines Meeresblau über und endeten schließlich in der schlitzartigen Dämonenpupille. Lissi warf Anne ihr unbeschwertes Lächeln zu, als hätte sie den größten Teil des Inhaltes überhört. „Überrascht?“ „Ja.“, antwortete Anne wahrheitsgemäß. „Okay Leute, es reicht. Lissi, versteck jetzt endlich deine wahre Gestalt, damit wir zurück aufs Schiff können.“, schritt Öznur schlichtend ein, bevor es zu irgendwelchen überflüssigen Reibereien kam. Lissi seufzte. „Ach Özi-dösi, ist das wirklich nötig? Ich hab meine Dämoninnenform gerade erst bekommen! Ich will sie nicht gleich wieder verstecken müssen.“ „Ja, ist es und jetzt hör auf zu meckern.“, zischte Anne gereizt. So machten sie sich kurz darauf endlich auf den Weg zurück zum Schiff, das erfreulicher Weise noch gewartet hatte. Die Fahrt nach Kara verging angenehm ruhig, so wie die erste Etappe bis zur Schrein-Insel. Nicht zuletzt wieder aus dem Grund, weil sich die ‚Raufbolde‘ ihrer Gruppe problemlos aus dem Weg gehen konnten und sich erst wieder bei ihrer Ankunft in dem Hafen von Kara gegenüberstehen mussten. Inzwischen war die Sonne bereits dabei hinter den Hochhäusern ihrer Heimatstadt zu verschwinden, daher schlug Carsten vor: „Wir sollten uns ein Nachtlager suchen und erst morgen zu deinem Schrein gehen. Wäre das okay?“ Susanne nickte als Antwort. Sie hatte kein Problem damit, noch etwas auf ihre Prüfung zu warten und nach dem heutigen Stress auf der Insel konnte sie den Schlaf gut gebrauchen. „Wohnt ihr nicht in Kara?“, erkundigte sich Anne und wieder nickte Susanne. „Aber wir können doch nicht einfach so unangekündigt reinplatzen und das ganze Haus belagern.“, widersprach Janine. Susanne lächelte ihre Zimmerkameradin aufmunternd an. „Du musst dir keine Sorgen um den Platz machen. Unser Vater ist der Bürgermeister von Kara und entsprechend leben wir auch etwas wohlhabender.“, erklärte sie und hoffte, nicht wie eine Angeberin zu klingen. Nur weil die Eltern einen hohen Rang hatten, hieß das noch lange nicht, dass sie das Recht dazu hatte, sich überheblich oder eingebildet zu verhalten, wie diese Lisa Rapuko, die wohl nur Wert auf den sozialen Status legte. „Ach Süße, muss das wirklich sein? Ich hab keine Lust.“, trällerte Lissi. Anne winkte ab. „Ja, das muss sein, also fang nicht schon wieder an zu nerven.“ „Ähm nein, also… Das muss nicht sein… Ich meine, wir…“ Susanne wusste nicht so recht, wie sie die anderen nun doch noch umstimmen könnte, die ihr einen verwirrten Blick zuwarfen. „Wieso nicht?“, fragte Öznur irritiert. Susanne seufzte und suchte nach Worten, die die Situation erklären könnten. Natürlich wusste sie, dass Lissi ihren Eltern am liebsten aus dem Weg ging. Immerhin dachten diese nur Schlechtes von ihr. Susanne fühlte sich deswegen miserabel. Sie wurde den Gedanken einfach nicht los, dass auch sie einen Teil zu Lissis Unglück beigetragen hatte. Schon alleine durch ihre Existenz. „Wir haben kein besonders gutes Verhältnis zu unseren Eltern…“, meinte sie schließlich. Öznur seufzte. „Da kann man nichts machen… Fällt euch eine andere Möglichkeit ein?“ „Wie wär’s mit Zelten?“, schlug Ariane begeistert vor. Susanne überlegte kurz. „Am Strand südlich von hier gibt es einen Campingplatz. Dort kann man soweit ich weiß auch Zelte ausleihen.“ „Au ja! Campen wir!!!“, rief Ariane begeistert und schaute fragend in die Gruppe, um herauszufinden, wer von dieser Idee genauso begeistert war wie sie selbst. So wirklich dagegen schien keiner zu sein, immerhin war es für Ende März schon sehr warm außen. Dennoch sah sie, dass Öznur und Anne doch lieber in einem warmen und kuscheligen Bett schlafen wollten, auch wenn sie sich nicht beschwerten. So war die Sache für Ariane auch schnell entschieden. „Also auf zum Campingplatz!“ Da der Campingplatz nicht so weit entfernt war, kamen sie zu dem Entschluss, einfach an der Küste entlang zu spazieren und etwa eine Stunde später erreichten sie ihr Ziel. Nachdem sich Eagle um die Anmeldung für eine Nacht gekümmert hatte, standen sie auch schon vor dem nächsten Problem: Der Zeltaufteilung. Eigentlich wäre das nicht weiter schwierig, denn sie hatten vier Zelte, in welche immer maximal drei Leute passten. Das Problem bestand eher darin, dass sie gezwungener Maßen Eagle zu Benni und Carsten in das Zelt stecken mussten. Zwar beschwerten sie sich nicht, aber es war mehr als deutlich, dass besonders Eagle davon überhaupt nicht begeistert war. Immerhin zeigte er sich als Gentleman, indem er den Mädchen beim Aufbauen ihrer Zelte half, von denen eigentlich nur Ariane und Anne alleine zurechtgekommen wären. „Hey Carsten, kannst du das Zelt nicht auch wie in Harry Potter so verzaubern, dass es innen viel größer ist, als es von außen zu sein scheint?“, fragte Öznur plötzlich Carsten lachte überrascht auf. „Wie kommst du denn auf die Idee?“ „Keine Ahnung, einfach so. Vielleicht, weil wir dann mehr Platz hätten?“, erwiderte Öznur sarkastisch. „Oh ja, das wär toll!!! Super Idee, Özi-dösi!“, rief Lissi begeistert. Lächelnd schüttelte Carsten den Kopf. „Im Prinzip müsste es gehen.“ „Mach schon, mach schon, mach schon!!!“, drängten Lissi und Öznur, was allerdings nicht gerade hilfreich war, wenn man sich gerade auf einen Zauberspruch konzentrieren wollte. Schließlich wandte sich Carsten einem der Zelte zu und sprach mehrere Sätze auf dryadisch. Als er geendet hatte, schauten Öznur und Lissi ihn immer noch erwartungsvoll an. „Und?“ „Geht rein und schaut nach, ob es funktioniert hat.“, meinte Carsten schmunzelnd. Die beiden verschwanden im Zelt, kamen allerdings kurz darauf wieder rausgeschossen und fielen Carsten mit solcher Wucht um den Hals, dass sie ihn zu Boden warfen. „Es hat funktioniert! Das ist der Wahnsinn, wie in Harry Potter!“, rief Öznur begeistert. Folglich musste Carsten diesen Zauber an jedem Zelt anwenden. „Wirkt dieser Zauber eigentlich auch nur bis Mitternacht, so wie die Kostüme, die du mal für Laura und Ninie gezaubert hattest? Ich wär nur gerne vorgewarnt, wenn ich morgen aufwache und plötzlich total an Anne und unsere Koffer gequetscht bin.“, erkundigte sich Öznur misstrauisch. Carsten schüttelte lachend den Kopf. „Nein, erst wenn ihr das Zelt zusammenbaut verfliegt die Wirkung. Wenn ihr es also schafft, es nicht zum Einsturz zu bringen, passiert euch nichts.“ Ariane winkte ab. „Wird schon nicht passieren. Machst du jetzt was zu essen?“ „Was wollt ihr denn sonst noch von mir?“, fragte Carsten stöhnend. Natürlich konnte sich Lissi ihren Kommentar nicht verkneifen. „Einen Kuss?“ Schmollend verschränkte Ariane die Arme vor der Brust. „Auf dem Schiff haben wir nichts gegessen… Ich hab Hunger!“ Seufzend gab sich Carsten geschlagen. „Na gut, mal sehen, was sich machen lässt.“ „Und der Kuss???“ Lissi ließ nicht locker. „Nein!“ So genervt Carstens Stimme auch klang, seine Wangen bekamen trotzdem einen rot-stich. Eagle lachte amüsiert auf. „Komm schon, etwas Erfahrung bei den Frauen würde dir guttun. Sehr begehrt bist du ja sonst nicht gerade.“ Carsten wollte irgendetwas erwidern, doch er hielt in der Bewegung inne und als ihm nichts einfiel meinte er nur: „Ich geh einkaufen.“ und verließ den Campingplatz. Anne machte sich gar nicht erst die Mühe, ihr Kichern zu verkneifen. „Sehr schlagfertig.“ „Halt die Klappe!!!“, brüllte Laura sie an. Susanne erschrak und sogar Anne hörte auf zu lachen. Doch ihr schenkte sie keine Beachtung, stattdessen wandte sie sich an Eagle. „Warum musst du immer so gemein zu Carsten sein? Was hat er dir getan?!?“ Eagle verdrehte die Augen. „Komm schon, das war doch nicht gemein.“ Laura ballte die Hände zu Fäusten und funkelte ihn wütend an. „Und wie gemein das war! Du hast ihn richtig verletzt!!!“ Genervt stöhnte Eagle auf. „Das war nur ein kleiner Scherz.“ „Ein kleiner Scherz?!?“ „Komm, Laura. Lass es einfach gut sein, ja?“ Sanft schob Öznur Laura zur Seite. „Aber Eagle, tu uns doch einen Gefallen und halte dich mit deinen ‚Scherzen‘ etwas zurück. Wir können es nicht gebrauchen, wenn sie der Auslöser eines Streites werden.“ Seufzend gab Eagle schließlich nach.   ~*~   Bedrückt musterte Laura, wie Carsten das Abendessen über dem Lagerfeuer zubereitete, das sie vor kurzem erst geschürt hatten. Er war besorgniserregend ruhig geworden, seit er vom Einkaufen zurückgekommen war. Und das war allein Eagles schuld! Den Gesprächen beim Essen hörte Laura nur mit halbem Ohr zu. Meistens ging es um die Dämonenformprüfungen und da konnte sie sowieso nicht wirklich mitreden, da sie ihre Prüfung leider noch vor sich hatte. „Eagle, worum ging es eigentlich bei deiner Prüfung?“, erkundigte sich Öznur neugierig. Der Angesprochene kratzte sich am Hinterkopf und schien leicht verlegen. „Ich musste keine Prüfung absolvieren.“ „Was?!? Echt nicht? Wir müssen uns hier abrackern, um die Prüfung zu bestehen und du hast deine Dämonenform einfach geschenkt bekommen? So ganz fair ist das ja nicht gerade.“, beschwerte sich Anne empört. Eagle schnaubte bedrückt und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. „So ganz ‚geschenkt‘ kann man das auch nun wieder nicht nennen. Ich war noch nicht mal zwei Jahre alt und wenige Stunden zuvor war meine Mutter gestorben.“ Noch ehe irgendjemand dazu kam, sein Beileid auszusprechen, wandte sich Eagle vorwurfsvoll an Carsten. „Warum zum Teufel noch mal ist kein Fleisch in der Suppe?!? Das ist widerlich!“ Der Funken Mitleid, den Laura vor kurzem noch für ihn empfunden hatte, war schon wieder verflogen. „Ganz einfach aus dem Grund, weil Benni sonst gar nichts essen würde.“, erklärte Carsten und klang beeindruckend ruhig dabei. „Abgesehen davon isst du sowieso zu viel Fleisch.“ Eagle schnaubte und holte sich eine Zigarette aus der Jackentasche. „Deiner Meinung nach ist sowieso alles, was ich mache ungesund.“ „Du kannst auch nicht gerade behaupten, dass Rauchen gesund sei.“, erwiderte Susanne, doch Eagle zündete einfach seine Zigarette an. Ariane zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Solange Carsten kocht ist es eigentlich egal, was er macht. Lecker schmeckt es trotzdem immer.“ Bei Arianes Lob errötete Carsten. „Ähm… danke…“ Verlegen richtete er seinen Blick auf den Boden, was ihn mal wieder total putzig wirken ließ. Eigentlich war es ein schöner Abend, den sie zusammen am Lagerfeuer verbrachten. Obwohl Eagle, Öznur und Lissi, als die Sonne komplett verschwunden war und den Sternen den Himmel überließ, sich ein Wetttrinken lieferten. Als Carsten es schließlich mit Arianes Hilfe geschafft hatte, ihnen den Alkohol wegzunehmen, waren sie zwar nicht komplett betrunken aber doch sehr stark angeheitert. Daher nahmen sie auch keine Notiz davon, dass Laura und Ariane kurz vor einem Nervenzusammenbruch standen, als sie sich nicht mehr mit Alkohol, sondern mit Gruselgeschichten bekämpften, bei denen Anne begeistert mitmachte. So konnte Laura sogar nach vier Stunden, nachdem sich alle in die Zelte verkrochen hatten, noch nicht einschlafen. Sie spürte, wie jemand ihren Arm pikste. „Laura? Bist du noch wach?“, hörte sie Ariane kleinlaut fragen. „Ja…“, gab Laura als träge Antwort von sich. Ariane kam mit ihrem Schlafsack zu ihr rüber gekrochen und kuschelte sich an ihren Arm, als wäre er ein Schmuseteddy. „Eagle und Anne waren so gemein… Wegen deren Geschichten kann ich nicht einschlafen.“ „Ich auch nicht…“, meinte Laura. Eagles und Annes Geschichten waren natürlich die gruseligsten gewesen und jetzt rechnete Laura die ganze Zeit damit, dass jede Sekunde der ‚Tick-Tack-Mörder‘ zu ihnen ins Zelt kam und ihnen nach und nach die Gliedmaßen abhackte, während er freudig ‚tick-tack, tick-tack‘ sang. Allein der Gedanke daran ließ sie erneuet schaudern. Sie hatte sich sowieso noch nicht von dem Angriff dieser Meerjungfrau erholt. Ach nein, die menschenfressenden Meerjungfrauen hießen ja Nixen, wie sie kurz darauf von Carsten erfahren hatte. Immerhin hatte das ihre Vorstellung von Ariel gerettet… Ein knacksender Ast ließ Laura und Ariane gleichzeitig hochschrecken. „Das ist der Tick-Tack-Mörder!“, wisperte sie Laura verängstigt ins Ohr. „Oder die Nixe, die wie in Ariel Beine bekommen hat und immer noch Hunger hat.“, erwiderte Laura panisch. Die beiden Mädchen steigerten sich nur noch mehr in diese Horror-Situation, als das Mondlicht einen Schatten auf eine Zeltseite warf. „S-Siehst du das?“, fragte Ariane, immer noch im Flüsterton. Doch die Panik war nicht zu überhören.   ~*~   Da er erneut von diesem Traum schweißgebadet aus dem Schlaf gerissen wurde und sich erneut an nichts erinnern konnte, bis auf diese zwei nicht sehr ermutigenden Worte, hatte Benni beschlossen, das Zelt zu verlassen und unter dem leicht bewölkten Sternenhimmel einen Spaziergang zu machen. Zwar hatte er versucht, Chip zu überzeugen, dass er sich lieber schlafen legen solle, doch er wusste selbst, dass dieses Eichhörnchen ihm so oder so folgen würde. Daher lag Chip nun friedlich schlummernd auf seiner Schulter, während Benni am Strand entlangging und aufs Meer hinausblickte, dessen Horizont sich mit dem schwarzen Himmel zu vereinen schien. Er schloss die Augen und versuchte, sein beruhigendes Umfeld auf sich wirken zu lassen. Doch die wirren Gedanken in seinem Kopf ließen ihm keine Ruhe. Oft genug hatte er versucht, sich an diesen Traum zu erinnern, allerdings immer ohne Erfolg. Nachdem er zwei Stunden lang unterwegs gewesen war, beschloss Benni zurückzukehren, in der Hoffnung, die restliche Stunde vor der Morgendämmerung noch traumlos schlafen zu können. Wieder auf dem Zeltplatz angekommen, wachte Chip gähnend auf und sprang auf einen Baum, um sich auf einem Ast niederzulassen. Doch der Ast war zu schmal, als dass er in der Lage wäre, Chips Gewicht tragen zu können. So brach er ab und fiel mit Chip Richtung Erde. Den Ast nicht beachtend fing Benni das Eichhörnchen wie gewohnt auf. Eine Geste, die ihm bereits in Fleisch und Blut übergegangen war. Ein aufgebrachtes Flüstern aus Lauras und Arianes Zelt ließ seine Aufmerksamkeit darauf richten. Benni wusste, dass Laura und wohl auch Ariane sehr schreckhaft waren und ebenfalls, dass sie auf die Erzählungen von Eagle und Anne sehr panisch reagiert hatten. Ebenso kannte er den Inhalt ihrer momentanen leisen Unterhaltung. Folglich ahnte er bereits, was nun geschehen würde…   ~*~   Laura hörte Ariane tief durchatmen. „Okay… Wir sind doch Dämonenbesitzer. Wir müssten eigentlich in der Lage sein, ihn zu bezwingen… Also schnappen wir ihn uns.“ „Nur, wenn du zuerst gehst…“ Vorsichtig schob Laura Ariane Richtung Eingang. „Hast du sie noch alle?! Nie im Leben!!!“ Nun war es Ariane, die Laura am Arm packte und weiter zum Eingang zerrte. „Nein!“, schrie Laura. „Doch!“ „Ich bin viel schwächer als du! Der hätte mich in Sekunden überwältigt!“, widersprach sie panisch. „Ach was, ich werde dir Rückendeckung geben.“ „Na und?!? Der steht dann vor mir!“ „Jetzt geh schon!“ Ariane stieß Laura nur ganz leicht nach vorne, doch allein das reichte schon aus, dass sie stolperte und zusammen mit Ariane, die sie am Arm festgehalten hatte, gegen die Zeltwand fiel. Erschrocken schrie Laura auf. Einen Moment verlor sie vollkommen die Orientierung, während das Zelt über ihnen einstürzte und sie auf einmal vom Zelt, den Schlafsäcken und Koffern fast erschlagen wurden. Kaum wusste Laura wieder, wo sich der Boden und das Ende des Zeltes befanden, stolperte sie auf allen Vieren mit Ariane im Schlepptau raus. Zur selben Zeit kamen die anderen aus ihren Zelten gestürmt. „Laura, Ariane?!? Was ist los?!?!?“, rief Carsten besorgt. Während Laura noch ganz atemlos war, berichtete Ariane aufgebracht: „Da war der Tick-Tack-Mörder! Wir haben ihn gesehen!“ Ihr Blick fiel auf Benni, der abseits von den anderen stand. „Du musst ihn doch auch gesehen haben! Vor ein paar Sekunden stand er noch da, wo du eben stehst!!! Los, du musst ihn fangen! Der ist ein ganz schlimmer Verbrecher!!!!!“ Einige Sekunden lang herrschte absolute Stille, so dass man nur das Zirpen der Grillen hören konnte. Kurz darauf brachen alle Beobachter in ein lautes Gelächter aus. Alle außer Benni, der den Kopf schüttelte und auf Japanisch „Ihr habt sie doch nicht mehr alle.“ murmelte. Laura und Ariane schauten die anderen verwirrt an. „Warum lacht ihr denn?“ Als sich Carsten so halbwegs beruhigt hatte, meinte er schließlich belustigt: „Keine Sorge. Ich glaube, euch wird der ‚Tick-Tack-Mörder‘ nichts antun. Eigentlich ist der ein ganz Lieber.“ Ariane runzelte die Stirn. „Woher willst du das wissen?“ Die restlichen Gruppenmitglieder tauschten kurz einen Blick aus. Wobei den meisten von ihnen dennoch entging, wie Benni Carsten einen vorwurfsvollen ‚Ich bin nicht lieb‘-Blick zuwarf, welchen Carsten mit einem amüsierten Schulterzucken erwiderte. „Lassen wir sie im Unklaren.“, schlug Anne vor. Öznur nickte. „Vielleicht kommen sie irgendwann von selbst dahinter.“ Zwar ärgerte sich Laura darüber, dass die anderen daraus so ein Geheimnis machten. Aber es schien ja nicht wirklich ernst gewesen zu sein, also war sie immerhin etwas beruhigt. Obwohl sie vorerst wohl auf Zelten verzichten würde…   ~*~   Nach dem Aufstehen räumten sie ihre Sachen zusammen und bauten die Zelte ab, damit Eagle sie wieder zurück zum Zelt-Verleih bringen konnte. Immerhin war Susanne nicht so müde wie Laura und Ariane oder gar Benni. Sie hatte doch recht gut und tief schlafen können, trotz ihrer bevorstehenden Prüfung und Lauras und Arianes nächtlichem Auftritt. Susanne musste lächeln, als sie an ihre völlig aufgebrachten Gesichter zurückdachte. Als Eagle mit den Zelten verschwunden war, ging sie zu Carsten rüber, der die Karte von Damon studierte und vermutlich nach einer sowohl kräfte- als auch geldbeutelschonenden Möglichkeit suchte, um zum Schrein einige Kilometer westlich von hier zu kommen. „Ich vermute, laufen wäre zu viel verlangt.“, meinte er, als sich Susanne neben ihn auf die Wiese setzte. „Wir haben ziemlich gute und verhältnismäßig günstige Zugverbindungen.“, schlug sie vor. Carsten nickte. „Das wäre wohl der beste Weg. Selbst wenn es möglich wäre, würde ich euch am liebsten nicht teleportieren…“ Susanne verstand, worauf er hinaus wollte. Sie fand es rührend, wie viel Rücksicht er auf Laura nahm und konnte nicht anders, als sich über Eagles Verhalten gegenüber seinem kleinen Bruder zu ärgern. Auch wenn sie nur Halbbrüder waren, war das noch lange kein Grund, sich so bösartig zu verhalten! Als die Gruppe wieder vollständig war berichtete Susanne ihnen von ihrer Idee den Zug zu nehmen und dass sie bei zwei Gruppenkarten sehr viel Geld würden sparen könnten. Ihre Hauptsorge bei diesem Thema war natürlich Janine, aber auch wenn sich diese sträubte, bestand der Rest der Gruppe darauf, ihren Anteil von gerade mal zwei ‚Geld‘, der Währung in Damon, komplett zu übernehmen. Die Fahrt zum Schrein des Pinken Bärs war wie die Fahrt zur Schrein-Insel sehr beruhigend. Während Laura und Ariane versuchten, etwas Schlaf nachzuholen, den sie aufgrund der Gruselgeschichten nicht wirklich hatten, nutzten Öznur, Eagle und Anne die Gelegenheit, sich über den Nervenzusammenbruch der beiden lustig zu machen. Benni und Carsten lasen und Lissi beschäftigte sich mit ihrem Aussehen und dem Beobachten von anderen Mitreisenden, darunter natürlich insbesondere attraktive junge Menschen. Janine saß neben Susanne und betrachtete wortlos die an ihnen vorbei rauschende Landschaft außerhalb des Zuges. „Danke, dass ihr mir das Zugticket gekauft habt…“, meinte sie plötzlich. Susanne schaute sie erst verwundert an, dann wandelte sich ihre Verwunderung in ein Lächeln. „Nichts zu danken. Das ist doch das mindeste, was wir für dich machen können.“ Zwar erwiderte Janine nichts, doch Susanne konnte ihre widersprüchlichen Gefühle spüren. Da waren auf der einen Seite Dank und Freude, dass sie ihr helfen wollten und geholfen hatten und auf der anderen Seite Trauer und Ärger, dass sie sich helfen lassen musste, um dabei bleiben zu können. Susanne konnte ihre Gefühle, auch die negativen, nur zu gut verstehen. Doch sie wusste nicht, wie sie Janine aufheitern könnte. Ihr fielen einfach keine Worte des Trostes ein… So saßen sie den Rest der Fahrt schweigend da, nicht wissend, was sie sagen sollten. Der Zug hielt an einem kleineren Dorf, wo sie ihn verließen. Von hier aus waren es nur noch zwanzig Minuten zu Fuß, bis sie den Schrein erreichten. Die ländliche Umgebung war wunderschön und Susanne kam der Gedanke, dass es eigentlich auch ganz nett wäre mal die Erfahrung zu machen, wie es war, wenn man wie Öznur in einem Dorf lebte. Schließlich kamen sie an einen kleinen Wald kamen und fanden kurz darauf auf den Schrein. Finden war hier auch der richtige Begriff. Dieser Tempel sah eher wie eine Höhle in einer kleinen Steinklippe aus und hatte keinerlei Ähnlichkeit zu denen der anderen Dämonenbesitzer. Nur das Eingangsportal, eine runde, hölzerne Tür, ließ erahnen, dass es sich um genau den Ort handelte, den sie suchten. Anne runzelte die Stirn. „Dieser Schrein sieht ganz anders aus als die, die wir bisher gesehen haben.“ „Wie eine Bärenhöhle mit Tür?“, vermutete Ariane sarkastisch. Öznur lachte. „Na los, Susi, mach auf! Ich will wissen, ob die auch eingerichtet ist. Mit so süßen Holzmöbeln und Porzellan-Service und so weiter.“ Trotz ihrer Nervosität konnte sich Susanne ein Lächeln nicht verkneifen und öffnete die Holztür in der Hoffnung, es würde sie tatsächlich ein gemütlich eingerichtetes Zimmer erwarten. Leider war dem nicht so. Es handelte sich wirklich eher um eine dunkle, steinige Bärenhöhle, wie Susanne leicht enttäuscht feststellen musste, als sie eintrat. Kaum war sie im Inneren der Höhle, fiel die Tür auch schon wieder laut krachend in die Angeln und hüllte sie in völlige Dunkelheit. Erschrocken drehte sich Susanne um und erzeugte mit ihrer Magie ein schwach rosa leuchtendes Licht. Offensichtlich hatte ihr niemand folgen können. Oder eher dürfen. Susanne empfand darüber sowohl Freude als auch Angst. Sie freute sich, dass keiner wegen ihr in Gefahr kommen würde, so wie es bei Janines und Lissis Prüfung der Fall gewesen war. Doch nun war sie allein und das machte ihr Angst. Außerdem stand es nicht hundertprozentig fest, dass die anderen tatsächlich außer Gefahr waren. Immerhin war Laura auch nur wegen der untergehenden Insel in das Rettungsboot gestiegen und von der Nixe angegriffen worden, wie Carsten ihr im Nachhinein berichtet hatte. Susanne versuchte nicht daran zu denken, was den anderen eventuell passieren könnte. Sie war hier, um ihre Prüfung für die Dämonenform zu absolvieren. Würde sie wegen ihrer Sorge um die anderen durchfallen, würden nicht nur sie in großer Gefahr schweben. Susanne atmete tief durch. „Na gut, ich bin bereit.“ Als hätte sie direkt mit jemandem gesprochen, tauchte am Ende der Bärenhöhle eine weitere runde Holztür auf. Mit zitternden Knien ging Susanne auf diese Holztür zu. Sie wollte nicht wissen, was sich dahinter befand, in der Angst, es wäre etwas, was sie nicht würde sehen wollen. Doch wenn sie die Prüfung bestehen wollte, musste sie sich dem stellen, was hinter dieser Tür lauerte. Auch ihre Hände zitterten, als sie die Klinke runterdrückte und die Tür nach außen aufschwang. Strahlendes Licht blendete Susanne und im ersten Moment konnte sie gar nichts sehen. Als sich ihre Augen wieder an das Licht gewöhnt hatten, schaute sie sich staunend um. Sie befand sich in einem kleinen Dorf, das keine Betonstraßen oder sonstige fortschrittlicheren Ausstattungen hatte. Der Boden bestand komplett aus Gras bis auf leicht gräuliche Kieswege, die den Straßenverlauf zeichneten. Die Häuser waren allesamt aus Holz mit Strohdächern und die Bewohner trugen schlichte Kleidung aus Leinen. Susanne fühlte sich, als habe man sie zweihundert Jahre in die Vergangenheit versetzt. In die Zeit vor dem magischen Krieg, wo alles noch so friedlich und unbeschwert wirkte. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Jungen, etwa fünf Jahre alt mit pechschwarzen Haaren, der auf einem Stein einige Meter vor ihr saß und sich mit irgendeiner Handarbeit beschäftigte. Was genau er tat konnte Susanne nicht erkennen, da er ihr den Rücken zugekehrt hatte. „Entschuldigung? Kannst du mir sagen, wo ich hier bin?“, fragte sie den kleinen Jungen. Dieser drehte sich verwundert zu ihr um und musterte Susanne mit seinen bernsteinbraunen Augen. Diese und seine Haare bildeten einen starken Kontrast zu seiner nahezu weißen Haut. Seine Verwunderung wandelte sich rasch in ein höfliches Lächeln. „Das hier ist Waldbach.“, antwortete er knapp. Zwar hielt er sich mit Fragen zurück, doch Susanne merkte, dass er wissen wollte, was sie hier machte. Sie würde ihm gerne eine Erklärung liefern, aber so genau wusste sie das ja noch nicht einmal selbst. Sie hätte erwartet, dass der Dämon sie gegen irgendeinen starken Widersacher hätte kämpfen lassen, da sich Gewalt mit ihrem eigentlich pazifistischen Charakter widersprach. Doch nun stand sie hier in einem friedlichen kleinen Dorf und unterhielt sich mit einem freundlichen Kind. „Wie heißt du?“, fragte sie den Jungen, in der Hoffnung, dadurch irgendwie mehr über ihre Prüfung zu erfahren. Der Junge zuckte mit den Achseln. „Manchmal einfach nur Junge oder Kleiner. Hin und wieder werde ich aber auch Waldläufer, Bengel, Rotzlöffel oder Monster genannt.“ Susanne schaute ihn verwirrt an. „Ich meinte deinen Namen. Mein Name ist Susanne. Du müsstest doch auch einen haben.“ Der Junge überlegte, schüttelte aber schließlich den Kopf. Susanne seufzte. Er schien ihr nicht wirklich weiter helfen zu können, wenn er noch nicht einmal seinen eigenen Namen wusste. Doch vielleicht war ja genau das ein Teil ihrer Prüfung? „Wo sind denn deine Eltern?“, fragte sie weiter. Wieder zuckte der Junge mit den Achseln. „Weiß ich nicht.“ „Und wo wohnst du?“ Immerhin bekam sie darauf eine Antwort. Der Junge zeigte nach Westen. „Gaaaaanz weit da hinten, in einem Wald.“ „Aber wenn du so weit weg wohnst, warum bist du dann hier?“ „Mir war langweilig, also bin ich spazieren gegangen.“, antwortete er. Langsam dämmerte es Susanne. Vielleicht hat er sich verlaufen und weiß nicht mehr, wie er zurückkommt? Sie schlug dem Jungen vor, ihn nach Hause zu begleiten, welcher begeistert einwilligte. Auf dem Weg durch das Dorf merkte sie, wie die Bewohner ihnen misstrauische, dem Jungen sogar argwöhnische Blicke zuwarfen, als wären sie Fremde, die Unheil zu verkünden schienen. Susanne war froh, als das Dorf endlich hinter ihnen lag und vor ihnen die Natur ihre ganze Schönheit entfaltete. Die Betonung auf das ‚ganz weit‘ vom Jungen musste Susanne tatsächlich ernst nehmen, als sich bereits die Dunkelheit über ihnen ausbreitete. Sie befanden sich zwar in einem Wald, aber laut dem Jungen schien das nicht der richtige zu sein. Zu ihrem Pech war sie zwar jemand, der viel über die Natur gelesen hatte und theoretisch in der Lage war, die giftigen von den ungiftigen Beeren zu unterscheiden, doch in der Praxis war das alles viel komplizierter, als sie anfangs gedacht hatte. So war sie nun zwar hungrig, aber nicht in der Lage, herauszufinden, ob dieser Beerenstrauch, den sie nun vor sich hatte, giftig war, oder nicht. „Oh lecker!“, rief der Junge begeistert, pflückte sich ein paar der Beeren und schüttete sie sich regelrecht in den Mund. „Warte, die könnten-“ Susanne wollte ihn aufhalten, doch er warf ihr nur einen fragenden Blick zu, pflückte noch eine Handvoll Beeren und bot sie ihr an. „Möchtest du auch welche?“ „Du kannst doch nicht einfach so irgendwelche Beeren pflücken! Die könnten giftig sein!“, wies sie ihn besorgt zurecht. Was war, wenn diese Beeren tatsächlich eine giftige Sorte waren?!? Würde sie ihn mit ihrer Energie heilen können? Doch für Gift war eigentlich Janines Energie zuständig… Der Junge schüttelte den Kopf. „Johannisbeeren sind doch nicht giftig.“ Susanne schlug sich beschämt die Hände ins Gesicht und ließ sich auf einen umgestürzten Baumstamm nieder. Johannisbeeren! Warum hatte sie das nicht erkannt?!? Der Junge legte den Kopf schief und beobachtete sie weiterhin. „Möchtest du nun welche?“ Sie atmete erleichtert aus und nickte lächelnd. Während sie den Jungen beobachtete, wie er selbst in den unmöglichsten Winkeln irgendwelche essbaren Beeren oder Pilze fand, fing sich Susanne langsam an zu wundern, wer er eigentlich war. Natürlich gab es sehr intelligente Kinder, doch dieser Junge schien bereits in seinem Alter jeden Baum, jede Blume und jeden Busch beim Namen nennen zu können. Wusste, welche ihrer Früchte essbar waren und von welchen er lieber die Finger lassen sollte. Er schien sogar die speziellen Heilwirkungen der Kräuter zu kennen und konnte blitzschnell mit einem Feuerstein ein Feuer für ihr Nachtlager schüren. „Hast du dich wirklich verirrt?“, fragte Susanne den Jungen, der gerade dabei war, einen kleinen Holzklotz mit seinem Messer zu bearbeiten, während sie am gemütlich flackernden Feuer saßen. Der Junge blickte von seiner Schnitzerei auf. „Ja.“ „Aber du scheinst doch ganz genau zu wissen, wo du wohnst.“ „Weiß ich auch.“, erwiderte der Junge. Susanne seufzte. Hatte der Kleine sie etwa nur an der Nase herum geführt? „Aber warum soll ich dich dann begleiten?“ Die bernsteinbraunen Augen des Jungen schauten sie traurig funkelnd an. „Du hast doch gesagt, du bringst mich nach Hause.“ Susanne nickte lächelnd. „Ja, das hab ich wohl.“ Auch wenn sie nicht wusste, wie das ihrer Prüfung weiterhalf, entschloss sie sich, den Jungen wieder zurück nach Hause zu bringen. Das traurige Funkeln in seinen Augen, was man getrost als Hundeblick bezeichnen konnte, hatte sie an Carsten erinnert und sie hatte das Gefühl, für diesen Jungen verantwortlich zu sein. Dafür beeindruckte er Susanne während ihrer inzwischen dreitägigen Reise immer mehr mit seinen Naturkenntnissen. Den Namen Waldläufer hatte er von den Dorfbewohnern berechtigt bekommen. Doch die Bezeichnungen Rotzlöffel oder gar Monster passten dafür umso weniger zu ihm. Susanne fragte sich, warum die Bewohner aus Waldbach ihn mit solcher Abscheu betrachtet hatten. Er war eigentlich ganz lieb und höflich und ganz und gar nicht frech, auch wenn er ziemlich sarkastisch sein konnte. Am Abend des dritten Tages entschloss sich Susanne, ihn darauf anzusprechen. Auch wenn  er gerade mal fünf Jahre alt war, konnte er sich schon sehr erwachsen mit ihr unterhalten. Er saß gerade wieder an seiner kleinen Holzfigur, die bereits Form angenommen hatte, als Suanne ihn fragte: „Warum kennst du deinen Namen eigentlich nicht?“ „Weil man mir keinen Namen gegeben hat.“, antwortete der Junge knapp. Schließlich schaute er von seiner Schnitzerei auf. „Willst du mir nicht einen Namen geben?“ „Ähm-“ Susannes Wangen färbten sich leicht rötlich, während sie den bittenden Blick des Jungen sah. Sie hatte das Gefühl, nicht die Richtige dafür zu sein. Schließlich war das doch die Aufgabe der Eltern! … Aber wenn er keine hatte… Natürlich schossen ihr zuerst Carsten, Crow und Eagle durch den Kopf, weil der Junge sie an die Brüder erinnerte. Doch er brauchte einen Namen, der seinen starken und zugleich liebenswerten Charakter widerspiegelte. Während Susanne überlegte, beobachtete sie den Jungen, in der Hoffnung, dadurch eine Idee zu bekommen. Recht spontan kam sie auf den Namen ‚Naoki‘. Ki bedeutete auf Japanisch Baum, was sie an seine Vorliebe für das Schnitzen erinnerte und Nao hieß so viel wie aufrecht, direkt oder auch Ehrlichkeit. Susanne fand, dass der Name sehr gut zu ihm passte. „Wie findest du Naoki?“, schlug sie ihm schließlich zögernd vor. Zwar dachte sie, dass der Name gut zu dem Jungen passen würde, aber sie wollte, dass auch ihm sein zukünftiger Name gefiel. Der Junge schaute sie überrascht an und in seinen leuchtend braun-orangenen Augen konnte sie regelrecht seine Freude funkeln sehen. „Der ist toll!“ Susanne lachte verlegen auf, doch sie freute sich ungemein darüber, einen schönen Namen für den Jungen gefunden zu haben. „Dann heißt du ab sofort Naoki, wenn es dir Recht ist.“ Der Junge kicherte und kam zu ihr rüber, um ihr die kleine Holzfigur in die Hand zu drücken, mit der er offensichtlich fertig war. „Das schenk ich dir. Als Dankeschön.“ „Danke.“ Susanne lächelte Naoki freundlich an und musterte die Figur, an der er seit ihrer ersten Begegnung gearbeitet hatte. Es war ein sehr kleines Eichhörnchen und Susanne musste überrascht feststellen, dass es wirklich professionell aussah. Es sah einem echten Eichhörnchen zum Verwechseln ähnlich, von der Größe abgesehen und war sehr detailliert gefertigt. Und erneut musste sich Susanne fragen, ob Naoki wirklich so alt war, wie er schien. „Das ist wunderschön…“, meinte sie schließlich. Zwar erwiderte Naoki nichts, doch Susanne sah, wie sehr er sich über das Kompliment freute, denn seine sonst so blassen Wangen bekamen einen rötlichen Hauch. Als sie am nächsten Tag ihre Reise fortsetzten, kamen sie an einen breiten Fluss, dessen klares Blau mit dem wolkenlosen Himmel konkurrierte. Susanne bemerkte, dass Naoki leicht verwirrt schien. „Komisch. Als ich herkam war hier noch der Fährmann.“ „Der Fährmann?“, fragte sie verwundert nach. Naoki nickte. „Der Fährmann ist ein alter Opa, der als einziger in der Lage ist, ein Boot über diesen Fluss zu steuern. Zwar hatten auch schon andere versucht, ohne ihn auf die andere Seite zu kommen, doch sie alle sind bei diesem Versuch untergegangen oder wurden vom Wasserfall in die Tiefe gerissen und wurden nie mehr gesehen.“ Seufzend schaute sich Susanne nach besagtem Fährmann um, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Stattdessen sah sie am anderen Ufer einen kleinen Wald, dessen dichte Bäume sie nur erahnen ließen, was sich dort befand. Ein weiterer Eingang zum Schrein. Susanne konnte ihn nicht sehen, doch sie spürte, dass er dort war. „Vielleicht ist er in seinem Haus…“, überlegte Naoki, während sich Susanne weiter umschaute und sie am Ufer eine ältere Frau auf sie zukommen sah. „Bitte, bitte helfen Sie mir!“, rief die Frau ihnen schon von weitem entgegen. Überrascht beobachteten Susanne und Naoki, wie die Frau sie erreichte, atemlos nach Luft schnappte und schließlich zu erklären begann: „Mein Mann liegt im Sterben. Ich bitte Sie, können Sie nicht irgendetwas tun?“ Weil sie Mitleid mit der verzweifelten Frau hatte und das ungute Gefühl besaß, dass es sich bei besagtem Mann vermutlich um den Fährmann handelte, willigte Susanne ein, mal nachzusehen, ob sie irgendetwas würde ausrichten können. Die Frau führte sie eilig zu einer kleinen Hütte, die aus einem einzigen Zimmer bestand. In einem Strohbett lag ein alter Mann, von den Qualen seiner Krankheit gezeichnet. Als Susanne und Naoki eintraten, öffnete er mühsam seine Augen, um die Besucher zu betrachten. „Jii-chan, geht es dir nicht gut?“, fragte Naoki besorgt und kniete sich vor das Bett des alten Mannes. Dieser hob mühsam die Hand und verwuschelte Naokis schwarzen Haarschopf. „Na hallo, Kleiner.“ „Ich heiße Naoki.“, stellte er sich stolz vor. Die schmalen Lippen des Mannes formten sich zu einem schwachen Lächeln. „Hallo, Naoki. Du willst zurück, oder?“ Naoki nickte. Der alte Mann seufzte, dass in einem schmerzhaften Husten endete. Als es sich gebessert hatte meinte er: „Es tut mir leid…“ Traurig schaute Naoki Susanne an. „Du besitzt doch die Heil-Energie, oder? Kannst du ihm nicht helfen?“ „Woher-“ Erschrocken musterte sie den kleinen Jungen. Sie hatte nie ein Wort über ihre Energie, oder Energie im Allgemeinen geäußert. Also woher wusste er das? Andererseits befand sie sich ja auch in einer fiktiven Welt des Pinken Bärs, die er extra für ihre Prüfung erschaffen hatte. Da sollte sie sich eigentlich nicht wundern. „Ich kann es versuchen…“ Naoki machte ihr etwas Platz, damit Susanne den alten Mann besser mustern konnte. Sie wusste nicht genau, wie sie ihre Energie einsetzen sollte, immerhin hatte sie bisher nur kleine Wunden und keine Krankheiten geheilt. Schließlich legte sie ihre Hand auf die Brust des alten Mannes. Sie spürte einen schwachen Herzschlag, der vermutlich sehr bald ganz stoppen würde. Sie schickte über ihre Hand die Heilenergie in den Körper des Mannes, doch ein mächtiger Schwächeanfall sorgte dafür, dass sich Susanne keuchend von ihm abwandte. Schwer atmend kniete sie sich vor das Bett des alten Mannes auf den Boden und rief sich die Worte von Eufelia-Sensei in Erinnerung, als diese ihnen bei ihrem Besuch die sogenannte Energierangtabelle erklärt hatte. Die Beherrscher der Lebenskräfte müssen unter dem Einsetzen ihrer Energie selbst einen Preis zahlen. In etwa so war das auch bei Konrads Prüfung gewesen. Er konnte kein Blut zu sich nehmen, musste aber den Leuten mit seiner Energie helfen. Das hieß vermutlich so viel wie, dass er ihnen indirekt von seinem eigenen Blut gegeben hatte… Susanne schauderte. Hieß das, dass sie so viel Energie abgeben musste, dass der Mann genug zum Leben hatte? „Wenn ich ihn heile würde das meinen Tod bedeuten…“, murmelte sie betroffen vor sich hin. Naoki schaute sie verwirrt und traurig zugleich an. „Wieso denn?“ „Weil ich nicht einfach so aus heiterem Himmel heilen kann. Wenn er nicht sterben soll, muss ein anderer seine Stelle einnehmen…“ Naoki runzelte die Stirn. „Deine Heil-Energie ist ganz schön doof, weißt du das?“ Trotz der gegenwärtigen Situation musste Susanne lächeln. „Ja, da hast du anscheinend Recht.“ Verbissen suchte sie nach einer anderen Möglichkeit, wie sie auf das andere Ufer kommen würden. Es konnte doch nicht nur der alte Mann dazu in der Lage sein, sie über den Fluss zu bringen… Auch Naoki schien nach einer Alternative zu suchen, aber einer anderen als Susanne. „Du kannst auch die Lebensenergie eines anderen für deine Heilung nehmen, oder?“ Susanne nickte. „Ich denke schon.“ Er atmete tief durch. „Nimm meine.“ „Was?!?!?“ Vor Schreck wäre ihr beinahe das Herz stehen geblieben. Entschlossen erwiderte Naoki ihren Blick. „Nimm meine Lebensenergie.“ „Über so was scherzt man nicht!“ Naoki schüttelte den Kopf. „Ich scherze nicht.“ „Aber-“ „Du willst doch auf die andere Seite, oder?“ „Weil du gesagt hast, du wohnst dort und ich dir versprochen habe, dich nach Hause zu bringen.“, gab Susanne ihm Recht. Naoki nickte langsam. „Ja ich wohne dort, wo du hin willst. In diesem Schrein. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich dort zu Hause bin.“ Langsam dämmerte es Susanne. „Es gibt nichts auf dieser Welt, was mich hier halten könnte… Ich habe keine Eltern und die Menschen betrachten mich immer als ein Monster oder Kind des Teufels.“ Er schaute Susanne mit abgrundtief traurigen Augen an. „Hier werde ich nie ein Zuhause finden.“ Fassungslos starrte sie Naoki an. Sie sollte sein Leben für das eines alten Mannes opfern? Ihn, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte?!? Tränen stahlen sich aus ihren Augen, als Susanne bestimmt den Kopf schüttelte. „Das kann ich nicht…“ „Du musst es können.“, widersprach Naoki ihr bestimmt. „Nein!“, schrie sie ihn an. „Ich kann dich nicht töten! Du bist ein Kind, das noch gar nicht richtig gelebt hat! Und abgesehen davon bist du für mich inzwischen wie ein kleiner Bruder, ich kann dich nicht töten! Ich töte keine Freunde!!!“ „Du musst.“ Schluchzend drückte Susanne den sturen Jungen an sich. „Bist du dein Leben jetzt schon so leid, dass du lieber sterben würdest?“ Sie spürte Naokis Nicken. „Aber hast du denn gar keine Angst vor dem Tod?!?“ Naoki schaffte es, Susanne etwas von sich wegzuschieben, dass sie seinen ruhigen Blick sehen konnte. „Doch habe ich. Aber wenn du dabei bist, nicht so große.“ Für den Bruchteil eines Herzschlags zog Susanne es in Erwägung, ihn tatsächlich zu erlösen. Doch kaum hatte dieser Gedanke ihren Kopf schon wieder verlassen, hasste sie sich selbst dafür. „Ich kann das nicht!!!“ „Dir bleibt keine andere Wahl, wenn du die Prüfung bestehen willst.“, murmelte er. Geschockt schaute Susanne ihn an. Das war ihre Prüfung?!? Sie sollte ein kleines Kind opfern, um zurück in den Schrein zu kommen?!? „Schön, wenn das die Prüfung ist, werde ich halt nicht bestehen!!!“, schrie sie bestimmt. Nun sammelten sich auch in Naokis Augen Tränen. „Willst du das wirklich? Ziehst du ein einziges kleines Kind der ganzen Welt vor?!“ „Nein, aber…“ Sein Gesicht verschwamm hinter ihren Tränen. Sie hatte sich erhofft, mit ihrer Energie und der Dämonenform ihren Freunden helfen zu können. Nicht einen ihrer Freunde töten zu müssen! Und zusammen mit Naoki hatte sie das Gefühl, auch Eagle und Carsten zu töten. Susanne wischte sich die Tränen aus den Augen. Dieser ruhige und zugleich traurige Blick, mit dem Naoki sie musterte erinnerte Susanne allerdings an keinen der beiden Jungs. Er erinnerte sie an jemanden, doch sie war zu verstört, um herauszufinden an wen. Naoki seufzte. „Wenn du jetzt nicht handelst, ist es so oder so zu spät. Du hast deine Prüfung nicht bestanden und die Wahrscheinlichkeit, dass deine Welt zerstört wird, wird umso höher.“ Wieder rannen die Tränen über Susannes Wangen. Sie wusste, dass er Recht hatte. Aber sie brachte es trotzdem nicht übers Herz! „Bitte. Ich will nicht schuld daran sein, dass wegen mir eine ganze Welt zerstört wird.“ Susanne schluchzte und drückte seinen kleinen, so zerbrechlich wirkenden Körper wieder an sich. „Ich doch auch nicht… Aber…“ „Susanne, bitte!“, schrie Naoki. Sie atmete tief durch. Sie wusste, dass sie sich dafür ewig hassen würde… Aber Naoki schien tatsächlich zu wollen, dass sie ihn für das Wohl Damons opferte. Zitternd schloss Susanne die Augen und legte eine Hand auf die Brust des alten Mannes. Erneut spürte sie seinen schwachen Herzschlag. Die andere legte sie über Naokis Herz. Es schlug kräftig und würde noch nahezu ein Jahrhundert so schlagen können. Und sie war diejenige, die diesen Herzschlag anhalten würde… Sie fühlte, wie Naoki seine beiden kleinen Hände auf ihre legte. Sie waren kälter als ihre, doch immer noch nicht so kalt wie der Tod. Wie sie sich bald anfühlen würden. Ehe sie dazu kam, ihre Hände zurück zu ziehen, fing sie an, aus Naokis Körper Energie zu schöpfen, die sie über ihren Körper an den alten Mann weitergab. Es waren höchstens zehn Sekunden, doch für Susanne fühlte sich das wie eine Ewigkeit an, bis sie merkte, wie Naoki in die Knie sackte, während der alte Mann begann, sich vorsichtig aufzurichten. Sofort ließ Susanne von ihm ab und wandte sich ganz an Naoki, den sie behutsam in den Arm nahm. Sein Gesicht war schneeweiß und seine Lippen blau. Dennoch lächelte er. Er zitterte am ganzen Körper, als er seine gesamte Kraft zu nutzen schien, um sich etwas aufzurichten. Er flüsterte ein schwaches „Danke“ und hauchte ihr einen leichten Kuss auf die Wange, als ihn die Kraft verließ und er zurück in Susannes Arm fiel. Kaum spürte sie, dass sich sein Körper nicht mehr regte, sich nie mehr regen würde, stieß sie ihren ganzen Schmerz in einem einzigen Schrei aus. Sie hatte ihm einen Namen, eine Identität gegeben und sein Leben genommen. Sie war es, die ihn umgebracht hatte. Susanne wusste nicht, wie lange sie sich an Naokis leblosen Körper geklammert und geweint hatte, bis sich eine Hand auf ihre Schulter legte. „Wir sollten ihm eine würdevolle Bestattung geben, findest du nicht?“, hörte sie die sanfte Stimme des alten Mannes. Naoki immer noch nicht loslassend, nickte Susanne. Das war das mindeste, was sie für ihn tun konnte. Zusammen mit seiner Frau überquerte der Fährmann mit Susanne und Naoki den Fluss, bis sie etwa in der Mitte angekommen waren. Die Frau hatte in kurzer Zeit ein kleines Floß gebaut, auf das sie Naokis Körper legten, zusammen mit mehreren farbenfrohen Blumen und ein paar Johannisbeeren, die Susanne zuvor eigentlich als Proviant mitgenommen hatte. Während sie beobachtete, wie die Strömung Naokis Floß auf den Wasserfall am Horizont hintrieb, holte sie das kleine Eichhörnchen aus ihrer Tasche, dass er ihr am letzten Abend geschenkt hatte und fing erneut an zu schluchzen. Auf der anderen Seite des Flusses schlugen der Fährmann und seine Frau vor, sie zu begleiten, doch Susanne lehnte betrübt ab. Sie wollte jetzt einfach nur alleine sein. Leider hatte sie in bereits wenigen Minuten das kleine Wäldchen erreicht und mit ihm den weiteren Eingang zum Schrein des Pinken Bärs. Ohne weiter nachzudenken öffnete Susanne die runde Holztür und trat in ein kleines Zimmer mit gemütlichen, dunklen Holzmöbeln und einem kleinen Strohbett. Erneut liefen die Tränen über Susannes Wangen und sie lief sofort auf die gegenüberliegende Tür zu. Sie hielt es hier nicht mehr aus! Ob sie die Prüfung nun bestanden hatte oder nicht war ihr egal! Sie wollte einfach nur noch zu den anderen! Sie brauchte die Mädchen und Carsten, die sich ihren Schmerz anhören würden und die in der Lage wären, ihr jedenfalls einen kleinen Teil davon abzunehmen. Doch als sie die zweite Tür passiert hatte, befand sie sich keinesfalls wieder in dem kleinen Wäldchen bei den anderen. Dieser Raum, falls das überhaupt ein Raum war, war stockfinster und Susanne verlor jegliche Orientierung. „Wie schön, dass du endlich gekommen bist.“, hörte sie eine tiefe, gemütlich klingende Stimme hinter sich sagen. Zögernd drehte sich Susanne um. Vor ihr stand ein gewaltiger Bär, etwa so groß wie ein Hochhaus und sein pinker Körper bestand aus pulsierender Energie. Susanne wich seinen rosa Augen beschämt aus, die sie so lieb anschauten. „Was hast du?“, fragte der Bär fürsorglich. „Das fragst du noch?!? Ich habe eben gerade ein kleines Kind getötet, nur um deine Prüfung zu bestehen!“ Susanne wusste, dass sie diesen mächtigen Dämon eigentlich mit Respekt behandeln sollte, doch sie hielt es nicht mehr aus. Dieser Dämon hatte sie dazu gezwungen ein fünfjähriges Kind zu opfern! Der Pinke Bär seufzte bedrückt. „Es war das Schicksal des Jungen, sich zu opfern um dir und somit der gesamten Welt zu dienen. Außerdem ist er nichts weiter als eine von mir erschaffene Puppe, die genau diese Aufgabe erfüllen sollte.“ „Nein ist er nicht! Naoki hatte auch Gefühle und er hätte eine Zukunft gehabt!“, widersprach Susanne ihm. „Das sagst du nur, weil er dich so an den Jungen, der vor dem Schrein wartet, erinnert hat.“ Verwirrt musterte sie ihn. Ja, Naoki hatte sie an Carsten erinnert. Aber auch an Eagle, also welchen der beiden hatte er nun gemeint? Als sie merkte, dass ihr wieder die Tränen in die Augen schossen, wandte sie sich beschämt ab. „Nein, Naoki war ein eigener Charakter.“ Doch der Dämon schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn vollkommen an diesen Jungen angepasst. Gerade aus dem Grund, dass es dir somit schwerer fällt ihn zu opfern.“ Nun konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie wusste nicht, an welchen Charakter er Naoki nun angepasst hatte. Doch alleine das Wissen, sie hätte eigentlich einen Jungen getötet, der sogar in der realen Welt mit ihr befreundet war, verstärkte ihre Schuldgefühle immens. „Bitte sei still…“, murmelte Susanne. Der Bär warf ihr einen verwirrten Blick zu. „Bitte sag nichts mehr darüber! Ich halte das nicht aus! Ich habe ein kleines Kind getötet, ganz gleich, ob es nun ein lebender Mensch oder eine Puppe war! Und noch schlimmer, dieses Kind ist anscheinend auch noch Carsten oder Eagle in seiner Kindheit gewesen!!!“ Sie merkte, wie der Bär irgendetwas erwidern wollte, doch er seufzte lediglich. Während sich die pinke, strahlende Energie verformte und vor ihr nicht mehr der riesige Bär, sondern ein durchschnittlich großer Mann mit leicht zerzausten pinken Haaren stand, der sie aber immer noch durch die lieben rosa Augen anschaute. Sanft nahm er Susannes Gesicht zwischen die Hände, sodass sie nicht mehr in der Lage war, ihre Tränen vor ihm zu verbergen. „Ich gebe zu, dass deine Prüfung wohl die schwierigste war und dass du nun vermutlich einen monatelangen Groll gegen mich hegen wirst. Doch glaube mir, es ist besser so. Du wirst in der kommenden Schlacht nicht in der Lage sein, jeden zu retten, der dir wichtig ist. Du musst lernen Abschied nehmen zu können. Wo das Leben ist, ist auch der Tod, sowie das Licht nicht ohne die Finsternis existieren kann. Kleine Kratzer lassen sich zwar so heilen, als wäre nichts gewesen, doch größere Verletzungen fordern ihren Tribut. Ich bitte dich, das immer im Hinterkopf zu behalten. Gerade die Heilungs-Energie hat die Macht, über das Leben anderer zu herrschen und zu richten. Also treffe deine Entscheidungen mit Bedacht und denke auch an das Wohl und das Leiden anderer. Denn nicht nur dich würde der Verlust eines geliebten Menschen plagen.“ Schluchzend senkte Susanne den Kopf. War es Laura so ähnlich ergangen, als sie ihre Geschwister verloren hatte und nichts ausrichten konnte, um sie zu retten? Doch Susanne hätte Naoki retten können! Sie hätte ihn nicht für den alten Mann opfern müssen und hatte es dennoch getan, weil er nicht wollte, dass sie durchfallen würde und so die gesamte Welt leiden müsste. Der Pinke Bär in menschlicher Gestalt beugte sich zu Susanne hinunter und gab ihr einen schwachen Kuss auf die Wange, wie Naoki es zuvor getan hatte. Nur, dass dieser Kuss erfüllt von einer unbeschreiblichen Macht war, die nun auch auf Susanne überzugehen schien. Immer noch ihr Gesicht zwischen den Händen haltend lächelte er sie mitleidig an. „Nun geh zu deinen Freunden. Sie werden es eher verstehen, den Teil in dir zu retten, der unter dem Tod des Jungen leidet, als ich.“ Kapitel 29: Mut zum Leben -------------------------    Mut zum Leben       Ariane stieß einen Seufzer aus, als sie auf ihre Armbanduhr schaute und bemerkte, dass Susi inzwischen schon dreieinhalb Stunden weg war. Es war bereits Zeit fürs Mittagessen, aber sie tauchte einfach nicht auf! Schlafen konnte Ariane auch nicht. Auch, wenn sie wegen diesen bescheuerten Gruselgeschichten todmüde war, brachte sie es doch nicht übers Herz, seelenruhig vor sich hinzuträumen, während eine Freundin gerade ihre Prüfung für die Dämonenform absolvierte. Gerade, als sich Ariane fragte, wo sie hier im Wald überhaupt ein gemütliches Plätzchen zum Schlafen finden könnte, öffnete sich die lustige runde Holztür zum Dämonenschrein. Ariane sprang begeistert auf und wollte Susi entgegenrennen, um ihr zu gratulieren, denn eine Susi bestand natürlich jede Prüfung, als sie stutzend inne hielt. Ja, Susi hatte die Prüfung bestanden, das zeigte sich deutlich an ihren runden, flauschigen Bärenohren, ihren dämonischen Augen, die außen noch grün-blau aber innen rosa waren und ihrem pinken Leuchten. Aber sie weinte!!! „Susi? Oh mein Gott Susi, was ist denn passiert?!?!?“, rief Lissi aufgebracht und stürmte sofort zu ihrer älteren Zwillingsschwester, die sich schluchzend in ihre Arme warf. „Ich- Die Prüfung war grausam! Ich hasse den Pinken Bär!!!“ „Was?“ Zwar klang Annes Frage immer noch distanziert und kühl, doch Ariane konnte einen Hauch Sorge in ihren Augen sehen. „Ich…“ Susanne schien nicht zu wissen, was genau sie darauf antworten sollte, doch sie war so fertig mit sich und der Welt, dass Ariane automatisch vermutete, dass während dieser Prüfung etwas ganz ganz Schlimmes passiert war. Carsten war als erster der anderen bei ihr. Sanft legte er seine Hand auf ihre Schulter. „Was ist denn passiert?“ „Ich- Ich musste ein Kind töten!“, schrie Susanne. Ihre Knie schienen nachzugeben, denn Carsten stützte sie etwas. Ariane klappte die Kinnlade herunter. „Du musstest… was?“, fragte Laura, genauso wenig in der Lage, das zu realisieren, wie Ariane selbst. Susanne hatte ihr Gesicht in Carstens Pulli vergraben und hielt mit einer Hand seinen und mit der anderen immer noch Lissis Arm fest, als sie antwortete: „Um die Prüfung zu bestehen musste ich ein Kind töten, um einen alten Mann zu retten und-“ Ihr Bericht erstarb in einem weiteren herzzerreißenden Schluchzen. Inzwischen war auch Ninie bei Susanne und hatte mitfühlend ihre Hand auf die gelegt, mit der Susanne sich an Carsten klammerte. „Der Pinke Bär meinte, er hätte seinen Charakter von einem von euch.“ Unter Tränen schaute sie Carsten an. Dieser runzelte verwirrt die Stirn, fragte aber nicht weiter nach. Vermutlich, weil er nicht wollte, dass Susanne sich noch elender fühlte. Ariane konnte ihre Gefühle nur zu gut verstehen. Ihr wurde immer noch übel, wenn sie an jene Nacht zurückdachte, in der sie mit ihrer Licht-Energie tausende Unterweltler getötet hatte. Aber Susanne musste ein höchst wahrscheinlich unschuldiges, kleines Kind töten! Verärgert biss sie sich auf die Unterlippe. Was hat sich dieser Pinke Bär dabei gedacht?!? Carsten hatte Susanne derweil zu einem liegenden Baumstamm geholfen, den Eagle während ihrer Wartezeit angeschleppt hatte. Dort half er ihr, sich hinzusetzen und setzte sich neben sie, um ihr tröstend einen Arm um die Schultern zu legen. Lissi setzte sich auf die andere Seite und tat dasselbe, während sich Janine vor sie kniete. Ariane setzte sich neben Janine und legte eine Hand auf Susannes zitterndes Knie. Sie wusste nicht, was sie sonst machen oder sagen sollte. Sie hoffte, diese Geste würde immerhin etwas trostspendend sein. Ein trauriges Lächeln umspielte Susannes Lippen, als sie ein kleines, geschnitztes Eichhörnchen aus ihrer Hosentasche holte und es betrachtete. „Das hatte er mir am Abend zuvor geschenkt…“ Ariane musterte das Eichhörnchen verwirrt. Susanne hatte doch gemeint, dass sie ein Kind töten musste… Aber diese kleine Figur sah so krass gut aus, dass sie nie und nimmer vermuten würde, dass ein Kind sie gefertigt hätte. Auch Carsten schien irritiert. „Das hat dir dieses Kind geschenkt?“ Susanne nickte und erneut liefen ihr Tränen über die Wangen. „Ich konnte auch nicht glauben, dass er es selbst geschnitzt hat…“ Aber Carstens Verwunderung schien sich nicht auf die künstlerischen Fähigkeiten gerichtet zu haben, denn er holte das haargenaue Ebenbild des Eichhörnchens aus seiner Hosentasche. Ungläubig starrte Susanne erst ihn und dann das Eichhörnchen an. „Das warst du?!“ Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Ich habe es, so wie du, geschenkt bekommen.“ „Aber wer-“ Sie brach ab. Selbst Ariane wusste, dass die Antwort mehr als offensichtlich war. Susannes Blick löste sich von Carsten und richtete sich auf Benni, der etwas abseits an einem Baum lehnte und ihn ausdruckslos erwiderte. Kurz darauf schaute sie betroffen auf ihre Hände. „Natürlich… Zu wem sonst würde die Bezeichnung Waldläufer besser passen, als zu-“ Ihre Stimme versagte und sie klammerte sich wieder an Lissi, während sie wieder von ihren Tränen übermannt wurde. „Ich- ich habe dich getötet! Es tut mir so leid, Benni, ich habe dich getötet!!!“ „So ein Unsinn. Benni lebt, dass siehst du doch!“, widersprach dieses Mal Laura, die knapp hinter Ariane stand und selbst mit den Tränen zu kämpfen hatte. Susanne schüttelte den Kopf. „Nein, das war Benni!“ Ariane überkam eine gewaltige Welle an Aggression, als sie bemerkte, dass gerade die Person, wegen der Susanne weinte, immer noch vollkommen emotionslos abseits am Baum lehnte, während sogar Chip teilnahmsvoller war und Susanne mit hängenden Öhrchen betrachtete. Auch Carsten schien von Bennis Teilnahmslosigkeit genervt, denn er forderte ihn auf Indigonisch auf, etwas zu machen. Na gut, eigentlich hatte Ariane kein Wort verstanden, aber das hätte jedenfalls sie zu dem eiskalten Engel gesagt. Der eiskalte Engel öffnete den Mund, als wolle er etwas erwidern, schloss ihn aber kurz darauf wieder und tat nichts. Ariane wollte schon mit einer Moralpredigt losdonnern, als Susanne wortlos ihren Platz neben Carsten und Lissi verließ und zu dem eiskalten Engel rüber ging. „Ich glaube, das gehört dir…“, schluchzte sie und hielt ihm das kleine Eichhörnchen hin. Zu Arianes Überraschung machte der eiskalte Engel tatsächlich etwas. Er nahm Susannes Hand und schloss sanft ihre Finger wieder um das Eichhörnchen. „Wenn es ein Geschenk des Jungen war, wüsste ich nicht, warum es mir gehören würde.“ „Weil du dieser Junge warst und ich dich-“ Wieder begann Susanne zu weinen. Betrübt überlegte Ariane, wie sie sie beruhigen könnten. War das überhaupt möglich? Immerhin hatte sie nun ein kleines Kind, genauer gesagt einen kleinen Benni, auf dem Gewissen. Würde sie je darüber hinwegkommen können? Nein…, dachte Ariane traurig. Der Angriff der Unterweltler war bereits vor über einem Monat und sie hatte sich immer noch nicht damit abfinden können. Wie würde Susanne dann damit fertig werden, wenn sie mit dem kleinen Benni auch noch so gut befreundet war? „Das war nicht ich, sondern lediglich eine Kopie meiner selbst.“, widersprach der eiskalte Engel ruhig. Doch selbst das konnte Susanne nicht beruhigen. „Ob Kopie oder nicht, das warst du! Ich habe dich umgebracht!!!“, schrie sie und sackte in die Knie. Lissi war schon aufgesprungen und wollte zu ihrer Schwester rennen, als Carsten sie zurückhielt. „Das hat keinen Sinn… Wenn jemand die Schuldgefühle von ihr nehmen sollte und könnte, dann nur Benni.“, murmelte er, eher zu sich selbst. Doch Lissi setzte sich nur widerwillig und sichtlich besorgt zurück auf den Baumstamm. „Dann sollte er auch etwas machen.“, flüsterte Ariane verärgert zu Carsten, doch sie hatte ganz vergessen, dass der eiskalte Engel aufgrund seiner verdächtig guten Sinne sie so oder so hören konnte. Aber was? Auch wenn sie ihn nicht leiden konnte, weil er Laura so oft zum Weinen brachte, konnte Ariane nachvollziehen, dass der eiskalte Engel mit dieser Situation vermutlich völlig überfordert war. Immerhin gelang es noch nicht einmal Lissi, Janine oder Carsten, Susanne zu beruhigen und die drei standen ihr von allen noch am nächsten. Hinzu kam, dass der eiskalte Engel ihre Situation vermutlich überhaupt nicht kannte, beziehungsweise noch nicht einmal richtig verstehen konnte. Also wie war jemand ohne Gefühle in der Lage, jemanden mit Gefühlen zu trösten? Zögernd kniete sich der eiskalte Engel vor sie und legte eine Hand auf ihre Schulter. Chip balancierte über seinen Arm und ließ sich in Susannes Schoß fallen, um von dort mit seinen glänzenden, schwarzen Knopfaugen zu ihr hoch zu schauen. Ariane dachte, ein Lächeln über Susannes Lippen huschen zu sehen, als sie vorsichtig begann, Chip am Kopf zu kraulen, welcher genüsslich die Augen schloss. Sie wusste nicht, wie lange sie nun schon da saßen, doch ganz langsam schien sich Susanne tatsächlich zu beruhigen. Schließlich hob sie ihren Blick und schaute Benni in die Augen. „Er hatte mich gebeten, ihn zu töten…“ Verwirrt runzelte Ariane die Stirn. Hieß das, dass der reale Benni in seiner Kindheit Todeswünsche hatte?!?!? Auch Laura schien die Andeutung verstanden zu haben. Geschockt schaute sie Benni an. „Du wolltest damals sterben?!? …Warum?“ Besorgt stellte Ariane fest, dass sich in Lauras Augen mal wieder Tränen sammelten. „W-Wieso denn das?“, fragte auch die süße Ninie besorgt. Da jeder ihn fragend, teils auch geschockt und besorgt musterte und Carsten offensichtlich nicht vorhatte zu antworten, seufzte der eiskalte Engel schließlich. „Ich möchte nicht darüber sprechen…“ Jetzt war Ariane noch verwirrter. Gab es tatsächlich ein Thema, das den eiskalten Engel so belastete, dass er als Kind den Wunsch verspürt hatte, zu sterben? Ein Thema über das er immer noch nicht reden wollte?! Doch die anderen, sogar Eagle, Anne und Lissi, schienen seinen Wunsch zu berücksichtigen. Vermutlich war es auch besser so, wenn sogar der eiskalte Engel indirekt damit gemeint hatte, dass ihm dieses Thema unangenehm war. Inzwischen war Carsten aufgestanden und zu seinem besten Freund und Susanne rüber gegangen. Er beugte sich zu Susanne runter und half ihr auf, nachdem Chip wieder auf Bennis Schulter zurück gehopst war. „Geht es dir besser?“, erkundigte er sich liebevoll. Susanne brachte ein schwaches Nicken zustande. Zwar schluchzte sie immer noch etwas, doch sie zitterte nicht mehr und wirkte um einiges ruhiger als vor einer Stunde und war auch in der Lage, ihre Dämonenform zu verbergen. Eigentlich hatte Ariane vorgehabt, ihrem Magen zuvorzukommen und ihren Hunger selbst anzukündigen, doch ein lautes Grummeln ihres Bauches machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Einige schauten sie amüsiert an, als Ariane offensichtliches aussprach: „Ich hab halt Hunger! Meinem Bauch kann man nicht mit Taktgefühl kommen.“ Die Rücksicht auf Susanne war nämlich der einzige Grund gewesen, warum sie sich mit ihrer Beschwerde zurückgehalten hatte. Immerhin schien ihr Bauch Susanne langsam in die Normalität zurück zu bringen, denn sie konnte ihr Kichern nicht unterdrücken. Carsten warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Kein Wunder, es ist auch schon halb drei.“ „Dann mach uns jetzt ganz schnell was zu essen!“, forderte Ariane ihn auf. Dieser seufzte. „Ich kann doch nicht jeden Tag für zehn Leute kochen!“ „Doch, kannst du.“, widersprach sie bestimmt. Eagle schnaubte. „Ich bin für ein Restaurant. Wenn ich noch mal was ohne Fleisch essen muss, lauf ich Amok.“ „Wie wär’s, wenn wir uns erst mal nach Lumiére teleportieren und dann weiter schauen?“, schlug Öznur schlichtend vor, bevor mal wieder ein Streit zwischen den Brüdern entstehen konnte. „Gute Idee.“, meinte Carsten und holte seine Karte von Damon raus, dieses Mal, um Arianes Heimatregion genauer unter die Lupe zu nehmen. „Du wohnst in Crèmefruite, oder?“ Ariane nickte. Irritiert hob Eagle eine Augenbraue. „Erst Dessert, jetzt Crèmefruite. Warum haben alle möglichen Namen bei euch mit Nachtisch zu tun?“ „Sei still, sonst bekomm ich noch mehr Hunger!“, beschwerte sich Ariane. Derweil überlegte Carsten, ob er sie nun eher in Arianes Heimatstadt, oder in die Hauptstadt Light teleportieren sollte. „Light liegt näher am Schrein, aber zum Teleportieren wäre eigentlich die Strecke nach Crèmefruite kürzer…“ „Wie weit ist denn Crèmefruite vom Schrein entfernt?“, fragte Ariane nach. „Denn in Light war ich noch nie, um ehrlich zu sein.“ Beschämt lachte sie auf. Sie war vermutlich die einzige, die noch nie die Hauptstadt ihrer Region gesehen hatte. Carsten seufzte. „Etwa so weit, wie die Entfernung zwischen Kara und diesem Schrein.“ Ariane verschränkte die Arme vor der Brust, während sie überlegte. „Lumiére ist eher für die Industrie und weniger für günstige Zugverbindungen bekannt, aber beim Schrein selbst war ich auch noch nie.“ „Das heißt, wir müssen so oder so nach Crèmefruite und danach wird improvisiert.“, meinte Carsten und seufzte erneut. „Hauptsache, wir essen gleich was.“, meinte Anne, anscheinend ebenso hungrig wie Ariane. „Also los, teleportier uns.“ Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Hier befindet sich eine Magiebarriere. Wir müssen dieses Wäldchen erst verlassen.“ Sie befolgten seine Anweisungen, bis sie den kleinen Wald verlassen hatten, als Ariane bemerkte, dass Susanne die ganze Zeit über krampfhaft Lissis und Janines Hand gehalten hatte. Sie seufzte. Warum hatte der Pinke Bär Susanne auch so eine qualvolle Prüfung gegeben? Nur weil sie so schlau war?!? Schließlich wurde Arianes Frage weitaus kollektiver. Warum müssen eigentlich ausgerechnet wir gegen diesen Unzerstörbaren kämpfen? Wir sind trotz allem noch Kinder, also warum haben die Dämonen uns ausgesucht? Gedankenversunken reichte sie Carsten und Janine ihre Hand, als Carsten bemerkte, dass sie sich offensichtlich nicht auf ihr Ziel konzentrierte. Also bemühte sich Ariane, an ihr Haus in Crèmefruite zu denken.   Etwas zu spät bemerkte sie, dass die Küche wohl doch kein so gutes Ziel gewesen sein musste, als ihr Vater am Herd fast einen Herzinfarkt bei ihrem plötzlichen Auftauchen bekam. Natürlich hatte sie an die Küche gedacht. Sie hatte halt Hunger! „Mein Gott Ariane, mach das nie wieder!“, beschwerte er sich, als der Kopf ihrer kleinen Schwester hinter der Tür hervorlugte. „Nane?“ Begeistert kam sie auf sie zugeschossen und fiel ihr um den Hals. „Nane!!!“ „Hallo Gotsch!“, grüßte Ariane ihre kleine Schwester begeistert und befreite sich nach einer Minute aus ihrem Klammergriff. „Gotsch?“, fragte Öznur irritiert und musterte Arianes kleine Schwester. „Eigentlich heißt sie Johanna, aber ich hab sie seit ihrer Geburt schon Gotsch genannt.“, erklärte Ariane schulterzuckend. Johanna sah Ariane gar nicht so unähnlich, der größte Unterschied war, dass ihre Haare blond und nicht hellbraun waren. „Ahaaa…“ Mehr sagte Öznur nicht dazu. Das war Ariane auch recht, denn sie war viel mehr daran interessiert, was ihr Vater da kochte. „Es tut mir leid Ariane, doch ich habe nur für drei Leute Essen gemacht und nicht für eine ganze Kompanie, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass du so plötzlich hier auftauchst.“, meinte dieser. „Ähähähäm…“ Beschämt lachte Ariane auf. Im Gegensatz zu den anderen hatte sie natürlich nicht ihr Kommen angekündigt. Sie… hatte es vergessen. „Was machst du hier eigentlich? Und wie bist du hier her gekommen? Ich hab dich nicht kommen hören!“, erkundigte sich Johanna neugierig. Ariane hob die Faust in die Höhe. „Ich bin hier, um das Böse zu bekämpfen! Oder so… Na ja und Carsten hat uns her teleportiert.“ Arianes Vater schnaubte empört. „Dann hätte der junge Mann nicht gleich die Küche als Ziel nehmen müssen.“ Sie wollte schon erwidern, dass es eigentlich ihre Schuld war, doch Carsten kam ihr zuvor und murmelte nur ein: „Entschuldigen Sie bitte.“ Also entschied sich Ariane, Carsten einen dankbaren Blick zuzuwerfen. „Was ist denn das hier für ein Lärm?!? Ist das Mittagessen schon fertig?“ Ariane zuckte bei dieser Stimme unverzüglich zusammen und Johanna klammerte sich an ihre Hand und versteckte sich hinter ihr, als die Besitzerin dieser Stimme, eine Frau mit schwarzen, kurzen Haaren, blauen Augen und Solarium gebräunter Haut eintrat. Ihr kritischer Blick fiel auf die Gruppe, die ihrer Meinung nach nichts in der Küche zu suchen hatte. „Wer sind die und was wollen die hier?“, fragte sie und klang dabei unnötig angewidert. „Wir sind Freunde von Ariane und nur auf der Durchreise. Keine Sorge, wir haben nicht vor, zum Essen zu bleiben.“, ergriff überraschender Weise Eagle das Wort, der offensichtlich nicht sehr begeistert von der Respektlosigkeit dieser Frau war. Besagte Frau räusperte sich. „Dann ist ja gut. Wir haben nicht genug Platz für so viele Kinder. Ich bin übrigens Corinna, Arianes Mutter. Freut mich.“ Doch sie klang nicht sehr erfreut. „Stiefmutter.“, verbesserte Ariane, sehr zu Corinnas Ärgernis. Aber Ariane würde diese grässliche Frau nie als ihre wahre Mutter betrachten. Niemals! Corinna warf Ariane einen verärgerten Blick zu, den sie schließlich auf die ganze Gruppe richtete. „Seid ihr auch solche Freaks wie meine Tochter, die plötzlich aus dem Nichts zu leuchten anfangen? Ah, ja, eindeutig. Ich hätte es wissen müssen, als ich euch beide sah.“ Nun schaute sie nur noch Laura und Benni an, die ihr wohl besonders wegen ihrer schwarzen Kleidung aufgefallen waren. Während Laura verletzt und auch etwas traurig auf den Boden schaute, meinte der eiskalte Engel so ausdruckslos wie immer: „Wenn jemand wie Sie uns als Freak bezeichnet, zählt das wohl als Kompliment. Also vielen Dank.“ Verwirrt und auch bewundernd schaute Ariane den eiskalten Engel an, während ausgerechnet Anne ein Kichern zu unterdrücken versuchte. Auch Corinna wurde davon aus der Bahn geworfen, da sie offensichtlich etwas erwidern wollte, aber ihr nichts darauf einfiel. „Ähm… Wir sollten vielleicht aufbrechen, immerhin haben wir immer noch nichts gegessen.“, versuchte Öznur die Situation zu retten. „Können Sie uns ein gutes Restaurant empfehlen?“ Eigentlich war die freundlich gemeinte Frage an Corinna gerichtet, doch stattdessen antwortete Arianes Vater. „Es gibt einen guten Asiaten, dort haben wir bereits öfter gegessen. Ariane müsste den Weg wissen.“ „Vielen Dank und auf Wiedersehen.“ Öznur lächelte ihren Vater noch kurz an und schob Ariane zur Küchentür, bis sie von sich aus zu laufen anfing und sie zu der Haustür führte. Als sie bereits über den Garten gingen, hörte Ariane Johanna rufen: „Waaaaartet auf miiiiich!!!“ Verwirrt drehte sie sich um. „Ich will mit!“, erklärte ihre kleine Schwester empört. „Ich will nicht schon wieder alleine mit Papa und dieser dummen Kuh essen! Und du warst so lange nicht mehr da!“ Eagle lachte auf. „Kann ich nur zu gut verstehen.“ Seufzend gab sich Ariane geschlagen. „Papa wird davon zwar nicht begeistert sein, aber was soll’s.“ Sie führte die Gruppe einige Straßen entlang, bis sie endlich bei besagtem Asiaten angekommen waren. Janine hatte wieder die Hälfte von Lauras Portion bekommen und es wurde den Gästen freigestellt, ob sie mit normalem Besteck oder Stäbchen essen wollten. Ariane bemühte sich, mal mit Stäbchen auszuprobieren, doch musste sich eingestehen, dass sie bei diesem Versuch kläglich scheiterte, während Carsten, Benni und Laura beneidenswert perfekt damit umgehen konnten. Die anderen hatten sich zu Messer und Gabel geflüchtet, um damit so schnell wie möglich ihren Hunger stillen zu können. Ariane seufzte. Dass das so kompliziert war hatte sie nicht gedacht. „Ach so, Nane, was ich noch wissen wollte, warum hast du eine Stiefmutter?“, fragte Öznur plötzlich nach. Betrübt starrte Ariane ihr Essen an, das ihr immer wieder von den Stäbchen fiel. „Warum wohl?“ Da weder Öznur noch sonst wer irgendetwas sagte, erklärte Ariane schließlich: „Meine richtige Mutter starb an Karystma, als ich sieben Jahre alt war. Vier Jahre später hat Papa dann diese dumme Kuh, die ihr vorhin getroffen habt geheiratet.“ „Das tut mir leid…“, murmelte Laura betroffen und ließ ihre Stäbchen sinken. „Aber warum hat dein Vater die geheiratet? Ich meine, sie ist unausstehlich! Schon alleine aus dem Grund, wie sie deine Freunde behandelt.“ Empört spießte Öznur ihre gebratenen Nudeln auf. Ariane zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Ahnung. „Ich wäre viel mehr daran interessiert, wie sie auf die Idee mit dem ‚Freak‘ kam.“, sinnierte Carsten. „Als ich mich mit der dummen Kuh mal gestritten hatte, wollte sie mich hauen.“, erklärte Gotsch an Arianes Stelle, „Nane ist dazwischen gegangen und plötzlich wurden wir alle geblendet.“ Anne runzelte die Stirn. „Das heißt, sie weiß, dass du… Na ja, du weißt schon. Wenn diese Schlampe dich wirklich nicht ausstehen kann, könnte das gefährlich für uns werden.“ Ariane schüttelte den Kopf. „Nein, sie hat’s nicht kapiert.“ Den Rest der Zeit verbrachten sie nur noch mit Essen, wobei Laura Ariane beibrachte, wie sie mit den Stäbchen umgehen musste und der größte Teil der Gruppe öfter innehielt, um sie belustigt zu beobachten. Nachdem Ariane endlich gesättigt war, machten sie sich mit dem Bus auf die Weiterreise, aber erst nachdem sie Johanna davon überzeugt hatten, dass sie nicht mitkommen konnte. Traurig dachte Ariane an ihren flehenden Blick zurück. Es fiel ihr schwer, sie schon wieder bei dieser Hexe zurücklassen zu müssen, die sich einfach so an den Platz ihrer Mutter gedrängt hatte. Ariane vermisste ihre Mutter sehr… „Man merkt erst, wie wichtig jemand für einen war, wenn er nicht mehr da ist. Nicht wahr?“ Sie warf Eagle einen erschrockenen Blick zu, weil dieser sie aus ihren tristen Gedanken gerissen hatte. Er lächelte sie entschuldigend an. „Das hatte mein Vater irgendwann mal zum Tod meiner Mutter gesagt.“ Deprimiert nickte Ariane. Ihr war ihre Mutter natürlich auch davor schon sehr wichtig gewesen, doch das Gefühl, als sie auf einmal nicht mehr da war, war furchtbar. Sie hatte einfach in all ihren Lebensbereichen gefehlt! Ariane überlegte. Wäre sie stolz auf mich gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass ich die Besitzerin des Weißen Hais bin? Denn die strikte Anordnung des Weißen Hais hatte sie davon abgehalten, es irgendjemandem zu sagen.   ~*~   Als der Bus ihnen etwa ein Drittel ihres Weges abgenommen hatte, stiegen sie aus und gingen den Rest zu Fuß. Es war eigentlich eine gemütliche Strecke, auch wenn es manchmal anstrengend bergauf ging, was besonders Laura und auch Öznur zu schaffen machte. Sie befanden sich weit entfernt von der nächsten Stadt, die die Hauptstadt Light wäre und trafen nur auf vereinzelte Dörfer. An einer Stelle kamen sie an eine Autobahn, die die Großstädte miteinander verband und die es zu überqueren galt. Carsten merkte, wie Ariane unwohl wurde. „Geht es nur mir so, oder denkt auch ihr immer daran, dass man hier eigentlich ganz leicht Selbstmord begehen könnte?“ Er hob überrascht die Augenbrauen und schaute über das Geländer runter. Alleine der Gedanke daran, dass man hier sehr tief fallen könnte, ließ ihn schaudern. „Irgendwie hast du Recht…“ Ariane schüttelte sich. „Igitt, ich will nicht als Straßenmatsch enden! Wenn ich jemals tatsächlich Selbstmord begehen würde, würde ich viel lieber Tabletten schlucken.“ „Ach was, sei nicht so negativ, Nane. Das passt gar nicht zu dir!“, widersprach Öznur und begann plötzlich, den Autofahrern zuzuwinken. Einige LKW-Fahrer hupten ihr sogar als Antwort zu. „Oh mein Gott, das ist ja total lustig!“, rief Lissi begeistert und tat es Öznur gleich. Carsten seufzte. „Lasst das lieber. Ich hätte als Autofahrer eher Angst, dass ihr Steine runter werfen könntet.“ „Unsinn, du bist so ein Weichei.“, kommentierte Eagle seine Sorgen und setzte sich ganz entspannt auf die Brücke, wissend, dass es vermutlich noch etwas dauern könnte. „Leute, lasst uns endlich weiter gehen! Ich find’s hier unheimlich!“, drängte Ariane, doch niemand schien auch nur Notiz von ihr zu nehmen. Also rannte sie einfach schnell auf die andere Seite, um von der Brücke runterzukommen. Derweil setzte sich Carsten zu Susanne und Janine, die zwar nicht so verängstigt wie Ariane, aber dennoch besorgniserregend verschwiegen waren. Carsten wusste, dass die Prüfung Susanne immer noch belastete. Daher konnte er nur schweigend ihre Hand drücken und beobachtete derweil Benni, welcher am Geländer der Brücke lehnte und die Autos beobachtete, die unter ihnen durchrauschten. Noch nicht einmal Carsten hatte gewusst, dass er damals als Kind so gedacht hatte. Er hatte Vermutungen gehabt, aber mehr auch nicht. So hatte dieses Bild auf ihn nun eine ganz andere Wirkung. Wie Ariane bereits gesagt hatte, diese Brücke war eigentlich ideal zum Selbstmord. Vermutlich dachte sich Benni überhaupt nichts dabei. Und trotzdem hatte Carsten auf einmal Angst, dass er jede Sekunde auf das Geländer steigen und sich fallen lassen würde. Seine trüben Gedanken besserten sich etwas, als sich Laura ziemlich dicht neben Benni stellte, sodass sie sich fast berührten. Wobei dieser Annäherungsversuch vermutlich unbewusst geschah. Carsten wollte schon den Blick abwenden und ein Gespräch mit Susanne beginnen, um diese etwas aufzuheitern, als Laura plötzlich aufschrie. „Spinneeeee!!!“, krisch sie und klammerte sich panisch an Bennis Arm, während fast alle anderen lachend beobachteten, wie sich Laura erst vor der daumengroßen Spinne zu verstecken versuchte und dann einen Fluchtversuch startete. Doch da sie sich immer noch an Bennis Arm klammerte und sich dieser keinen Millimeter rührte, stolperte sie und flog regelrecht auf die Nase. Carsten hörte von hinten ein „Ich rette dich vor dem Fluch der Autobahn, Laura!“ rufen, als plötzlich Ariane vorbeigeschossen kam, Laura halb auf die Beine zerrte und sie auf die andere Seite der Brücke schleifte. Nur dummerweise war es die Seite, von der sie gerade erst gekommen waren, wie Ariane kurz darauf erschrocken feststellen musste. Bis auf Laura und Ariane selbst war eigentlich nur noch Benni nicht von dem Lachanfall betroffen, der den Rest der Gruppe heimsuchte. Carsten mühte sich wieder auf die Beine und ging rüber zu Laura und Ariane, die ziemlich verstört wirkten. „Na los, kommt schon, so schlimm ist es nicht.“ Wie zuvor bei Benni krallte sich Laura an seinen Arm und hielt sich soweit es ging vom Geländer fern, während sich Ariane wiederum an Lauras Arm klammerte. „Lasst uns endlich gehen.“, rief Carsten zu Öznur und Lissi rüber. „Ach bitte noch nicht, Cärstchen! Die Autofahrer sind so lustig!“, rief Lissi und begann, auf dem Geländer zu balancieren und schlug ein überraschend gekonntes Rad, bis sie schließlich Arianes lautstarker Anweisung nachgab, endlich da runter zu klettern.  Seufzend setzte sich Carsten wieder zu Susanne und Janine. Laura tat es ihm gleich, nur Ariane schaute sich verängstigt um. „Nane, setz dich doch einfach hin. Auf dem Boden ist es nicht ganz so schlimm.“, riet Janine ihr. Nur, dass sich Ariane daraufhin nicht auf den Boden setzte, sondern sich direkt auf den Bauch legte. Genervt stützte sich Carsten auf seiner Hand ab. Das würde noch ewig dauern! Zur Ausnahme schien Eagle dasselbe zu denken wie er, denn er stand einfach auf und meinte zu Öznur und Lissi: „Wenn ihr noch länger bleiben wollt, dann bitte. Ich hab nicht mehr vor, zu warten.“ Ohne ein weiteres Wort ging er weiter, als überraschender Weise auch Benni seinen Platz am Geländer verließ und ihm folgte. So stand auch Carsten auf und zerrte Ariane auf die Beine, die kurz darauf auch schon wieder von der Brücke sprintete. Dieses Mal auf die richtige Seite.   ~*~   Ab sofort erkläre ich Autobahnbrücken den Krieg!, beschloss Ariane energisch, als sie endlich weiter gingen und sogar Öznur und Lissi ihnen kurz darauf hinterher gerannt kamen. Sie konnte nicht verstehen, warum die beiden so begeistert davon waren! Sehr zu Arianes Bedauern hatte sich der Himmel in den letzten Tagen ziemlich verfinstert und kündigte einen gewaltigen Regenschauer an. Zum Glück lagen die Wolken sehr weit südlich, doch sie schienen ein sehr großes Terrain zu überdecken. Da ihr nächstes Ziel Yami sein würde, würden sie vermutlich in genau diesem Gebiet landen. Doch das Wetter war erst mal ohne Bedeutung. Viel wichtiger war, dass sie endlich den Schrein erreicht hatten und zwischendurch nicht noch eine Autobahn überqueren mussten. Verwirrt betrachtete Ariane den Schrein. Sonst war er immer irgendwie versteckt gewesen, oder so abgelegen, dass er auch schon wieder versteckt war. Doch ihr Schrein stand da einfach so auf einem freien Feld herum und wirkte völlig fehl am Platz. Na gut, er sah schon gut aus. Weitaus pompöser als der Schrein der Gelben Tarantel. Er war aus weißem Marmor und hatte kleine Türmchen an den Ecken. Das Eingangstor bestand aus hellem und sehr stabil wirkendem Holz. Ariane seufzte. Nun stand sie hier, vor dem Schrein des Weißen Hais, mit dem Ziel ihre Prüfung zu bestehen. Doch nachdem sie von Susannes Prüfung erfahren hatte, wollte sie eigentlich nur noch Reißaus nehmen. Sie spürte Carstens Hand auf ihrer Schulter. „Du schaffst das.“ „Aber was ist, wenn ich so eine ähnliche Prüfung wie Susi bekomme?“, vertraute sie ihm ihre Sorge an, biss sich aber kurz darauf erschrocken auf die Zunge. Verdammt, Susanne hatte sie garantiert gehört! Sie warf einen prüfenden Blick auf ihre Freundin, doch Susanne wirkte genauso niedergeschlagen wie zuvor. Das war zwar auch nicht gut, aber immer noch besser, als wenn sie Ariane tatsächlich gehört hätte und nun noch niedergeschlagener wäre. Unbewusst klammerte sich Ariane an Carstens Hand als sie ihn fragte: „Kannst jedenfalls du mitkommen?“ „Ich weiß nicht, ob der Weiße Hai mich reinlässt, aber ein Versuch schadet hoffentlich nichts.“, erwiderte er. Es war auch bitter nötig, dass Carsten die letzten Meter zum Schrein Arianes Hand hielt, denn hätte er sie nicht festgehalten, würde Ariane vermutlich immer noch an derselben Stelle stehen. Doch die Tür öffnete Ariane selbst. Als sie bereits eingetreten war, bemerkte sie, dass Carsten ihr nicht folgte. „Was ist?“ Dieser seufzte. „Eine Barriere hält mich davon ab, auch rein zu kommen.“ „Was?!?“ „Du musst da alleine durch… Es tut mir leid.“ Carsten lächelte Ariane traurig an, ließ ihre Hand los und entfernte sich einige Schritte von der Tür. „Du kannst das. Glaub an dich.“ „Warte!“, schrie Ariane. Noch ehe irgendjemand sonst zu ihr eilen konnte, fiel das Tor auch schon laut krachend in die Angeln. Sie befand sich in purer Dunkelheit. Ariane hatte Angst vor der Dunkelheit. Dort könnten zu jeder Zeit solche Gruselgestalten wie der ‚Tick-Tack-Mörder‘ oder die Nixe, die Laura angegriffen hatte, auftauchen. Und sie war allein. Ariane hatte auch Angst vor dem Allein-sein. Dann fühlte sie sich immer so schutzlos, als wäre sie der ganzen Welt ausgeliefert. „Okay, ich bin hier. Also fang endlich an mit deiner Prüfung.“, forderte sie den Weißen Hai auf und fragte sich, ob er sie überhaupt hören konnte oder wo er sich im Moment überhaupt befand. Seufzend verschränkte Ariane die Arme vor der Brust und wartete. Und wartete. Und wartete… Und wartete… … Langsam genervt setzte sie sich hin. Dieser Dämon wollte sie doch nicht ernsthaft in Geduld prüfen?!? „Ariane?“ Ariane schreckte hoch. Hatte da nicht irgendjemand ihren Namen genannt? Eine Stimme, die ihr so vertraut vorkam und die sie doch so lange nicht mehr gehört hatte? „Ariane, Liebes, bist du das?“ „Mama?!“, schrie Ariane in die Dunkelheit, als plötzlich ein paar Schritte vor ihr ihre Mutter auftauchte. Sie sah so aus, wie sie sie in Erinnerung hatte, mit seidigen braunen Haaren und strahlenden grünen Augen. Ariane spürte, wie sich die Tränen in ihren Augen sammelten. Sie rannte auf ihre Mutter zu, welche die Arme ausbreitete, um diese um ihre Tochter zu schließen. „Ich hab dich so vermisst!!!“, rief Ariane fröhlich und schloss ihre Mutter in die Arme. Doch sie griff ins Leere. „Mama?“ Verwirrt schaute sich Ariane um, doch von ihrer Mutter fehlte jede Spur.  Ihr Herz zog sich zusammen, als ihr wieder einfiel, wo ihre Mutter war. „Mama!!!“ „Nane? Was ist mit Mama?“ Im Nachthemd und sich die Augen reibend kam Johanna auf sie zu geschlurft. „Mama war gerade-“ „Ariane, deine Mutter ist tot.“ Entgeistert schaute sie ihren Vater an, doch dieser würdigte ihr keines Blickes. „Johanna, komm. Das Essen ist fertig.“ „Aber Papa-“, setzte Johanna an, doch da kam auch schon Corinna auf sie zu. „Wo bleibt ihr denn?“ „Ähm… Kann ich mitkommen?“, fragte Ariane zögernd. Als müsste sie um Erlaubnis fragen, um mit ihrer Schwester und ihrem Vater essen zu können! Corinna musterte sie mit angewidertem Blick. „Bleib bloß fern von uns, du Freak.“ „Ich bin kein Freak!“, beschwerte sie sich, doch Corinna hakte sich bei Arianes Vater unter und sie gingen. „Naneeeee! Komm mit!“, rief Johanna verzweifelt und streckte ihre Hand nach Ariane aus, doch egal wie sehr sich Ariane bemühte, sich ihnen zu nähern, es war zwecklos. „Wartet!!!“, schrie sie in die Dunkelheit. „Aua, Nane! Du musst mir ja nicht gleich ins Ohr brüllen.“ Erschrocken wich Ariane zurück, als plötzlich Carsten direkt vor ihr stand, der sie freundlich anlächelte. Während die Tränen sie übermannten, warf sich Ariane in Carstens Arme. „Ein Glück, du bist da! Eben ist meine Mutter aufgetaucht aber sie ist plötzlich wieder verschwunden und dann-“ Erschrocken hielt Ariane inne. Hatte da etwas auf ihren Kopf getropft? Vorsichtig hob sie den Blick. Carstens Gesicht war völlig blutverschmiert. Und nicht nur sein Gesicht! Die Wange herunter, die gesamte linke Seite entlang, waren tiefe Schnitte, die bis zu seiner Hüfte reichten. „Aaaah!“ Mit einem Aufschrei wich Ariane zurück, sodass Carsten in die Knie sackte. Als sie sich von dem Schreck erholt hatte, streckte sie vorsichtig ihre Hand nach ihm aus. „Ist alles in Ordnung?“ Doch sie spürte nur noch leblosen Staub unter ihren Fingern. Schluchzend stolperte Ariane einige Schritte zurück und verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen. Was ging hier vor sich?!? „Nane? Was hast du?“ Geschockt schaute Ariane auf, als sie Laura auf sich zukommen sah, gefolgt von dem eiskalten Engel, der so teilnahmslos wie immer wirkte. „Laura, ich- Carsten ist-“ Wie konnte sie Laura beibringen, dass eben gerade ihr bester Freund gestorben war?!? Laura musterte sie besorgt und kniete sich zu ihr runter. „Geht es dir nicht gut?“ Schluchzend schüttelte Ariane den Kopf. Ihr ging es grauenvoll!!! Es war fast so, wie als wäre sie in einem Albtraum gefangen!!! Ein eiskalter Schauder lief über Arianes Rücken, als sie sah, wie Laura sich räusperte und kurz darauf von einem fürchterlichen Hustenanfall geschüttelt wurde, in den sich eine schwindelerregende Menge Blut mischte. „K-keine Angst, Laura, das wird schon wieder!“, sprach sie sowohl Laura, als auch sich selbst Mut zu. Als Laura röchelnd ein: „Nein, es… es tut mir… leid.“ hervorbrachte, bevor sie das Bewusstsein verlor und in Arianes Armen zusammensackte. Ariane wurde das Herz schwer, als sie realisierte, was geschehen war. Laura war nicht ohnmächtig geworden… Sie war- „Warum hast du nichts getan?!?“, brüllte sie den eiskalten Engel unter Tränen an. „Du hättest sie retten können!!!“ Benni wich ihrem wütenden und zugleich von Trauer zerfressenen Blick aus, doch Ariane bemerkte, dass er zum ersten Mal selbst richtig traurig aussah. Sie hörte auf, ihn anzubrüllen. „Ist alles in Ordnung?“ Benni erwiderte ihren besorgten Blick und Ariane bildete es sich nicht nur ein, er hatte tatsächlich Tränen in seinen Augen! Sie wollte einen Schritt auf ihn zugehen, als aus dem Boden plötzlich Flammen schossen, die ihn einsperrten und kurz darauf ein gewaltig langer, spitzer Schnabel ihn verschlang. Ariane schrie auf und versuchte, ihr Herz zu beruhigen. War das eben wirklich passiert?!? Sie stolperte vorsichtig zu der Stelle, an der Benni eben noch gestanden hatte. An genau dieser Stelle lag eine silberne Halskette mit demselben silbern funkelnden Kreuzanhänger, den Ariane bereits an Lauras Hals gesehen hatte. Ariane streckte die Hand nach der Kette aus. „Nane, Hilfe! Hilf mir!“ Besorgt drehte sich Ariane um und entdeckte Janine, die auf sie zu gerannt kam, als würde eine Horde Vampire sie verfolgen. Atemlos fiel sie in Arianes Arme. „Ninie? Was ist passiert?!“ „Sie… Sie kommen.“, keuchte Janine.     Ariane wusste nicht, wer kam. Aber eben gerade waren vor ihren Augen drei gute Freunde gestorben! Sie wollte nicht auch noch Janine verlieren, sie musste sie beschützen! Das war das einzige, was ihr Gehirn noch zu denken imstande war. Beschützen. Ich muss sie beschützen! Also packte sie sie am Handgelenk und rannte weiter in die Dunkelheit in der Hoffnung, so ihren Verfolgern zu entkommen, als sich die Dunkelheit teilte und sie atemlos auf einer Brücke zum Stehen kam. Unter ihnen rauschten Autos entlang und Ariane überkam erneut ein Kälteschauer, als sie erkannte, wo sie sich befanden. „Susi!“, rief Janine plötzlich und rannte auf Susanne zu. Diese stand am Geländer und beobachtete die unter ihr entlangrasenden Autos. Als sie bemerkte, dass sich Janine und Ariane ihr näherten, hob sie schließlich den Blick. Sie weinte, stellte Ariane besorgt fest. „Es… Es tut mir leid… Ich kann das nicht…“ Ariane runzelte verwirrt die Stirn. „Was kannst du nicht?“ Doch Susanne antwortete nicht. Stattdessen setzte sie sich auf das Geländer und schaute wieder nach unten. „Susanne, lass das! Mir egal, was du nicht kannst, es wird sich garantiert eine Lösung finden!“, rief Ariane besorgt, als sie erahnte, was Susanne vermutlich vorhatte. Doch diese schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid.“, sagte sie und ließ sich nach vorne fallen. Ariane kniff beim Aufprall die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. War das gerade wirklich passiert? War das ganze real?!? „Hab ich euch!“ Janine schrie auf und klammerte sich an ihrem Arm fest, als Ariane die widerliche Schleimerstimme erkannte und sich störrischen Blickes Lukas zuwandte. Sie würde Janine beschützen, sie musste Janine beschützen! Lukas lachte auf. „Guck nicht so kämpferisch, das bessert eure Lage auch nicht. Ihr seid die einzigen, die noch übrig sind, also erwartet keine Hilfe von euren anderen Freunden.“ Hieß das, alle anderen waren tot?!? Eingeschüchtert wich Ariane einen Schritt zurück. Einen kleinen Schritt. Aber ein großer Fehler. Ein lauter Knall ertönte und Janine sackte mit einem erstickten Laut zusammen. „Ninie!“, schrie Ariane. Das Entsetzen überkam sie als sie sah, wie ihr gelber Pulli begann sich tiefrot zu färben. Sie hatte ihr keine Deckung mehr gegeben… „Jetzt bist du an der Reihe.“ Ariane zitterte am ganzen Körper, als sie Lukas auf sich zukommen sah. In seinen Augen sah sie den puren Hass, die reine Schadenfreude und die Mordlust höchstpersönlich. In seinen Brillengläsern sah Ariane wieder, wie ihre Mutter sich in Luft auflöste, Corinna mit ihrem Vater Johanna von ihr wegzerrte, wie Carsten vor ihren Augen zusammengebrochen war, Laura in ihren Armen dem Karystma unterlag und Benni von einem gewaltigen Monster verschlungen wurde. Wie sich Susanne in die Tiefe stürzte und wie sie Janine dem tödlichen Schuss aus Lukas‘ Pistole preisgab. Schluchzend hielt Ariane die Hände vor ihre Augen, als sie den Lauf von Lukas‘ Pistole auf ihrem Scheitel spürte und hörte, wie er sie entsicherte. Würde sie hier einfach so sterben? Kampflos aufgeben? Doch Ariane wusste nicht, worum sie noch kämpfen sollte. Sie war allein! Sie hatte keinen mehr, den sie beschützen konnte!!! Und was war mit ihrem eigenen Leben? War es denn nichts wert? Nein. Wenn sie allein war, würde sie viel lieber sterben. Ariane schluchzte. War das wirklich die richtige Entscheidung? Nein, eigentlich nicht. Was würde es den anderen bringen, wenn sie ihnen jetzt auch in das Reich der Toten folgen würde? Gar nichts! Sie musste in der Lage sein, auch alleine zurecht zu kommen. „Ich lasse mich nicht töten und schon gar nicht von dir!!!“, schrie Ariane und ließ ihre gesamte Licht-Energie aus ihrem Körper. Sie stieß Lukas zurück, ehe er dazu kommen konnte, den Abzug zu drücken und rannte im Schutz ihres Lichtes davon. Keuchend blieb sie schließlich stehen und stoppte ihre Licht-Energie, die langsam an ihren Kräften zehrte. Doch nun befand sie sich wieder in völliger Dunkelheit. Als wäre ihr kalt schlang Ariane die Arme um sich. Was kommt jetzt? Wer wird jetzt vor meinen Augen sterben? „Keine Sorge, nun hast du alles überstanden.“ Erleichtert atmete Ariane auf, als sie die machterfüllte Stimme des Weißen Hais hörte. Doch mit der Erleichterung kam auch die Erschöpfung. Arianes Knie waren nicht mehr imstande, sie zu halten. Erschöpft sackte sie auf den nicht vorhandenen Boden und versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Wie als wäre das Nichts in dem sie sich befanden mit Wasser gefüllt, kam der Weiße Hai auf sie zu geschwommen. Er war riesig. Ariane fühlte sich wie ein kleiner Wurm im Vergleich zu ihm. „Du hast dich gut geschlagen.“, lobte er sie. Doch Ariane konnte sich nicht über dieses Lob freuen. „Warum hast du mir das angetan?“, fragte sie, nach wie vor um Atem ringend. „Was?“ „Du weißt, was!“ Und wieder musste Ariane schluchzen. „Warum hast du sie alle getötet?!“ „Sie sind nicht tot, Ariane.“, widersprach der Weiße Hai. „Nur eine, doch das weißt du bereits.“ „Darum geht es mir nicht!“, rief sie aufgebracht. Zitternd atmete sie aus, konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Es war so grauenvoll…“ Der Weiße Hai seufzte. „Ich weiß, doch du musst dazu in der Lage sein, dich verteidigen zu können auch wenn sonst alles hoffnungslos erscheint. Du musstest das schaffen, worin dein Vorgänger versagt hat.“ Ariane schaute ihn fragend an, auch wenn die Tränen ihre Sicht undeutlich werden ließen. „Er wollte nicht mehr kämpfen, als er alleine zurückblieb. Er hat es nicht geschafft, das Licht in seinem Inneren am Leuchten zu lassen. Und das war sein Untergang.“, erklärte der Weiße Hai. „Und warum hast du mich dann ausgewählt?“ „Weil du genau das kannst. Weil sich dein Licht nicht erlöschen lässt.“ „So ein Blödsinn!“, schrie sie. „Ich hätte das genauso wenig geschafft, wie jeder andere! Ich bin noch ein Kind! Wir sind alle noch Kinder, noch nicht einmal Eagle ist volljährig! Also warum habt ihr uns ausgesucht?!? Warum nicht jemanden wie Konrad oder Florian, der schon erwachsen und erfahren ist?!“ Der Weiße Hai seufzte. „Ja, ihr seid noch Kinder. Aber genau deshalb haben wir euch auserwählt.“ „Wieso?!? Wir besitzen kaum Kampferfahrung, nein, die meisten von uns lernen gerade erst, zu kämpfen! Also warum braucht ihr dann ausgerechnet uns?“ „Weil ihr zusammenhaltet. Weil ihr noch Wert auf Freundschaft legt. Im erwachsenen Alter gehen diese Gefühle meist verloren, doch du müsstest ja wissen, was euren Vorgängern geschehen ist, weil sie sich gegenseitig nicht vertraut haben.“ Ariane stutzte. Nur deshalb? Doch im Prinzip hatte der Weiße Hai tatsächlich Recht. Würde sie für die Direktoren, falls einer von denen ein Dämonenbesitzer wäre, wirklich genauso hart kämpfen wie für Laura, Janine, Carsten, Susanne oder die anderen? „Aber ich konnte sie nicht beschützen… Ich habe Janine sterben lassen! Ich konnte Susanne nicht davon abhalten zu springen!“ „Das ist auch nicht deine Aufgabe.“, beruhigte der Weiße Hai sie. „Deine Aufgabe ist es, das Licht zu sein, welches es vermag die Dunkelheit zu erhellen. Der Hoffnungsfunken, der anderen den Weg weist.“ Die Energie, aus der er bestand, begann sich zu verformen. Die Schwanzflosse verschwand, er wandelte sich, bis vor Ariane ein attraktiver Mann mit hoch gegelten weißen Haaren stand, dessen weiße Augen, unheimlich und zugleich freundlich erschienen. „Deine Aufgabe war es das zu schaffen, was dein Vorgänger, ein erwachsener Mann wohlgemerkt, nicht geschafft hatte. Und diese Aufgabe hast du bestanden. Und ich bin überzeugt, dass du sie auch in Zukunft meistern wirst.“ Er beugte sich zu Ariane runter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Es war nur ein kurzer Moment, in dem seine Lippen sie berührten und in dem eine gewaltige Masse an Energie in ihren Körper floss. Kapitel 30: Feuer und Zerstörung --------------------------------    Feuer und Zerstörung       Laura war überrascht, dass sie nur eine halbe Stunde warten mussten, als sich plötzlich die weiße Tür zum Schrein öffnete und Ariane herausgeschossen kam. Schwer atmend blieb sie stehen und musterte die gesamte Gruppe, bis sie schließlich erleichtert meinte: „Ein Glück, es geht euch wirklich allen gut.“ Verwirrt hob Anne eine Augenbraue. „Natürlich geht es uns gut. Wie kommst du darauf?“ „Weil-“ Arianes Blick fiel auf Laura. „Na ja, nicht so wichtig.“ Lachend hüpfte sie die Stufen runter, die zum Schrein hinaufführten, und sprang Laura mit solcher Wucht um den Hals, dass sie diese damit zu Boden warf. Laura wusste zwar nicht, was Ariane vorhin damit gemeint hatte, aber sie war froh, dass sie nach ihrer Prüfung jedenfalls lachte. Im Gegensatz zu Susanne, die sich zwar über Arianes bestandene Prüfung freute aber immer noch sehr angeschlagen wirkte. Eigentlich hatte sich Ariane nicht allzu stark verändert. Zwischen ihren Fingern bemerkte Laura Schwimmhäute und entsprechend ihrer Energie strahlte Ariane auch weiß. Doch am auffälligsten waren ihre Augen. Der Augapfel war tiefschwarz, während ihre Iris weiß hervorstach und der Pupillenschlitz wieder schwarz war. Eigentlich hätte Laura die klassische Haiflosse auf ihrem Rücken erwartet, doch da war nichts. Vermutlich, weil eine Flosse am Rücken doch ziemlich unpraktisch wäre, würde sich Ariane nicht gerade im Wasser befinden und Leute erschrecken wollen. So wie alle anderen auch, verbarg Ariane ihre Dämonenform wieder, ehe sie Carsten auffordernd anschaute. „So, jetzt will ich was essen.“ „Warum hast du denn schon wieder Hunger? Wir haben vor etwa vier Stunden erst gegessen.“, fragte Anne genervt. „Genau, vor vier Stunden. Und im Gegensatz zu euch musste ich auch noch meine Prüfung absolvieren und brauch erst mal was zum Futtern, um mich zu beruhigen!“, erklärte Ariane aufgebracht. Sie muss sich beruhigen? Verwirrt schaute Laura Ariane an. Sie wirkte doch ganz munter… Doch da niemand sonst nachfragte, blieb auch sie still. Vielleicht war Arianes Prüfung doch nicht so einfach gewesen, wie ihre heitere Stimmung vermuten ließ. „Laura hat vorhin bei ihren Eltern angerufen und uns angekündigt. Sie müssten also wissen, dass wir bei ihnen zu Abend essen.“, meinte Carsten. Ein kalter Schauder lief über Lauras Rücken und sie schüttelte sich. Stimmt ja, morgen war sie mit ihrer Prüfung an der Reihe… Es war schon schlimm genug, dass sie die Letzte war, während alle anderen bereits ihre Dämonenform hatten. Aber noch schlimmer war, dass Laura jetzt die einzige war, die noch keine Dämonenform hatte! „Oh ja, dann teleportier uns endlich nach Yami!!!“, rief Ariane in begeisterter Erwartung, gleich etwas essen zu können. „Öh… hat unser Haus eigentlich auch eine Magiebarriere?“, erkundigte sich Laura zögernd. Sie hatte noch nie darauf geachtet. Wobei sie sich auch noch nie zuvor nach Hause teleportiert hatte. Carsten nickte als Antwort. „Du kannst dir ja den Wald zwischen Zukiyonaka und Obakemori vorstellen.“, schlug er vor und reichte ihr seine Hand. Laura tat wir ihr geheißen und als der Kreis vollendet war, stellte sie sich einen Weg in dem Wald vor, der von Zukiyonaka zu Obakemori führte und den sie als Kind öfter zusammen mit Benni gegangen war, um Eufelia-Sensei zu besuchen.   Sie spürte, wie die Kraftlosigkeit an ihr zehrte, als sie an besagter Stelle im Wald auftauchten.  Laura war nicht vollkommen entkräftet und hatte auch nicht das Gefühl, sofort zusammenzubrechen, aber dennoch fühlte sie, wie sie langsam an ihr Limit stieß. Carsten schien es bemerkt zu haben, denn er stützte ihren Arm, bis Laura so halbwegs wieder zu Atem gekommen war. „Keine Sorge, das war die so ziemlich letzte Teleportation.“, sprach er ihr aufmunternd zu. Laura nickte und befreite sich kurz darauf aus Carstens stützendem Griff, um den Waldweg entlangzugehen, der zu dem Haus ihrer Eltern führte. Es lag etwas außerhalb von Zukiyonaka, der Hauptstadt der Yami-Region und man würde eigentlich nur aufgrund des gepflasterten Weges und den in regelmäßigen Abständen stehenden Laternen erahnen können, dass hinter den Bäumen auf einmal eine Villa zum Vorschein kam. Es war ein seltsames Gefühl, nach einem viertel Jahr wieder vor der Villa des Regenten der Yami-Region zu stehen. Vor der Villa, die ihr Zuhause war. Von außen konnte man aufgrund der hohen Steinmauer, die ein kleines, schwarzes Dach zierte nur die Krone japanischer Bäume und hochgewachsener Sträucher sehen. Sie durchschritten das schwarze, verschnörkelte Eingangstor, durch dessen Gitter Außenstehende die einzige Möglichkeit hatten, einen Blick auf die Villa werfen zu können. Die Mädchen, die weniger Reichtum gewohnt waren, staunten nicht schlecht, als sie sich umschauten. Zwar war es hier nicht so prunkvoll wie das Schloss, in dem Anne lebte, doch sie hatte ihren eigenen Charme. Die Villa war, wie das Hauptgebäude der Coeur-Academy, U-Förmig und hatte eine braungraue Steinfassade, die zwischendurch von massiven, dunklen, senkrecht stehenden Holzbalken und mehreren großen Fenstern mit einem Holzgitter unterbrochen wurde. Das Dach bestand wie das kleine Dach auf der Mauer aus dunkelbraunen bis schwarzen Ziegelsteinen und lief am Rand immer etwas schwungvoll nach oben aus, während die Ecken spitz zuliefen. Die zweite Etage wirkte durch die ‚normaleren‘ Bogenfenster etwas moderner und an beiden Außenseiten konnte man einen kleinen Balkon sehen. Der Garten zeigte bereits alle möglichen Grüntöne der an der Mauer stehenden Bäume und Sträucher und entlang der Fassade der Villa waren noch nicht blühende Rosenstöcke und -büsche gepflanzt. Abwechselnd am Weg, der zur Villa führte, waren Laternen und kleine, schmale Kirschbäume angereiht und daneben befand sich ein kleiner Springbrunnen aus demselben Stein wie auch die Mauer gemacht war. Laura ging voran und führte die anderen über den Steinweg zur dunkelbraun bis schwarzen Holzeingangstür. Kaum war sie die drei Stufen zur Tür hinaufgestiegen öffnete sich diese auch schon und Rebecca fiel ihr um den Hals. „Laura, wie schön, dich endlich wieder zu sehen!“, rief sie begeistert. Laure erwiderte zögernd die Umarmung.  „Was machst du denn hier?“, fragte sie ihr inzwischen ehemaliges Kindermädchen verwirrt. Diese zuckte mit den Schultern. „Euer Butler hat sich die zwei kommenden Wochen über Ostern Urlaub genommen und als ich gehört habe, dass du vorhattest zu kommen, hab ich schnurstracks meine Sachen gepackt und bin für ihn eingesprungen.“ Erst jetzt bemerkte Laura, dass sie ihre Dienstkleidung trug. „Ach so… Das ist Rebecca. Sie war so was wie mein Kindermädchen.“, stellte Laura Rebecca dem Rest der Gruppe vor, die sie noch nicht kannten. „Freut mich.“, grüßte Rebecca freundlich. Öznur stutzte. „Moment… Rebecca Misier?!?!?“ Rebecca nickte. Anne überlegte laut. „Misier… Hieß nicht auch so…“ „Mein Nachbar!“, beendete Öznur aufgebracht Annes Satz, während die anderen, Rebecca inklusive, nicht an sich halten und loslachen mussten. „Ach ja, Özlem Albayrak, oder?“, vergewisserte Rebecca sich. „Nicht ganz, Öznur. Özlem ist meine große Schwester.“, berichtigte sie. Rebecca wandte sich an die ganze Gruppe. „Ihr scheint meinen Vater bereits zu kennen?“ „Oh ja.“, antwortete Ariane kichernd. Da fiel Rebeccas Blick auf die drei Jungs. Die einzigen Gesichter aus Lauras Freundeskreis, die ihr bekannt waren. „Hallo Eagle, schön zu sehen, dass du auch mit von der Partie bist.“ „Hi.“, erwiderte Eagle die Begrüßung freundlich. „Oh mein Gott, Carsten! Dich hab ich ja ewig nicht mehr gesehen! Du hast dich kein bisschen verändert!!!“, rief sie erfreut und knuddelte Carsten so, wie sie es schon immer gemacht hatte, als er noch ein kleiner Junge war. Sehr zum Amüsement der anderen. Carsten wurde knallrot im Gesicht. „Ich hoffe schon, dass ich mich etwas verändert habe.“ Schließlich ließ Rebecca ihn endlich los, um Benni eindringlich mustern zu können. „Also Carsten hat sich ja kein bisschen verändert, aber du wirst von Mal zu Mal grimmiger.“, stellte sie enttäuscht fest. „Freut mich auch, dich zu sehen.“, erwiderte Benni sarkastisch. Rebecca kicherte. „Kommt doch rein, Lauras Eltern warten schon mit dem Abendessen.“ „Essen!“, rief Ariane begeistert und düste an den anderen vorbei in das Innere des Hauses, das ebenfalls eine Mischung aus dem klassischen japanischen Stil und modern vornehm war. Klassisch japanisch war zum Beispiel, dass es Brauch war, außen die Schuhe auszuziehen, wie Ariane beschämt feststellen musste, als Rebecca sie zurückrief. Sie wäre sowieso nicht weit gekommen, da sie keine Ahnung hatte, wo sich Küche und Speisesaal befanden. Rebecca ging voran und führte sie im Erdgeschoss nach links. Dort öffnete sie die Schiebetür bei der sich Laura schon immer gefragt hatte, ob sie wirklich aus Papier bestand. Kaum waren sie eingetreten, wurden sie auch schon von der strengen Stimme ihres Vaters begrüßt, welcher am Tischende einer langen Holztafel saß. „Willkommen, wir haben euch bereits erwartet.“ „Hallo, O-Too-Sama, hallo O-Kaa-Sama…“, grüßte Laura ihn und ihre Mutter, dem ein nahezu im Chor gemurmeltes „Guten Abend.“ der anderen folgte. O-Too-Sama forderte sie auf, sich zu setzen, was die Gruppe ohne Wenn und Aber befolgte. Laura wusste nicht wieso, doch irgendwie hatte er diese herrschaftliche, autoritäre Ausstrahlung und obwohl er keine antike Begabung hatte, wollte man sich lieber nicht mit ihm anlegen. Kurz darauf brachte Rebecca mit der Magd das Abendessen: Sushi und Reis. Das alles natürlich nicht mit normalem Besteck, sondern Stäbchen. Schmunzelnd beobachtete Laura, wie Ariane ihr erst beim Mittagessen erlerntes Wissen an die anderen weitergab, die sich genauso ungeschickt mit den Stäbchen anstellten, wie einst Ariane. Doch bis auf Arianes Erklärungen herrschte ein bedrücktes Schweigen, das schließlich O-Kaa-Sama zu brechen versuchte: „Und Benedict, was machst du inzwischen nach deinem Schulabschluss?“ „Dasselbe, wie Ihre Tochter.“, antwortete Benni knapp, ohne von seiner Schale Reis aufzuschauen. Lauras Vater runzelte nicht sehr begeistert die Stirn. „Du bist also auch auf der Coeur-Academy?“ Benni nickte und ging nicht weiter darauf ein. Doch Lauras Vater schaute seine Tochter vorwurfsvoll an. „Warum hast Du uns nichts davon erzählt?“ Weil du ihn nicht leiden kannst. Nein, das konnte Laura nicht antworten. Aber was sonst? Doch zum Glück rettete Carsten ihr den Hals. „Nun ja, Laura ist sicher davon ausgegangen, dass Sie es hätten wissen müssen. Immerhin ist es bis auf Indigo, Ivory, Spirit und Mur selbstverständlich, dass ein antiker Begabter nach seinem Mittelschulabschluss auf die Coeur-Academy geht.“ O-Too-Sama räusperte sich. „Nun, da hast Du natürlich Recht, junger Mann. Ich hätte es in der Tat wissen müssen. Was ist mit Dir? Du stammst doch aus Indigo. Gehst Du dennoch auf die Coeur-Academy?“ Carsten nickte und Laura entging es nicht, dass Eagle neben ihm spöttisch die Augen verdrehte. Sonst ging das Abendessen zum Glück recht schnell vorbei. Lauras Eltern unterhielten sich natürlich weitgehend mit Anne und Eagle und meist ging es um irgend so einen gehobenen-Gesellschafts-Quatsch, von dem Laura sowieso keine Ahnung hatte. Nach dem Abendessen ging die Gruppe hoch in ihr Zimmer, was die meisten Mädchen natürlich sofort ausnutzten, um genau unter die Lupe zu nehmen, wie sie einst gelebt hatte. „Du warst schon immer so Manga-verrückt…“, stellte Ariane fest, als sie die ganzen Manga Zeichnungen und Poster an den Wänden hängen und ein Bücherregal überwiegend mit Manga gefüllt sah. Laura lachte verlegen auf. Ja, war sie. Wobei es eigentlich Bennis Schuld war, der in der Grundschule in der Schulbibliothek mal in einem Detektiv Conan Band geschmökert hatte! Aber natürlich war es auf Japanisch gewesen und obwohl das eigentlich Lauras Muttersprache war, konnte sie fast gar nichts lesen. Trotzdem hatten sie die Zeichnungen in ihren Bann gezogen und Laura hatte kurz darauf ein paar interessante Mangas auf Damisch entdeckt. „Und sie hatte schon immer eine Vorliebe für schwarz.“, bemerkte Anne nüchtern. Na ja, schwarz war Lauras Zimmer nicht. Eigentlich war es mit seinen nussbraunen Möbeln sehr gemütlich. Doch die schwarzen Plastikrosen auf ihrem Schreibtisch, an ihrem Spiegel und am Schrank sprachen Bände. Abgesehen davon waren die meisten Mangaposter auch eher düster und mit Vampiren. Schließlich war es endlich Zeit zum Schlafen. Die Teleportationen hatten doch ganz schön an Lauras Kräften gezehrt und sie hoffte, durch den Schlaf wieder fit genug für die morgen bevorstehende Prüfung zu werden. Die Mädchen gingen auf eins der zwei Gästezimmer, obwohl Laura vorgeschlagen hatte, dass sie auch bei ihr schlafen konnten. Immerhin Ariane konnte sie damit überzeugen, welche sich neben Laura in das große Bett kuschelte. Benni und Carsten hatten sich in ein leerstehendes Zimmer der Bediensteten gerettet, sodass Eagle sich in dem zweiten Gästezimmer schön breitmachen konnte. Eigentlich hatte Laura vorgehabt, Ariane über ihre Prüfung auszuquetschen, weil sie bisher noch keinem davon erzählt hatte. Doch ehe sie sich versah, war Ariane bereits ins Traumland entschwunden. Seufzend schloss Laura die Augen in der Hoffnung, einfach einschlafen zu können. Doch der Regen, der permanent und in Tonnen vom Himmel schüttete, hielt sie die ganze Zeit wach. Ein blendend heller Blitz ließ Laura hochschrecken, gefolgt von einem laut krachenden Donner, bei dem sie vor Schreck zusammenzuckte. „Nane?“, flüsterte Laura neben sich, doch Ariane schlief seelenruhig weiter, als wäre es tatsächlich möglich, dieses Gewitter zu überhören. Fröstelnd vergrub sich Laura unter ihrer Decke. Eigentlich hatte sie seit sie auf die Mittelstufe ging keine Angst mehr vor Gewitter gehabt, sondern fand es immer extrem aufregend. Doch dieses Gewitter und das Wissen, dass sie morgen dem Schwarzen Löwen gegenüber stehen würde in Kombination, ließ sie am ganzen Körper zittern. Ein weiterer Blitz, dicht gefolgt von einem weiteren Donner sorgte dafür, dass Laura es nicht länger aushielt. Sie brauchte jemanden, der sie beruhigen konnte. Der in der Lage war, die Angst von ihr zu nehmen. Vorsichtig tastete sie sich aus ihrem Bett und schlich auf nackten Zehnspitzen und in ihrem Schlafkimono aus ihrem Zimmer, um Ariane nicht zu wecken. Als es wieder blitzte hielt sich Laura die Ohren zu, als würde sie das vor dem folgenden Donner beschützen. Laura folgte dem Gang um die Ecke und hielt sich bei jedem Blitz erneut die Ohren zu. Sie warf einen Blick auf den dunklen Gang. Würde sie um die nächste Ecke gehen, wäre am Ende das Schlafzimmer ihrer Eltern. In einer Nacht, etwa einen Monat nach Lucias und Lucianos Tod, als es auch so schlimm gewittert hatte, hatte sich Laura zu ihren Eltern geflüchtet. Doch diese hatten sie nur wieder auf ihr Zimmer gescheucht mit dem Argument, sie sei doch kein Baby mehr, das sich vor dem bisschen Donner fürchten müsse. Aber Laura konnte trotzdem nicht einschlafen, sie hatte trotzdem viel zu große Angst gehabt. Also hatte sie sich zu der Person geflüchtet, die ihr als nächstes in den Sinn gekommen war. Eine Person, die sicher imstande wäre, sie vor dem grellen Licht und dem ohrenbetäubenden Krach zu beschützen. Sie war zu Benni gegangen. Natürlich hatte sie ihn geweckt, als sie eingetreten war. Das war bei seinem leichten Schlaf schon vorprogrammiert gewesen. Doch als er ihr verweintes Gesicht gesehen hatte, war er einfach nur zur Seite gerückt und hatte Laura sich an ihn kuscheln lassen. Benni hatte gar nichts gesagt, er hatte ihr nur beruhigend über den Kopf gestreichelt und kurz darauf war sie auch schon eingeschlafen. Und jetzt stand sie vor demselben Zimmer wie vor etwa zwölf Jahren. Laura spürte, wie das Blut in ihren Kopf schoss. Damals als sie noch Kinder waren, hatte sie sich nichts dabei gedacht, zu Benni ins Bett zu krabbeln. Doch jetzt, wo sie älter waren, konnte man das sehr leicht missverstehen… Ein weiterer Blitz und ein weiterer Donner ließen Laura zusammenzucken. Ob zweideutig oder nicht, sie hielt es nicht mehr aus! Vorsichtig öffnete sie die Tür, da blitzte es schon wieder. Laura wollte erschrocken aufschreien, brachte aber keinen Ton zustande. So schnell wie der Blitz aufleuchtete, hatte sich Benni in seinem Bett aufgerichtet, zeitgleich seine Pistole unter dem Kissen hervorgezogen, entsichert und auf Laura gerichtet. Der Donner klang in Lauras Ohren wie der Schuss der Pistole und sie sackte schluchzend in die Knie. Sie hörte, wie Benni schwer atmend fragte: „Laura?“ Da er flüsterte, schien Carsten schon friedlich zu schlafen. „J-ja… B-bitte nicht schießen…“, schluchzte sie, so leise wie sie konnte. Aus dem Nichts tauchte eine kleine Flamme auf, die die Kerze auf dem Nachttisch erleuchtete. Vorsichtig hob Laura den Kopf, als Benni sie fragte: „Was willst du hier?“ Ein erneutes Donnern ließ Laura zusammenzucken. „Ich- ich kann nicht einschlafen…“ Benni seufzte und ließ seine Pistole wieder unter dem Kissen verschwinden. „Und da kommst du zu mir?“ Laura nickte und aus ihren Augenwinkeln stahlen sich kleine Tränen. Schluchzend wischte sie sie weg und musterte Benni zum ersten Mal genauer. Er wirkte irgendwie erschöpft und auf seiner Stirn befanden sich kleine Schweißperlen. Außerdem atmete er immer noch so schwer, als wäre er mit Lauras Ausdauer einen Marathon gerannt. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt nach. Benni schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. War er etwa krank?!? Vorsichtig schlich sie zu seinem Bett rüber. Tatsächlich sah er übel mitgenommen aus und Laura fragte sich, ob sie vielleicht doch Carsten wecken sollte. Benni wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und als sich sein Atem wieder halbwegs beruhigt hatte, erwiderte er auf Lauras besorgten Blick: „Ich hatte wieder diesen Traum.“ Jetzt verstand Laura auch, warum Benni die ganze Zeit so übermüdet wirkte. Warum er sich sogar weigerte, zu schlafen! Beschämt wich sie seinem ruhigen aber trotzdem müden Blick aus, als ein weiterer Donner sie wieder zusammenzucken ließ. Benni seufzte erneut und hob die Decke. Als Laura noch nicht einmal diese Geste verstand, meinte er nur: „Komm. Wenn du so deinen Schlaf findest…“ „Aber du-“ „Ich werde sowieso nicht mehr schlafen können.“, widersprach er, bevor Laura überhaupt dazu kam, ihre Sorge zu äußern. Ihr Herz schlug unverschämt schnell und laut, als sie sich neben ihn legte und er die Decke über sie zog. Bennis vertrauter Duft stieg in ihre Nase und lächelnd schloss sie die Augen, während sie sich an seine Brust kuschelte. Sie spürte seinen immer noch schnellen Herzschlag und merkte, dass sein Körper tatsächlich zitterte. Was war das für ein verdammter Traum, der ihm so zusetzte?!? Doch dieser Gedanke war schnell verflogen, als Benni ihr langsam über den Kopf streichelte. Hier gehörte sie hin. Bei keinem sonst würde sie Trost oder Schutz finden können. Das Gewitter schien für Laura in weite Ferne gerückt. Sie hörte nur noch Bennis Herzschlag, roch seinen Duft und spürte seine beschützende Hand auf ihrem Kopf, als sie endlich weg döste.   „Laura, wach auf! Es gibt Frühstück!!!“ Gähnend streckte sich Laura und öffnete blinzelnd ihre Augen, als Ariane endlich von ihr abließ. Verwirrt schaute sie sie an. War sie nicht bei Benni gewesen? „Alles in Ordnung?“, fragte Ariane besorgt. Langsam dämmerte es Laura. War das alles etwa nur ein Traum gewesen?!?!? Erschrocken richtete sie sich auf. „Nein!“ „Was?!? Nicht? Was ist denn los?!? Bist du krank? Soll ich Susanne oder Carsten holen?!?“ Ariane war aufgesprungen und rannte aufgebracht auf und ab, bis sie schließlich auf die Idee kam, zur Tür zu stürzen. „Nein, nein, nein! Warte!“, hielt Laura sie davon ab, die Tür zu öffnen. „Es ist nichts… Ich… Ich hab nur seltsam geträumt.“ Ariane atmete erleichtert auf und setzte sich wieder auf die Bettkante. „Kein Wunder. Als Rebecca vorhin gekommen war und mich gebeten hatte, dich zu wecken, hat sie gemeint, dass es gestern Nacht wohl ganz schön gewittert hatte.“ Laura warf einen prüfenden Blick aus der Balkontür, deren samtroten Vorhänge bereits zurückgezogen waren. Es regnete immer noch in Strömen, doch von dem Gewitter war keine Spur mehr. Sie seufzte. Es war wirklich nur ein Traum… Ariane schien ihre Stimmung bemerkt zu haben, aber sie sagte nichts, sondern legte ihr nur aufmunternd eine Hand auf die Schulter. Vermutlich weil sie dachte, dass Laura wegen ihrer bevorstehenden Prüfung so geknickt war. Na ja, wegen der war sie auch geknickt. Nachdem sie sich angezogen hatte, ging sie zusammen mit Ariane zum Speisesaal. Auf dem Weg dorthin trafen sie Carsten und Benni, die eben ihr Zimmer verließen. „Hey Laura, wie hast du geschlafen?“, grüßte Carsten sie, in bester Laune. „Gut danke.“, antwortete Laura. Ja, sie hatte sogar sehr gut geschlafen, doch sie war trotzdem betrübt, dass sie das alles nur geträumt hatte. Carsten kicherte und verpasste Benni einen Rippenstoß, welcher ihn einfach ignorierte und die Treppe runter ins Erdgeschoss ging. Traurig seufzte Laura. Benni hatte trotzdem wieder diesen Albtraum gehabt, ob sie nun davon geträumt hatte oder nicht. Aber Carstens Kichern hatte sie dennoch etwas aus der Bahn geworfen. Ariane schien auch irritiert. „Was ist daran so lustig, dass Laura gut geschlafen hat?“ Carsten zuckte zwar nur mit den Schultern, aber sein schelmisches Grinsen verriet, dass er etwas wusste, von dem Ariane nicht den blassesten Schimmer hatte. Aber was gibt es denn so Interessantes zu wissen? Mit einem Schlag wurde Laura knallrot im Gesicht. Dann war es also doch kein Traum… Auch wenn ihr nun das Geschehene der vergangenen Nacht total peinlich war, machte ihr Herz einen kleinen Freudensprung. Unten im Speisesaal angekommen wurden sie von den anderen begrüßt, die bereits allesamt beim Frühstücken waren. Auch ihre Eltern. „Guten Morgen.“, grüßte O-Too-Sama die Eintretenden. „Morgen.“, murmelte Laura, noch etwas verschlafen und setzte sich auf ihren Platz an dem großen dunklen Holztisch, um sich ihrem Brot, der Butter und dem Nutella zu widmen, als sich ihr Vater räusperte. „Ich möchte beim Frühstück eigentlich nicht von geschäftlichem sprechen doch…“ „Schatz, bitte. Nicht jetzt.“, unterbrach O-Kaa-Sama ihn, doch Lauras Vater winkte einfach ab. „Doch, das muss jetzt sein. So müssen wir nicht extra nach Indigo, um dies zu besprechen.“ Seufzend gab Lauras Mutter nach und Lauras Vater wandte sich an Eagle, der beim Erwähnen seiner Region stutzig von seinem Nutella Brot aufgeschaut hatte. Irgendwie schien es O-Too-Sama zu gefallen, was Eagle da aß, denn er meinte: „Es freut mich zu sehen, dass ihr denselben Geschmack habt. Das sind schon mal gute Voraussetzungen.“ „Gute Voraussetzungen für was?“, fragte Laura kritisch, der bei diesem Thema langsam mulmig wurde. Was hatte ihr Vater denn so Geschäftliches mit Eagle zu besprechen, bei dem es um ihren ähnlichen Geschmack ging? Abgesehen davon, dass ihr Geschmack total unähnlich war und Eagle halt nur zufälliger Weise dasselbe wie sie frühstückte… „Nun ja… Wie Du weißt, Eagle, denken Dein Vater und ich schon länger über eine Verbindung zwischen Yami und Indigo nach. Du wirst in einem halben Jahr volljährig und daher habe ich beschlossen, Dich in unsere Pläne einzuweihen und zu fragen, ob Du damit überhaupt einverstanden bist. Immerhin wollen wir Dich ja zu nichts zwingen. Doch wenn Du dein Einverständnis gibst, Eagle, wüsste ich nicht, woran es noch scheitern sollte.“ Eagle schien verstanden zu haben, worum es ging, denn er senkte leicht beschämt den Kopf und schien zu überlegen, was er antworten sollte. „Moment… Wovon redet ihr?“, fragte Laura, die keinen Plan hatte, worum es ging. Nur, dass Eagle und ihr Geschmack damit zu tun hatten. „Na um eure Vermählung.“, antwortete ihr Vater, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Laura verschluckte sich an der Milch und schaute ihren Vater entgeistert an. Er sprach von ihrer und Eagles Hochzeit?!? Und warum zum Teufel fragte er nur nach Eagles Einverständnis?!?!?!? Betrübt senkte Laura den Kopf und sie merkte, wie sich die Tränen in ihren Augen sammelten und sie sofort anfangen würde zu heulen, wenn Eagle sein Einverständnis geben würde. Aber sie wollte ihn nicht heiraten! Abgesehen davon war sie doch gerade erst fünfzehn! Sie war noch gar nicht in dem Alter, in dem man in eine Ehe ging! Aber konnte sie das einfach so sagen? Würde ihr Vater nicht total ausrasten, wenn sie ihm vor so vielen Leuten widersprechen würde? Und was würde Eagle denken? Er war zwar sehr oft ein totales Arschloch, aber im Prinzip doch ein guter Mensch. Würde sie ihm nicht damit das Herz brechen? Betrübt hob Laura den Kopf und warf einen kurzen Blick auf Eagle, der sie beobachtet hatte, während er über eine Prinz-gerechte Antwort nachdachte. Schließlich meinte er: „Ich fühle mich bei diesem Angebot sehr geehrt und ich versichere Ihnen, ich freue mich sehr darüber. Doch ich möchte nicht mit einer Frau zusammen sein, wenn sie meine Gefühle nicht erwidert.“ Überrascht schaute Laura Eagle an. Nicht nur sie, auch die anderen warfen ihm vieldeutige Blicke, gemischt aus Kritik, Bewunderung, Neugierde und noch mehr zu. Doch Laura empfand in diesem Moment nur zwei Sachen für ihn. Dankbarkeit und Schuld. Sie fühlte sich schuldig, dass sie seine Gefühle für sie erst gar nicht bemerkt hatte und auch nicht wirklich erwidern konnte, doch sie war ihm dankbar, dass er auf ihre Gefühle Rücksicht nahm, von denen er wusste, dass die meisten nicht sonderlich positiv an ihn gerichtet waren. Lauras Vater räusperte sich erneut. „Nun, das ist gut nachvollziehbar und ich respektiere Dich für diese rücksichtsvolle Entscheidung. Doch Dein Vater wird nicht sehr erfreut sein, wenn er erfährt…“ O-Too-Sama dachte für ein paar Sekunden nach, als er offensichtlich eine Idee bekam. „Und was ist mit Dir, Crow? Wenn ich mich nicht irre, liebst Du meine Tochter und sie ist dir auch sehr freundschaftlich zugewandt.“ Warum zum Teufel will er mich so unbedingt mit einem der beiden verkuppeln?!? Wütend funkelte Laura ihren Vater an. Ich bin in Benni verliebt! Merkst du das nicht?!? Doch da machte sie eine zweite Sache stutzig. „Du liebst mich?!“ Den Schrecken ins Gesicht geschrieben starrte Laura Carsten an. „Okay, das wirft uns jetzt auch aus der Bahn.“, meinte Öznur, klang aber nicht so aus der Bahn geworfen wie Laura. Doch Carsten lachte einfach. „Mein Gott, dass Sie sich noch an das erinnern, was ich vor etwa sieben Jahren gesagt habe.“ Er lächelte Lauras Vater freundlich an. „Es stimmt, ich liebe Laura.“  Jetzt grinste Carsten Laura frech an. „Wie eine kleine Schwester. Und ich kann doch nicht meine kleine Schwester heiraten.“ Erleichtert ließ sich Laura zurück in ihren Stuhl sinken, während ihr Vater nachdenklich die Finger verschränkte. „Aber mit wem sollte ich sie sonst verheiraten?“ „Ich bin erst fünfzehn.“ Vorwurfsvoll schaute Laura ihren Vater an. Abgesehen davon würde es doch überhaupt keinen Sinn machen, jetzt über irgendwelche Hochzeiten nachzudenken, wenn sie in etwa einem Monat sowieso höchst wahrscheinlich sterben würde. „Und abgesehen davon steht es doch schon fest, wen Laura später mal heiraten wird!“, warf Ariane ein. O-Too-Sama schaute sie verwirrt an. Ariane stöhnte auf. „Na Benni! Mainstream und so was! Haben Sie noch nie einen Kitschroman gelesen?“ „Nein, offensichtlich nicht.“, erwiderte Lauras Vater, während Laura vor Scham noch tiefer in ihren Stuhl sank, um so bald wie möglich unter dem Tisch zu verschwinden. „Doch das kommt nicht infrage!“ Bei O-Too-Samas lauter Stimme wäre Laura tatsächlich fast vom Stuhl gefallen. Ariane runzelte die Stirn, klang aber etwas eingeschüchtert, als sie fragte: „Wieso denn nicht? Im Prinzip ist Benni gar nicht mal so übel und ich denke, er mag Laura auch.“ Trotz ihres hochroten Gesichts fragte sich Laura, woher Ariane das wissen wollte. Zwar hatte er sie gestern Nacht zu sich ins Bett gelassen, aber das hieß noch lange nicht, dass er sie wirklich mochte. Laura war sich ja noch nicht einmal sicher, ob er ihr die Sache mit Chip tatsächlich schon verziehen hatte. „Ihr denkt doch nicht wirklich, ich werde meine Tochter an diesen Waldläufer ohne Identität geben? So wie der sich ernährt wird er später garantiert nicht in der Lage sein, seine Kinder gesund großzuziehen. Oder wie will er gar den Siebenerrat leiten, wenn ich nicht mehr bin? So einen gottlosen Kerl soll ich zu meinem Nachfolger machen?!? Der noch nicht einmal an Gott glaubt, wohlbemerkt? Ein Sünder, der es noch nicht einmal einsieht, zur Beichte oder gar einfach so mal in die Kirche zu gehen?! Oh nein, vergiss es Laura. Dieser Kerl ist der Falsche für dich!“ Entgeistert schaute Laura ihren Vater an. Nun rannen doch Tränen über ihre Wangen, doch ihr Vater nahm noch nicht einmal Notiz davon. „Lass Dir eins gesagt sein, junge Dame: Wenn Du mit dem etwas anfängst, enterbe ich Dich und lasse Lukas meine Nachfolge antreten.“ Laura wusste nicht, was sie sagen sollte. Hasste er Benni so sehr? Aber sie- sie liebte ihn doch! Und was dachte Benni gerade?!? Hatte Lauras Vater ihn nun verletzt? Schluchzend verbarg Laura ihr Gesicht hinter ihren Händen, als sie spürte, wie Ariane einen Arm um ihre Schultern legte. „Schatz, beruhige dich. Wir haben Gäste.“, redete O-Kaa-Sama beschwichtigend auf ihn ein. O-Too-Sama seufzte resigniert. „Du hast Recht… Entschuldigt bitte. Doch dieses Teufelskind raubt mir eines Tages noch den Verstand…“ Laura hörte das Knarzen, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde und kurz darauf, wie Bennis ruhige Stimme komplett gefühllos sagte: „Amen.“ Erschrocken schaute sie auf. Ohne ein weiteres Wort verließ Benni den Raum. Laura wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie starrte einfach nur auf ihr bisher überhaupt nicht angerührtes Nutella Brot und hoffte, dass sie gleich aufwachen würde.   ~*~   Benni verließ das Anwesen der Familie Lenz und zog sich aufgrund des starken Regens die Kapuze seines Pullovers über den Kopf. Die Worte von Leon Lenz hatten ihn nicht wirklich verletzt, er hatte sie bereits öfter zu Ohren bekommen. Dennoch fand er sie belastend. Zügig durchschritt er das verschnörkelte Eingangsportal und ging hinaus in den Wald, folgte erst dem gepflasterten Weg und nahm bei einer Abzweigung die Richtung nach Süden, die ihn an sein erwünschtes Ziel bringen würde: Die Hütte seiner Meisterin in Obakemori. In dieser Richtung war der Weg sehr bald nur noch ein Trampelpfad und nur diejenigen, die mit diesem Pfad bereits gut vertraut waren, konnten ihm folgen. Er war gerade erst seit vier Minuten unterwegs, als er von dem Anwesen der Lenz hörte, wie die Eingangstür in die Angeln fiel und Schritte dieselbe Route entlang rannten, die er bereits genommen hatte, begleitet von einem angestrengten Keuchen. Selbstverständlich wusste Benni unverzüglich, um wen es sich dabei handelte. Doch er beachtete diese Person nicht weiter und setzte seinen Weg nach Obakemori fort. Etwa vier Minuten später schien sie ihn schließlich entdeckt zu haben. „Benni, warte!!!“, schrie Laura, bereits vollkommen außer Atem. Er wandte sich ihr zu, damit Laura nicht noch mehr ihre Kräfte beanspruchte und ihre Schritte verlangsamen würde. Doch sie rannte immer noch, bis sie unverhofft ausrutschte und auf den Rücken stürzte. „D-da war ein rolliger Ast.“, erklärte Laura voller Scham und wollte sich aufrichten, bevor Benni dazu kam, ihr seine Hilfe anzubieten. Allerdings rutschte sie wieder auf dem nassen Laub aus, ehe sie überhaupt auf die Beine gekommen war. Noch bevor sie erneut dazu kommen konnte auszurutschen, bot Benni ihr seine Hand an, die sie mit errötetem Gesicht annahm. Laura trug bloß ein schwarzes, verziertes T-Shirt und einen schwarzen, kurzen Rock und es fiel nicht schwer zu erkennen, dass sie völlig durchnässt war und am ganzen Körper zitterte. Benni überkam ein bei ihm unerwünschter Hauch Sorge, als er sie da so unter der Kälte und des Regens leidend vor sich stehen sah. Doch ungeachtet dessen, redete Laura, stur wie sie war, auf ihn ein: „Benni, bitte komm wieder zurück! Es tut mir leid, dass O-Too-Sama so gemein war, ich…“ Schluchzend klammerte sie sich an seinen nassen Pullover. „Es ist meine Schuld! Würde ich dich nicht so sehr mögen, wäre es ihm vermutlich völlig egal, aber so-“ Benni schob Laura von sich, damit er ihr in ihre traurigen, braunen Augen schauen konnte, die ihn mit so viel Liebe anschauten, dass sich Benni unter ihrem Blick automatisch falsch aufgehoben fühlte. „Ich bin nicht gegangen, weil mich dein Vater verletzt hat.“, erklärte er schnell, bevor ihr Blick ihn in Verlegenheit bringen konnte. Ein Teil der Schuldgefühle fiel von Laura ab. „Nicht? Aber warum dann?“ „Ich habe noch Fragen an Eufelia-Sensei.“, antwortete er. Denn Benni hatte das beklemmende Gefühl, dass sie ihnen bei ihrem letzten Besuch nicht wenig verschwiegen hatte. „A-Ach so… Dann komm ich mit!“ Benni schüttelte den Kopf. „Du musst zum Schrein, deine Prüfung absolvieren.“ Er merkte, dass sie ihm widersprechen wollte, doch sein eindringlicher Blick ließ sie schweigen. Ihm war klar, dass Laura es vermutlich lieber hätte zu wissen, dass er außen wie alle anderen warten würde. Doch diese Untätigkeit wäre Unsinn, wenn er stattdessen über den ‚Unzerstörbaren‘ recherchieren konnte. „Geh zurück, du wirst dich noch erkälten.“, forderte Benni sie auf. Hartnäckig schüttelte Laura den Kopf. Seufzend musterte er den Dickschädel. Wenn sie nicht bald zurückgehen würde, würde sie sich wahrhaftig noch erkälten… Also zog er seinen Kapuzenpullover aus und reichte ihn ihr. Verwirrt musterte Laura ihn. „Zieh ihn an und geh zurück. Du erkrankst sonst wirklich noch.“ Benni war leicht amüsiert, als sich Lauras Wangen wieder rötlich färbten, als sie den Pulli überzog und die Kapuze aufsetzte. Er fand ihre Reaktion… süß? War das der treffende Ausdruck dafür? „Na gut dann… Bis später.“, verabschiedete sie sich und rannte den Weg zurück, den sie gekommen war. Benni seufzte. Nun würde er pitschnass werden. Na gut, alternativ könnte er auch mithilfe seiner Wasser-Energie den Regen von sich fernhalten. Doch eigentlich mochte er das Kühle, Erfrischende, weshalb er es letztlich einfach bleiben ließ. Er führte seinen Weg fort, als schließlich ein grau-weißer Wolfshund aus dem Gebüsch sprang und ihn anknurrte. „Hallo Wolf.“, grüßte Benni zurück. Er hatte sich schon gefragt, wann Wolf endlich aus seinem Versteck kommen und aufhören würde, ihn zu beobachten. Wolf knurrte ihn erneut an. ‚Du möchtest zu Eufelia?‘ Benni nickte, als von hinten ein Quietschen auf ihn zugestürmt kam und er kurz darauf von Chip ausgeschimpft wurde, warum er ihn nicht mitgenommen habe. ‚Gute Frage, warum hast du ihn nicht mitgebracht?‘, erkundigte sich Wolf. „Er sollte ein Auge auf Laura werfen, aber daran ist er ja offensichtlich nicht interessiert.“ Chip gab ihm mit einem zufriedenen Kopfnicken Recht. Inzwischen hatte er seinen Weg fortgesetzt, doch weder Wolf noch Chip blieben zurück. ‚Was empfindest du für dieses Mädchen?‘, fragte Wolf nach einer Weile. Benni überlegte, doch er wusste keine Antwort. ‚Du liebst sie, ist es nicht so?‘ Dieses Mal klang Wolfs Knurren ungewohnt bedrohlich. ‚Denke daran, dass Liebe eine Schwäche sein kann. Deine Gegner werden sie gewissenlos ausnutzen, wenn sie sie erst entdeckt haben.‘ Nachdenklich verschränkte Benni die Arme vor der Brust. Johannes hatte auch einst diese Vermutung geäußert, doch Benni konnte sich immer noch nicht damit anfreunden. Er war nicht in Laura verliebt. …Oder? Wie fühlte es sich überhaupt an, verliebt zu sein? Wolf schien seine anarchischen Gedanken zu missachten und fuhr stattdessen mit einem weitaus zufriedeneren Knurren fort: ‚Wobei… Andererseits kann ich dich verstehen, sie ist sooooo schön. Und so niedlich!‘ Irritiert musterte Benni ihn. „Aha…“ Unterdessen taten sich die Bäume auf und gaben eine kleine Lichtung frei, auf welcher das ihm so familiäre Haus seiner Meisterin stand. ‚Na dann geh ich mal wieder.‘, verabschiedete sich Wolf und war mit einem Sprung in dem düsteren Wald verschwunden. Benni öffnete die alte Holztür und trat ein. „Guten Morgen, Benedict.“, grüßte ihn die traute Stimme seiner Lehrmeisterin, die wie gewohnt auf der Insel in der Mitte des sternförmigen Teiches saß. Benni nickte kurz und ließ sich und Chip durch seine Feuer-Energie trocknen, ehe er sich seiner Meisterin gegenüber setzte. „Du hattest eine kleine Diskussion mit Wolf.“, stellte sie fest. Konnte man dieses Gespräch wirklich als Diskussion bezeichnen? Dennoch nickte Benni. „So in etwa.“ Um Eufelias Lippen zuckte ein Lächeln. „Ich wäre auch daran interessiert: Liebst du die Prinzessin?“ Er seufzte. Warum war jeder daran interessiert, wie er für Laura empfand? „Ich weiß es nicht und das ist nun auch nicht von Bedeutung.“ „Nicht?“, Eufelia-Sensei musterte ihn. „Wann dann?“ Sie seufzte ebenfalls. „Benedict, ich bin mir im Klaren, dass du nicht in der Lage bist, deine Reaktionen und die deines Körpers zu deuten und sie Gefühlen zuzuordnen. Zum Teil fühle ich mich selbst dafür schuldig, da ich dir ihre Bedeutungen nie erklärt habe und auch nicht in der entsprechenden Position war, sie dir näher zu bringen. Auch, wenn du es immer perfekt beherrscht hast, im Kampf deine Gefühle auszuschalten, musst du dir im Klaren sein, dass es etwas gibt, dass dich sowohl schwächen als auch stärken kann.“ „Wenn sie mich auch schwächen könnten, warum sollte ich dann Gefühle zulassen?“ „Weil sie dich zu einem Menschen machen.“, antwortete Eufelia-Sensei. Verwirrt schaute Benni auf, doch er merkte, dass seine Meisterin ihn damit von dem eigentlichen Grund aus dem er hier war abwenden wollte. Also sprach er endlich das aus, was ihm seit dem letzten Besuch nicht aus dem Kopf wollte: „Warum habt Ihr uns so viel über den Unzerstörbaren verschwiegen?“ Eufelia-Sensei seufzte. „Du scheinst in der Tat wenig Wert auf deine Gefühle zu legen… Aber gut, ich werde deine Fragen weitgehend versuchen zu beantworten.“ „Wer ist er?“ „Die Menschen haben ihn nach dem Kriegsgott Mars benannt. Er ist ein durch und durch bösartiges Wesen, das über die Energie der Zerstörung herrscht.“ „Ein Dämon?“, folgerte Benni. Eufelia-Sensei nickte. „Der ‚Purpurne Phönix‘. Einer der drei ‚Gottesdämonen‘, laut der Dryaden.“ „Woher wisst Ihr all das?“, fragte Benni kühl, um seine Neugierde weitgehend zu verdecken. Seine Meisterin lächelte ihn traurig an. „Weil ich ihn gemeinsam mit meiner Schwester und ihrem Verlobten zurzeit des magischen Krieges sehr verärgert habe… und nun giert er nach Rache.“ Benni hielt inne. Warum erwähnt sie das? Kaum hatte er seinen Gedanken vollendet, schossen aus dem Boden gewaltige Flammen, die ihn und seine Meisterin einkesselten und gefangen hielten. Der Raum wurde in ein grausiges Rot getaucht und schwarzer Rauch bildete sich über ihren Köpfen. Nur dank seiner Feuer-Energie war Benni dazu in der Lage die Flammen auf Abstand zu halten. Ein unwohles Gefühl überkam ihn, als er merkte, dass ihm all das hier bekannt vorkam. Er hatte es immer und immer wieder durchleben müssen… in seinen Träumen. „Ich bitte dich, Benedict, erfülle meinen letzten Willen: Lerne, deine Gefühle in den rechten Augenblicken zuzulassen.“, sprach Eufelia-Sensei ruhig. Der sternförmige Teich war nicht mehr dazu in der Lage, seine Meisterin zu schützen. „Eufelia!“, rief Benni über das Flammenmeer hinweg und bemühte sich, das Feuer mit seiner Energie von seiner Meisterin fern zu halten, doch es gehorchte nicht seinem Willen. Ein stechender Schmerz fuhr durch sein Herz als er erkannte, dass ihre Situation aussichtslos war. Dass er sie nicht würde retten können. Die Flammen fielen gnadenlos über sie her und verbrannten ihren Körper zu einer schwarzen, leblosen Hülle. Benni kniff die Augen zusammen. Das ist nur ein Traum, wie sonst auch. Nur ein Traum! Doch es hatte keinen Sinn, sich das einreden zu wollen. Ebenso wenig durfte er sich jetzt von dem Schmerz übermannen lassen, der sich in seinem Herzen ausbreitete. Er musste hier raus. Und zwar schnell. Benni drehte sich um und versuchte, durch den dichten, schwarzen Rauch den Eingang zu erkennen, dessen Tür anscheinend offen stand. Doch so sehr er sich auch konzentrierte, die Flammen wollten nicht weichen. Er war gefangen. Der Rauch, der sich in seine Lunge brannte, ließ Benni erstickt husten, während er nach einer weiteren Fluchtmöglichkeit suchte. Doch alle Ausgänge, sogar die Treppe zum Dachgeschoss und die Zimmerdecke, wurden von dem purpurn lodernden Feuer versperrt. Er hörte ein verängstigtes Quietschen an seinem Ohr. Chip zitterte am ganzen kleinen Körper und winselte vor Angst. Benni ließ das kleine Eichhörnchen in seine Hand springen und kraulte es beruhigend hinter den Öhrchen. Er wollte nicht, dass Chip seinetwegen auch noch sterben musste… Er durfte es nicht zulassen. Benni kam eine Idee, die jedenfalls seinen kleinen Freund retten könnte. „Es wird alles gut…“, versprach er ihm, schloss die Hand um das kleine Tier und warf ihn durch die Flammen und die offenstehende Tür nach außen. Chip quietschte erschrocken auf, doch Benni hörte, dass er es unversehrt überstanden haben musste, als er sich außen in wenigen Sätzen von der Feuerquelle entfernte. Erleichtert, dass jedenfalls Chip es raus geschafft hatte, atmete Benni auf, ehe der Rauch in seinen Lungen ihn zu einem erneuten Husten zwang. Würde er hier und jetzt sterben, so wie seine Meisterin? Eine Welle von Trauer überkam ihn. Genau, Eufelia-Sensei war tot, sein Zuhause brannte nieder. Würde es überhaupt einen Sinn haben, wenn er das alles hier überleben würde? Das Feuer hätte dann alles zerstört und ihn alleine zurückgelassen. Doch wenn er nun wirklich sterben würde, würde er Laura und Carsten nie wieder sehen können… Das ohrenbetäubende Kreischen eines Vogels ließ ihn zusammenzucken. Er wandte sich der Richtung zu, aus der dieses Geräusch kam. Die Flammen bildeten sich zu einem gigantischen Kopf eines Phönixes, der die Asche des Daches herunterrieseln ließ und Benni aus seinen leuchtenden purpurnen Augen teuflisch anschaute. Benni wich einen Schritt zurück. Er merkte, wie sein ganzer Körper zitterte und keinem seiner Befehle würde befolgen können. … Fühlte sich so Angst an? Der Phönix stieß ein erneutes Kreischen aus, öffnete den flammenden Schnabel und kam mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zu. Benni kniff die Augen zusammen und hob schützend die Arme vor sein Gesicht, als die Flammen erst nur an seinem Körper nagten, dann zubissen und ihn schließlich verschlangen. Vom Schmerz überwältigt drang ein lautloser Schrei aus Bennis Kehle, seine Knie gaben nach und er schlug auf dem harten Boden auf. Benni nahm nur noch eine schemenhafte Bewegung einer durchsichtigen Gestalt wahr, ehe die Welt von Dunkelheit verschlungen wurde.   ~*~   Seufzend setzte sich Carsten auf die steinernen Treppen des Schreins des Schwarzen Löwen, um dank des schwarzen Daches nicht im triefenden Regen stehen zu müssen. Lauras Vater war unmöglich. In wenigen Sekunden hatte er es geschafft, seine Tochter zum Weinen zu bringen, sodass diese nun völlig durcheinander im Tempel war und ihre Prüfung absolvieren musste. Wobei Benni es anscheinend geschafft hatte, sie zu beruhigen, als Laura ihm im Regen nachgerannt war. Ein Lächeln stahl sich von Carstens Lippen, als er wieder das Bild vor Augen hatte, als Laura vor Wasser triefend zurückgekommen war, aber Bennis Kapuzenpullover anhatte. So langsam schien sich ihre Beziehung endlich mal in die richtige Richtung zu bewegen. Besonders wenn er daran dachte, dass sich Laura gestern Nacht bei dem Gewitter zu Benni geflüchtet hatte… Besorgt warf Carsten einen Blick in den Wald, der nach einigen Meilen zu Obakemori wurde. Er hatte sich auch gefragt, ob Eufelia-Sensei nicht vielleicht noch mehr wusste, aber es ärgerte ihn, dass Benni alleine hingegangen war und zwar ausgerechnet dann, wenn Laura ihre Prüfung zu absolvieren hatte. Ihr hätte besonders seine geistige Unterstützung so gut getan… Manchmal hielt selbst Carsten seinen besten Freund für herzlos. „Es riecht nach Rauch…“, murmelte Lissi plötzlich. „Sell dir vor, du Blitzmerkerin. Warum wohl? Vielleicht, weil Eagle mal wieder eine raucht?!?“, zischte Anne sie zynisch an. Lissi schüttelte den Kopf. „Ein anderer Rauch.“ Nun schnupperte auch Ariane in der Luft. „Lissi hat Recht, ich riech’s auch!“ „Ich nicht.“, widersprach Anne schnippisch. „Das liegt daran, dass sich eure Sinne entsprechend eures Dämons verbessert haben.“, erklärte Eagle und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Ein aufgebrachtes Quietschen, das aus dem Wald zischte und in Carstens Gesicht landete, ließ ihn zusammenzucken. Chip quietschte immer noch aufgebracht, während er Carstens Gesicht zerkratzte und an ihm zerrte, bis Carsten es schließlich schaffte, sich vor Bennis kleinem Eichhörnchen-Freund zu retten. „Was hast du? Du musst mir ja nicht gleich das ganze Gesicht blutig kratzen.“, beschwerte er sich, doch da Chip immer noch komplett aus der Fassung war, machte er sich langsam Sorgen. „Komisch. Erst dieser Rauchgeruch und kurz darauf taucht auch noch dieses kleine Gespenst in Eichhörnchen-Gestalt auf, das sich immer an meinen Bennlèy klettet.“, bemerkte Lissi. Ihre vermutlich völlig gedankenlose Äußerung ließ Carsten hochschrecken. Stimmt, warum ist Chip nicht bei Benni?, fragte er sich. War vielleicht irgendetwas passiert?!? Das würde immerhin erklären, warum das kleine Eichhörnchen ein so großes Gezeter machte. Auch Eagle schien das gedacht zu haben, als er seine Zigarette ausdrückte und kurz darauf seine Dämonenform annahm. „Ich seh mal nach.“, erklärte er kurz, ehe er seine gewaltigen, grauen Adlerschwingen entfaltete und sich vom Boden abstieß. „In Obakemori brennt’s!“, rief er von oben zu ihnen runter. Carsten war froh, dass er bereits saß, denn mit einem Schlag schien sein gesamtes Blut zu weichen und er keuchte erschrocken auf. „Benni wollte doch noch mal zu Eufelia-Sensei nach Obakemori…“, bemerkte Ariane, bevor auch sie realisierte, was vermutlich einige Meilen südlich von ihnen vor sich ging, wo sich Carstens bester Freund befinden musste. „Oh Gott…“ Carsten sprang auf die Beine, wäre aber taumelnd eingeknickt, hätte Anne ihn nicht rechtzeitig gestützt. „Wir müssen hin!“, rief er, während die Sorge um Benni und Eufelia ihm alle Kräfte raubte. „Dann flieg ich schon mal vor.“, meinte Eagle weitaus ruhiger und flog auch schon in die Richtung, in der der Rauch emporstieg. „Ich komme mit, Carsten. Wenn es wirklich ein Brand ist, könnte meine Energie hilfreich sein.“, bemerkte Öznur. Carsten nickte matt, war aber zu aufgebracht, um irgendetwas Hilfreiches machen zu können. Plötzlich übertrumpfte ein stechender Schmerz auf seiner Wange die ganzen kleinen Kratzer von Chip. Anne hatte ihn geohrfeigt. „Jetzt reiß dich mal zusammen! Das Leben deines besten Freundes ist vielleicht in Gefahr und du bekommst aus Angst um ihn einen Schwächeanfall?!? Du musst los und ihn retten, verdammt noch mal!!!“ Carsten atmete tief durch und versuchte, seine aufgebrachten Gefühle zu beruhigen. Anne hatte Recht. „Okay, wenn ihr nach zehn Minuten nichts von uns hört, kommen am besten noch ein paar von euch nach…“ Er reichte Öznur seine Hand und teleportierte sie an die Grenze zwischen Obakemori und Yami. Sie rannten so schnell ihre Beine sie tragen konnten durch den Wald, bis sie an jene Lichtung kamen. Jene Lichtung, die nun in ein unheimliches rot-lila gehüllt war. Keuchend blieb Carsten stehen. Er konnte seinen Augen nicht trauen. Das gesamte Haus stand in Flammen! Züngelnde, lodernde Flammen, die sich in den regnenden Himmel emporhoben. Eagle stand davor und konzentrierte sich offensichtlich darauf, den Wind still zu halten, damit das Feuer nicht auf benachbarte Bäume übersprang. „Ich kann es nicht löschen!“, rief Öznur aufgebracht. „Benni?!?“, schrie Carsten in die Flammen, doch von Benni kam keine Antwort. „Vielleicht ist er schon draußen…“, hoffte sie. Carsten schüttelte den Kopf. „Und würde dann einfach so verschwinden, ohne zu versuchen, das Feuer zu löschen? Das passt nicht zu ihm.“ „Dann müssen wir wohl oder übel da rein.“, folgerte Eagle. „Wie denn?!? Das Feuer gehorcht mir nicht!“, widersprach sie panisch. Doch Eagle meinte ruhig: „Versuch es einfach.“ Öznur atmete tief durch und konzentrierte sich auf den Eingang, der nur noch verkohltes Holz war. Tatsächlich machten die Flammen ihnen einen Weg frei. Ohne weiter nachzudenken stürmte Carsten in das Innere des Hauses, dicht gefolgt von Eagle und Öznur. An einer Stelle befanden sich keine Flammen. Carsten dachte, irgendetwas großes, ein gewaltiges Tier, wegfliegen zu sehen, doch das wurde für ihn uninteressant, als er die Person entdeckte, nach der sie gesucht hatten. „Benni!“, rief Carsten und rannte zu seinem besten Freund, der regungslos auf dem Boden lag. Vorsichtig drehte Carsten ihn auf den Rücken. „Oh Scheiße.“, äußerte Eagle nur, während Öznur würgte und schnell den Blick abwandte. Bennis Arme, sein Oberkörper und auch zum Teil sein Gesicht waren mit einer schwindelerregenden Menge Blut bedeckt. Bennis Blut, wie Carsten schaudernd feststellen musste. Und noch dazu kamen die fürchterlichen Brandwunden, die er an seinen Armen und seinem Oberkörper sah, welcher nur noch Teils von dem zerfetzten schwarzen T-Shirt bedeckt wurden. Sein Atem war schwach und ging stockend, doch Carsten war erleichtert, dass er überhaupt noch atmete. Mit seiner Magie sammelte Carsten den Sauerstoff von außen und schuf ihnen eine Blase, damit sie nicht den Rauch einatmeten. „Wir müssen ihn hier rausbringen!“, rief er zu Öznur. Zwar hatte Carsten immer einen Erste-Hilfe-Kasten in seiner Hosentasche, den er mit Magie verkleinert hatte, doch er hätte es lieber, wenn sie Benni und sich erstmal in Sicherheit bringen könnten. Diese nickte und konzentrierte sich darauf, ihnen den Weg wieder öffnen zu können. Doch da tat sich nichts. „Verdammt, warum funktioniert das nicht?!? Wir sind doch auch reingekommen!“ „Anscheinend lässt sich das Feuer nur dann kontrollieren, wenn es jemandem schaden würde, aber nicht, wenn es retten könnte. Sonst hätte der eiskalte Engel es vermutlich noch rausschaffen können.“, bemerkte Eagle nüchtern. „Aber warum?!? Mein Dämon herrscht über das Feuer und ich habe sogar schon meine Dämonenform! Also warum kann ich es dann nicht kontrollieren?!?!?“, schrie Öznur verzweifelt. Eagle seufzte. „Keine Ahnung…“ Schluchzend sackte Öznur in die Knie. „Ich will nicht sterben…“ „Keine Sorge, wir werden hier irgendwie schon rauskommen, ganz sicher.“, redete Eagle tröstend auf sie ein und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. Immer noch schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in seiner Brust, während Eagle sie zögernd in die Arme schloss. Er warf Carsten einen ziemlich eindeutigen Blick zu, der sagte: ‚Glaub mir, wenn wir hier nicht rauskommen, wird nicht das Feuer für deinen Tod verantwortlich sein.‘ Seufzend schaute Carsten sich um. Wer weiß, wie lange die Sauerstoffblase noch ihren Dienst erfüllen konnte, doch viel mehr Sorgen bereitete ihm das Feuer. Wenn sie nicht irgendwie hier rauskämen, würden sie vermutlich alle verbrennen… Doch seltsamer Weise hatte sich der Kreis nicht verkleinert, den die Flammen bisher um sie zogen. Einen Blick auf den Boden erklärte auch, warum. Ein riesiges, verziertes Pentagramm war auf den Boden geritzt, welches nur die Klaue eines gewaltigen Tieres hätte zeichnen können. Das Feuer würde ihnen also nicht direkt etwas anhaben können, doch sie würden so lange ausharren müssen, bis endlich Hilfe kam… Bedrückt wandte sich Carsten Bennis Verletzungen zu und verarztete sie vorerst so gut es ging, als plötzlich ein Regentropfen auf seine Nase fiel. Verwirrt schaute er nach oben. Die Flammen wurden bereits kleiner und das Wasser gewann immer mehr die Oberhand. „Versuch es noch einmal!“, forderte er Öznur auf, die sofort einen Versuch startete, der auch gleich gelang. Mit einem Freudenschrei rannte Öznur in den Gang, den die Flammen ihnen geöffnet hatten und wartete ungeduldig auf Carsten und Eagle, die sich jeweils vorsichtig einen Arm von Benni über die Schultern legten und ihn so nach außen, raus aus den erstickenden Flammen trugen. „Danke.“ Erleichtert schaute Carsten Lissi, Anne und Susanne an, die vor dem Haus standen und offensichtlich für ihre Rettung verantwortlich waren. „Meine Wasser-Energie sagt: Bitte schön, Darling.“, trällerte Lissi, bevor sie voller Sorge Benni betrachtete, der immer noch von Eagle und Carsten gestützt wurde. Anne verdrehte die Augen, sagte aber nichts. „Wir müssen ihn schnell zurück nach Yami bringen.“, meinte Carsten und holte sein Handy aus der Hosentasche, um es Anne zu geben. „Kannst du bitte vorgehen und einen Notarzt rufen? Er soll zu der Kreuzung von Zukiyonaka, dem Lenz Anwesen und dem Weg zu Obakemori kommen.“, bat er sie. „Und rufe danach bitte Saya an und erkläre ihr, was passiert ist. Sie ist Kurzwahl drei.“ Anne nickte und war kurz darauf auch schon mit der Geschwindigkeit einer Kampfkünstlerin davongerannt. Derweil machten sich die anderen auf den Weg, Benni ebenfalls zum Ende von Obakemori zu bringen, um auf jenen Weg zu kommen, wo der Krankenwagen auf sie warten sollte. Kapitel 31: Schmerzende Gegenwart --------------------------------- Schmerzende Gegenwart Laura war unwohl zumute, als sie die schwere dunkle Holztür zum Schrein öffnete und eintrat. Das Gefühl, dass Benni nicht bei den anderen auf sie warten würde, belastete sie. Besonders, nachdem er so… so lieb zu ihr gewesen war. Der Raum, in dem sie sich befand war komplett japanisch eingerichtet und ohne groß nachzudenken, streifte sie sich ihre Schuhe von den Füßen. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Sahen die anderen Tempel auch so aus? „Hi Laura.“ Erschrocken zuckte sie zusammen. Vor ihr stand ein hübscher junger Mann mit pechschwarzen, etwas längeren und trotzdem stacheligen Haaren, braun gebrannter Haut und freundlichen schwarzen Augen. Er trug einen schwarzen Kimono. „D-der Schwarze Löwe?!?“ Lauras Feststellung klang eher wie ein erschrockenes Quietschen. Der Schwarze Löwe nickte grinsend. „Du kannst mich ruhig Leo nennen.“ Laura war so verblüfft, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte. Leo?!?!? „Haben alle Dämonen einen ‚Menschennamen‘?“, fragte sie zögernd nach. Leo nickte. „Klar.“ Er wies auf den niedrigen Holztisch, auf dem eine kleine Holzschachtel stand. „Hast du Lust auf eine Runde Koi-Koi?“ „Was?!?“ War das ihre Prüfung? Sie sollte gegen den Schwarzen Löwen Karten spielen?!? Laura seufzte. Sie hatte immer verloren, wenn sie gegen jemanden Koi-Koi gespielt hatte. Wobei sie bisher eigentlich nur gegen Benni und Carsten gespielt hatte, da sonst keiner Lust darauf hatte. „Na schön, wenn du so unbedingt willst.“, meinte sie. Leo grinste zufrieden und setzte sich im Schneidersitz an die eine Tischseite. Laura kniete sich ihm gegenüber auf die andere Seite, während Leo die Hanafuda-Karten aus der kleinen Schachtel holte, sie mischte, sieben Karten austeilte und sechs weitere auf den Tisch legte. Laura seufzte deprimiert. Natürlich hatte sie kein so gutes Blatt auf der Hand. Für Leo war dieses Spiel anscheinend nur eine Nebensache, denn er fragte plötzlich: „Wie läuft’s zwischen dir und Benedict?“ „Hä?!?“ Lauras Wangen färbten sich knallrot. So etwas wurde sie von ihrem Dämon gefragt? Leo lachte auf. „Ich habe irgendwie das Bedürfnis, dein Elternersatz zu sein. Also? Wie läuft’s?“ „Na ja… Ähm… Ganz gut… glaube ich?“, antwortete sie zögernd. Sie befand sich gerade doch nicht ernsthaft in ihrer Prüfung für die Dämonenform, spielte mit dem Schwarzen Löwen -Leo- Koi-Koi und unterhielt sich mit ihm über ihr erbärmliches Liebesleben?!? „Das freut mich.“, meinte er und klang offensichtlich gut gelaunt. „Ha! Tan!“, rief Laura zufrieden. Na ja… Diese Kombination brachte ihr zwar nur einen Punkt, aber sie hatte immerhin schon einen. Leo grinste. „Koi-Koi?“ „Koi-Koi.“, erwiderte Laura, was so viel hieß, wie, dass das Spiel noch weiter ging. Im Nachhinein ärgerte sie sich. Sie hätte nur diesen einen Punkt gebraucht, um Leo zu schlagen, doch natürlich wollte sie noch mehr Punkte bekommen, um ihm zu zeigen, dass sie gar nicht mal so schlecht war. Kurz darauf wurde Leos Grinsen noch breiter. „Na so was, Gokō.“ Verärgert biss sich Laura auf die Unterlippe. Das brachte zehn Punkte, die höchste Punktzahl. „Gewonnen.“, stellte Leo zufrieden fest. Laura seufzte betrübt. „Das heißt wohl, ich bekomme meine Dämonenform nicht.“ Verwirrt schaute Leo sie an. „Wie kommst du darauf?“ „Na ja… Ich dachte, wir haben hier darum gespielt, ob ich meine Dämonenform bekomme, oder nicht.“, erklärte sie ihm enttäuscht, aber auch verwirrt. Leo stützte sein Gesicht auf den Händen ab. „Oh. Ich hätte dir wohl sagen sollen, dass du deine Prüfung noch nicht machen kannst.“ „Was?!“ Laura war aufgesprungen. „Warum nicht?!?“ „Weil ich noch nicht einmal weiß, ob ich dich bei deinem sechzehnten Geburtstag nun verlassen werde, oder nicht. Da macht es keinen Sinn, wenn du jetzt schon deine Prüfung absolvieren würdest.“ „Ja aber-“ Tränen rannen über Lauras Wangen. „Aber warum hast du dann mit mir Koi-Koi gespielt?“ Leo zuckte mit den Schultern. „Ich hatte einfach Lust drauf. Als Dämon hat man nicht wirklich die Möglichkeit, einfach mal jemanden aufzufordern und das ist ganz schön frustrierend.“ Weinend verbarg Laura ihr Gesicht hinter den Händen. Also war alles umsonst? Sie würde die Dämonenform nicht bekommen, weil der Schwarze Löwe sich offensichtlich doch dazu entscheiden würde, sie zu verlassen?!? Leo seufzte. „Du musst doch nicht gleich anfangen zu weinen.“ „Tut mir ja sehr leid, dass du mir vorhin noch Hoffnungen gemacht hast!“, schrie sie ihn an, stand auf, rannte zum Eingang und stolperte halb in ihre Schuhe. „Laura, warte!“, rief Leo ihr hinterher und stand auf, um ihr zu folgen. Doch Laura riss so schnell sie konnte die Tür auf und rannte hinaus. Keuchend und weinend zugleich lehnte sich Laura gegen die geschlossene Schrein-Tür und sank schließlich auf den Boden. „Laura? Was hast du?!“, hörte sie Ariane besorgt rufen. Laura zog die Beine an und schlang ihre Arme um sie. „Der Schwarze Löwe hat mir noch nicht einmal eine Chance gegeben, die Prüfung zu machen, weil er ja sowieso noch nicht weiß, ob er mich nun verlassen will oder nicht!“, schrie sie und fing sofort wieder an zu schluchzen. „Oh nein… Das tut mir so leid…“ Sanft nahm Ariane Laura in den Arm. Anne seufzte. „Oh scheiße, heute ist echt nicht unser Tag.“ „Anne! Jetzt nicht!“, rief Ariane vorwurfsvoll zu ihr rüber. Doch Laura war schon darauf aufmerksam geworden. Wie meinte Anne das mit heute sei echt nicht ihr Tag?
Und wie meinte Ariane das mit jetzt nicht?!? „W-was ist denn los?“, fragte Laura, immer noch schluchzend. Ariane seufzte. „Prima, Anne. Super gemacht! Jetzt sagst du’s ihr aber auch!“ „Wieso ich? Du bist doch ihre ‚beste Freundin‘.“, erwiderte Anne spöttisch. „Genau! Und diese beste Freundin hätte auf den richtigen Moment gewartet!“, schrie Ariane zurück. „Leute, bitte. Nicht streiten! Es ist schon so schlimm genug, also macht es nicht noch schlimmer!“, schritt Susanne schlichtend ein, klang aber selbst so, als wäre sie kurz davor los zu weinen. „Was ist denn jetzt?!“, drängte Laura sie unter Tränen. Schlimmer konnte es sowieso nicht mehr kommen. Als sie aufschaute bemerkte sie, dass nahezu alle traurig und deprimiert waren, sogar Anne. Da fiel ihr etwas auf, was ihr einen Grund zur Beunruhigung bot. „Wo ist Carsten?“ Schließlich schien Eagle diese anscheinend so schwere Aufgabe zu übernehmen. Er verließ seinen Platz an einer Säule des Tempels und ging die Stufen zu Laura und Ariane hoch, wo er vorsichtig vor ihr in die Knie ging und eine Hand auf ihre Schulter legte. „Es… gab ein Feuer in Obakemori.“, sagte er schließlich. Laura fiel das Atmen schwer. „Ist… Ist jemand verletzt?“ Natürlich war jemand verletzt!
Der Stimmung der anderen nach zu urteilen sogar schwer verletzt!!!
Und Laura wusste ganz genau, wer sich zurzeit in Obakemori aufhalten müsste… Eagle nickte und bestätigte ihre größte Angst. „Der eiskal- Benni wurde auf die Intensivstation gebracht.“ Laura wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie starrte Eagle einfach nur ungläubig an, während ihre Tränen über ihre Wangen liefen und ihre Welt mit einem Schlag zu Asche zerfiel. Benni war verletzt. Er war verletzt und lag auf der Intensivstation!!! „Das ist unmöglich!!!“, schrie sie verzweifelt. „Es ist Benni! Benni ist nie verletzt! Benni landet nie auf der Intensivstation!!!“ Schluchzend vergrub Laura ihr Gesicht wieder in ihren Armen, während Ariane sie immer noch tröstend im Arm hielt. Als sie den ersten Schock nach einer Weile überstanden hatte, fragte sie zögernd: „K-kann ich… zu ihm?“ Eagle nickte. „Ich denke schon.“ „Dann los!“, drängte Laura ihn und die anderen und mühte sich taumelnd auf die Beine. Der Weg zurück nach Zukiyonaka und zum Krankenhaus war die reinste Folter. Laura fühlte sich, als würde sie zu ihrer Hinrichtung, oder zu einem Begräbnis gehen und noch dazu wollte der Regen einfach nicht aufhören. Als sie endlich am Krankenhaus angekommen waren, konnte man gar nicht mehr unterscheiden, was nun Regentropfen und was Lauras Tränen in ihrem Gesicht waren. Eagle ließ sie am Eingangsbereich stehen und ging zum Schalter. „Wir möchten zu Benedict Ryū no chi, er wurde vor etwa einer Stunde hier eingeliefert.“ Die alte Frau am Schalter schaute Eagle und den Rest der Gruppe hinter ihm kritisch an, sagte ihm aber die Zimmernummer. Bedrückt schaute sich Laura um, als sie die Gänge zu dem Zimmer entlanggingen, in dem Benni schwer verletzt lag. Alles war weiß und weiß erinnerte sie an den Tod. Als sie schließlich an besagtem Zimmer ankamen, öffnete sich die Tür und Carsten kam raus. Schluchzend warf sich Laura in seine Arme, bevor er die Gruppe überhaupt bemerkt hatte. „Wie geht es ihm?!“, erkundigte sie sich unter Tränen. Carsten seufzte traurig. „Nicht gut. Er hat schwere Verbrennungen und andere Verletzungen, die sich nicht so einfach mit Magie heilen lassen. Aber du kennst Benni doch, er wird sicher bald wieder auf den Beinen stehen.“ Laura wusste, dass Carsten Recht hatte. Er hatte immer Recht! Also müsste es Benni bald wieder gut gehen, was sie Hoffnung schöpfen ließ. „Darf ich rein?“, fragte sie zögernd. „Eigentlich ist nicht, aber egal. Ganz kurz kannst du sicher mal rein schauen, er ist sowieso noch nicht bei Bewusstsein.“, meinte Carsten und öffnete die Tür wieder, aus der er gerade gekommen war. Der Anblick war alles andere als ermutigend und Hoffnung schöpfend… Der Raum war genauso unheimlich weiß, wie der Gang und Bennis blasse Haut und seine hellen Haare hoben sich kaum von dem Weiß des Kissens und der Decke ab. Zitternd schlang Laura die Arme um sich und lehnte sich Trost suchend an Carsten, der ihr sanft den Arm streichelte. Benni hatte diese seltsame Beatmungsmaske über Mund und Nase und das manchmal unregelmäßige Piepsen, das wohl sein Herzschlag war, erzeugte bei Laura eine Gänsehaut. Seine Arme, seine rechte Hand und anscheinend auch sein Oberkörper waren bandagiert und hatten dennoch vereinzelt dunkelrote Blutflecken. „Los komm, lass uns gehen.“, forderte Carsten sie leise auf. Laura nickte widerwillig und wieder stahlen sich einige Tränen davon. „Bitte werde schnell wieder gesund…“, murmelte sie traurig und obwohl sie am liebsten laut protestieren und sich heulend an Bennis Bett setzen wollte, verließ sie das Zimmer. Die anderen hatten sich in der Zeit aufgebracht mit Saya unterhalten, die wohl während ihrer Abwesenheit gekommen war. „Was ist denn los?“, fragte Carsten, als er und Laura wieder auf dem kalt wirkenden, weißen Gang waren. Saya seufzte. „Ich war gerade beim Direktor… Sie wollten Benedict aus dem Krankenhaus werfen, weil er nicht versichert ist und noch nicht einmal einen Ausweis hat.“ „Das ist doch total krank! Ob man versichert ist oder einen Ausweis hat, spielt doch dabei keine Rolle! Wie kann man einen lebensgefährlich Verletzten auf die Straße setzen wollen?!“, beschwerte sich Ariane verärgert. „Aber… Haben Sie ihn überzeugen können, es nicht zu tun?!?“, fragte Laura besorgt. Sie hatte keine Ahnung, warum Benni keinen Ausweis hatte aber Ariane hatte Recht, so etwas konnte man doch trotzdem nicht machen! Saya nickte. „So mehr oder weniger habe ich ihn umstimmen können. Zwar wollen sie ihn gleich morgen auf ein normales Zimmer verlegen, aber ich denke, das ist bei Benedict nicht weiter kritisch. Das eigentliche Problem ist, dass der Direktor seine Ärzte und Krankenschwestern so in seiner Gewalt hat, dass sie sich weigern werden, ihn zu behandeln, ob sie nun wollen oder nicht.“ „Aber Sie sind doch Ärztin! Können Sie sich nicht für ein paar Tage nach Yami versetzen lassen, um sich um Benni zu kümmern?“, schlug Öznur vor. Traurig lachte Saya auf. „Im Prinzip könnte ich das, wäre ich nicht die Direktorin von dem Krankenhaus in Karibera. Es tut mir leid…“ Laura senkte betrübt den Kopf, als Saya plötzlich meinte: „Aber ich habe eine alternative Idee.“ Nun bekam sie doch wieder Hoffnung. „Carsten könnte hier die Stellung übernehmen.“ „Was?“ Erschrocken musterte Carsten seine Mutter. „Das- das kann ich nicht, ich… ich bin erst sechzehn!“ „Ach was, natürlich kannst du das.“ Aufmunternd legte Saya eine Hand auf die Schulter ihres Sohnes, der bereits mindestens einen Kopf größer als sie war. „Du hast mehr als genug Erfahrung und möchtest später doch sowieso Arzt werden.“ „Ja, aber-“ „Das ist die einzige Möglichkeit, Carsten. Ich kann nicht die ganze Zeit zwischen Karibera und Zukiyonaka hin und her pendeln, das weißt du. Und Selbstzweifel brauchst du erst recht nicht zu haben.“ Carsten senkte betrübt den Kopf. „Und was ist, wenn ich doch was falsch mache?“
„Machst du nicht.“ Zuversichtlich schaute sie ihn an. „Saya hat Recht, Carsten. Du kannst das!“, ermutigte Laura ihn. Sie hatte keine Angst davor, Benni einem gerademal Sechzehnjährigen anzuvertrauen, wenn es sich dabei um Carsten handelte. Eigentlich war es ihr sogar viel lieber, wenn er sich um ihn kümmern würde, als irgendeine wildfremde Person, die das alles nur tat, weil es ihr Job war. Geschlagen seufzte Carsten. „Ich werde es versuchen…“ Zufrieden lächelnd wandte sich Saya nun der ganzen Gruppe zu. „Ich mache mich dann mal wieder auf… Hier ist ja nun alles in guten Händen. Bis bald.“ „Wir sollten auch gehen, es gibt hier sowieso nichts mehr zu tun. Abgesehen davon, bei dir gibt’s vermutlich bald Essen, Laura.“, meinte Ariane, doch Laura schüttelte stur den Kopf. „Ich will hierbleiben!“ Eagle seufzte. „Wenn du einen auf Dickkopf machst, lässt das Benedict auch nicht schneller genesen. Am Ende kippst du uns sogar noch aufgrund von mangelnder Ernährung um und das hilft ihm garantiert noch weniger.“ „Aber Benni-“ „Ich bleibe hier, Laura. Keine Angst.“ Carsten warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu, doch es entging ihr nicht, dass er selbst Aufmunterung bräuchte. Natürlich…, dachte Laura traurig, Immerhin ist Benni für Carsten wie ein großer Bruder. Ihn belastet das ganze garantiert auch so… Nun verstand sie auch, warum sich Carsten so geniert hatte, Bennis Pflege zu übernehmen. Er würde sich jeden Tag um seine Wunden kümmern, in der Angst, sie würden doch nicht heilen können, oder er würde gar einen Fehler machen und am Ende dafür verantwortlich sein, dass Benni… nie wieder aufwachen würde… Schluchzend warf sie sich erneut in seine Arme. 
„Es tut mir so leid…“, murmelte sie weinend in seinen Pulli. Zögernd erwiderte Carsten ihre Umarmung, senkte aber schließlich den Kopf und legte seine Stirn auf ihren Scheitel. „Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen.“ Laura konnte die Zeit nicht einschätzen, die sie so auf dem Gang standen, bis Carsten sich letztlich von ihr löste und meinte, sie sollten langsam zurückgehen. Wenn sich an Bennis Situation etwas ändern würde, würde er ihnen sofort Bescheid sagen. Sosehr es Laura auch wehtat, das Krankenhaus verlassen zu müssen, sie war erleichtert, dass jedenfalls Carsten bei Benni blieb. Zwei Tage waren nun schon seit jenem Feuer vergangen… Zwei Tage, in denen sie während der Besuchszeit nach Benni schauten und sich trotzdem nichts verändert hatte. Zwei Tage, die er bedingungslos durchschlief. Diese zwei Tage fühlten sich wie zwanzig endlose Jahre an. Laura brachte keinen Bissen herunter und kam auf höchstens drei Stunden Schlaf pro Nacht. Ihr ging es grauenhaft, ein Nervenzusammenbruch folgte dem nächsten. Und die ganze Zeit hatte sie Benni in dem Zustand vor Augen, in dem sie ihn zum ersten Mal nach dem Feuer gesehen hatte. Auch wenn sich seine Situation inzwischen etwas gebessert hatte und er bereits ohne diese Atemmaske klarkam… Sie schien für diese kurze Zeit ziemlich abgenommen zu haben und verbrachte diese ganzen zwei Tage fast so, wie im Halbschlaf. Laura wusste bereits nach wenigen Sekunden nicht mehr, wovon die anderen gerade sprachen und die aufmunternden Worte von Rebecca, Ariane, Carsten oder irgendeinem anderen hatten sowieso immer nur den gleichen, bedeutungslosen Inhalt: Es wird schon, mach dir keine Sorgen. Aber es passierte nichts! Es waren nun schon zwei Tage vergangen und es war bisher nichts passiert!
Rein gar nichts! Und nun saß Laura mal wieder schluchzend an dem Bett, in dem Benni schon seit zwei Tagen schlief… und es würde doch wieder nichts passieren… ~*~ Er hatte das Gefühl, sein ganzer Körper würde in Flammen stehen. In quälenden schmerzhaften Flammen, die nicht erlöschen wollten. Und wie eine Dauerschleife suchten ihn immer und immer wieder dieselben Bilder heim. Jene Bilder, wie seine Meisterin vor seinen Augen von den Flammen verschlungen wurde. Wie ihn das Feuer einsperrte. Und natürlich der Phönix aus Feuer, ein gewaltiges Monstrum, das ihn verschlingen wollte. Benni war als habe er tausende Kugeln seiner ‚Black Death‘ im Leib. Sein Kopf pulsierte und alles schien sich zu drehen. Er wollte die Arme heben und sich die Schläfen massieren, ließ es bei dem aufkommenden höllischen Schmerz jedoch bleiben. Stattdessen öffnete er die ihm so schwer vorkommenden Augenlider, während er blinzelnd versuchte, seine Sicht zu schärfen. Benni vernahm gedämpft, dass sich mehrere Personen bei ihm in der Nähe befanden, die sich aufgebracht unterhielten. Unter diesem erdrückenden Stimmengewirr hörte er, wie andere Stimmen wiederum seinen Namen riefen. Träge drehte Benni seinen pulsierenden Kopf etwas in die Richtung, aus der er die Stimmen hörte, als ihn der dabei aufkommende Schwindel erneut fast in die Ohnmacht führte. Er versuchte, mehrmals ruhig durchzuatmen, während sich seine Lungen schmerzhaft zusammenzogen, als sie nach anscheinend endloser Zeit wieder Sauerstoff bekamen. Nun schärfte sich allmählich auch sein Blick und er konnte die Stimmen immer deutlicher hören und unterscheiden. Als er wieder nahezu normal sehen konnte und nicht gleich wieder vom Schwindel erfasst wurde, wandte er sich der Stimme zu, die ihm am nächsten schien. Eine helle, klare Stimme, die sowohl Trauer als auch Hoffnung verriet. „…Laura?“, fragte er matt. „Du… Du bist wach! Ein Glück, du bist endlich aufgewacht!!!“, rief sie voller Erleichterung und fiel Benni überglücklich um den Hals. Dieser gab einen unbeabsichtigten Schmerzenslaut von sich, als sie mit ihrer überschwänglichen Freude seinen Körper berührte. Der Schwindel kam zurück. Das Feuer kam zurück. Die Bilder- Laura schien es bemerkt zu haben, denn sie löste sich schnell von ihm und murmelte ein betroffenes „Entschuldigung…“. „Wie geht es dir?“, fragte Carsten besorgt, der neben Laura stand. Benni wusste keine Antwort. Wie ging es ihm? Er spürte eine gähnende Leere in sich, die ursprünglich von seiner Meisterin und seinem Zuhause gefüllt wurde. Wo sollte er nun hin? Wieder zu Laura, deren Vater ihn mit einem schadenfrohen Grinsen wieder als ihr Leibwächter einstellen würde, falls er sich überhaupt so gnädig zeigte?
Zu Konrad und Rina oder gar zu Carsten, die ihn vermutlich sogar gerne aufnehmen würden? Dennoch würde er das Gefühl haben, dort nicht hinzugehören. Ihnen nur eine Last zu sein… „Benni?“, unterbrach Carsten seine perspektivlosen Gedanken. Er antwortete nicht. Was sollte er denn sagen? Ihm ging es miserabel, doch das könnte sich sein bester Freund eigentlich denken. Carsten seufzte bedrückt. „Immerhin bist du noch am Leben, das ist die Hauptsache.“ Benni erwiderte nichts darauf. Was hatte es noch für einen Sinn, dass er am Leben war? „Allerdings haben wir seitdem nichts von Eufelia-Sensei gehört und im Feuer haben wir sie auch nicht sehen können…“, ergänzte Carsten besorgt. „Sie ist tot.“ Bennis Kehle war rau, fast schon ausgetrocknet und seine Stimme hatte kaum die Kraft, diese drei Worte aussprechen zu können. Carsten starrte ihn ungläubig an. „W-wie denn das? Wir haben noch nicht einmal ihren Leichnam gefunden.“ „Sie ist verbrannt.“, antwortete er, mit derselben schwachen Stimme und versuchte, die Bilder auszublenden. Doch es gelang ihm nicht. „Mein Beileid…“, murmelte Susanne ergriffen. „Wobei ich mich schon frage, wie du das dann überleben konntest…“, überlegte Anne. „Vielleicht liegt es ja an dem Kreuzanhänger, den du und Laura habt.“, sinnierte Carsten. „Hä? Wie kann ein Kreuz Leben retten?“, fragte Ariane verwirrt. Carsten schüttelte den Kopf. „Nicht das Kreuz, sondern das Material, aus dem es gemacht ist. Es heißt ‚Viecor‘, ein besonderes Metall, über das man viele Legenden erzählt. Eine davon ist, dass es eine Person wiederbeleben kann, wenn diese und eine weitere Person sich gegenseitig ein solches Metall in irgendeiner Form geschenkt haben und wahre Liebe sie verbindet.“ Benni merkte, wie Lauras Gesicht einen tiefen Rotton annahm. „Oh wie süß, die wahre Liebe hat dich gerettet!“, rief Öznur begeistert. „Unsinn.“, murmelte er erschöpft vor sich hin, obwohl ihm das Reden immer noch schwerfiel. Er wusste genau, was ihn da vor den Flammen bewahrt hatte. „Glaubst du denn nicht an die wahre Liebe?“, fragte Öznur kritisch. Benni seufzte. Wie sollte er an so etwas wie ‚wahre Liebe‘ glauben, wenn er noch nicht einmal wusste, was Liebe war? „Das ist nicht von Bedeutung.“, erwiderte er jedoch nur. Kurz bevor er das Bewusstsein verloren hatte, konnte er die Gestalt erkennen, die ihm Schutz vor dem Feuer geboten hatte. Es war der farblose, oder genauer durchsichtige, Drache gewesen. Der Dämon, der den Körper von Eufelia-Sensei verlassen hatte, kurz bevor dieser zu Asche verbrannte. Zu Asche… Eufelia-Sensei, sein Zuhause, … Das alles war nun Asche… Deprimiert senkte Laura den Kopf. „Liebe ist also bedeutungslos?“ Benni suchte nach Worten, um ihr zu wiedersprechen, doch sein immer noch schmerzender Kopf behinderte ihn dabei, weshalb er keine Antwort fand. Doch das interpretierten die anderen offensichtlich als ein ‚ja‘, da Ariane plötzlich seufzte: „Das ist mal wieder typisch für dich. Super gemacht eiskalter Engel, du hast Laura schon wieder zum Weinen gebracht!“ „Ist schon gut Nane… Er hat ja Recht, im Moment ist es völlig egal…“, schluchzte Laura. Benni warf einen Blick auf sie, als ihn erneut Schwindel überkam. Er wusste nicht, was er nun sagen sollte, um sie aufzuheitern… Das übernahm für gewöhnlich Carsten… Schließlich meinte er: „Was mich vor dem Tod bewahrt hat, hatte nichts mit Liebe zu tun gehabt. Außerdem bezweifle ich, dass Liebe so stark sein kann…“ Den letzten Teil hätte Benni besser nicht sagen sollen, wie er nun feststellen musste, als Laura endgültig in Tränen ausbrach. Seine Meinung war eigentlich logisch. Wie würde ein Gefühl auch etwas so Übernatürliches bewirken können? Doch anscheinend hatten die anderen darunter verstanden, dass er dem Gefühl an sich keine große Bedeutung zuschrieb. Benni seufzte und wollte Laura beruhigen, dass er es nicht so gemeint hatte. Doch Ariane kam ihm zuvor: „Ich hätte eigentlich mehr Taktgefühl von dir erwartet. Ich weiß, dass es dir gerade wohl alles andere als gut geht aber… Weißt du eigentlich, was Laura alles durchgemacht hat, während du hier gelegen hast?!? Weißt du eigentlich, wie schlecht es ihr deinetwegen ging?!?!? Bist du überhaupt daran interessiert, dass sie glücklich ist?!? Offensichtlich nicht!“
Benni wollte ihr widersprechen, doch da schrie Laura auch schon: „Nane, sei still!!!“ und rannte weinend hinaus. „Laura, warte!“, rief Ariane und rannte ihr hinterher. Öznur stöhnte auf. „Super gemacht, Leute!“ Ohne Worte waren sich die anderen einig, Laura ebenfalls zu folgen. „Gute Besserung.“ Susanne lächelte Benni noch bedrückt an, dann verließ sie mit den anderen gleichermaßen das Zimmer. Nur Carsten blieb zurück. Verärgert schaute er Benni an. „Was sollte das?“ Benni wollte etwas erwidern, doch Carsten ließ ihn nicht dazu kommen. „Du hast wirklich keine Ahnung wie es ist, verliebt zu sein, oder? Du denkst wirklich, Liebe sei schwach! Verdammt, diese Liebe hat Laura in die tiefsten Depressionen gestürzt, während du bewusstlos warst!!!“ Er kramte eine Schachtel Tabletten aus seinem weißen Arztkittel und knallte sie auf den kleinen Tisch neben Bennis Bett. „Falls du nicht einschlafen kannst.“, meinte er. „Aber wehe du kommst auf die Idee, mehr als eine zu nehmen. Zuzutrauen wäre es dir!“ „Carsten, ich-“ „Manchmal kann ich wirklich verstehen, warum dich die Menschen für ein Monster halten!“ Carsten machte auf dem Absatz kehrt und verstört beobachtete Benni, wie sein bester Freund die Tür hinter sich zuschlug und ihn mit der Einsamkeit zurückließ. Beklommen starrte Benni zur weißen Decke hinauf. Die Brandwunden an seinem Körper spürte er kaum mehr, sosehr ergriff ein tosender Schmerz in seinem Herzen seine Wahrnehmung. Hatte Carsten das ernst gemeint?
Hielt sogar er ihn für ein Monster? Die Welt drehte sich. Ihm wurde übel. Carstens Worte hallten in seinem Kopf nach. Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Er versuchte an etwas anderes zu denken. Versuchte, diese erdrückenden Gefühle auszuschalten. Doch erfolglos. Benni schaute zu den Schlaftabletten, die Carsten auf den Nachttisch gelegt hatte, als ihm erneut schwindelig wurde. Diese Schmerzen waren unerträglich… Trotz der Wunden, die teils wieder aufrissen, streckte Benni seinen Arm nach den Tabletten aus. Kapitel 32: Schmerzende Vergangenheit -------------------------------------    Schmerzende Vergangenheit       Verärgert schlug Carsten die Tür hinter sich zu und ging schnellen Schrittes den Gang entlang zum Besuchersaal, wo sich vermutlich die anderen aufhielten und Laura trösteten. Doch nach und nach wurden seine Schritte langsamer, schleppender. Schwer atmend lehnte sich Carsten gegen die weiß verputzte Wand. Was hatte er nur getan? Was hatte er gesagt?!? Carsten rutschte die Wand hinunter und ließ sich auf die Knie fallen. „Verdammt…“ Er schlug mit der Faust auf die weißen Platten und senkte den Kopf, während vereinzelte Tränen auf seine Jeans tropften. „Carsten? Was hast du?“ Überrascht schaute er auf und blickte direkt in Janines besorgte himmelblaue Augen. Seufzend wandte er sich ab. „Ich bin so ein Idiot…“ Vorsichtig setzte sie sich neben ihn auf den Boden. „Was ist denn passiert?“ „Ich…“ Carsten brach ab. Statt zu antworten rannen nur wieder einige Tränen über seine Wangen. Zögernd nahm Janine seine Hand und strich mit dem Daumen über seinen Handrücken. Carsten atmete tief durch und antwortete schließlich mit zitternder Stimme: „Ich habe mich ganz schön aufgeregt, dass Benni so etwas in Lauras Gegenwart gesagt hatte… Ich habe ihn ein Monster genannt…“ „Das ist doch nicht weiter schlimm…“, meinte Janine beschwichtigend. Carsten schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe ihn verletzt, ich weiß es ganz genau!“ Er hätte es auch so gewusst, doch als Carsten jenen Satz gesagt hatte, bevor er gegangen war, konnte er genau in Bennis Augen sehen, wie schwer ihn diese Worte getroffen hatten… Wie sie ihn verletzt hatten, wie er ihn verletzt hatte! Carsten schreckte hoch. „Die Tabletten!“ Auf Janines verwirrten Blick hin erklärte er: „Ich habe Benni Schlaftabletten dagelassen… Und dann auch noch mit der eindeutigen Warnung, er solle nicht zu viele nehmen, ich könnte es ihm sogar zutrauen-“ Carsten lehnte sich zurück gegen die Wand, als er erkannte, welche Möglichkeit er Benni geboten hatte. Erst die Tabletten und dann auch noch diese verletzenden Worte… „Ich habe ihn in den Tod getrieben…“, murmelte er benommen vor sich hin. Janine schüttelte den Kopf. „Nein, hast du nicht.“ „Doch!!!“, schrie Carsten unter Tränen. Er sprang auf und wollte zurück zu Bennis Zimmer rennen, um ihn davon abzuhalten, die Tabletten zu nehmen. Falls es nicht schon zu spät wäre… Doch Janine hielt ihn am Arm zurück. „Lass mich!“ „Hast du denn kein Vertrauen in Benni?“ Ihre Frage ließ ihn stutzen. Vertraute er seinem besten Freund eigentlich? „Ich- ich weiß es nicht…“ „Natürlich vertraust du ihm.“, meinte Janine ruhig. „Wenn du ihm wirklich misstrauen würdest, hättest du ihm doch nicht die volle Tablettenschachtel dagelassen.“ Beschämt senkte Carsten den Kopf und ballte die zitternde Hand zur Faust. „Ich… vertraue ihm…“, wiederholte er ihre Worte. Janine nickte. Nach einiger Zeit meinte sie schließlich: „Eigentlich wollte ich dich holen gehen… Laura ist am Ende ihrer Nerven und wir können sie einfach nicht beruhigen. Sie braucht dich.“ Carstens Herz wurde schwer, als er sich daran erinnerte, wie stark Laura Bennis Worte getroffen hatten. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und eilte mit Janine den restlichen Weg entlang, bis sie bei dem Besuchersaal ankamen. Der Raum war ziemlich voll, doch keiner schien auch nur Notiz von der Gruppe zu nehmen, die sich um Laura versammelt hatte und versuchte, sie zu trösten, während diese bitter weinte. Kaum hatte Carsten sie erreicht, schloss er Laura in die Arme. „Ist ja gut.“, murmelte er beschwichtigend, während Laura ihr Gesicht in seinem Arztkittel vergrub und immer noch heftig schluchzte. Anne stöhnte auf. „Mein Gott, ihr übertreibt echt. Die Gedanken des eiskalten Engels waren doch eigentlich nur rational. Sogar ich muss ihm Recht geben, dass Liebe wohl kaum zu so etwas Übernatürlichem im Stande ist. Hätte nicht gedacht, dass ihr deswegen so ein Theater macht.“ „Anne! Klappe!!!“, brüllte Öznur sie vorwurfsvoll an, wirkte kurz darauf jedoch verwirrt. „Oh nein… Wir haben Bennis Aussage ganz falsch interpretiert!“, bemerkte Susanne erschrocken. „W-was?“ Carsten konnte seinen Ohren nicht trauen. Sie alle hatten Benni einfach nur missverstanden? Dieses Missverständnis war der Grund, weswegen er seinen besten Freund aufs schlimmste verletzt hatte?!? Lauras Schluchzen ebbte ab. „Er… Er hat es gar nicht so gemeint?“ Sanft streichelte Ariane Lauras Arm. „Nein Laura, es ist alles gut… Oh nein und ich habe ihn total angeschrien! Und das, obwohl es ihm doch sowieso gerade total schlecht geht!!!“, bemerkte Ariane betroffen. Carsten konnte immer noch nicht fassen, dass er das alles aufgrund eines dämlichen Missverständnisses gesagt hatte… Betreten legte er seine Stirn auf Lauras Schulter. Sein ganzer Körper zitterte. „Carsten? Was hast du?!? Es ist doch nun wieder alles in Ordnung…“, fragte Laura besorgt. „Nichts ist in Ordnung!!!“, schrie er. „Ach Gott, erst Laura und jetzt du! Hört endlich mit diesem Geflenne auf!“, beschwerte sich Anne genervt. „Anne, sei still!“, wies dieses Mal Janine sie lautstark zurecht, bevor sie wieder sanft Carstens Hand nahm. „Was ist denn los?“, erkundigte sich Susanne. „Ich habe gesagt, dass ich verstehen könnte, warum die Menschen ihn für ein Monster hielten!!!“ Schluchzend krallte sich Carsten an Lauras Arme. Anne zuckte mit den Schultern. „Na und? Den eiskalten Engel interessiert das vermutlich herzlich wenig.“ „Nein, glaub mir, es scheint Benni tatsächlich verletzt zu haben.“, widersprach Janine. „Wenn Carsten seine Worte so sehr bereut, scheint es wirklich schlimm zu sein…“, gab Susanne ihr befangen Recht. Carsten spürte, wie es dieses Mal Laura war, die ihn in die Arme nahm. Anne seufzte. „Dann geh doch einfach zu ihm und sag ihm, dass es dir leid tut und du es nicht so gemeint hast.“ Laura löste die Umarmung und er wollte bereits aufstehen, als er inne hielt. Wie konnte er ihm nach all dem unter die Augen treten? Die Augen, die ihn vorhin so verletzt angeschaut hatten?!? „Ich- ich kann das nicht…“, bemerkte er betroffen. „Vielleicht solltet ihr beide euch für eine Weile aus dem Weg gehen… Die Zeit vorerst einige Wunden dämpfen lassen.“, schlug Susanne vor und hielt ihm ihre Hand entgegen. „Gehen wir erst einmal etwas essen. Du und Laura… es scheint so als hätte niemand von euch beiden die letzten Tage auch nur einen Bissen zu sich genommen.“ Zögernd nickte Carsten und ließ sich von Susanne aufhelfen. Es fiel ihm schwer, das Krankenhaus verlassen zu müssen… Die ganze Zeit hatte er Bennis traurigen Blick vor Augen. Er stolperte fast in Laura, als diese abrupt stehen blieb. „J-Jannik?“, fragte sie erschrocken. Der angesprochene Junge musterte sie verwirrt, bis er tatsächlich Laura erkannte. „Hey! Lange nicht mehr gesehen!“, grüßte er sie überraschend freundlich. „Wer?“, erkundigte sich Carsten irritiert. „Das ist Jannik, er ging in Bennis Klasse und gehörte zu dieser Band, bei der er eher unfreiwillig mitmachen musste.“ „Also zu der Gruppe, zu der auch Max gehörte?“, stellte Carsten schaudernd fest. Er erinnerte sich nur ungern an seine Zeit im FESJ. Genauso ungern, wie er sich an seinen gewalttätigen Widersacher erinnerte. Jannik lächelte ihn mitleidig an. „Du bist Carsten, oder? Benni hat dich hin und wieder erwähnt… Also hast du meinen Cousin im FESJ kennenlernen müssen?“ Carsten nickte betrübt und musterte Jannik kritisch. Er hatte feuerrotes Haar und freundliche braune Augen und sah im Gegensatz zu seinem Cousin überhaupt nicht gewalttätig aus. „Was machst du hier?“, erkundigte sich Laura. „Ich habe Alex und Kevin besucht.“, erklärte Jannik. „Was?!?“, schrie sie erschrocken auf. „W-was machen die denn hier?“ Jannik seufzte. „Kannst du dich nicht an den Tag erinnern, an dem Max dich fast erschossen hätte?“ „Na ja… Nicht ganz.“ Wieder seufzte Jannik. „Ich erzähle dir, was passiert ist, wenn du möchtest. Aber nicht hier… Wollt ihr nicht mitkommen? Ich wollte gerade zu Mittag essen…“ „Das trifft sich gut, denn das hatten wir auch gerade vor.“, meinte Susanne freundlich. Jannik lachte auf. „Na dann kommt einfach mit, ich lade euch ein.“ Sie verließen das Krankenhaus und standen erneut in dem triefenden Regen, der bereits seit jenem Tag nicht mehr aufhören wollte. Dieses Mal war es Carsten, der abrupt stehen blieb. „Ist das nicht Chip?“ Einige Meter rechts von ihnen saß ein grau-weißer, sehr großer Wolf oder Hund, neben ihm eine pechschwarze Katze mit grünen Augen und auf dem Kopf des Hundes saß ein kleines Eichhörnchen. Sie alle drei schauten mit einem traurigen Blick an dem Krankenhaus hinauf. Die anderen beiden Tiere erkannte Carsten nun auch. Der Wolfshund war ‚Wolf‘. Carsten hatte ihn schon öfter bei Benni und Eufelia gesehen und die schwarze Katze müsste Raven sein, die Benni vor etwa drei Jahren an einem genauso verregneten Tag wie heute aufgelesen hatte. Carsten erinnerte sich gut an Bennis Worte, als er ihm am Telefon von dem kleinen Babykätzchen erzählt hatte. Es war wohl von irgendwelchen Menschen ausgesetzt worden und Benni hatte sie schließlich mit zu sich nach Hause genommen und sie mit der Flasche großgezogen. Chip, Wolf und Raven schienen sie bemerkt zu haben und trotteten mit pitschnassem Fell zu ihnen rüber, bis sie vor Carsten stehen blieben. Chip quietschte etwas und selbst wenn Carsten nicht wusste, was er sagte, konnte er es erahnen. „Ihr wollt zu Benni, oder?“ Chips schwarze Knopfaugen leuchteten und er nickte wie wild. „Aber Tiere dürfen doch nicht rein…“, bemerkte Janine traurig. Sowohl Chip als auch Wolf und Raven legten traurig die Ohren an und schauten Carsten flehend an, bis er sich geschlagen gab. Vorsichtig streichelte er Chip über sein nasses Fell. „Ihr seid ihm garantiert eine viel bessere Gesellschaft, als wir alle zusammen…“ „Geht ihr zum Italiener?“, fragte Carsten Jannik, doch dieser schüttelte den Kopf. „Zum Café in der Nähe der Mittelschule. Die haben dort auch gutes Mittagessen.“ „Na gut, geht schon mal vor, ich komme dann nach.“, meinte er schließlich. Auf Schritt und Tritt folgten Raven, Wolf und Chip, der immer noch auf Wolfs Kopf saß, ihm durch den Vordereingang in das Krankenhaus. Er hatte die drei mit einem Zauber unsichtbar gemacht, damit sie unbemerkt zu Bennis Zimmer kommen konnten. Dort würde er sie wieder sichtbar zaubern, da es sowieso unwahrscheinlich war, dass jemand der anderen Angestellten Bennis Zimmer betreten würde. Zögernd berührte Carsten die Türklinke. Jetzt würde er Benni doch unter die Augen treten müssen… Er atmete tief durch, drückte die Türklinke runter und trat zögernd in Bennis Zimmer, wo er die drei Tiere wieder sichtbar zauberte. Carsten war überrascht, dass Benni nichts dazu sagte, dass sich auf einmal Chip, Wolf und Raven in seinem Zimmer befanden, die zögernd zu ihm schlichen. Schläft er?, fragte sich Carsten. Da fiel ihm die Tablettenschachtel auf… Sie war geöffnet!!! Eine gewaltige Angst und Sorge überkam ihn, als er zu Bennis Bett stürzte und nach seinem Puls tastete. Doch das war nicht mehr nötig, denn kaum hatte er Bennis Arm berührt, zuckte dieser sofort zusammen, behielt die Augen dennoch geschlossen. Carsten atmete erleichtert auf, nahm die Verpackung der Tabletten in die Hand und zog die Blister aus der Pappschachtel. Seine Knie gaben nach und er sank auf den Boden, um dort an dem Bettrand Halt zu finden… Es fehlte eine einzige Tablette. Erleichtert beobachtete Carsten, wie sich Chip über Bennis Kopf zusammenkugelte und Raven auf die weiße Decke sprang, um sich dort zusammenzurollen und seelenruhig zu schlafen, während sich Wolf neben das Bett legte und beruhigt die Augen schloss. Carsten legte seinen Kopf in den Nacken und atmete mehrmals tief durch. Trotz der Erleichterung konnte er sich nicht wirklich freuen. Immerhin hatte er trotz allem lediglich aufgrund eines Missverständnisses Bennis Gefühle verletzt…   ~*~   Das Café in das sie gingen war eher so etwas wie Café und Restaurant in einem und hatte eine sehr gemütliche Atmosphäre. Jannik steuerte sofort auf den Tresen zu, hinter dem ein Mädchen mit schwarzen, schulterlangen Haaren und in Dienstkleidung hervortrat und ihm entgegen lief. „Hallo Jannik!“, grüßte sie ihn erfreut und Laura wandte verlegen den Blick ab, als sich die beiden zur Begrüßung kurz auf den Mund küssten. Sie war offensichtlich seine Freundin… „Ist der große Tisch im Nebenraum frei?“, erkundigte sich Jannik und seine Freundin nickte. „Geht ruhig schon mal vor, ich muss nur noch schnell zwei Bestellungen abliefern. Oh und nennt mich ruhig Mai.“, stellte sie sich kurz noch vor, ehe sie sich ihren Kunden widmete. Als sie den Namen gehört hatte, erinnerte sich Laura wieder an sie. Mai war in der Mittelstufe in Bennis und Janniks Klasse gewesen und hatte sehr oft bei den Jungs rumgehangen sodass sie sich auch häufiger mal gesehen hatten. Die Gruppe folgte Jannik durch eine Holztür in einen kleineren Raum, wo sie sich um den großen Holztisch setzten. Kurz darauf kam auch seine Freundin. „Hat sich bei Alex und Kevin irgendetwas verändert?“, erkundigte sie sich in einem besorgten Tonfall. Betrübt schüttelte Jannik den Kopf. „Gar nichts.“ „Was ist denn nun mit ihnen?“, fragte Laura verwirrt. Sie konnte weder Alex noch Kevin gut leiden, weil sie fast so fies wie Max waren, aber trotz allem machte sie sich Sorgen um sie. Jannik seufzte. „Du weißt noch, wie Max dich durch den Wald gejagt hatte?“ „Ähm ja, so in etwa… Benni war aufgetaucht und Max hat ihn angeschossen. Dann weiß ich noch, dass er die Pistole auf mich gerichtet und geschossen hat, aber danach kann ich mich an nichts mehr erinnern.“ „Na ja, Benni hatte dich damals vor der Kugel gerettet… Vielleicht hast du’s schon mal bei ihm gesehen, er kann Pistolenkugeln einfach aufgefangen.“, erzählte Jannik. „An das folgende kann ich mich auch nur noch verschwommen erinnern… Auf einmal hat sein rechtes Auge in einem unheimlichen, blutigen rot geleuchtet und wir befanden uns in absoluter Finsternis. Ich bin von seinem Angriff verschont geblieben, doch als die Dunkelheit sich wieder aufgelöst hatte, waren die anderen drei bewusstlos. Max ist sehr bald wieder aufgewacht und wurde dann von der Polizei nach Terra ins FESJ gebracht, doch Alex und Kevin liegen seitdem im Koma…“ „Mein Gott, dieser Max ist ja wirklich gemeingefährlich… Er wollte dich umbringen!!!“, bemerkte Ariane aufgebracht und überfiel Laura mal wieder mit ihrer schmerzhaften Würgeumarmung. Jannik schüttelte den Kopf. „Er war nicht immer so… Er hat sich vom einen auf den anderen Tag total verändert, genauso wie Alex und Kevin und ich kann mir einfach nicht erklären, wieso. Eigentlich waren die drei total freundlich und aufgeschlossen. Immerhin haben sie es sogar so halbwegs geschafft, Benni in die Gemeinschaft zu integrieren. Und das soll was heißen.“ Mai seufzte. „Ja, Benni hatte es am Anfang echt schwer gehabt…“ Traurig starrte Laura auf das Holz des Tisches. Benni lag immer noch schwer verwundet im Krankenhaus und weil sie ihn missverstanden hatte und heulend rausgerannt war, war Carsten so ausgerastet und hatte diese verletzenden Worte gesagt… Es war alles ihre Schuld! „Wie meinst du das, dass Benni es am Anfang echt schwer gehabt hatte?“, erkundigte sich Öznur. Jannik überlegte. „Na ja, am Anfang der Mittelstufe hatte er noch nicht wirklich Anschluss gefunden… Die meisten unserer Klassenkameraden hatten Angst vor ihm, weil einige Gerüchte über ihn im Umlauf waren. Irgendwann hatten Max und seine Freunde die Idee, eine Schülerband zu gründen. Sie sind zwar zwei Jahre älter als wir, aber da Max mein Cousin ist und wir eigentlich immer ein sehr gutes Verhältnis hatten, war ich folglich auch in seine Pläne eingeweiht. Wir hatten noch jemanden gebraucht, der Keyboard spielen konnte und da habe ich ihnen Benni vorgeschlagen.“ Seine Freundin kicherte. „Ach ja stimmt, unser Musiklehrer hatte Benni irgendwie auf dem Kieker, obwohl er in jedem Fach super Noten hatte. Doch anscheinend hat dieses Gerücht auch ihn erreicht, denn er meinte irgendwie, dass ein Mörder sowieso nichts von Musik verstehen könne.“ „Was? Der eiskalte Engel ist tatsächlich ein Mörder?!“, fragte Ariane geschockt. „Keine Ahnung, um ehrlich zu sein.“, meinte Jannik schulterzuckend. „Immerhin ist es nur ein Gerücht. Wir haben alle gedacht, dass er den Klassenraum verlassen würde, als er wortlos aufgestanden war. Doch stattdessen hatte er sich an das Klavier gesetzt und einfach mal so den dritten Satz der Mondscheinsonate gespielt.“ Mai lachte auf. „Ich werde den Blick unseres Musiklehrers nie vergessen können. Er hatte Benni einfach total fassungslos mit offenem Mund angestarrt, während dieser sich mit seinem neutralen Blick wieder auf seinen Platz gesetzt hatte.“ „Kann ich mir vorstellen. Nicht jeder kann Benni wirklich abkaufen, dass er so ein talentierter Musiker ist, nicht wahr Anne?“ Grinsend verpasste Ariane Anne einen Rippenstoß, welche mürrisch die Augen verdrehte. „Hast du deinen Jahresvorrat an Eis eigentlich auch bekommen?“, erkundigte sich Öznur lachend. „Immerhin hatte sich Anne ja, als sie beim ersten Mal eine Wette gegen dich verloren hatte, für ziemlich lange versteckt gehalten.“ Auch der Rest der Mädchen musste lachen. „Hast du das Foto noch?“, fragte Susanne amüsiert nach. Ariane nickte. „Natürlich! Und ja, Anne hat mir tatsächlich einen Jahresgutschein für alle teilnehmenden Eisdielen in Damon geschenkt.“ Öznur klopfte Anne über den Tisch auf die Schulter. „Sehr löblich.“ „Ach so, aber als ihr Benni dann in eurer Band hattet wurde er auch bei seinen Mitschülern beliebter, oder?“, erkundigte sich Janine. „Beliebter ist sogar untertrieben.“, meinte Mai lachend. „Die Mädchen waren verrückt nach ihm. Besonders dann, als Max ihn irgendwann dazu genötigt hatte, auch einige Lieder zu singen.“ Sie seufzte. „Ich muss jetzt aber echt wieder an die Arbeit… Also, was kann ich euch zu Trinken bringen?“ Nacheinander bestellten sie und Mai widmete sich wieder ihrer Arbeit. Nachdem sich die anderen Jannik richtig vorgestellt hatten und Mai ihnen Getränke und eine Weile später auch das Essen gebracht hatte, erzählten sie Jannik, warum Benni im Krankenhaus lag. Doch eigentlich hatte jeder duzende Fragen über ihn, die er am liebsten stellen würde und Laura musste betroffen feststellen, dass sie kaum welche zu beantworten wusste. Es war ein erleichterndes Gefühl, als sich die Tür öffnete und endlich Carsten eintrat, der der Gruppe zur Begrüßung nur schwach zulächelte. Verwundert betrachtete Laura den jungen Mann, der nach Carsten in den Raum kam. Er trug einen braunen Mantel, der kaum nass war und hatte irgendwie magisch funkelnde grüne Augen. Seine längeren blonden Haare und seine Ohren wurden von einer braunen Wollmütze verdeckt. „Florian?!? Was machst denn du hier?“, fragte Öznur überrascht. „Hi Leute.“, grüßte dieser Florian mit einem strahlenden Lachen die Gruppe. Laura überlegte. War das nicht der Dämonenbesitzer aus Ivory? „Ich habe von dem Feuer gehört…“, erklärte er bedrückt. „Also bin ich gekommen, um nach Benni zu sehen. Im Krankenhaus traf ich dann auf Carsten, der meinte, Benni würde gerade schlafen, also habe ich meinen Plan geändert und bin mit ihm hierher, um auch den Rest von euch persönlich kennenzulernen.“ Freundlich und doch distanziert lächelte Florian die anderen an und setzte sich neben Carsten. „Hast du dich mit Benni wieder vertragen können?“, erkundigte sich Laura besorgt. Carsten schüttelte traurig den Kopf. „Er hat schon geschlafen, als ich reinkam…“ „Also schön, ich kann diese Unwissenheit nicht länger ertragen! Ich habe Fragen! Und ich will darauf endlich Antworten bekommen!“, beschwerte sich Ariane verärgert und schaute Carsten erwartungsvoll an. Dieser wich ihrem Blick verlegen aus. „Ach verdammt Carsten, jetzt komm schon! Ariane hat Recht. Wir können Benni nicht helfen, wenn wir nicht wissen, was mit ihm los ist. Und er braucht unbedingt Hilfe, so viel steht fest.“, forderte Öznur ihn auf. Jannik seufzte. „Sie hat Recht. Meine Mutter ist Psychotherapeutin und hatte einmal ein Gespräch mit ihm geführt. Doch selbst ihr wollte er sich nicht anvertrauen, obwohl er genau weiß, dass sie ihre Schweigepflicht sehr ernst nimmt.“ „Bitte Carsten.“, drängte auch Laura. „Ich kann nicht!!!“, schrie er. Eingeschüchtert zuckte Laura zusammen. Zitternd atmete Carsten aus. „Was denkt ihr, warum mir Benni so ziemlich alles erzählt? Er vertraut mir! Er vertraut darauf, dass ich es für mich behalte! Und ich will dieses Vertrauen nicht auch noch zerstören!“ Betroffen wandten alle den Blick ab. Niemand konnte so etwas von Carsten verlangen und erst recht nicht nachdem er sich sowieso schon genug Vorwürfe machte, weil er Benni so angefahren hatte. Aber niemand außer Carsten konnte wissen, warum diese Worte ihn so getroffen hatten und so war auch niemand in der Lage, sowohl ihm als auch seinem besten Freund irgendwie helfen zu können… „Wir wollen doch nur helfen…“, murmelte Laura traurig und schluckte ihre Tränen hinunter. Erst jetzt fiel ihr auf, wie wenig sie doch über Benni wusste. Sie hatte das Gefühl, alles, was sie wusste würde keinen Sinn ergeben, weil ihr das wichtigste Puzzleteil fehlte! Florian seufzte. „Ich kann verstehen, wie ihr euch fühlen müsst… Ihr wollt etwas tun, könnt es aber nicht, weil ihr nicht wisst, warum Benni das alles so mitnimmt… Weil ihr bisher nur seine harte Schale kennt.“ Laura nickte. „Vertraut Benni uns wirklich so wenig?“, fragte Susanne betrübt. „Ich weiß es nicht… Vermutlich. Er vertraut so ziemlich niemandem.“, meinte Florian seufzend. „Verdammt, schon wieder!“ Ariane schlug mit der Faust auf den Tisch. „Er vertraut so ziemlich niemandem… Toll! Warum?!?“ „Weil er nicht verletzt werden will!!!“, schrie Carsten sie an und Ariane zuckte bei seinem wütenden und zugleich gequälten Ton zusammen. „Ihr seht es doch! Mir hat er vertraut, ich weiß von Dingen, die ihm schwer zu schaffen machen! Und kaum bin ich mal so richtig wütend auf ihn, benutze ich dieses Wissen gegen ihn!!! Verdammt…“ Schluchzend rieb sich Carsten über die Augen und wandte sich ab. Tröstend nahm Laura seine Hand, die Carsten zitternd drückte. Eine Zeit lang füllte nur Carstens Schluchzen den Raum, noch nicht einmal Eagle gab einen für ihn typischen Kommentar von sich. Schließlich seufzte Florian. „Na gut, ich erzähle euch seine Lebensgeschichte und werde mir halt auf ewig Bennis Enttäuschung zuziehen…“ Er schaute die Gruppe mit einem nahezu unheimlichen, warnenden Blick an. „Doch dann versprecht ihr mir auch, dieses Wissen nicht gegen ihn zu verwenden.“ Die ganze Gruppe nickte. „Versprochen.“ Florian legte die Fingerspitzen aufeinander und lehnte seinen Kopf gegen seine Hände. „Der Grundstein, auf dem sich Bennis ganze Verzweiflung aufbaut ist die Segnung des Schwarzen Löwen, die er kurz nach seiner Geburt bekommen hatte. Ein weiterer ist, dass er… direkt danach von seinen Eltern ausgesetzt wurde.“ Laura klappte der Mund auf. Sie hatte sich schon immer gefragt, warum sie Bennis Eltern noch nie gesehen hatte, doch jetzt bekam auf einmal alles seinen Sinn! Das war das fehlende Puzzleteil gewesen! „D-das ist ja schrecklich…“, murmelte Janine betroffen. Florian seufzte. „Wollt ihr den Rest wirklich auch noch hören?“ Zögernd nickte Ariane. „Es war eine kalte, stürmische Januarnacht, in der Benni geboren wurde. Wolf, ein Wolfshund und guter Freund von Eufelia, hatte ihn an der Grenze von Obakemori und Rutoké, also dem zerstörten Gebiet gefunden und zu Eufelia nach Hause gebracht. Ich war an jenem Abend gemeinsam mit Nicolaus, Konrad, Rina und Victor und Verona bei ihr zu Gast, als Wolf mit einem kleinen Bündel, das er vorsichtig im Maul trug, ankam. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, als ich erkannte, dass sich in diesem Bündel ein gerade Mal ein-zwei Stunden altes Kind befand. Benni hatte geschlafen und in seiner Hand hielt er einen silbern schimmernden Kreuzanhänger…“ Laura stutzte und zog die Kette aus ihrem Pullover, die Benni ihr mit jenem Kreuzanhänger zum Valentinstag geschenkt hatte. „Diesen?“, fragte sie Florian, welcher nickte. Lauras spürte das Blut in ihren Wangen. Dieses Kreuz hatte Benni als Baby in der Hand gehabt, als er sich nach seiner Geburt in der bitterkalten Wildnis befunden hatte… Florian fuhr fort: „Man könnte sagen, Eufelia hat ihn adoptiert, wobei Victor und Verona, also Konrads Eltern, ihn am Anfang zu sich genommen hatten. Ihr müsst wissen, Benni war besonders für sein Alter schon sehr scharfsinnig gewesen. Er wusste, dass weder Konrads Eltern, noch Konrad und Rina selbst seine Eltern waren. Genauso wie er wusste, dass ihm irgendetwas in seinem Leben fehlte.“ Florian nickte Laura zu. „Besonders ist ihm das aufgefallen, als er dich getroffen hatte.“ Beschämt senkte sie den Blick. „Ich meine damit nicht, dass du ihm sein Unglück direkt vor die Nase gehalten hast.“, versuchte er sie zu beruhigen. „Du musst wissen, dass diese Zeit die vermutlich schönste in seinem Leben war.“ Nun bekamen Lauras Wangen wieder einen tiefen Rotton. „Jedenfalls trainierte ihn Eufelia seit er laufen konnte in der Kampfkunst.“, erzählte Florian weiter. „Konrad, Rina und ich haben öfter mit ihr darüber diskutiert, doch sie war der Ansicht, dass Benni von klein auf wissen sollte, wie er sich und andere verteidigen musste. Deswegen war er auch seit deiner und Lucias Geburt als euer Bodyguard eingestellt, obwohl er gerade mal ein Jahr alt war.“ Öznur seufzte. „Kein Wunder, dass sich Benni so erwachsen verhält… Wenn er schon mit einem Jahr als Bodyguard gearbeitet hat…“ Florian lachte auf. „Na ja, nicht der Bodyguard mit schwarzem Anzug und Sonnenbrille, wie ihr ihn euch vermutlich vorstellt. Er hat einfach viel Zeit mit Laura und Lucia verbracht und aufgepasst, dass ihnen nichts passierte. Aber das heißt nicht, dass er nicht mit ihnen gespielt hat oder so. Wie gesagt, diese Zeit war wohl noch die glücklichste Zeit in seinem Leben gewesen… Bis auf den Zwischenfall an einem Geburtstag von Lauras Vater, bei dem er zum ersten Mal mitansehen musste, wie ein Freund ermordet wurde…“ „Das Kälbchen?“, vergewisserte sich Susanne. Florian nickte. „Wobei ich um ehrlich zu sein das alles auch nur später von Konrad gehört habe. Zu diesem Zeitpunkt war ich… Nun ja, damit beschäftigt, den Direktoren der Coeur-Academy zu helfen, die ehemalige Besitzerin des Roten Fuchses in Sicherheit zu bringen.“ Laura merkte, wie sich Florian für den Bruchteil einer Sekunde unruhig wurde, doch dann fuhr er seufzend fort. „Der große Wendepunkt war dann jener Tag, an dem die Verfolgung der Dämonenbesitzer endlich sein Ende hatte… Der Tag, an dem der ehemalige Besitzer des Schwarzen Löwen umgebracht wurde und dieser ganz Zukiyonaka gezeigt hatte, dass man einen Dämon lieber nicht verärgern sollte.“ „Der Tag an dem Lucia und Luciano starben…“ Zitternd verschränkte Laura die Arme vor der Brust. Der Tag, an dem sie ihre Geschwister verloren hatte… Florian nickte. „Der Tag, an dem der Schwarze Löwe dich als seine Besitzerin auserwählt hat und der Tag der nicht nur dein, sondern auch Bennis Leben veränderte. Ich kenne mich mit den Eigenschaften eines primären Dämonengesegneten nicht wirklich aus, ich weiß nur, dass er lediglich den Dämon kontrollieren kann, welcher ihn gesegnet hat und auch nur dann, wenn sich dieser in dem Körper einer anderen Person befindet. Jedenfalls sind in derselben Sekunde, in der der Dämon in deinem Körper verschwand, Bennis Kräfte freigesetzt worden.“ „Einen Moment, bitte.“, unterbrach Anne ihn und zeigte auf Jannik. „Du solltest besser nicht dabei sein.“ Jannik schüttelte lächelnd den Kopf. „Keine Sorge, ihr könnt mir vertrauen.“ „Aha und wieso?“, fragte Eagle kritisch. „Weil ich auf der Seite der Dämonen stehe.“, antwortete Jannik und krempelte den Ärmel seines Sweatshirts hoch. Auf der Innenseite seines linken Unterarms befanden sich drei dunkle Narben, die genauso aussahen, wie die, die quer über Carstens Nase verliefen. „Du bist ein Dämonengezeichneter?“, bemerkte Laura überrascht. Jannik nickte. „Aber dann müsstest du doch auch eine antike Begabung besitzen, also warum bist du dann nicht auf der Coeur-Academy?“ Misstrauisch musterte Anne ihn. Jannik zuckte mit den Schultern. „Ich bin Kampfkünstler, halte aber nichts davon und nach dem Vorfall mit meinem Vater habe ich meine Kräfte nicht mehr angewandt… Weder die eines Kampfkünstlers noch die eines Gezeichneten. Jedenfalls, bis Benni herausgefunden hat, wer ich bin. Er hat mir einige Kampftechniken beigebracht, aber nur unter dem Vorwand, dass ich mich so verteidigen könnte, wenn es wirklich hart auf hart kommt. Er hat mich noch nicht einmal gebeten, mit ihm auf die Coeur-Academy zu gehen, weil er wusste, wie mich das belasten würde… Erinnerst du dich noch, als Alex mich fast verprügelt hätte und du dich später so über Benni aufgeregt hast, weil er nichts gemacht hatte?“, fragte er Laura. Diese nickte beschämt. Sie erinnerte sich inzwischen nur zu gut an diesen Abend… Jannik lächelte sie aufmunternd an. „Benni hatte nichts getan, weil er genau wusste, dass ich in der Lage war, mich selbst zu verteidigen.“ Laura ließ ihren Kopf auf den Tisch knallen. „Und ich habe ihn deswegen angeschrien…“ „Aber was ist denn mit deinem Vater passiert, dass du auf einmal auf deine Kräfte verzichtet hast? Also… Falls du es erzählen möchtest, natürlich…“, erkundigte sich Janine schüchtern. Jannik lächelte traurig. „Mein Vater wurde von den Verfolgern der Dämonenverbundenen ermordet…“ Sein Lächeln richtete sich auf Laura. „Er war dein Vorgänger.“ „W-was?!“ Laura schaute ihn fassungslos an. Jannik senkte den Blick, ein Ausdruck nicht in Worte zu fassender Trauer huschte über sein Gesicht. „Sie haben mich damals entführt, um ihn zu erpressen…“ „Das tut mir leid…“, murmelte Florian, der, wie Laura inzwischen wusste, selbst schlimme Erfahrungen mit den Jägern der Dämonenverbundenen gemacht hatte. „…Und dieser Tag hat also auch Bennis Leben verändert?“, wechselte Ariane wieder zu dem eigentlichen, jedoch genauso bedrückenden Thema. Florian nickte. „Genau… Das Freisetzen der Kräfte eines Dämonengesegneten musste eine fürchterliche Qual gewesen sein, denn als ich aus meiner Gefangenschaft befreit wurde, was zwei Wochen nach dem ‚Angriff‘ des Schwarzen Löwen war, war Benni erst wieder aufgewacht. Zu der Zeit ging er wie jeder andere Junge auch in den Kindergarten und Eufelia hatte ihm zwar einen Augenverband über das rechte Auge gebunden, aber Benni war leider noch ziemlich naiv… Die Kinder hatten ihn gefragt, was mit seinem Auge los war und hatten ihn schließlich sogar gebeten, den Verband abzunehmen…“ „…und Benni hatte es getan.“, beendete Susanne betroffen Florians Satz. Dieser nickte. „Natürlich haben die Kinder bei dem roten Auge riesige Angst bekommen und schlossen ihn ab sofort immer aus ihren Spielen aus… Richtig schlimm wurde es aber, als die älteren Geschwister einiger dieser Kinder davon hörten. Sie waren gerade in diesem schwierigen Alter… und suchten Streit hinter jeder Ecke. Sie lauerten Benni jeden Tag nach dem Kindergarten auf, wenn er sich auf dem Weg zum Lenz-Anwesen machte, um Laura zu besuchen. Dann beschimpften sie ihn mit Monster, Teufelskind und so weiter. Den Höhepunkt hatte es, als sie seinen Teddybären in Stücke gerissen hatten, den Nicolaus ihn einst zu seinem Geburtstag geschenkt hatte. Und sonderlich besser waren die Eltern dieser Kinder auch nicht…“ „Oh. Mein. Gott. Wie herzlos können Menschen sein?!?“ Öznur schlug mit der Faust auf den Tisch und schaute die Runde entsetzt an. Anne nickte langsam. „Einem kleinen Kind das Kuscheltier zu zerreißen… Einfach würdelos.“ „Und diese Erfahrung hat Benni darauf gebracht, dass seine Eltern ihn vermutlich auch für ein Monster hielten, weil sie ihn ausgesetzt hatten?“, vermutete Janine niedergeschlagen. Florian nickte. „Diese und noch eine weitere, zwei Jahre später.“ Laura schauderte. „Du meinst-“ Erneut nickte Florian. „Genau, als die drei Profikampfkünstler euch angegriffen hatten. Eigentlich kannst du das erzählen… Du warst immerhin sogar dabei.“ „Nein, ich… Also… An diesem Tag waren Benni, Carsten und ich unterwegs zu Eufelia-Sensei gewesen… Benni hatte schon damals diese übernatürlichen Sinne, jedenfalls hatte er plötzlich etwas gehört, was ihm anscheinend bedrohlich vorkam, deshalb hatte er zu uns ‚Weg hier‘ gerufen. Aber ich war nicht so schnell und bin dann über eine Wurzel gestolpert und… Na ja, diese Bedrohung hatte uns sehr bald eingeholt und es handelte sich um drei Profikampfkünstler, auch noch Freunde von Lukas, die anscheinend hinter dem Schwarzen Löwen her waren. Als sie mich angreifen wollten hat sich Benni dazwischen gestellt und ihren Angriff abgewehrt… Aber er hatte noch keine Kampferfahrung und auch wenn er schon sehr stark war, mit den Profis konnte er es noch nicht wirklich aufnehmen…“ Laura senkte beschämt den Kopf. Es war ihre Schuld gewesen, dass Benni verletzt wurde, dass er fast gestorben war!!! „Was ist denn passiert?“, fragte Ariane besorgt. „Sie haben sich über Benni lustig gemacht und ihn eingekreist und zu dritt angegriffen… Er konnte sich überhaupt nicht richtig wehren! Irgendwann hatte einer der drei Benni am Hals gepackt und hochgehoben, dann hatte er ihm die Augenbinde abgerissen und gemeint: ‚Kein Wunder, dass niemand dieses kleine Monster hier abhaben kann.‘ Und dann hatte er ihn gegen einen Baum geschleudert… Es hat total eklig geknackst und Benni blieb reglos liegen. Ich- ich dachte schon, er wär- er wär tot!“ Laura schluchzte. „Aber er ist nicht tot, Laura.“, meinte Ariane beruhigend. „Was ist dann passiert?“, drängte Öznur. „Aus dem Nichts tauchte Wolf auf und kurz darauf kam Eufelia-Sensei und die Profikampfkünstler haben die Flucht ergriffen…“, beendete Laura ihre Erzählung bedrückt. „Und Benni?“, erkundigte sich Susanne besorgt. „Er hatte sich beim Aufprall das Genick angebrochen…“, erzählte Carsten mit gedrückter Stimme. „…aber seine Dämonenkräfte haben ihn vor dem Tod und bleibenden Schäden bewahrt… Jedenfalls den äußerlichen…“ Eine unangenehm lange Zeit herrschte absolutes Schweigen, bis Florian bemüht optimistisch meinte: „Immerhin haben diese drei ihre gerechte Strafe bekommen.“ „Und die wäre?“, fragte Anne kritisch. „Benni hat sich seit diesem Vorfall so mehr oder weniger zu dem Benni entwickelt, den ihr heute kennt. Er hat sich sehr ehrgeizig seinem Training gewidmet, in der Hoffnung, man würde ihn dann aufgrund seiner Stärke endlich respektieren und anerkennen können. Ein halbes Jahr später in den Weihnachtsferien, vor seiner Einschulung, traf er die drei Kampfkünstler wieder. Natürlich reagierten sie genauso herablassend und erniedrigend, wie bei ihrer ersten Begegnung. Doch als sie Benni tatsächlich angriffen, war dieser in der Lage, sich zu wehren.“ Eagle nickte. „Und wie. Ich habe gehört, als die Polizei ankam, stand er blutverschmiert in der Mitte von drei Leichen.“ „Igitt.“, kommentierte Ariane. Lissi zuckte erschreckend gönnend mit den Schultern. „Und wenn schon, Nane-Sahne. Diese widerlichen Menschen haben dem armen, süßen, kleinen Bennlèy wehgetan, sie haben nichts Anderes verdient.“ Laura schnaubte. „Aber O-Too-Sama musste natürlich kurz darauf mit seiner Macht über Benni trumpfen.“ „Warum?“, fragte Öznur. „Du kannst eigentlich dankbar dafür sein, dass er ihn gedeckt hat.“, meinte Eagle nüchtern. „Wieso denn?“, fragte nun auch Ariane. „Na ja, da Benni von Eufelia adoptiert worden war, hatte er weder eine Geburtsurkunde noch sonstige ‚Beweise‘ dafür, dass er tatsächlich lebte. Er war sozusagen ein Niemand und hätte in den Augen des Gesetzes vermutlich die Todesstrafe bekommen, ob Kind oder nicht. Leon Lenz hatte Benni allerdings für die nächsten Jahre aus Yami verbannt, sodass diese Tragödie erstmal in Vergessenheit gerät. Dank Eufelia, Konrad und Rina und Teils auch noch von Konrads Eltern wurde Benni allerdings in dieser Zeit so stark gefördert, dass er eigentlich gar nicht mehr auf die Schule hätte gehen müssen. So hatte er in der Mittelstufe dann keine Probleme mit dem Schulstoff aufzuschließen.“, erklärte Florian. „Wobei er es sozial erst dank Jannik und den anderen geschafft, halbwegs wieder Fuß zu fassen, wenn ich das vorhin richtig verstanden habe.“, stellte Öznur fest. Florian seufzte. „Glaub mir, sozial war ihm seitdem herzlichst egal geworden. Ihm haben nur noch die Meinungen seiner Freunde gezählt und wie ihr seht, schwächt sogar das nach und nach ab.“ „Und ich habe ihn immer für herzlos gehalten…“, bemerkte Ariane betroffen. Susanne seufzte. „Kein Wunder, dass er sich so von allen abzugrenzen versucht…“ „Jetzt nicht mehr!“, meinte Öznur optimistisch. „Wir werden ihm zeigen, was Freundschaft alles bewirken kann!!!“ „Benni weiß schon, was Freundschaft alles kann…“, murmelte Carsten betrübt, „Sie kann ihn noch mehr verletzen.“ Traurig drückte Laura Carstens Hand und beobachtete besorgt, wie er wieder seinen Blick senkte und die Augen zusammenkniff, als würde er hoffen, aus einem schlimmen Albtraum aufzuwachen, wenn er sie wieder öffnete. Kapitel 33: Abschied -------------------- Abschied Es war ein schöner sonniger Tag und Benni konnte den Kindergarten sogar früher verlassen und dadurch den Gemeinheiten der großen Schüler entkommen, weil seine Oma heute Geburtstag hatte. Na ja, eigentlich war Eufelia-Sensei nicht wirklich seine Oma, genauso wenig wie Victor und Verona seine Eltern oder Konrad und Rina seine Geschwister waren. Aber diese Begriffe entsprachen am ehesten dem Verhältnis, welches Benni zu ihnen pflegte. Sie waren seine Familie. Sie waren die Familie, die er eigentlich nicht hatte. Sensei hatte ihm erzählt, dass Wolf ihn in der Nacht seiner Geburt gefunden und zu ihr gebracht hatte. Betrübt blieb Benni stehen. Er wusste nicht, warum seine Mama und sein Papa ihn nicht mochten, ihn gar so sehr hassten, dass sie ihn im kalten Schnee alleine gelassen hatten… Gedankenversunken spielte er an der Schleife seiner Augenbinde herum, während er sich weiter auf den Weg zum Anwesen der Familie Lenz machte, wo Laura und Carsten auf ihn warteten, damit sie gemeinsam zu Eufelia-Sensei gehen konnten. Es liegt sicher an meinem roten Auge… Sie wussten, dass ich ein Gesegneter bin und denken wie alle anderen, ich sei ein Monster…, dachte Benni traurig. Nur Carsten, Laura und seine ‚Familie‘ dachten nicht so. Sonst so ziemlich jeder, den er kannte. Warum eigentlich? Lag es wirklich nur an seinem roten Auge? An dieser unbeschreiblichen Macht, die damit einherging und die niemand so wirklich verstehen konnte? Nur deshalb? Inzwischen hatte er das Lenz-Anwesen erreicht, dass sich abseits von der Stadt im Wald befand. Er öffnete das schwarze, verschnörkelte Tor und betrat das gewaltige Grundstück, das Lauras Eltern gehörte. Was für eine Platzverschwendung… Während er dem Weg zu der riesigen Villa folgte, öffnete sich deren Eingangstür und Laura und Carsten kamen herausgestürmt. „Benni!“, rief Laura fröhlich und blieb schwer atmend vor ihm stehen, die Hände auf die Knie gestützt, während ihr schulterlanges honigblondes Haar ihr ins Gesicht fiel. „Laura, du brauchst doch nicht gleich loszurennen! Du bist immer noch viel zu erschöpft!“, tadelte Carsten sie besorgt, als auch er sie erreicht hatte. Über seine Nase waren größere Pflaster geklebt, unter denen sich die frischen Wunden befanden, die der Schwarze Löwe ihm vor etwa einer Woche zugefügt hatte. Eufelia-Sensei meinte, er sei nun ein ‚Dämonengezeichneter‘. „Ach was…“, meinte Laura zwischen zwei keuchenden Atemzügen. „Carsten hat Recht, du solltest dich noch schonen.“, widersprach auch Benni ihr. Vor einer Woche war er gerade beim Training bei Eufelia-Sensei gewesen, als Laura auf dem Weg zu ihm die Kräfte der Finsternis-Energie ausprobieren wollte. Nur leider hatte sie sofort die Beherrschung über ihre Kräfte verloren und aus der Finsternis hatte sich der Schwarze Löwe materialisiert. Dieser hatte Carsten mit seinen Klauen angegriffen, bevor Benni angekommen war und mit seinen Dämonenkräften die Energie wieder in Laura bannen konnte. Laura war erst gestern wieder aufgewacht und folglich noch ziemlich geschwächt. Allerdings machte ihr die Gewissheit noch mehr zu schaffen, dass sie unbeabsichtigt Carsten verletzt hatte. Hinter Laura und Carsten trat ein etwa zwanzigjähriges Dienstmädchen mit dunklen Haaren. Sie zupfte etwas an Lauras Kleidung herum und sagte schließlich: „Kommt aber vor fünf Uhr wieder nach Hause, hört ihr?“ Laura nickte. „Ja, ja, Rebecca.“ Rebecca warf Benni einen eindringlichen Blick zu. „Und du, pass gut auf sie auf.“ „もちろん.“ Natürlich. Sie gingen zurück zum Eingangstor. „Tschüss Rebecca!“, rief Laura ihrem Kindermädchen noch zu, ehe sie gemeinsam das Lenz-Anwesen wieder verließen und zu ihrem eigentlichen Ziel gingen. Während sie den Trampelpfad nach Obakemori entlanggingen, schaute sich Benni wachsam um. Er hatte das ungute Gefühl, jemand würde sie verfolgen… Aus weiter Entfernung hörte er plötzlich eine Stimme: „Jetzt!“ Instinktiv erkannte Benni die Bedrohung. „Weg hier!“, schrie er zu Laura und Carsten und rannte weiter zu dem Haus seiner Meisterin, musste sein Tempo allerdings drosseln, als er bemerkte, dass die beiden ihm nicht folgen konnten. Gerade als sich Benni umdrehte, stolperte Laura über eine Wurzel und fiel in das alte Laub. Er wollte zu ihr zurückgehen und ihr aufhelfen, als die bedrohliche Stimme verriet, dass sie sie bereits erreicht hatte: „Renn doch nicht so schnell. Du tust dir nur weh, Prinzessin.“ Hinter den Bäumen kamen drei Männer in schwarzen Kampfanzügen hervor und umkreisten sie so, dass ihnen die Fluchtwege abgeschnitten waren. Benni ging zu Laura und half ihr auf die Beine, während er die Männer beobachtete, die ihren Kreis um sie immer weiter verkleinerten. Sowohl Laura als auch Carsten klammerten sich verängstigt an Bennis T-Shirt, während die Männer immer näherkamen. Ihm kamen ihre Gesichter bekannt vor, er konnte ihnen aber keine Namen zuordnen. „W-was wollt ihr?“, fragte Laura kleinlaut. „Dich, kleine Prinzessin.“, antwortete einer von ihnen direkt, zog einen Dolch und stürzte sich mit rasender Kampfkünstlergeschwindigkeit auf sie. Gerade noch rechtzeitig wehrte Benni seinen Angriff ab, während der Dolch einen tiefen Schnitt in seinem Unterarm hinterließ. Anstatt zurückzuweichen, griff der Kampfkünstler erneut an, dieses Mal zusammen mit seinen Komplizen. Zwei Angriffe konnte Benni blocken, doch der dritte verpasste ihm einen schmerzhaften Stich durch die rechte Schulter. Taumelnd wich er einige Schritte zurück, als ihn ein Schnitt ins Schienbein in die Knie zwang. Er spürte, wie warmes Blut über seinen Körper floss. Der erste Angreifer musterte Benni interessiert. „Du bist doch der kleine Benedict, von dem Lukas uns bereits erzählt hat.“ Er packte Benni an der Kehle und hob ihn zu sich hoch. Zitternd versuchte er sich zu befreien, doch vergebens, der Griff des Mannes war zu fest. „Stimmt es, was die Leute sagen?“, fragte er neugierig und schnitt mit einem Streich die Schnüre von Bennis Augenbinde durch, anstatt sie einfach aufzuknoten. „Stimmt es, dass du ein Monster bist?“
„Nein!“, schrie Benni und funkelte den Mann wütend an. „Ich bin kein Monster!“ Dieser lachte. „Da seh‘ ich aber was ganz anderes! Das Gerücht stimmt also wirklich.“ „Zeig mal.“, forderte einer der anderen, packte Benni an den Haaren und drehte dadurch seinen Kopf so, dass er ihm ins Gesicht sehen konnte. Lachend ließ er Bennis Haare wieder los. „Mein Gott, dieses rote Auge sieht echt eklig aus!“ Verletzt wich Benni den Blicken der drei Männer aus. Derjenige, der ihn immer noch an der Kehle gepackt hatte, meinte angewidert: „Kein Wunder, dass niemand dieses kleine Monster hier abhaben kann!“ Ein gewaltiger Ruck ging durch Benni, als der Mann ihn mit rasender Geschwindigkeit durch die Luft schleuderte. Er nahm nur noch den brennenden Schmerz beim Aufprall war. Erschrocken fuhr Benni hoch. Schwer atmend erkannte er die weißen Wände des Krankenhauses wieder, in dem er sich befand. Betrübt strich er sich die Haare aus dem Gesicht, die sonst immer sein rechtes Auge vor den abwertenden Blicken der Gesellschaft bewahrten. Es war nur ein Traum gewesen. Nun ja… Eigentlich nicht. Ein strahlendes Quietschen neben ihm erregte Bennis Aufmerksamkeit. Mit großen, traurig glitzernden Knopfaugen schaute Chip zu ihm hoch. „Was machst du denn hier?“, fragte Benni überrascht. In Sekundenschnelle stützte sich jemand mit seinen Vorderpfoten auf dem Bett ab und schleckte Benni mit seiner großen Zunge über die Wange. ‚Der junge Indigonermagier hat uns zu dir gebracht.‘, erklärte Wolf hechelnd und leckte erneut über sein Gesicht. Benni spürte, wie sich noch jemand am Bettende streckte und dann zu ihm trottete. Raven bohrte ihre Krallen in die weiße Decke, um Halt zu bekommen und stupste mit ihrer kleinen Nase gegen seine. ‚Wir haben uns Sorgen gemacht!‘, maunzte sie. Schwermütig kraulte Benni nacheinander jedem den Kopf. Erst jetzt realisierte er wieder, warum er sich im Krankenhaus befand. Was alles passiert war… Die Wunden schmerzten nicht mehr so stark, wie beim letzten Mal, als er aufgewacht war, doch seltsamer Weise verheilten sie ungewohnt langsam. Allerdings waren seine Verletzungen im Moment gänzlich unbedeutend. Stattdessen kehrte nun das Gefühl der Einsamkeit zurück. Benni senkte den Kopf. Eufelia war tot und all die anderen waren nun ziemlich erbost, weil er Laura mal wieder unbeabsichtigt zum Weinen gebracht hatte. Nun hielten auch sie ihn für ein Monster, wie der ganze Rest der Menschheit… Wolf ließ die Ohren hängen und winselte. ‚Ich weiß, es ist schwer…‘ Chip kraxelte auf seinen Kopf und vergrub sich in Bennis Haaren. ‚Aber irgendwie werden wir das schon überstehen.‘ Raven nieste. ‚Tu nicht so, als hättest du Ahnung.‘ ‚Natürlich hab ich Ahnung!‘, fauchte Chip. Wolf knurrte. ‚Streitet nicht! Ihr seht doch, dass es Benni nicht gut geht. Macht es nicht noch schlimmer!‘ Raven schmiegte sich an Benni. ‚Entschuldige, das wollte ich nicht.‘ Gebrochen starrte er ins Leere, während sich Wolf, Raven und Chip an ihn kuschelten. Jedenfalls sie würden ihn nie als Monster betrachten… ‚Ich bin mir sicher, er hat es nicht so gemeint.‘, sprach Wolf ihm Trost zu, ohne von Benni überhaupt erfahren zu haben, dass Carsten etwas gesagt hatte, was ihn nun die ganze Zeit zermürbte. Raven strich mit ihrem Kopf über seine Wange. ‚Er hat es sicher nur im Affekt gesagt.‘ Benni seufzte. „Ich weiß…“ Carsten würde eigentlich nie etwas sagen, dass jemand anderen kränken könnte. Immerhin war er der gutmütigste Trottel, den Benni je kennengelernt hatte. Auf positive Weise. Doch vielleicht waren seine Worte gerade aus diesem Grund so belastend… Benni hörte, wie hallende Schritte den Gang entlanggingen, doch er beachtete sie nicht weiter, da er erwartete, sie würden an seinem Zimmer vorbeigehen. Dem war allerdings nicht so. Sie hielten direkt vor der Zimmertür und einige Sekunden verstrichen, bis die Türklinke langsam runtergedrückt wurde und Carsten eintrat. „Oh… Du… bist wach.“, murmelte er befangen, als er Benni erblickte. „Anscheinend.“, erwiderte Benni auf Indigonisch. Unsicher ging Carsten zu ihm rüber und setzte sich auf die Bettkannte, wobei er Bennis Blick die ganze Zeit auswich. Raven legte sich gemütlich auf Carstens Schoß, welcher sie vorsichtig streichelte, bis sie ihm leicht in den Finger biss. Eine offensichtliche Aufforderung, die auch Carsten verstehen konnte. „Benni, ich… Also, ähm ich… Ich wollte…“, stotterte er ruhelos. Hektisch erhob er sich wieder und Raven purzelte erschrocken miauend runter. „Ich wollte deine Verbände wechseln!“ Carstens Nervosität war zwar verwunderlich, doch keiner sagte auch nur ein Wort, als er sich um Bennis Verletzungen kümmerte. Jedenfalls bis er plötzlich „Es tut mir leid…“ murmelte. Benni schaute ihn an, doch Carsten hatte seinen Blick gesenkt und konzentrierte sich unnötig stark auf die Bandagen. Schließlich sah er zu Benni hoch. In seinen Augen konnte man das wässrige Glänzen von Tränen erkennen. „Ich wollte das wirklich nicht! Es tut mir so leid, Benni! Du- dich trifft überhaupt keine Schuld! Du warst kein Monster, du bist kein Monster und du wirst nie ein Monster sein!!!“ Seufzend wandte sich Benni ab. „Glaub mir doch, ich wollte das nicht…“, schluchzte Carsten. Benni schloss die Augen. Was sollte er darauf erwidern? Natürlich wollte Carsten das nicht, das war Benni bewusst. Dennoch war diese tränenreiche Entschuldigung nicht in der Lage, ihm die starke Betroffenheit durch Carstens Worte zu nehmen. Manchmal kann ich wirklich verstehen, warum dich die Menschen für ein Monster halten!, grellten sie in Bennis Kopf. „Benni, es tut mir leid!“, schrie Carsten. Benni seufzte. „Lass es einfach…“ „Was?“ Er konnte die Verwunderung und Ungläubigkeit in Carstens Stimme hören. „Aber das heißt nicht, dass du mir verzeihst…“, stellte dieser traurig fest. „Ich würde gerne…“, sprach Benni seine Gedanken aus und schaute seinem besten Freund in die traurig funkelnden Augen. Er schüttelte den Kopf. „…Aber ich kann nicht… Iartă.“ Deprimiert drehte Carsten ihm den Rücken zu und lehnte sich gegen das Bettgestell. „Du hast ja Recht… Das was ich gesagt, … was ich getan habe, war unverzeihlich…“ Erneut begann er zu schluchzen und vergrub sein Gesicht in seinen Armen, die er auf die angezogenen Beine gelegt hatte. Benni wollte etwas erwidern, irgendetwas Tröstendes, doch bekanntlich war er darin ein Versager. Erneute Schritte, die den Gang entlangliefen, richteten seine Aufmerksamkeit auf die Tür, die in der Tat wenige Sekunden später geöffnet wurde. „Carsten? Bist du fertig?“, fragte Saya, die ohne zu zögern eintrat. Erschrocken sprang Carsten auf die Beine und wischte sich die Tränen aus den Augen. „J-ja- Ja bin ich.“ Sayas Blick fiel auf Benni. „Schön zu sehen, dass du wach bist. Geht es dir inzwischen besser?“, erkundigte sie sich fürsorglich. Bennis Antwort war lediglich ein Nicken. Körperlich genas er ja wirklich, wenn auch ungewöhnlich langsam. Zu seinem seelischen Befinden äußerte er sich lieber nicht… Saya schaute wieder Carsten an. „Wollen wir? Wir kommen sonst noch zu spät.“ Dieser nickte stumm. „Wohin?“, fragte Benni verwundert. „Du hast ihm nichts gesagt?“ Sayas Frage war mehr eine Feststellung, dennoch schüttelte Carsten zögernd den Kopf. „Heute ist Eufelias Beerdigung.“, erklärte sie. Benni spürte, wie sich sein Herz zusammenzog und absonderlich schwer wurde. In der Regel zeigte sich bei ihm eine Aversion bei allem, was mit Religion zu tun hatte, doch dieses Mal war es irgendwie anders… „Ich- ich wollte dich damit nicht auch noch belasten und außerdem dachte ich, dass dir christliche Traditionen sowieso nichts bedeuten…“, erklärte Carsten aufgebracht, als habe er die Angst, Benni würde ihm nun noch weniger Vertrauen entgegenbringen. „Im Prinzip schon, allerdings…möchte ich dennoch mit.“, meinte er und kraulte Wolf hinter den Ohren, welcher ihm knurrend zustimmte. Saya lächelte und brachte ein kleines Bündel zu Benni ans Krankenbett, in dem sich offensichtlich Kleidung befand. „Wir warten dann im Auto.“ Gemeinsam mit Carsten, der Benni noch einen unsicheren Blick zuwarf, verließ sie sein Zimmer. Schleppend legte Benni die strahlend weiße Krankenhaus-Kleidung ab und zog sich seine bevorzugten schwarzen Sachen über, die Saya ihm gebracht hatte. Wobei sie anstelle des schwarzen T-Shirts entsprechend des elegischen Anlasses ein schwarzes Hemd gewählt hatte. Benni ließ das Zimmer unangerührt zurück. Er hatte auch nicht mehr vor wiederzukommen, seine Brandwunden würden so verheilen müssen. Raven, Wolf und Chip, auf Wolfs Kopf sitzend, folgten ihm, blieben allerdings bei den Menschen im Krankenhaus unentdeckt. Schweigend nahm Benni auf der Rückbank von Sayas dunkelrotem Mercedes Platz, die groß genug war, dass sich Wolf gemütlich ebenfalls darauflegen konnte. Die gesamte Fahrt über herrschte bedrückendes Schweigen, während Saya ihr Gefährt durch die Straßen von Yami zu der prunkvollen Kirche lenkte. Sie parkte den Wagen und gemeinsam durchschritten sie das gewaltige Holztor der Kathedrale. In ihrem Inneren war es ungemütlich still. Einzig die tiefe, ruhige Stimme des Priesters war zu hören, die bestätigte, dass der Gottesdienst bereits begonnen hatte. Nachdem sich Saya und Carsten beim Eintreten mit Weihwasser bekreuzigt hatten, ging Saya zu ihrem Mann und Carsten setzte sich neben Laura. Die beiden wechselten kurz einige Worte, die Benni noch nicht einmal hätte hören müssen, um ihren Inhalt zu verstehen, da Laura kurz darauf einen flüchtigen Blick über die Schulter warf. Nervös wandte sie sich wieder von ihm ab, als sie bemerkte, dass Benni sie beobachtet hatte. Dieser setzte sich neben Konrad, welcher zusammen mit Rina weiter hinten Platz genommen hatte. Dafür, dass Eufelia-Sensei ein prinzipiell abgeschottetes Leben als Buddhistin geführt hatte, war die Kirche überraschend voll. Abgesehen davon war es eigenartig genug, dass man trotz ihrer Religion einen Beerdigungsgottesdienst für sie organisiert hatte. Wer war überhaupt auf diese Idee gekommen? Benni spürte Konrads sorgenvollen Blick auf sich ruhen. „Wie geht es dir?“, erkundigte er sich schließlich flüsternd auf Rumänisch. Benni betrachtete weiterhin die massive Holzbank vor sich und schwieg. Abermals diese Frage. Bis auf einen Seufzer erwiderte auch Konrad nichts. Die Predigt des Priesters nur halb beachtend schaute sich Benni in der großen und überflüssig hohen Kirche um, die opulent verziert war. Auf der Decke befanden sich Gemälde von einst begnadeten Künstlern, die nichts Besseres zu tun hatten, als Engel und Heilige aus der Bibel zu malen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ebenfalls wie die Erschaffer der Statuen aus weißem Marmor, die sich farblich an den weißen Marmor des Kirchbodens und der Kirchwände anpassten. Der Gottesdienst zog sich trotz seiner Verspätung unnötig in die Länge. Normalerweise gehörte Geduld zu Bennis Stärken, doch aus irgendeinem Grund fiel es ihm nun schwer, ruhig auf der harten Holzbank zu sitzen und dem Priester zuzuhören, der von Gott und der Welt erzählte. Er war viel zu lange in einem Raum eingesperrt gewesen. Benni sehnte sich nach Freiheit und Natur. Er wollte einfach nur raus. Wohin war ihm egal. Hauptsache raus. Endlich erfüllte man ihm diesen einen Wunsch. Nach einem ‚Amen‘ erhob sich die Gemeinde und ging zu dem Haupttor, um auf den Friedhof hinter der Kathedrale zu gelangen. Ein leichter Nieselregen prasselte außerhalb der Kirche auf sie herab, doch Benni verzichtete auf einen Schirm. Die kleinen Tropfen fühlten sich auf seiner Haut angenehm an und warme Frühlingsluft wehte um ihn, als wolle die Natur selbst ihm Trost spenden. Einen kurzen Moment erlaubte er es sich, die Augen zu schließen und die klare Luft einzuatmen, in die sich der Geruch von nassem Gras und Erde mischte. Sie folgten dem Priester zu einem Gedenkstein, welcher sich in der Nähe des Denkmals für die Opfer des magischen Krieges befand. Eine gewöhnliche Bestattung hätte auch keinen Sinn ergeben, immerhin war Eufelia-Senseis Körper während des Feuers gänzlich zur Asche verbrannt… Ebenso wie vermutlich das gesamte Haus, in dem Benni seit er denken kann gelebt hatte… Die warme Frühlingsluft fühlte sich mit einem Schlag unangenehm kühl an. Er war nun ganz allein… Der Priester fuhr derweil ungestört mit seinem Gebet fort: „Allmächtiger Gott, wir bitten dich, stehe ihren Angehörigen in dieser schweren Zeit zur Seite und lass sie die Kraft aus deiner unbeschreiblichen Macht schöpfen, die ihnen hilft, diesen Schicksalsschlag zu verkraften.“ Allmächtiger Gott… Unbeschreibliche Macht… Was für ein übertriebener Blödsinn. Benni behielt seine Gedanken für sich, während der Priester weiter meinte: „Nun lasst uns Abschied nehmen, von Eufelia Ryū no chi, eine Frau, die in ihrer langen Zeit auf dieser Welt viel bewirkt und verändert hatte, in ihrem Kampf für das Gute, die Menschlichkeit und Aufrichtigkeit.“ Benni verkniff sich ein Verdrehen der Augen bei den Hyperbeln dieses Priesters, welcher den Weg zum Gedenkstein frei gab, als solle nun irgendjemand etwas machen. Doch nichts geschah. Konrad stieß ihn von hinten leicht in den Rücken. „Du bist derjenige, der ihr am nächsten stand, also musst du dich auch als erster verabschieden.“, flüsterte er ihm nahezu lautlos auf Rumänisch zu. Nun verdrehte Benni doch die Augen. Na toll… Während alle Augen auf ihn gerichtet waren, löste er sich aus der Menschentraube, welche nicht nur aus Menschen bestand, und ging nach vorne, zu dem Gedenkstein seiner verstorbenen Meisterin. Nein, sie war mehr als das gewesen, bei ihr war bis vor kurzem noch sein Zuhause. Benni hatte nicht die leiseste Ahnung, was er jetzt machen sollte. Das war die erste Beerdigung, die er je besucht hatte. Noch nicht einmal den Bestattungen von Lucia und Luciano oder Konrads Eltern hatte er beigewohnt, da christliche Traditionen für ihn keine Bedeutung hatten, wie Carsten bereits erkannt hatte. Schweigend betrachtete Benni das Denkmal seiner Meisterin. Es war ein schlichter Stein aus schwarzem Marmor, auf dem in silberner Schrift Eufelia-Senseis Name und Geburts- und Todesdatum standen, zusammen mit weiteren Lobpreisungen ihrer Taten und Fähigkeiten. Doch das Wichtigste hatten sie vergessen, jedenfalls das, was für Benni die höchste Priorität besaß: Sie zog einen Ausgestoßenen auf, bot ihm Zuflucht und ein Zuhause. Sie war die Mutter, die er sonst nie würde haben können. Langsam sank Benni auf die Knie nieder, Wolf und Raven setzten sich neben ihn in das nasse Gras, während der leichte Regen weiterhin auf sie alle nieselte. Vorsichtig berührte er mit den Fingerspitzen den kalten, schwarzen Marmor und strich anschließend über die kurzen Grashalme. Es war ihm gleich, ob sich unter den Besuchern dieser Trauerfeier nun Menschen befanden, die nichts von seiner Fähigkeit wussten, Energie einzusetzen. Er würde es so oder so tun. Eufelia-Sensei hatte ihn gelehrt, dass er als primärer Dämonengesegneter nicht nur auf die Energie des Schwarzen Löwen und die Naturelemente beschränkt sei. Mit der nötigen Kenntnis wäre er auch in der Lage, die abgewandelten Naturelemente zu beherrschen. Benni schloss die Augen. Er spürte weiterhin das weiche Gras, den leichten Regen, den sachten Wind und die Wärme, die sie alle mit sich trugen. Mit Hilfe aller vier Naturelemente schuf Benni in seinen Gedanken das Bild einer Pflanze, die es normalerweise nicht auf dieser Welt gab. Die es im Normalfall auch gar nicht geben würde. Doch was war hier schon normal? Er wohl am wenigsten, also würde er auch eine gänzlich unnormale Pflanze erschaffen können. Letztlich öffnete Benni seine Augen wieder. Er beobachtete, wie mehrere grüne Drachenköpfe aus der Erde wuchsen, gefolgt von einem länglichen Körper, welcher auf einer Seite mit einer Reihe Stacheln ausgestattet war. Noch während die Drachen-Pflanzen weiter wuchsen und sich an den Marmorgedenkstein lehnten, entwickelten sich ihre Blätter, grüne Flügel. Bevor die Drachen das Ende des Marmorsteines erreichten, hörte ihr Wachstum auf und sie öffneten ihr grünes Maul, aus dem gelb-orange-rote Flammen in Form von Rosenblättern sprossen. Auch wenn es sinnfrei und sicherlich auch verzichtbar war, hörte Benni sich selbst: „Danke für alles.“ murmeln, ehe er sich wieder aufrichtete. Konrad und Rina waren inzwischen offensichtlich zu ihm getreten, denn er spürte, wie der Vampir seine bleiche Hand auf Bennis Schulter legte, während sich Rina in das Gras kniete und einen Straus Chrysanthemen vor den Gedenkstein legte. Zum Abschluss bekreuzigte sie sich und sagte leise: „Odihnească în pace.“ Ruhe in Frieden. Konrad legte den freien Arm um ihre Taille, sodass sie gemeinsam zurück zu den übrigen gingen, von denen nun zwei Menschen hervortraten, die Benni nicht bekannt waren. Oder vielleicht doch? Für den Bruchteil eines Herzschlags trafen sich ihre Blicke. Der Mann hatte längeres, weinrotes Haar und als er Benni mitfühlend anlächelte, spiegelte sich seine Trauer in seinen nachtschwarzen Augen wider. Die Frau, die sich bei ihm untergehakt hatte, hatte wehende nahezu weiße Locken und obwohl sie ihn durch eisblaue Augen musterte, war ihr Blick, ihre gesamte Ausstrahlung warm und herzlich. „Oh. Mein. Gott. Das sind Jacob und Samira Yoru!“, hörte Benni Lissi von weiter hinten quieken. Er rief sich das Bild des Dämonenforschers in Erinnerung, welches er im Fernsehen gesehen hatte, als sie bei Öznur Zuhause waren. Vermutlich würde einer der anderen ihn später wegen des Unzerstörbaren ansprechen und um Rat fragen. Während sich die übrigen Besucher der Trauermesse von Eufelia-Sensei verabschiedeten, setzte sich Benni abseits der anderen auf eine kniehohe Steinmauer. Die Brandwunden waren immer noch unangenehm deutlich spürbar und selbst diese paar Minuten Stehen hatten ihn angestrengt. Er fragte sich nun zum gefühlten millionsten mal, was nun aus ihm werden solle, wo er jetzt noch hin könne, als Leon Lenz mit seiner Frau Yuki, Laura und Lukas zu ihm trat. Laura wirkte noch nervöser als bei ihrem Blickaustausch in der Kirche, was wohl an Lukas‘ Anwesenheit lag, der oberflächlich tröstend einen Arm um die Schultern seiner Cousine gelegt hatte. Er trug ein größeres Pflaster über jenem Auge, welches Benni bei ihrer letzten Begegnung in Spirit schwer verletzt hatte. Leon Lenz räusperte sich und hielt Benni die rechte Hand hin. „Ich möchte Dir im Namen der gesamten Familie unser Beileid aussprechen. Eufelia war eine angesehene und respektable Dame, ihr Verlust schmerz jeden zutiefst.“ „Vielen Dank.“, erwiderte Benni trocken, ohne ihm die Hand zu reichen. Lauras Vater interpretierte diese Geste wohl als Trotz und verzog ungehalten das Gesicht, während Lukas in sich hineinkicherte und Laura flehend mit ihren blassroten Lippen: „Benni, bitte!“ formte. Als Explikation hob Benni seine eigene rechte Hand, die Carsten ebenfalls aufgrund seiner Verbrennungen bandagiert hatte. „Sie verstehen sicher, wenn ich sage, dass ich Körperkontakt bevorzugt meiden möchte.“ Leon Lenz‘ verzerrtes Gesicht wandelte sich in ein leichtes Lächeln, in welchem Benni auch Schadenfreude zu sehen meinte. „Das ist nur zu gut verständlich. Ich wünsche Dir eine gute Genesung.“ „Und falls Du nach einer temporären Bleibe suchst, ich bin mir sicher, mein Onkel würde die Türen nicht vor Dir verschließen lassen.“, ergänzte Lukas. Leon deutete die Gehässigkeit seines Neffen wohl als Gutmütigkeit. „Selbstverständlich. Immerhin würde ich ein Kind nie auf der Straße sitzen lassen.“ Benni musste sich berichtigen, beide waren polemisch. „Das wird auch nicht nötig sein, Herr Lenz. Immerhin sind nach Eufelia Rina und ich die Erziehungsberechtigten.“, griff Konrad ein, der mit Rina und den restlichen Mitgliedern des Vampir-Senats zu ihnen stieß.
„Das ist schön zu hören. Nun, dann ist ja alles geklärt. Ich verabschiede mich hiermit, meine Herren.“, sagte Leon Lenz freundlich und kehrte ihnen gemeinsam mit seiner Frau und Lukas den Rücken zu. „G-geht es dir gut?“, erkundigte sich Laura zögernd, was die Sorge in ihrer Stimme allerdings nicht minderte. „Oh und… danke für den Pulli, du… du bekommst ihn bald zurück, keine Sorge.“ Statt irgendetwas zu erwidern, musterte Benni Laura lediglich. Sie war blasser und schmaler als sonst und wirkte noch zerbrechlicher als eine Porzellanpuppe. Die dunklen Schatten unter ihren Augen ließen erahnen, dass sie die letzten Tage mindestens genauso schlecht geschlafen hatte wie Benni in den vergangenen Wochen. Raven sprang neben Benni auf die Mauer und gab während sie sich streckte ein gedehntes Miau von sich. ‚Eieiei, was seh ich da, ein verliebtes Ehepaar. ‘ „Laura, komm endlich! Wir möchten noch zu den Gräbern deiner Geschwister.“, rief Leon Lenz auf Japanisch zu ihnen rüber. Laura schreckte hoch. „は-はい!“ Sie schaute Benni an, als wolle sie ihm noch irgendetwas sagen, drehte sich dann allerdings um und lief ihren Eltern hinterher. Konrad grinste. „Spann sie doch nicht noch länger auf die Folter.“ Auf Bennis irritierten Blick hin meinte er: „Sie mag dich, du magst sie. Wo liegt da noch das Problem?“ Wolf bellte. ‚Ich sag’s doch die ganze Zeit, du bist in sie verliebt. ‘ Chip gab ein Geräusch von sich, das einem Kichern glich. „Woher soll ich wissen, dass ich sie liebe?“, stellte Benni die Gegenfrage zu Konrads Aussage. Seufzend setzte sich Rina neben ihn und drückte ihm vorsichtig die linke, nicht bandagierte, Hand. „Man weiß so etwas einfach. Man fühlt es.“ Das einzige, was Benni momentan fühlte waren allerdings seine schmerzenden Brandwunden. Warum dauert die Regeneration so lange? Und natürlich dieser seltsame Schmerz in seinem Herzen… Auch Konrad seufzte. „Na ja… Du hast gerade vermutlich ganz andere Sorgen. Wir wollten uns übrigens nur verabschieden… Bisher hat das Wetter ja mitgespielt und die Sonne verdeckt, aber das Risiko wäre zu hoch, noch länger zu bleiben.“ Der Vampir an der Spitze des Senats trat zu Benni. Er besaß ein altersloses Gesicht, umrandet von langen, weiß-silbernen Haaren und seine schmalen, rot pulsierenden Augen musterten Benni. „Wie Konrad bereits gesagt hat, müssen wir nun aufbrechen. Doch du weißt, Benedict, du gehörtest bereits von klein auf zu uns, gleich, welches Wesen du durch dein Blut auch bist. Du bist immer bei uns willkommen.“ Respektvoll legte Benni seine rechte Hand über sein Herz und verneigte sich knapp. „Ich danke Euch, Senatsvorstand.“ Rina wuschelte in seinen Haaren und drückte ihn ganz sanft und vorsichtig an sich. „Pass auf dich auf.“ Sie stand auf und verließ gemeinsam mit Konrad und den Senatoren den Friedhof. Auf halbem Weg hörte Benni Konrad sagen: „Ich habe noch etwas zu erledigen… Ich werde dann nachkommen.“ „Na gut, aber beeil dich.“, bat Rina ihn besorgt. Benni wandte seine Aufmerksamkeit von ihm ab und kraulte stattdessen Ravens Kopf, die sich auf seinem Schoß in eine Fellkugel verwandelt hatte. Er wollte mit seinen kuriosen Sinnen nicht in die Privatsphäre anderer eindringen. Jedenfalls nicht, bis der Wind seinen Namen zu ihm trug. „Und was denkst du hält Benni davon?“ Konrads Stimme klang ungewöhnlich gereizt. „Verdammt, ich weiß, dass er mir das nie verzeihen wird. Aber sie hatten ein Recht darauf! Sie wollen ihm doch helfen.“ Diese Stimme gehörte zu Florian. Was würde ich ihm nie verzeihen?, fragte sich Benni, während Konrad sarkastisch meinte: „Oh ja, du bist ihm auch eine sehr große Hilfe.“ Florians Stimme klang verletzt. „Was hätte ich denn machen sollen? Jetzt wissen sie jedenfalls, warum es Benni so schlecht geht.“ Benni bekam eine unwohle Ahnung. Hatte Florian den Mädchen etwa alles erzählt? „Seine Lehrmeisterin ist gestorben. Dieser Grund hätte ausgereicht.“, erwiderte Konrad. „Nein, gerade nicht!“, schrie Florian ihn an. „Anscheinend hatte Carsten zu Benni ganz schön verletzende Worte gesagt und niemand hatte verstanden, warum das wohl so schlimm war und sich Carsten das so sehr zu Herzen genommen hatte.“ Ja, er hatte ihnen alles erzählt. Eine Weile schwiegen beide. „Stimmt… Carsten und Benni wirkten wirklich ungewöhnlich distanziert als sie vorhin in die Kirche kamen.“, stellte Konrad schließlich fest. Floriane atmete aus. Benni hatte genug gehört. Er war noch nicht einmal so sauer auf Florian, wie dieser vermutete. Er war einfach nur enttäuscht. Immerhin kannte er den Elb seit seiner Kindheit und hatte ihm genauso viel Vertrauen entgegengebracht wie Carsten oder Konrad. Aber andererseits… Hätten die beiden in Florians Situation nicht genauso gehandelt? Seine eigene Reaktion konnte Benni nicht einschätzen, doch er war sich sicher, dass er es bei ähnlicher Gegebenheit nicht allzu abwegig gefunden hätte. Allerdings musste man ihm jegliche Informationen immer regelrecht aus der Nase ziehen, wie sich der Direktor mal bei ihm beschwert hatte… Welcher wie vom Teufel gerufen gemeinsam mit der Direktorin auf ihn zukam, als Benni den Blick hob. „Guten Tag, Benedict.“, grüßte Kyurina Bôss ihn. Benni nickte ihnen kurz zu und wandte sich wieder dem schwarzen Fellknäuel Raven zu. Herr Bôss setzte sich neben ihn und kraulte Wolf hinter den Ohren. „Schon deprimierend, wenn einem das Zuhause vor der Nase abfackelt und man nichts machen kann.“, stellte er mit einem leichten Hauch Sarkasmus fest. Die Direktorin schlug ihrem Mann auf den Hinterkopf. „Ach komm schon, es ist so.“, beschwerte sich dieser. Kyurina seufzte. „Benedict, wir möchten dir beide unser Beileid ausdrücken.“ „Ich denke, davon hat er schon mehr als genug.“, kommentierte Herr Bôss schulterzuckend und wich einem zweiten Schlag duckend aus. „Hey, wenn man sich beschissen fühlt ist ‚du tust mir leid‘ genauso hilfreich wie ‚tja, kann man nichts machen‘.“, erklärte er empört. „Stimmt. Dafür hat man Freunde, die einen wieder aufbauen.“ Zielstrebig kamen die anderen Mädchen aus der Coeur-Academy auf sie zu gelaufen, Öznur an der Spitze. Weiter hinten folgten auch Carsten, Laura und überraschenderweise Eagle, Florian und Jannik. Ariane schauderte. „Nichts gegen Sie, aber es ist schon unheimlich, seine Lehrer in den Ferien zu treffen.“ Herr Bôss lachte auf. „Dann betrachte uns zur Ausnahme nicht als Lehrer, sondern Bekannte von Eufelia.“ „Oh wie cool, dürfen wir euch dann auch duzen?“, fragte Öznur begeistert. „Wir wollen mal nicht übertreiben.“, meinte die Direktorin hemmend. Derweil lächelte Jannik Benni schwach an. „Lange nicht mehr gesehen.“ Mehr als ein grüßendes Nicken konnte er nicht erwidern, da sich Öznur enthusiastisch neben ihn setzte. „Aaaaaalso, Benni. Sag: Wie können wir dich aufheitern?“ Das würde Benni gerne selbst wissen, doch er antwortete nichts. „Na ja, ich sollte das eigentlich nicht in der Gegenwart von Lehrern sagen, aber der durchschnittliche Typ besäuft sich für gewöhnlich in so einer Situation.“, überlegte Eagle. Benni war sich nicht sicher, ob er das sardonisch oder wirklich ernst gemeint hatte. „Auf gar keinen Fall.“ Gebieterisch verschränkte die Direktorin die Arme vor der Brust. „Wie wär’s mit Gruppenkuscheln?!?“, schlug Lissi begeistert vor. „Bloß nicht!“ Angewidert verzog Anne das Gesicht. „Der soll sich beim Sport auspowern, das hilft immer.“ Öznur winkte ab. „Sport wird überbewertet.“
„Und was soll er deiner Meinung nach machen? Shoppen gehen?“ Eagle verschränkte die Arme vor der Brust und grinste sie herausfordernd an. „Nein, ääähm…“ Noch während Öznur überlegte, schlug Ariane vor: „Frustfressen ist auch sehr hilfreich. Sorgen um die Figur muss sich der eiskalte Engel sowieso nicht machen, ich glaube, der ist so einer, der nie dick wird.“ „Sich in sein Zimmer einsperren und stundenlang heulen funktioniert auch ganz gut.“, meinte Laura. Anne grinste sie an. „Sprichst wohl aus eigener Erfahrung, was?“ „Unsinn!!!“, widersprach Laura, vor Scham bekamen ihre Wangen einen deutlichen Rotton. Den Direktor schien das alles köstlich zu amüsieren. Benni seufzte. Das kann doch nicht wahr sein… Warum nochmal hatte Florian ihnen von seiner gesamten Vergangenheit erzählt? Hilfreich war es jedenfalls nicht. „Leute, es reicht!“ Erstaunt von Janines ungewöhnlich lauter, repressiver Stimme wurden alle still. „Benni, wir alle machen uns große Sorgen um dich. Bitte sag uns doch, wie wir dir helfen können. Und zwar nicht: ‚Lasst mich allein‘. Das bringt gar nichts und du frisst das alles nur in dich rein.“ Bedrückt wandte sich Benni ab. „Es hat doch sowieso keinen Sinn.“ Jannik stöhnte auf. „Ach Benni, jetzt sei doch nicht so pessimistisch.“ „Lassen wir ihn doch einfach, es hat anscheinend wirklich keinen Sinn.“ Gleichgültig zuckte Anne mit den Schultern. „Nein! Wir wissen jetzt endlich, warum Benni so depri ist. Wir lassen das alles ab sofort nicht mehr einfach so an uns vorüberziehen!“, rief Öznur aufgebracht. „Verdammt Öznur! Sag ihm doch gleich: Hey, wir wissen alles über deine Vergangenheit, obwohl du daraus so ein Geheimnis machst. Am besten auch noch, wer ihn verraten hat.“, zischte Anne. „Ist jetzt auch gleich.“ Benni setzte Raven auf dem Boden ab und erhob sich. Jannik runzelte verwirrt die Stirn. „Du klingst so, als wüsstest du bereits, dass wir so ziemlich alles über dich wissen.“ „Man hat es mir indirekt gesagt.“, erklärte Benni und warf Florian einen wissenden Blick zu, welcher ihm beschämt auswich. Benni schüttelte den Kopf. „Ich denke, ich hätte dasselbe getan…“ Er wandte sich an die gesamte Gruppe. „Mir ist bewusst, dass ihr mir nur helfen wollt und euch… um mich sorgt… Dafür danke ich euch. Aber meinen Schmerz kann letztlich nur ich alleine tragen.“ Noch während er ging, hörte er den Direktor sagen: „Wow, einer der seltenen Einblicke in das Innenleben jener gefühllosen Killermaschine, die wir alle mehr oder weniger kennen und lieben.“ „Und es war im Prinzip ein ‚lasst mich allein‘.“, meinte Ariane seufzend. ~*~ Betrübt setzte sich Laura auf die Steinmauer, zog ein Bein an und schlang die Arme drum, während Öznur ebenso deprimiert meinte: „Das kann doch nicht wahr sein! Endlich wissen wir, warum es ihm so schlecht geht und können ihm trotzdem nicht helfen!“ Eagle zuckte mit den Schultern. „Aber er hat Recht, im Endeffekt steht man mit seinem Leid alleine da.“ „Jeder kann den Schmerz bemeistern, nur der nicht, der ihn fühlt.“, meinte Herr Bôss und zitierte damit eine Figur von Shakespeare, die auch noch ausgerechnet Benedict hieß. „Und trotzdem ist man froh darüber, wenn jemand einfach bei einem ist und man weiß, dass man eben nicht alleine ist.“, meinte Anne mürrisch. Als mehrere sie amüsiert anschauten, erklärte sie verlegen: „Hab ich jedenfalls gehört.“ „Jaaaa klar, Anne.“ Öznur grinste sie wissend an. „Na gut, Themenwechsel.“ Eagle schaute in die Runde. „Ich habe vorhin diesen Jacob Yoru angesprochen. Er schien überhaupt nicht überrascht, als ich ihn fragte, was er alles über diesen Unzerstörbaren herausgefunden hat.“ „Und was hat er gesagt?“, fragte Öznur neugierig. Eagle zuckte mit den Schultern. „Er meinte, er würde das lieber in Ruhe und nicht gerade in aller Öffentlichkeit auf einem Friedhof erklären und hat uns zu sich nach Hause eingeladen.“ „Oh mein Gott, eine Audienz bei den Yorus!!!“, quietschte Lissi begeistert. Anne verdrehte genervt die Augen. „Und wann?“ „Heute Abend.“, antwortete Eagle. „Aber er möchte, dass wir in kleineren Gruppen etwas zeitversetzt kommen und durch den Hintereingang, damit die Paparazzi das nicht mitbekommen.“ „Das Jugendschutzgesetz verbietet es doch sowieso, Minderjährige ohne ihr Einverständnis in den öffentlichen Medien zu zeigen.“, sagte die Direktorin. „Schon klar, aber er will trotzdem auf Nummer sicher gehen.“, erwiderte Eagle. „Abgesehen davon hab ich schon des Öfteren bemerkt, dass ich hier bekannter bin, als ich laut diesem Gesetz sein sollte.“ „Na gut, wer sagt dem eiskalten Engel Bescheid?“, erkundigte sich Ariane vorsichtig. „Ich sicher nicht, ich war auch nicht gerade freundlich zu ihm, als wir ihn alle missverstanden haben…“ Dieses Thema ließ Lauras Herz schwer werden. Stimmt ja, Benni musste nicht nur mit dem Verlust von Eufelia-Sensei und seinem Zuhause fertig werden. Auch die Folgen jenes Missverständnisses waren noch mehr als deutlich zu sehen. Sie bemerkte, wie Carsten sich traurig abwandte. Auch Janine schien es aufgefallen zu sein, denn sie schlug eingeschüchtert vor: „Ich kann es machen… Also, wenn ihr nichts dagegen habt.“ Florian schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es ist insgesamt keine so gute Idee, wenn wir Benni mitnehmen.“ „Wieso denn das?“ Ariane musterte ihn kritisch. „Sagen wir einfach mal, es ist so ein Gefühl.“, antwortete Florian und strich sich zerknirscht eine blonde Strähne aus dem Gesicht. „Aber wäre es für Benni nicht noch verletzender, wenn wir ihn aus ‚Rücksicht‘ auf seine Situation ausschließen?“, vermutete Susanne, zur Überraschung aller Anwesenden. Eigentlich war sie seit ihrer Dämonenprüfung so besorgniserregend still, dass selbst Janine inzwischen gesprächiger wirkte. Herr Bôss nickte langsam. „Susanne hat Recht, Rücksicht ist wohl das Letzte, über das sich der eiskalte Engel freuen würde.“ „Besonders, weil ich das ungute Gefühl habe, dass dieser Unzerstörbare bei dem Feuer seine Finger mit im Spiel hatte.“, ergänzte Öznur. „Und Benni hat ein Recht darauf herauszufinden, wer für die Zerstörung seines Zuhauses und den Mord an Eufelia verantwortlich ist.“ Ariane fiel Janine um den Hals. „Na gut, dann kümmerst du dich um ihn, Ninie! Ich glaube sowieso, dass du das von uns allen am besten hinbekommen würdest.“ Frustriert biss sich Laura auf die Unterlippe. Janine konnte Benni also noch am ehesten trösten, nicht sie. „Na prima, dann sag mir Bescheid, wann eure Hochzeit ist.“ Erst als die anderen Laura verwirrt und besorgt anschauten, bemerkte sie, dass sie das laut ausgesprochen hatte. Betroffen setzte Janine an: „Laura… Bitte versteh mich nicht falsch, ich wollte doch nur-“ „Ä-ähm, nein, also… so hab ich das nicht gemeint…“, unterbrach Laura sie und fuhr sich verlegen durchs Haar. Mist. Schließlich seufzte sie. „Vermutlich stimmt es sogar. Ich bin halt nicht so taktvoll und habe es ja oft genug geschafft einen Streit anzufangen. Ich könnte es verstehen, wenn Benni die Schnauze voll von mir hat.“ Verstohlen rieb sie sich eine Träne von der Wange. „Och Laura, das hat doch niemand gesagt.“, versuchte Öznur sie zu trösten. „Aber es ist so!“, schrie Laura zurück. Ariane seufzte und setzte sich neben sie. „Wir hatten inzwischen doch schon mehrere Situationen, die so ziemlich das Gegenteil bewiesen haben.“ Laura wollte widersprechen, ließ es allerdings mit knallrotem Gesicht bleiben, als sie bemerkte, dass es tatsächlich mehrere Situationen gab, in denen Benni ziemlich… zuvorkommend? …Freundlich? …Liebevoll? Na ja, halt so ziemlich das Gegenteil von ‚die Schnauze voll von ihr‘ war. Die Direktorin räusperte sich. „Nun, wir sollten langsam gehen.“ Der Direktor erhob sich von der Steinmauer und klopfte Laura auf die Schulter. „Glaub mir, das wird schon irgendwie.“ Er wandte sich an die ganze Gruppe. „Ich hoffe für euch, dass Jacob euch nützliche Informationen zu eurem Gegner geben kann.“ Nachdem sie gegangen waren meinte Janine schüchtern: „Ich denke, ich gehe mal Benni suchen…“ „Und wir sollten was essen gehen. Kannst ja dann nachkommen.“, schlug Ariane vor, was eigentlich eher eine Art Befehl als Vorschlag war, wenn man Ariane kannte. Janine nickte. „Ja mach ich. Esst ihr wieder in diesem Café, wo Mai arbeitet?“ „Vermutlich.“, antwortete Ariane und auch Janine ging, in die Richtung, in der auch Benni verschwunden war. Laura seufzte bedrückt. Warum war in letzter Zeit auch alles so deprimierend? ~*~ Janine wusste, wo sich Benni befand, als eine der kleinen gelben Spinnen zurückkam, die sie ausgesandt hatte, um ihn zu finden. Langsam bekam sie ihre Kräfte unter Kontrolle und lernte, sie zu nutzen. So sank auch allmählich die Angst, die sie am Anfang davor hatte. Durch ihre Prüfung hatte Janine gelernt, dass Gift nicht nur töten konnte, sondern auch Leben retten. Sehr bald hatte sie ihr Ziel erreicht, eine hochgewachsene Eiche, an der sie hinauf schaute. „Benni? Bist du da?!?“ Sie hörte das Rascheln von Blättern und kurz darauf drehte sich Janine erschrocken um, als Benni wenige Meter hinter ihr gelandet war. Keuchend legte sie ihre Hand auf ihr rasendes Herz. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er einfach so vom Baum springen würde. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“, sagte er und steckte ein kleines Stück Holz und ein Taschenmesser in seine Hosentaschen. „Hast du etwas geschnitzt?“, erkundigte sich Janine neugierig und auch beeindruckt, denn sie hatte sofort das kleine Eichhörnchen vor Augen, welches er anscheinend als kleiner Junge gemacht hatte. Benni nickte als Antwort nur. „Ach so, ähm… Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass wir uns heute Abend bei Jacob Yoru treffen…“ „Ich weiß.“ „Also hast du unser Gespräch noch weiterverfolgt?“, erkundigte sich Janine. Wieder war Bennis Antwort lediglich ein Nicken. „Na gut…“ Janine rieb sich bei einem kalten Windstoß die Arme. Nach einer Weile fragte Benni: „Noch was?“ „Ja, nur… Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll…“ Sie entschied sich für den ganz direkten Weg, da ihr kein besserer, taktvollerer, einfiel: „Vertrage dich wieder mit Carsten.“ Sie glaubte, in Bennis Blick Verwirrung sehen zu können, also erklärte sie: „Carsten ist seit diesem ‚Streit‘, den ihr hattet, am Boden zerstört. Und zwar immer noch, obwohl ihr euch doch inzwischen ausgesprochen haben müsstet.“ Seufzend setzte sich Benni an den Fuß des Baumes und lehnte sich gegen den Stamm. „Warum?“, fragte sie. Anstatt ihr in die Augen zu schauen, streichelte Benni Chip über den kleinen Kopf, der auf seiner Schulter saß. Zögernd setzte sich Janine neben ihn und streckte ihre Hand nach Chip aus. Dieser schnupperte kritisch an ihren Fingern und schmiegte sich dann mit seinem Kopf an sie, ehe er einen kleinen Sprung auf Janines Hand tätigte und auf ihre Schulter balancierte, wo er begeistert ihre Haare um sich wickelte, bis er zufriedenstellend zugedeckt war und sofort einschlief. Inzwischen hatte es endlich aufgehört zu regnen und vereinzelte Sonnenstrahlen brachen durch die Wolkendecke. Irgendwann antwortete Benni tatsächlich. „Vermutlich, weil ich gemeint habe, ich könne ihm nicht verzeihen.“ Janine schaute ihn entgeistert an. „Wie: ‚Du kannst ihm nicht verzeihen‘?“ Benni seufzte. „Ich weiß, es klingt nachtragend.“ „Und wie.“ „Es ist nur so… Egal aus welchem Grund auch immer Carsten das gesagt hat, er hat es gesagt.“, erklärte Benni matt. „Ja, aber er war wütend, er hatte es nicht ernst gemeint. Er wollte das gar nicht sagen.“, widersprach Janine. „Dennoch bedeutet das, dass er diesen Gedanken tatsächlich hatte… Wie als hätte er es bisher aus Rücksicht auf mich verschwiegen.“ Nun verstand Janine, was Benni dachte. „Du denkst wirklich, dass er dich insgeheim für ein Monster hält?“ „Ich denke, jeder hält mich für ein Monster. Sogar ich selbst. Nur für einige ist dieser Gedanke tiefer verborgen als für andere.“ Entsetzt schüttelte Janine den Kopf. „Das ist doch totaler Unsinn!“ „Was denkst du denn?“, erkundigte sich Benni nüchtern. „Was?“ Benni senkte den Blick. „Denkst du nicht auch manchmal, ich sei ein Monster?“ „Na ja…“ Verlegen spielte sie an ihrem Jackenärmel herum. „…Manchmal habe ich wirklich Angst vor dir.“, gestand sie. „Aber das heißt noch lange nicht, dass Carsten auch so denkt!“ Als Benni darauf nichts erwiderte, meinte Janine: „Wir wollen dich nicht als Monster betrachten. Wir glauben an deine Menschlichkeit! Und Carsten glaubt von uns allen vermutlich am meisten daran.“ Endlich erwiderte Benni ihren Blick. Laura hatte mal gemeint, er würde nie viel an seiner Mimik ändern, man müsse seine Gefühle in seinen Augen ablesen. Und genau das tat Janine jetzt. Seine Augen zeigten deutlich Verwunderung und Verwirrung, doch sie glaubte auch, einen kleinen Funken Hoffnung zu erkennen. Ein Lächeln stahl sich von ihren Lippen. „Du weißt, dass wir nun vermutlich alles über deine Sorgen und ihre Ursachen wissen. Wir können jetzt jedenfalls verstehen, warum du so bist, wie du bist, auch wenn wir dir scheinbar nicht helfen können. Aber du musst wissen… Du bist ein guter Mensch, dem viel Schlechtes widerfahren ist und der deshalb große Angst davor hat, andere in sein Herz zu lassen. Und das ist absolut nachvollziehbar. Ich bezweifle, dass jemand von uns dich jetzt noch als Monster bezeichnen würde. “ Benni wandte seinen Blick wieder ab, als müsse er erst über ihre Worte nachdenken. Nach einer Weile meinte er schließlich: „Danke…“ Zufrieden stand Janine auf, befreite Chip aus ihren Haaren und reichte ihn wieder Benni. „Ich treffe die anderen in einem Café… Möchtest du mitkommen?“ Zögernd schüttelte Benni den Kopf. Janine atmete aus. „Na gut. Aber bitte rede bald noch mal mit Carsten… Bis heute Abend.“ Sie drehte sich um und machte sich langsam auf den Weg zurück zu Zukiyonaka. Vermutlich hatte es Benni ganz gut getan, mal mit jemandem zu reden. Und zwar alleine und ohne die manchmal wirklich unnötigen Kommentare einiger Spezialisten. Jedenfalls glaubte sie, ihm tatsächlich etwas Trost zugesprochen zu haben. Nein, sie wusste es. ~*~ Staunend schauten sich Laura und Ariane in der eindrucksvollen Villa von Jacob und Samira Yoru um. Bereits von außen hatte sie schon sehr elegant und auch magisch gewirkt, mit ihrer strahlend weißen Fassade, den Säulen und dem schwarzen Dach. Und vom Garten wollte Laura gar nicht erst anfangen, beziehungsweise sie hatte die ganze Zeit so vernarrt auf die Rosenstöcke am Wegrand gestarrt, dass sie den Rest gar nicht mehr betrachten konnte, weil der Butler ihnen schon die Hintertür geöffnet und sie ins Innere des Hauses gelassen hatte. Irgendwie wirkte das Haus gar nicht wirklich prunkvoll, sondern einfach nur schön. „Hallo, ihr beiden.“ Die freundliche Begrüßung von Jacob Yoru riss Laura von den Kerzenleuchtern an der Wand los, die sie gerade vermutlich wie bekloppt angestarrt hatte. „Hallo. Ich bin Ariane.“, grüßte Ariane zurück, die sich früher als Laura wieder fangen konnte, und schüttelte ihm die Hand.
„Äh-ähm… Guten Abend… Mein Name ist Laura.“, stellte sich Laura etwas überfordert vor. Jacob lächelte beide an, ehe er sich an den Rest der Gruppe wandte, der schon vor ihnen gekommen war. „Also fehlen jetzt nur noch zwei, oder?“ Florian nickte. „Carsten und Benni.“ Die Wartezeit nutzte Laura, um sich ausgiebig im Speisezimmer umzusehen, in dem sie alle saßen. Dieser Raum war genauso strahlend und hell, wie der Rest des Hauses, wirkte allerdings aufgrund der dunklen Holzmöbel und der vielen Pflanzen nicht kalt, sondern eher wie eine paradiesische Strandvilla. Aus den Gesprächen, die Laura nur zum Teil mitverfolgte, erfuhr sie, dass Jacob zwar selbst nicht mehr im Musikgeschäft war, aber immer noch auf Wunsch einiger berühmter Bands Songs schrieb, während Samira als angesehenes Model den größten Teil des Unterhaltes verdiente, der eigentlich problemlos für eine Sofortrente ausreichen würde. Doch sie meinte, wenn sie längere Zeit aus irgendeinem Grund tatenlos war, würde sie verrückt werden und von Reisen war sie kein großer Freund. Einen Großteil des Geldes spendeten sie dann irgendwelchen Hilfsorganisationen. Schließlich trat der Butler wieder in den Speisesaal, gefolgt von Benni und Carsten. Laura fiel ein Stein vom Herzen. Zwar wirkte Benni immer noch ziemlich bedrückt, aber soweit sie seine Stimmung deuten konnte, ging es ihm tatsächlich besser und Carsten war auch endlich wieder so halbwegs der Alte, als er die Gruppe und ihre Gastgeber begrüßte. Lauras Herz machte einen kleinen Sprung, als sich Benni links neben sie setzte, während Carsten gegenüber von ihnen an der langen, massiven Holztafel saß. Der kleine Freudensprung ihres Herzens war wohl irgendwie sichtbar gewesen, denn Carsten zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Schließlich fing Herr Yoru an zu reden. Er hatte eine schöne, klare und ruhige Stimme, die sicher genauso schön singen wie sprechen konnte. „Also gut, mich kennt ihr ja inzwischen alle und meine Frau Samira auch. Eure Namen habe ich zwar noch nicht ganz drauf, aber das dürfte sich mit der Zeit geben. Eagle hat mir bereits erklärt, dass ihr alle Dämonenbesitzer, -gesegnete und -gezeichnete seid und Informationen über ein Wesen braucht, welches ‚der Unzerstörbare‘ genannt wird und offensichtlich nichts Gutes im Schilde führt.“ Einige aus der Gruppe nickten zustimmend. Herr Yoru seufzte. „Na gut… Dann fasst mal zusammen, was ihr bereits über ihn wisst, damit ich euch nichts Altbekanntes erzähle.“ „Na ja… Er ist anscheinend hinter den Dämonenbesitzern her.“, fing Öznur an. „Konrad meinte, er wird in der tiefsten Schlucht der Unterwelt mit einem Bann gefangen gehalten.“, fuhr Susanne zögernd fort. „Anscheinend ist er ein überirdisches Wesen… Also auch kein Vampir oder so.“, zählte Ariane den dritten Punkt auf. „Der Besitzer des Orangenen Skorpions ist offensichtlich auf seiner Seite.“, meinte Carsten und Laura bemerkte, wie er bei dem Gedanken an Jack bedrückt den Blick senkte. „Er hat anscheinend auch viel Einfluss auf die Politik in bestimmten Regionen.“, kam nun auch Anne zu Wort. „Angeblich handelt es sich beim Unzerstörbaren um den Verursacher des magischen Krieges.“, sagte Eagle kritisch. Als niemand mehr etwas sagte, fragte Jacob etwas verwundert: „Mehr wisst ihr wirklich noch nicht?“ Laura überlegte. Hatten sie tatsächlich etwas vergessen? Plötzlich ergänzte Benni: „Er hat Eufelia ermordet.“ Fast jeder an diesem Tisch schaute ihn überrascht an, aus zwei Gründen: Der Unzerstörbare war für Eufelia-Senseis Tod verantwortlich? Und: Benni hat von sich aus etwas gesagt?!? „W-wie meinst du das? Also… ich hatte ja schon so eine Ahnung, dass er damit was zu tun hatte, aber woher willst du das so genau wissen?“, fragte Öznur, als wolle sie diese Tatsache nicht wahrhaben. Um die Verwunderung der anderen zu perfektionieren, lieferte Benni tatsächlich eine ausführliche Erklärung ab: „Bevor das Feuer ausbrach hatte sie mir noch einige Fragen beantwortet. Er ist der ‚Purpurne Phönix‘, ein Gottesdämon und herrscht über die Zerstörung. Wenn ich ihre Andeutung korrekt verstanden habe, war sie es, die ihn mit ihrer Schwester und deren Verlobten zur Zeit des magischen Krieges gebannt hat.“ „Stimmt, die Flammen hatten eine irgendwie für sie untypische Farbe gehabt… Aber ich habe mir darüber keine Gedanken mehr gemacht.“, sinnierte Öznur. Eagle nickte. „Wenn sie durch die Zerstörungs-Energie entstanden sind, lässt sich auch erklären, warum du sie nicht vollständig kontrollieren konntest.“ „Aber das sind doch nur Vermutungen.“ Kritisch schaute Anne erst Öznur, dann Eagle und schließlich Benni an. Doch letzterer schüttelte den Kopf und Laura musste darauf achten, dass ihr der Mund nicht aufklappte, als er seine Erklärung fortführte: „Nach Eufelias Tod haben die Flammen die Form eines riesigen Phönix angenommen und mich angegriffen.“ Während Laura zitternd die Arme um sich schlang, schaute Anne Benni an, als habe er den Verstand verloren. „Angegriffen?“ „Es lässt sich ganz einfach herausfinden, ob es sich bei dem Feuer um Zerstörungs-Energie gehandelt hat.“, schritt Herr Yoru schlichtend ein und schaute Benni an. „Als Dämonenverbundener müsste sich dein Körper sehr schnell regenerieren. Die Zerstörungs-Energie hemmt diesen Vorgang, sodass die Wunden ungewohnt langsam verheilen.“ „Stimmt, eigentlich dürften inzwischen nur noch leicht rötliche Stellen zu sehen sein, aber als ich heute Vormittag deine Verbände gewechselt habe, hatte es sich kaum gebessert.“, bemerkte Carsten besorgt. „Du wolltest O-Too-Sama vorhin auch nicht die Hand reichen!“, fiel es Laura wieder ein. „… Tut es noch sehr weh?“ „Darf ich mal sehen?“, erkundigte sich Herr Yoru freundlich und auch fürsorglich. „So schlimm ist es nicht…“, meinte Benni zögernd. „Bitte, Benni!“, flehte Laura. „Wenn es nicht so schlimm wäre, wärst du viel früher aufgewacht und würdest auch nicht mehr mit Verbänden herumlaufen!“ „Laura hat Recht.“, griff Öznur ihr unter die Arme. „Carsten, Eagle und ich haben dich bei dem Feuer gefunden und es sah echt… mehr als übel aus.“ Endlich gab sich Benni geschlagen und löste den Verband, bis seine rechte Hand komplett zu sehen war. Irgendjemand murmelte betroffen ein: „Oh Gott“, doch Laura konnte nur noch entsetzt auf Bennis Hand starren. Sein Handrücken war komplett von dunkelrot bis braunem Grind überzogen, der anscheinend weiter seinen Arm entlangführte. An einigen Stellen schien sich sogar etwas Grind gelöst zu haben und ließ ein bisschen Blut durchsickern. Räuspernd wandte Ariane den Blick ab. „Na gut, dann steht es wohl fest, dass dieser Purpurne Phönix Eufelia-Senseis… Mörder ist…“ Immer noch geschockt beobachtete Laura, wie Carsten Bennis Hand wieder verband. Und so sah nahezu sein ganzer Oberkörper aus?!? Sie erinnerte sich noch, dass sie Benni überglücklich um den Hals gefallen war, als er nach diesen zwei fürchterlichen Tagen wieder aufgewacht war. Das waren doch dann garantiert höllische Schmerzen gewesen!!! Und wie hatte es sich erst angefühlt, als er die Verbrennungen bekommen hatte?!? Kein Wunder, dass er so lange bewusstlos war! „Ich würde jetzt sagen: Leg dich ins Bett und rühr dich nicht, aber du würdest sowieso nicht hören.“ Florian seufzte. „Du meinst abgesehen davon, dass sein Bett abgefackelt ist, als er diese Verletzungen bekommen hat.“ Laura war dankbar, dass Öznur und Jannik fast wie abgesprochen Eagle jeweils einen Hieb verpassten. Nicht nur sie, vermutlich wäre so ziemlich jeder aufgestanden und hätte ihm eine gescheuert. Ariane stöhnte auf. „Klasse, Eagle. Selbst eine Rosine hat mehr Taktgefühl als du!“ Dieser schien sein mangelndes Taktgefühl, das sogar unter dem einer Rosine lag, noch nicht einmal bemerkt zu haben. „Was denn? Ist doch so.“ Vor Schreck quietschte Lissi auf und Öznur wich zurück und fiel dabei fast vom Stuhl. Aus dem Nichts war plötzlich eine lange Efeuranke aufgetaucht, die sich um Eagles Hals wickelte und ihm die Luft abschnitt. Schaudernd bemerkte Laura, dass diese Ranke aus Florians Handfläche zu wachsen schien und anscheinend auch unnatürlich stabil war, da noch nicht einmal Eagle sie mit seiner übermenschlichen Kraft von sich lösen konnte. „Ich habe dich gewarnt.“ Florians Stimme war ungewöhnlich unheimlich und das Echo seines Dämons wurde erstaunlich laut. „Ich habe gesagt, ihr sollt euer Wissen nicht gegen ihn verwenden!“ Nach einer Weile fing sich Öznur wieder und krisch: „Florian, lass es, er hat’s kapiert!“ Erleichtert beobachtete Laura, wie die Ranken von Eagles Hals abließen und rote Striemen hinterließen, als Florian sie wieder verschwinden ließ. Keuchend und hustend rieb sich Eagle den Hals. Sein Gesicht war, besonders im Vergleich zu seiner sonstigen Hautfarbe, beängstigend blass, als habe Florian tatsächlich nicht nur ein bisschen zugedrückt. Verängstigt musterte Laura den Elb. So gruselig er vorhin war, so normal wirkte er nun wieder, als er sich seufzend zurücklehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. Da er Eagle offensichtlich am Leben gelassen hatte, wandte sich Laura schnell an Benni, der ausdruckslos auf das Holzmuster vom Tisch schaute. Sollte sie was tun?
Wenn ja, was? Da Laura auf keine Antworten kam, schaute sie Benni einfach nur mitfühlend und traurig an. Eagle hatte anscheinend wieder genug Luft zum Reden. „Es tut mir leid… Ich hab vergessen, dass dich das tatsächlich belastet.“ Anstatt sich erneut überrascht zu Eagle umzudrehen, beobachtete sie weiterhin Benni, in dessen Pokerface sich allerdings keine Regung zeigte. „Ach ja, stimmt, hab ich auch total verpeilt. Es ist ja nicht so, dass Benni deswegen die ganze Zeit schon so depri ist.“, blaffte Ariane sarkastisch. Eagle seufzte, erwiderte aber nichts mehr. „Ähäm… Also… Der Unzerstörbare ist also ein göttlicher Dämon, der die Zerstörungs-Energie beherrscht.“, versuchte Öznur, das Thema zu wechseln, als die Stille langsam ungemütlich wurde. „Aber ist das nicht dann sehr gefährlich für Sie, wenn Sie einen Dämon erforschen, der über eine Energie herrscht, die schon allein vom Namen her sagt, wie bösartig sie ist?“, erkundigte sich Janine besorgt. Herr Yoru zuckte mit den Schultern. „Alles ist relativ. Als Dämonenforscher stehe ich unter dem Schutz der Dämonen, außer ich erzähle den falschen Leuten von meinen Erkenntnissen. Ihr braucht mich übrigens nicht so respektvoll anzusprechen, ich bin nicht euer Lehrer.“ „Aber wer sagt, dass der Unzerstörbare, äh, der Purpurne Phönix sich daran hält?“, fragte Ariane. Herr Yoru krempelte sein T-Shirt hoch, sodass sie sein gesamtes Tattoo sehen konnten. Er zeigte auf das Kreuz, in dessen Mitte ein Pentagramm thronte und an dem Carsten ihn sofort als Dämonenforscher erkennen konnte. „Dieses Zeichen zeigt, dass ich ein Dämonenforscher bin.“, erklärte er, „Im Gegensatz zu euch Dämonenverbundenen muss ein Dämonenforscher keine antike Begabung besitzen, doch in dem Symbol ist eine gewisse Menge an Energie vorhanden, die mich vor grundlosen Angriffen anderer Dämonen schützt.“ „Also heißt das, wärst du an Bennis Stelle gewesen, wäre dir nichts passiert.“, vermutete Öznur. Herr Yoru zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, alles ist relativ. Das Feuer hätte mir vermutlich nichts anhaben können, aber ich wäre höchst wahrscheinlich an einer Rauchvergiftung gestorben.“ „Ach so, also hast du dich damals deswegen aus dem Showgeschäft zurückgezogen.“, bemerkte Ariane und schnippte mit den Fingern. „Erstens, damit du genug Zeit für die Forschungen hast und zweitens, damit du nicht zu gefährdet bist.“ Aber Herr Yoru schüttelte den Kopf. Lissi seufzte. „Man Nane-Sahne, du hast ja von nichts eine Ahnung. Zur selben Zeit hat auch Samira eine ‚künstlerische Pause‘ eingelegt, unter dem Vorwand, etwas Zeit für sich und ihre Familie haben zu wollen.“ Sie schaute das Ehepaar interessiert an. „Eigentlich ging das Gerücht um, du wärst schwanger, Samira.“ Besagte Frau Yoru wich Lissis neugierigem Blick traurig aus. „War ich auch…“ „Oh nein, haben Sie das Kind… verloren?“, fragte Janine mitfühlend. „So in etwa…“, antwortete Herr Yoru, ebenso bedrückt. Mitleidig musterte Laura die beiden. Sie hatte an O-Kaa-Sama gesehen, wie schlimm es war, sein Kind, seine Kinder, zu verlieren und sogar O-Too-Sama hatte für eine Weile sein Gesicht verloren. „Das tut mir leid…“, murmelte sie, auch wenn sie wusste, das Mitleid einem den verlorenen Menschen auch nicht zurückbrachte. Wie oft hatte sie diese Worte schon gehört… und trotzdem waren Lucia und Luciano tot. Zwar heilt die Zeit alle Wunden, doch Narben bleiben trotzdem zurück. Lissis Taktgefühl machte ebenfalls dem einer Rosine Konkurrenz, als sie meinte: „Das ist ja furchtbar! Das wäre garantiert ein richtig hübsches Mädchen geworden, mit feurig roten Locken und eisblauen Augen. Ich glaube, insgesamt wäre sie eher nach Samira gekommen, auch was ihr Temperament betrifft, aber gleichzeitig könnte sie auch die Ruhe in Person sein, so wie ihr Vater. Genau, wie Feuer und Eis!“ „Lissi!“, riefen einige der Mädchen vorwurfsvoll. Herr Yoru winkte ab. „Ist schon gut. Allerdings ist es in der Familie Yoru bisher so gewesen, dass es immer ein Junge wurde.“ „Ach sooo.“ Lissi überlegte. „Na ja, also ich glaube, der Junge wäre etwas ausgeglichener… Nein, er würde eher sogar nach seinem Vater kommen. Er hätte ein ziemlich feines Gesicht mit hellblonden, glatten Haaren und den nachtschwarzen Augen von Jacob. Irgendwie so, wie…“ Verwirrt fragte sich Laura, warum Lissi plötzlich abgebrochen hatte. So wie wer? Andere schienen nicht so langsam zu sein, denn sie merkte, wie mehrere Blicke in ihre Richtung gingen. „Ähm… Wann war das noch mal, als ihr gleichzeitig diese Pause eingelegt habt?“, erkundigte Carsten vorsichtig, als wüsste er die Antwort bereits. Herr Yoru lächelte. „Vor etwa siebzehn bis achtzehn Jahren.“ Worauf wollt ihr hinaus?, wollte Laura fragen. Auffordernd schaute sie Carsten an, um sich nicht völlig zu blamieren, doch dieser wiederum blickte betroffen zu Benni. Laura wandte sich ihm zu, um zu sehen, was los war. In Bennis Augen sah sie Überraschung und Ratlosigkeit, aber auch Trauer und Zorn. Seine Stimme wirkte unheimlich unterkühlt, als er fragte: „Ihr seid meine Eltern?“ Kapitel 34: Neuanfang ---------------------    Neuanfang       „Hä?“ Verwirrt schaute Laura von Benni zu Jacob und Samira Yoru und zurück. Erst jetzt fielen ihr die Ähnlichkeiten auf, die auch Lissi so zum Stutzen gebracht hatten. Ein trauriges Lächeln zeichnete sich auf Samira Yorus Lippen ab, als sie die Vermutung aller mit einem Nicken bestätigte. Laura wandte sich begeistert an Benni und wollte schon: ‚Das ist ja wunderbar, du hast endlich deine Eltern gefunden!‘ rufen, als sie bemerkte, dass er gar nicht so erfreut war wie sie. Eher das Gegenteil… „Warum?“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Langsam wichen seine Überraschung und Ratlosigkeit und der Zorn gewann die Oberhand. „Warum habt ihr mich im Stich gelassen?!“ Herr Yoru, nein, Bennis Vater schüttelte beruhigend den Kopf. „Wir haben dich nicht im Stich gelassen.“ „Nein, natürlich nicht.“ Bennis Sarkasmus hatte etwas unaussprechlich Bedrohliches. „Ihr habt einen Säugling, kaum ein paar Stunden alt, im Wald ausgesetzt, als würdet ihr es dem Zufall überlassen, ob er überlebt oder nicht.“ „Das haben wir aber nicht!“, widersprach Samira, in ihrer Stimme klang deutlich die Verzweiflung einer Mutter. „Benni, Schatz-“ „Komm mir jetzt nicht mit Schatz!“ Benni war aufgesprungen und ballte die Hände zu Fäusten, die vor Zorn zitterten. Dunkelrote Flecken breiteten sich auf den weißen Verbänden aus. Laura war vor Schreck und Angst zurückgewichen und klammerte sich an Arianes T-Shirt. Sie konnte sich nicht daran erinnern, Benni jemals wütend erlebt zu haben… „Benni, nichts wurde dem Zufall überlassen.“, versuchte Florian ihn zu beruhigen. „Es war alles mit deinen Eltern abgesprochen. Eufelia hatte Wolf extra losgeschickt, um dich zu holen.“ Wie als würde er es bestätigen, bellte Wolf, den Laura erst jetzt gemeinsam mit Chip und Raven bemerkte. Bennis Augen verschmälerten sich nur ein bisschen, doch allein dieser Blick ließ das Blut in ihren Adern gefrieren. Ein Blick so eisig kalt, wie die stürmische Januarnacht, in der er ausgesetzt wurde. „Ihr wusstet davon?“ Wolf ließ die Ohren hängen und winselte, während Florian verlegen den Blick abwandte und erklärte: „Ich war nicht von Anfang an eingeweiht, war aber der einzige, der bei deinem Auftauchen überrascht war. Als ich schließlich fragte meinte Konrad, sie hätten bereits mit dir gerechnet.“ „Ihr habt mich mein Leben lang belogen?“ Bennis Stimme war genauso kalt wie sein Blick, doch Laura konnte heraushören, wie diese Erkenntnis ihm einen Pfeil durchs Herz jagte. Florian öffnete den Mund um ihm zu widersprechen, schloss ihn aber wieder. In Benni schienen sich all seine negativen Gefühle zu bekriegen. Verzweiflung, Enttäuschung, Verständnislosigkeit, Kummer und nicht zuletzt der Zorn, der sich immer noch am ehesten durchsetzen konnte. Laura biss sich auf die Unterlippe. Trotz der Angst, die sie gerade vor Benni hatte konnte sie seine Gefühle verstehen. Eufelia hatte ihm beigebracht, dass Aufrichtigkeit eine der wichtigsten Tugenden war. So hatte Benni nie, wirklich nie gelogen, hatte sein Leben lang nur die Wahrheit gesagt, nur um zu erfahren, dass er selbst sein ganzes Leben lang belogen wurde. „Wir wollten dich nur beschützen, Benni. Du musst uns glauben!“, flehte Samira ihren Sohn an. „Schön, dass ich euch gerade dann glauben soll, wenn ich feststellen muss, dass alles, was ich bisher geglaubt habe eine Lüge war.“, erwiderte Benni sardonisch.  „D-das stimmt nicht!“, hörte Laura sich verzweifelt schreien, doch Benni schenkte ihr keine Beachtung. „Gibt es noch mehr?“, fragte er mit grausam schneidender Stimme. „Gibt es noch mehr Lügen, von denen ich wissen sollte?“ Alles an ihm, seine gesamte Ausstrahlung, war auf einmal so furchteinflößend und gefahrvoll, dass sich Laura zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte, Benni wäre der ruhige, gefühlskalte Junge, bei dem sie sich nie sicher war, was er nun für sie empfand und warum sie sich ausgerechnet in ihn verlieben musste. Mit einem schummrigen Gefühl erkannte sie, dass eine Wolke wabernder schwarzer Energie um Bennis Körper pulsierte, die nur darauf wartete, dass er seine Selbstbeherrschung verlor. Laura schluckte schwer. Sie hatte Angst… „Wir haben dich nicht belogen, Benni!“ Samira blieb stur. „Wir wollten dich nie verletzen, wir lieben dich!“ „So ein Unsinn!“ Mit einem Schlag breitete sich die ganze pechschwarze Finsternis aus, die Benni umgab. Sie verschlang alles im Raum, fraß sich die Wände entlang und wand sich um alles, auf das sie traf. Laura hörte einige aufschreien, als die Finsternis-Energie sie überfiel und dieses Mal war es Ariane, die sich panisch an Lauras T-Shirt krallte. Sie selbst spürte gar nichts, nur erdrückende Sorge und die lähmende Angst um und vor Benni. Sie schaute an sich hinunter. Rauchartige Energie wandte sich um sie, als würde sie sie verschlingen wollen oder zumindest zerquetschen, so wie Florians Ranken Eagle die Luft abgeschnürt hatten. Doch aus irgendeinem Grund schadete sie ihr nicht. Sie umgab sie mit ebenso pulsierenden Flammen, wie Benni, als wären sie auch ein Teil von ihr. Laura schauderte. Sie waren ja auch ein Teil von ihr. Sie war die derzeitige Besitzerin des Schwarzen Löwen, dem Herrscher der Finsternis. Die Finsternis würde ihr also gar nichts anhaben können! Fieberhaft schaute sich Laura um, konnte aber nichts erkennen. Sie hörte nur, wie Carsten verzweifelt schrie: „Benni, hör auf!!!“ Doch Benni hörte nicht auf. Laura biss sich auf die Unterlippe. Sie war anscheinend die einzige, die in der Lage war, Benni davon abzubringen, alle anderen zu verletzen… Aber wie sollte sie ihn aufhalten? „Uns blieb damals keine andere Wahl, Benni. Hör uns doch bitte erst einmal zu.“, drang die Stimme von Jacob Yoru durch die Finsternis zu ihnen, der unter diesen Umständen erstaunlich ruhig klang. Benni antwortete nicht, doch Laura erhaschte einen kurzen Blick auf das blutrote Flackern seines rechten Auges. Ohne überhaupt zu verstehen was sie tat, sprang sie auf. „Benni, bitte hör ihnen zu! Du weißt doch ganz genau wie es ist, wenn man noch nicht einmal die Möglichkeit hat, etwas erklären zu können! Wie es war, als ich dir damals bei Max nicht zugehört hatte, oder wie du uns letztens noch nicht einmal über dieses Missverständnis aufklären konntest. Bitte, mach nicht denselben Fehler wie wir!“ Laura konnte ihren Augen kaum trauen, als sich der Nebel aus Finsternis etwas lichtete und sich nur noch wenige Rauchschwaden zwischen ihr und Benni befanden. Die düstere Aura ließ seine hellen Haare wie im Wind wehen und er musterte sie aus seinem ausdruckslosen, leer wirkenden schwarzen Auge und dem unheimlichen, bedrohlich leuchtenden roten Auge. Laura schluckte einen metallischen Geschmack herunter und griff nach Bennis Händen, die er immer noch zu Fäusten geballt hatte, nahm sie aber nur ganz vorsichtig, um seine Wunden nicht noch mehr aufzureißen. „Gib ihnen doch wenigstens eine Chance…“ Benni senkte den Blick und nach und nach kehrte der schwarze Nebel wieder zu ihm zurück, bis er schließlich ganz verschwunden war. Erleichtert atmete Laura auf. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Die anderen wirkten zwar alle sehr erschöpft, schienen aber ansonsten unverletzt zu sein. Vorsichtig ließ Laura Bennis Hände wieder los, aber nur, um ihn kurz darauf in eine sanfte Umarmung zu ziehen. Ihr Gesicht fühlte sich furchtbar erhitzt an, als sie erkannte, was sie da gerade tat. Dennoch lehnte sie ihren Kopf vorsichtig gegen seine Brust und schloss die Augen, als könnte sie damit die Anwesenheit der ganzen restlichen Gruppe wenigstens ausblenden. Ihre nicht stattgefundene Dämonenprüfung, das Feuer, Eufelias Tod, Bennis Verletzungen… Es war schon mehr als genug in den letzten Tagen passiert. Laura hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als sich einfach nur noch an Benni zu kuscheln, unbeachtet dessen, was um sie herum geschah. Es sollte nur noch sie und ihn geben, den ganzen Rest wollte sie vergessen. Doch natürlich ließ sich dieser Rest nicht einfach so ausradieren. Deutlich verlegen räusperte sich Öznur. „Alles in Ordnung?“ Benni schob Laura von sich, die ihr hochrotes Gesicht nun nicht mehr in seinem Hemd verstecken konnte. Aber immerhin war seine Berührung überraschend sanft, was zwar nicht wirklich dazu beitrug, dass sich ihr Herz wieder beruhigte, sie allerdings optimistisch als gutes Zeichen deutete. Es gab in letzter Zeit einfach viel zu wenige gute Zeichen. „Diese Frage sollte ich an euch richten.“, erwiderte Benni nach kurzem Zögern. Ariane schnaubte empört. „Ja, solltest du. Aber da das zum ersten Mal in deinem Leben eine menschliche Reaktion war, schauen wir drüber hinweg.“ Jannik warf Bennis Eltern einen kritischen Blick zu. „Aber ich hoffe wirklich für euch, dass ihr einen triftigen Grund hattet…“ „Das wird Benni selbst entscheiden müssen.“, meinte Herr Yoru seufzend und wies Benni und Laura an, sich wieder zu setzen. Laura nahm sofort auf ihrem Stuhl Platz, da sie befürchtete, ihre zitternden Knie würden irgendwann ihren Dienst versagen. Auch Benni setzte sich immer noch zögernd hin. Sein misstrauischer Blick war fest auf seine Eltern gerichtet. Herr Yoru verschränkte die Finger, als er erklärte: „Zum Verständnis werde ich etwas ausholen müssen, genauer gesagt bis zum Magischen Krieg, bei dem alles seinen Anfang hatte. Ihr wisst ja, der Purpurne Phönix, der Herrscher der Zerstörung, der Unzerstörbare oder auch einfach nur Mars genannt, war derjenige, der diesen Krieg angezettelt hatte. Dieses Wissen wird euch im Geschichtsunterricht allerdings nichts bringen, denn Mars hat so geschickt im Verborgenen agiert, dass keine Quelle ihn erwähnen konnte und stattdessen meine Ahnen als Sündenbock dastehen mussten.“ Ariane schmollte. „Das heißt, da bekommen wir schon Nachhilfe in Geschichte und können mit unserem Wissen noch nicht einmal punkten?“ Herr Yoru nickte. „Wie gesagt, mit seiner Macht hat Mars es geschafft, einen solchen Hass zwischen den Kampfkünstlern und den Magiern zu sähen, dass dieser in einem Krieg endete, der gesamt Rutoké zerstörte, zu dem Damon damals auch noch gehörte. Die Ironie dabei war, dass der Erbe des Yoru-Clans, Leonhard Yoru, seinerzeit mit einem Mädchen verlobt war, das sowohl Magierin als auch Kampfkünstlerin war. Solche Leute wurden von dem Volk geächtet. Sie beherrschten immerhin beide Seiten der antiken Begabung, ebenso wie das Volk der Dryaden. Coeur, also Leonhards Verlobte, und ihre jüngere Schwester Eufelia wuchsen bei den Dryaden auf, die sie in beiden Seiten ihrer Begabungen unterrichteten. Doch genauso wie alle anderen, wurde auch dieser Stamm der Dryaden eines Tages angegriffen. Es heißt, Coeur und Eufelia hätten als einzige diesen Angriff überlebt, da Leonhard ihnen noch rechtzeitig zu Hilfe gekommen war.“ Florian nickte betrübt. „Stimmt, der Magische Krieg sei angeblich die Ursache für das Aussterben der Dryaden gewesen.“ „Jedenfalls hat Leonhard in Erfahrung bringen können, wer die Fäden von all dem in der Hand hatte und so kam es, dass er gemeinsam mit Coeur und Eufelia den Intrigenspinner ausfindig gemacht und bekämpft hat.“ „Sie haben gegen einen Gottesdämon gekämpft?“, fragte Janine ungläubig. „Ich dachte, man könne ihn nicht besiegen…“ Jacob Yorus Lächeln hatte eine gewisse Genugtuung. „Man kann einen Dämon zwar nicht töten aber sie hatten ihn in die Tiefen der Unterwelt bannen können. Eufelia war bereits damals die Besitzerin des Durchsichtigen Drachen gewesen und Coeur war die Besitzerin des Silbernen Pegasus, dem Herrscher der Erhaltung und der zweite der drei Gottesdämonen. Deswegen und weil sie so stur war, hatte Leonhard sie schließlich überhaupt zu dem Kampf mitnehmen müssen, denn obwohl die beiden ‚nur‘ verlobt gewesen waren, war Coeur bereits schwanger.“ „Moment mal, aber sie haben Mars doch bannen können, oder?“, hakte Eagle nach. Herr Yoru nickte als Antwort. „Das bedeutet doch, dass mit ihrem Sieg über Mars der Magische Krieg zu Ende war. Aber es heißt, dass Leonhard Yoru noch während des Krieges gestorben sei.“, fuhr Eagle verwirrt fort. „Das stimmt so mehr oder weniger…“, erklärte Herr Yoru. „Kurz bevor sie den Bann vollenden konnten, packte sich der Purpurne Phönix Leonhard und zog ihn mit sich in die Tiefe. Ob und wann genau er gestorben ist kann also niemand sagen. Das war auch der Grund, warum der Bann nicht von Dauer sein konnte, da sie ihn nicht vollenden konnten. Mit Coeurs Tod vor etwa achtzehn Jahren wurde er noch schwächer und jetzt, nachdem Eufelia gestorben ist, existieren unter Garantie einige Schlupflöcher, durch die Mars in der Lage ist, sein Gefängnis zu verlassen.“ Ein eisiger Schauer überkam Laura. Also hielt nur noch eine löchrige magische Wand den Unzerstörbaren davon ab, die gesamte Welt zu zerstören? „Und was hat das mit mir zu tun?“, fragte Benni kühl. Du bist ein Teil dieser Welt!, fuhr Laura ihn in Gedanken an, als sie bemerkte, dass das sicher nicht der Grund war, warum seine Eltern ihn ausgesetzt hatten. Samira Yoru seufzte. „Ich wünschte, gar nichts. Nach dem Krieg hat man Coeur davon ‚abgeraten‘, die Regierung zu übernehmen aber Leonhards Vater hat sie trotzdem als Leonhards Frau und Erbin des Yoru-Clans akzeptiert. Auch wenn der Yoru-Clan seitdem nicht mehr die Herrscherfamilie war, hat sich Coeur mit aller Kraft engagiert. Zum Beispiel hat sie die Coeur-Academy gegründet, in der sie bis zu ihrem Tod auch gelebt hat. Zu dem Zeitpunkt war ich bereits im dritten Monat mit dir schwanger… Coeur war es, die uns geraten hat, eine Auszeit zu nehmen und in das Schloss in Rutoké zu ziehen, das der Familie schon seit dem ersten Herrscher gehört hat.“ „Kein Wunder, dass du keine Geburtsurkunde hast, wenn du in Rutoké auf die Welt kamst.“, sinnierte Carsten und warf Benni einen kurzen Blick zu. „Aber warum habt ihr ihn ausgesetzt?!“, fragte Janine besorgt. „Wir wussten, dass Coeur einen Grund haben musste, warum sie uns geraten hat, Damon vorerst zu verlassen. Diesen Grund haben wir schließlich von dem Schwarzen Löwen erfahren. Der damalige Besitzer Jonathan kam etwa drei Monate vor deiner Geburt zu uns.“, erklärte Herr Yoru. Überrascht hob Jannik den Kopf. „…Mein Vater?“ Herr Yoru nickte. „Er hat uns die Nachricht des Schwarzen Löwen überbracht. Dieser meinte, durch die Geburt unseres Sohnes würde ein neues Zeitalter anbrechen. Leonhard war der letzte der Familie Yoru mit einer antiken Begabung gewesen, also musste es irgendeine Bedeutung haben, dass Benni seit Generationen der erste Yoru war, der wieder in der Lage wäre, zu kämpfen.“ „Na und?“, fragte Laura empört. Das konnte doch nicht ernsthaft der Grund sein, warum Benni ohne seine Eltern aufwachsen musste. Dass er mit dem Gedanken leben musste, dass seine Eltern ihn hassten und für ein Monster hielten! Herr Yoru winkte ab. „Ich weiß, es klingt sehr banal. Aber betrachte es mal aus der Sicht von Mars. Der erste Yoru seit Leonhard, der wieder kämpfen konnte, der ihn wieder würde bekämpfen können. Er hätte es als eindeutige Bedrohung interpretiert. Deshalb durfte er nichts von dir erfahren, Benni.“ Anne runzelte kritisch die Stirn. „Er hätte sich vor einem Kind gefürchtet?“ Herr Yoru zuckte mit den Schultern. „Ja, im Prinzip schon. Genauer gesagt vor dem, was aus dem Kind wird. Ihr habt gesehen, wozu Mars fähig ist. Hätte er schon früher von Benni gewusst, hätte er ihn einfach… beseitigen können, bevor er wirklich zu einer Gefahr für ihn wird.“ Besorgt schaute Laura zu Benni, der den Blick abgewandt hatte und nur: „Das ist doch lächerlich.“, murmelte. Samira lachte auf, aber sie klang traurig und verbittert. „Dasselbe habe ich damals auch gesagt…“ Sie griff nach Jacobs Hand und Laura bemerkte, dass sie zitterte. „Glaub uns, das war die schwerste Entscheidung unseres Lebens. Wir wussten nicht, was wir machen sollten. Einerseits wollten wir dich beschützen, aber andererseits… Du bist doch immerhin unser Kind! Wir konnten dich nicht einfach so weggeben.“ Herr Yoru nickte und drückte die Hand seiner Frau. „Wir konnten von Glück reden, dass Eufelia uns ihre Hilfe angeboten hat. Sie hat gesagt, wir sollten dich nach deiner Geburt an der Grenze zwischen Rutoké und Obakemori absetzen, um den Rest würde sie sich dann kümmern.“ „Halt mal!“, rief Ariane bestürzt. „Eufelia war doch Coeurs Schwester und Coeur ist Bennis… Ur-ur-ur-ur-Oma… oder so. Das heißt, er war mit ihr verwandt?!“ Laura warf Benni einen besorgten Seitenblick zu, doch dieser schaute schweigend auf den dunklen Holztisch. Lächelnd nickte Herr Yoru. „Ja, deswegen hatten wir auch Sorge, ob es wirklich eine so gute Idee war, Benni Eufelia anzuvertrauen oder ob Mars nicht bei ihr als erstes suchen würde. Aber eine Alternative hatten wir nicht.“ „Na ja… ein Waisenhaus?“, schlug Öznur vorsichtig vor. „Nein, wir brauchten jemanden, der Benni in seiner antiken Begabung lehrt. Zwar wissen Dämonen, ob ein un- oder neugeborenes Kind eine antike Begabung besitzt, aber sie können nicht sagen, welche. Deshalb war Eufelia die einzige und beste Lösung.“, widersprach Herr Yoru. „Ich sollte also von Anfang an eine Killermaschine werden.“, stellte Benni nüchtern fest, dennoch zuckte Laura bei dem Inhalt seiner Worte zusammen. „Du bist keine Killermaschine!“ Eagle zuckte mit den Schultern. „Na ja, er wird aufgrund seiner potentiellen Bedrohung, die er für Mars darstellt, ausgesetzt und von einer mächtigen, uralten Kampfkünstlerin und Magierin großgezogen, die rein zufälliger Weise gegen diesen Mars gekämpft hat. Nimm’s mir nicht übel, aber da liegt dieser Gedanke schon nahe.“ „Das war nur zu seinem Schutz!“, widersprach Samira Yoru aufgebracht. Herr Yoru legte die Hand auf die Schulter seiner Frau, als wolle er sie beruhigen. „Und was ist mit der Segnung? War die auch zu meinem ‚Schutz‘?“, erkundigte sich Benni und erneut schwang dieser unheimliche Sarkasmus in seiner Stimme mit. Herr Yoru seufzte bedrückt. „Das musst du den Schwarzen Löwen persönlich fragen… Wir wussten nur, dass du dadurch mehrere nützliche Fähigkeiten bekamst, mit denen du dich auch gut selbst schützen konntest.“ Eine Zeit lang herrschte Schweigen, bis Benni plötzlich aufstand und sich zum Gehen wandte. „Das ist absurd, ich glaube euch kein Wort.“ „So ein Unsinn, Benni!“, protestierte Janine. „Sie wollten dich wirklich beschützen, immerhin sind sie deine Eltern. Sie lieben dich!“ „Sie kennen mich gar nicht.“, entgegnete Benni distanziert. „Nun ja, nicht direkt.“, meinte Herr Yoru zögernd. Nahezu alle Anwesenden warfen ihm einen irritierten Blick zu, bis Frau Yoru aufstand. „Kommt bitte mit, wir möchten euch etwas zeigen.“ Immer noch verwirrt folgte die Gruppe Bennis Eltern aus dem Speisezimmer raus, die breite hölzerne Treppe hoch, deren Stufen von einem rot glänzenden Teppich bedeckt waren und den weiß vertäfelten Gang entlang, während sie immer wieder an Kerzenleuchtern, Vitrinen und dunklen Holztüren vorbeikamen. Vor einer dieser dunklen Holztüren blieb Frau Yoru schließlich stehen und öffnete sie. Staunend schaute sich Laura um. Der Raum, in den sie traten hatte eine andere Atmosphäre, als der Rest der Villa, den sie bisher gesehen hatte. Zwei große Bogenfenster an der gegenüberliegenden Wand ließen das Licht der Abendsonne in das Zimmer strömen und boten einen wunderschönen Ausblick auf den Garten, den Laura so gerne länger bewundert hätte. Die breiten Fensterbänke waren mit dunkelrotem Samt bedeckt und luden regelrecht dazu ein, sich drauf zu setzen und in Ruhe zu lesen. Die Möbel waren alle aus dunklem Holz gefertigt und es standen mehrere Pflanzen im Zimmer herum. Ein kleines Bäumchen, ein Bonsai und mehrere kleine Rosenstöcke in Blumentöpfen auf dem Sekretär und den Nachttischen links und rechts vom ordentlich gemachten Bett, auf dem ein Teddybär auf der schwarzen Tagesdecke saß. Statt sich zu fragen, was ein Teddy hier zu suchen hatte, fielen Laura die unzählig vielen Holzfiguren auf, die allesamt ordentlich auf einer Kommode gegenüber vom Bett standen. Sie waren alle individuell, bestanden mal aus hellerem und mal aus dunklerem Holz, doch es waren nur Tiere. Keine menschlich aussehenden Kreaturen, sondern Katzen, Löwen, Wölfe, Rehe, Hasen und viele mehr. In der Mitte ragte ein im Verhältnis zu den anderen Tieren gigantischer Drache empor, der anmutig auf einem Felsen stand und die Flügel ausbreitete, als würde er jeden Moment losfliegen. Was Laura ihm auch zutraute, so lebensecht, wie diese Figur wirkte, obwohl sie angeblich nur aus Holz bestand. Auch wenn Laura dieses Zimmer eben zum ersten Mal sah, kam es ihr merkwürdig vertraut vor, als wäre sie schon ganz oft hier gewesen. „Ist das…“, setzte Carsten an, der sich wie der Rest ebenso neugierig umgeschaut hatte und dem anscheinend wie Laura das Zimmer ebenso vertraut vorkam. Frau Yoru lächelte melancholisch. „Ja, das ist Bennis Zimmer. So mehr oder weniger.“ Auch Janine schien überwältigt. „Sie… Ihr hattet schon immer ein Zimmer für Benni?“ Herr Yoru seufzte. „Samira… Nein, wir beide konnten es nicht wirklich verkraften, unser Kind einfach so… vollständig aus unserem Leben zu verbannen, als ob wir nie eins gehabt hätten…“ „Da kamen wir auf die Idee, ein Zimmer für Benni einzurichten, als wäre er nur… auf einem Ausflug oder so. Das half uns, das alles zu bewältigen.“, fuhr Frau Yoru bedrückt fort und schaute Benni aus ihren traurig glänzenden eisblauen Augen an. „Du solltest immer einen Ort haben, zu dem du zurückkehren konntest, selbst wenn du davon bis jetzt noch nichts wusstest.“ Irgendwie war Laura von all dem gerührt. Dieses Zimmer war so etwas wie der Beweis, dass Bennis Eltern ihn wirklich nie hatten aussetzen wollen, dass sie ihn schon die ganze Zeit geliebt hatten. Benni schien irgendetwas erwidern zu wollen, schwieg aber weiterhin. Stattdessen ging er zum Bett und nahm den Teddy in die Hand, um ihn zu betrachten. Laura hätte erwartet, dass dieser Anblick seltsam wäre, wie Benni den Teddy mit einer Mischung aus Distanz und Zuneigung musterte, als würde er Erinnerungen wecken. Doch stattdessen wurde ihr schwer ums Herz. Dieser Teddy repräsentierte immerhin so was wie Bennis verlorene Kindheit und sogar Benni selbst schien dieses Wissen ein bisschen wehmütig werden zu lassen.  „Ist das der Bär, den du damals von Nicolaus geschenkt bekommen hattest?“, fragte Öznur neugierig. Benni nickte. „Ich dachte Eufelia-Sensei hätte ihn entsorgt.“ „Nein, hat sie nicht.“, meinte Herr Yoru kopfschüttelnd. „Sie hat ihn uns geschickt, meinte aber, du solltest lernen, mit dem Verlust klarzukommen.“ Frau Yoru schnaubte empört. „Ihre Erziehungsmaßnahmen haben mich schon immer geärgert. Und dabei hattest du dich doch so gefreut, als mein Vater ihn dir geschenkt hatte. Hattest den Teddy überall dabei und wir hatten das Gefühl, dass du mit ihm ein Stück von uns hattest.“ Benni stutzte und Carsten sprach offensichtlich seine Gedanken aus, als er meinte: „Nicolaus ist dein Vater? Er ist Bennis Opa?“ Laura klappte die Kinnlade herunter. Benni ist mit dem Weihnachtsmann verwandt? Frau Yoru nickte lächelnd. „Mein Vater hatte eine Art Verbindung zwischen uns und Eufelia hergestellt. Als wir meinten, er solle dich nicht zu oft besuchen es sei zu gefährlich, erwiderte er nur, keine Gefahr der Welt könne ihn davon abhalten, seinen Enkel zu sehen.“ Sie seufzte. „Wie sehr ich ihn darum beneidet habe.“ Bennis Mutter ging zu einem Bücherregal, welches komplett mit Ordnern gefüllt war und zog einen dieser Ordner hervor. Es war ein Fotoalbum, wie Laura erkannte, als sie es aufschlug und mehrere Bilder von Benni zu sehen waren, als er noch jünger war. „Es ist nicht dasselbe, sein eigenes Kind nur aufwachsen zu sehen oder es mitzuerleben.“, erklärte Frau Yoru bedrückt. „Aber immerhin war dieser Weg besser als gar nichts.“ Inzwischen hatten sich einige der Mädchen weitere Fotoalben aus dem Regal geangelt und schauten sie durch. Im Laufe der Zeit hatte Laura fast vergessen, wie süß Benni damals war. Na gut, als sie in diesem Alter war hatte sie sich keinen Kopf darum gemacht, dass kleine Kinder für gewöhnlich süß waren, aber wenn sie jetzt den kleinen Benni betrachtete, mit den großen Augen und dem im Vergleich zu seinem kleinen Körper relativ großen Kopf konnte sie verstehen, warum es Bennis Eltern so schwer gefallen war, als sie ihn hatten aussetzen müssen. Er war einfach zum knuddeln. Dem großen Benni schien es allerdings zu missfallen, dass seine Kinderfotos so begeistert begutachtet wurden. „Wer außer Eufelia und Nicolaus war sonst noch eingeweiht?“, fragte er nüchtern. Herr Yoru überlegte. „Die Familie Ritus wusste auch, dass wir deine Eltern sind, ebenso Saya und Sisika.“ Eagle schaute überrascht von einem der Fotoalben auf. „Meine Mutter?“ Frau Yoru nickte. „Wir drei, also Saya, deine Mutter und ich, waren sehr gute Freunde.“ „Das ist noch untertrieben, die drei waren unzertrennlich.“ Herr Yoru wirkte amüsiert und bedrückt zugleich. „Ich weiß nicht, was aus Samira geworden wäre, nachdem wir Benni… abgegeben hatten, wären Saya und Sisika nicht gewesen.“ Eagle wandte den Blick ab und betrachtete den Sonnenuntergang. „Eigentlich weiß ich gar nichts über meine Mutter… Nur, dass sie scheinbar ein sehr großer Vogelfan war.“ Freudlos lachte er auf. „Sonst hätte sie mich wohl kaum so genannt.“ „Du hast ihr sehr viel bedeutet.“, meinte Frau Yoru bestimmt. Eagle erwiderte zwar nichts, doch man konnte ihm ansehen, dass ihn der Verlust seiner Mutter immer noch belastete. Mitleidig senkte Laura den Kopf. Auch wenn sie ihn nie wirklich leiden konnte, weil er nun mal so ein Arschloch war, hatte sie ihn doch immer insgeheim um seinen starken Charakter bewundert. Doch dieser Eagle, dem immer noch etwas an seiner Mutter lag, schien nicht wirklich stark. Er schien verzweifelt, verletzlich und verloren. Als würde sie dadurch die Situation retten können, quietschte Öznur plötzlich auf. „Oh mein Gott, bist du das Laura?!?“ Verwirrt betrachtete Laura das Foto, das Öznur begeistert in die Höhe hielt, als würde sie es jedem im Raum präsentieren wollen. Auf dem Bild war, wie eigentlich auf allen Bildern, Benni zu sehen, als er etwa vier Jahre alt war. Äußerlich war er noch kein Dämonengesegneter, denn sowohl sein linkes als auch sein rechtes Auge war pechschwarz. Es gehörte wohl zu den wenigen Bildern, auf denen Benni wirklich aus vollem Herzen lachte, was wohl daran lag, dass ein etwas jüngeres Mädchen mit kurzen, honigblonden Haaren auf seinen Schultern saß, das sich leicht panisch und lachend zugleich an seinen verstrubbelten weißblonden Haaren festkrallte. Und dieses Mädchen war… Laura selbst. Sie spürte, wie ihr Gesicht knall rot anlief. „Ja, das bin ich… Wieso?“ „Das ist ja total süß!“, rief Ariane prustend. „Du und Benni, ihr beide habt schon immer ein prima Duo abgegeben.“, kommentierte Carsten amüsiert, was dafür sorgte, dass Lauras Gesichtsfarbe einen noch dunkleren Rotton annahm. Lissi seufzte theatralisch. „So schwer es mir auch fällt, ich muss Cärstchen Recht geben. Lauch, du und Bennlèy ihr passt wirklich gut zusammen.“ „Also ist es beschlossene Sache!“ Öznur schnippte mit den Fingern. „Ab heute seid ihr zwei offiziell zusammen.“ „W-was?!?“ Völlig überfordert mit dieser Situation konnte Laura ihre Freunde einfach nur noch anstarren und machte vermutlich ein ziemlich dämliches Gesicht dabei. Sie wusste nicht, an wen sie sich jetzt noch hilfesuchend wenden konnte, immerhin waren nun alle gegen sie. Na ja, gegen sie auf eine gewisse positive Weise, aber immer noch gegen sie. Alle, bis auf Benni. Doch an ihn konnte sich Laura auch nicht wenden, außer, sie wollte vor Scham endgültig im Boden versinken… Da fiel ihr auf, was war eigentlich mit Benni?!? Irgendwie müsste er doch nun reagieren, oder? Immerhin betraf ihn das Ganze auch… Nun wagte Laura doch einen Blick in seine Richtung und bemerkte zu spät, dass er auch zu ihr schaute. „Warum?“, war das einzige Wort, das er sagte. Lauras Herz setzte aus. Verstand sie seine Aussage richtig, dass er fragte, warum sie nun zusammen wären? War das die Antwort, die sie nun bekam? Er wollte nicht mit ihr zusammen sein, weil er nicht das für sie empfand, was man für jemanden fühlte, mit dem man zusammen war?!? Dass er nicht in sie verliebt war?!?!? Taumelnd wich sie einen Schritt zurück, ihre Knie zitterten und sie hatte das Gefühl, jeden Moment den Boden unter ihren Füßen zu verlieren, während sich mal wieder Tränen in ihren Augen sammelten, die Laura nur mit Mühe unterdrücken konnte. Von hinten legte jemand seine Hand auf ihre Schulter und Carstens Stimme klang nahezu beängstigend ernst, als er sagte: „Weil ihr schon immer zusammen gehört habt. Du weißt ganz genau, dass Laura dich liebt und wärst du nur endlich in der Lage, deine Gefühle zu verstehen, wüsstest du, dass du dasselbe für sie empfindest.“ Und ganz untypisch für Carsten, stieß er Laura von sich, sodass sie unbeholfen nach vorne stolperte und ganz sicher auf die Nase gefallen wäre, hätte Carsten sie nicht direkt in Bennis Arme geschubst. Mit wild pochendem Herzen und immer noch den Tränen in den Augen linste Laura nach oben, um Bennis Gesichtsausdruck zu sehen. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und Laura meinte, in Bennis schwarzem Auge tatsächlich einen Funken Zuneigung zu erkennen, ehe er seinen Blick überraschend schnell abwandte, während sich Wolf seinen bellenden Kommentar offensichtlich nicht verkneifen konnte. Frau Yoru kicherte: „Nicht dein Ernst, Benni. Du bist wirklich schüchtern?“ Laura merkte, wie Benni etwas erwidern wollte, letztendlich aber doch nichts dazu sagte. „Das hätte ich nun wirklich nicht gedacht.“, stellte Eagle sichtlich amüsiert fest. Anne stöhnte auf. „Das wird mir jetzt echt zu kitschig. Küsst euch endlich, sagt irgendetwas Gefühlvolles und Dramatisches oder macht sonst was, was man in dieser Situation halt macht und sagt mir, wann diese widerliche Schnulzerei vorbei ist und ich wieder hinschauen kann.“ „Ach Banani, das ist nicht widerlich, sondern süß!“, berichtigte Lissi sie empört. „Aber sie hat Recht, tatenlos rumstehen bringt euch nicht weiter. Macht irgendwas.“, forderte Florian Laura und Benni belustigt auf. Dieser grummelte irgendetwas unverständliches, ehe er Laura zur Überraschung aller Anwesenden in die Arme nahm. Ihr klopfendes Herz nahm Laura kaum mehr war, genauso wenig die Kommentare der anderen. Das einzige, was jetzt noch zählte, waren ihre Gefühle für Benni und dass er diese tatsächlich erwiderte! Überglücklich und auch erleichtert vergrub Laura ihr Gesicht in Bennis Hemd und sog seinen vertrauten Duft ein, welcher sich allerdings gerade mit einem leichten Blutgeruch vermischte. Vermutlich waren nur wenige Sekunden vergangen, bis Benni sie wieder losließ, doch Laura kam es wie mehrere Minuten vor. Dennoch war dieser plötzliche Abstand zwischen ihnen seltsam schmerzhaft und Laura hätte sich am liebsten wieder in seine Arme gekuschelt. Ariane ließ sich in das Bett, genauer gesagt in Bennis Bett, plumpsen. „Ach ja, das war heute doch wirklich ein produktiver Tag. Wir haben endlich mal genaue Infos über den Unzerstörbaren, öhm, Mars und unser eiskalter Engel hat seine beste Freundes-, Familien- und Beziehungskrise in den Griff bekommen.“ Öznur lachte auf. „Stimmt, du solltest dich freuen, Benni!“ Doch Benni verschränkte nur die Arme vor der Brust und senkte den Blick, was noch nicht einmal für seine Verhältnisse ein ‚sich freuen‘ war. Ariane seufzte. „Nein Benni, so reagiert man nicht, wenn man fröhlich ist.“ „Ich habe immer noch mein Zuhause und meine Pflegemutter verloren.“ Benni hob den Kopf und schaute Ariane mit seinem für ihn typischen ausdruckslosen Blick an. „Ich kann mich nicht freuen.“ Laura schaute zu Carsten rüber, der ihren Blick ebenso besorgt erwiderte. Niemand konnte zurzeit von Benni erwarten, dass er fröhlich sein sollte und trotzdem… Sein Kummer machte auch Laura traurig. Konnten sie ihn denn nicht irgendwie aufheitern? Konnte sie ihn denn nicht irgendwie aufheitern?!? Immerhin war sie jetzt sogar offiziell Bennis Freundin und als seine Freundin müsste sie ihn doch aufheitern können! Doch Laura hatte keine Ahnung, wie. Das war doch zum Verrücktwerden! Da war es zum ersten Mal so, dass Benni ihre Hilfe benötigte und genau dann fehlten ihr die richtigen Worte, die ihm Trost spenden konnten! Stattdessen war es Janine, die die richtigen Worte fand. „Niemand kann von dir verlangen, dass du dich freuen sollst. Eufelia-Sensei hat dir viel bedeutet und du trauerst um sie, das ist nun mal so. Und das ist auch richtig so. Deine Trauer macht umso mehr deutlich, wie sehr du sie geliebt hast. Aber das heißt nicht, dass du damit alleine bist. Viele von uns haben bereits jemanden verloren, der ihm wichtig war. Auch wenn du von diesen Gefühlen nun überfordert bist, wir können sie nachvollziehen.“ Ariane nickte zögernd. „Du reagierst endlich mal so, dass wir dich verstehen können…“ „…Und auch wenn wir dich nicht aufheitern können…“, fuhr Carsten mit seinem traurigen Lächeln fort, „…wir sind immer für dich da. Du bist nie allein.“ „…Danke…“ Obwohl Benni den Blick immer noch gesenkt hatte und das Wort nur leise über seine Lippen kam, konnte Laura seine Dankbarkeit regelrecht spüren. Anne schnaubte. „Fang mir aber jetzt bitte nicht an loszuheulen.“ Doch inzwischen waren sie alle Annes Kommentare gewöhnt und überhörten ihn gekonnt. Verunsichert nahm Laura Bennis linke Hand, die von den Verbrennungen verschont geblieben ist und drückte sie, um Carstens Worten einen Nachdruck zu verleihen. Ganz kurz erwiderte Benni den Händedruck, bevor Lissi die Atmosphäre wieder ruinieren musste. „Und jetzt heißt es Gruppenkuscheln, ihr Lieben!!!“ „Igitt, es ist doch schon kitschig genug.“, bemerkte Anne angewidert. Etwa zeitgleich verpassten Öznur und Ariane den beiden einen Schlag auf den Hinterkopf. „Und was dein Zuhause betrifft… Jetzt kannst du doch bei deinen Eltern wohnen.“, fiel Jannik erfreut auf. Florian nickte. „Stimmt, so wie ich dich kenne, wäre es dir sowieso unangenehm, wenn Konrad die Vormundschaft übernehmen würde.“ Laura schaute hoffnungsvoll zu Bennis Eltern und tatsächlich wies Samira auf das Zimmer. „Du bist hier immer willkommen.“ „Nein, das kann ich nicht.“, meinte Benni. Entgeistert starrte Laura ihn an. „Wieso nicht?“ „Weil es zu gefährlich ist.“, erklärte er. „Wenn ihr mich aufnehmen würdet, würde Mars spätestens über Lukas erfahren, wer meine wahren Eltern sind. Damals habt ihr mich ausgesetzt, um mich zu schützen… Nun kann ich aus dem umgekehrten Grund nicht zu euch zurückkehren.“ Nach einem betroffenen Schweigen meinte Herr Yoru schließlich: „Du brauchst uns nicht zu beschützen, Benni.“ Doch Benni schüttelte den Kopf. „Ich habe bereits sowohl Victor und Verona als auch Eufelia-Sensei verloren, die mich wie ihren eigenen Sohn großgezogen haben…“ Laura konnte die Gefühle nicht deuten, mit denen er seine Eltern nun ansah. „Euch kenne ich kaum, dennoch möchte ich nicht auch noch meine leiblichen Eltern verlieren.“ Erneut breitete sich ein Schweigen aus und jetzt schienen wirklich jedem die Worte zu fehlen. Benni wollte nicht zu seinen Eltern zurück, um sie zu beschützen. Weil er Angst hatte, sie auch noch zu verlieren… Lauras Herz zog sich zusammen. Auch wenn Benni seine Gefühle nicht verstand, wenn er vermutlich noch nicht einmal wusste, warum er das gesagt hatte: aus Angst um seine Eltern… Sie verstand ihn. Sie konnte diese Gefühle verstehen, so wie jeder andere in diesem Raum. Alle waren von Bennis Entscheidung bewegt. Denn trotz allem hatte er diese Entscheidung getroffen. Die schmerzhafteste… aber die richtige. Herr Yoru verschränkte die Arme vor der Brust und senkte den Kopf, eine Geste, die Laura sofort an Benni erinnerte, wie sie überrascht feststellte. „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde das könnten wir nicht nachvollziehen… So schmerzlich es auch ist, dich erneut gehen lassen zu müssen, wir respektieren deinen Entschluss.“ „Aber denke bitte daran, dass du bei uns immer willkommen sein wirst.“, fügte Frau Yoru mit einem traurigen Lächeln hinzu. „Und wenn das alles vorbei ist… Vielleicht können wir dann endlich eine Familie sein.“ Kapitel 35: Ein neuer Abschnitt ------------------------------- Ein neuer Abschnitt Laura holte tief Luft und verließ den Bus zusammen mit weiteren Menschen, die entweder in der Kampfkünstler- oder Magier-Uniform der Coeur-Academy steckten und wie sie durch das gewaltige Holztor ihrer Eliteschule gingen. Das letzte Mal, dass Laura das Tor mit so vielen Menschen durchschritten hatte, war zum Schulbeginn nach den Weihnachtsferien gewesen. Dieses Mal war es das Ende Osterferien. Und das waren vermutlich die letzten Ferien, die Laura je gehabt hatte… Seufzend ging sie Richtung Mädchenhaus, während ihre trüben Gedanken sie beherrschten. Heute war der vierzehnte April, es war also nicht mal mehr ein Monat bis zu ihrem Geburtstag. Und bis zu ihrem Todestag… Für sie stand es fest: Der Schwarze Löwe würde sie garantiert verlassen. Laura wäre schleierhaft, wie er sich jetzt noch anders entscheiden könnte. Sie hatte die letzte Ferienwoche viel Zeit gehabt um neben unnötigen Hausaufgaben, die die Lehrer einem aufgaben, weil sie dachten, dass man in den Ferien sowieso nichts Besseres zu tun hätte als zu lernen, auch noch nachzudenken. Nachzudenken über alles, was die letzte Zeit so passiert war. Und dieses Nachdenken hatte ihr offenbart, dass sie sich bei ihrer vermeintlichen Dämonenprüfung echt bescheuert benommen hatte. Verdammt, ich bin wütend und heulend aus dem Schrein des Schwarzen Löwen gestürzt, obwohl er mir auch noch zugerufen hatte, ich solle warten! Laura packte den Griff ihres Koffers so fest, dass ihre Knöchel weiß hervorstachen, während sie ihn die Treppe hochhievte. Diese Reaktion war nicht nur oberpeinlich, sondern auch noch extrem respektlos und kindisch gewesen. Bedrückt holte sie den Schlüssel für das Zimmer heraus, welches sie sich mit Ariane hier an der Akademie teilte, stellte kurz darauf allerdings fest, dass das Zimmer gar nicht verschlossen war. Vorsichtig öffnete Laura die Tür, da sie einen Hinterhalt befürchtete. Anscheinend sprang der Verfolgungswahn ihres Vaters inzwischen auch auf seine Tochter über. Aber nichts dergleichen geschah und Laura konnte sich trotz ihrer depressiven Stimmung ein Kichern nicht verkneifen. Das Zimmer war eigentlich ordentlich und sauber, nur auf Arianes Bett lag ein geöffneter Koffer, dessen Inhalt auf dem ganzen Bett und teils auch auf dem Boden verteilt war und die linke Zimmerhälfte dadurch in das reinste Schlachtfeld verwandelte. „Laura, hi!“, rief jemand begeistert und Lauras Erwartung eines Hinterhalts bestätigte sich schließlich doch noch, als dieser jemand sie von hinten ansprang und in einer erwürgenden Umarmung packte. „Hi…“, keuchte Laura, bis Ariane endlich bemerkte, dass ihre Begrüßung ein bisschen gesundheitsschädigend war und sie befreite. „Hey, Laura!“, grüßte Öznur fröhlich, die gemeinsam mit Susanne, Lissi und Janine aus dem Zimmer gegenüber von Lauras und Arianes kam. Laura versuchte, mit einem Lächeln ihre trüben Gedanken zu verscheuchen. Immerhin wollte sie die gute Laune der anderen nicht vermiesen und ihr selbst täte etwas Lachen sicher auch mal ganz gut. Aber es gelang ihr nur zum Teil. „Wie waren deine restlichen Ferien?“, fragte Susanne freundlich. Laura war froh, dass sich Susanne anscheinend wieder etwas von ihrem traumatisierenden Erlebnis bei ihrer Dämonenprüfung erholt hatte. Doch sie bemerkte, dass Susannes Lächeln ebenso erzwungen wirkte wie Lauras. „Na ja… Eigentlich tot langweilig.“, antwortete sie wahrheitsgetreu. „Hausaufgaben, malen und gammeln, wie immer eigentlich.“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Ich war eigentlich ganz froh, etwas Ruhe zu haben, nach der ganzen Aufregung in der ersten Woche.“ „Du hattest trotz deiner Stiefmutter noch Ruhe?“, fragte Öznur bewundernd und erinnerte dadurch alle Anwesenden an die fürchterliche, eingebildete Frau, die sich einfach so in Arianes Familie gedrängt hatte. Ariane seufzte bedrückt aber eine konkretere Antwort bekamen sie nicht von ihr, nur ein: „Können wir jetzt endlich was zu Abend essen?“ Öznur zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“ Gemeinsam gingen sie wieder die sechzig Stufen runter, über die sich Öznur immer noch beschwerte und verließen das Mädchenhaus, um zur Mensa zu gehen. Auf dem Weg dorthin kamen sie an dem Springbrunnen vorbei, der fröhlich vor sich hin plätscherte und auf dessen Rand seelenruhig Carsten saß und einen fetten Wälzer las, bis er bei Lissis gequietschtem „Cärstchen!“ aufschaute. „Hi, endlich seid ihr auch wieder hier.“, begrüßte Carsten sie erfreut. „Was heißt denn hier endlich?“, fragte Öznur empört. „Ich glaube, du bist der einzige, der sich über Schule freut…“, stellte sie kopfschüttelnd fest. Carsten zuckte mit den Schultern. „Schule ist weitaus angenehmer als… als andere Sachen, die ich kenne. Aber eigentlich meinte ich damit, dass es die letzten Tage hier so bedrückend einsam war…“ Ariane schaute ihn irritiert an. „Natürlich war es hier einsam, immerhin war keiner hier. Hallo, Damon an Carsten, es waren Ferien, falls du das noch nicht bemerkt hast.“ Seufzend legte Carsten das Buch zur Seite und malte Spiralen ins Wasser, die zu kleinen Strudeln wurden, als er fertig war. „Ich weiß.“, erwiderte er schließlich. „Aber wo hätte ich sonst hingehen sollen? Ich will nicht nach Indigo…“ Lauras Herz zog sich bei seinem Ton zusammen. So fröhlich er sie vorhin begrüßt hatte, so traurig klang er nun. Sie setzte sich neben ihn auf den Brunnen und versuchte dasselbe mit den Strudeln, stellte aber fest, dass das wohl Magiersache war. Am Tag nach Eufelia-Senseis Beerdigung und dem Treffen mit Herr und Frau Yoru hatte sich die Gruppe gespalten und alle waren nach Hause gefahren, um Ostern und die zweite Ferienwoche bei ihren Familien zu verbringen. Alle, nur Carsten offensichtlich nicht. „Du hättest doch bei mir und meinen Eltern bleiben können.“, meinte Laura. „Es war ohnehin total ätzend, plötzlich so ganz alleine zu sein.“ Carsten schüttelte den Kopf. „Ich wollte ihnen nicht zur Last fallen.“ Laura schnaubte. „So wie ich O-Too-Sama kenne, hätte er dich mit Freuden aufgenommen… Jedenfalls im Gegensatz zu Benni.“ „Ach so, wie läuft es eigentlich zwischen dir und Benni?“, erkundigte sich Öznur neugierig und ergänzte mit einem schelmischen Lächeln: „Immerhin seid ihr ja jetzt offiziell zusammen.“ „Weil du das ganz plötzlich so beschlossen hast.“, erwiderte Laura, während sie schon gar nicht mehr beachtete, dass ihr Gesicht bei diesem Thema knallrot wurde. „Ach komm schon, du- nein, ihr beide wolltet das doch auch. Ihr habt nur etwas Starthilfe gebraucht.“ Öznur lachte. Laura seufzte. Das war das zweite Thema, dass sie neben ihrem bevorstehenden Tod so belastete. „Nichts läuft zwischen uns.“ Auf den irritierten Blick der Mädchen hin antwortete Carsten schließlich: „Benni ist zu Konrad und Rina gegangen.“ Er schaute Laura aufmunternd an. „Und das braucht dich nicht im Geringsten zu frustrieren. Vielleicht kann Benni seine Gefühle noch nicht verstehen aber ich weiß ganz sicher, dass er dich sehr mag.“ Carsten seufzte und ließ das Wasser dieses Mal in kleinen Spiralen nach oben schweben. „Aber denkt dran, dass Benni immer noch sein Zuhause und seine Pflegemutter verloren hat… Selbst ihr konntet sehen, dass ihn das mitnimmt! Das war einfach alles zu viel für ihn…“ Betroffen senkten die Mädchen die Köpfe. Jeder konnte nur zu gut verstehen, dass Benni etwas Zeit für sich brauchte. Diese Zeit hätte er als Gast bei Laura garantiert nicht haben können… In einem Haus, in welchem der Hausherr ihn hasste und Laura vermutlich wie eine Klette an ihm gehangen hätte… Selbst Laura fiel auf, dass Benni zu dem Vampirpaar ein sehr vertrautes Verhältnis hatte. Er wäre also nirgends besser aufgehoben, als bei ihnen. „Stimmt Laura. Was Bennis Gefühle für dich betrifft… Da brauchst du dir überhaupt keine Sorgen mehr zu machen.“, meinte Janine aufmunternd. „Aber ich verstehe immer noch nicht, warum du ausgerechnet zur Schule zurückkehren musstest.“, wandte sich Öznur immer noch geschockt an Carsten. „Was machst du denn sonst so in den Ferien?“ Mit einem lauten Platsch fiel die Wasserspirale in sich zusammen. Carsten funkelte Öznur aus seinen lila Augen so wütend an, wie Laura ihn nur selten sah. „Falls ihr das vergessen habt: Meine letzten Ferien waren vor über sechs Jahren.“ Öznur schien wie der ganze Rest der Mädchen zu erstarren. Carsten war ein gesunder, fröhlicher und liebevoller Mensch, ein sorgenvoller und gutmütiger Freund, ein intelligenter Schüler und ein talentierter Magier, der seine Kräfte allerdings nur einsetzte, um die, die ihm wichtig waren zu verteidigen und zu retten. Er war jemand, den man nie im Leben auf das FESJ schicken würde. Und ja, Carsten hatte Recht. Sie hatten inzwischen vergessen, dass man ihn einst dorthin geschickt hatte. Carsten wandte sich bedrückt ab und wollte aufstehen und gehen, aber Laura hielt ihn an der Hand zurück. „T-tut mir leid. Es- es war wirklich nicht meine Absicht, dass…“, stotterte Öznur unsicher. „Ich dachte, ihr wolltet was essen gehen.“, meinte Carsten immer noch abgewandt. Laura biss sich auf die Unterlippe. Sie hatten ihn verletzt… Nicht nur Öznur, sie alle. Immerhin hatte keiner von ihnen mehr daran gedacht, was er vor einigen Monaten noch hatte durchstehen müssen. „Seitdem sind gerade mal zweieinhalb Monate vergangen…“murmelte Susanne befangen, während sie die Mensa betraten. Laura wollte schon fragen, hielt sich aber zurück, als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, dass Carsten leicht lächelte und nur „Stimmt.“ darauf erwiderte. Um Lauras besten Freund nicht vielleicht noch mehr zu verletzen, flüsterte sie zu Susanne: „Seit was sind gerade mal zweieinhalb Monate vergangen?“ „Seit er das FESJ verlassen hat.“, flüsterte sie zurück. „Echt?!“, rief Laura erschrocken auf. Das konnten doch nicht ernsthaft unter drei Monate gewesen sein! Sie hatte das Gefühl, dass Carsten schon ewig bei ihnen war! Er war Ende Januar zu ihnen gekommen… Immer wieder zählte Laura an ihren Fingern ab, wie viele Monate dazwischenlagen, aber sie kam immer nur auf zweieinhalb. Sie konnte einfach nicht glauben, dass so wenig Zeit vergangen war… „Hör auf damit.“, wies Carsten sie zurecht, als Laura nur noch auf ihre Finger und nicht mehr auf die Treppenstufen geachtet hatte und auch prompt über eine der Stufen gestolpert war. Er half ihr hoch und kurz darauf setzten sie sich an einen Tisch, an dem sich Ariane ziemlich bald wie immer mit einer Elfe streiten musste, weil es um irgendetwas zu essen ging, dass sie der Elfe zufolge nicht haben sollte. „Wie waren sonst eure Ferien?“, erkundigte sie sich, nachdem sie der Elfe endlich die Wurst abgeluchst hatte. Lissi zuckte mit den Schultern. „So wie immer, Süße.“ Öznur nickte. „Ja, bei mir war’s auch so… Endlich mal entspannen, mit den großen Schwestern shoppen, mit der kleinen Schwester spielen, sich mit dem Nachbarn streiten…“ Ariane lachte auf. „Du kannst ihm aber auch einfach nicht aus dem Weg gehen, oder?“
„Nein, wirklich nicht!“, entrüstete sich Öznur. „Der taucht einfach immer wieder auf! Ich habe ihn im Shoppingcenter getroffen. Im Shoppingcenter!“ Öznur fand das zwar nicht so witzig, wie der ganze Rest, aber immerhin hatte sie es geschafft, Carsten wieder aufzuheitern, wie Laura erleichtert feststellte.
„Warst du eigentlich bei deiner Mutter in Mur?“, fragte Susanne Janine. Diese nickte. „Übrigens danke für die Nachhilfe Carsten. Der Zauber hat problemlos funktioniert.“ Carsten schenkte ihr das für ihn typische, liebevolle Lächeln. „Kein Problem.“ „Uuuuuh, Nachhilfe? In was denn, Ninie?“ Natürlich hatte Lissi das irgendwie zweideutig verstanden. Lissi verstand so ziemlich alles irgendwie zweideutig. „Carsten hat mir beigebracht, wie man sich teleportiert.“, erklärte Janine. „Und sie lernt viel schneller, als manch andere Leute, die sich noch nicht einmal einen einzigen Zauber merken können.“, lobte Carsten sie, aber Laura wusste, dass das auch ein kleiner Seitenhieb war. „Autsch, das war gemein.“, bemerkte Öznur, gespielt beleidigt. „Jetzt sind wir quitt, oder?“ Carsten lächelte sie mit Unschuldsmiene an. „Tut mir leid, das Bedürfnis war zu groß.“ Öznur winkte ab. „Ja, klar. Aber ich hätte echt nicht gedacht, dass du auch so sein kannst.“ Carsten lachte auf. „Eagle ist mein großer Bruder, Benni mein bester Freund und inzwischen habe ich mich sogar mit Anne vertragen. Nicht zu vergessen meine vorherige Schule. Ich bin von gemeinen und sarkastischen Leuten umgeben und wundere mich um ehrlich zu sein, warum ich immer noch ein gutmütiger Trottel bin.“ „Du bist schon allein aus dem Grund ein gutmütiger Trottel, weil du dich selbst als ein solcher bezeichnest.“, kommentierte Ariane und biss von ihrem Wurstbrot ab. Laura schaute sie überrascht an. „Du musstest einfach Annes Part übernehmen, oder?“ Ariane prustete los und schaffte es bewundernswerter Weise, ihr Essen im Mund zu behalten. „Sorry, ich konnte nicht widerstehen. Aber irgendwie scheinen wir uns alle heute an die Kehle gehen zu wollen… Ich meine, selbst unser gutmütiger Trottel gab einen bissigen Kommentar von sich.“ Öznur boxte Carsten gegen die Schulter. „Ach was, wir haben uns in dieser langen Woche doch alle nur total vermisst und müssen unsere Neckereien nachholen.“ Janine schaute sich irritiert um. „Apropos Anne… Wo steckt sie eigentlich?“ Aus irgendeinem Grund bekam nun Öznur einen Lachanfall. „Stimmt, vermutlich ist das ein weiterer Grund, warum wir das Bedürfnis haben, uns gegenseitig zu ärgern. Weil Anne fehlt, die das eigentlich so gerne macht.“ Nachdem sie sich beruhigt hatte erklärte sie: „Eigentlich wollte ich in Dessert umsteigen, um Anne von ihrem hohen Ross zu zerren und sie Holzklasse fliegen zu lassen, aber ironischer Weise musste die Maschine nonstop nach Cor weiterfliegen, weil der Flughafen unter den sandigen Wetterbedingungen ein paar Probleme hatte. Sie kommt nach, wenn sie unbemerkt das ganze geregelt-“ Ein Vogelzwitschern unterbrach Öznur, die verwundert auf ihr Handy schaute. „Oh, wenn man vom Teufel spricht. Annes Maschine ist gelandet.“ „Was ist das denn für ein Klingelton?“, bemerkte Ariane irritiert, doch sie bekam keine Antwort darauf. Stattdessen fragte Janine: „Aber Benni ist noch nicht wieder da, oder?“ Carsten schüttelte den Kopf. „Benni meidet Transportmittel so gut es geht. So wie ich ihn kenne ist er entweder so stur und läuft von Spirit nach Cor oder Konrad spielt den großen Bruder und bringt ihn per Teleportation hier her und dann ist er unter Garantie erst nach Sonnenuntergang hier.“ Laura betrachtete das Licht der untergehenden Sonne durch die farbigen Mosaikfenster, während sich Janine besorgt erkundigte, warum Benni so eine Transportmittel-Abneigung besaß. Carsten lachte auf. „Ob ihr’s glaubt oder nicht, er wird halt sehr schnell reisekrank.“ Die Mädchen kicherten, nur Laura vergrub ihren Kopf in den verschränkten Armen, die sie auf den Tisch gelegt hatte. Diese Geste schien die anderen auf sie aufmerksam gemacht zu haben.
„Laura, geht’s dir gut? Du hast noch gar nichts gegessen.“, erkundigte sich Susanne fürsorglich. „Ja, ja, alles in Ordnung, ich hab nur keinen Hunger.“, log sie. Sie war in gerade mal einem Monat tot, natürlich war nichts in Ordnung! Selbstverständlich war der größte Teil ihrer Freunde feinfühlig genug, um die Lüge zu bemerken. Dennoch besaßen sie ausreichend Taktgefühl, Laura nicht zu einer ehrlichen Antwort zu drängen und schwiegen stattdessen. Während sich das Gespräch der anderen um die Ferienerlebnisse drehte, beobachtete Laura, wie sich der Mensaturm nach und nach mit den Schülern füllte, die erst jetzt von den Ferien zurückkamen. Laura bemerkte eine größere Gruppe dunkelhäutiger Schüler die in die Mensa strömten und anscheinend alle mit dem vor etwa einer halben Stunde gelandeten Flugzeug aus Dessert kamen, denn unter diesen Schülern befand sich auch Anne, die sich kurz darauf zu ihnen gesellte. „Schönen Flug in der ersten Klasse gehabt, Prinzessin?“, zog Öznur sie neckisch auf. „Ha, ha.“, erwiderte Anne nur. Sie klang ziemlich gereizt, was vermutlich daran lag, dass es der doch recht verwöhnten Sultanstochter gar nicht passte, wenn ausgerechnet ihr Flugzeug Startschwierigkeiten hatte. Bis sich alle, bis auf Laura, den Bauch vollgeschlagen hatten und die Mensa wieder verließen, war die Sonne bereits untergegangen und der Himmel bekam eine dunkle Blaufärbung. Erst jetzt fiel Laura auf, dass sie vorhin, als sie die Schüler beobachtet hatte, eigentlich nur nach einer einzigen Person Ausschau gehalten hatte. Seufzend stellte sie fest, dass Benni immer noch nicht gekommen war und sie machte sich Sorgen, dass irgendwas passiert sein könnte. Carsten schien den Grund ihrer jetzigen trüben Gedanken erraten zu haben, denn er klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter und wies mit einer knappen Kopfbewegung zum Eingangstor. Laura folgte seinem Blick und bestaunte das Trio, das den hellen Steinweg auf sie zukam, während die Laternen am Rand des Weges die drei in eine nahezu unheimliche und doch schöne Beleuchtung tauchten. In der Mitte ging Konrad, der mit seinen roten, stacheligen Haaren und den roten Vampiraugen noch am meisten Farbe an sich hatte und sonst vampirtypisch edel in einem weißen Hemd, schwarzer Hose und schwarzen Lackschuhen gekleidet war. Er unterhielt sich freundlich mit dem Vampir zu seiner Linken, der nur noch die roten Augen hatte und durch seine grau-schwarzen Haare und dem Anzug mit der roten Krawatte um einiges älter und respektabler wirkte. Benni ging auf der anderen Seite von Konrad und auch, wenn man sein rotes Auge durch die hellblonden Haare nicht sehen konnte, wirkte er genauso vampirmäßig wie die anderen beiden. Natürlich war kein Tag in den restlichen Ferien vergangen, an dem Laura nicht an Benni gedacht hatte, an dem sie mal nicht sein engelsgleiches Gesicht vor Augen hatte, aber dennoch raubte sein Anblick ihr immer wieder aufs Neue den Atem. „Glotz nicht so dämlich.“, ermahnte Ariane sie und Laura konnte sich noch rechtzeitig wieder fangen, bevor sie sich mal wieder zum Deppen gemacht hätte. Sie warf Ariane einen knappen, dankbaren Blick zu, bevor die Vampire -und Benni- sie erreicht hatten. „Hey Leute, ich bring euch nur schnell den Nachzügler vorbei.“, grüßte Konrad sie gut gelaunt. „Und unseren Geschichtslehrer.“, ergänzte Ariane, konnte ein Schaudern allerdings nicht unterdrücken. Laura wusste inzwischen zu gut, dass alle magischen Wesen ihrer Schule aus irgendeinem Grund Ariane auf dem Kieker hatten. Herr Norito zum Beispiel erwischte Ariane immer, wenn sie mit ihren Gedanken abdriftete und ließ sie dann gerne zur Strafe eine Seite Geschichtsdaten auswendig lernen, von denen er sie dann die darauffolgende Stunde immer fünf abfragte. „Hätte ich ihn lieber in einen Sarg sperren und zunageln sollen?“, alberte Konrad. Wenn der wüsste, wie sich Ariane gefreut hätte…, überlegte Laura und war froh, dass Ariane darauf nichts erwiderte. Ansonsten hätte sie vermutlich schon gleich für morgen die nächste Seite zum Auswendiglernen aufgebrummt bekommen. „Nun, ich hoffe doch, dass du mich dann spätestens bei deiner und Rinas Vermählung wieder rausgelassen hättest.“, kommentierte Herr Norito überraschend humorvoll. Trotz seiner eigentlichen Vampirblässe wurde Konrad lustiger weise rot und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Nun, da wärst du dann allerdings noch einige Jahrzehnte eingesperrt… So eilig haben Rina und ich es gar nicht.“ Herr Norito klopfte Konrad lachend auf die Schulter. „Das ist aber Schade. Dein Vater hatte bei meiner Schwester damals nichts anbrennen lassen.“ Die Mädchen stutzten und Susanne war die erste, die den Stammbaum vervollständigen konnte. „Sie sind Konrads Onkel?“, stellte sie überrascht fest. Herr Norito nickte. Zwar immer noch freundlich, aber dennoch streng. Anscheinend war seine Vertrautheit nur Konrad vorbehalten. „Nun, ich verabschiede mich auch hiermit. Die meisten von euch sehe ich ja morgen im Unterricht. Gute Nacht.“ Die Mädchen und Carsten murmelten nahezu im Chor ein ‚Gute Nacht‘, während sich ihr Lehrer noch einmal speziell von seinem Neffen und Benni auf Rumänisch verabschiedete und kurz darauf in Richtung Lehrergebäude davonschritt. Konrad schüttelte lächelnd den Kopf, während einige der Mädchen ihn immer noch entgeistert anstarrten. „Unser Geschichtslehrer ist dein Onkel?“, wiederholte Ariane Susannes Erkenntnis, als wolle sie wirklich sichergehen. „Mein Beileid.“ „Oh, ich hätte ihn also wirklich in einen Sarg sperren und diesen zunageln sollen.“, bemerkte Konrad amüsiert. Öznur zuckte mit den Schultern. „Schaden könnte es jedenfalls nicht.“ Konrad kicherte. „Ihr wisst schon, dass mein Onkel genauso vampirische Sinne hat, wie jeder andere normale Vampir?“ Laura bemerkte, wie Ariane sich auf die Unterlippe biss und konnte sich jedenfalls ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Na dann geh ich auch mal wieder.“, meinte Konrad, wandte sich an Benni und wuschelte ihm durch die hellblonden Haare. „Also dann, sein brav, mach deine Hausaufgaben, iss ordentlich und so weiter und so fort.“ Er winkte der Gruppe noch einmal kurz zu, ehe er wieder zu dem Eingangstor ging und die Coeur-Academy verließ. Kaum war Konrad in der Nacht verschwunden, fingen alle Mädchen plus Carsten an, lauthals loszulachen. „Genau Benni, sein schön brav.“, ermahnte Ariane ihn zwischen zwei Lachanfällen. „Und fleißig!“, fügte Carsten mahnend hinzu. „Jetzt hört schon auf.“, meinte Janine, die aber selbst kichern musste. „Das ist doch total rührend, Konrad ist wie ein Vater.“ „Oh ja…“ Lachend klopfte Öznur Benni auf die Schulter. „Keine Sorge, das ist normal, auch wenn man sich dafür schämt.“ „Wieso sollte ich mich dafür schämen?“, fragte Benni ruhig. Die Gruppe hielt mit dem Lachen inne und schaute ihn verwirrt an. „Na ja, es gibt viele überfürsorgliche Eltern und normalerweise ist es einem dann peinlich, wenn sie in aller Öffentlichkeit so… halt so überfürsorglich sind.“, erklärte Öznur. Benni schüttelte seufzend den Kopf, als teile er die Ansicht der anderen nicht wirklich. Carsten verdrehte grinsend die Augen. „Schön, dass du auch wieder da bist.“ „Oh mein Gott, wir haben dich ja noch gar nicht richtig begrüßt!“, stellte Ariane übertrieben geschockt fest. Anne zuckte mit den Schultern. „Ach was, es ist doch ein schöner Willkommensgruß, wenn man sofort ausgelacht wird.“ „Wir haben ihn nicht ausgelacht.“, widersprach Laura wütend. „Ihr vielleicht nicht.“ Laura wollte auf Annes gemeine Andeutung irgendetwas genauso Gemeines erwidern, doch bevor ihr überhaupt etwas einfallen konnte, hielt Öznur sie zurück. „Süß, dass du deinen Freund verteidigen willst, aber bei Anne kannst du dir deine Kräfte auch gleich sparen, das weißt du.“ Sie schob Laura direkt vor Benni. „Stattdessen solltest du endlich mal deinen Freund begrüßen.“ Natürlich bemerkte Laura, dass Öznur unnötig häufig das Wort ‚dein Freund‘ verwendete, aber kaum stand sie vor Benni, war sie sowieso nicht mehr in der Lage, über irgendetwas anderes nachzudenken, außer sich panisch zu fragen: Wie soll ich ihn denn jetzt begrüßen?!? Laura hatte von Beziehungen nicht den geringsten Schimmer. Na gut, in der Schule sah sie des Öfteren, wie sich Paare mit einem Kuss begrüßten, aber sie hatten sich noch nie geküsst! Und an sich war ihr dieses Herumgeküsse in der Öffentlichkeit sowieso total peinlich. „Ähm… hi?“, brachte Laura das einzig ihr mögliche und trotzdem total bescheuerte zustande. „Hi.“, grüßte Benni zurück. Öznur stöhnte auf. „Das kann doch nicht wahr sein.“ Sie packte jeweils Laura und Benni an einem Arm und versuchte, die beiden noch näher zusammen zu zerren. Zwar war Öznurs Versuch bei Benni vollkommen erfolglos, aber Laura überraschte sie damit so sehr, dass sie unbeholfen gegen Benni stolperte. Mit hochrotem Kopf funkelte Laura Öznur wütend an. „Hey, ihr braucht euch ja nicht gleich zu küssen.“, versuchte diese Laura zu beschwichtigen. „Eine Umarmung reicht am Anfang völlig. Man, seid ihr verschüchtert.“ „Wir können uns auch umdrehen, wenn euch das lieber ist.“, schlug Anne mit einem schadenfrohen Lachen vor. „Leute, es reicht. Das ist ja nicht auszuhalten.“, schritt Carsten schlichtend ein. Lissi schmollte. „Du bist so ein Spielverderber, Cärstchen.“ Öznur brachte einen beeindruckenden Laut hervor, welcher ein Mix aus seufzen und kichern war. „Ja gut, du hast Recht. Für heute bring ich die beiden nicht noch mehr in Verlegenheit. Na dann, gute Nacht.“ Sie ging demonstrativ an Laura vorbei und schob Lissi mit sich Richtung Mädchengebäude, während die anderen ihr folgten. Vorwurfsvoll schaute Laura ihnen nach, bis Carsten amüsiert meinte: „Bis morgen.“ Und in die entgegengesetzte Richtung davonging. Nur noch Laura und Benni blieben zurück. Natürlich. Frustriert stöhnte sie auf. „Geht das ab jetzt jeden Tag so?“ „Vermutlich.“, erwiderte Benni nur. Zögernd legte Laura schließlich den Kopf in den Nacken, um Benni ins Gesicht sehen zu können, da sie sich nach Öznurs Kupplungsversuch immer noch kein bisschen von ihm wegbewegt hatte. Auch aus dem Grund, weil sie sich gar nicht von Benni wegbewegen wollte, wie Laura beschämt feststellte. Zwar hatte sie hin und wieder das mulmige Gefühl, dass die Schüler, die an ihnen vorbei kamen sie verwundert musterten und dann tuschelnd weitergingen, aber das einzige auf das Laura gerade achtete war Benni. Sie konnte die Zeit nicht einschätzen, wie lange sie sich nun einfach gegenseitig in die Augen schauten, bis Laura seinem Blick schließlich nicht mehr standhalten konnte. Verlegen ging sie einen Schritt zurück und schaute auf den Boden, auch wenn sich selbst dieser geringe Abstand auf einmal unerträglich schmerzhaft anfühlte. „U-und… was machen wir jetzt?“, fragte sie und kam sich total bescheuert dabei vor. Laura hatte keine Ahnung, was für eine Antwort sie bei dieser komischen Frage überhaupt von Benni erwarten sollte. Vermutlich hatte sie gedacht, dass er einfach gehen würde, aber er stand immer noch einen knappen Schritt vor ihr, als wäre selbst er sich nicht sicher, was als nächstes kommen sollte. Womit sie aber gar nicht gerechnet hatte, war, dass Benni „Gute Nacht“ murmelte, sie sanft an den Schultern packte und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn hauchte, bevor er seinen Rucksack nahm, sich umdrehte und Carsten zum Jungenhaus folgte. Ungläubig starrte Laura ihm nach, während ihr Herz Saltos schlug und sich ihr Bauch anfühlte, als würden in ihm tausende Schmetterlinge herumflattern. Immer noch benommen strich sich Laura die Haare hinters Ohr und berührte dabei die Stelle, die Benni geküsst hatte. Es war wirklich ein federleichter Kuss gewesen und selbst wenn er nur den Bruchteil eines Wimpernschlags gedauert hatte, konnte sich Laura noch genau an das Gefühl der plötzlichen Schwerelosigkeit erinnern. Laura schüttelte den Kopf, um sich jedenfalls ein bisschen wieder zu fangen, ehe auch sie sich auf den Weg zu ihrem Zimmer machte. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter, doch Benni war schon längst im Jungenhaus verschwunden. Seufzend wappnete sie sich schon mal für den Verhör der anderen Mädchen, die nicht eher ruhen würden, bis Laura ihnen von dem Kuss auf die Stirn erzählt hatte. Dennoch musste sie Lächeln, als sie an diesen Moment zurückdachte. ~*~ Natürlich wollten die anderen von Laura wissen, was draußen mit dem eiskalten Engel vor sich gegangen war. Zwar hatte Ariane es geschafft, sie von den Fenstern fernzuhalten, die ihnen einen guten Ausblick auf das Geschehen geboten hätten, damit die beiden jedenfalls so halbwegs ihre Privatsphäre hatten, aber vor den löchernden Fragen der Mädchen konnte sie Laura trotzdem nicht schützen. Immerhin wollte Ariane ja selbst wissen, was passiert war. Ihre beste Freundin druckste am Anfang zwar noch ziemlich verlegen herum, aber irgendwann erzählte sie von der Verabschiedung und dass Benni sie auf die Stirn geküsst hatte. Auch wenn Ariane beim Thema Benni gerne gegen ihn war, hieß das noch lange nicht, dass sie den Schulsprecher hasste. Es brachte sie halt jedes Mal zur Weißglut, wenn er Laura zum Weinen brachte. Doch seit sie von seiner traurigen Vergangenheit gehört hatte, sah sie ihn mit etwas anderen Augen. Zwar hatte Ariane keine Ahnung, wieso Benni über seine Gefühle -oder über Gefühle im Allgemeinen- nichts wusste aber für diese Umstände hatte er doch ziemlich gut reagiert. Ariane musste sich eingestehen, dass diese Reaktion sogar eigentlich ganz süß war… Sie war froh, Laura endlich mal glücklich zu sehen, denn sie hatte in der Mensa schon die Sorge gehabt, dass sich Lauras Laune aufgrund ihres immer näher rückenden Geburtstages noch weiter verschlechtert hatte. Ariane konnte ihr das zwar nicht verübeln, aber eine glückliche Laura war ihr halt doch bei weitem lieber und so war sie dem eiskalten Engel dankbar, dass er ihrer besten Freundin endlich zu diesem Glück verhalf. Gleich am ersten Tag war die Gerüchteküche schon am Überkochen und Ariane hatte irgendwann aufgehört, die Mädchen zu zählen, die sie gefragt hatten, ob ihre Zimmergenossin und der Schulsprecher tatsächlich ein Paar seien. Und natürlich hatte Ariane immer bejahend geantwortet, so wie es sich gehört. Was witziger weise viele dieser Mädchen sehr schockierte. Dummerweise hatte Konrad am Vorabend Recht gehabt und Herr Norito hatte sie dank seiner Vampirsinne gehört. So hat Ariane gleich am ersten Schultag schon eine Seite zum Auswendiglernen abbekommen. Doch Öznur hatte es genauso erwischt, wie sie in der Mittagspause von ihr frustriert erzählt bekam. Seufzend griff Ariane nach einem Dolch. Es war Samstagvormittag und sie hatten praktischen Unterricht in ihrer antiken Begabung. Herr Nunjitsu hatte vor, sie für die restliche Hälfte dieses Halbjahres in Waffenkunde einzuweisen und sie arbeiteten zuerst mit denen, die leichter zu handhaben waren. Anne schnaubte. „Ich würde einen Dolch nie und nimmer für den eigentlichen Kampf verwenden. Ja klar, für einen überraschenden Nahangriff ist er ganz praktisch, aber man kann mit ihm seinen Gegner überhaupt nicht auf Distanz halten.“ Ariane zuckte mit den Schultern und setzte sich auf das Geländer des Trainingsplatzes, da gerade die Dreiviertelstundepause anfing. „Ich kenn mich mit so was gar nicht aus.“, erwiderte sie ehrlich. „Aber man könnte den Dolch doch werfen und seinen Gegner damit unschädlich machen, oder?“ Um es Anne zu demonstrieren schleuderte Ariane den Dolch Richtung Wald, um keinen ihrer Mitschüler zu verletzen. Aber sie hätte sich vielleicht erst einmal vergewissern sollen, dass sich auch in dieser Richtung wirklich keine weiteren Personen befanden. Erschrocken hielt Ariane den Atem an. „Benni, pass auf!“, schrie Laura panisch. Doch diese Warnung war vollkommen überflüssig gewesen. Der Dolch hatte noch nicht einmal die Hälfte der Entfernung zwischen ihnen und Benni überbrückt, als er schon auf das Gras fiel. Während sich Anne vor Lachen den Bauch hielt, kam Benni zu ihnen rüber und hob auf halbem Weg den Dolch auf. „T-tut mir leid.“, murmelte Ariane betroffen und wich dem Blick des eiskalten Engels aus, da sie befürchtete, dass er wütend auf sie und ihre Nachlässigkeit war. „Das ist nun wirklich keine Entschuldigung wert.“ Benni klang zwar ziemlich sarkastisch, aber Ariane war froh, dass er nicht sauer war. „Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Laura besorgt. Anne stöhnte zwar genervt auf, lachte aber immer noch. „Ich glaube, nach diesem erbärmlichen Wurf kann bei ihm nur alles in Ordnung sein.“ „So schlecht war der auch nun wieder nicht.“, widersprach Ariane verlegen. „Oder?“, wandte sie sich hoffnungsvoll an Benni, den sie fast umgebracht hätte, wäre er nicht ganz so weit weg von ihnen gewesen. Immerhin müsste er sich ja als ‚stärkster Kämpfer Damons‘ mit so was auskennen. „Du weißt, dass ich nicht lügen kann?“, erkundigte er sich in seinem neutralen Ton, doch Ariane verstand, worauf er hinauswollte. Beschämt senkte sie den Kopf, während Benni kopfschüttelnd meinte: „Wie wollt ihr euch einem Gottesdämon stellen, wenn ihr noch nicht einmal in der Lage seid, einen Dolch anständig werfen zu können?“ Anne regte sich zwar über Bennis Kommentar auf, aber Ariane musste sich eingestehen, dass er Recht hatte. Sie waren einfach noch viel zu unerfahren, um tatsächlich eine Chance gegen Mars zu haben. Doch was sollten sie tun? Schweigend lehnte sich Benni neben Laura gegen das Geländer, deren Wangen sofort einen leichten Rotton annahmen, wie Ariane belustigt bemerkte. Aber ihr fiel auch auf, dass Benni zwar sehr dicht neben Laura stand, sie sich aber dennoch nicht berührten. Ariane unterdrückte ein Seufzen. Da kam Lissi vom Trainingsplatz zu ihnen gerannt. „Hallöchen, Bennlèy! Kommst du, um deiner Geliebten Gesellschaft zu leisten?“, rief sie ihm begeistert als Begrüßung entgegen. „Nein, er ist nur hier, weil Ariane ihn unbedingt als Zielscheibe misshandeln wollte.“, meinte Anne lachend und berichtete Lissi auf deren fragenden Blick hin von Arianes Wurfversuch. Es war mehr als eindeutig, dass diese Aktion sie köstlich amüsierte. „W-wie geht es eigentlich deinen Verbrennungen?“, erkundigte sich Laura verschüchtert, während sie Benni besorgt musterte. Überrascht schaute Ariane auf und beobachtete ihn ebenfalls. An Bennis Verletzungen hatte sie gar nicht mehr gedacht, aber sie hatte ja selbst gesehen, wie übel sie noch vor knapp zwei Wochen ausgesehen hatten. „Sie sind fast verheilt.“, antwortete er ruhig. Ariane fiel auf, dass der eiskalte Engel ein schwarzes, langarmiges Trainingsshirt trug, in dem er zwar wie immer sehr gut aussah, was sich selbst Ariane eingestehen musste, aber was eigentlich schon etwas zu warm war, dafür, dass sie bei den milden zwanzig Grad Sport machten. Also trägt er dieses lange Shirt aus anderen Gründen… Zum Beispiel um seine Verletzungen vor neugierigen Blicken zu verbergen, folgerte Ariane. „Zeig.“, forderte Laura ihren Freund auf, als wolle sie sich selbst vergewissern. Was Ariane auch sehr gut verstand, denn ‚fast geheilt‘ war eine sehr dehnbare Formulierung, wenn man daran dachte wie schlimm diese Verbrennungen vor zwei Wochen noch gewesen sind. Seufzend gab Benni nach und zog das Sweatshirt bis zum Ellbogen nach oben. Ariane verzog das Gesicht. Zwar konnte Benni nicht lügen, aber er hatte die Dehnbarkeit seiner Formulierung ganz schön ausgenutzt. So übel wie vor zwei Wochen sah es zum Glück tatsächlich nicht mehr aus, aber trotzdem wies sein gesamter Arm noch ziemlich viele stark gerötete Stellen auf. „Das ist nicht ‚fast verheilt‘.“, meinte Laura und wandte betrübt den Blick ab. Benni zog den Ärmel wieder nach unten. „Es ist wirklich nicht mehr so gravierend.“ Auf Lauras kritischen und besorgten Blick hin schüttelte er nur den Kopf. „Ich muss wieder zum Unterricht… Bis später.“ Hätte Ariane die beiden auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen gelassen, wäre ihr gar nicht aufgefallen, dass Benni flüchtig mit seinen Fingern über Lauras Handrücken strich bevor er ging, als sei diese Berührung nur zufällig und nicht beabsichtigt gewesen. Doch Ariane hatte das Gefühl, dass dem nicht so war und sie beobachtete kichernd, wie Laura ihrem Freund verträumt nachschaute. Kapitel 36: Hoffnungsträger --------------------------- Hoffnungsträger Laura holte tief Luft und verließ den Bus zusammen mit weiteren Menschen, die entweder in der Kampfkünstler- oder Magier-Uniform der Coeur-Academy steckten und wie sie durch das gewaltige Holztor ihrer Eliteschule gingen. Das letzte Mal, dass Laura das Tor mit so vielen Menschen durchschritten hatte, war zum Schulbeginn nach den Weihnachtsferien gewesen. Dieses Mal war es das Ende Osterferien. Und das waren vermutlich die letzten Ferien, die Laura je gehabt hatte… Seufzend ging sie Richtung Mädchenhaus, während ihre trüben Gedanken sie beherrschten. Heute war der vierzehnte April, es war also nicht mal mehr ein Monat bis zu ihrem Geburtstag. Und bis zu ihrem Todestag… Für sie stand es fest: Der Schwarze Löwe würde sie garantiert verlassen. Laura wäre schleierhaft, wie er sich jetzt noch anders entscheiden könnte. Sie hatte die letzte Ferienwoche viel Zeit gehabt um neben unnötigen Hausaufgaben, die die Lehrer einem aufgaben, weil sie dachten, dass man in den Ferien sowieso nichts Besseres zu tun hätte als zu lernen, auch noch nachzudenken. Nachzudenken über alles, was die letzte Zeit so passiert war. Und dieses Nachdenken hatte ihr offenbart, dass sie sich bei ihrer vermeintlichen Dämonenprüfung echt bescheuert benommen hatte. Verdammt, ich bin wütend und heulend aus dem Schrein des Schwarzen Löwen gestürzt, obwohl er mir auch noch zugerufen hatte, ich solle warten! Laura packte den Griff ihres Koffers so fest, dass ihre Knöchel weiß hervorstachen, während sie ihn die Treppe hochhievte. Diese Reaktion war nicht nur oberpeinlich, sondern auch noch extrem respektlos und kindisch gewesen. Deprimiert holte sie den Schlüssel für das Zimmer heraus, welches sie sich mit Ariane hier an der Akademie teilte, stellte kurz darauf allerdings fest, dass das Zimmer gar nicht verschlossen war. Vorsichtig öffnete Laura die Tür, da sie einen Hinterhalt befürchtete. Anscheinend sprang der Verfolgungswahn ihres Vaters inzwischen auch auf seine Tochter über. Aber nichts dergleichen geschah und Laura konnte sich trotz ihrer Depression ein Kichern nicht verkneifen. Das Zimmer war eigentlich ordentlich und sauber, nur auf Arianes Bett lag ein geöffneter Koffer, dessen Inhalt auf dem ganzen Bett und teils auch auf dem Boden verteilt war und die linke Zimmerhälfte dadurch in das reinste Schlachtfeld verwandelte. „Laura, hi!“, rief jemand begeistert und Lauras Erwartung eines Hinterhalts bestätigte sich schließlich doch noch, als dieser jemand sie von hinten ansprang und in einer erwürgenden Umarmung packte. „Hi…“, keuchte Laura, bis Ariane endlich bemerkte, dass ihre Begrüßung ein bisschen gesundheitsschädigend war und sie befreite. „Hey, Laura.“, grüßte Öznur fröhlich, die gemeinsam mit Susanne, Lissi und Janine aus dem Zimmer gegenüber von Lauras und Arianes kam. Laura versuchte, mit einem Lächeln ihre trüben Gedanken zu verscheuchen. Immerhin wollte sie die gute Laune der anderen nicht vermiesen und ihr selbst täte etwas Lachen sicher auch mal ganz gut. Aber es gelang ihr nur zum Teil. „Wie waren deine restlichen Ferien?“, fragte Susanne freundlich. Laura war froh, dass sich Susanne anscheinend wieder etwas von ihrem traumatisierenden Erlebnis bei ihrer Dämonenprüfung erholt hatte. Doch sie bemerkte, dass Susannes Lächeln ebenso erzwungen wirkte wie Lauras. „Na ja… Eigentlich tot langweilig.“, antwortete sie wahrheitsgetreu. „Hausaufgaben, malen und gammeln, wie immer eigentlich.“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Ich war eigentlich ganz froh, etwas Ruhe zu haben, nach der ganzen Aufregung in der ersten Woche.“ „Du hattest trotz deiner Stiefmutter noch Ruhe?“, fragte Öznur bewundernd und erinnerte dadurch alle Anwesenden an die fürchterliche, eingebildete Frau, die sich einfach so in Arianes Familie gedrängt hatte. Ariane seufzte bedrückt aber eine konkretere Antwort bekamen sie nicht von ihr, nur ein: „Können wir jetzt endlich was zu Abend essen?“ Öznur zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“ Gemeinsam gingen sie wieder die sechzig Stufen runter, über die sich Öznur immer noch beschwerte und verließen das Mädchenhaus, um zur Mensa zu gehen. Auf dem Weg dorthin kamen sie an dem Springbrunnen vorbei, der fröhlich vor sich hinplätscherte und auf dessen Rand seelenruhig Carsten saß und einen fetten Wälzer las, bis er bei Lissis gequietschtem „Cärstchen!“ aufschaute. „Hi, endlich seid ihr auch wieder hier.“, begrüßte Carsten sie erfreut. „Was heißt denn hier endlich?“, fragte Öznur empört. „Ich glaube, du bist der einzige, der sich über Schule freut…“, stellte sie kopfschüttelnd fest. Carsten zuckte mit den Schultern. „Schule ist weitaus angenehmer als… als andere Sachen, die ich kenne. Aber eigentlich meinte ich damit, dass es die letzten Tage hier so bedrückend einsam war…“ Ariane schlug sich mit der Hand auf den Kopf. „Natürlich war es hier einsam, immerhin war keiner hier! Hallo, Damon an Carsten, es waren Ferien, falls du das noch nicht bemerkt hast.“ Seufzend legte Carsten das Buch zur Seite und malte Spiralen ins Wasser, die zu kleinen Strudeln wurden, als er fertig war. „Ich weiß.“, erwiderte er schließlich. „Aber wo hätte ich sonst hingehen sollen? Ich will nicht nach Indigo…“ Lauras Herz zog sich bei seinem Ton zusammen. So fröhlich er sie vorhin begrüßt hatte, so traurig klang er nun. Sie setzte sich neben ihn auf den Brunnen und versuchte dasselbe mit den Strudeln, stellte aber fest, dass das wohl Magiersache war. Am Tag nach Eufelia-Senseis Beerdigung und dem Treffen mit Herr und Frau Yoru hatte sich die Gruppe gespalten und alle waren nach Hause gefahren, um Ostern und die zweite Ferienwoche bei ihren Familien zu verbringen. Alle, nur Carsten offensichtlich nicht. „Du hättest doch bei mir und meinen Eltern bleiben können.“, meinte Laura. „Es war ohnehin total ätzend, plötzlich so ganz alleine zu sein.“ Carsten schüttelte den Kopf. „Ich wollte ihnen nicht zur Last fallen.“ Laura schnaubte. „So wie ich O-Too-Sama kenne, hätte er dich mit Freuden aufgenommen… Jedenfalls im Gegensatz zu Benni.“ „Ach so, wie läuft es eigentlich zwischen dir und Benni?“, erkundigte sich Öznur neugierig. „Immerhin seid ihr ja jetzt offiziell zusammen.“ „Weil du das ganz plötzlich so beschlossen hast.“, erwiderte Laura, während sie schon gar nicht mehr beachtete, dass ihr Gesicht bei diesem Thema knallrot wurde. „Ach komm schon, du- nein, ihr beide wolltet das doch auch. Ihr habt nur etwas Starthilfe gebraucht.“ Öznur lachte. Laura seufzte. Das war das zweite Thema, dass sie neben ihrem bevorstehenden Tod so belastete. „Nichts läuft zwischen uns.“ Auf den irritierten Blick der Mädchen hin antwortete Carsten schließlich: „Benni ist zu Konrad und Rina gegangen.“ Er schaute Laura aufmunternd an. „Und das braucht dich nicht im Geringsten zu frustrieren. Vielleicht kann Benni seine Gefühle noch nicht verstehen aber ich weiß ganz sicher, dass er dich sehr mag.“ Carsten seufzte und ließ das Wasser dieses Mal in kleinen Spiralen nach oben schweben. „Aber denkt dran, dass Benni immer noch sein Zuhause und seine Pflegemutter verloren hat… Selbst ihr konntet sehen, dass ihn das mitnimmt! Das war einfach alles zu viel für ihn…“ Betroffen senkten die Mädchen die Köpfe. Jeder konnte nur zu gut verstehen, dass Benni etwas Zeit für sich brauchte. Diese Zeit hätte er als Gast bei Laura garantiert nicht haben können… In einem Haus, in welchem der Hausherr ihn hasste und Laura vermutlich wie eine Klette an ihm gehangen hätte… Selbst Laura fiel auf, dass Benni zu dem Vampirpaar ein sehr vertrautes Verhältnis hatte. Er wäre also nirgends besser aufgehoben, als bei ihnen. „Stimmt Laura. Was Bennis Gefühle für dich betrifft… Da brauchst du dir überhaupt keine Sorgen mehr zu machen.“, meinte Janine aufmunternd. „Aber ich verstehe immer noch nicht, warum du ausgerechnet zur Schule zurückkehren musstest.“, wandte sich Öznur immer noch geschockt an Carsten. „Was machst du denn sonst so in den Ferien?“ Mit einem lauten Platsch fiel die Wasserspirale in sich zusammen. Carsten funkelte Öznur aus seinen lila Augen so wütend an, wie Laura ihn nur selten sah. „Falls ihr das vergessen habt: Meine letzten Ferien waren vor über sechs Jahren.“ Öznur schien, wie der ganze Rest der Mädchen zu erstarren. Carsten war ein gesunder, fröhlicher und liebevoller Mensch, ein sorgenvoller und gutmütiger Freund, ein intelligenter Schüler und ein talentierter Magier, der seine Kräfte allerdings nur einsetzte, um die, die ihm wichtig waren zu verteidigen und zu retten. Er war jemand, den man nie im Leben auf das FESJ schicken würde. Und ja, Carsten hatte Recht. Sie hatten inzwischen vergessen, dass man ihn einst dorthin geschickt hatte. Carsten wandte sich bedrückt ab und wollte aufstehen und gehen, aber Laura hielt ihn an der Hand zurück. „T-tut mir leid…“, stotterte Öznur unsicher. „Ich dachte, ihr wolltet was essen gehen.“, meinte Carsten immer noch abgewandt. Laura biss sich auf die Unterlippe. Sie hatten ihn verletzt… Nicht nur Öznur, sie alle. Immerhin hatte keiner von ihnen mehr daran gedacht, was er vor einigen Monaten noch hatte durchstehen müssen. „Seitdem sind gerade mal zweieinhalb Monate vergangen…“murmelte Susanne befangen, während sie die Mensa betraten. Laura wollte schon fragen, hielt sich aber zurück, als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, dass Carsten leicht lächelte und nur „Stimmt.“ darauf erwiderte. Um Lauras besten Freund nicht vielleicht noch mehr zu verletzen, flüsterte sie zu Susanne: „Seit was sind gerade mal zweieinhalb Monate vergangen?“ „Seit er das FESJ verlassen hat.“, flüsterte sie zurück. „Echt?!“, rief Laura erschrocken auf. Das konnten doch nicht ernsthaft unter drei Monate gewesen sein. Sie hatte das Gefühl, dass Carsten schon viel länger bei ihnen war. Er war Ende Januar zu ihnen gekommen… Immer wieder zählte Laura an ihren Fingern ab, wie viele Monate dazwischenlagen, aber sie kam immer nur auf zweieinhalb. Sie konnte einfach nicht glauben, dass so wenig Zeit vergangen war… „Hör auf damit.“, wies Carsten sie zurecht, als Laura nur noch auf ihre Finger und nicht mehr auf die Treppenstufen geachtet hatte und auch prompt über eine der Stufen gestolpert war. Er half ihr hoch und kurz darauf setzten sie sich an einen Tisch, an dem sich Ariane ziemlich bald wie immer mit einer Elfe streiten musste, weil es um irgendetwas zu essen ging, dass sie der Elfe zufolge nicht haben sollte. „Wie waren sonst eure Ferien?“, erkundigte sie sich, nachdem sie der Elfe endlich die Wurst abgeluchst hatte. Lissi zuckte mit den Schultern. „So wie immer, Süße.“ Öznur nickte. „Ja, bei mir war’s auch so… Endlich mal entspannen, mit den großen Schwestern shoppen, mit der kleinen Schwester spielen, sich mit dem Nachbarn streiten…“ Ariane lachte auf. „Du kannst ihm aber auch einfach nicht aus dem Weg gehen, oder?“ „Nein, wirklich nicht!“, entrüstete sich Öznur. „Der taucht einfach immer wieder auf! Ich habe ihn im Shoppingcenter getroffen. Im Shoppingcenter!“ Öznur fand das zwar nicht so witzig, wie der ganze Rest, aber immerhin hatte sie es geschafft, Carsten wieder aufzuheitern, wie Laura erleichtert feststellte. „Warst du eigentlich bei deiner Mutter in Mur?“, fragte Susanne Janine. Diese nickte. „Übrigens danke für die Nachhilfe Carsten, der Zauber hat problemlos funktioniert.“ Carsten schenkte ihr das für ihn typische Lächeln. „Kein Problem.“ „Uuuuuh, Nachhilfe? In was denn, Ninie?“ Natürlich hatte Lissi das irgendwie zweideutig verstanden. Lissi verstand so ziemlich alles irgendwie zweideutig. „Carsten hat mir beigebracht, wie man sich teleportiert.“, erklärte Janine. „Und sie lernt viel schneller, als manch andere Leute, die sich noch nicht einmal einen einzigen Zauber merken können.“, lobte Carsten sie, aber Laura wusste, dass das auch ein kleiner Seitenhieb war. „Autsch, das war gemein.“, bemerkte Öznur, gespielt beleidigt. „Jetzt sind wir quitt, oder?“ Carsten lächelte sie mit Unschuldsmiene an. „Tut mir leid, das Bedürfnis war zu groß.“ Öznur winkte ab. „Ja, klar. Aber ich hätte echt nicht gedacht, dass du auch so sein kannst.“ Carsten lachte auf. „Eagle ist mein großer Bruder, Benni mein bester Freund und inzwischen habe ich mich sogar mit Anne vertragen. Nicht zu vergessen meine vorherige Schule. Ich bin von gemeinen und sarkastischen Leuten umgeben und wunder mich um ehrlich zu sein, warum ich immer noch ein gutmütiger Trottel bin.“ „Du bist schon allein aus dem Grund ein gutmütiger Trottel, weil du dich selbst als ein solcher bezeichnest.“, kommentierte Ariane und biss von ihrem Wurstbrot ab. Laura schaute sie überrascht an. „Du musstest einfach Annes Part übernehmen, oder?“ Ariane prustete los und schaffte es bewundernswerter Weise, ihr Essen im Mund zu behalten. „Sorry, ich konnte nicht widerstehen. Aber irgendwie scheinen wir uns alle heute an die Kehle gehen zu wollen… Ich meine, selbst unser gutmütiger Trottel gab einen bissigen Kommentar von sich.“ Öznur boxte Carsten gegen die Schulter. „Ach was, wir haben uns in dieser langen Woche doch alle nur total vermisst und müssen unsere Neckereien nachholen.“ Janine runzelte verwirrt die Stirn. „Apropos Anne… Wo steckt sie eigentlich?“ Aus irgendeinem Grund bekam nun Öznur einen Lachanfall. „Stimmt, vermutlich ist das ein weiterer Grund, warum wir das Bedürfnis haben, uns gegenseitig zu ärgern. Weil Anne fehlt, die das eigentlich so gerne macht.“ Nachdem sie sich beruhigt hatte erklärte sie: „Eigentlich wollte ich in Dessert umsteigen, um Anne von ihrem hohen Ross zu zerren und sie Holzklasse fliegen zu lassen, aber ironischer Weise musste die Maschine nonstop nach Cor weiterfliegen, weil der Flughafen unter den sandigen Wetterbedingungen ein paar Probleme hatte. Sie kommt nach, wenn sie unbemerkt das ganze geregelt-“ Ein Vogelzwitschern unterbrach Öznur, die verwundert auf ihr Handy schaute. „Oh, wenn man vom Teufel spricht. Annes Maschine ist gelandet.“ „Was ist das denn für ein Klingelton?“, bemerkte Ariane irritiert, doch sie bekam keine Antwort darauf. Stattdessen fragte Janine: „Aber Benni ist noch nicht wieder da, oder?“ Carsten schüttelte den Kopf. „Benni meidet Transportmittel so gut es geht. So wie ich ihn kenne ist er entweder so stur und läuft von Spirit nach Cor oder Konrad spielt den großen Bruder und bringt ihn per Teleportation hier her und dann ist er unter Garantie erst nach Sonnenuntergang hier.“ Laura betrachtete das Licht der untergehenden Sonne durch die farbigen Mosaikfenster, während sich Janine besorgt erkundigte, warum Benni so eine Transportmittel-Abneigung besaß. Carsten lachte auf. „Ob ihr’s glaubt oder nicht, er wird halt sehr schnell reisekrank.“ Die Mädchen kicherten, nur Laura vergrub ihren Kopf in den verschränkten Armen, die sie auf den Tisch gelegt hatte. Diese Geste schien die anderen auf sie aufmerksam gemacht zu haben. „Laura, geht’s dir gut? Du hast noch gar nichts gegessen.“, erkundigte sich Susanne fürsorglich. „Ja, ja, alles in Ordnung, ich hab nur keinen Hunger.“, log sie. Sie war in gerade mal einem Monat tot, natürlich war nichts in Ordnung! Selbstverständlich war der größte Teil ihrer Freunde feinfühlig genug, um die Lüge zu bemerken. Dennoch besaßen sie ausreichend Taktgefühl, Laura nicht zu einer ehrlichen Antwort zu drängen und schwiegen stattdessen. Während sich das Gespräch der anderen um die Ferienerlebnisse drehte, beobachtete Laura, wie sich der Mensaturm nach und nach mit den Schülern füllte, die erst jetzt von den Ferien zurückkamen. Laura bemerkte eine größere Gruppe dunkelhäutiger Schüler die in die Mensa strömten und anscheinend alle mit dem vor etwa einer halben Stunde gelandeten Flugzeug aus Dessert kamen, denn unter diesen Schülern befand sich auch Anne, die sich kurz darauf zu ihnen gesellte. „Schönen Flug in der ersten Klasse gehabt, Prinzessin?“, zog Öznur sie neckisch auf. „Ha, ha.“, erwiderte Anne nur. Sie klang ziemlich gereizt, was vermutlich daran lag, dass es der doch recht verwöhnten Königstochter gar nicht passte, wenn ausgerechnet ihr Flugzeug Startschwierigkeiten hatte. Bis sich alle, bis auf Laura, den Bauch vollgeschlagen hatten und die Mensa wieder verließen, war die Sonne bereits untergegangen und der Himmel bekam eine dunkle Blaufärbung. Erst jetzt fiel Laura auf, dass sie vorhin, als sie die Schüler beobachtet hatte, eigentlich nur nach einer einzigen Person Ausschau gehalten hatte. Seufzend stellte sie fest, dass Benni immer noch nicht gekommen war und sie machte sich Sorgen, dass irgendwas passiert sein könnte. Carsten schien den Grund ihrer jetzigen trüben Gedanken erraten zu haben, denn er klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter und wies mit einer knappen Kopfbewegung zum Eingangstor. Laura folgte seinem Blick und bestaunte das Trio, das den hellen Steinweg auf sie zukam, während die Laternen am Rand des Weges die drei in eine nahezu unheimliche und doch schöne Beleuchtung tauchten. In der Mitte ging Konrad, der mit seinen roten, stacheligen Haaren und den roten Vampiraugen noch am meisten Farbe an sich hatte und sonst vampirtypisch edel in einem weißen Hemd, schwarzer Hose und schwarzen Lackschuhen gekleidet war. Er unterhielt sich freundlich mit dem Vampir zu seiner Linken, der nur noch die roten Augen hatte und durch seine grau-schwarzen Haare und dem Anzug mit der roten Krawatte um einiges älter und respektabler wirkte. Benni ging auf der anderen Seite von Konrad und auch, wenn man sein rotes Auge durch die hellblonden Haare nicht sehen konnte, wirkte er genauso vampirmäßig wie die anderen beiden. Natürlich war kein Tag in den restlichen Ferien vergangen, an dem Laura nicht an Benni gedacht hatte, an dem sie mal nicht sein engelsgleiches Gesicht vor Augen hatte, aber dennoch raubte sein Anblick ihr immer wieder aufs Neue den Atem. „Glotz nicht so dämlich.“, ermahnte Ariane sie und Laura konnte sich noch rechtzeitig wieder fangen, bevor sie sich mal wieder zum Deppen gemacht hätte. Sie warf Ariane einen knappen, dankbaren Blick zu, bevor die Vampire -und Benni- sie erreicht hatten. „Hey Leute, ich bring euch nur schnell den Nachzügler vorbei.“, grüßte Konrad sie gut gelaunt. „Und unseren Geschichtslehrer.“, ergänzte Ariane, konnte ein Schaudern allerdings nicht unterdrücken. Laura wusste inzwischen zu gut, dass alle magischen Wesen ihrer Schule aus irgendeinem Grund Ariane auf dem Kieker hatten. Herr Norito zum Beispiel erwischte Ariane immer, wenn sie mit ihren Gedanken abdriftete und ließ sie dann gerne zur Strafe eine Seite Geschichtsdaten auswendig lernen, von denen er sie dann die darauffolgende Stunde immer fünf abfragte. „Hätte ich ihn lieber in einen Sarg sperren und zunageln sollen?“, alberte Konrad. Wenn der wüsste, wie sich Ariane gefreut hätte…, überlegte Laura und war froh, dass Ariane darauf nichts erwiderte. Ansonsten hätte sie vermutlich schon gleich für morgen die nächste Seite zum Auswendiglernen aufgebrummt bekommen. „Nun, ich hoffe doch, dass du mich dann spätestens bei deiner und Rinas Vermählung wieder rausgelassen hättest.“, kommentierte Herr Norito überraschend humorvoll. Trotz seiner eigentlichen Vampirblässe wurde Konrad lustiger weise rot und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Nun, da wärst du dann allerdings noch einige Jahrzehnte eingesperrt… So eilig haben Rina und ich es gar nicht.“ Herr Norito klopfte Konrad lachend auf die Schulter. „Das ist aber Schade. Dein Vater hatte bei meiner Schwester damals nichts anbrennen lassen.“ Die Mädchen stutzten und Susanne war die erste, die den Stammbaum vervollständigen konnte. „Sie sind Konrads Onkel?“, stellte sie überrascht fest. Herr Norito nickte. Zwar immer noch freundlich, aber dennoch streng. Anscheinend war seine Vertrautheit nur Konrad vorbehalten. „Nun, ich verabschiede mich auch hiermit. Die meisten von euch sehe ich ja morgen im Unterricht. Gute Nacht.“ Die Mädchen und Carsten murmelten nahezu im Chor ein ‚Gute Nacht‘, während sich ihr Lehrer noch einmal speziell von seinem Neffen und Benni auf Rumänisch verabschiedete und kurz darauf in Richtung Lehrergebäude davonschritt. Konrad schüttelte lächelnd den Kopf, während einige der Mädchen ihn immer noch entgeistert anstarrten. „Unser Geschichtslehrer ist dein Onkel?“, wiederholte Ariane Susannes Erkenntnis, als wolle sie wirklich sichergehen. „Mein Beileid.“ „Oh, ich hätte ihn also wirklich in einen Sarg sperren und diesen zunageln sollen.“, bemerkte Konrad amüsiert. Öznur zuckte mit den Schultern. „Schaden könnte es jedenfalls nicht.“ Konrad kicherte. „Ihr wisst schon, dass mein Onkel genauso vampirische Sinne hat, wie jeder andere normale Vampir?“ Laura bemerkte, wie Ariane sich auf die Unterlippe biss und konnte sich jedenfalls ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Na dann geh ich auch mal wieder.“, meinte Konrad, wandte sich an Benni und wuschelte ihm durch die hellblonden Haare. „Also dann, sein brav, mach deine Hausaufgaben, iss ordentlich und so weiter und so fort.“ Er winkte der Gruppe noch einmal kurz zu, ehe er wieder zu dem Eingangstor ging und die Coeur-Academy verließ. Kaum war Konrad in der Nacht verschwunden, fingen alle Mädchen plus Carsten an, lauthals loszulachen. „Genau Benni, sein schön brav.“, ermahnte Ariane ihn zwischen zwei Lachanfällen. „Und fleißig!“, fügte Carsten mahnend hinzu. „Jetzt hört schon auf.“, meinte Janine, die aber selbst kichern musste. „Das ist doch total rührend, Konrad ist wie ein Vater.“ „Oh ja…“ Lachend klopfte Öznur Benni auf die Schulter. „Keine Sorge, das ist normal, auch wenn man sich dafür schämt.“ „Wieso sollte ich mich dafür schämen?“, fragte Benni ruhig. Die Gruppe hielt mit dem Lachen inne und schaute ihn verwirrt an. „Na ja, es gibt viele überfürsorgliche Eltern und normalerweise ist es einem dann peinlich, wenn sie in aller Öffentlichkeit so… halt so überfürsorglich sind.“, erklärte Ariane. Benni schüttelte seufzend den Kopf, als teile er die Ansicht der anderen nicht wirklich. Carsten verdrehte grinsend die Augen. „Schön, dass du auch wieder da bist.“ „Oh mein Gott, wir haben dich ja noch gar nicht richtig begrüßt!“, stellte Öznur übertrieben geschockt fest. Anne zuckte mit den Schultern. „Ach was, es ist doch ein schöner Willkommensgruß, wenn man sofort ausgelacht wird.“ „Wir haben ihn nicht ausgelacht.“, widersprach Laura wütend. „Ihr vielleicht nicht.“ Laura wollte auf Annes gemeine Andeutung irgendetwas genauso Gemeines erwidern, doch bevor ihr überhaupt etwas einfallen konnte, hielt Öznur sie zurück. „Süß, dass du deinen Freund verteidigen willst, aber bei Anne kannst du dir deine Kräfte auch gleich sparen, das weißt du.“ Sie schob Laura direkt vor Benni. „Stattdessen solltest du endlich mal deinen Freund begrüßen.“ Natürlich bemerkte Laura, dass Öznur unnötig häufig das Wort ‚dein Freund‘ verwendete, aber kaum stand sie vor Benni, war sie sowieso nicht mehr in der Lage, über irgendetwas anderes nachzudenken, außer sich panisch zu fragen: Wie soll ich ihn denn jetzt begrüßen?!? Laura hatte von Beziehungen nicht den geringsten Schimmer. Na gut, in der Schule sah sie des Öfteren, wie sich Paare mit einem Kuss begrüßten, aber sie hatten sich noch nie geküsst! Und an sich war ihr dieses Herumgeküsse in der Öffentlichkeit sowieso total peinlich. „Ähm… hi?“, brachte Laura das einzig ihr mögliche und trotzdem total bescheuerte zustande. „Hi…“, grüßte Benni zurück. Öznur stöhnte auf. „Das kann doch nicht wahr sein.“ Sie packte jeweils Laura und Benni an einem Arm und versuchte, die beiden noch näher zusammen zu zerren. Zwar war Öznurs Versuch bei Benni vollkommen erfolglos, aber Laura überraschte sie damit so sehr, dass sie unbeholfen gegen Benni stolperte. Mit hochrotem Kopf funkelte Laura Öznur wütend an. „Hey, ihr braucht euch ja nicht gleich zu küssen.“, versuchte diese Laura zu beschwichtigen. „Eine Umarmung reicht am Anfang völlig. Man, seid ihr verschüchtert.“ „Wir können uns auch umdrehen, wenn euch das lieber ist.“, schlug Anne mit einem schadenfrohen Lachen vor. „Leute, es reicht. Das ist ja nicht auszuhalten.“, schritt Carsten schlichtend ein. Lissi schmollte. „Du bist so ein Spielverderber, Cärstchen.“ Öznur brachte einen beeindruckenden Laut hervor, welcher ein Mix aus seufzen und kichern war. „Ja gut, du hast Recht. Für heute bring ich die beiden nicht noch mehr in Verlegenheit. Na dann, gute Nacht.“ Sie ging demonstrativ an Laura vorbei und schob Lissi mit sich Richtung Mädchengebäude, während die anderen ihr folgten. Vorwurfsvoll schaute Laura ihnen nach, bis Carsten amüsiert meinte: „Bis morgen.“ Und in die entgegengesetzte Richtung davonging. Nur noch Laura und Benni blieben zurück. Natürlich. Frustriert stöhnte sie auf. „Geht das jetzt jeden Tag so?“ „Vermutlich.“, erwiderte Benni nur. Zögernd legte Laura schließlich den Kopf in den Nacken, um Benni ins Gesicht sehen zu können, da sie sich nach Öznurs Kupplungsversuch immer noch kein bisschen von ihm wegbewegt hatte. Auch aus dem Grund, weil sie sich gar nicht von Benni wegbewegen wollte, wie Laura beschämt feststellte. Zwar hatte sie hin und wieder das mulmige Gefühl, dass die Schüler, die an ihnen vorbei kamen sie verwundert musterten und dann tuschelnd weitergingen, aber das einzige auf das Laura gerade achtete war Benni. Sie konnte die Zeit nicht einschätzen, wie lange sie sich nun einfach gegenseitig in die Augen schauten, bis Laura seinem Blick schließlich nicht mehr standhalten konnte. Verlegen ging sie einen Schritt zurück und schaute auf den Boden, auch wenn sich selbst dieser geringe Abstand auf einmal unerträglich schmerzhaft anfühlte. „U-und… was machen wir jetzt?“, fragte sie und kam sich total bescheuert dabei vor. Laura hatte keine Ahnung, was für eine Antwort sie bei dieser komischen Frage überhaupt von Benni erwarten sollte. Vermutlich hatte sie gedacht, dass er einfach gehen würde, aber er stand immer noch einen knappen Schritt vor ihr, als wäre selbst er sich nicht sicher, was als nächstes kommen sollte. Womit sie aber gar nicht gerechnet hatte, war, dass Benni „Gute Nacht“ murmelte, sie sanft an den Schultern packte und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn hauchte, bevor er seinen Rucksack nahm, sich umdrehte und Carsten zum Jungenhaus folgte. Ungläubig starrte Laura ihm nach, während ihr Herz Saltos schlug und sich ihr Bauch anfühlte, als würden in ihm tausende Schmetterlinge herumflattern. Immer noch benommen strich sich Laura die Haare hinters Ohr und berührte dabei die Stelle, die Benni geküsst hatte. Es war wirklich ein federleichter Kuss gewesen und selbst wenn er nur den Bruchteil eines Wimpernschlags gedauert hatte, konnte sich Laura noch genau an das Gefühl der plötzlichen Schwerelosigkeit erinnern. Laura schüttelte den Kopf, um sich jedenfalls ein bisschen wieder zu fangen, ehe auch sie sich auf den Weg zu ihrem Zimmer machte. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter, doch Benni war schon längst im Jungenhaus verschwunden. Seufzend wappnete sie sich schon mal für den Verhör der anderen Mädchen, die nicht eher ruhen würden, bis Laura ihnen von dem Kuss auf die Stirn erzählt hatte. Dennoch musste sie Lächeln, als sie an diesen Moment zurückdachte. Natürlich wollten die anderen von Laura wissen, was draußen mit dem eiskalten Engel vor sich gegangen war. Zwar hatte Ariane es geschafft, sie von den Fenstern fernzuhalten, die ihnen einen guten Ausblick auf das Geschehen geboten hätten, damit die beiden jedenfalls so halbwegs ihre Privatsphäre hatten, aber vor den löchernden Fragen der Mädchen konnte sie Laura trotzdem nicht schützen. Immerhin wollte Ariane ja selbst wissen, was passiert war. Ihre beste Freundin druckste am Anfang zwar noch ziemlich verlegen herum, aber irgendwann erzählte sie von der Verabschiedung und dass Benni sie auf die Stirn geküsst hatte. Auch wenn Ariane beim Thema Benni gerne gegen ihn war, hieß das noch lange nicht, dass sie den Schulsprecher hasste. Es brachte sie halt jedes Mal zur Weißglut, wenn er Laura zum Weinen brachte. Doch seit sie von seiner traurigen Vergangenheit gehört hatte, sah sie ihn mit etwas anderen Augen. Zwar hatte Ariane keine Ahnung, wieso Benni über seine Gefühle -oder über Gefühle im Allgemeinen- nichts wusste aber für diese Umstände hatte er doch ziemlich gut reagiert. Ariane musste sich eingestehen, dass diese Reaktion sogar eigentlich ganz süß war… Sie war froh, Laura endlich mal glücklich zu sehen, denn sie hatte in der Mensa schon die Sorge gehabt, dass sich Lauras Laune aufgrund ihres immer näher rückenden Geburtstages noch weiter verschlechtert hatte. Ariane konnte ihr das zwar nicht verübeln, aber eine glückliche Laura war ihr halt doch bei weitem lieber und so war sie dem eiskalten Engel dankbar, dass er ihrer besten Freundin endlich zu diesem Glück verhalf. Gleich am ersten Tag war die Gerüchteküche schon am Überkochen und Ariane hatte irgendwann aufgehört, die Mädchen zu zählen, die sie gefragt hatten, ob ihre Zimmergenossin und der Schulsprecher tatsächlich ein Paar seien. Und natürlich hatte Ariane immer bejahend geantwortet, was viele dieser Mädchen sehr schockierte. Dummerweise hatte Konrad am Vorabend Recht gehabt und Herr Norito hatte sie dank seiner Vampirsinne gehört. So hat Ariane gleich am ersten Schultag schon eine Seite zum Auswendiglernen abbekommen. Doch Öznur hatte es genauso erwischt, wie sie in der Mittagspause von ihr frustriert erzählt bekam. Seufzend griff Ariane nach einem Dolch. Es war Samstagvormittag und sie hatten praktischen Unterricht in ihrer antiken Begabung. Herr Nunjitsu hatte vor, sie für die restliche Hälfte dieses Halbjahres in Waffenkunde einzuweisen und sie arbeiteten zuerst mit denen, die leichter zu handhaben waren. Anne schnaubte. „Ich würde einen Dolch nie und nimmer für den eigentlichen Kampf verwenden. Ja klar, für einen überraschenden Nahangriff ist er ganz praktisch, aber man kann mit ihm seinen Gegner überhaupt nicht auf Distanz halten.“ Ariane zuckte mit den Schultern und setzte sich auf das Geländer des Trainingsplatzes, da gerade die Dreiviertelstundepause anfing. „Ich kenn mich mit so was gar nicht aus.“, erwiderte sie ehrlich. „Aber man könnte den Dolch doch werfen und seinen Gegner damit unschädlich machen, oder?“ Um es Anne zu demonstrieren schleuderte Ariane den Dolch Richtung Wald, um keinen ihrer Mitschüler zu verletzen. Aber sie hätte sich vielleicht erst einmal vergewissern sollen, dass sich auch in dieser Richtung wirklich keine weiteren Personen befanden. Erschrocken hielt Ariane den Atem an. „Benni, pass auf!“, schrie Laura panisch. Doch diese Warnung war vollkommen überflüssig gewesen. Der Dolch hatte noch nicht einmal die Hälfte der Entfernung zwischen ihnen und Benni überbrückt, als er schon auf das Gras fiel. Während sich Anne vor Lachen den Bauch hielt, kam Benni zu ihnen rüber und hob auf halbem Weg den Dolch auf. „T-tut mir leid.“, murmelte Ariane betroffen und wich dem Blick des eiskalten Engels aus, da sie befürchtete, dass er wütend auf sie und ihre Nachlässigkeit war. „Das ist nun wirklich keine Entschuldigung wert.“ Benni klang zwar ziemlich sarkastisch, aber Ariane war froh, dass er nicht sauer war. „Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Laura besorgt. Anne stöhnte zwar genervt auf, lachte aber immer noch. „Ich glaube, nach diesem erbärmlichen Wurf kann bei ihm nur alles in Ordnung sein.“ „So schlecht war der auch nun wieder nicht.“, widersprach Ariane verlegen. „Oder?“, wandte sie sich hoffnungsvoll an Benni, den sie fast umgebracht hätte, wäre er nicht ganz so weit weg von ihnen gewesen. Immerhin müsste er sich ja als ‚stärkster Kämpfer Damons‘ mit so was auskennen. „Du weißt, dass ich nicht lügen kann?“, erkundigte er sich in seinem neutralen Ton, doch Ariane verstand, worauf er hinauswollte. Beschämt senkte sie den Kopf, während Benni kopfschüttelnd meinte: „Wie wollt ihr euch einem Gottesdämon stellen, wenn ihr noch nicht einmal in der Lage seid, einen Dolch anständig werfen zu können?“ Anne regte sich zwar über Bennis Kommentar auf, aber Ariane musste sich eingestehen, dass er Recht hatte. Sie waren einfach noch viel zu unerfahren, um tatsächlich eine Chance gegen Mars zu haben. Doch was sollten sie tun? Schweigend lehnte sich Benni neben Laura gegen das Geländer, deren Wangen sofort einen leichten Rotton annahmen, wie Ariane belustigt bemerkte. Aber ihr fiel auch auf, dass Benni zwar sehr dicht neben Laura stand, sie sich aber dennoch nicht berührten. Ariane unterdrückte ein Seufzen. Da kam Lissi vom Trainingsplatz zu ihnen gerannt. „Hallöchen, Bennlèy! Kommst du, um deiner Geliebten Gesellschaft zu leisten?“, rief sie ihm begeistert als Begrüßung entgegen. „Nein, er ist nur hier, weil Ariane ihn unbedingt als Zielscheibe misshandeln wollte.“, meinte Anne lachend und berichtete Lissi auf deren fragenden Blick hin von Arianes Wurfversuch. Vermutlich allerdings nur aus dem Grund, weil sie die ganze Situation köstlich amüsierte. „W-wie geht es eigentlich deinen Verbrennungen?“, erkundigte sich Laura verschüchtert, während sie Benni besorgt musterte. Überrascht schaute Ariane auf und beobachtete ihn ebenfalls. An Bennis Verletzungen hatte sie gar nicht mehr gedacht, aber sie hatte ja selbst gesehen, wie übel sie noch vor knapp zwei Wochen ausgesehen hatten. „Sie sind fast verheilt.“, antwortete er ruhig. Ariane fiel auf, dass der eiskalte Engel ein schwarzes, langarmiges Trainingsshirt trug, in dem er zwar wie immer sehr gut aussah, was sich selbst Ariane eingestehen musste, aber was eigentlich schon etwas zu warm war, dafür, dass sie bei den milden zwanzig Grad Sport machten. Also trägt er dieses lange Shirt aus anderen Gründen… Zum Beispiel um seine Verletzungen vor neugierigen Blicken zu verbergen, folgerte Ariane. „Zeig.“, forderte Laura ihren Freund auf, als wolle sie sich selbst vergewissern. Was Ariane auch sehr gut verstand, denn ‚fast geheilt‘ war eine sehr dehnbare Formulierung. Seufzend gab Benni nach und zog das Sweatshirt bis zum Ellbogen nach oben. Ariane verzog das Gesicht. Zwar konnte Benni nicht lügen, aber er hatte die Dehnbarkeit seiner Formulierung ganz schön ausgenutzt. So übel wie vor zwei Wochen sah es zum Glück tatsächlich nicht mehr aus, aber trotzdem wies sein gesamter Arm noch ziemlich viele stark gerötete Stellen auf. „Das ist nicht ‚fast verheilt‘.“, meinte Laura und wandte betrübt den Blick ab. Benni zog den Ärmel wieder nach unten. „Es ist wirklich nicht mehr so gravierend.“ Auf Lauras kritischen und besorgten Blick hin schüttelte er nur den Kopf. „Ich muss wieder zum Unterricht… Bis später.“ Hätte Ariane die beiden auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen gelassen, wäre ihr gar nicht aufgefallen, dass Benni flüchtig mit seinen Fingern über Lauras Handrücken strich bevor er ging, als sei diese Berührung nur zufällig und nicht beabsichtigt gewesen. Doch Ariane hatte das Gefühl, dass dem nicht so war und sie beobachtete kichernd, wie Laura ihrem Freund verträumt nachschaute. „Endlich Wochenende. Und Mittagspause!“ Gähnend streckte Ariane sich, während sie den Sportplatz nach dem Unterricht verließen und auf die Mensa zusteuerten. Aus dieser kamen ihnen verwunderlicher Weise die anderen aus der Magier-Klasse entgegen, die allesamt zwei Papiertüten mit sich trugen, in denen Ariane sofort etwas Essbares erwartete. „Was habt ihr vor? Picknicken?“, vermutete sie deshalb. Carsten schüttelte den Kopf. „Schön wär’s. Mir kam gerade die Schulsprecherin entgegen. Sie meinte, Benni wolle mit uns sprechen und wäre im Büro der Schülervertretung.“ „Oh wow, der Schulsprecher möchte mit uns sprechen, was für eine Ehre.“ Anne verdrehte genervt die Augen. „Und warum kommt er nicht zu uns?“ „Kann das nicht bis nachher warten? Ich will einfach nur in Ruhe essen und das erste Wochenende nach den Ferien genießen.“, meinte Ariane, während sie von Janine die Tüte gereicht bekam, in der sich tatsächlich ihr Essen befand. „Geht nicht.“, beantwortete Carsten beide Fragen auf einmal. „Benni hat noch einen Haufen Arbeit zu machen, die er vor den Ferien links liegen gelassen hatte, weil er damals so übermüdet war. Und nachher hat er im Gegensatz zu uns noch Unterricht.“ Da sie ja sowieso nichts daran ändern konnten, gingen sie also nicht zur Mensa, sondern zum Büro der Schülervertretung, während Ariane schon mal den Inhalt der Tüte, also ihr Mittagessen, inspizierte und halbwegs zufrieden gestellt war, als er sich als asiatische Nudeln entpuppte. Im Büro angekommen saß der Schulsprecher tatsächlich schön fleißig an irgendwelchen Papieren, die er sich durchlas. „Was gibt’s neues?“, erkundigte sich Carsten und schaute seinem besten Freund über die Schulter. „Sarah möchte Hosen für weibliche Schuluniformen einführen.“, antwortete er, ohne von dem Blatt aufzuschauen. „Na endlich.“, kommentierte Anne erfreut. „Ich hasse Röcke, die sind so unvorteilhaft.“ „Und Hosen sind total unbequem.“, erwiderte Laura, die nur Röcke trug, wie Ariane inzwischen bemerkt hatte. „Das ist ja ganz schön unfair.“ Erschrocken drehten sich die Mädchen zum Direktor um, der ganz plötzlich in der geöffneten Tür zum Büro der Direktoren stand. „Ich meine ja nur, wenn schon die Mädchen die Möglichkeit bekommen, zwischen Hosen und Röcken zu entscheiden, dann sollten die Jungs das auch. Einfach nur der Gleichberechtigung Willen.“, meinte er schulterzuckend. „Tauchen Sie immer so plötzlich auf?!“ Vorwurfsvoll funkelte Öznur ihn an, da sie offensichtlich fast einen Herzinfarkt bekommen hätte. Der Direktor grinste. „Ich wäre eher daran interessiert, was ihr alle hier macht. Bei der kleinen Prinzessin kann ich das ja noch verstehen.“ Er zwinkerte Laura wissend zu, die sofort mit hochrotem Gesicht wegschaute. „Sie wissen, dass die beiden endlich in einer Beziehung sind?“, stellte Öznur überrascht fest. Herr Bôss lachte auf. „Natürlich. Man sollte als Direktor schon wissen, warum auf einmal so viele Mädchenherzen gebrochen sind. Der Grund: Unser geliebter Schulsprecher ist nicht mehr zu haben.“ Er hielt kurz inne. „Aber ernsthaft: Was macht ihr hier?“ „Das würden wir auch gerne wissen.“ Fragend schaute Janine den besagten Schulsprecher an. Endlich legte dieser das Formular zur Seite und wandte sich an die Gruppe, die er herbestellt hatte. „Mit eurer derzeitigen Kampferfahrung seid ihr dem Purpurnen Phönix hilflos ausgeliefert.“ Anne schnaubte. „Was geht dich das an?!? Wir besitzen inzwischen alle unsere Dämonenform und sind stärker als je zuvor.“ „Na ja… Nicht alle.“, berichtigte Öznur sie zögernd. „Na und?!“ Vorwurfsvoll zeigte Anne auf Laura, die erschrocken zusammenzuckte. „Nur, weil unser schwächliches Prinzesschen vollkommen wehrlos ist, heißt das noch lange nicht, dass wir das auch sind, verstanden?!“ „Ich bin nicht vollkommen wehrlos!“, widersprach Laura lautstark, in deren Augen sich Tränen sammelten. „Nur, weil ich krank bin heißt das- heißt das noch lange nicht, dass ich- dass ich…“ Grob rieb sie sich über die Augen, um die Tränen wegzuwischen. „Ich hab mir nicht ausgesucht, bald zu sterben!!!“ Mitfühlend nahm Ariane Laura in die Arme, die sich sofort schluchzend an sie klammerte. Während sie tröstend auf sie einredete, konnte sich Ariane nicht entscheiden, ob sie nun Anne oder Benni wütend anfunkeln sollte. Na gut, Benni traf zwar keine Schuld, aber sie wussten alle nur zu gut, dass sich Laura in seinen Armen viel schneller würde beruhigen können. Ariane entschied sich dazu, Benni ganz kurz auffordernd anzuschauen und dann ihren ganzen Zorn in einem Blick auf Anne zu entladen. Eine Weile sagte keiner etwas, nur Lauras Schluchzen war zu hören und Ariane ärgerte sich, dass der eiskalte Engel offensichtlich doch noch nicht ganz aufgetaut war. Schließlich meinte dieser: „Ihr alle seid vollkommen wehrlos.“ Entgeistert starrte Anne ihn an, doch ihr fehlten offensichtlich die Worte. Carsten seufzte. „Ihr müsst einsehen, dass er Recht hat.“ „Aber wir sind nicht so schwach.“, widersprach Öznur entrüstet. „Doch, seid ihr.“, äußerte sich Herr Bôss schmerzhaft direkt. „Ihr seid gerade mal im ersten Jahr und selbst wenn ihr eure Ausbildung hier beendet hättet… Auf einen Kampf auf Leben und Tod wärt ihr trotzdem nicht vorbereitet. Doch genau dieser Kampf erwartet euch.“ Susanne schaute die anderen verzweifelt an. „Aber warum kämpfen wir dann überhaupt?! Wenn ein Erfolg sowieso aussichtslos ist…“ Bedrückt wandte sie sich wieder ab. „Es tut mir leid, ich wollte nicht feige klingen…“ Carsten schüttelte beruhigend den Kopf. „Das ist nicht feige. Das ist gesunder Menschenverstand.“ „Aber Susi hat Recht…“ Öznur ließ sich auf das Sofa sinken. „Ich weiß, wir sollten wenigstens versuchen Mars aufzuhalten aber… wenn wir keine Chance haben… Dann hat es keinen Sinn, dass wir unser Leben für ganz Damon riskieren.“ Schaudernd verschränkte Janine die Arme vor der Brust. „Wir würden so oder so sterben…“ „Ninie, sag so was nicht.“, flehte Ariane sie an. „Ich will so was nicht hören! Und schon gar nicht aus deinem Mund!“ Susanne seufzte. „Aber sie hat Recht.“ „Nein!“, widersprach Ariane energisch. „Lass es Nane, es hat keinen Sinn.“ Ariane bekam es mit der Angst zu tun, wie leer Lauras Stimme sich auf einmal anhörte. Sie befreite sich aus ihrer Umarmung und meinte schließlich, mit demselben trostlosen Ton wie zuvor: „Was machst du dir überhaupt noch Hoffnungen? Wir sind dem Untergang geweiht und können nichts mehr daran ändern.“ „Unsinn.“ Die Bestimmtheit, mit der Benni dieses eine einzige Wort aussprach, ließ tatsächlich jeden wieder etwas Hoffnung schöpfen. „Du-du meinst es ist nicht alles verloren?“ Ungläubig schaute Janine ihn an. „Aus diesem Grund habe ich euch gebeten, herzukommen.“, erklärte er sachlich. „Euch fehlt zwar die nötige Kenntnis und Erfahrung im Kampf, aber das ist nichts, was sich nicht ändern ließe.“ „Aber wir haben dieses Wissen nun mal noch nicht. Sollen wir jetzt unseren Lehrern sagen, dass sie sich mit dem Unterricht beeilen sollen, immerhin müssen wir einen mächtigen Gottesdämon besiegen?“, fragte Öznur sarkastisch. Doch Benni schüttelte den Kopf. Carsten schien verstanden zu haben, worauf sein bester Freund hinaus möchte. „Wir könnten euch unterrichten.“ „Hä?“ Verwirrt musterte Ariane die beiden Jungs. „Klingt zwar verrückt, aber eigentlich ist die Idee ganz gut.“, überlegte der Direktor. „Eufelia-Sensei hat uns doch damals schon ausgebildet.“, erklärte Carsten. „Ich habe zwar nicht alles lernen können, bin aber doch schon weiter als ihr, also könnte ich euch einige Magietechniken und Tricks noch beibringen. Und ihr wisst doch, dass Benni bereits das Kämpfen gelernt hat, seit er ein Kleinkind war. Und nicht nur das, er war auch schon in mehreren Situationen, in denen es um Menschenleben ging.“ „Stimmt, das ist wirklich eine gute Idee!“, rief Öznur begeistert. „Na ich weiß ja nicht…“ Kritisch verschränkte Anne die Arme vor der Brust. „Ist dir die Alternative unvorbereitet in den Kampf zu gehen denn lieber?“, erkundigte sich Carsten geduldig. Damit hatte er schließlich auch Anne überzeugt, die zwar murrend, aber ohne weitere Widerworte nachgab. „Und wann haben wir die erste Stunde? Jetzt?“, fragte Ariane erwartungsvoll. Irgendwie war sie sehr neugierig, wie sich Benni als Lehrer so machen würde. „Wohl kaum.“, meinte dieser nach einem kurzen Blick auf die Uhr und stand auf. „Ach so, stimmt, du hast ja noch Unterricht.“, erinnerte sie sich, etwas enttäuscht. „Dann morgen!“ Benni nickte und verließ das Büro der Schülervertretung. Seufzend setzte sich Ariane auf das Sofa und widmete sich endlich den Nudeln. Vermutlich war Benni durch ihren total peinlichen Messerwurf darauf gekommen, dass sie noch ganz schön unbeholfen und unerfahren waren. Wobei sie ihm auch zutrauen würde, dass er das bereits die ganze Zeit gewusst hatte und sich bisher nur keine Gelegenheit ergeben hatte, sie damit zu konfrontieren. Egal wie Benni auf diese Idee gekommen war, Ariane war froh, dass er sie hatte. Denn eins stand fest: Hätte niemand daran gedacht, wären sie wirklich dem Untergang geweiht gewesen. „Oh Mann, Benni hat wegen uns jetzt gar nichts gegessen.“, bemerkte Carsten besorgt. Ariane verschluckte sich an einer ihrer Nudeln. „Wasch?!?“ Der eiskalte Engel ging nun wegen ihnen ohne etwas gegessen zu haben in den Unterricht?!? Ariane würde sterben, wenn ihr das passieren würde! Carsten lachte auf. „Also so schlimm ist das jetzt auch nun wieder nicht.“ „Oh doch und wie!“, widersprach Ariane ihm mit schlechtem Gewissen. Immerhin ging es um Essen! Der Direktor schüttelte lachend den Kopf, bevor er bemerkte: „Ups, ich hab ja jetzt auch Unterricht.“ Er winkte der Gruppe noch einmal grinsend zu, ehe er ebenfalls das Büro verließ. Auch der Rest ging nach außen, um nun doch noch zu picknicken. Immerhin war endlich mal gutes Wetter. „Ach so, Laura…“ Kritisch musterte Ariane über ihre Nudeln hinweg Anne, die sich an Laura wandte. „Das wegen vorhin tut mir leid. So hatte ich das nicht gemeint, das musst du mir glauben.“ Doch Laura schaute nur auf den Boden. „Lasst mich einfach in Ruhe.“, meinte sie tonlos und ging in die andere Richtung davon. Ariane und Carsten tauschten einen besorgten Blick aus, hielten es aber für angebracht, Lauras ‚Bitte‘ vorerst Folge zu leisten. „Ich mache mir ernsthaft Sorgen um sie!“, berichtete Ariane Lissi, während sie gemeinsam zum Frühstücken in die Mensa gingen. Die beiden waren heute diejenigen, die am spätesten aufgestanden waren und sich somit auch als letztes fertiggemacht hatten. Lissi zuckte mit den Schultern. „Lass ihr doch einfach etwas Zeit für sich selbst.“ „Ja aber… Nein!“ Frustriert hob Ariane die Hände. „Sie war gestern den ganzen Nachmittag über nicht auffindbar und beim Abendessen war sie auch nicht, falls du das nicht bemerkt hast. Ich wollte sie dann vorm Schlafengehen abfangen, aber sie wollte einfach nicht mit mir reden. Das ist schon genauso schlimm, wie beim eiskalten Engel damals. Ich hab das Gefühl, gegen eine Wand zu reden!“ Lissi seufzte. „Nane-Sahne… Was soll sie dir auch groß erzählen? In drei Wochen hat sie Geburtstag und stirbt vielleicht an diesem Tag. Sie hat riesige Angst und das wissen wir auch alle.“ „Aber trotzdem… Wir können ihr helfen, wir sind doch für sie da! Jedenfalls wollen wir für sie da sein, aber Laura lässt uns nicht an sich ran!“, widersprach Ariane, war allerdings etwas aus der Bahn geworfen, weil Lissi ihr tatsächlich vollkommen ernst geantwortet hatte. Diese wollte irgendetwas erwidern, sagte schließlich aber doch nichts. Stattdessen winkte sie einem Jungen zu, der auf sie zukam. „Hallöchen Julien!“ Die beiden begrüßten sich mit einem ausgiebigen Kuss, ehe Lissi in einem verführerischen Ton meinte: „Ich muss leider weiter aber voulez vous coucher avec moi ce soir?“ Julien lachte auf. „Bien sur, ma belle!“ Und ging weiter. Ariane starrte Lissi verwirrt an, die ihr zwinkernd mit dem Ellbogen in die Seite stieß. „Den solltest du dir merken.“ Seufzend schüttelte Ariane den Kopf. Sie verstand zwar nicht, was Lissi gesagt hatte, aber irgendwie schien dieser Witz gut anzukommen. „Da seid ihr ja endlich!“, rief Anne ihnen ungeduldig zu und wies ihnen an, sich zu setzen, als sie den Tisch im Mensaturm gefunden hatten, an dem der Rest der Gruppe saß. Öznur kicherte. „Du kannst das Training wohl kaum erwarten, was?“ „Unsinn.“, schnaubte Anne, „Ich bin’s einfach Leid, ewig auf die Langschläfer warten zu müssen.“ „Wie wär’s, wenn du dann nicht so früh aufstehst?“, schlug Ariane empört vor, während sie sich auf ihren Platz neben Laura setzte. Sie war ziemlich blass, wie Ariane besorgt bemerkte und sie fragte sich, wann Laura eigentlich ihren letzten Anfall gehabt hatte. Denn der letzte von dem sie wusste, war vor über zwei Wochen gewesen. „Laura, du solltest auch etwas essen.“, riet Carsten seiner besten Freundin fürsorglich, deren Teller noch unbenutzt war. Doch Laura schüttelte den Kopf und erwiderte nur: „Keinen Hunger.“ Carsten seufzte. „Trotzdem. Sonst wird dich das Training heute viel zu schnell erschöpfen.“ Laura senkte den Blick. „Es lohnt sich für mich doch sowieso nicht mehr, jetzt noch zu trainieren.“ Gedankenverloren kaute Ariane auf ihrem Brot herum. Gab es wirklich nichts, womit sie Laura aufheitern konnten? „Jetzt sag doch so was nicht.“ Kopfschüttelnd schob Carsten sein noch unangerührtes Frühstücksei zu ihr rüber. „Du weißt ganz genau, dass Benni dich so oder so zum Training zwingen wird.“ Während Laura sich tatsächlich geschlagen gab, schluckte Ariane einen ganzen Bissen herunter. Natürlich gab es etwas! Oder eher jemanden. Benni wartete bereits auf dem Sportplatz auf sie und schien die Zeit mit Chip-streicheln totgeschlagen zu haben, dem das Auftauchen der anderen eindeutig missfiel, weil er wusste, dass die Kuschelzeit nun vorbei war. Nachdem Chip ihnen also einen vorwurfsvollen und dadurch total knuffigen Blick zugeworfen hatte, sprang er demonstrativ von Bennis Schulter und verschwand auf einem Baum. „Also bringst du uns jetzt bei, wie man kämpft, während Carsten mit den anderen Zaubern übt.“, vergewisserte sich Ariane und bekam als Antwort ein Nicken. „Viel Spaß dann.“, verabschiedete sich Öznur belustigt und folgte den übrigen Magiern zu einem weiteren der insgesamt drei Sportplätze. Ariane musste sich eingestehen, dass Benni eigentlich ein verdammt guter Lehrmeister war. Er berücksichtigte, dass jeder einen unterschiedlichen Kampfstil hatte, konnte aber doch noch hilfreiche Verbesserungsratschläge geben. Anne und Ariane bauten zum Beispiel sehr auf Schnelligkeit und waren eher ein Angriffstyp, während Laura überraschend gut im Verteidigen war. Aber auch Lissi war besser, als man es eigentlich von ihr vermuten würde. Um den Kampfstil der Mädchen kennenzulernen, ließ Benni sie am Anfang gegen sich kämpfen. Doch es war offensichtlich, dass er sich ganz schön zurückhielt, damit der Kampf länger als eine knappe Sekunde dauerte. Da sie nicht wussten, wann sie sich dem Purpurnen Phönix entgegenstellen mussten, hatte Benni vor, sie in jeweils dem Kampftyp zu unterrichten, mit dem sie am besten klarkamen, statt ihnen einen Crashkurs in allem zu verpassen. Während Lissi mit etwas Abstand zu ihrem Gegner besser zurechtkam, waren Ariane und Anne eher Nahkämpfer. Nur Laura stellte ein Problem dar. Sie war sowohl im Nahkampf als auch im Fernkampf nicht wirklich gut, denn zum Schlagen fehlte ihr die Kraft und wenn sie unter Druck stand konnte sie auch nicht gut zielen. Doch mit guter Verteidigung alleine würde sie keinen Kampf gewinnen können, schon gar nicht mit ihrer Besorgnis erregenden Ausdauer. Inzwischen hatte Benni jedem bis auf Laura eine Waffe zuordnen können. Für Anne fand er einen Speer am sinnvollsten, da dieser sowohl für Nahkampf als auch für Fernkampf geeignet war. Das traf sich besonders gut, da Anne bei ihrer Dämonenprüfung bereits den ‚Demonspear‘ bekommen hatte. Ariane riet er zu einem Dolch, was diese für Ironie des Schicksals hielt, denn immerhin hatte sie Benni erst gestern mit ihrem dämlichen Wurf in Lebensgefahr gebracht. Was auch nicht ganz stimmte, da sie den Wurf ja total vergeigt hatte. Lissi war total begeistert, als Benni meinte, dass sie sich mit einer Peitsche versuchen solle. Zwar passte diese Waffe wirklich gut zu ihr, da sie Ähnlichkeiten mit dem Element hatte, welches Lissi beherrschte. Doch trotzdem konnte Ariane es nicht ignorieren, dass ausgerechnet diese Waffe in Lissis Händen eine eindeutig zweideutige Bedeutung hatte. Frustriert biss sich Laura auf die Unterlippe. „Ich bin echt zu nichts zu gebrauchen, oder?“ „Ja.“, antwortete Anne prompt. „Unsinn!“, widersprach Ariane beiden und trat Anne gegen das Schienbein. „Es ist so!“, schrie Laura aufgebracht. „Ich kann weder ein Schwert schwingen, noch mit einem Pfeil treffen! Das einzige, was ich perfekt beherrsche, ist mich in Schwierigkeiten zu bringen!!!“ „Laura…“ Ariane seufzte gereizt, hielt mit ihrer Schimpftirade über Lauras mangelndes Selbstwertgefühl aber inne, als sie bemerkte, wie blass ihre beste Freundin war. „…Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich besorgt. Laura war nicht nur blass, sie war regelrecht weiß im Gesicht! Erst schien Laura noch irgendetwas Verärgertes antworten zu wollen, doch das änderte sich schlagartig, als sie benommen zurücktaumelte. Panisch schaute sie sich um, schien die anderen aber aus irgendeinem Grund nicht sehen zu können. „N-Nane? Benni?“, brachte sie mit zitternder Stimme hervor. Ehe sie vornüberkippte, hielt Benni sie fest. „Soll ich Carsten holen?“, fragte Anne, doch die Antwort stand auch ohne Bennis Nicken schon fest. Mit der beeindruckenden Geschwindigkeit eines Kampfkünstlers verschwand sie. Ariane beobachtete, wie Benni Laura hochhob, die sich schwer atmend an sein Shirt krallte, als würde sie keine Luft mehr bekommen. Er trug sie zu dem nächstgelegenen Baum, setzte sie dort in den Schatten und strich ihr sanft das Haar aus dem schweißnassen Gesicht. Kurz darauf kam Anne mit Carsten zurück, der sich sofort neben sie kniete und ihre Temperatur prüfte. „Ist dir schwindelig?“, erkundigte er sich mit dem fürsorglichsten Ton, den Ariane je gehört hatte. Laura nickte benommen. Carsten seufzte. „Du solltest doch Bescheid geben, wenn du nicht mehr kannst.“ Kopfschüttelnd wandte er sich an den Rest. „Sie hat sich überanstrengt. Diese Schwächeanfälle sind zwar zu erwarten, aber nicht weiter schlimm. Nur jetzt ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie einen richtigen Anfall bekommt.“ Wie als sollte das eine Bestätigung sein, hustete Laura und verschluckte sich dabei an etwas Blut, das sie zu einem heftigeren Husten zwang. Wortlos setzte sich Benni neben sie und nahm sie in den Arm. Für einen kurzen Moment loderte eine dunkle Aura um beide, ehe sich Lauras Husten beruhigte und sie sich schluchzend an ihn klammerte. Inzwischen war auch der Rest der Magier angekommen. „Geht’s ihr gut?“ Besorgt schaute Janine zu Laura und Benni und schließlich zu Carsten. Dieser stand auf, drückte kurz Lauras Schulter und ging dann zu den anderen. „Ihr seht’s ja…“, antwortete er seufzend. „Besser sie schont sich für den Rest des Tages.“ Ariane nickte. „Gute Idee. Komm Laura, wir bringen dich ins Zimmer, dann kannst du dich erst mal ausruhen.“ Das Gesicht immer noch in Bennis Shirt vergraben schüttelte Laura den Kopf. „Willst du lieber hierbleiben?“, fragte Carsten geduldig. „Wenn du möchtest, kann ich dir auch deine Zeichensachen bringen, dass du dich dann nicht allzu sehr langweilst. Aber du solltest dich unbedingt schonen.“ Dieses Mal nickte Laura. Von dem einen, auf den anderen Moment hielt Carsten Lauras Skizzenblock, mehrere Stifte und einen Radiergummi in der Hand, was er alles neben seine beste Freundin auf die Wiese legte. „Okay, dann können wir jetzt mit dem Training fortfahren.“, meinte er in einem fast-Lehrerton an die anderen gewandt. Benni wollte wieder aufstehen, doch Laura krallte sich immer noch an ihm fest, als wolle sie ihn nicht loslassen. „Bleib bei mir…“, murmelte sie kaum verständlich. Sanft nahm Benni Lauras Hände, sodass sie ihn gezwungener maßen losließ. „いつもいるよ。“, sagte er und gab ihr einen kurzen Kuss auf den Scheitel, ehe auch er zu den anderen ging. Laura hielt ihn nicht mehr zurück und ihr vorher weißes Gesicht war nun eher rot. „Das war ja echt total süß.“, bemerkte Öznur und legte gerührt die Hand aufs Herz. „Ja, wirklich. Sehr romantisch, Benni!“ Carsten lachte, doch sein Lachen hatte ein Ende, als Benni ihm auf den Hinterkopf schlug. Kichernd beobachtete Ariane, wie sich Carsten die schmerzende Stelle rieb und fragte ihn schließlich: „Was hat Benni eigentlich gesagt?“ Wieder fing Carsten an zu lachen. „Bin ich immer.“, übersetzte er. Nahezu alle Mädchen gaben ein kollektives „Oooooh.“ von sich, nur Benni schüttelte verstimmt den Kopf und Ariane wusste nicht, ob es nun Einbildung war oder nicht, aber sie glaubte, eine leichte Röte auf seinen Wangen zu sehen. Doch Sekunden später war sie sich sicher, dass das nur die Schatten der Blätter des Baums gewesen waren. Während sich Anne zu einem Sandsack zurückzog und an diesem armen Gegenstand ihre in der Woche angestaute Aggression ausließ und Lissi begeistert an einem weiteren armen Sandsack verschiedene Peitschenhiebe ausprobierte, nahm Ariane ihren Mut zusammen und ging zu Benni rüber. Eigentlich sollte auch sie einige Übungen am Sandsack ausführen, aber ihrer Meinung nach mussten gerade schon genug von denen leiden. „Gibt es ein Problem?“, erkundigte sich ihr Teilzeitlehrmeister. „Äh-ähm nein, nicht wirklich.“ Abwehrend hob Ariane die Hände und holte tief Luft, für ihre nächste Frage. „Ich wollte eigentlich fragen, ob du mir Messerwerfen beibringen kannst.“ Benni nickte und Ariane folgte ihm zu den Zielscheiben. „Für gewöhnlich nimmt man das Messer an der Klinge, doch da du überwiegend geschliffene verwenden wirst ist es für den Anfang sicherer, sie am Griff zu packen.“, begann er ohne Umschweife zu erklären. Er zeigte Ariane, wie man sich beim Messerwurfsport hinstellte. Zwar war sie zu Beginn nicht ganz überzeugt, ob sie sich wirklich jedes Mal erst in Wurfposition begeben musste, um einen Gegner angreifen zu können, auch wenn der Stand alleine nicht allzu kompliziert war. Doch Benni meinte, dass sie erst einmal die Grundlagen beherrschen sollte, danach wäre sie auch in der Lage, Würfe unter verschiedenen Bedingungen zu lernen und auszuführen. So schwierig schien Messerwerfen wirklich nicht zu sein. Wichtig war, dass sie das Messer gut festhielt, dass es ihr nicht zu früh davonflog, aber sie durfte es auch nicht zu verkrampft halten, sonst würde ihr der Wurf nicht gelingen. Ariane bemerkte stolz, dass sie das sogar ziemlich schnell draufhatte. Nur das rechtzeitige Loslassen und das Zielen bereiteten ihr noch Schwierigkeiten. Meistens ließ sie das Messer zu spät los, sodass es nur wenige Meter vor ihr im Boden stecken blieb, oder zu früh, dass es in hohem Bogen davonflog. Einmal hatte Ariane es sogar auf die Reihe gebracht, dass ihr das Messer auf den Kopf gefallen wäre, hätte Benni sie nicht rechtzeitig zur Seite gezogen. „Ich hab mal eine Frage.“, meinte Ariane zu ihm, nachdem sie schon wieder unbeabsichtigt das Gras statt der Zielscheibe aufgespießt hatte. „Oder eher eine Bitte… Ach, irgendwie ist es beides! Aber es geht nicht ums Training…“, ergänzte sie zögernd. Da Benni nichts darauf erwiderte, fragte sie schließlich: „Bist du schon mal mit Laura ausgegangen?“ „Das ist deine Bitte?“ Benni zog das Messer aus dem Boden und setzte sich im Schneidersitz auf das Gras, da er sich schon dachte, dass Ariane nun nicht mehr vorhatte, irgendetwas oder –jemanden zu attackieren, bis die Sache geklärt war. Womit er auch Recht hatte. Ariane setzte sich ihm gegenüber. „Im Prinzip schon. Du müsstest es inzwischen doch auch bemerkt haben: Du bist der einzige, der Laura wirklich beruhigen kann… Bei dem sie wirklich glücklich ist!“ Gedankenversunken zupfte sie einen Grashalm aus und pflückte ihn auseinander. „Ich hoffte, dass du sie etwas von ihren traurigen Gedanken ablenken kannst, indem du mal was mit ihr unternimmst.“ Benni schwieg für eine Weile und schaute rüber zu der Eiche, unter der Laura immer noch saß und mit ausdruckslosem Blick auf ihren geöffneten Skizzenblock starrte. Ariane war genauso überrascht wie ihre beste Freundin, als plötzlich Chip vom Baum geklettert kam und sich so lange gegen Lauras Arm schmiegte, bis diese ihre Zeichensachen schließlich zur Seite legte und ihn streichelte, mit dem leichten Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht. Ariane warf Benni einen kritischen Blick zu und fragte sich, ob er was damit zu tun hatte und wenn ja, wie er in der Lage war, über diese Entfernung mit Chip zu kommunizieren. Endlich wandte Benni den Blick von Laura ab und meinte: „Darauf hat mich Carsten letztens ebenfalls angesprochen.“ „Und warum hast du seit diesem ‚letztens‘ noch nichts gemacht?“ Empört funkelte Ariane ihn an. Benni schaute sie aus den Augenwinkeln an und Ariane schauderte, als ihr auffiel, dass er irgendwie verärgert wirkte. „Weil ich nicht weiß, was.“, antwortete er und klang tatsächlich ganz leicht gereizt. „Das einzige, wozu ich je zu Nutze war, ist das.“ Ariane konnte der rasend schnellen Bewegung nicht folgen, mit der Benni das Messer mit solcher Nebensächlichkeit zur Seite warf, dass er sich gar nicht erst vergewisserte, wohin er es schleuderte und trotzdem genau die Mitte der Zielscheibe traf. „Ich wurde zu einer Killermaschine ausgebildet. Ich habe nie gelernt zu fühlen.“ „Man kann auch nicht lernen zu fühlen. Man fühlt einfach, wie man sich fühlt.“ Carsten setzte sich neben sie auf das Gras. „Die anderen holen das Essen aus der Mensa.“, erklärte er knapp. „Dann sag mir, was ich fühle.“, forderte Benni seinen besten Freund auf. „Du möchtest Laura helfen, weißt aber nicht, wie.“ Carsten schien direkt in Bennis Herz schauen zu können. „Du bist verzweifelt.“ Bedrückt wandte Benni den Blick ab und Carsten legte ihm aufmunternd eine Hand auf die Schulter. „Sei einfach für sie da. Wenn sie dich dann wirklich braucht weißt du meistens schon instinktiv, was du machen musst. Vorhin war das doch auch so.“ Ariane seufzte und zerstückelte einen weiteren Grashalm, doch dieser kam halbwegs glimpflich davon, weil hinter ihnen auf einmal Öznur rief: „Essen ist da, Leute! Jetzt kommt endlich!“ Sofort sprang Ariane auf und rannte zu den Magier-Mädchen, die in der Nähe der Eiche unter der Laura immer noch saß ein großes Tuch ausbreiteten. „Endlich.“, kommentierte Anne zufrieden, die mit Lissi endlich die armen unschuldigen Sandsäcke in Ruhe gelassen hatte, um ebenfalls zum Essen zu kommen. Carsten machte einen kleinen Umweg, um Laura dazu zu überrechen, auch etwas zu Essen und half ihr fürsorglich wie immer auf die Beine. Dieses Mal gab es Pizza, was an der Coeur-Academy leider relativ selten vorkam. So griffen die meisten heißhungrig zu, um dieses Event auch bloß auszunutzen. Ariane fiel auf, dass sie nicht die einzigen waren, die dieses sonnige Wetter nutzen, um außen zu essen. Mehrere Schülergruppen verteilten sich auf dem hinteren Teil der Schule und Ariane bemerkte, wie eine Gruppe direkt auf sie zusteuerte. Sie bestand komplett aus Mädchen und nach einigem Überlegen fiel Ariane auch wieder ein, wo sie sie schon mal gesehen hatte. Es war Lisa Rapuko, gefolgt von dem Rest ihrer eingebildeten Clique, die dachten nur, weil ihre Eltern einen hohen Stand hatten, gehörte ihnen die ganze Welt. „Dann stimmt das Gerücht also wirklich?“, bemerkte Lisa und musterte Laura und Benni. Schließlich seufzte sie. „Ich bemitleide dich, kleine Prinzessin, wie kannst du das nur bewältigen?“ Verwirrt musterte Laura Lisa, doch Ariane wusste, dass diese Tussi garantiert kein Mitleid empfand. Die führte doch sicherlich irgendwas im Schilde! „Na ja… Du willst das vielleicht nicht wahrhaben…“ Mitfühlend schaute Lisa Laura an. „Und es tut mir im Herzen weh… Aber… Nein.“ Abrupt wandte sie sich ab. „Nein, es tut mir leid, ich kann das nicht.“ „Wovon um alles in der Welt redest du? Sag schon!“, forderte Öznur sie auf, die Lisa seit ihrer letzten Begegnung am liebsten tot sehen würde. „Es ist so…“, erklärte sie endlich, „Ihr müsstet doch wissen, dass unser Schulsprecher leider sehr gefühlskalt ist.“ „Ja. Und?“, hakte Anne nach, die genauso gefühlskalt klang, wie Lisa Benni beschrieben hatte. „Dass ihr das als ihre Freunde überhaupt mitansehen könnt!“, entrüstete sie sich. „Die Kleine muss doch vor Liebe zu ihm vergehen, während er sich nicht einen Dreck um sie kümmert!“ Lisa seufzte und ging auf Laura zu, um ihre Hände zu nehmen. „Das du so überhaupt noch leben kannst… Wenn dein armes Herz einfach keine Liebe zurückbekommt!“ Entgeistert starrten die anderen Lisa an. Das hatte sie nicht im Ernst gesagt, oder?!? Laura wich zitternd jeglichem Blick aus. Vermutlich war sie sich noch viel zu unsicher, was Bennis wahre Gefühle für sie betraf und genau diese Unsicherheit attackierte Lisa jetzt. Höchst wahrscheinlich glaubte Laura ihr auch noch! Verärgert ballte Ariane die Hände zu Fäusten. Was für eine hinterhältige dumme Kuh! „Warum bist du dir da so sicher?“ Bennis Ton war seinem Spitznamen entsprechend eiskalt. In Gedanken feuerte Ariane ihn an, während Lisa ihn völlig fassungslos anglotzte. „Ich wüsste nicht, was dich meine Beziehung mit Laura angeht oder woher du dir das Recht nimmst, solch anmaßende Hypothesen aufzustellen aber ich rate dir: Lass meine Freundin in Ruhe.“ Nun war Benni durch und durch der ‚eiskalte Engel‘. Eingeschüchtert ließ Lisa endlich Lauras Hände los und stolperte einige Schritte zurück, ehe sie sich abwandte und mit ihrer Clique davoneilte. Carsten lachte atemlos auf. „Der hast du’s aber gezeigt, sie tat mir schon fast leid…“ „Oh ja!“, gab Öznur ihm lachend Recht. „Und erst dieses ‚Lass meine Freundin in Ruhe‘! Also glaub mir, Benni, ich werde Laura nie was Böses tun, das verspreche ich.“ „H-hast du… das ernst gemeint?“ Verunsichert schaute Laura Benni mit großen, hoffnungsvollen Augen an. Benni seufzte und verschränkte ihre Finger mit seinen. „Natürlich.“ Verlegen aber auch irgendwie glücklich lachte Laura auf und wich beschämt seinem Blick aus. Ariane atmete erleichtert auf. Carsten hatte halt Recht gehabt. Wenn es drauf ankam wusste Benni, was zu tun war. „Moment aber… ‚meine Freundin‘? Du hast sie wirklich ‚meine Freundin‘ genannt?!“, fiel Öznur begeistert auf. „Aber du sagst doch in Zukunft trotzdem Laura zu ihr, oder?“ Kritisch schaute Anne ihn an. „Denk bloß nicht, dass sie nun so etwas wie dein Eigentum ist.“ Carsten zuckte lachend mit den Schultern. „Wie sollte er sie sonst nennen? Zuckermäuschen?“ Nun konnte sich keiner mehr vor Lachen halten bis auf das Paar, das seinem Scherz zum Opfer gefallen war. Doch trotz ihres Lachanfalls beobachtete Ariane zufrieden, wie sich Laura zwar verschüchtert aber glücklich in Bennis Arme kuschelte und Benni zwar seufzend den Kopf schüttelte, sich aber auf seine eigene Art über Carstens Witz amüsierte. Kapitel 37: Glauben -------------------    Glauben       Seufzend stützte Laura ihr Kinn auf den Händen ab und überflog noch einmal die Zeilen, die sie am Schulcomputer im sonst mittelalterlich wirkenden Bücherturm geschrieben hatte.   Hi Rebecca, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, mir geht’s zurzeit ganz gut. Wirklich! Auch wenn ich das selbst nicht so wirklich glauben kann…  Vermutlich habe ich das alles Benni zu verdanken. In letzter Zeit ist er so… gar nicht mehr abweisend! Oder so ähnlich, keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll. XD Bevor du fragst: Nein, wir hatten noch kein Date! Jedenfalls nicht so was wie Essen oder ins Kino gehen. Aber wir gehen öfter mal spazieren, falls das irgendwie auch unter ‚eine Verabredung haben‘ fällt. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, ich verkrieche mich nicht jeden Tag heulend im Bett! :) Liebe Grüße Laura   Mit einem weiteren Seufzen klickte sie auf ‚Senden‘ und loggte sich wieder aus. Rebecca hatte ihr nun schon mehrere besorgte E-Mails geschickt, ob mit ihr alles in Ordnung wäre und Laura konnte es ihr noch nicht einmal übelnehmen. Immerhin dürfte mit ihr gerade eigentlich gar nichts in Ordnung sein! Aber sie hatte Rebecca in ihrer Antwort nicht angelogen, es ging ihr wirklich ganz gut. Relativ gut, jedenfalls. Jede Sekunde, die sie mit Benni verbrachte, war wie als würde sie sich im Himmel befinden und auch, wenn sie bei Carsten, Ariane oder den anderen Mädchen war, fühlte sie sich eigentlich ganz wohl. Doch trotzdem überfiel sie jede Nacht aufs Neue die schmerzhafte Wahrheit. In nicht mal mehr zwei Wochen würde sie sterben. Auch wenn Laura immer wieder mit aller Kraft versuchte, diese Tatsache zu ignorieren, oder jedenfalls nicht losweinen zu müssen, war es doch so, dass sie ihr tränenüberströmtes Gesicht ins Kissen drückte, damit Ariane ihr Schluchzen nicht hören konnte. Sie waren alle so froh, Laura glücklich zu sehen, dass Laura ihnen die Wahrheit einfach nicht antun wollte. Obwohl Benni und Carsten die Mädchen seit gerade mal einer Woche Nachhilfe im Kämpfen gaben, hatten diese sich schon so enorm gebessert, dass selbst ihre Lehrer Herr Nunjitsu und Herr Zar von ihren Fortschritten beeindruckt waren. Nur Laura hing natürlich total zurück. Benni hatte sie bisher immer noch nicht darauf angesprochen, welche Waffe sie am besten benutzen sollte und dank ihrer lausigen Ausdauer und Carstens ausdrücklicher Bitte, sich nicht wieder zu überanstrengen, war sie kaum besser geworden. Betrübt verließ Laura den Bücherturm. Nicht nur nachts, auch wenn sie tagsüber mal alleine war, gab es Momente, in denen die Angst und Verzweiflung sie übermannten. Momente, wie dieser. Statt zum Mädchengebäude zurückzukehren, ging Laura tiefer in den Wald, bis sie weit genug von den Gebäuden entfernt war, dass kein Schüler oder Lehrer ihr über den Weg laufen würde. Irgendwann lehnte sie sich kraftlos gegen einen Baumstamm, ließ sich auf den Boden sinken und vergrub ihr Gesicht in ihren Armen, um ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Sie hatte Angst, das war die Wahrheit. Sie hatte Angst davor, zu sterben! „Ich will nicht sterben!!!“, schrie Laura heiser. Sie wollte weiterhin bei Benni, Carsten, Ariane, den Zwillingen, Öznur, Anne und Janine bleiben! Und bei ihren Eltern… Selbst bei Eagle! Und bei Chip, mit seinem flauschigen Fell, Konrad und Rina, Florian, die kleine Nervensäge Johannes, der Direktor, die Direktorin, Herr und Frau Yoru… Einfach bei allen! Lieber würde sie gegen Mars kämpfen, als zu sterben! Sie war bereit, trotz ihrer Unfähigkeit zu versuchen die Welt zu retten. Zählte das denn nicht?!? Schluchzend schüttelte Laura den Kopf. Nein, das ist nicht von Bedeutung. Es speilt keine Rolle, nichts spielt eine Rolle!, dachte sie hoffnungslos.   ~*~   Gedankenversunken starrte Susanne das kleine Holzeichhörnchen an, das Naoki ihr vor etwa einem Monat geschenkt hatte. Ohne es überhaupt zu realisieren, wanderte ihr Blick weiter zu Benni, der wenige Meter von ihr entfernt mit vor der Brust verschränkten Armen am geöffneten Fenster lehnte und ausdruckslos in den Wald schaute. Äußerlich hatte er zwar kaum Ähnlichkeiten mit dem kleinen Jungen, den Susanne während ihrer Dämonenprüfung kennengelernt und schließlich umgebracht hatte, aber der eigentlich neutrale und doch tief im Inneren sehnsüchtige Blick erinnerte sie trotzdem sofort an ihn. Jeder einzelne Charakterzug von Benni erinnerte sie an Naoki! Nur das strahlende Lächeln fehlte… Benni lächelte nicht. Er hat noch nie gelächelt, entsann sich Susanne, als sie an jeden Moment mit dem ‚eiskalten Engel‘ zurückdachte. „Hallo, Leute? Hört ihr mir überhaupt zu?!?“ Verärgert klopfte Ariane auf die Lehne des Ledersofas. Sie befanden sich alle im Büro der Schülervertretung, weil Ariane irgendetwas mit ihnen zu besprechen hatte. Anscheinend irgendetwas, in das sie Laura nicht einweihen sollten. Denn kaum war diese zum Bücherturm gegangen, um eine E-Mail zu schreiben, hatte Ariane diese Versammlung hier einberufen. „Ja, ja, wir hören dir zu: Leute, wir müssen Laura unbedingt helfen! Ich mach mir riesige Sorgen um sie!!!“, erwiderte Anne genervt und zitierte gekonnt Arianes Worte. „Das ist nicht lustig, Anne!“ Empört funkelte Ariane sie an. „Ich bin letztens nachts aufgewacht und hab gehört, dass sie weinte!“ Janine seufzte bedrückt. „Sie wird bald sterben, Nane, was erwartest du?“ „Das steht doch noch nicht einmal hundertprozentig fest!“, widersprach Ariane verzweifelt. „Für Laura schon…“, bemerkte Susanne betroffen. „Und wenn wir ehrlich zu uns selbst sind… Wir wünschen uns zwar, dass sie überlebt, aber erwarten auch das Gegenteil.“ „Und das verletzt sie nur noch mehr!“ Ariane ballte die zitternden Hände zu Fäusten und warf Benni und Carsten einen flehentlichen Blick zu. „Sagt doch auch mal was! Ihr kennt Laura viel länger als wir alle zusammen!“ Carsten schüttelte seufzend den Kopf. „Ich will ihr doch auch helfen… Aber wir tun doch schon alles in unserer Macht stehende. Ich meine… Selbst Benni unternimmt etwas!“ Eine Weile betrachteten alle Lauras nun offiziellen Freund, der immer noch unbeteiligt aus dem Fenster schaute. Susanne wusste, warum er so abwesend wirkte. Sie und einige weitere Mädchen, deren Gehör seit ihrer Dämonenprüfung schärfer geworden war, konnten es auch hören: Lauras Schluchzen, das von der anderen Seite des Campus kam. „Nein, wir haben noch nicht alles in unserer Macht stehende getan!“, widersprach Ariane energisch. „Falls du eine Idee hast, was wir noch machen könnten, nur raus damit.“ Carsten warf ihr einen traurigen Blick zu und Susanne bemerkte die gemischten Gefühle, mit denen er Ariane betrachtete. In ihnen lag nicht nur Freundschaft… Doch Ariane schien diese Gefühle nicht zu bemerken. Stattdessen nickte sie. „Ich habe noch eine Idee. Wir organisieren eine Geburtstagsfeier für Laura.“ „Was?“ Kritisch runzelte Anne die Stirn. „Wieso sollten wir eine Geburtstagsfeier für jemanden organisieren, der vielleicht an diesem Tag stirbt?“ „Genau deshalb!“, erklärte Ariane, „Wir reden alle nur davon, dass sie an ihrem Geburtstag vielleicht stirbt! Wir müssen es optimistisch betrachten: Vielleicht überlebt sie auch! Und genau deshalb die Geburtstagsfeier. Damit Laura sieht, dass wir an sie glauben! Dass wir nicht damit rechnen, dass nach diesem Tag für sie alles vorbei ist!!!“ Susanne spielte mit dem kleinen Holzeichhörnchen, während alle in diesem Raum Arianes Idee überdachten. „Ich finde das einen guten Plan.“, pflichtete ihr plötzlich der Direktor bei. „Gott, tauchen Sie immer so plötzlich auf?!?“, fuhr Öznur ihn vorwurfsvoll an. Der Direktor lachte auf. „Sonst sind hier nur Leute, die ich damit nicht -oder nicht mehr- erschrecken kann, weil sie jederzeit damit rechnen oder bereits hören, dass ich komme, wie unser Romeo.“ Einige der Mädchen lachten bei Bennis neuem Spitznamen, doch Susanne und auch einigen anderen fiel auf, dass dieser Name schon zu gut passte. Auch wenn Bennis leibliche Eltern, zu denen er aus Sicherheitsgründen jeglichen Kontakt vermied, Laura anscheinend sehr mochten, war Lauras Vater wiederum so sehr gegen Benni, dass er bereits vor den Augen aller gedroht hatte, Laura zu enterben, falls diese eine Beziehung mit ihm einginge. Susanne hoffte inständig für Laura, dass Leon Lenz von ihrer jetzigen Beziehung mit Benni nie erfahren würde. Jedenfalls nicht, solange er ihn weiterhin so verabscheute. Doch die zweite Ähnlichkeit war viel bedrückender: Wenn Benni Romeo war, war Laura folglich Julia und jeder wusste, wie das Drama endete… Anne schüttelte misstrauisch den Kopf und kehrte zum eigentlichen Gesprächsthema zurück: „Wir sollen einen Geburtstag vorbereiten, den wir vielleicht gar nicht feiern?“ Ariane schnaubte empört. „Seht ihr?!? Kein Wunder, dass Laura so fertig ist! Wir organisieren den Geburtstag, um Laura zu zeigen, dass wir daran glauben, dass sie doch überlebt! Und wenn sie wirklich überlebt, wäre es doch auch bescheuert, gar nichts zu haben. Denn dann hätten wir mehr als Grund genug, zu feiern!“ „Und wenn sie nicht überlebt war alles umsonst.“, widersprach Anne. „Sie wird überleben.“ Benni hatte diesen bestimmten Ton, bei dem sie ihm einfach glauben mussten. Wie damals, als er ihnen gesagt hatte, dass sie trotz ihrer fehlenden Kampferfahrung dennoch nicht dem Untergang geweiht wären. Und bei diesem Ton wagte es niemand, ihm zu widersprechen. Da sonst keiner mehr etwas darauf erwiderte, nickte Ariane schließlich zufrieden. „Dann ist das beschlossen. Wir organisieren die Feier für Laura.“ Anne stöhnte auf. „Na schön, dann machen wir das halt. Aber ich hoffe, dir ist bewusst, dass du unser Geld vermutlich zum Fenster rausschmeißt und ich habe nicht vor, euch das Ganze zu finanzieren, nur weil meine Mutter viel Kohle hat.“ „Geld spielt keine Rolle.“ Carsten lächelte sie beschwichtigend an. Ariane warf ihm einen hoffnungsvollen Blick zu. „Wie meinst du das?“ „Ich kann Eagle fragen, ob er so spendabel ist, uns zu helfen.“, antwortete Carsten schulterzuckend. „Hä?“ Verwirrt legte Öznur die Stirn in Falten. „Ähm Carsten… Du weißt schon, dass Eagle dich hasst, oder?“ „Wie könnte ich das vergessen…“ Carsten senkte den Kopf und Susanne wurde den Gedanken nicht los, dass er sich trotz allem, was Eagle ihm angetan hatte, immer noch nach dessen brüderlicher Zuneigung sehnte. Susanne konnte es ihm nicht verübeln, immerhin würde sie vermutlich den Verstand verlieren, wenn Lissi sie auf einmal hassen würde. Carsten schüttelte den Kopf, als wolle er seine trüben Gedanken loswerden. „Aber er soll das ja nicht für mich machen, sondern für Laura. Immerhin wünscht er sich genauso sehr wie wir alle, dass sie glücklich ist.“ „Stimmt.“, pflichtete Susanne ihm bei. Sie alle wussten, dass Eagle für Laura mehr als nur Freundschaft empfand. Doch er gehörte zu der Sorte Mensch -oder eher Indigoner-, der die Gefühle und Bedürfnisse nicht anderen aufzuzwingen versuchten. Man hatte es ihm ansehen können, wie sehr es ihm das Herz brach, dass Laura seine Gefühle nicht erwiderte. Und dennoch… Er hatte kein Wort gegen Lauras und Bennis Beziehung geäußert. Er wünschte sich so sehr, dass Laura glücklich war, dass er dafür sogar diesen Schmerz in Kauf nahm. Susanne warf einen flüchtigen Blick auf Öznur. Sie und Eagle kamen sehr gut miteinander aus und passten auch perfekt zusammen. Vielleicht würde sie ihn eines Tages von seinem Schmerz befreien können… „Also rufst du ihn an und erzählst von unserem Plan?“, vergewisserte sich Ariane. Carsten zögerte zwar, nickte aber schließlich. „Und wann kaufen wir das ganze Zeug?“, erkundigte sich Öznur. Planlos zuckte Ariane mit den Schultern. „Kommenden Samstagnachmittag? Aber Laura muss unbedingt mitkommen, sonst hat das alles keinen Sinn.“ „Aber sollte dann nicht auch Benni dabei sein? Nur falls Laura… ihn braucht.“ Fragend schaute Janine erst Ariane und dann Benni an. „Ich habe Unterricht…“, erinnerte er sie, immer noch aus dem Fenster schauend. „Dann schwänz doch.“, schlug der Direktor schulterzuckend vor. Die Mädchen und Carsten warfen ihm einen verwunderten Blick zu. Dass sie jemals so etwas aus dem Mund eines Lehrers hören würden… Gar aus dem Mund eines Direktors! Dieser hob abwehrend die Hände. „Besondere Umstände verlangen auch besondere Maßnahmen. Ich werde ein gutes Wort für dich bei deiner Lehrerin einlegen. Ich weiß ja, wie verdammt streng sie gerne ist. Aber das würde selbst sie verstehen.“ Benni nickte und schloss das Fenster.   „Nane… Ich habe immer noch keine Lust.“, hörte Susanne Laura zwei Busreihen vor sich betrübt sagen. Ariane legte ihrer besten Freundin den Arm um die Schultern. „Ach was, es wird dir mal ganz gut tun, nicht nur die Umgebung der Coeur-Academy zu sehen.“ „Was wollt ihr überhaupt in der Stadt?“, fragte Laura kritisch. „Na die Sachen für deinen Geburtstag kaufen.“, antwortete Ariane ihr erstaunlich direkt. Susanne konnte selbst von ihrem Platz aus sehen, wie Laura zusammenzuckte. „Ich will den Tag nicht feiern, an dem ich sterbe…“ Ariane schüttelte seufzend den Kopf. „Das weißt du doch noch gar nicht.“ Laura wandte den Kopf ab. „Keine Angst und selbst wenn du wirklich stirbst…“, fügte Ariane in einem aufheiternden Ton hinzu, „…Ich werde dir spätestens bei den Halbjahresprüfungen sowieso folgen.“ Auch wenn es ein ziemlich schwarzer Humor war, hörte Susanne Laura leise auflachen. Die Gruppe verließ den Bus und schlenderte über die Einkaufsmeile. Es war wirklich jeder dabei. Selbst Benni, der tatsächlich den Unterricht schwänzte. Nur Eagle hatte abgelehnt zu kommen, hatte ihnen aber trotzdem 100 Geld auf Carstens Konto überwiesen, das er ihnen zur freien Verfügung stellte. Was schon eine beträchtliche Summe war und ihm einen gewissen Respekt der Mädchen entgegenbrachte. Immerhin schien er wirklich helfen zu wollen, egal wie. Den ersten Halt machten sie in einem kleinen, japanisch aussehenden Laden, dessen leicht beleibter, älterer Besitzer lachend aus dem Hinterzimmer kam. „Das ist ja ein regelrechter Überfall!“, bemerkte er belustigt. Die eisblauen und zugleich warm und freundlich wirkenden Augen kamen Susanne sofort bekannt vor. Als der freundliche Senior Benni ohne irgendwelche Schamgefühle in die Arme schloss, war sie sich auch hundertprozentig sicher, um wen es sich hier handelte. „Schön, dich mal wiederzusehen, Enkel.“ Zwinkernd verwuschelte Samiras Vater Bennis Haare. „Hallo… Nicolaus.“, grüßte Benni nach einem kurzen Zögern zurück. „Warum nicht ‚Opa‘?“, fragte Laura ihn vorwurfsvoll. Nicolaus schüttelte lachend den Kopf. „Lass ihm doch erst einmal Zeit, sich daran zu gewöhnen.“ Er drückte auch Laura und Carsten kurz an sich, ehe er sich dem Rest der Gruppe vorstellte. „Ich bin Nicolaus Weihe. Schön zu sehen, dass sich Bennis Freundeskreis endlich mal vergrößert hat.“ Die Mädchen lachten und stellten sich ihm ebenfalls kurz vor. Während sie Laura gekonnt mit Mangas ablenken konnten, kümmerten sich die anderen darum, die ersten notwendigen Sachen für ihren Geburtstag zusammen zu suchen. Immerhin mochte Laura ja offensichtlich japanische Sachen. Was nicht verwunderlich war, da sie immerhin aus Yami kam. So nahmen sie für die Dekoration japanische Lampions und was es sonst noch gab und Ariane stöberte begeistert beim Tee herum. Auf Lissis Frage, sie wolle doch nicht ernsthaft mit Tee auf Lauras Geburtstag anstoßen, antwortete Ariane mit einem: „Doch, natürlich!“ Susanne bemerkte, wie Benni kurz mit seinem Großvater sprach, dieser nickte, etwas erwiderte und beide daraufhin in den hinteren Teil des Ladens gingen. Doch was Benni dort wollte erfuhr sie trotzdem nicht. Nachdem sie bezahlt und sich von Herrn Weihe verabschiedet hatten, steuerten sie das nächste Geschäft an: Einen Supermarkt. Laura seufzte. „Ich verstehe das immer noch nicht… Warum tut ihr das, wenn ich sowieso sterben werde?“ „Ob du wirklich sterben wirst weißt du doch gar nicht!“, widersprach Ariane ihr erneut entrüstet. Susanne seufzte. Das Klischee, die Finsternis-Energie-Beherrscher seien die Vorzeigepessimisten schlechthin, stimmte in diesem Fall tatsächlich. Auch Ariane schien das nun einzusehen. „Na schön, ich geb’s zu, du bist ein hoffnungsloser Fall.“ Sie überlegte für einen Moment und stieß Laura in Richtung Benni. „Wenn wir dich schon nicht überzeugen können, bleibt uns halt nur noch der eiskalte Engel. Auf ihn hörst du ja noch am ehesten.“ Carsten konnte sich ein Auflachen nicht verkneifen. Er klopfte Benni auf die Schulter. „Viel Glück…“ Gemeinsam gingen sie in den Supermarkt und ließen Benni und Laura alleine zurück. Susanne zweifelte nicht daran, dass Arianes Idee gut war. Auch sie ging davon aus, dass Benni Laura würde überzeugen können. Wenn nicht er… dann wäre sowieso alles vergebens. Seufzend beobachtete sie, wie Lissi in ihrem Eifer einen Einkaufswagen hinter sich herzog und ihn mit allen möglichen alkoholischen Getränken füllte. Hinter ihr trottete Ariane mit genervtem Gesicht, die nach und nach die Flaschen wieder zurückstellte, während eine Verkäuferin die beiden verwirrt beobachtete. Susanne kicherte und gesellte sich zu Ariane, um ihr zu helfen. Diese warf ihr einen dankbaren Blick zu und tippte Lissi auf die Schulter. „Kannst du mal kurz mitkommen und mir helfen?“ „Klärchen, Nane-Sahne.“, trällerte Lissi und drückte Susanne den Einkaufswagen in die Hand. Nachdem Ariane für eine erfolgreiche Ablenkung sorgte, konnte Susanne nun ungestört die restlichen Flaschen wieder zurückstellen. Kritisch musterte sie die Wodka-Flasche in ihrer Hand und betrachtete das obere Regal, in der ihre Gleichgesinnten standen. Wie ist Lissi da dran gekommen? Susanne stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich, doch sie kam immer noch nicht hoch genug, obwohl sie eigentlich genauso groß wie ihre Zwillingsschwester war. Jemand nahm ihr die Flasche aus der Hand und stellte sie für sie nach oben. „Danke…“ Erleichtert lächelte sie Carsten an. Dieser erwiderte ihr Lächeln freundlich, doch es wandelte sich kurz darauf in einen besorgten Ausdruck. „Wie geht es dir?“ Seufzend wich sie seinem mitfühlenden Blick aus. Natürlich hatte Carsten bemerkt, dass es ihr wegen der Sache mit Naoki immer noch nicht besser ging. Vor den meisten anderen konnte sie es verbergen, aber nicht vor ihm. „Wie soll es mir schon gehen? Ich habe ein Kind umgebracht, Carsten!“ Verzweifelt schaute sie ihn wieder an. „Ein unschuldiges Kind, das noch sein ganzes Leben vor sich hatte… Und als wäre das nicht schon schlimm genug, war es auch noch in gewisser Weise Benni!!!“ Beruhigend legte Carsten ihr die Hände auf die Schultern. „Dir blieb keine andere Wahl.“ „Doch!“, widersprach sie ihm. „Ich hätte ihn am Leben lassen können.“ „Und dafür hättest du deine Prüfung nicht bestanden.“, erinnerte er sie. „Du brauchst diese Kraft aber, wie jeder andere von euch auch. Wer weiß, wie viele Menschenleben darunter leiden würden, wenn du sie nun nicht hättest.“ „Hättest du ihn denn auch getötet, wenn du an meiner Stelle gewesen wärst?“, fragte Susanne. Benni hatte mal gemeint, sie und Carsten seien sich sehr ähnlich… Wäre das auch in dieser Situation der Fall gewesen? Carsten lächelte sie traurig an und wollte antworten, als Ariane plötzlich rief: „Carsten, kannst du mal kommen und mir helfen?!“ „Ähm… Klar!“, rief er zurück. Er seufzte. „Tut mir leid…“ Susanne kicherte. „Kein Problem… Ich würde nur gerne wissen, warum du sie nicht einfach darauf ansprichst.“ Carsten hatte ihre Andeutung offensichtlich richtig verstanden, denn sein Gesicht bekam eine leichte Rotfärbung. Dennoch schüttelte er den Kopf. „Ich kann das nicht…“ Er wandte sich ab und ging zu Ariane, die ihn irgendetwas wegen des Essens zu fragen schien. Seufzend lächelte Susanne. Carsten verstand es, ohne groß etwas zu unternehmen jemandem zu helfen. Nur sich selbst schien er nicht helfen zu können…   ~*~   Betrübt trottete Laura neben Benni her, doch als sie den Park von Jatusa betraten, hielt sie das Schweigen schließlich nicht mehr aus. „Warum tut ihr das alles für mich?“, fragte sie ihn und musterte ihn aus den Augenwinkeln. „Ist das nicht offensichtlich?“ Kam er mit seiner Gegenfrage. „…Nein.“, antwortete Laura zögernd. Benni erwiderte für einen kurzen Moment ihren Blick, sagte aber nichts mehr dazu. Stattdessen nahm er ihre Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. Benni hatte noch nie einfach so ihre Hand genommen! Mit wild pochendem Herzen schaute Laura auf die blühende Blumenwiese, an der sie vorbei gingen. Sie betete, dass ihre Hand durch die Aufregung nicht zu verschwitzt war… Gott wäre ihr das unangenehm! Schließlich kamen sie an einem großen Teich an. Laura erkannte diesen Ort sofort wieder. Gedankenversunken spielte sie mit dem Kreuzanhänger, den sie seit dem Valentinstag noch nie abgelegt hatte, während sie das ruhige, klare Blau des Teiches betrachtete. „Hier hast du mir die Kette geschenkt…“ „Nachdem du mich geschlagen hast.“, ergänzte Benni sarkastisch. Zwar schien er das nicht böse gemeint zu haben aber Laura senkte trotzdem betroffen den Blick, während ihre Hand, die er hielt, nun tatsächlich schweißnass wurde. „D-das… Das wollte ich nicht!“ Sie hatte diese Sache sofort danach schon bereut und Laura fragte sich, ob sie Bennis Gegenwart oder gar seine Zuneigung überhaupt noch verdiente. Verzweifelt suchte sie nach einer Erklärung, die gut genug war, um diese grauenvolle Tat rechtfertigen zu können. Doch das war etwas Unverzeihliches… „Es tut mir so leid…“, schluchzte sie. Benni seufzte. „Du musst deswegen doch nicht gleich weinen…“ Laura riss ihre Hand aus seiner. Sie verdiente es erst recht nicht, dass Benni sie überhaupt noch berührte! „Natürlich muss ich das! Du weißt doch selbst, was für eine Heulsuse ich bin!“, gestand Laura verzweifelt und drehte ihm den Rücken zu. „Ich reagiere ständig über. Kein Wunder, dass der Schwarze Löwe die Schnauze voll von mir hat! Ich könnte es nie übers Herz bringen, dir weh zu tun und trotzdem hab ich dich geschlagen, als ich wütend war! Ich verdiene dich überhaupt nicht!!!“ Benni nahm sie an den Schultern und drehte sie wieder zu sich um. Zwar wollte Laura vor ihm zurückweichen, doch er war viel zu schnell. Er packte ihre beiden Hände mit einem eisernen Griff, der zwar nicht schmerzhaft war, aus dem sie sich aber trotzdem nicht befreien konnte, selbst wenn sie ihre gesamte Kraft dafür einsetzte. „Das ist das Dümmste, was ich je von dir gehört habe.“, erwiderte Benni ruhig. Entgeistert starrte Laura ihn an, doch er ließ sie mal wieder im Unklaren. Stattdessen hörte sie hinter sich jemanden: „Onkel!!!“ rufen. Da Benni immer noch beide Hände von Laura hielt, konnte sie nur einen Blick über die Schulter werfen, um zu sehen, wer da auf sie zu gerannt kam. Doch Laura hätte eigentlich gar nicht nachsehen müssen. In wenigen Sekunden hatte Johannes sie erreicht. „Hallo, Onkel!“, grüßte er Benni begeistert. Johannes scheint Benni ja ganz schön zu mögen… Laura kicherte bei diesem Gedanken und erntete dafür einen kritischen Blick von Benni, der wohl wirklich einen sechsten Sinn für ihre Gedanken hatte. Mit großen Augen schaute Johannes von Benni zu Laura und fragte seinen ‚Onkel‘ schließlich: „Sag mal Onkel… Bist du jetzt mit Tantchen verheiratet?“ Während Laura bei dieser Frage sofort knallrot wurde, antwortete Benni schlicht: „Nein.“ „Seid ihr jetzt verlobt?“, fragte der Kleine weiter. „Nein.“, entgegnete er wieder. Johannes Blick fiel auf Lauras Hände, die Benni immer noch nicht losgelassen hatte. „Aber ihr haltet Händchen, das heißt, ihr seid zusammen!!!“, folgerte er. Da Benni darauf nichts mehr erwiderte, kicherte Johannes und hüpfte um Laura und Benni herum, während er immer wieder sang: „Ooonkel und Taaantchen, Ooonkel und Taaantchen, …“ Beschämt senkte Laura den Blick und war erleichtert und enttäuscht zugleich, als Benni ihre Hände wieder losließ. „Warum bist du alleine hier?“, fragte Benni den immer noch im Kreis hüpfenden Johannes, der bei dieser Frage endlich stehen blieb. „Ich bin nicht alleine.“, antwortete er. „Meine Mama, mein Papa und meine Schwester sind einkaufen und ich habe mich gelangweilt und dann hab ich gesagt ich geh in den Park spielen und dann war da dieser blöde Onkel, der mit mir Verstecken gespielt hat und dann habe ich dich und Tantchen gesehen und bin zu euch gegangen!“ Verwirrt legte Laura den Kopf schief. „Blöder Onkel?“ Benni schaute zu einem blühenden Kirschbaum, einige Meter von ihnen entfernt. „Also hat er dich doch bemerkt.“ Hinter dem Baum war ein Lachen zu hören und ein Mann in einem schwarzen Kapuzenpullover trat hervor, dessen Gesicht teils vom Schatten der Kapuze verdeckt wurde. „Ich weiß. Nicht schlecht der Kleine, was?“ Laura schauderte, als sie das leichte Echo bemerkte, das in abgewandelter Version inzwischen auch bei ihren Freundinnen zu hören war. „Ich bin übrigens Jack.“ Der Mann schob die Kapuze zurück und gab sich damit endlich zu erkennen. Laura schluckte. Das ist Jack?!? Der Jack, den sie vergeblich in Terra gesucht hatten und der als vermisst galt? Der Jack, der damals mit Carsten im FESJ war und diesen fast umgebracht hatte?!? Doch er sah tatsächlich so aus wie auf dem Foto, das ihnen der seltsame Büromensch gezeigt hatte als sie in Terra waren. Nur ein bisschen älter. Die rotbraunen Haare waren auf seiner linken Seite sehr kurz und ein Piercing zierte die Augenbraue. Auf seiner rechten waren die Haare leicht verstrubbelt und fielen etwas in die Augen, deren strahlendes Grün jeden Blick gefangen halten konnte. Jack war durchaus sehr attraktiv, wie sich Laura eingestehen musste. Doch er hatte eine ähnlich angsteinflößende Ausstrahlung wie Benni. Nur bei Benni wusste Laura, dass dieser ihr nie etwas antun würde… bei diesem Mann war sie sich da nicht so sicher… Verängstigt klammerte Laura sich an Bennis Arm, während sich Johannes hinter ihnen versteckte. Jack hob lachend die Hände, als wolle er sich ergeben. „Keine Angst, ich habe nicht vor, euch anzugreifen.“ Er wies auf Benni. „Ich bin doch nicht lebensmüde.“ „Arbeitest du wirklich für Mars?“, fragte Laura schüchtern, immer noch an Bennis Arm geklammert. Jack legte den Kopf leicht schief. „Arbeiten? Na ja, sagen wir mal ich schulde ihm etwas.“ „Was denn?“, hörte sie Johannes hinter sich fragen, doch Jack winkte ab. „Das geht euch nichts an.“ „Na ja… Eigentlich schon. Immerhin greifst du uns an, weil du für Mars arbeitest.“, entgegnete Laura zögernd. Jack seufzte. „Man bist du langsam. Ich sagte doch schon, dass ich euch nicht angreifen werde. Wenn doch würde mich unser ‚stärkster Kämpfer Damons‘ garantiert zu Brei verarbeiten und darauf verzichte ich dankend.“ „…Und was willst du dann?“, löcherte Laura weiter, dankbarer denn je, dass Benni hier war. Hinter sich hörte sie Johannes verängstigt fragen: „Will mich dieser blöde Onkel jetzt entführen, so wie der dumme Onkel damals?“ „Sag noch einmal ‚blöder Onkel‘ und ich nehm‘ dich wirklich mit.“, drohte Jack und schaute Benni an als er weiter sprach, als wüsste er, dass man sich mit ihm noch am ehesten normal unterhalten könne. „Ich hatte nicht vor, euer Date zu ruinieren.“, erklärte er nüchtern, „Ich wollte nur mal schauen, ob die Kleine wirklich noch nicht abgekratzt ist.“ Entsetzt hielt Laura die Luft an. Sie war die Kleine… Jack hielt inne und schien erst jetzt zu bemerken, was er gesagt hatte. „Ups, jetzt hab ich’s wohl ruiniert.“ „Du bist total böse!!!“, schrie Johannes ihm zu, wohlwissend, dass Jack das mit Absicht gesagt hatte. „Natürlich!“, erwiderte dieser lachend. Mit einer knappen Geste erschuf er ein orange-schwarz loderndes Portal, das vermutlich in die Unterwelt führte. „Viel Glück im Prinzesschen-beruhigen.“ Er winkte Benni noch kurz zu, ehe er im Portal verschwand. Laura bekam es gar nicht wirklich mit, als Johannes meinte, er gehe lieber schnell zu seiner Familie zurück und auch nicht, wie er sich gut gelaunt von ihnen verabschiedete, als wäre gar nichts passiert. Sie hörte noch nicht einmal, wie er beim Gehen fröhlich sein ‚Onkel und Tantchen‘-Lied weitersang. Wie ferngesteuert bewegten sich Lauras Beine. Sie wollte nur noch fort von hier, zurück in ihr Zimmer und in ihr Bett, wo sie ihre Ruhe hatte. Denn nun, da sogar ein Außenstehender sie mit dieser grausamen Wahrheit konfrontiert hatte, würde sie nicht mal mehr bei Benni glücklich sein können… „Laura…“ Benni nahm sie am Arm, doch Laura schüttelte ihn grob ab. „Lass mich!“, schrie sie und rannte weiter, während die Tränen ihr über das Gesicht rannen. Was wollte er denn jetzt noch machen?! Laura war dem Tode geweiht und selbst Benni konnte sie nicht vor dem Schwarzen Löwen beschützen! „Laura, warte.“ In wenigen Schritten hatte Benni sie eingeholt und hielt ihren Arm dieses Mal so fest, dass Laura ihn nicht mehr einfach so von sich stoßen konnte. „Was denn?!“ Aufgebracht fuhr sie herum. Jetzt konnte es ihr auch egal sein, wenn sie vor Bennis Augen weinte. In einer Woche war sowieso alles vorbei. „Es ist nun mal so, ich werde halt bald sterben!!!“ Benni schien etwas erwidern zu wollen, doch Laura ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ja, ich weiß, du hast keine Ahnung, warum ich so durchdrehe! Du weißt halt nicht, wie es ist Angst zu haben!!! Wie es ist, wenn irgendjemand anderes die Macht über dein Leben hat!!! Ich halt das nicht mehr aus!!!!!“ Schluchzend sackte Laura in die Knie. Benni seufzte. „…Ich weiß-“ „Nein, tust du nicht!“ „Doch.“ Bennis eindringlicher Ton sorgte dafür, dass Lauras Schluchzen kurz unterbrach. „Wie meinst du das?“, fragte sie mit zitternder Stimme. Benni kniete sich vor sie, sodass Laura direkt in sein schwarzes Auge sehen konnte. Bennis Blick war warm und sanft, aber auch irgendwie traurig… Laura wusste nur nicht, woran sie das alles erkennen konnte. „Ich weiß wie sich Angst anfühlt.“, antwortete so ruhig, langsam und deutlich, als würde er es nicht nur Laura, sondern auch sich selbst erklären. Ungläubig schüttelte Laura den Kopf. Benni hatte keine Ahnung von Gefühlen! Er wusste ja noch nicht einmal, was er für sie empfand!!! „Ich hatte Angst, als die Flammen in der Form des Purpurnen Phönix mich angegriffen hatten.“, gestand er resigniert und senkte den Blick, „Ich hatte solche Angst, dass ich gar nicht mehr in der Lage war, mich zu bewegen.“ Immer noch schniefend und zitternd berührte Laura seine Wange. Er wirkte auf einmal so zerbrechlich… Für diesen kurzen Moment schien er sie tatsächlich ein einziges Mal durch seine Fassade blicken lassen. Kaum waren Lauras Tränen getrocknet, liefen ihr erneut welche über die Wange. Solche Momente würde es bald nie mehr geben… Wortlos nahm Benni sie in die Arme und Laura lehnte sich schluchzend gegen seine Brust. Bald würde er sie auch nie mehr in den Arm nehmen können… „Ich will nicht sterben…“, wimmerte sie. „Wirst du nicht.“, erwiderte Benni leise und strich ihr übers Haar. „Doch.“ Benni stand auf und zog sie auf die Beine. „Nein.“ Laura wollte ihm wiedersprechen, doch ihr Schluchzen hinderte sie daran. „Vor etwa drei Monaten habe ich dir hier gesagt, ich denke nicht, dass dich der Schwarze Löwe verlassen wird…“ Benni seufzte. „Nun glaub mir doch endlich.“ Bevor Laura seine Worte anfechten konnte, strich er ihr sanft die zerzausten Haare aus dem Gesicht und küsste sie auf die Wange. Da Laura nicht darauf vertraute, dass ihre Stimme ihr wirklich gehorchen würde, schaute sie nur mit rasendem Herzen zu Benni hoch, versuchte ihre Schluchzer runterzuschlucken und nickte. Benni führte sie zu einer nahe gelegenen Bank, auf die sich Laura setzte. Die Passanten schauten sie zwar verwirrt und manchmal auch besorgt an, doch Laura war froh, dass sie einfach nur weitergingen. Wortlos setzte sich Benni neben sie und reichte ihr ein Taschentuch. Verlegen lachte Laura auf, trocknete sich die Tränen und putzte sich die Nase. Sie hatte das mulmige Gefühl, dass Benni dieses Taschentuch garantiert sicherheitshalber wegen ihr mitgenommen hatte… Immerhin wusste er ja, was für eine Heulsuse sie war. Mit einem Schlag war Laura das alles total peinlich, doch Benni schien das nicht weiter zu stören. Er ließ zu, dass sie sich gegen ihn lehnte und wartete geduldig, bis sich Laura wieder soweit beruhigt hatte, dass sie gemeinsam zurück zu den anderen gehen konnten.   „Sag mal… Hast du geweint?!?“ Natürlich bemerkte Ariane es trotzdem. Kritisch funkelte sie Benni an, da sie wie immer ihn für den Schuldigen hielt. „Nane, mir geht’s gut.“, versuchte Laura sie zu beruhigen. Ariane schien ihr zwar nur widerwillig zu glauben, doch sie verschonte Benni immerhin mit ihren Blicken, die fast in der Lage wären zu töten. Öznur lachte auf. „Musstest du dich einfach mal an der Schulter deines Freundes ausweinen?“ Laura wurde knallrot. Im Prinzip hatte sie ja genau das gemacht… Carsten kicherte, tat Laura aber immerhin den Gefallen, nicht weiter darin herumzustochern. Stattdessen meinte er: „Ein Glück, dass es dir besser geht. Benni schien dich ja tatsächlich überzeugen zu können.“ Natürlich konnte Benni sie überzeugen! Wie hätte es auch je anders sein können? Mit rasendem Herzen dachte Laura an den Moment zurück, an dem er sie auf die Backe geküsst hatte. Benni brauchte noch nicht einmal gute Argumente, um sie zu überzeugen… Eine einfache Geste reichte schon völlig aus. Anne stöhnte auf. „Na schön, gehen wir jetzt endlich?“ „Ja, ja. Du musst aber trotzdem nicht gleich losmeckern.“, wies Öznur sie zurecht. Die Prinzessin grummelte etwas und ging voraus zu der Bushaltestelle. Laura bekam nur mit halbem Ohr mit, wie Benni zu Carsten meinte, sie hätten Jack getroffen. Sie war mal wieder viel zu sehr mit ihrem klopfenden Herz beschäftigt, das sich einfach nicht beruhigen wollte. Der Grund war: Benni hielt wieder einfach so ihre Hand! Dass aber die meisten der anderen besorgt reagierten, entging Laura trotzdem nicht. Benni versicherte ihnen zwar, dass es zu keinem Kampf kam und Jack sie anscheinend nur ‚observieren‘ wollte, doch nun war es auch eindeutig, auf wessen Seite er stand. Carsten seufzte. „Das ist alles meine Schuld… Ich hätte ihn damals aufhalten sollen.“ „So ein Unsinn.“, widersprach Susanne ihm beruhigend. „Du konntest genauso wenig ausrichten, wie sonst jemand.“ „Aber was meinte er damit, dass er Mars etwas schulden würde?“, fragte Laura verwirrt. „Na ja… Lukas hatte ihn doch anscheinend damals aus dem FESJ geholt.“, erinnerte sich Susanne. „Es ist gut möglich, dass der Purpurne Phönix für seine Freilassung die Fäden gezogen hat.“ Ariane runzelte die Stirn. „Aber dafür gleich die Seiten zu wechseln und zu einem richtigen Verbrecher zu werden…“ „Glaub mir… Die meisten würden alles für ihre Freiheit tun.“, meinte Carsten betrübt. „Auch die Seiten wechseln.“ „…Hättest du das… auch getan?“, fragte Janine schüchtern. Carsten schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht. Aber ich hatte auch noch außerhalb der Schule Freunde, auf die ich zählen konnte.“ Er warf einen dankbaren Seitenblick auf Benni und Laura. „Jack hatte bestimmt niemanden…“, vermutete er betrübt. „Na prima.“, kommentierte Anne sarkastisch. „Eine Runde Mitleid für den Bösewicht, der nur böse geworden ist, weil er keine Freunde hatte!“ „Das ist nicht lustig, Anne!“, verteidigte Janine diesen Bösewicht. „Ich habe auch nicht gesagt, dass das lustig ist.“, erwiderte Anne zischend. „Mich kotzt es nur an, dass ihr auf einmal Mitleid mit ihm habt! Er ist der Feind, denkt dran!“ „Ja aber vielleicht-“ „Nichts aber!“, unterbrach Anne Öznur. „Genau in dem Moment, in dem man solchen Leuten vertraut, rammen sie einem ein Messer ins Herz.“ „Du kennst ihn doch gar nicht!“, widersprach Janine. Anne warf ihr einen gebrochenen Blick zu. „Ihn vielleicht nicht… Ich möchte nur nicht, dass jemand verletzt wird, weil er der falschen Person vertraut.“ Mitfühlend legte Carsten ihr eine Hand auf die Schulter. Laura warf Benni einen verwirrten Blick zu, da auch er Annes Andeutung vermutlich verstanden hatte. Weil Anne ihn würde hören können, antwortete Benni nicht direkt, sondern nahm Lauras Hand und schrieb mit seinem Finger das japanische Schriftzeichen für ‚Vater‘. Nun verstand auch Laura, was Anne gemeint hatte. Sie hatte ihrem Vater vertraut und dann… Schweigend stiegen sie in den Bus, der sie zurück zur Coeur-Academy brachte. Ariane schaute Laura von ihrem Sitzplatz gegenüber von ihr kritisch an. „Aber dir geht es wirklich besser, oder?“ Laura nickte nur und schaute von der Seite zu Benni, der gedankenverloren aus dem Fenster sah und sich vermutlich darauf konzentrierte, nicht reisekrank zu werden. Bei diesem Gedanken konnte sie sich ein Kichern nicht verkneifen. Benni war super stark, super schlau, super talentiert aber er wurde leicht reisekrank. Mal wieder hatte sie das Gefühl, er könne ihre Gedanken lesen, denn er warf ihr einen warnenden Blick zu, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf die außen vorbeirauschende Landschaft richtete. Doch dann meinte er zum Erstaunen aller Anwesenden: „Schön, dass du jedenfalls wieder lachst.“ Genauso abrupt, wie Lauras Gesicht mal wieder eine rötliche Färbung annahm, wusste sie auch, warum die anderen das alles für sie taten. Und Benni hatte Recht, es war wirklich offensichtlich. Selbst Laura hätte eigentlich früher darauf kommen müssen. Sie wollten sie aufheitern; ihr ein Gefühl der Geborgenheit geben… Sie wollten ihr zeigen, dass sie immer für sie da wären. Laura wurde ganz warm ums Herz und zum ersten Mal in dieser schrecklichen Zeit, kamen ihr die Tränen aus Rührung und Freude. Ariane wollte schon besorgt fragen, warum sie weinte, doch in dem Moment hielt der Bus an der Coeur-Academy und sie alle stiegen aus. Vor dem Eingangstor nutzte Laura die Gelegenheit, sich an die gesamte Gruppe zu wenden. „Danke für alles…“, murmelte sie beschämt und glücklich zugleich und schaute dabei jedem in die Augen. Carsten und die anderen Mädchen erwiderten ihr Lächeln erleichtert. „Für dich doch immer, Süße.“, meinte Lissi und zwinkerte Laura zu. „Aber eigentlich war das alles Arianes Idee.“, ergänzte Susanne bescheiden. Dankbar nahm Laura Ariane in die Arme, um sich noch einmal extra bei ihr zu bedanken. Diese kicherte. „Und ich muss hinzufügen, dass wir das ohne Benni nie geschafft hätten. Er kann nicht nur dich gut überzeugen, musst du wissen.“ Verwirrt schaute Laura sie an, doch Ariane grinste nur. Unschlüssig, was Ariane mit dieser Aussage bezweckt hatte und wie Laura darauf nun reagieren sollte, drehte sie sich zu Benni um. Der wie gewöhnlich sein Pokerface aufgesetzt hatte, was es Laura unmöglich machte, herauszufinden, was in diesem Moment in ihm vorging. Doch sie wusste, wenn Ariane das schon extra erwähnt hatte, musste Laura auch nun irgendwie darauf eingehen… Also nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, von dem sie leider so wenig hatte, und ging zu Benni rüber. Da er fast einen Kopf größer war als sie, musste sich Laura auf die Zehenspitzen stellen und ihn trotzdem noch ein bisschen zu sich runterziehen. Wie er vorhin bei ihr, strich nun sie ihm die nach vorne fallenden Haare aus dem Gesicht und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Lauras Herz schien fast aus ihrer Brust zu springen. Bennis Haut fühlte sich irgendwie sanft und weich an und Laura kam dieser Moment grauenvoll kurz vor. Am liebsten hätte sie die Arme um seinen Hals gelegt und sich weiter an ihn gekuschelt. Doch ihre Mut-Vorräte waren nun endgültig aufgebraucht. Sie reichten nur noch für ein leises „Danke“. Benni erwiderte nichts darauf und Laura bekam auf einmal riesige Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Vorsichtig schaute sie zu ihm hoch, doch Benni wich ihrem Blick aus und Laura meinte, eine leichte Röte über seine Wangen huschen zu sehen. Hinter ihr hörte sie die anderen plötzlich loslachen. „Du bist ja wirklich schüchtern!“, bemerkte Ariane belustigt. Selbst Laura musste kichern, obwohl eigentlich sie diejenige war, die Benni in Verlegenheit gebracht hatte. Aber schon alleine die Tatsache, dass sie ihn in Verlegenheit hatte bringen können war schon lustig. Carsten schüttelte lachend den Kopf. „Ach kommt schon, müsst ihr euch ausgerechnet jetzt über Benni lustig machen? Immerhin zeigt er endlich mal eine gewisse Form der Zuneigung.“ „Aber er ist schüchtern!“, erwiderte Ariane immer noch lachend. „Du kommst damit durch, weil du so einen knuffigen Hundeblick drauf hast, aber nicht der eiskalte Engel.“ Nun war es Carsten, der rot wurde und den Lachkrampf der Mädchen dadurch auch noch verstärkte. „Stimmt, du hast Recht, Nane-Sahne! Das ist echt voll der Hündchenblick!!!!“, quietschte Lissi begeistert, was Carstens Lage nicht gerade rettete. Dieser schnaubte entrüstet. „Mir war es lieber, als Benni noch euer Opfer war.“ „Ach was, ist er immer noch.“, meinte Ariane belustigt. „Nur jetzt seid ihr beide unsere Opfer.“, ergänzte Anne. Carsten warf Benni einen hilfesuchenden Blick zu, doch dieser erwiderte darauf nur ein gleichgültiges Schulterzucken. „Ach komm schon Benni, es macht keinen Spaß dich auszulachen, wenn es dir scheiß egal ist!“, empörte sich Ariane, klang aber trotzdem amüsiert. Carsten seufzte. „Beneidenswert praktisch.“ „Stimmt, dir ist das nicht scheiß egal.“, bemerkte Anne zufrieden. „Wollen wir nicht endlich rein gehen?“, wechselte er das Thema genervt, bevor die Mädchen seinen Kommentar ausnutzen konnten. Sie zeigten sich gnädig und ließen ihn vorerst in Ruhe, aber Laura wusste genau, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich wieder so eine Situation ergeben würde. Ein bisschen Mitleid hatte sie schon mit Carsten und sie hoffte, dass er das alles nicht allzu ernst nahm. Aber er war Carsten! Garantiert nahm er das mit Humor.   Seufzend lehnte sich Laura gegen den Baumstamm, schloss die Augen und ließ ihr Gesicht von den Strahlen der untergehenden Sonne bescheinen. Es war Montagabend und eigentlich sollte sie für die Matheklausur morgen lernen, doch es machte ja sowieso keinen Unterschied mehr, ob sie jetzt noch eine gute Note schreiben würde oder nicht. Vermutlich würde sie das Ergebnis sowieso nie erfahren. Stattdessen war sie direkt nach dem Reitunterricht an den nahegelegenen Waldrand gegangen, um einen Manga zu lesen und Musik zu hören. Laura hatte keine Ahnung, wie sie es auf den ersten Ast des Baumes geschafft hatte, doch nun hatte sie den Manga durch und kam nicht mehr hinunter. Also entschied sie, dieses Problem so weit hinauszuschieben, bis vielleicht irgendeine Hilfe kam. Laura wusste nicht wieso, aber irgendwie störte sie die Tatsache nicht wirklich, dass sie verloren auf einem Baum saß. Genauso wenig wie die zweite Tatsache, dass sie heute in sieben Tagen sterben würde. Ja klar, sie hatte Angst davor, wenn sie daran dachte. Genauso, wie sie Angst davor hatte, irgendwann irgendwie von diesem Baum runterkommen zu müssen. Doch wenn sie nicht daran dachte, schien alles in Ordnung… „Was machst du hier?“ Von der einen auf die andere Sekunde stand Benni neben ihr. Erschrocken schrie Laura auf, ließ den Manga los und verlor das Gleichgewicht. Doch bevor sie vom Baum fallen konnte, packte Benni ihren Oberarm mit der einen Hand und fing den Manga mit der anderen auf. Laura legte die Hand auf ihr Herz und spürte, wie es immer noch vor Schreck raste. Vor Schreck und aus einem weiteren allseits bekannten Grund, an den sie sich inzwischen eigentlich gewöhnen sollte. Als sie sich wieder halbwegs gefangen hatte, antwortete sie schließlich: „Ich hab überlegt, wie ich hier wieder runter komme und fast hättest du mir zu einer Möglichkeit verholfen.“ „Entschuldige.“ „Dass ich fast vom Baum gefallen bin, weil du mich erschreckt hast oder dass du die Möglichkeit, endlich runterzukommen, verhindert hast?“, fragte Laura kritisch. „Zweites.“, antwortete Benni überraschend sarkastisch. „Warum hast du so gute Laune?!“ Laura konnte sich seinen gemeinen Sarkasmus nicht anders erklären, als dass er sie einfach nur etwas necken wollte. Na gut, eine andere Erklärung wäre, dass er sie ärgern wollte, weil er sie nicht leiden konnte, aber Laura hoffte, dass dem nicht so war. Benni zuckte mit den Schultern. Anscheinend schien er noch nicht einmal zu wissen, ob er wirklich gute Laune hatte, was Laura ein bisschen traurig machte. Zwar war es vermutlich ganz praktisch, die negativen Emotionen nicht zu kennen, doch folglich hatte Benni auch keine Ahnung, wie es ist, mal glücklich zu sein… Er ließ ihren Arm los und reichte ihr den Manga, der ebenso fast vom Baum gefallen wäre. „Und warum hast du gute Laune?“ „Weil ich nicht für die Matheklausur lernen muss.“, meinte Laura zufrieden. Bennis Blick wirkte leicht kritisch. „Sonst machst du dich vor Klausuren doch immer ganz verrückt.“ Laura zuckte mit den Schultern. „Ja, stimmt schon… Aber jetzt sind meine Noten ja sowieso egal.“ Benni seufzte. „Du glaubst mir immer noch nicht.“ „Doch! Ähm… Na ja- nicht wirklich, aber… irgendwie…“ Während sich Laura irgendwie zu rechtfertigen versuchte, spürte sie, wie sie mal wieder vor Scham knallrot wurde. Sie überlegte, doch einen Schritt nach hinten zu machen und sich vom Baum fallen zu lassen. Benni verdrehte die Augen. „Und Carsten behauptet immer, ich sei ein Pessimist.“ Mit einem Satz stand er schon wieder sicher unten auf dem grünen Waldboden. „Hey! Willst du mich alleine hier oben lassen?!?“, bemerkte Laura verängstigt. Natürlich hatte sie insgeheim gehofft -und auch erwartet- dass Benni ihr runterhelfen würde. „Nicht, wenn du mir endlich glaubst.“ Mit den Händen in den Hosentaschen schaute er zu ihr hoch und schien sich irgendwie über ihre Lage zu amüsieren. Laura seufzte und wandte verlegen den Blick ab. „Das- das kann ich nicht…“ „Warum nicht?“ „Keine Ahnung! Weil ich ein Pessimist bin?!“ Doch sie merkte, dass das nicht der Grund war, warum sie sich so sicher war, dass der Schwarze Löwe sie verlassen würde. Laura überlegte. „Woran entscheidet der Schwarze Löwe eigentlich, ob er mich nun verlassen will oder nicht? Ist es Mut?“ Doch Benni schüttelte den Kopf. „Güte?“, riet Laura weiter, aber auch diese Vermutung verneinte er. „Stärke? Geschwindigkeit?! Ausdauer?!? Kampftalent?!?!? Von all dem besitze ich nämlich rein gar nichts!“ Wieder schüttelte Benni den Kopf. Verwirrt schaute Laura ihn an und versuchte, aus der Entfernung irgendwelche Gefühlsregungen in seinen Augen zu erkennen. Doch wenn da wirklich welche wären, konnte sie sie nicht sehen. „…Weißt du es?“, fragte sie zögernd. „Ich habe eine Vermutung.“, war Bennis ziemlich ungenaue Antwort. „Und die wäre?“, forderte sie ihn auf, endlich etwas präziser zu werden. Benni seufzte. „Du würdest mir sowieso nicht glauben.“ „Doch!“, widersprach Laura ihm enttäuscht. „Dann kannst du mir auch einfach vertrauen, wenn ich sage, er wird dich nicht verlassen.“ Laura blieb der Mund offen stehen. Das. War. Fies. Betrübt setzte sie sich auf den Ast. „Ich sagte doch schon, ich kann das nicht.“ Ohne ein weiteres Wort wandte Benni sich zum Gehen. „Warte!“, rief Laura ihm hinterher. „Und wie komm ich jetzt hier runter?!?“ „Warum springst du nicht?“, war Bennis Gegenfrage, ohne sich umzudrehen. Er hatte offensichtlich nicht vor, ihr zu helfen. „Was?!? Hast du sie noch alle?!?!?! Das ist doch viel zu hoch!!!“ Lauras Stimme klang vor Schreck so schrill, dass sie beinahe hysterisch wirkte. Aber Bennis Vorschlag war nun mal reinster Selbstmord! Nun drehte sich Benni doch wieder zu ihr um und selbst aus dieser Entfernung konnte Laura sehen, wie er die Augen verdrehte. Ja gut, eigentlich war es nicht viel zu hoch. Jeder Kampfkünstler sollte in der Lage sein, von dieser Höhe runterzuspringen. Laura hatte Benni sogar schon mal von der Baumspitze runterspringen sehen. Wobei er den Fall mit seiner Wind-Energie auch etwas manipulieren konnte. Der einzige Grund, mit dem er Laura damals hatte beruhigen können, die natürlich sofort gedacht hatte, er würde sich umbringen. Laura seufzte. „Ich trau mich nicht…“, gab sie beschämt zu. „Du wirst dich schon nicht verletzen.“, versicherte Benni ihr. „Aber was ist, wenn ich doch irgendwie unglücklich falle?!?“ „Katzen landen immer auf den Pfoten.“ „Hä?!“ Laura verstand nicht, in welchem Zusammenhang er das gemeint hatte und sie war sehr dankbar, dass er nichts auf ihren mangelnden Scharfsinn erwiderte. Aber in Bennis Nähe war sie sowieso noch nie wirklich in der Lage gewesen, klar zu denken. Endlich gab er die Diskussion auf. „Spring einfach, Neko.“ „Wa- aaaaaaaaaaaah!!!“ Laura wurde von dem Spitznamen so aus der Fassung gebracht, dass sie unbeabsichtigt ausrutschte und vom Baum fiel. Doch dieses Mal war kein Benni bei ihr oben, um sie aufzufangen. Es geschah alles so schnell, dass Laura erst im Nachhinein realisieren konnte, was da gerade passiert war. Eigentlich hätte sie mit dem Rücken schmerzhaft auf dem Boden aufprallen müssen, doch stattdessen drehte sie sich während des Falls automatisch so, dass ihre Füße als erstes den Boden berührten. Allerdings war sie nicht in der Lage, die Landung zu federn und knickte ein. Wie aus Reflex stützte Benni sie und fing damit die restliche Energie dieses Sturzes ab. „Ich wollte zwar, dass du vom Baum springst und dich nicht hinunterstürzt, aber dafür ist es doch relativ gut gewesen.“, bemerkte er nüchtern. Laura hielt sich an Bennis Armen fest, immer noch zu sehr mit dieser ganzen Situation überfordert. Als sie ihre Sprache dann endlich wiederfand, war das erste, was sie sagte: „Neko?! Du hast mich Katze genannt?!?“ Aber natürlich konnte sie das nicht über die Lippen bringen, ohne mal wieder knallrot zu werden. Benni hatte ihr noch nie einen Spitznamen gegeben! Er nannte selbst diejenigen, für die ein Spitzname existierte nur bei ihrem normalen Namen!!! Doch er erwiderte nichts darauf und Laura überlegte, ob das tatsächlich an seiner Schüchternheit lag, von der sie bisher noch nie etwas bemerkt hatte. Die eigentlich auch überhaupt nicht zu ihm passte! Seufzend gab sie es auf, eine Erklärung aus ihm zu quetschen. Die Hauptsache war, dass sie endlich wieder unten war. Laura hob den Manga und ihren Mp3-Player auf, die sie bei ihrem Sturz losgelassen hatte, die aber beide den Fall immerhin überlebt hatten. „Danke für die Hilfe… So mehr oder weniger.“ Auch darauf erwiderte Benni nichts. Schweigend verließen sie gemeinsam die Sportanlage der Schule und steuerten auf das riesige Hauptgebäude mit dem gigantischen Mensaturm zu. Das strahlende Barock-weiß war im Sonnenuntergang nun leuchtend orange. Eigentlich müsste das ein ganz romantischer Moment sein, doch das Schweigen hatte eine bedrückende Wirkung und so sehr sich Laura auch wünschte, dass Benni wie letzten Samstag wieder ihre Hand nahm… Er nahm sie einfach nicht. Laura hielt es nicht mehr aus. „Bist du sauer, weil ich dir nicht glauben kann?“ Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Benni den Kopf schüttelte und sie atmete erleichtert auf. „Eher… Wie nennt man das? Enttäuscht?“ Noch schlimmer. Und am schlimmsten war, dass Bennis Enttäuschung sogar berechtigt war! Sie konnte ihm halt nicht glauben, was die Sache mit dem Schwarzen Löwen betraf. Aber im Prinzip hatte sie ihm auch nicht vertraut, als er sie aufgefordert hatte vom Baum zu springen. Wäre sie nicht so tollpatschig, würde sie vermutlich immer noch da oben sitzen! Warum zum Teufel konnte sie ihm nicht einfach glauben?!? Beim Baum hatte er immerhin auch Recht behalten, sie hatte sich wirklich nicht verletzt. „Vielleicht muss ich dir ja gar nicht glauben…“, murmelte Laura vor sich hin. Als sie merkte, dass Benni ihr einen fragenden Blick zuwarf, schluckte sie ihre Scham und ihr schlechtes Gewissen herunter und erklärte: „Mir reicht es schon, wenn du daran glaubst. Das ist viel mehr, als ich mir erhoffen könnte… Oder als ich verdient hätte…“ Benni seufzte. „Du bist unmöglich.“ Doch er nahm trotzdem ihre Hand. Vor Freude machte Lauras Herz Luftsprünge, allerdings konnte sie diesen Moment nicht lange genießen. „Na ihr Turteltäubchen?!“, rief Öznur amüsiert zu ihnen rüber. Laura wollte irgendetwas Schlagfertiges erwidern, doch sie brachte nur ein total verlegenes und sicherlich bescheuert aussehendes Lächeln auf die Reihe. „Wir haben uns Sorgen gemacht, weil du nicht zum Abendessen gekommen bist, aber anscheinend ist ja alles in Ordnung.“, bemerkte Carsten lachend. „Wir wollten euch nicht stören.“ „Aber es ist bitter nötig!“, warf Ariane ein. „Laura, du hast den Brownie-Nachtisch verpasst!!!“ „Was?!?“ Verzweifelt schaute Laura Ariane an. Es gab Schokolade?! Brownies?!?!? Und sie hatte sie verpasst?!?!?!?!?!?! Laura war der totale Schoko-Freak, das konnte jeder, der sie so halbwegs kannte bestätigen. Anne lachte auf. „Vielleicht sind noch welche da. Wenn du dich beeilst…“ Das ließ sich Laura nicht zwei Mal sagen. Etwas widerwillig ließ sie Bennis Hand wieder los und wollte auf direktem Weg zur Mensa rennen, als sie plötzlich ein starker Schwindel erfasste. Genauso plötzlich wie der starke Schwindel spürte Laura einen stechenden Schmerz in ihrer Lunge, der ihr die Luft abschnitt. Sie sah nur verschwommen, wie sich alles zu drehen schien, bevor sie komplett das Bewusstsein verlor. Kapitel 38: Entscheidung ------------------------   Entscheidung       Dank seiner Geschwindigkeit und seinem schnellen Reaktionsvermögen konnte Benni Laura noch auffangen, bevor sie auf dem Boden aufkam. Immer noch vor Schreck was gerade passiert war gelähmt, beobachtete Carsten, wie eine finstere Aura seinen besten Freund umgab. Doch als sie wieder verschwand, schüttelte dieser nur den Kopf. Zögernd ging Carsten zu den beiden rüber und setzte sich zu ihnen auf die Wiese, während die Dunkelheit bereits das Licht der Sonne verdrängte. „Ihr Körper nimmt die Energie nicht an?“, vermutete Carsten. Benni nickte wortlos. „Was?!? Wieso nicht???“, fragte Ariane panisch. Da sie von Benni keine Antwort bekam, erklärte Carsten: „Höchst wahrscheinlich blockiert der Schwarze Löwe die Verbindung.“ „A-aber… Warum?“ Besorgt betrachtete Janine Laura, die nahezu so blass wie der Tod war. Carsten seufzte. „Ich weiß es nicht.“ Kritisch musterte Anne ihn. „Wie: ‚Du weißt es nicht‘?“ „Der Schwarze Löwe ist ein Dämon.“, erklärte er betrübt. „Niemand weiß, was in den Köpfen von Dämonen vor sich geht. Selbst diese Geschichte, dass sie sich auf unserer Welt befinden um die Sünder zu beseitigen, ist eigentlich nur ein Märchen.“ „Und… Was machen wir jetzt mit Laura?“ Ariane schaute ihn fragend an. Beschämt wich Carsten ihrem Blick aus, als sich das Schlagen seines Herzens plötzlich beschleunigte, und schaute stattdessen auf Laura. Sie schien seelenruhig zu schlafen, als wäre alles in Ordnung. Doch Carsten wusste, dass dem nicht so war. „Vielleicht sollten wir sie erst einmal auf die Krankenstation bringen.“, schlug er vor. „Dort ist eigentlich immer jemand, der uns rufen könnte, falls etwas passiert.“ Ariane schnaubte. „Kann sie nicht wie letztes Mal in unserem Zimmer bleiben?“ „Das geht nicht, Nane.“, widersprach Susanne ihr in einem sanften Ton. „Carsten hat schon Recht, in der Krankenstation ist immer jemand und wir können nicht schon wieder den Unterricht schwänzen, um auf Laura aufzupassen, falls sie vielleicht aufwacht.“ „Ja, aber…“ Frustriert gab Ariane das Diskutieren auf. Sie wusste selbst nur zu gut, dass sie sich unnötiges Fehlen im Unterricht nicht leisten konnten. Schon gar nicht jetzt, denn so langsam aber sicher ging es auf die Halbjahresprüfungen zu. „Aber wehe Laura wird dort links liegen gelassen!“, drohte Ariane ihm. „Denkst du wirklich, wir würden so etwas machen?“ Ein wenig verletzt war Carsten durch ihr mangelndes Vertrauen tatsächlich. Immerhin war Laura seine beste Freundin, nein, mehr noch, sie war für ihn wie eine kleine Schwester. Er würde nie im Leben zulassen, dass man sie ‚links liegen ließ‘! Ariane schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht, dass ihr so etwas machen würdet. Aber wer weiß, wie die anderen Sanitöter so ticken.“ Anne lachte auf. „Sanitöter?!?“ „Das sind alles ganz nette Leute, Nane.“, versuchte Susanne sie zu beruhigen. „Und abgesehen davon…“, ergänzte Öznur kichernd, „…Laura ist im Prinzip ein VIP. Niemand würde es wagen, die Freundin des Schulsprechers schlecht zu behandeln. Besonders, da sich jene Sache mit der Bürgermeistertochter-Tussi schon in der ganzen Schule rumgesprochen hat.“ Das schien Ariane nun überzeugt zu haben, die sich wie die meisten anderen Mädchen lachend an die Geschichte mit Lisa Rapuko zurückerinnerte. Carsten konnte sich jedenfalls ein Lächeln nicht verkneifen, obwohl die gegenwärtige Situation eigentlich nicht zum Lachen war. Folglich verstummte auch jeder, als Benni aufstand und Laura Richtung Kranken- und Bürogebäude trug. Der Rest der Gruppe warf sich betroffene Blicke zu. „Ich glaube, Benni nimmt das ganz schön mit…“, wisperte Janine. „Natürlich… Immerhin war er ja wirklich fest davon überzeugt, dass Laura überleben wird. Aber eben sieht es nicht wirklich danach aus, wenn der Schwarze Löwe sogar eine Energietransfusion verhindert.“, meinte Susanne geknickt. Carsten schüttelte den Kopf. „Benni ist viel zu stur. Dieser Zwischenfall wird seine Ansicht garantiert nicht ändern. Zum Glück…“ Seufzend richtete Ariane den Blick auf den Boden. „Hoffentlich behält er Recht…“   Erschöpft legte sich Carsten auf das Krankenbett neben dem von Laura. Er hatte extra mehrere Schichten von seinen Mitschülern übernommen, um öfter bei ihr zu sein und war eigentlich nur noch zum Duschen und Umziehen in sein Zimmer gegangen, sodass seine Zimmergenossen Adrian und Jan schon belustigt gefragt hatten, wo er die Nächte in letzter Zeit verbrachte. Als er ‚auf der Krankenstation‘ geantwortet hatte, waren sie allerdings sofort still gewesen. Trotzdem war Laura in den letzten Tagen nur einmal kurz aufgewacht und selbst in dieser Zeit hatte sie beängstigend matt gewirkt. Laura hatte noch nicht einmal geweint, was Carsten um ehrlich zu sein ziemlich überraschte. Sie hatte sich einfach nur an ihre Stoffkatze gekuschelt und gemurmelt: „Ich hab Angst…“ Carsten hatte noch nicht einmal Benni holen können, denn sie war nach diesen Worten sofort wieder eingeschlafen. Seufzend schaute er auf die Uhr. Es war der zwölfte Mai, kurz vor sechs Uhr morgens. Carsten war die ganze Nacht aufgeblieben, falls Laura vielleicht doch noch mal aufwachen würde, doch nichts war passiert. Er schaute in dem schwachen Kerzenlicht zu ihr rüber. Noch atmete sie… Carstens Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. „Alles Gute zum Geburtstag, Laura…“ Er betete inständig, dass es nicht der letzte sein würde. In dem Moment piepste der Wecker und verkündete somit, dass nun sechs Uhr war. Etwa im selben Augenblick hörte er ein ersticktes Atmen. „Laura?!?“ Sofort sprang Carsten aus dem Bett und stürzte zu ihr rüber. Ein grausiger Kälteschauer überkam ihn, als er erfolglos nach Lauras Puls tastete. Sie hatte keinen mehr… „Laura…“ Schluchzend sackte er in die Knie und vergrub sein Gesicht in ihrer Bettdecke. War es das? War das ihr Ende?!? Einfach so?!?!? „Laura, mach die Augen auf! Du darfst nicht sterben!!!“, schrie er verzweifelt. In diesem Moment erinnerte er sich an jede Sekunde, jeden noch so kurzen Moment, den sie miteinander verbracht hatten. Jeden Moment in dem sie miteinander geweint und gelacht hatten. Es waren viel zu wenige Momente gewesen… Carsten spürte eine Hand auf seiner Schulter. Immer noch schluchzend drehte er sich um und schaute in Bennis nachtschwarzes Auge, in dem sich nicht die geringste Gefühlsregung zeigte. „Sie… Sie ist tot…“, brachte Carsten die grausame Wahrheit mühsam über die Lippen. Wortlos setzte sich Benni auf die Bettkante und nahm Lauras Hand. Er brauchte noch nicht einmal ihren Puls zu fühlen… Er hatte vermutlich von seinem Zimmer aus die bedrückende Stille bereits hören können. Eine Stille, die einst von Lauras Herzschlag gefüllt wurde. Carsten hätte jedenfalls in diesem Moment eine Gefühlsregung von Benni erwartet, doch diese blieb aus. „Noch nicht.“, meinte Benni schließlich. Ungläubig starrte Carsten ihn an. Laura hatte keinen Herzschlag mehr, wie konnte sie dann noch nicht tot sein? Doch er hoffte von ganzem Herzen, dass Bennis Worte nicht nur ein Wunschdenken waren. Dieser schloss die Augen und für einen Augenblick war der ganze Raum in tiefste Finsternis getaucht. Als die Lichtstrahlen der Kerzenflamme und der aufgehenden Sonne sich endlich wieder durchsetzen konnten, bemerkte Carsten erstaunt, dass Benni auf einmal einen Strauß mit insgesamt zwölf pechschwarzen Rosen in der Hand hielt. Eine dieser Rosen legte er über die Stelle, an der eigentlich Lauras Herz schlagen sollte und verschränkte ihre Hände über ihr, als würde Laura die Rose halten. Verwirrt musterte Carsten erst Laura, die immer noch reglos dalag, dann die schwarze Rose und schließlich Benni. „Was hast du gemacht?“ Mit seiner Wasser-Energie füllte Benni die Kristallvase auf Lauras Nachttisch und stellte dort die restlichen Rosen hinein. „In ihnen befindet sich Finsternis-Energie.“, antwortete er nach verrichteter Arbeit. Carsten wusste, dass er normalerweise schon alleine aus dieser Erklärung verstanden hätte, was Benni mit den Rosen vorhatte, in denen sich Finsternis-Energie befand. Doch er war immer noch viel zu durcheinander. Laura war tot! Und selbst mit dieser Finsternis-Rose in der Hand atmete sie nicht!!! „Noch hat der Schwarze Löwe nicht entschieden.“, erklärte Benni es ihm ausführlicher. „Vermutlich hat er ihre Seele aus ihrem Körper gezogen und sie in die Zwischenwelt gebracht.“ Nun machte es in Carstens Kopf endlich Klick und er schöpfte Hoffnung. Die Zwischenwelt, so hieß es, war die Welt zwischen dem Reich der Dämonen, der Lebenden und der Toten. Es war eigentlich logisch, dass der Schwarze Löwe Laura in die Zwischenwelt mitnahm, denn nur dort konnten sie von Angesicht zu Angesicht sprechen. Die Schreine der Dämonen, in denen die Dämonenbesitzer ihre Prüfungen absolvierten, waren im Prinzip auch nichts weiter als ein Übergang in diese Welt. Doch da sich Lauras Seele nun in der Zwischenwelt und nicht mehr in ihrem Körper befand, war ihr Körper logischer weise nicht in der Lage zu leben, denn ihm fehlte die Energie, die er eigentlich über die Seele bekam. Diese Rosen gaben ihm nun die nötige Energie, sich in einem Zustand zwischen Leben und Tod zu befinden, sodass Lauras Seele wieder zurückkehren konnte. Falls der Schwarze Löwe sich entschied, bei ihr zu bleiben… „Warum bist du dir eigentlich so sicher, dass der Schwarze Löwe sie nicht verlässt?“, fragte Carsten Benni verwundert. Benni erwiderte kurz seinen Blick, sagte schließlich aber doch nichts dazu. Stattdessen meinte er: „Die Energie einer Rose hält nur eine Stunde, dann musst du ihr die nächste geben.“ Verwirrt schaute Carsten Benni an. „Du bleibst nicht bei ihr?“ Dieser schaute an sich runter und Carsten bemerkte erst jetzt belustigt, dass er nichts weiter als eine schwarze Jogginghose und ein T-Shirt trug. Noch nicht einmal Schuhe hatte er angezogen. Er war also sofort nachdem er aufgewacht war zu Laura auf die Krankenstation gekommen. Carsten kicherte. Auch wenn Benni seine Gefühle für Laura nicht verstand… Sie waren mehr als eindeutig. Benni verdrehte seufzend die Augen und erhob sich vom Bett. Doch bevor er ging, beugte er sich noch einmal kurz zu Laura herunter, strich ihr sanft ein paar Haare aus dem Gesicht und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Grins nicht so.“, meinte Benni, als sein Blick auf Carsten fiel, ehe er sich zum Gehen wandte. Und Carsten grinste trotzdem, während er beobachtete, wie sein bester Freund den Krankensaal verließ. Er war in gewisser Weise gerührt, wie Benni seine Zuneigung zu Laura zeigte. Er war immer für sie da wenn es ihr schlecht ging und meistens bekam Laura das noch nicht einmal mit. Carsten war sich sicher, dass Benni ohne mit der Wimper zu zucken für sie durch die Hölle gehen würde. Immer noch lächelnd betrachtete er Laura, die gar nicht wirklich tot wirkte, sondern einfach nur friedlich zu schlafen schien. Wenn du wüsstest…   ~*~   Ariane hatte fürchterliche Angst, zu Laura und Carsten auf die Krankenstation zu gehen. Sie wollte dort nicht ankommen und erfahren, dass ihre beste Freundin nicht mehr unter ihnen weilte… Na gut, wenn Laura inzwischen tatsächlich gestorben war, hätte sie vermutlich ziemlich bald davon erfahren, doch noch hatte ihr niemand diese Hiobs-Botschaft überbracht. Einerseits würde Ariane es vermutlich nicht verkraften, bei Lauras letzten Atemzug bei ihr zu sein… Aber andererseits wollte sie die restliche Zeit, die Laura blieb, auch bei ihr verbringen… Hin und her gerissen hatte Ariane an diesem Sonntag erst um zehn Uhr das Bett verlassen und war frühstücken gegangen, obwohl sie schon seit sieben wach war. Viel zu früh fürs Wochenende, doch heute war nun mal ein besonderer Tag. Im negativen oder -hoffentlich- positiven Sinne. Im Mensaturm traf Ariane auf fast alle anderen ihrer Gruppe, nur Susanne, Carsten und Benni fehlten. Susanne war laut Ninie sofort nach dem Essen auf die Krankenstation gegangen und Carsten hatte die letzten Tage sowieso fast nur noch dort verbracht. Ariane war von Carstens Fürsorge ziemlich beeindruckt. Natürlich wusste sie, dass er mehr als nur sehr hilfsbereit war. Aber so wie er sich in letzter Zeit Tag und Nacht um Laura gekümmert hatte… Er hatte in diesen Tagen kaum etwas gegessen oder geschlafen und sah inzwischen genauso mitgenommen aus, wie damals, als Benni nach diesem schrecklichen Feuer zwei Tage lang im Koma gelegen hatte und er sich um ihn gekümmert hatte. Ariane seufzte, gab sich einen Ruck und schaute die anderen fragend an. „Wollen wir rübergehen?“ Öznur nickte zögernd. Obwohl der Krankensaal mit seinen sanften orangenen Wänden, den idyllischen Bildern und der fluffigen Wolkendecke eigentlich ganz gemütlich wirkte, überkam Ariane beim Betreten dieses Raumes ein kalter Schauder. Irgendetwas stimmte hier nicht, das merkte sie sofort. Ihr Blick fiel auf das zurzeit einzige belegte Bett. Laura schien zu schlafen, wie die ganzen Tage zuvor… Schmunzelnd bemerkte Ariane, dass Carsten mit dem Rücken an Lauras Bett gelehnt auf dem Boden saß, den Kopf leicht zur Seite geneigt hatte und friedlich schlummerte. Da niemand ihn aus dem verdienten und bitter nötigen Schlaf reißen wollte, schlichen die Mädchen leise zu den beiden rüber, um Laura aus der Nähe zu betrachten. Und in genau dem Moment wusste Ariane die Ursache für den Schauder, den sie beim Betreten des Raumes bekommen hatte. Lauras Brustkorb hob und senkte sich nicht, wie es bei einer schlafenden Person eigentlich sein sollte… Janine schlug die Hände vor den Mund, um ein Aufschluchzen zu verhindern, während Ariane kraftlos in die Knie sackte. „Nein Laura… Du darfst nicht tot sein…“, murmelte sie während ihr die Tränen über das Gesicht rannen. „Warum hat Carsten uns nicht geholt?“, beschwerte sich Öznur schluchzend, aber dennoch mit gedämpfter Stimme. „Vielleicht hat er schon geschlafen, als sie…“, vermutete Anne, hörte aber mitten im Satz auf, um die furchtbare Wahrheit nicht aussprechen zu müssen. Weinend nahm Ariane Lauras Hand, die eiskalt war… So kalt wie der Tod… Dabei fiel eine schwarze Rose neben ihr auf die Bettdecke. Verwirrt stellte Öznur sie in eine Vase, in der sich weitere dieser Rosen befanden und entfernte drei welke Blütenblätter, die auf Laura lagen.   ~*~   „Verdammt noch mal, hör mir endlich zu Benni!“, fuhr Sarah ihn vorwurfsvoll an. Benni richtete seinen Blick auf sie, der zuvor in unbestimmte Ferne abgeschweift war. Die braunen Augen der Schulsprecherin hatten sich zu verärgerten Schlitzen verengt. „Also, was ist nun mit der Schuluniformen-Reform? Haben du und der Direktor endlich auch unterschrieben?“ „Her Bôss unterzeichnet nur unter der Bedingung, dass auch die männlichen Schüler die Wahl zwischen Rock und Hose bekommen.“ Maximilian, der ehemalige Schulsprecher, schaute Benni verwirrt an. „Ich dachte, das hätte er nur zum Scherz gesagt…“ „Das ist ja…“ Coralin, die ehemalige Schulsprecherin verzog das Gesicht. Der Vertrauensschüler lachte auf. „Ach was, er nimmt nur die Geschichte mit der Gleichberechtigung etwas zu ernst.“ Nadja, die Vertrauensschülerin schnaubte. „So ein Unsinn, ich finde, der Direktor hat Recht. Warum sollten nur wir Mädchen wählen dürfen? Das wäre doch unfair.“ Sarah nickte nachdenklich. „Es ist zwar echt… seltsam, aber im Prinzip stimmt es schon.“ Lachend schlug Christoph vor: „Ergänze den Teil doch einfach. Ich bezweifle sowieso, dass irgendein Junge diese Möglichkeit nutzen wird.“ „Außer um seine Mitschüler oder die Lehrer zu ärgern.“, ergänzte die ehemalige Vertrauensschülerin belustigt. Seufzend gab sich Sarah geschlagen. „Mir soll’s Recht sein. Hauptsache, wir können endlich Hosen tragen.“ Sie schob Benni das Formular entgegen, doch just in dem Moment, in dem er es an sich nehmen wollte, fuhr ein qualvoll stechender Schmerz durch sein rechtes Auge. Benni zuckte zusammen und presste die Hand darauf, als er spürte, dass eine warme Flüssigkeit über seine Wange lief. Eine ähnliche Situation hatte er bisher erst einmal vor knapp zwölf Jahren erfahren müssen, doch er erinnerte sich nur zu gut, wie schmerzhaft und entkräftend sie war. Allerdings wusste er auch instinktiv die Ursache. So mühte er sich mit aller Macht, die er noch hatte, auf die Beine, wäre allerdings sofort in die Knie gesackt, hätte Christoph nicht reagiert und ihn gestützt. „Benni?! Was hast du?!?“ Trotz ihrer Lautstärke hörte Benni Janas Stimme nur gedämpft. Ein Rauschen betäubte seine Ohren und blutroter Nebel behinderte seine Sicht, während die Qualen in seinem Auge ihn in die Besinnungslosigkeit reißen wollten. „Was ist hier los?“ In dem Bruchteil eines Atemzugs hatte der Direktor das Zimmer durchquert. „Die Rose… Ohne sie stirbt Laura.“, keuchte Benni mit der letzten Kraft, die ihm blieb, ehe der Schmerz die Oberhand gewann und ihn in einen dunklen Abgrund riss.   ~*~   „Was zum Teufel habt ihr gemacht?!?“ Der lautstarke Fluch des Direktors riss Carsten aus dem Schlaf und brachte fast sein Herz zum Stillstand. Ihm fiel auf, dass inzwischen die anderen Mädchen gekommen waren, die bei dem scharfen Ton von Herr Bôss erschrocken zusammenzuckten. „Wir… Gar nichts!“, widersprach Öznur und Carsten bemerkte, dass Tränen über ihre Wangen liefen. Eine furchtbare Erkenntnis überkam ihn und trotz des aufkommenden Schwindels fuhr er zu Laura herum. Die Rose war nicht mehr dort, wo sie sein sollte. Eilig fischte er eine der Energie-Rosen aus der Blumenvase, legte sie Laura über die Stelle ihres Herzens und verschränkte ihre Hände über ihr, sowie Benni es vor einigen Stunden gemacht hatte. Carsten überkam eine schreckliche Angst. Wie lange war Lauras Körper nun schon ohne Energie gewesen?!? „W-was… Was ist denn los?“, fragte Ariane verwirrt und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Laura ist nicht tot!“, erklärte Carsten aufgebracht und hoffte, dass die Rose erst vor kurzem entfernt worden war. „Ihre Seele befindet sich nur in der Zwischenwelt und die Rosen liefern ihrem Körper die nötige Energie, um nach dieser Übergangszeit wieder in der Lage zu sein, leben zu können!“ „Oh Gott… Das wusste ich nicht!“, rief Öznur verzweifelt aus. Susanne betrat aus einem Nebenzimmer den Raum und schaute die Gruppe verwirrt an. „Was habt ihr denn?“ Anne schnaubte. „Öznur hat vermutlich die Rückkehr von Lauras Seele vereitelt, falls sich der Schwarze Löwe dazu entscheidet, bei ihr zu bleiben.“ „Ich hatte doch keine Ahnung!!!“ Susanne seufzte. „Man kann euch ja echt nicht eine Sekunde alleine lassen.“ „Genau! Wo warst du? Du hättest uns die Sache mit der Rose erklären können!!!“, schrie Ariane sie vorwurfsvoll unter Tränen an. „Auf dem WC. Ich bin auch nur ein Mensch.“, meinte Susanne ruhig. „Nein, du bist ein Halbdämon!!!“, schrie Ariane verzweifelt. „Mädels, jetzt seid ruhig. Von eurem Gekreische bekommt man ja Kopfschmerzen.“ Enerviert massierte sich Herr Bôss die Schläfen. „Diese paar Sekunden ohne Energie verkraftet ihr Körper vermutlich noch.“ Carsten atmete erleichtert auf. Ein Glück, dass der Direktor anscheinend rechtzeitig gekommen war… Diese Tatsache verwirrte ihn jedoch etwas. „Danke für Ihre Hilfe, aber… woher wussten Sie, dass Laura fast gestorben wäre? Und dass sie die Rose zum Überleben braucht?“ Der Direktor deutete mit dem Daumen hinter sich, wo in genau diesem Moment der ehemalige Vertrauensschüler in den Krankensaal kam. Er stützte Benni, was Carsten dazu veranlasste, sofort zu ihm zu hasten. „Benni?“ Voller Sorge musterte er seinen besten Freund. Benni atmete schwer und war genauso leichenblass wie Laura. Eine Hand hatte er auf sein rechtes Auge gepresst und Carsten stellte geschockt fest, dass eine dünne Blutlinie bis zu seinem Kinn lief und von dort auf den Boden tropfte. Christoph half Benni, sich auf das nächstgelegene Bett zu setzen und erklärte Carsten schließlich: „Er ist plötzlich zusammengebrochen und hat nur noch was gesagt von wegen das Laura ohne die Rose stirbt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, was er damit gemeint hat, aber Herr Bôss hat’s anscheinend sofort kapiert.“ Jetzt verstand Carsten, wie der Direktor so schnell eingreifen konnte. Doch warum war Benni zusammengebrochen? Und warum blutete er?!? Gab es da mit Lauras Lage irgendeinen Zusammenhang? Carsten setzte sich neben Benni auf das Bett und berührte vorsichtig seine Schulter. Susanne brachte ihm einige Tücher, während der Rest neugierig nähergekommen war und gar nichts mehr zu kapieren schien. Carsten ging es zwar nicht wirklich anders, doch die Sorge um seinen besten Freund behielt die Oberhand. „Geht’s?“, erkundigte er sich und nahm eins der Tücher. Benni deutete ein Nicken an, entfernte die Hand aber trotzdem nicht von seinem Auge. Öznur seufzte. „Jungs, ihr schafft es echt immer wieder, uns zu verwirren. Jetzt haben wir endlich gecheckt, was es mit dieser Rose auf sich hat, da kommst du halbtot zu uns ins Krankenzimmer!“ „Was kann ich dafür, wenn ihr Laura fast umbringt?“, erwiderte Benni ungewohnt bissig, klang aber so kraftlos, dass er gar nicht wirklich bissig wirkte. Also hing sein besorgniserregender Zustand wirklich mit Lauras Situation zusammen. „Aber warum brichst du deswegen zusammen?“, fragte Carsten irritiert. Endlich entfernte Benni die zitternde Hand von seinem Auge, behielt es aber geschlossen. „Das ist das Los eines Dämonengesegneten.“, antwortete er nur, strich sich die zum Teil blutverschmierten Haare aus dem Gesicht und öffnete sein rechtes Auge. Carsten fiel ein, dass die anderen dieses Auge noch nie gesehen hatten und es nun interessiert betrachteten. Doch es sah anders aus, als sonst. Mehrere Blutlinien liefen von dem Auge aus über Bennis feines Gesicht, als wären sie Tränen. Das Auge selbst pulsierte blutrot, als bestünde seine Iris aus reiner Energie und der Schlitz der Katzenartigen Pupille verlieh Bennis mattem Blick eine angsteinflößende Wirkung. Der Augapfel war gerötet und die kleinen Adern waren geschwollen und deutlich zu sehen. „Deshalb habe ich gespürt, dass Laura stirbt.“, sprach Benni mit seiner tonlosen Stimme in das betroffene Schweigen. Es sah nämlich wirklich unerträglich schmerzhaft aus. Anne verzog das Gesicht. „Keine angenehme Nachrichtenübermittlung.“ „Also stimmt es tatsächlich, dass die primären Dämonengesegneten ihre Macht verlieren, wenn der entsprechende Dämon den Besitzer verlässt.“, stellte Susanne fest. Benni nickte nur. „Der Schwarze Löwe hat Laura verlassen?!?!“, schrie Ariane panisch auf. „Nein, nein.“, versuchte Susanne sie zu beruhigen. „Der Dämon verlässt seinen Besitzer für gewöhnlich dann, wenn der Körper nicht mehr überlebensfähig ist. Das wäre der Fall gewesen, wenn Laura noch länger ohne eine Energiezufuhr gewesen wäre. Aber da Bennis Auge immer noch rot ist, konnte es anscheinend noch rechtzeitig verhindert werden.“ Erleichtert atmete Ariane auf, während Susanne eines der Tücher befeuchtete und es dann Benni reichte. Dieser wischte sich damit einen groben Teil des Blutes aus dem Gesicht und von der Hand, sah aber immer noch besorgniserregend erschöpft aus. „Am besten, du legst dich etwas hin und ruhst dich aus…“, riet Carsten ihm besorgt und war erstaunt, dass sich Benni tatsächlich ohne Widerworte in das Bett legte. Der ehemalige Vertrauensschüler seufzte. „Ich geh lieber mal zurück zu den anderen und sage ihnen, dass alles in Ordnung ist.“ Er ging zur Tür, kam aber nach kurzer Zeit noch mal zurück. „Ihr habt übrigens Besuch.“ Hinter Christoph betrat niemand anderes als Eagle den Krankensaal. „Hi, Leute.“ Während Carsten unverzüglich zusammenzuckte, als er seinen Bruder erblickte, rannten Öznur und Lissi sofort zu ihm. „Eagle, was machst du hier?!“, fragte Öznur lachend und gab ihm zur Begrüßung eine kurze Umarmung, wie sie es gerne bei einem ihrer guten Freunde tat. Auch Lissi warf sich für einen Moment um seinen Hals. Schließlich antwortete Eagle: „Ich wollte mal sehen, wie es Laura so geht.“ Susanne seufzte. „Noch hat der Schwarze Löwe keine Entscheidung getroffen… Jedenfalls scheint sich ihre Seele in der Zwischenwelt zu befinden.“ Eagle nickte nur. „Wie bist du eigentlich hierher gekommen?“ Ariane schaute ihn verwundert an. „Bei diesem schönen Wetter hatte ich Lust auf einen Rundflug.“, scherzte er und wurde von einem Bellen an der Tür bestätigt. Mit wenigen Schritten hatte Wolf das Bett erreicht, in dem sich Benni hingelegt hatte und schleckte ihm über die rechte Wange, offensichtlich erfreut, ihn zu sehen. Wobei es auch sein könnte, dass Wolf ihm lediglich einige übriggebliebenen Bluttropfen wegwischen wollte. Benni drehte sich auf die Seite, um Wolf den Kopf zu kraulen, als Raven zu ihm aufs Bett hopste und sich an Bennis Brust schmiegte. Dicht gefolgt von Chip, der anscheinend endlich ins Gebäude kommen konnte und sich nun zufrieden über Bennis Kopf zusammenkugelte. Amüsiert beobachteten die anderen, wie sich die ganzen Tiere um Benni versammelten und sich an ihn kuschelten. Sie schienen ihn wirklich gern zu haben… und er sie. Schließlich fiel Öznur auf: „Moment… Hast du Wolf und Raven mitgebracht?“ Eagle nickte seufzend. „Der Köter hat sich an mein Hosenbein gebissen, bis ich ihn und die Katze endlich mitgenommen habe.“ Verärgert funkelte er Wolf an. „Woher zum Teufel wusstest du eigentlich, dass ich zur Coeur-Academy wollte?!“ Wolf antwortete mit einem Bellen, was natürlich bis auf eine Person niemand verstehen konnte. „Benni, kannst du bitte mal dolmetschen?“, forderte Ariane ihn auf. „Ich habe so meine Kontakte.“, übersetzte Benni, immer noch mit einer besorgniserregend matten Stimme. Verwirrt musterte Eagle die anderen. „Was ist denn passiert?“ Also berichteten die Mädchen ihm von der Sache, dass Lauras Seele fast nicht mehr in ihren Körper hätte zurückkehren können, hätte Benni durch das Los eines Dämonengesegneten nicht gespürt, dass sie sterben würde. Anne zuckte mit den Schultern. „Hätte Öznur die Rose nicht in die Vase gestellt, wäre das alles nicht passiert.“ „Hey, sie ist von alleine runtergefallen!“, verteidigte sich Öznur empört. „Und abgesehen davon wusste ich davon halt nichts!!!“ „Hauptsache ist doch, dass sie noch lebt.“, beruhigte Eagle sie. Janine nickte erleichtert. „Ja, zum Glück hat Benni es bemerkt.“ Sie warf ein dankbares und mitleidiges Lächeln in Bennis Richtung, hielt aber inne. „Benni?“ Von Benni kam keine Antwort. Susanne kicherte. „Ich glaube, er ist eingeschlafen.“ „Er kann sonst nie in Anwesenheit anderer Menschen schlafen.“, stellte Carsten besorgt fest. „Dieser Vorfall muss ihn wirklich ganz schön entkräftet haben…“   ~*~   Laura hatte sich schon lange nicht mehr so stark gefühlt. Moment… So stark? Sie lag doch schon seit einer Woche total entkräftet im Bett, warum fühlte sie sich auf einmal stark??? Verwirrt schlug Laura die Augen auf, allerdings änderte das trotzdem nichts an ihrer Umgebung. Um sie herum war pure Dunkelheit, wie wenn sie die Augen geschlossen hielt. „Na? Endlich aufgewacht?“, bemerkte eine zwar freundliche, aber dennoch sarkastische Stimme. Erschrocken drehte sich Laura um und schaute in pechschwarze Augen. Im ersten Moment hatte sie sich Benni erhofft, doch kurz darauf stellte sie schaudernd fest, dass diese Augen zu einem gewaltigen schwarzen Löwen gehörten. Dem Schwarzen Löwen. Der Schwarze Löwe hatte seine Tiergestalt und lag zufrieden auf einer Seite, während er belustigt beobachtete, wie Laura aufstand und überrascht feststellte, dass sie den Boden nicht von dem Rest unterscheiden konnte, weil einfach alles schwarz war. Laura fragte sich, wie sie bei dieser Schwärze überhaupt den Schwarzen Löwen sehen konnte, doch sie sah ihn nun mal. Als Laura sich schließlich eingestand, dass sie in diesem Nichts vermutlich gefangen war, richtete sich der Schwarze Löwe auf und nahm sein menschliches Aussehen an, in dem Laura ihn bei ihrem letzten peinlichen Treffen bereits kennen gelernt hatte. Jenes peinliche Treffen, bei dem sie peinlich heulend aus dem Schrein gerannt war. ‚Leo‘ fuhr sich mit der Hand durch das verwuschelte schwarze Haar. „Laura, Laura… Was mach ich nur mit dir?“ Laura biss sich auf die Unterlippe. Das fing ja schon mal prima an… Leo setzte sich im Schneidersitz auf den nicht vorhandenen Boden und nach einem kurzen Zögern tat Laura es ihm gleich. Nach einer Weile bemerkte sie, dass das anscheinend keine rhetorische Frage gewesen ist. „Ich… Keine Ahnung.“, antwortete sie geistreich. Leo seufzte. „Sei ehrlich. Würdest du, wenn du der Dämon wärst, jemanden wie dich verlassen?“ Na toll, eine ehrliche Antwort. Verbissen senkte Laura den Blick und nickte. Ja, sie würde so jemanden wie sich verlassen, wenn sie der Dämon wäre. Immerhin war dieser Jemand seit Lebzeiten total peinlich, zu nichts in der Lage, außer sich in Schwierigkeiten zu bringen und heulte ständig herum. Laura hasste diese Eigenschaften an sich. „So, so.“ Leo kicherte. Schließlich meinte er: „Du hast Recht, ich sollte dich wirklich verlassen.“ Laura stockte der Atem. Das war es? Das war seine Entscheidung?!? Einfach so?!?!?!? „A-aber…“ Sie wusste gar nicht, warum sie es überhaupt versuchte, ihm zu widersprechen. Sie hatte keine ausschlaggebenden Eigenschaften, mit denen sie ihn würde überzeugen können. Schluchzend rieb sich Laura die Tränen aus den Augen. Sie war verloren… Leo stöhnte auf. „Du musst doch nicht gleich losheulen.“ Nicht?!? Was würde dann bitteschön ein normaler Mensch machen, wenn er erfährt, dass er nie wieder zu den Lebenden zurückkehren konnte? Laura würde die anderen nun nie wiedersehen! Sie war endlich mit Benni zusammengekommen und jetzt war es schon wieder aus!!! „Hey, ich hab nur gesagt: ‚Ich sollte dich wirklich verlassen‘!“, widerholte Leo seine Aussage. Hoffnungsvoll schaute Laura ihn an, während immer noch die Tränen über ihre Wangen rannen. Leo zuckte mit den Schultern. „Aber wenn ich dich so sehe, fällt mir die Entscheidung nicht schwer, tut mir leid.“ Das konnte doch nicht wahr sein!!! Er war sich noch nicht sicher gewesen und jetzt veranlasste Lauras peinliche Heulerei ihn dazu, sie zu verlassen?!? Warum konnte sie sich nicht ein einziges Mal zusammenreißen?! Frustriert rieb sich Laura die Tränen aus dem Gesicht, denen immer und immer wieder neue folgten. Sie wollte noch nicht sterben!!! Nun brach Laura endgültig in Tränen aus. „Nee, oder?“, kommentierte Leo ihren Heulanfall. „Was kann ich dafür, dass du mir einfach mein Leben wegnimmst?!“, brüllte Laura ihn verzweifelt an. „Ich nehme dir dein Leben nicht weg, ich habe es dir überhaupt erst ermöglicht.“, erwiderte er leicht gereizt, „Wäre ich nicht gewesen, hättest du noch nicht einmal mehr ein Jahr gehabt.“ Auf Lauras Schluchzen hin meinte er: „Und ich habe kein Wort davon gesagt, dass ich vorhabe es dir wegzunehmen.“ „Aber das tust du automatisch, wenn du mich verlässt!!!“, schrie Laura ihn verzweifelt an. „Was ich auch kein einziges Mal erwähnt habe.“ Laura hielt einen Moment inne. „W-wie… Wie meinst du das?“ Seufzend verschränkte Leo die Arme vor der Brust. „Ich meine damit, dass ich nie vorhatte, dich zu verlassen.“ „A-aber… Aber du hast gesagt, dass du dich bis zu meinem sechzehnten Geburtstag entscheiden wirst, ob du mich verlässt, oder nicht.“, erinnerte Laura ihn verwirrt. „Das war ein Bluff.“ Leo grinste sie frech an. „Was?!?“ Laura sprang auf. „Du hast mich nur verar- reingelegt?!?“ „Jupp.“ Entgeistert starrte sie den menschlichen Schwarzen Löwen an. Er hatte sich nur einen Scherz mit ihr erlaubt? Sie hatte ihr ganzes Leben lang in Verzweiflung und Angst gelebt, nur, weil ein Löwe sich einen Scherz mit ihr erlaubt hatte?!? „Warum?!?“ Leo zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“ „Aber du musst doch wenigstens einen Grund gehabt haben! Du hast damit mein Leben ruiniert!!!“, empörte sich Laura lautstark. „Ich habe es dir damals gerettet, nicht ruiniert.“, berichtigte er sie amüsiert. „Und abgesehen davon: Warum sollte ich einen Grund brauchen?“ „Weil… Keine Ahnung, weil Dämonen so etwas nicht machen!“ Leo lachte auf. „Woher willst du wissen, was für uns Dämonen richtig ist und was falsch?“ „Ihr handelt im Auftrag Gottes! Oder so…“ Kichernd musterte Leo sie. „Ihr Menschen habt keine Ahnung von uns. Wir haben ganz andere ‚Moralvorstellungen‘ als ihr. Wir handeln, wie es uns beliebt.“ Laura fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Dann waren alle Geschichten über die Dämonen, die die Sünder für das Wohl der Menschheit beseitigten, wirklich nur ein Märchen?!? Dann töteten sie einfach nur aus Lust und Laune?!? „Dann hast du meine Geschwister wirklich grundlos ermordet?!?!?“, schrie Laura entgeistert. Leo schüttelte den Kopf und klang endlich mal ganz ernst, als er meinte: „Wenn ich sie nicht erlöst hätte, wären sie für immer verloren gewesen.“ Laura blieb das Herz stehen. „Wie- Wie meinst du das?“ „Du hast es wirklich nicht bemerkt? Wobei… zu dir waren sie ja auch ganz freundlich.“, überlegte er laut. „Sie waren die freundlichsten Menschen, die ich je kannte!!!“, kommentierte Laura verärgert. Wollte der Schwarze Löwe Lucia und Luciano unterstellen, böse gewesen zu sein?!? „Frag Benedict.“, erwiderte er darauf nur achselzuckend. „Ihre Herzen waren von klein auf vergiftet. Lukas hatte sie im Prinzip zu seinen Marionetten gemacht. So war ihm die Herrschaft über Yami gesichert, selbst wenn er den Vorsitz des Siebener Rats nicht geerbt hätte.“ Entkräftetet sackte Laura in die Knie. Lucia und Luciano waren nicht die gewesen, für die sie sich ausgegeben hatten? Ihre eigenen Geschwister hatten sie getäuscht und hintergangen?!? „Aber zu Benni waren sie auch immer total nett…“, widersprach Laura Leo verzweifelt. Dieser seufzte. „Nur, wenn du dabei warst. In Wahrheit hat es ihnen jedoch genauso wenig gepasst, dass du dich mit diesem ‚Waldläufer ohne Identität‘ abgegeben hast, wie Leon oder Lukas.“ Das war zu viel für Laura, sie konnte einfach nur noch ungläubig den Kopf schütteln. „Nein, das kann nicht sein…“ „Wie gesagt, frag Benni. So langsam müsstest du doch gelernt haben ihm zu glauben.“ Letzteres sagte der Schwarze Löwe mit einem leichten Schmunzeln. Lauras Wangen färbten sich knallrot. „Woher weißt du- Bekommst du alles mit, was wir machen?“ Auch die Dinge, die eigentlich sonst niemanden etwas angingen?!? Na gut, bisher hatte Benni sie höchstens auf die Wange geküsst, aber… Das bekam der Schwarze Löwe mit? Und er würde auch noch mehr mitbekommen?!? Leo kicherte. „Natürlich.“ Vor Scham verbarg Laura ihr Gesicht hinter ihren Händen. „Du bist ein Stalker?!?“ Nun konnte sich Leo vor Lachen nicht mehr halten. „So ein Unsinn! Wie schon gesagt, uns Dämonen sind eure moralischen Vorstellungen herzlichst egal. Und du brauchst dir auch keine Sorgen zu machen, wir stehen solchen Liebeleien völlig gleichgültig gegenüber.“ Kichernd ergänzte er: „Falls es dir aber zu peinlich ist, kann ich auch ‚wegschauen‘.“ Laura nickte einfach nur noch mit ihrem hochroten Kopf. Das alles war ihr echt zu peinlich. „Du wirst sowieso vergessen, dass ich auch noch da bin.“, kommentierte Leo ihren Scham schulterzuckend. Doch Laura fiel noch etwas Anderes auf. „Du hast gemeint, langsam müsste ich Benni doch glauben. Hatte er mit seiner… Vermutung recht?“ Wenn der Schwarze Löwe wirklich alles mitbekam, dann wusste er auch garantiert, was Benni vermutet hatte. Irgendeine Vermutung, warum er sich so sicher war, dass der Schwarze Löwe sie nicht verlassen würde. Leo grinste sie belustigt an. „Benedict hat einen ziemlich guten Instinkt.“ Laura schlug sich mit der Hand auf die Stirn. Er hatte es gewusst. Er hatte es gewusst und sie hatte ihm nicht geglaubt! „Aus Fehlern lernt man.“, bemerkte Leo lachend, hielt kurz darauf aber inne. „Oh, apropos Benedict, du solltest langsam zurück. Die Zeit bei den Menschen vergeht schneller als hier.“ Laura konnte es nicht fassen. Er ließ sie einfach so gehen?!? Er hatte sich ihr Leben lang einen fiesen Scherz mit ihr erlaubt und nun ließ er sie gehen, als wäre nichts passiert?! Doch Laura wollte sich nicht beschweren. Auch sie wollte endlich zurück. Zurück in die Welt der Lebenden; zurück zu Benni, Carsten, Ariane und all den anderen. Ein Lächeln stahl sich von Lauras Lippen. Ob gemeiner Scherz oder nicht, jetzt war endlich alles vorbei. Sie würde nicht sterben.   Träge öffnete Laura ihre Augen. Verwundert fragte sie sich, ob sie im Freien lag, doch kurz darauf bemerkte sie, dass der Wolkenhimmel nur auf die Decke gemalt war. „L-Laura?“, hörte sie eine verunsicherte Stimme in ihrer Nähe fragen. Kurz darauf wurde sie auch schon von Ariane mit einer überschwänglichen Umarmung überfallen. „Du bist wach! Ich kann es nicht fassen, du lebst! Du bleibst am Leben!!!“ Lachend drückte Ariane Laura an sich, die die Umarmung überglücklich erwiderte. Ja, sie war am Leben und sie würde auch noch eine Weile am Leben bleiben können. Erst jetzt, da sie sich wieder in der Welt der Lebenden befand, spürte Laura, wie eine Last von ihr abzufallen schien. Eine schwere Last, die sie nahezu ihr gesamtes Leben hatte mit sich schleppen müssen. Erst jetzt spürte sie die Erleichterung. Sie spürte, dass sie am Leben war. „Nane, lass uns auch noch was von ihr übrig!“, forderte Öznur sie kichernd auf und schob Ariane soweit es ihr möglich war zur Seite, um Laura auch noch umarmen zu können. Eine Weile war Laura das Knuddel-Ziel fast aller Mädchen, bis auf Anne, die ihr einfach nur lächelnd auf die Schulter klopfte. „Okay Mädels, jetzt reicht‘s aber mal. Nun bringt ihr sie ja fast um!“, bemerkte Eagle belustigt. Laura war gar nicht aufgefallen, dass auch er da war. Eagle packte ganz sanft ihren Unterarm, jene Begrüßungsgeste, die in Indigo unter guten Freunden verbreitet war. Ehe sie sich versah, lag sie dann auch schon in den Armen von Carsten. „Jag mir nie wieder so eine Angst ein!“, forderte er sie lachend auf, doch an seinem festen, fast schon verkrampften Griff konnte Laura merken, dass er das ernst gemeint hatte. Für einen kurzen Moment vergrub Laura ihr Gesicht in seiner Brust und atmete Carstens Duft ein. „Ich kann nichts versprechen.“, witzelte sie schließlich, als Carsten die Umarmung wieder löste und ihr daraufhin einen leichten Klapps auf den Hinterkopf verpasste. Lachend wollte Laura ihm gegen den Arm boxen, doch sie hielt in der Bewegung inne, als ihr Blick auf Benni fiel. Dieser saß auf einem der Betten neben ihr und hatte bisher keine Anstalten gemacht, sich bemerkbar zu machen, sondern nur schweigend die gut gelaunte und herumalbernde Gruppe beobachtet. Nahezu automatisch wandelte sich Lauras Ausdruck von Verwunderung zu einem Lächeln. „Na komm schon Benni, du bist dran.“, meinte Carsten amüsiert und stand auf, um Benni Platz zu machen. Doch dieser reagierte nicht darauf. Traurig senkte Laura den Blick. Gerade auf ihr Wiedersehen mit ihm hatte sie sich am meisten gefreut… Laura hörte ein Knurren, was vermutlich von Wolf kam, und bemerkte, dass Benni daraufhin tatsächlich zögernd aufstand, zu ihr rüber kam und sich auf die Bettkante setzte. Eine Zeit lang schauten sie sich einfach nur in die Augen, bis Öznur plötzlich rief: „Herrje, das ist ja schrecklich mit euch! Küss sie doch endlich!!!“ „Was?!?“ Verlegen schreckte Laura hoch und hörte endlich damit auf, Benni anzuhimmeln. „Stimmt ihr Süßen, langsam wird es mal Zeit!“, meinte Lissi kichernd. „Wie jetzt? Ihr habt euch noch nie geküsst?“, bemerkte Eagle belustigt. „Ich dachte ihr wärt zusammen.“ „Und ab wann ist man deiner Meinung nach ‚zusammen‘?“, fragte Ariane Eagle kritisch. „Keine Ahnung, aber man sollte sich auf jeden Fall schon mal geküsst haben.“, antwortete dieser schulterzuckend. Öznur nickte. „Eigentlich schon, aber bei Laura und Benni müssen wir da eine Ausnahme machen, sonst kommen die nie in die Gänge.“ Laura war natürlich wie immer bei diesem Thema knallrot geworden, doch niemand nahm davon auch nur Notiz. Die Gruppe diskutierte ungestört weiter, ab wann man nun eigentlich als offiziell zusammen galt. Benni verdrehte die Augen, sodass nur Laura seine Meinung von der Diskussion der anderen mitbekam und gab ihr dann einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Während Laura noch roter wurde als zuvor, hatte der Rest diesen Kuss zum Teil aus den Augenwinkeln mitbekommen können. „Ohoooooo.“, kommentierte Öznur das Geschehene lachend. „Das ist doch immerhin ein Anfang.“ Ariane grinste Laura belustigt an. „Na komm Laura, wir haben was zu feiern! Alles Gute zum Geburtstag!!!“ Und schon wurde Laura wieder von Ariane mit ihrer erwürgenden Umarmung überfallen. Nachdem fast jeder -bis natürlich Benni- Laura zum Geburtstag gratuliert hatte, meinte Lissi plötzlich: „Dann lasst uns endlich feiern!“ Sie zerrte Laura aus dem Bett und kurz darauf hatte sie dank Carstens Magie auch schon ihre normale Kleidung an. Allerdings etwas feiner als sonst. Laura konnte noch nicht einmal fragen, was die Mädchen eigentlich mit ‚feiern‘ gemeint hatten. Doch kaum waren sie im hinteren Teil des Schulcampus bei den Sportplätzen und dem Ball-Turm angekommen, konnte sie sich die Antwort schon denken. Oder eher, sie konnte sie bereits sehen. Links neben dem Ball-Turm am Waldrand schwebten unzählig viele japanische Lampions in der Luft und erhellten die gerade angebrochene indigoblaue Nacht wie orangene Sterne, die mit den eigentlichen Sternen um die Wette leuchteten. Unter ihnen standen einige Tische und Bänke und auf einem separaten Tisch waren Kuchen und sonstige Süßigkeiten. „Woooooooow.“, staunte Laura. Sie freute sich riesig. Die anderen schienen tatsächlich damit gerechnet zu haben, dass sie überleben würde. Diese Einkaufstour vor etwa einer Woche war nicht nur ein Bluff gewesen. „Ich…“ Laura fehlten die Worte. Gerührt wischte sie sich eine Träne aus den Augen. Dass die anderen tatsächlich an sie geglaubt hatten war das schönste Geschenk, was Laura je bekommen hatte… „Danke… Vielen Dank…“, schniefte sie. Lachend klopfte Carsten ihr auf die Schultern. Laura stutzte. „Moment… Wann habt ihr das alles gemacht?“, fragte sie verwirrt. „Heute Nachmittag.“, antwortete Susanne. „Beziehungsweise die Kuchen hatten wir über die Woche verteilt gebacken und mit einem Frische-Zauber belegt.“ Eagle lachte auf. „Ernsthaft? Das ist praktisch.“ Laura bemerkte eine kleine Gruppe, die auf sie zukam. Die Spitze des Zuges bildete… ihr Vater. „Alles Gute zum Geburtstag, meine Liebe.“ Laura hatte das Gefühl, sie würde träumen, als ihr Vater sie doch tatsächlich für einen kurzen Moment in die Arme nahm. Wann hatte er das das letzte Mal gemacht? Laura wusste es schon gar nicht mehr. Auch ihre Mutter zog sie ganz fest in die Arme. „Alles Gute, mein Liebling.“ „D-danke…“ Laura war vollkommen überfordert mit dieser Situation. „Was macht ihr eigentlich hier?“, fragte sie verwirrt. „Wir wollten doch nicht deinen Geburtstag verpassen.“, antwortete O-Kaa-Sama in ihrem liebevollsten Ton. Laura wusste zwar, dass ihre Mutter seit dem Tod von Lucia und Luciano schon immer unter Depressionen litt und ihre Fröhlichkeit daher meist nur aufgesetzt hatte, doch dieses Mal klang es echt. Vermutlich, weil sie heute fast ihr drittes Kind verloren hätte, hätte sich der Schwarze Löwe nicht nur einen Scherz erlaubt. Was Laura zwar immer noch ärgerte, weil sie ihr ganzes Leben lang wegen dieses dämlichen Scherzes in Angst und Verzweiflung gelebt hatte, aber immerhin war es endlich vorbei. Einfach nur vorbei. Rebecca war die nächste, die Laura um den Hals fiel. „Alles, alles Gute! Ich hab dir doch gesagt, dass du dir wegen diesem Kätzchen keine Sorgen zu machen brauchst.“ „Wie jetzt? Hast du auch gewusst, dass er nie vorhatte, mich zu verlassen?“, entfuhr es Laura. Rebecca legte den Kopf schief. „Echt? Nein, ich hab mir nur gedacht, wenn er unseren allseits geliebten Grummelbär Benni zum Dämonengesegneten macht und sich dieser anscheinend sehr gut mit dir versteht, warum sollte er dich dann noch verlassen?“ Laura konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als Rebecca Benni als Grummelbär bezeichnete. Genauso wenig, wie ein großer Teil der restlichen Geburtstagsgäste. Ariane hielt inne. „Moment… Wie meinst du das, dass er nie vorhatte, dich zu verlassen?“ Laura seufzte. „Er hat sich nur einen Spaß erlaubt…“ „Was?!? Das ist ja total bescheuert!“, empörte sich ihre beste Freundin. „Du machst dich hier verrückt und bekommst mehrmals einen Nervenzusammenbruch und das alles nur, weil sich der Schwarze Löwe einen Spaß erlaubt hat?!?“ „E- es ist schon okay.“, versuchte Laura sie zu beruhigen. „Nichts ist okay! Hast du vergessen, wie dich das fertiggemacht hat?!“ Beruhigend legte Janine Ariane eine Hand auf die Schulter. „Nane, wenn Laura meint, es ist okay, dann lass es doch einfach gut sein. Hauptsache es ist vorbei.“ Florian, der überraschender Weise auch gekommen war, nickte. „Wir sollten uns einfach glücklich schätzen, dass der Schwarze Löwe Laura nicht verlassen hat.“ „Beziehungsweise, dass er nie vorhatte, sie zu verlassen.“, berichtigte Konrad kichernd. „Du bist echt gemein Benni, warum hast du ihr das nicht gesagt?“ Das würde Laura auch gerne wissen. Vorwurfsvoll funkelte sie ihren ‚Freund‘ an. Doch dieser zuckte lediglich mit den Schultern. „Sie hätte mir sowieso nicht geglaubt.“ Geknickt senkte Laura den Kopf. Er hatte auch noch Recht, das war das schlimmste daran. Ehe sie sich weiter darüber Vorwürfe machen konnte, schob Ariane sie auch schon zum Kuchenbüffet. „Na los, halte deine Rede und eröffne endlich das Büffet!“ Laura schrak hoch. „Rede?!?“ Grinsend verdrehte Anne die Augen. „Als Prinzessin solltest du so was eigentlich aus dem Stehgreif können, aber egal.“ „Kannst du das denn?“, fragte Laura beschämt. „Klar.“, war Annes nicht allzu motivierende Antwort. Na prima. Sie schaffte es gerade, sich direkt vor ihren Eltern zu blamieren. „Sag doch einfach ‚danke, dass ihr alle gekommen seid, das Büffet ist nun eröffnet‘, oder so ähnlich.“, schlug Carsten freundlich vor. „Ä-ähm… Also… Hallo alle zusammen und danke, dass ihr alle gekommen seid und… öh… ihr… also… ihr könnt jetzt essen.“ Und wieder mal wurde Laura knallrot. Sie hasste es, vor Menschenmengen zu reden… Eine tolle Prinzessin war sie. Es wäre nur verständlich gewesen, wenn der Schwarze Löwe tatsächlich vorgehabt hatte sie zu verlassen. Die anderen schienen von Lauras Ansage ziemlich amüsiert, stürzten sich aber sofort auf das Büffet, mit Ariane und Anne an der Spitze. Als endlich jeder etwas zu Essen hatte, saßen sie alle an den Tischen unter dem Sterne- und Lampion-Himmel. Die Stimmung war ausgelassen und obwohl es keinen Alkohol gab, häufig auch ziemlich albern. So, wie wenn man bei guten Freunden saß, bei denen man keine Hemmungen hatte, auch mal seine ‚bescheuerte‘ Seite zu zeigen. Na gut, nicht jeder hatte so eine lustige Seite. Die Direktorin, Lauras Eltern und auch Benni waren so ernst wie immer. Wobei O-Too-Sama immerhin mit keiner Moralpredigt anfing, obwohl Benni direkt neben Laura saß. Laura würde gerne wissen, ob Carsten oder sonst jemand der Magier ihm irgendeinen Zaubertrank ins Getränk geschüttet hatte, denn O-Too-Sama war heute irgendwie so… anders. Fast so wie ein ganz normaler Vater! Verwirrt fiel Laura auf, dass Bennis Teller bisher vollkommen unbenutzt war, während ihr eigener sich vor Schokokuchen kaum retten konnte. Immerhin hatte Laura seit Tagen nicht mehr richtig gegessen! „…Hast du keinen Hunger?“, fragte sie Benni verschüchtert. Anne schnaubte. „Garantiert mag unser eiskalter Engel keinen Kuchen.“ „So ein Unsinn.“, widersprach Carsten amüsiert. „Benni isst gerne Kuchen, besonders, wenn er Schokolade oder Früchte enthält. Am besten beides zusammen.“ Ariane lachte auf. „Echt?! Wie cool! Aber… Warum isst du dann nichts? Der Kuchen ist total lecker!“ „Keinen Appetit.“ Ohne ein weiteres Wort stand Benni auf und verließ die Geburtstagsgesellschaft. Geknickt senkte Laura den Kopf. Hatte sie irgendetwas falsch gemacht?!? Jedenfalls sparte sich O-Too-Sama einen seiner Kommentare. Aus den Augenwinkeln bemerkte Laura, dass Susanne und Carsten einen besorgten Blick austauschten. „Denkst du, das sind immer noch die Nachwirkungen seines Schwächeanfalls?“, fragte Lissis schlauer Zwilling beklommen. Nach einem kurzen Zögern nickte Carsten schließlich. „Vermutlich… Und seit der Sache mit Eufelia hat er sowieso schon viel weniger gegessen als sonst.“ „Schwächeanfall?!?“ Panisch schaute Laura die beiden an. Benni hatte einen Schwächeanfall? Wie konnte das sein?!? Benni hatte noch nie einen Schwächeanfall!!! „Beruhig dich Laura, es ist halb so schlimm, wie du denkst.“, meinte Ariane beschwichtigend. „Na ja, eigentlich ist es nicht halb so schlimm, wenn man bedenkt, dass sie fast gestorben wäre…“, überlegte der Direktor laut. Öznur stöhnte auf. „Na toll, geht das jetzt schon wieder los? Ich hab doch gesagt, ich wusste nichts davon! Keiner von uns wusste was davon!!!“ „Ja, und genau das hätte Laura fast das Leben gekostet.“, kommentierte der Direktor nüchtern. „Hä?“ Laura verstand nicht, wovon die anderen da gerade redeten. „Susanne und Carsten hätten ja auch anwesend sein können und es uns erklären können.“, beschwerte sich Ariane empört. „Ich war anwesend!“, verteidigte sich Carsten. „Allerdings nur körperlich. Geistig warst du in deiner Traumwelt.“, präzisierte Anne grinsend. „Wovon redet ihr?!?“ Laura hatte echt keinen Plan. Wann war sie denn bitteschön fast gestorben? Der Schwarze Löwe hatte sich doch im Endeffekt nur einen Scherz mit ihr erlaubt. Und das noch nicht einmal am ersten April, was jedenfalls eine Rechtfertigung gewesen wäre… Endlich schenkten die anderen ihr Beachtung. „Deine Seele hat sich während der Zeit, die du beim Schwarzen Löwen verbracht hast, in der Zwischenwelt befunden.“, erklärte Carsten, „Damit dein Körper lebensfähig bleibt, hat Benni Rosen aus Finsternis-Energie geschaffen.“ „Aber dummerweise kamen einige intelligente Leute auf die wunderbare Idee, die Rose, die du gehalten hast, zurück in die Vase zu stellen.“, fuhr Anne sarkastisch fort. „Wie schon tausendmal gesagt: Ich konnte doch nicht wissen, dass Laura ohne die Rose sterben würde!“, widersprach Öznur verzweifelt. „Ihr müsst echt die ganze Zeit darauf herumhacken, oder?“, stellte Eagle nüchtern fest. „Sagt derjenige, der die ganze Zeit grundlos seinen kleinen Bruder schikaniert.“, konterte Anne gekonnt. Eagle schnaubte. „Das geht euch ‘nen Dreck an.“ Bevor mal wieder ein Streit ausbrechen konnte, wechselte Laura das Gespräch zurück zum ursprünglichen Thema. „Aber warum hatte Benni einen Schwächeanfall?!? Nur, weil ich nicht mehr diese Rose gehalten habe? Und warum musste das ausgerechnet eine Rose sein?!?“ Um zu überspielen, dass Laura bei dieser Frage wieder mal rot wurde, ergänzte sie noch: „Und es ist doch jetzt egal, wer die Rose entfernt hat, immerhin lebe ich ja noch.“ Carsten kicherte. „Benni weiß halt, dass Rosen deine Lieblingsblumen sind.“ „Und den Schwächeanfall hat er bekommen, als die Rose entfernt wurde. Denn wenn du tatsächlich gestorben wärst und der Schwarze Löwe dich dadurch automatisch verlassen hätte, hätte er seine Kräfte als Dämonengesegneter verloren.“, erklärte Susanne. Laura hielt den Atem an. „Also war es in etwa so, wie damals, als ich die Besitzerin des Schwarzen Löwen geworden bin?!“ Sie konnte sich zwar nicht mehr genau daran erinnern, weil sie damals noch so klein war, aber Florian hatte vor einigen Wochen ja erwähnt, dass das wohl ziemlich schlimm gewesen sein musste. Immerhin war Benni etwa zwei Wochen lang bewusstlos gewesen! Erleichtert atmete Laura aus, als Carsten den Kopf schüttelte. „Der Schwarze Löwe hat dich ja nicht verlassen.“ „Aber es schien trotzdem nicht ohne gewesen zu sein.“, bemerkte Janine betrübt. Laura gab sich einen Ruck und stand auf. „Ich geh nachsehen, wie es ihm geht.“ „Viel Spaß.“, kommentierte Öznur ihr Vorhaben kichernd, was dafür sorgte, dass Lauras Gesicht abermals knallrot anlief und sie fluchtartig das Weite suchte. Kapitel 39: Sternenhimmel Teil 1 -------------------------------- Sternenhimmel Teil 1 Natürlich hatte Laura keinen Plan, wo Benni hingegangen war. Trotzdem lief sie einfach drauf los und befand sich kurz darauf bereits mitten im Wald. Inzwischen war es auch unglaublich dunkel, da nur noch die Sterne und der Mond ihr etwas Licht spendeten. Das warme und gemütliche Licht der Lampions reichte schon längst nicht mehr hierhin. Laura fuhr ihren Weg immer tiefer in den Wald fort. Bis er schlagartig endete, als sie über eine Wurzel stolperte, die sie in der Dunkelheit nicht gesehen hatte. „Auaaaa, ernsthaft?“ Frustriert rieb sich Laura das schmerzende Knie und stellte fest, dass sie sich eine Schürfwunde zugezogen hatte. Warum zum Teufel musste sie auch ständig über Wurzeln stolpern?!? „Was machst du hier?“
Erschrocken hob Laura den Kopf. Auf dem niedrigsten Ast des Baumes, über dessen Wurzel sie gestolpert war, saß eine dunkel gekleidete Person mit strahlend hellen Haaren, die sie sofort an der Stimme erkannt hatte. Laura seufzte. „Na was wohl? Natürlich mich fragen, warum ich eigentlich die einzige von allen bin, die ständig über Wurzeln stolpern oder auf Ästen ausrutschen muss.“ „Weil du als einzige nicht auf den Weg achtest?“ Diese Frage hatte Benni eindeutig rhetorisch gemeint. Mit einem Satz sprang er vom Baum und landete direkt neben Laura. „Ich achte sehr wohl auf den Weg!“, widersprach Laura entrüstet. „Es ist nur so verdammt dunkel hier draußen.“ Na gut, so dunkel war es durch den wolkenlosen Himmel auch nun wieder nicht, doch im Moment war Laura dankbar für die relative Dunkelheit. So konnte Benni ihr knallrotes Gesicht immerhin nur erahnen, während er ihr auf die Beine half. Laura verlagerte ihr Gewicht auf ihr linkes, heiles Bein, um nicht einzuknicken und sich dadurch nur noch mehr vor ihm zu blamieren. Doch dieser Gedanke war sofort wie weggeblasen, als Benni sie ohne ein Wort in die Arme nahm. „W-was… Warum… Warum umarmst du mich? Also… nicht, dass ich das nicht möchte, aber… Ähm…“ Laura war mit dieser Situation völlig überfordert. Natürlich fand sie es toll, dass Benni sie einfach so in die Arme nahm! Aber normalerweise tat er das nur, wenn sie einen ihrer allseits bekannten Nervenzusammenbrüche oder dergleichen hatte. Also weshalb… „Du wirkst irgendwie niedergeschlagen.“, erwiderte Benni. „W-wie kommst du denn darauf?“ „Keine Ahnung… Ist so ein Gefühl.“ Benni löste die Umarmung wieder, was sich für Laura wie einen Stich ins Herz anfühlte. „Hey! Nur, weil ich verwirrt bin, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht umarmt werden will!“ …Das hatte sie nicht gerade ernsthaft gesagt, oder? Verlegen biss sich Laura auf ihre Unterlippe. Das. War. Peinlich. Zum Glück ging Benni nicht weiter auf ihren Kommentar ein, was Laura die Möglichkeit bot, über seine Feststellung nachzudenken. Soweit sie in ihrer jetzigen, verlegenen Verfassung überhaupt dazu in der Lage war. Und tatsächlich… Benni hatte Recht. „Es… Ehrlich gesagt gibt es da etwas, was mir seit dem Gespräch mit Leo einfach nicht mehr aus dem Kopf geht.“ Laura spürte Bennis zwar fragenden, aber in keiner Weise drängenden Blick auf sich ruhen. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Stimmt es wirklich, dass Lucia und Luciano in Wahrheit… anders gewesen sind? Nicht so, wie wenn sie in meiner Gegenwart waren?“ Eigentlich wusste Laura die Antwort vom Schwarzen Löwen ja schon, aber sie wollte sie dennoch nicht wahrhaben. Luciano war keine Marionette von Lukas gewesen. Er war nicht böse! Und Lucia erst recht nicht, immerhin war sie doch ihre Zwillingsschwester! „Ja.“ Ein eisiger Schauer überkam Laura bei Bennis Antwort, nicht zuletzt auch aus dem Grund, weil seine Stimme bei diesem einzigen kurzen Wort auch noch eiskalt klang. „Das ist nicht wahr… Das kann nicht wahr sein! Sie waren meine Geschwister!!!“ Die plötzliche Kälte ließ Laura zittern und einige Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie wurde von ihren eigenen Geschwistern hintergangen… Man hat sie angelogen und getäuscht. Ihre eigenen Geschwister hatten sie angelogen und getäuscht! Ohne ein weiteres Wort nahm Benni Laura wieder in die Arme. Diese Geste brachte auch den Rest von ihrer Selbstbeherrschung zum Einsturz. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in seinem Sweatshirt, übermannt von einem Schmerz, den sie gehofft hatte irgendwie ignorieren zu können. Doch so schmerzhaft es auch war… es fühlte sich gleichzeitig auch gut an. Sie spürte Bennis Wärme, den festen Griff seiner Umarmung. Es fühlte sich richtig an. Sie durfte weinen. Sie durfte diesen Schmerz zulassen, um ihn irgendwann auch loslassen zu können. Und Laura konnte sich dafür keinen besseren Ort vorstellen als hier, in Bennis Armen. Nach einer Weile schniefte sie schließlich. „Sag doch was…“
„Lieber nicht, ich bin nicht sehr gut im Trösten.“, erwiderte Benni nur. Auch wenn das eindeutig nur eine nüchterne Bemerkung und kein Witz war, musste Laura schwach auflachen. Lächelnd vergrub sie ihr Gesicht in seiner Brust. „Doch, bist du.“ Laura merkte wie Benni den Kopf schüttelte, als teile er ihre Ansicht nicht. Aber sie hatte keine Lust, eine Diskussion mit ihm anzufangen, was seine Beruhigungs-Künste betraf. „Moment…“ Eine grausige Erkenntnis überkam sie. „Also waren Lucia und Luciano wirklich gemein zu dir, wenn ich nicht da war?!“ Benni antwortete nicht, doch Laura hatte auf einmal ein sehr ungutes Gefühl. Lucia hatte ihn im Prinzip gehasst. Ihre Zwillingsschwester hatte Benni genauso gehasst, wie ihr Vater ihn hasste! Wie konnte Benni Laura überhaupt noch ansehen, wenn sie nichts weiter als das Ebenbild einer Person war, die ihn am liebsten tot gesehen hätte?!? Schlechten Gewissens befreite sie sich aus Bennis Umarmung. „Magst du Lucia eigentlich?“ „Nein.“, antwortete er wahrheitsgetreu. Laura konnte es ihm noch nicht einmal verübeln… Aber trotzdem… „Wie kannst du dann noch mit mir… zusammen sein?“ Benni schien nicht ganz verstanden zu haben, worauf Laura hinaus wollte. Frustriert ballte sie die Hände zu Fäusten. „Meine ganze Familie hasst dich! Und das schlimmste: Lucia hat dich gehasst!!!“ „…Und?“ „Ich sehe haar genauso aus wie sie und du meinst selbst, dass du sie nicht magst. Wie kannst du mich da noch einfach so in den Arm nehmen?!?“ Benni verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. „Was hat meine Meinung über deine Schwester damit zu tun, was ich für dich empfinde?“ Sprachlos konnte Laura nichts anderes mehr machen, als Benni einfach nur anzustarren. War das gerade irgendwie, in gewisser Weise ein Liebesgeständnis gewesen?!? Na gut, nach einem Liebesgeständnis klang das auch nun wieder nicht, aber… Laura versuchte den Gedanken abzuschütteln, dass Benni ihr gerade eventuell, über tausend Ecken, vielleicht seine Gefühle gestanden hatte. Aber natürlich ließ sich dieser Gedanke nicht abschütteln. Stattdessen sehnte sie sich auf einmal umso mehr nach Bennis Nähe. Doch Benni tat nichts, er stand immer noch mit vor der Brust verschränkten Armen einen halben Meter, einen ganzen, schmerzhaften halben Meter, von ihr entfernt und machte keine Anstalten, sie wieder in seine Arme zu nehmen oder… ihr auf irgendeine andere Weise näher zu kommen. Laura biss sich auf die Unterlippe und wich seinem ruhigen Blick aus. Sollte sie… konnte sie… Das Schweigen war ihr unglaublich unangenehm. Was dachte Benni gerade? Ahnte er, was gerade in ihrem verwirrten Kopf vor sich ging? War es ihm egal oder wusste er selbst nicht, was er machen sollte? Aber… sie würde so gerne… Mit wild pochendem Herzen ging sie einen Schritt auf Benni zu und überwand somit diesen schmerzhaften Abstand. Ihre Hände waren schweißnass, als sie sanft Bennis Oberarme berührte. Die Brandwunden waren anscheinend immer noch nicht verheilt, da er ein langärmliges Oberteil trug. Ein Stich fuhr Laura durchs Herz, als sie sich an die Zeit erinnerte, als diese Verletzungen noch ganz frisch waren. Als sie Benni fast umgebracht hatten. Sie hätte ihn damals fast verloren… Ihr Herz fühlte sich mit einem Schlag unsagbar schwer an und die Erinnerung an diese Zeit schnürte ihre Kehle zu. Gequält atmete Laura durch, versuchte diese schrecklichen Gedanken aus ihrem Kopf zu vertreiben. Es war vorbei. Diese Zeit war überstanden, es war nur noch eine schmerzhafte Erinnerung. Vorsichtig schaute sie zu ihm hoch. Benni war hier, bei ihr. Es ging ihm wieder gut. Er betrachtete sie mit demselben neutral erscheinenden Blick wie sonst auch und Laura war unglaublich erleichtert und dankbar dafür. Doch so neutral wie sonst wirkte sein Blick eigentlich nicht. Tatsächlich meinte sie in dem sanften Mondlicht eine liebevolle Zuneigung in seinem Ausdruck zu erkennen. Zitternd atmete Laura aus und legte ihre Hand auf seine Wange. Seine Haut fühlte sich so schön weich an… Schließlich nahm sie ihren gesamten Mut zusammen. Laura stellte sich auf die Zehnspitzen, schloss die Augen und küsste Benni. Doch ihre Lippen verfehlten ihr Ziel und trafen leider nur seinen Mundwinkel. Das Blut schoss in Lauras Kopf, ihre Gedanken überschlugen sich. Sie hatte es nicht gerade ernsthaft geschafft, die ganze Atmosphäre zu ruinieren, weil sie nicht richtig zielen konnte?! Peinlich berührt hoffte sie, dass Benni ihre bescheuerte Aktion irgendwie überspielen würde, dass er auf den Kuss eingehen würde. Sie hoffte, er würde sie endlich wieder in die Arme nehmen, vielleicht sogar den Kuss erwidern! Doch er tat es nicht… Er reagierte gar nicht. Mit hochrotem Kopf blieb Laura also keine andere Wahl, als sich wieder von Benni zu lösen, nicht in der Lage, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Sie hatte sich gerade bis auf die Socken blamiert… Aber warum hatte Benni auch nicht darauf reagiert?!? Vor ein paar Sekunden machte er ihr noch ein Liebesgeständnis über Umwege und nun erwiderte er noch nicht einmal ihren Kuss!?
…Falls man das einen richtigen Kuss nennen konnte… Verärgert, enttäuscht und nicht zuletzt total verlegen setzte sich Laura auf die Wurzeln des Baumes und vergrub ihr überhitztes Gesicht hinter ihren kühlen Händen. War wirklich Carsten der gutmütige Trottel oder nicht vielleicht doch eher sie? Nach einer Weile seufzte Benni plötzlich. „Habe ich etwas falsch gemacht?“ Laura biss sich auf die Unterlippe. „Nein, es ist nur… Ich bin einfach total bescheuert…“ „Wieso?“
Beschämt antwortete Laura: „…Weil ich den Kuss vergeigt habe?“ Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie sich Benni kopfschüttelnd neben sie setzte. „Gefühle werden mir wohl für immer ein Rätsel sein.“ Doch kaum hatte er das gesagt, lehnte er sich zu ihr rüber und küsste sie. Nur ganz leicht berührten Bennis Lippen ihre, dennoch blieb Laura sofort der Atem weg. Seine Lippen fühlten sich so weich und sanft an… Ein wohliges Kribbeln breitete sich in ihrer Brust aus und ihren Atem fand sie auch dann nicht wieder, als Benni ihren Blick erwiderte. Ohne zu realisieren, was sie tat, vergrub sie ihre Finger in seinen strahlend hellen Haaren und zog ihn wieder zu sich. Es war keine Einbildung gewesen, Bennis Lippen fühlten sich tatsächlich so weich an. Zitternd atmete sie aus. Scheinbar war sie so überfordert von der Situation, dass sie ein leichter Schwindel überkam. Doch Laura bemerkte es kaum. Viel zu sehr nahm Bennis Anwesenheit ihre Sinne ein. Sein leicht süßlicher Körpergeruch, die Wärme und Geborgenheit seines Körpers, … und dieses unbeschreibliche Gefühl der Nähe. Eine Nähe, die fast schon süchtig machte. Die in Laura den Wunsch weckte, noch mehr davon zu wollen. Ganz leicht öffnete sie ihren Mund als wolle sie zu Atem kommen und zog Benni noch näher an sich. Falls das überhaupt noch möglich war. Und tatsächlich ging er darauf ein. Sein sanfter Kuss wurde leidenschaftlicher, seine Lippen ergriffen ganz von ihren Besitz. Das Kribbeln breitete sich in ihrem gesamten Körper aus. Laura strich durch Bennis seidige, weiche Haare und verschränkte schließlich ihre Hände in seinem Nacken. Sie wollte ihn nicht mehr loslassen. Nie mehr. Wie oft hatte sie nun schon diesen Moment herbeigesehnt, wie oft hatte sie davon geträumt und doch übertraf er alle ihre Träume zusammen. Auf einmal war alles andere unwichtig, es gab nur noch sie und Benni und die Gefühle, die sie verbanden. Den Rest um sie herum vergaß Laura einfach. Das einzige was zählte war hier, direkt bei ihr. Laura hatte keine Ahnung, wann Benni sich von ihr löste und sie schwer atmend wieder normal Luft holen konnte. Ihre Wangen glühten und ihr Herz pochte in ihrer Brust, als sie nur langsam im Nachhinein realisierte, dass sie sich tatsächlich… geküsst hatten. Dass es tatsächlich kein Traum war, sondern… Verlegen erwiderte Laura seinen Blick. Da sie ihre Hände immer noch in Bennis Nacken verschränkt hatte war sein Gesicht nach wie vor ganz nah an ihrem und sie spürte, dass auch von ihm eine stärkere Wärme ausging als sonst. Bennis Haare fielen ihm nur noch in vereinzelten Strähnen ins Gesicht, sodass Laura in seine beiden Augen blicken konnte. Sowohl in dem nachtschwarzen als auch in dem blutroten Auge lag ein liebevoller Blick, so sanft, dass er zugleich irgendwie auch etwas Verführerisches an sich hatte. Sanft strich Benni mit der Hand über Lauras Wange, ehe er sich irgendwie aus ihrem Griff befreite, um sich wieder normal hinsetzen zu können. Auf einmal hatte Laura keine Hemmungen mehr, sich einfach so gegen ihn zu lehnen, damit dieses wunderschöne Gefühl noch nicht ganz ausklingen konnte. Benni schien es ähnlich zu gehen, denn ganz untypisch für sein sonstiges Verhalten legte er einen Arm um sie und zog sie dadurch etwas näher an sich. Lauras Herz würde sich heute anscheinend gar nicht mehr beruhigen können. Aber solange sie dafür bei Benni sein konnte, nahm sie das liebend gerne in Kauf. Nach einer Weile hörte Laura, wie sich jemand ihnen mit gemächlichen hundeähnlichen Schritten näherte. Dieser Jemand entpuppte sich schließlich als Wolf, der auf sie zu getrottet kam und irgendeinen Gegenstand im Maul trug. Mit diesem Ding im Maul knurrte er. „Ich bin nicht taub, wir kommen gleich.“, erwiderte Benni auf dieses Knurren. Verwirrt musterte Laura ihn, da sie von dieser Unterhaltung ja nur eine Seite verstehen konnte. „Was ist denn?“ „Dein Vater möchte aufbrechen und ist echauffiert, dass du nicht da bist, um ihn zu verabschieden.“ „Na toll.“ Wenig begeistert seufzte Laura. Wolf knurrte erneut etwas und ließ den Gegenstand, den er bei sich trug, in Bennis Hand fallen. Dieser erwiderte darauf nur ein: „Danke.“ Wolf gab noch einen bellenden Kommentar von sich, ehe er wieder in der Nacht verschwand. Neugierig betrachtete Laura das schmale, längliche, schwarze Kästchen. „Was ist das?“ Nach einem Zögern antwortete Benni: „Alles Gute zum Geburtstag… Oder so.“ und reichte ihr die kleine Kiste. Jetzt war Laura baff. Benni hatte tatsächlich ein Geburtstagsgeschenk für sie? Obwohl er mit solchen Anlässen bekanntlich nichts am Hut hatte?!? Gespannt nahm Laura das Kästchen entgegen und öffnete es. Zum Vorschein kam ein metallisch glänzender schwarzer Fächer. Und was für ein Fächer! Schon auf dem ersten Blick erkannte selbst jemand wie Laura, dass dieser Fächer nicht zum luftzufächeln gedacht war. Dieser Fächer war eine Waffe, eine wunderschöne und doch gefährliche Waffe. „Waaaaaahnsiiiinn!“ Staunend holte Laura den Fächer aus seinem Kistchen. Mit einer knappen Handbewegung ließ er sich bereits vollständig öffnen und entfaltete seine gesamte Pracht und Gefahr. Eigentlich war er nicht wirklich pompös, sondern eher schlicht und doch lag genau in dieser Einfachheit seine gesamte Eleganz. „Moment… Du wusstest also doch eine Waffe für mich?!“, fiel Laura auf. Sie hatte die ganze Zeit gedacht, sie wäre zu nichts zu gebrauchen, weil Benni einfach keine passende Waffe für sie gefunden hatte! Benni nickte. „War das nicht offensichtlich?“ „Und ich dachte, ich wäre ein hoffnungsloser Fall…“ „Unsinn.“, widersprach er ihr. „Aber hätte ich dir den Fächer früher gegeben, hättest du ihn nicht kontrollieren können.“ Verwirrt schaute Laura ihn in dem fahlen Mondlicht an. „Wieso?“ „Weil der Schwarze Löwe deine Energie so manipuliert hat, dass du nicht in der Lage warst, sie zu beherrschen.“
„Wie fies ist das denn?!?“, empörte sich Laura, „Er hat meine Energie manipuliert, um mich nur noch mehr zu verunsichern, was seine Entscheidung an meinem Geburtstag betrifft?!? Und das, obwohl er sich eigentlich nur einen Spaß erlaubt hat?!?“ Zur Bestätigung nickte Benni. Laura schnaubte. „Was für ein Sadist! Aber… Dann ist dieser Fächer eine Dämonenwaffe?“ Erneut nickte Benni.
„Wo ist dann dieses lodernde Aura-Dings, wie es dein Schwert hatte?“, fragte Laura verwirrt. „Du musst die Energie gezielt in die Waffe leiten. Vermutlich war das damals bei dem Katana automatisch der Fall gewesen, da du sie nicht gänzlich unter Kontrolle hattest.“, erklärte er. Laura hatte zwar Angst Energie einzusetzen, da sie sie bisher noch nie kontrollieren konnte, wie alle wussten, aber andererseits… Benni war immerhin da und als Dämonengesegneter konnte er ihre Energie beherrschen, falls sie aus der Reihe tanzte. Also atmete Laura tief durch und ließ so wenig wie möglich Energie über ihren rechten Arm in den Fächer leiten. Als tatsächlich nur eine kleine Flamme finsterer Aura aufloderte, schickte Laura mehr Energie in die Waffe. Eine gewaltige schwarze ‚Stichflamme‘ ließ Laura aufschreien, die aber sofort wieder erloschen war. „Du musstest natürlich gleich übertreiben, oder?“, kommentierte Benni und klang dabei sogar ganz leicht neckisch. Laura legte die Hand auf ihr vor Schreck rasendes Herz. „Ich glaube, ich muss noch etwas üben…“ Zum Glück sparte sich Benni seinen sarkastischen Kommentar. Stattdessen richtete er sich auf und hielt Laura die Hand entgegen, um ihr hoch zu helfen. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihr rechtes Knie und Laura erinnerte sich daran, dass sie ja mal wieder so bescheuert gewesen und über eine Wurzel gestolpert war. „Wenn du dich auf die Wunde konzentrierst, kannst du ihren Heilprozess mit Energie beschleunigen.“, meinte Benni nur. Laura folgte seiner Anweisung und konzentrierte sich auf ihr Knie. Ein leicht unangenehmes Kitzeln war zu spüren und danach nichts mehr. Vorsichtig verlagerte Laura ihr Gewicht auf ihr rechtes Bein, doch es tat nicht weh. Der Schmerz war vollkommen verschwunden. „Warum hast du mir das nicht früher gesagt?!“, beschwerte sie sich bei Benni, statt sich zu bedanken. Laura erinnerte sich nur zu gut, wie höllisch ihr Bein wehgetan hatte, als sie damals bei Janine eine lose Treppenstufe erwischt und sich das Knie aufgeschlagen hatte. Warum hatte sie sich nicht damals schon mit Energie heilen können?!? „Weil du bis vor kurzem nicht dazu in der Lage warst, die Energie zu steuern.“, erinnerte Benni sie. Beschämt wich Laura seinem Blick aus. „Ach so…“ …Und sie musste ihn natürlich sofort anschnauzen. So langsam sollte Laura es doch raffen, dass Benni das alles nur tat, um sie zu beschützen… Wie oft hatte er ihr schon das Leben gerettet? …Und wie oft hatte sie ihm gedankt?!? „…Wie geht es dir eigentlich?“, fragte sie ihn. „Immerhin hattest du doch diesen… Schwächeanfall… wegen mir…“ Benni tat ihre Sorgen mit einem Kopfschütteln ab. „Es geht mir gut.“ „Aber du wolltest doch vorhin nichts essen!“, widersprach Laura besorgt. Darauf schien Benni nichts erwidern zu können. Laura biss sich auf die Unterlippe. „…Und deine Brandwunden?“ „Sind fast verheilt.“ „Sowas hast du vor ein paar Wochen auch schon gesagt!“ Unter Tränen schaute sie ihn an. Benni seufzte. „Wirklich.“ Er schob den rechten Ärmel seines schwarzen Sweatshirts hoch. Erleichtert atmete Laura auf, als sein Arm wirklich wie ‚fast verheilt‘ aussah, soweit sie das im Mondlicht erkennen konnte. Es hatte ja auch lange genug gedauert! Und dennoch… Laura war sich sicher, dass es Benni trotzdem immer noch schlecht ging. Nicht wegen des Schwächeanfalls oder wegen der Brandwunden, sondern weil er Eufelia tatsächlich so sehr vermisste. Aber sie traute sich nicht, ihn darauf anzusprechen. Sie hatte Angst, es dadurch nur noch schlimmer zu machen. Laura nahm Bennis Hand, die nur noch ganz leicht rötlich war, und drückte den Handrücken gegen ihre Wange. Warum auch immer sie das tat… Aber Bennis Hand fühlte sich so angenehm an! Sie war irgendwie kalt und warm zur selben Zeit und wirkte gar nicht wie die Hand eines Kriegers, sondern eher wie die eines Pianisten. „Warum musst du dich auch ständig in Lebensgefahr bringen?“, schniefte Laura vorwurfsvoll. „Das frage ich mich oft genug.“, erwiderte Benni trocken, doch er befreite seine Hand nicht. Er drehte sie nur um, um Laura wieder über die Wange zu streichen, wie er es nach ihrem Kuss getan hatte. Schon alleine die Erinnerung daran löste in Lauras Bauch wieder ein Kribbeln aus und beschleunigte ihren Herzschlag. „…Dein Vater wartet immer noch.“, meinte Benni plötzlich. Nicht sehr erfreut nickte Laura. Sie hatte sich eigentlich erhofft, Benni würde sie noch einmal küssen, aber dummer Weise hatte er Recht. O-Too-Sama konnte sehr ungehalten werden, wenn man ihn zu lange warten ließ. Besonders, wenn der Grund für seine Warterei auch noch Benni hieß. Dieser Benni zog seine Hand aus ihrer und wandte sich zum Gehen, als Laura plötzlich rief: „Moment!“ Noch ehe Benni verstehen konnte, was vor sich ging, fiel Laura ihm auch schon in die Arme. „Vielen Dank.“, murmelte sie, das Gesicht in seiner Brust vergraben. „Wofür?“, fragte Benni leicht verwirrt. Lächelnd schaute Laura zu ihm hoch. „Einfach für alles.“ Sie war sich nicht sicher, wie stark das diffuse Licht des Mondes ihre Sinne täuschte, doch sie hatte das Gefühl, dass Bennis Augen trotz seiner sonst so neutralen Mimik ihr Lächeln erwiderten. Schließlich meinte er: „Das ist nicht nötig.“ „Doch, ist es.“, widersprach sie ihm. „Du, Carsten, der Schwarze Löwe, Ariane,… Ihr alle müsst mich Tag ein Tag aus ertragen und murrt trotzdem nicht herum. Im Gegenteil, trotz allem seid ihr immer für mich da.“ Beschämt wich sie seinem Blick aus. „Und ich kann echt unausstehlich sein, das weiß ich…“ „Ja, kannst du.“, gab Benni ihr ohne zu zögern Recht, was Lauras Herz schmerzhaft zusammenziehen ließ. Es war eine Sache, dass selbst zu sagen… Aber es von einer Person, die man liebt zu hören zu bekommen war grauenvoll! Benni hob ihr Kinn, sodass Laura seinem Blick nicht mehr ausweichen konnte. „Aber… so idiotisch das nun auch klingt… wenn du nicht gerade unausstehlich bist, dann bist du unwiderstehlich.“ Ganz kurz beugte er sich zu ihr runter und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen, der alleine schon ausreichte, um in Lauras Bauch wieder dieses Kribbeln zu wecken. „Jetzt komm.“, meinte Benni nur und nahm ihre Hand, um sie aus ihrer Starre zu reißen. Was bitter nötig war, denn sonst hätte sich Laura vermutlich gar nicht mehr vom Fleck bewegen können. Hatte er gerade tatsächlich gemeint, sie könne auch unwiderstehlich sein?!? Während sie gemeinsam den Wald entlanggingen, wagte Laura aus den Augenwinkeln einen Blick auf Benni. Dieser schaute allerdings geradeaus auf den Weg und Laura war sich hundertprozentig sicher, dass die leichte Röte auf seinen Wangen keine Sinnestäuschung war. Diese Erkenntnis ließ sie kichern. Es war ganz lustig, wenn mal Benni derjenige war, der in Verlegenheit geriet. Auf ihre Reaktion kommentierte Benni nur mit einem Seufzen. „W-warte aber… O-Too-Sama darf uns nicht gemeinsam sehen! Jedenfalls nicht so…“, fiel Laura erschrocken auf. „Weshalb?“ „Na ja, weil… weil er doch gesagt hat, dass er mich… enterben wird, wenn ich…“ Traurig senkte Laura den Blick und wurde gleichzeitig mal wieder rot. „Wenn ich mit dir…“ Sie wollte ihre Hand aus seiner ziehen, doch Bennis Griff war zu fest. „Soll er es doch versuchen.“ Laura atmete tief durch, als sie und Benni aus dem schützenden Wald kamen. Vermutlich war es für ein Paar ganz normal, händchenhaltend aus einem dunklen Wald zu kommen, aber Laura hatte auf einmal richtiges Lampenfieber. So offensichtlich war es noch nie gewesen, dass sie und Benni… zusammen waren. Ja gut, die anderen hatten sie schon des Öfteren zusammen gesehen, wie zum Beispiel als Laura heute Abend aufgewacht war und Benni ihr einen Kuss auf die Wange gegeben hatte. Aber ihre Eltern… O-Too-Sama missbilligte es ja schon, wenn sie sich im selben Raum aufhielten! Folglich reagierte er auch so, wie erwartet. „Guten Abend Laura. Schön zu sehen, dass Du es doch noch für angebracht hältst, als Gastgeberin Deinen Gästen Gesellschaft zu leisten.“ Lauras Hand, die Benni hielt, verkrampfte sich. Sie versuchte, ganz natürlich zu fragen: „Willst du etwa schon gehen, O-Too-Sama?“ Laura war beeindruckt von sich selbst, als sie es sogar schaffte, leicht enttäuscht zu klingen. „Nun, es ist spät und morgen früh ist eine Konferenz von großer Relevanz.“, erklärte ihr Vater sachlich. „…Ach so. Na dann… Guten Heimflug.“ O-Kaa-Sama drückte Laura kurz an sich. „Geh bitte nicht zu spät ins Bett.“ „Mach ich. Gute Nacht, O-Kaa-Sama.“ Ihre Mutter machte eine kurze Verneigung nach japanischer Tradition bei Benni, welcher sie mit einer angedeuteten Verneigung erwiderte, die aber nicht minder respektvoll wirkte. O-Too-Sama nickte Laura nur zu. „Ich hoffe, Du kommst eines Tages noch zur Vernunft. Auf wiedersehen.“ „Tschüss, O-Too-Sama…“, brachte Laura trotz Frosch im Hals zustande. Benni schien er vollkommen ignorieren zu wollen, doch dieser wusste das sofort auszunutzen. „Sayonara.“, verabschiedete sich Benni auf Japanisch, womit er es schaffte, höflich und frech gleichzeitig zu sein. Lauras Vater verzog leicht das Gesicht. „Sayonara.“ Als er ihnen den Rücken zudrehte, kam Rebecca auf sie zu. „Nicht schlecht, für einen Grummelbär.“, kicherte sie leise und klopfte Benni auf die Schulter. Nachdem sie Laura kurz in die Arme genommen hatte, flüsterte sie: „Mach dir keine Sorgen wegen deinem Vater, der kommt eines Tages noch zur Vernunft.“ Natürlich war Laura nicht entgangen, dass sie ihm damit die Worte im Mund herumgedreht hatte. Nach einer kurzen Verabschiedung folgte Rebecca Lauras Eltern. Laura atmete aus, ihre Hand, die in Bennis lag war immer noch total angespannt und vermutlich auch bald verspannt. Warum musste O-Too-Sama Benni auch so auf dem Kieker haben? Und warum konnten sich die anderen ihre Kommentare nicht mal verkneifen?!? Denn natürlich musste Öznur sofort fragen: „Uuuuuuuuund?“ „Was ‚und‘?“ Laura biss die Zähne zusammen. „Ihr wart ganz schön lange weg.“, bemerkte Florian belustigt. „In der Tat. Was habt ihr in dieser Zeit denn so alles getrieben?“ Natürlich wurde Laura bei Konrads amüsierter Frage knallrot. Wie sollte es auch anders sein? Dass die aber auch gleich mit so was kommen mussten!!! „Das lässt sich ganz leicht herausfinden, Konny.“, trällerte Lissi zufrieden. „Wenn ihr euch geküsst habt, also so richtig geküsst, dann sagt ihr einfach nichts.“ Wie bitte?!? Eigentlich wollte Laura irgendetwas Cooles und Schlagfertiges erwidern, doch natürlich verschlug Lissis Bemerkung ihr die Sprache. Was die anderen natürlich sofort so interpretierten, wie Lissi es zu Beginn festgelegt hatte, denn auch Benni erwiderte nichts darauf. Ihr Freundeskreis tauschte vielsagende Blicke aus. Lissi zuckte grinsend mit den Schultern. „Und wenn ihr mehr gemacht habt als nur ‚so richtig geküsst‘, dann sagt jetzt was.“ „Was?!?“, schrie Laura entsetzt. Die erwarteten doch nicht ernsthaft, dass sie jetzt schon weiter gehen würden als ‚nur so richtig küssen‘?!? Verwirrt schaute sie die anderen an, die auf einmal alle einen Lachanfall bekamen. Und erst jetzt realisierte Laura, was sie angestellt hatte. „W- Nein, so war das nicht gemeint!“ Hilfesuchend wandte sie sich an Benni, dem das aber egal sein konnte, weil nicht er in das Fettnäpfchen getappt war. Benni tappte nie in Fettnäpfchen! …Warum konnte nicht er mal der Verpeilte von ihnen sein? Vermutlich, weil Lauras Verpeiltheit problemlos für sie beide ausreichte, wie sich gerade zeigte. Lachend rieb sich Ariane eine Träne aus den Augen. „Okeee, das war jetzt aber echt fies, Lissi.“ Sie ging zu Laura rüber und klopfte ihr auf die Schulter. „Keine Sorge, ich glaube, wir wissen alle, dass du das beim zweiten Punkt nicht so gemeint hast.“ Total verlegen wich Laura jeglichen Blicken aus. Sie wollte sich einfach nur noch irgendwo verkriechen… In einem Erdloch oder so… Kapitel 40: Sternenhimmel Teil 2 -------------------------------- Sternenhimmel Teil 2 Natürlich konnte Carsten nicht anders als bei Lauras ‚Was?!?‘ sofort loszulachen. Sie schaffte es aber auch wirklich immer wieder, sich in so eine Situation zu befördern. Aber er kannte seine beste Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie sich solche Scherze viel zu schnell zu Herzen nahm. Leider… Sogar Carsten wusste, dass die anderen das nicht böse meinten, noch nicht einmal Anne. Und über ihn wurde vermutlich genauso häufig gescherzt wie über Laura. Es war halt in gewisser Weise ein Ausdruck der Zuneigung, wenn auch ein ziemlich seltsamer. Sie wollten Laura damit nur necken, wie wenn Carsten von Benni ‚gutmütiger Trottel‘ genannt wurde. …Wobei Benni das nicht nur zum Spaß sagte, da war sich Carsten ziemlich sicher. „Ach so, hast du eigentlich noch Hunger?“, fragte Ariane Laura plötzlich. „Du bist vorhin so übereilt weggegangen, dass du deinen ganzen Kuchen stehen gelassen hast. Den ganzen Schoko-Kuchen!“ Laura schlug sich mit der Hand auf die Stirn. „Oh ja, stimmt! Also… Satt bin ich nicht wirklich…“ Carsten lachte in sich hinein. Ja, Laura war vorhin tatsächlich ziemlich übereilt weggegangen. Aber es war gut so. Sie brauchte Benni und dieser brauchte sie. Das war schon immer so gewesen. Und Carsten war sehr froh, dass ihre Beziehung offensichtlich gut zu laufen schien. Es hatte ja auch lange genug gedauert, bis sich da was entwickelte. Unbeabsichtigt wanderte Carstens Blick zu Ariane, während er zum Büffet ging, um Lauras Teller mit den angefangenen Kuchenstücken zu holen. Er bezweifelte, dass er genauso viel Glück haben würde wie Laura und Benni… In Gedanken versunken hatte er gar nicht bemerkt, dass Ariane beim Büffet auf einmal neben ihm stand. „Hey, warum so niedergeschlagen?“, fragte sie plötzlich. Carsten schreckte hoch. „Was? Ähm… Äh…“ Er hatte keine Ahnung, warum er auf einmal vollkommen unbeholfen herumstotterte. Ariane zuckte mit den Schultern. „Du musst es nicht sagen, wenn du nicht willst.“ Nach einem kurzen Überlegen sagte sie schließlich: „Na gut, dann heiter ich dich halt etwas auf. Den Witz hab ich letztens von Lissi gehört: Voulez vous coucher avec moi ce soir?“ Mit einem Schlag war Carstens Gesicht tiefrot. Was hatte Ariane da gerade gesagt?!? „Was heißt das eigentlich?“, fragte diese. „Ähähähäm… Also… Das heißt…“ Verzweifelt schaute sich Carsten um, viel zu verlegen, um ihr die eigentliche Übersetzung davon zu liefern. „…Das heißt…“ Sein Blick fiel auf den Obstkorb. „Willst du eine Banane mit mir teilen!“ Ariane runzelte die Stirn. „Das ist aber gar nicht lustig…“ Sie zuckte mit den Schultern. „Lissi hat einen seltsamen Humor… Aber möchtest du eine Banane?“ Carsten schüttelte den immer noch geröteten Kopf. „Na gut.“ Mit diesen Worten schnappte sie sich selbst eine Banane, wandte sie sich ab und ging zurück zu Laura. Carsten atmete tief durch und versuchte, seinen Herzschlag zu beruhigen. Warum er? Warum musste ausgerechnet er das abbekommen?!? Warum hatte Ariane nicht Laura diesen ‚Witz‘ erzählt? Oder sonst jemandem?! Warum gerade ihm?!? „Möchtest du?“ Dieses Mal war es Benni, der Carsten aus seinen verzweifelten Gedanken riss. Carstens Wangen, die sich immer noch nicht ganz abgekühlt hatten, fühlten sich sofort wieder kochend heiß an, als sein Blick auf die Banane fiel, die Benni ihm entgegen hielt. „Nein!“ Auch wenn der Ausdruck seines besten Freundes wie immer emotionslos wirkte, konnte Carsten genau erkennen, dass sich Benni über seine Lage amüsierte. Während er die Banane von ihrer Schale befreite, fragte er Carsten: „Warum hast du es Ariane nicht gesagt?“ „Was?“ Okay, Carsten wusste eigentlich ganz genau, was. Ebenso Benni, der Carstens verlegenen Blick mit seinem neutral wirkenden erwiderte. Sich geschlagen gebend seufzte Carsten. „Keine Ahnung, ich war so… durcheinander.“ Benni schüttelte den Kopf. „Gutmütiger Trottel.“ „Was ist daran gutmütig?“ „Gar nichts, ich wollte auf das Zweite hinaus.“ „Ha, ha. Nicht lustig.“ Verzweifelt schaute er Benni an und sprach auf Indigonisch weiter, was außer seinem besten Freund und Eagle niemand würde verstehen können. „Ich weiß einfach nicht mehr weiter! Immer, wenn ich sie sehe, kann ich auf einmal keinen klaren Gedanken mehr fassen und verhalte mich wie der letzte Vollidiot!“
„Habe ich gemerkt.“, erwiderte Benni trocken, ebenfalls auf Indigonisch. „Was soll ich tun?! Hilf mir Benni, bitte!“ Benni seufzte. „Du bist von einem Haufen Mädchen, Konrad und Eagle umgeben und fragst das ausgerechnet mich? Ich habe nicht den leisesten Schimmer von Beziehungen, das weißt du.“ „Und trotzdem hängt Laura an dir wie eine Klette und du kriegst das hin!“, widersprach Carsten defätistisch. „Was ist mit mir?“ Wie aus dem Nichts stand ausgerechnet Laura bei ihm. „Ähm… Ich wollte dir gerade den Kuchen bringen!“, versuchte Carsten sich aus seiner dämlichen Situation zu retten. Zum Glück konnte Laura kein Indigonisch… Sonst würden sowohl sie als auch er sich jetzt in einer ziemlich peinlichen Lage befinden. „Sah aber nicht danach aus.“, stellte Laura kritisch fest. Geknickt schaute sie die beiden Jungs an. „Hab ich… irgendwas… falsch gemacht?“ „Nein, gar nichts.“, versicherte Benni ihr ruhig. Erleichtert atmete sie auf, da sie genau wusste, dass Benni sie nie belügen würde. „Ich nehme den Kuchen schon, ihr könnt ruhig weiter reden… Oder irgendwie so…“ Sie nahm Carsten den Kuchen ab, den er schon die ganze Zeit gehalten hatte und ging zu den Mädchen, die alle wieder an dem länglichen Holztisch saßen. Carstens Blick fiel auf Benni. „Wie schaffst du das?“ Dieses Mal war es Benni, der fragte: „Was?“ Abermals wechselte Carsten auf Indigonisch. „Na da das eben gerade! Wie konntest du ihr so ruhig antworten?!“ Benni zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“ Bedrückt seufzte Carsten, als Benni ihm überraschend freundschaftlich auf die Schulter klopfte. „Ich bin vermutlich einfach ich selbst.“ „Na toll…“ Benni fiel es natürlich nicht schwer, er selbst zu sein. Immerhin war er bei weitem nicht so verschüchtert wie Carsten! Er stotterte nicht wie der letzte Depp herum!!! Wie konnte Benni in solchen Situationen noch einen kühlen Kopf bewahren?!? Einfach weil es Benni war. Jemand, der sich sowieso nur mit sich selbst erklären ließ, wie Carsten schon vor langer Zeit bemerkt hatte. Er folgte seinem besten Freund zu dem Holztisch, an dem auch die anderen saßen. Hoffentlich hatte bis auf Benni niemand etwas von seinem und Arianes ‚Gespräch‘ mitbekommen, denn unfairer Weise hatten inzwischen einige der Dämonenbesitzer durch ihre Dämonenform ein sehr gutes Gehör. Schließlich seufzte Laura. „Okay, jetzt pack ich echt nichts mehr…“ Ariane kicherte. „Warum hast du dir vorhin auch so viel Kuchen aufgeladen?“ Denn natürlich hatte Laura nicht alles, was sich auf ihrem Teller befand, aufessen können. „Da waren die Augen wohl größer als der Magen.“, stellte Florian belustigt fest. „Unsinn, ich hatte wirklich riesen Hunger, immerhin hab ich seit Tagen nichts mehr gegessen!“, verteidigte sich Laura. „Anscheinend war er doch nicht so riesig.“, stichelte Anne weiter. Laura schien irgendetwas erwidern zu wollen, wusste aber offensichtlich nicht was. Da fiel Carsten auf, dass auch Benni seit jenem Schwächeanfall heute Vormittag nichts Richtiges mehr gegessen hatte. …Bis auf die Banane vorhin, die man nicht als richtiges Essen bezeichnen konnte. Kuchen war zwar nicht die gesündeste Ernährung, aber immerhin noch besser, als nur eine einzige Banane. Also riet er seinem besten Freund: „Warum isst du nicht Lauras letztes Kuchenstück?“ Natürlich hatte Carsten mehr im Hinterkopf als nur Bennis Gesundheit. Und er stellte zufrieden fest, dass Laura trotz leicht rötlich gefärbter Wangen Benni fragte: „…Möchtest du?“ Wortlos zog Benni Lauras Teller zu sich. „Ich hol dir eine Gabel.“ Carsten war beeindruckt, dass Laura trotz ihrer Verlegenheit noch ihre Gedanken beisammenhielt und so zuvorkommend und fürsorglich sein konnte. Vermutlich fühlte sie sich für Bennis Schwächeanfall schuldig… Auch wenn sie von allen am wenigsten dafür konnte. „Nicht nötig.“, meinte Benni allerdings nur und nahm Laura ihre eigene Gabel aus der Hand. Als sich Lauras Wangen daraufhin knallrot färbten, konnte sich Carsten das Lachen nur mit größter Mühe zurückhalten. Inzwischen kannte er seine beste Freundin lange genug, um genau zu wissen, was sie dachte: ‚Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott! Das ist ja so was wie… wie ein indirekter Kuss! …Oder so…‘ Ja, ja das dachte Laura vermutlich gerade. Die Mädchen, Konrad und Florian tauschten vielsagende Blicke aus, nur Eagle verdrehte verstimmt die Augen. Auch wenn Carsten häufig nicht wusste, wie er für seinen großen Bruder empfinden sollte, momentan tat er ihm leid. Er wusste ja selbst, wie schrecklich eine einseitige Liebe war… Aber bisher schien Ariane sowieso nicht an einer Beziehung mit irgendjemandem interessiert zu sein. Carsten konnte sich gut vorstellen, dass es noch schmerzhafter war, wenn diese eine Person jemand anderen hatte. Aber Laura war glücklich! War das nicht die Hauptsache? Carsten bezweifelte sowieso, dass sie und Eagle zusammenpassen würden… Eagle passte viel mehr zu… zu jemandem wie Öznur! Die plötzlich rief: „Leute, wir haben fast was ganz wichtiges vergessen!“ „Aha… und was?“, fragte Anne kritisch. „Na das Werwolf-Spiel!“, meinte Öznur aufgebracht. Anne verdrehte die Augen. „Wird das jetzt zu ner Tradition oder was?“ „Es macht halt Spaß.“ Janine kicherte. „Nur, weil du das letzte Mal Amor sein durftest.“, bemerkte Susanne belustigt. Florian schaute die anderen verwirrt an. „Was für ein Spiel?“ Während Benni den Rest von Lauras Kuchen -mit Lauras Gabel- aß, erklärte Öznur den drei Jungs die letztes Mal nicht dabei waren das Spiel und Ariane bereitete die Zettel mit den Rollen vor. „Aber dieses Mal ist jemand anderer der Erzähler.“, meinte sie. „Was? Nein Nane-Sahne! Du kannst das von uns allen mit Abstand am besten!“, widersprach Lissi entrüstet. Ariane schnaubte. „Ich will aber auch mal spielen und nicht immer nur erzählen!“
„Bitte, Nane.“ Laura schaute ihre beste Freundin flehentlich an. Ariane atmete geräuschvoll aus. „Na schön. Aber nur, weil du Geburtstag hast.“ Carsten setzte sich zwischen Benni und Florian auf die Wiese, während die Lampions, der Mond und die Sterne auf den gesamten Kreis herabschienen. Die Nacht war gar nicht mal so kalt und das Gras war auch relativ warm. Ariane ging mit den Zettelchen herum. Carsten warf ein Blick auf seins, er war ein einfacher Bürger.
Doch ein einziger Seitenblick auf Laura verriet ihm bereits ihre Rolle. Natürlich versuchte Laura, so neutral wie möglich zu wirken, aber im Gegensatz zu Benni konnte sie das eigentlich gar nicht. Und ihr Blick sagte ihm: Sie war ein Werwolf. …Schon wieder. Das Schicksal schien es nicht allzu gut mit ihr zu meinen. Carsten fragte sich, warum Laura nicht gegen das Werwolf-Spiel gewesen war… Immerhin war es nicht gerade Balsam für ihre Nerven. Ariane setzte sich zwischen Janine und Laura und begann zu erzählen: „Na gut, also die Leute wohnen in Pfefferkuchenstadt. Eigentlich handelt es sich dabei nur um ein Dorf, aber sie bezeichnen es trotzdem als Stadt. Doch ab dieser Nacht würde das größte Problem der Bürger nicht mehr sein, dass ihr Dorf für eine Stadt eigentlich viel zu klein ist. Wie gewohnt gehen alle Bürger nach Hause und schlafen.“ Der gesamte Kreis schloss die Augen, bis auf Ariane, die meinte: „Amor wacht auf und bestimmt ein Liebespaar.“ Kurz darauf meinte Ariane: „Amor hat seinen Liebespfeil geschossen und schläft wieder ein. Doch in dem Schokosteinbruch in der Nähe der Pfefferkuchenstadt regt sich etwas: Die Werwölfe wachen auf.“ Nach einem kurzen Moment sagte Ariane: „Diese Werwölfe haben sich bei weitem schneller einigen können, als die Werwölfe in dem Fischerdorf.“ Einige im Kreis kicherten, da sie sich noch gut daran erinnern konnten, dass Laura und Anne damals ewig gebraucht hatten, um sich endlich einig zu werden. „Zufrieden mit ihrer grausamen Tat schlafen die Werwölfe wieder ein und die Hexe wacht auf.“ Wieder entstand eine kurze Pause, bis Ariane meinte: „Die Hexe legt sich ebenfalls wieder schlafen und die Seherin wacht auf… Och neeee, jetzt muss ich ja aufstehen.“ Ariane schien sich auf die Beine zu mühen und mehrere Bahnen im Kreis zu gehen, bis sie sagte: „Die Seherin schläft wissend wieder ein und das gesamte Dorf… Ähm, die gesamte ‚Stadt‘ wacht auf.“ Carsten öffnete seine Augen, wie der gesamte Rest des Kreises. Ariane hatte sich inzwischen wieder hingesetzt. „Eines sehr frühen Morgens ging Benni zu Florian, um sein Angebot der letzten Tage mit der Herzchen-Hecke anzunehmen.“ Und sofort musste fast die gesamte Gruppe lauthals loslachen. „Doch Florian öffnete die Tür nicht. Benni wartete kurz draußen um weitere Hecken-Kunstwerke des Gärtners Florian zu begutachten, wie beispielsweise der Unterkörper einer Frau, der ihn ebenfalls sehr ansprach. Als Flo nach mehrmaligem Klopfen immer noch nicht öffnete, benutzte Benni einfach den ihm wohl vertrauten Hintereingang für besondere Gäste. Da Benni Flo innen nicht vorfand und er durch sein spätes ins Bett gehen, seinen Hang-over und das sehr frühe Aufstehen -eigentlich hatte er gar nicht geschlafen- ziemlich müde war, beschloss er einfach in Flos Bett endlich mal zu schlafen.“ „Wow Benni, diese Party-Seite von dir würde ich gerne mal kennenlernen.“, bemerkte Konrad belustigt. Wie erwartet reagierte Benni auf diesen Kommentar einfach gar nicht. Grinsend fuhr Ariane fort: „Wenig später wachte er allerdings wieder auf. Carsten, wegen seiner schwarzen Haare auch Schwarzkäppchen genannt, hatte auf dem Weg zu Oma-Öznur, der er frischgebackene Pfefferkuchen bringen wollte, eine Leiche gefunden: Flos Leiche.“ „Autsch. Heißt das, die Werwölfe haben mich umgebracht?“, vergewisserte sich Florian amüsiert und wirkte natürlich alles andere als tot. Ariane nickte. „Deshalb fanden sich alle Dorfbewohner am Marktplatz ein und die Hexe wurde gerufen, um die Leiche zu obduzieren. Wenig später hörten die Dorfbewohner bereits die fluchende Hexe donnernd den steilen Weg herunterkugeln. Hexe-Eagle war mal wieder über seinen übergroßen großen Zeh gestolpert und von seinen Speckschwarten unterstützt losgerollt.“
„Speckschwarten?!?“ Natürlich war Eagle nicht sehr begeistert von der Rolle, die Ariane ihm gegeben hatte. Die anderen hatten dafür aber umso mehr Spaß. Ariane grinste Eagle an. „Die Hexe machte das Offensichtliche kund: Florian war TOT! Wer war es?!? Benni, der die ganze Nacht wach war, weiß Gott was getrieben hat und bereits das Bett des Toten übernommen hatte?“ Sofort meldeten sich Konrad und Anne. …Carsten hätte wetten können. „Vielleicht unser Geburtstagskind Laura?“ Sowohl Lissi als auch Susanne meldeten sich. Eigentlich hätte auch Carsten seine Hand heben sollen, doch er behielt sie unten, genauso wie Benni. Garantiert hatte auch Benni seiner Freundin sofort ansehen können, was sie war. Aber sie beide wussten gut genug, dass es Laura das Herz brechen würde, würde sich auch nur einer von ihnen bei ihr melden. Sie nahm dieses Spiel einfach viel zu persönlich! „Die knuffige Ninie? …Oder ihre beste Freundin Susi? …Deren Schwester Lissi?“ Niemand stimmte für eine von ihnen. „Die Polizistin Anne, die es durch die Kraft der Liebe geschafft hatte den Ozean zu durchqueren, um zu der Reinkarnation ihres Geliebten zu gelangen?“ Trotz Lachanfall schafften es Laura und Öznur ihre Hand zu heben, ebenso Eagle. „…Was haben wir letztes Mal verpasst?“, fragte Konrad belustigt. „Amor hatte letztes Mal Anne und Benni als Liebespaar ausgewählt.“, brachte Öznur hervor. Nun mussten auch die drei übrigen Jungs loslachen. Anne schnaubte demonstrativ, doch Ariane beachtete sie nicht und fuhr fort: „Die Oma-Öznur auf deren Weg die Leiche von ihrem eigenen Enkel gefunden wurde?“
Für ‚Carstens Oma‘ meldete sich keiner. „Die Hexe-Eagle, die Flo eh nicht leiden konnte, da der Weg zu seinem Haus ziemlich steil war, wie eigentlich alle Wege in diesem Dorf/ dieser Stadt, weshalb er niemanden leiden konnte?“ Niemand. „Konrad, der Vampir, der wegen seiner Nachtaffinität vielleicht sogar ein Werwolf ist?“ Konrad überlegte. „Eigentlich cool, dann wäre ich ein Hybrid…“ Als Carsten sah, dass Benni seine Hand hob, schloss er sich seinem besten Freund an. Er wusste nicht, ob Benni einfach aus Prinzip für Konrad stimmte, weil es nun mal Konrad war, oder ob er andere Gründe hatte. Aber für irgendjemanden musste er ja so oder so stimmen. „Oder war es Schwarzkäppchen-Carsten, welcher immerhin die Leiche gefunden hatte?“ Für ihn meldete sich keiner. „Na gut, die Entscheidung ist gefallen. Moment… Ninie, du hast noch für keinen gestimmt.“ „…Ich… kann mich nicht entscheiden…“, meinte Janine leicht verunsichert. Ariane zuckte mit den Schultern. „Na gut, weil du es bist, Ninie.“
„Hey! Ich durfte mich damals nicht enthalten!“, beschwerte sich Laura empört. „Und warum zum Teufel soll ausgerechnet ich der Werwolf sein?!?“ Natürlich brachte die Entscheidung der Dorfbewohner Anne auf die Palme. „Weil die anderen denken, dass du der Werwolf bist.“, meinte Ariane belustigt. „Habt ihr noch alle Tassen im Schrank?!? Ich kann nicht der Werwolf sein! Sonst wären Benni oder Eagle doch schon längst tot!“ Gutes Argument, stellte Carsten fest. „Aber letztes Mal warst du auch der Werwolf und hast zuerst für mich gestimmt.“, meinte er ruhig. Anne schnaubte. „Ja, weil Lauras Theater nicht auszuhalten war.“ „Und abgesehen davon ist Florian auch ein Junge… Dein Argument hilft dir also nicht wirklich weiter.“, stellte Susanne amüsiert fest, auch wenn sie selbst für Laura gestimmt hatte. „Dann soll sich jedenfalls Janine noch entscheiden. Es könnte noch ein Unentschieden geben.“, zischte Anne. Ariane verdrehte die Augen. „Ninie hat den Knuffigkeits-Bonus, sie darf sich enthalten.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Na gut, dann nehme ich halt meine Stimme zurück und stimm stattdessen für Laura.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte Carsten, dass Laura auf einmal ganz blass im Gesicht war. Warum musste sie das auch so ernst nehmen? Seufzend wandte sich Ariane an Janine. „Ninie, jetzt kannst du dich doch nicht mehr enthalten… Würdest du lieber Laura oder Anne umbringen wollen?“ Natürlich wollte Janine niemanden umbringen. Deshalb meinte sie schließlich ziemlich verschüchtert: „Ich… Keine Ahnung…“ Konrad schüttelte den Kopf. „Ihr seid mir ein Haufen. Na gut, ich stimme nicht für Benni, sondern für Anne und jetzt ist Ruhe.“ Erleichtert atmete Ariane auf. „Daaaaaaankeeeeeee. Das Dorf ist überzeugt. Durch ihre Eifersucht auf Flo hatte sie das stärkste Motiv. Panisch wollte sie sich hinter Benni verstecken, doch der hielt sie nur hasserfüllt fest. Und so ging Anne wieder in der Meer, aus dem sie gekommen war.“ Während die anderen wieder loslachen mussten, schnaubte Anne verstimmt. „Du konntest es nicht lassen, oder?“
Ariane grinste. „Natürlich nicht. Beruhigt gehen alle schlafen. Ach so, und Anne war übrigens kein Werwolf. Die eigentlichen Werwölfe wachen nämlich jetzt auf und entscheiden sich… Und oh Mann, ich liebe diese Werwölfe, sie sind so unkompliziert! Nach einer erneut schnellen Entscheidung verkriechen sie sich wieder in ihrem Schokosteinbruch und die Hexe wacht auf.“ Nach einem Moment fuhr Ariane mit der Seherin fort und sagte schließlich: „Am nächsten Morgen war das ganze Dorf noch ziemlich müde. Sie hatten in der Nacht kaum ein Auge zugetan, denn sie waren durch ein männliches Brüllen, einem darauffolgenden Blubbern und einer abschließenden Explosion wachgehalten worden. Nur eine war bereits auf den Beinen. Die sehr pflichtbewusste Putzfrau Lissi hatte ihren Arbeitstag bereits um fünf Uhr morgens begonnen, um viel Zeit bei ihrem Lieblingskunden zu haben. Als sie das Haus betrat stellte sie erfreut fest, dass die Schlafzimmertür einladend offen stand. Schnell stellte sie das Putzzeug zur Seite und ersetzte den Putzoverall durch ein verführerisches Maid-Kostüm.“ „…Wird das jetzt ein Porno?“, fragte Konrad verwirrt. Öznur winkte ab. „So was kennen wir schon, das macht Ariane gerne.“ „Uuuuuuuuuuund, Nane-Sahne? Wer ist der Glückliche?“, fragte Lissi voller Erwartung und Begeisterung. Carsten schwante bereits Übles… Ariane zwinkerte Lissi zu. „Doch da stürzte Carsten, der seinen wahren Charakter unter dem süßen Mantel des Schwarzkäppchens verbarg, ihr bereits entgegen. Er begrüßte sie zwar mit einem stürmischen Kuss, doch zu Lissis Enttäuschung machte er nicht weiter.“ „Warum denn nicht, Cärstchen?“, schmollte Lissi, doch Carsten war froh, dass Ariane ihm weitere Einzelheiten ersparte. Sonst wäre sein Gesicht noch roter geworden. Allerdings konnte sich Eagle seinen Kommentar trotzdem nicht verkneifen. „So, so, Carsten der Schürzenjäger. Hätte ich nicht gedacht. Erfolg bei den Frauen hattest du ja noch nie wirklich.“ Nun wurde Carstens Gesicht doch noch roter, allerdings unterbrach Ariane den drohenden Streit, indem sie weiter erzählte. „‘Hast du den Krach in der Nacht nicht gehört? Er muss vom Lebkuchenhaus gekommen sein, wo Hexe Eagle wohnt.‘ Mit diesen Worten stürzte er zum Lebkuchenhaus. Doch… wer lag wie tot davor?! Es war Laura, das Zuckermäuschen der Stadt! Doch bei näherem Hinsehen stellte er durch ihren ruhigen Atem und ihrem aufgeblähten Bauch fest, dass sie lediglich zu viel von den eingestürzten Wänden des Hauses genascht hatte. Da grub sich auch die krächzend motzende Hexe Eagle aus den Trümmern heraus, was bei ihrem Bauchumfang äußerst schwerfiel. ‚Das waren die Werwölfe, sie wollten mich umbringen‘, rief sie aus, bevor sie Carsten entdeckte, der sich gerade an einem Lebkuchenblatt vergriff. Er drohte dem unschuldig erscheinenden Schwarzkäppchen mit dem sofortigen Tode, sollte er noch einmal nur an seinem Haus schnuppern. Dann kugelte die Hexe zum Marktplatz davon, um eine Dorf- oder eher Stadtversammlung einzurufen: Der Werwolf musste hingerichtet werden! War es Benni, der das Zuckermäuschen bei der Jagd nach Süßigkeiten vollauf unterstützte?“ Wieder meldete sich Konrad. „War es gar das Zuckermäuschen selbst, dass das ganze Haus für sich wollte?!“ Schaudernd stellte Carsten fest, dass Lissi, Susanne, Öznur und sogar Janine für Laura stimmten. Und natürlich wurde Laura beängstigend blass. „War es die immer noch süße Ninie? …Deren immer noch beste Freundin Susanne?… War es vielleicht die Affäre des Schwarzkäppchens, die es nicht einsah, dass ihre Liebe immerzu von der Hexe schikaniert wurde?“ Bei Lissi, beziehungsweise ‚Carstens Affäre‘ meldete sich Laura. „War es die Oma des berühmtberüchtigten Schwarzkäppchens? …Oder Hexe-Eagle, die/der von den Werwölfen attackiert wurde und vielleicht selbst ein Werwolf ist und sich selbst angegriffen hat? …War es der eventuelle Hybrid Konrad, der in der Hexe Konkurrenz auf Übernatürliches sah?“ Weder Benni noch Carsten hatten ihre Meinung über den Hybriden geändert. „Oder war es das Schwarzkäppchen gar selbst, das sich endlich für die Missetaten der Hexe rächen wollte?“ Ausgerechnet ‚die Hexe‘ meldete sich bei Carsten. Ariane schaute Laura an. „Das Verbrechen, das Essen anderer Leute zu stehlen, konnte nur mit dem Tode bestraft werden.“ Doch zum Glück ersparte Ariane ihrer besten Freundin die Einzelheiten, da sie ebenfalls wusste, dass Lauras Nerven das nicht verkraften würden. „Und es stellte sich heraus, dass das Zuckermäuschen nicht nur ein Zuckermäuschen, sondern auch ein Schokolade-liebender Werwolf war, dem die Liebe zu Süßigkeiten zum Verhängnis wurde.“ Geknickt senkte Laura den Blick. „Ernsthaft? Du warst wirklich schon wieder ein Werwolf?“, stellte Öznur fest. Betrübt nickte Laura. „Alle schlafen ein, bis auf die Toten, die wachen ewig.“, sagte Ariane geheimnisvoll. „Der nun einsame Wolf wacht auf… Der Werwolf schläft wieder ein und die kleine Hexe erwacht… Und nachdem die Hexe wieder eingeschlafen ist, wacht noch einmal kurz die Seherin auf.“ Während Ariane ihre Bahnen im Kreis ging, überlegte Carsten, ob die wahre Hexe auch ‚Hexe-Eagle‘ war, oder ob Ariane sie damit nur in die Irre führen wollte und Eagle einfach nur die Rolle der fetten, motzenden Hexe angedreht hatte, weil sie ihn damit besonders ärgern konnte. „Okay, ihr dürft alle wieder aufwachen. Der Bordellbesitzer Benni, der ja jetzt leider keine Herzchen-Hecke hatte, machte sich mal wieder sehr früh morgens auf den Weg zu Choreografin Ninie. Er wollte seinen Gästen heute eine besonders heiße Aufführung seiner Mädels bieten, da sich für den kommenden Abend besonders viele Gäste angekündigt haben. Glücklicherweise traf Janine immer genau seinen Geschmack.“ Und natürlich konnte niemand bis auf Benni anders, als lauthals loslachen zu müssen. „Doch es ereignete sich anders als geplant,…“ Mit einem Schlag war es wieder still. „…da er mitten auf dem Weg die ermordete Lissi vorfand, die eine Bewerbungsmappe -offensichtlich an ihn adressiert- in der Hand hielt. Das stimmte ihn sehr traurig, denn sie hätte sehr gut in die Aufführung gepasst.“ Lissi schniefte. „Warum muss ich immer so schnell sterben?“ „So schnell?!“ Anne tippte sich mit dem Finger an die Stirn. „Das ist die dritte Runde Mädchen, so viele gab es letztes Mal noch nicht mal.“ Ariane nickte. „Stimmt. Benni beschloss, vorher noch beim Schwarzkäppchen vorbeizugehen und ihn über das Ableben seiner Geliebten zu informieren, denn Benni war der einzige der Dorfbewohner, der sich von Schwarzkäppchens unschuldigem Auftreten nicht täuschen ließ. Doch es lief wieder anders, als geplant, denn auch nach mehrmaligem Klopfen öffnete Carsten nicht die Tür. Also beschloss Benni auch dieses Mal wieder den Hintereingang zu nehmen, der ihm ebenso vertraut war, wie der des Gärtners.“
Lissi kicherte. „Uuuuuuuuuuuuuuuuuh, Bennlèy der Maneater.“ Ariane prustete los. „Was für ein Wort ist das denn?!?“ Nachdem sie sich beruhigt hatte, erzählte sie weiter. „Auch dieses Mal hatte Benni die Nacht mal wieder nicht geschlafen und er fühlte sich erschöpft. Doch im Bett lag bereits Carsten. Leider tot. Auf seinem Nachtkästchen stand eine Flasche ‚Gute-Nacht-Tränkchen‘, aber die toten Fliegen um sie herum verrieten Benni, dass es sich dabei nicht um einen Schlaftrunk handelte. Doch wer hatte ihn Carsten untergejubelt? Und wer hat Lissi umgebracht? Und noch viel wichtiger: Wer ist der andere Werwolf?!? Ist es Benni selbst, der als erster an beiden Tatorten aufgetaucht ist?“ Für Benni meldeten sich Susanne, Öznur, Eagle und Konrad. Carsten hörte, wie Laura scharf die Luft einsog, denn sie alle wussten, dass es eigentlich schon entschieden war. Ariane fuhr trotzdem fort. „Die süße, durchtriebene Choreografin Ninie? …Ihre allzeit beste Freundin Susanne? …Die Oma, die vielleicht Schwarzkäppchens dunkle Seite Lissi zuschrieb? …Die Hexe Eagle, die weder Carsten noch seine Geliebte noch sonst wen leiden konnte? …Oder Konrad… Der eigentlich als teuflischer Hybrid keinen Grund brauchen würde?“ Für den teuflischen Hybrid meldeten sich immerhin noch Benni und Janine. „Für die Dorfbewohner war das Auffinden von zwei Leichen an einem Tag zu verdächtig. Sie verbrannten Benni und warfen seine Asche zu Anne auf das Meer hinterher.“ Anne stöhnte auf. „Nicht schon wieder.“ „Benni war übrigens nicht der Werwolf.“, meinte Ariane schulterzuckend. „Da die Dorfbewohner ihren Bordellbesitzer umgebracht hatten, bekamen sie heute Abend also doch keine heiße Aufführung der Mädchen, gingen also allesamt früh ins Bett und das Bordell musste geschlossen werden und die Mädels wurden arbeitslos und mussten in der Kälte hungern.“
Öznur schnaubte. „Natürlich, mach uns ruhig ein schlechtes Gewissen.“ „Schlaf einfach.“ Carsten musste Arianes Aufforderung zum Glück nicht mehr befolgen, immerhin war er ja ‚tot‘. Genauso wie Benni und Laura, die Carsten dadurch amüsiert beobachten konnte. Mit leicht geröteten Wangen lehnte sich Laura gegen Benni, welcher einen Arm um sie legte und noch etwas näher an sich zog, da Laura inzwischen zu frieren schien. Rechts neben ihm hörte Carsten ein Kichern und als er nach der Ursache schaute, bemerkte er, dass auch Florian die beiden beobachtet hatte. Der Elb warf ihm einen Blick zu, der sagte: ‚Endlich. Das wurde aber auch Zeit.‘ Und Carsten konnte ihm nur Recht geben. Inzwischen hatte Ariane den Werwolf geweckt und Carsten war gar nicht überrascht, als Konrad die Augen öffnete. Dennoch verspürte er eine gewisse Genugtuung, als der Werwolf Eagle auswählte, den er beim ersten Versuch nicht hatte töten können. Die Hexe brauchte gar nicht mehr aufzuwachen, immerhin hatte sie ihre beiden Tränke bereits verbraucht, doch Carsten war sich ziemlich sicher, dass es Eagle war. Denn er ging davon aus, dass er von der Hexe umgebracht wurde und da würde eigentlich nur Eagle infrage kommen. „Die Seherin wacht auf.“ Auf Arianes Anweisung hin öffnete Janine die Augen. Auch bei ihr war Carsten nicht überrascht. Es hatte ihn ziemlich gewundert, dass sich Janine in der ersten Runde nicht zwischen Laura und Anne entscheiden konnte und in der zweiten dann ausgerechnet für Laura gestimmt hatte. Er beobachtete, wie Janine auf Konrad deutete, Ariane ein paar Runden im Kreis drehte und derweil Konrads Zettel schnappte, ihn Janine beim Vorbeigehen zeigte und ihn schließlich wieder unverändert vor Konrad liegen ließ. Schließlich meinte Ariane: „Und es wird wieder Tag, ihr könnt aufwachen! Oma-Öznur beschloss, das Grab ihres Enkels zu besuchen. Doch auf halbem Weg entdeckte sie Kampfspuren. Sie schaute über den Rand des steilen Weges den Abhang hinab und sah an dessen Fuße die Hexe Eagle liegen, mit tiefen Kratzspuren im Rücken. Da die beiden sich durch ihre Abstieg-Abneigung schon immer verbunden gefühlt haben, beschloss Oma-Öznur ebendiese zu überwinden und zu ihm hinabzusteigen. Es kam, wie es kommen musste. So unsportlich, wie Oma-Öznur war, rutschte sie aus, purzelte hinab, landete neben Eagle und die beiden schlummerten friedlich, bis in alle Ewigkeit.“ „Moment… Dann hat sich Amor für die beiden entschieden?“, bemerkte Janine überrascht. Ariane nickte zur Bestätigung. „Und ich habe mich gefragt, warum Benni nicht gestorben ist, als das Dorf entschieden hat, Laura umzubringen.“, meinte Konrad lachend. Eagle schnaubte. „Und warum ausgerechnet wir?“ „Weil Benni und Laura keinen Amor mehr brauchen.“, meinte Florian belustigt und deutete auf die beiden. Laura lehnte sich immer noch gegen Benni, wurde bei Florians Bemerkung aber sofort knallrot und verbarg ihr Gesicht in Bennis Brust. Doch natürlich war genau diese Reaktion der Auslöser dafür, dass der Rest loslachen musste, dieses Mal sogar auch Eagle. „Halt mal…“ Eagle warf Florian einen finsteren Blick zu. „…Du warst Amor, oder?“ Der Elb grinste Carstens großen Bruder nur an, doch statt auszurasten, riss sich Eagle zusammen und schüttelte grimmig den Kopf. „War ja klar. Warum zum Teufel meinst du, Öznur und mich verkuppeln zu müssen?“ Florian zuckte kichernd mit den Schultern. „Weil ich glaube, dass sie auf dich steht, du auf sie stehst und ihr beide gut zusammenpasst.“ „Bring einfach nur das Spiel zu Ende, bevor ich einem der Toten hier den Kopf abschlage.“, forderte Eagle Ariane auf. Diese schnaubte. „Du bist nicht in der Position, mir Befehle zu erteilen oder gar mir zu drohen, Häuptlingssöhnchen. Oder soll ich eher sagen: Miesepetrige Hexe Eagle mit Speckschwarten?“ Offensichtlich genug provoziert schien Eagle aufspringen zu wollen, doch Amor-Florian machte ihm mit seinen Efeuranken, die Eagle auf dem Boden hielten, einen Strich durch die Rechnung. „Bring einfach das Finale.“, meinte Florian gelassen. „Okee.“, erwiderte Ariane zufrieden und grinste Eagle noch einmal frech an, bevor sie sich wieder dem Spiel widmete. „Den letzten drei Dorfbewohnern ist klar, trotz aller Bemühungen weilt der Werwolf noch unter ihnen. Doch wer von ihnen ist es? Sie können keinem mehr trauen. Ist es etwa die süße Choreografin Ninie?“
Konrad meldete sich für sie. „Die beste Freundin der Choreografin?“ Für Susanne stimmte keiner. „Oder ist der Vampir vielleicht tatsächlich der Werwolf und somit ein Hybrid?“
Für Konrad meldete sich Janine, immerhin kannte sie als Seherin seine ‚wahre Identität‘ nun. Ariane seufzte. „Für wen stimmst du, Susi? Enthalten geht dieses Mal echt nicht mehr.“ Vollkommen ahnungslos und mit der Zeit auch verzweifelt schaute Susanne zwischen Janine und Konrad hin und her. „Ich weiß es nicht…“ Besorgt fiel Carsten die Panik auf, die sich immer mehr in ihr auszubreiten schien. „Ich weiß es nicht!“ Susanne verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen, in ihren zittrigen Atem mischte sich ein schwaches Schluchzen. Vermutlich fühlte sie sich an ihre Prüfung zur Dämonenform erinnert… Ja klar, Susanne wusste, dass es nur ein Spiel war und nahm es garantiert nicht so ernst, wie Anne, oder so persönlich wie Laura. Aber schon alleine die Erinnerung an jene Prüfung war schrecklich, egal ob der Auslöser dafür nun ein Spiel war oder nicht. Auch der Rest bemerkte, wie belastend diese Situation für sie sein musste. „Du kannst doch einfach eine Münze werfen.“, schlug Janine mitfühlend vor. „Stimmt, so ist die Chance fifty-fifty und du musst dich für nichts und niemanden entscheiden, da sich die beiden selbst aussuchen, was sie nehmen.“, gab Ariane ihr Recht. Öznur kramte ihren Geldbeutel aus der Tasche ihrer Hotpants und warf Susanne eine Münze zu. „…Kopf oder Zahl?“, fragte Susanne mit zitternder Stimme. „Der, dessen Symbol auftaucht, überlebt.“, legte Ariane die Regeln fest. Konrad wies auf Janine. „Ladies first.“ Janine lächelte ihre beste Freundin an. „Dann nehme ich Kopf.“ Susanne schnickte die Münze nach oben und fing sie wieder auf. Vorsichtig öffnete sie die Hand. „Kopf.“ Konrad lachte auf. „Das Schicksal eines Gentleman.“ Ariane grinste den Vampir an. „Sie bestanken ihn mit Knoblauch, doch es half nichts. Sie bewarfen ihn mit Silber… Doch es half nichts! Auch das Licht und die Kreuze blieben wirkungslos! Da hatte Susanne eine grandiose Idee: Sie köpften ihn! Und damit setzten sie dem Hybriden ein Ende und es war endlich Ruhe.“ Erleichtert atmete Susanne auf, die in dieser letzten Runde als einzige nicht gewusst hatte, wer der Werwolf war. Beruhigend legte Janine ihr eine Hand auf die Schulter. Carsten warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. „Wow, es ist schon halb zwölf.“, stellte er überrascht fest. Ariane stöhnte auf. „Und morgen ist auch noch Montag…“ Konrad kicherte. „Dann geht lieber schnell ins Bett, wir wollen doch nicht, dass mein Onkel euch Strafarbeiten aufdrückt, weil ihr verschlafen habt.“ Ariane schlug sich mit der Hand auf die Stirn. „Den haben wir morgen ja auch noch in der ersten und zweiten Stunde!“ ~*~ Laura seufzte. Stimmt, während sie die ganze Zeit ohne Bewusstsein im Krankensaal gelegen hatte, war die Zeit nicht stehen geblieben. Das Leben der anderen hatte trotzdem seinen üblichen Ablauf gehabt. Schule, Hausaufgaben, Essen, Schlafen, Schule, Hausaufgaben,… Eine grausame Erkenntnis überkam sie. „Oh nein, jetzt muss ich ja doch noch Mathe schreiben!“ Anne lachte auf. „Allerdings. Die Ich-sterbe-sowieso-Ausrede zieht nicht mehr.“ Nun wurde Laura langsam aber sicher panisch. Ja, sie war davon ausgegangen sowieso zu sterben. Woher hätte sie auch wissen sollen, dass der Schwarze Löwe nie vorgehabt hatte, sie zu verlassen?!? Dass er sich nur einen Scherz erlaubt hatte?!? …Na gut, von Benni. Doch jetzt musste sie wieder die ganzen Klausuren schreiben und -noch schlimmer- die Halbjahresprüfungen! „Ich will sterben.“, jammerte Laura. Anne schnaubte. „Nicht dein ernst. Vor ein paar Stunden wärst du noch fast gestorben und hast deswegen rumgeflennt und jetzt machst du auf einmal wegen den Klausuren ein Theater und willst doch sterben?!? Entscheide dich endlich!“ Bei Annes scharfem Ton zuckte Laura zusammen. „Du bist doch ziemlich gut in Mathe, das schaffst du garantiert mit links.“, sprach Janine ihr Mut zu. „Ja, aber… Gut sein reicht nicht!“, widersprach Laura verzweifelt. „Ich muss gut schreiben! Ich brauche gute Noten!!!“ Konrad seufzte. „Und hier seht ihr die Folgen davon, wenn man als Kind viel zu viel Druck von den Eltern wegen schulischen Leistungen bekommen hat.“ Carsten nickte. „Du machst dir inzwischen schon von selbst zu viel Druck und dann gehen deine Nerven mit dir durch. Wenn du dir keinen Stress machst, geht das alles gleich viel besser, glaub mir.“ „Sagt das Superhirn mit dem fotografischen Gedächtnis.“ Laura schnaubte. „Du musst ja fast nichts tun, um gut zu sein!“ Verletzt senkte Carsten den Blick. „Denkst du, ich bin dafür dankbar? Ja klar, es ist ganz nützlich, sich alles merken zu können, aber…“ Ihm schienen die passenden Worte zu fehlen. „… Aber es sind keine Leistungen.“ Überrascht schaute Laura Benni an, der Carstens Satz vervollständigt hatte. Carsten nickte. „Es ist was anderes, wenn man nach harter Arbeit am Ende belohnt wird oder wenn man gewisse Talente von Anfang an in die Wiege gelegt bekommen hat.“ Laura erinnerte sich daran, dass Carsten einst gemeint hatte, Benni wäre nicht stolz auf seine Stärke, weil er als primärer Dämonengesegneter schon immer als stark galt. Und wenn Benni sowieso keine natürliche Begabung fürs Kämpfen hatte, würde Laura einen Besen schlucken. Wie sehr und wie oft hatte Laura Benni um seine Talente beneidet, doch anscheinend hatte er sie nie gewollt… Und Carsten war offensichtlich auch nicht sehr stolz auf seine angeborene Intelligenz… Laura biss sich auf die Unterlippe. Nun bereute sie, was sie vorhin so kopflos gesagt hatte. Es entstand ein bedrücktes Schweigen, was schließlich von Konrad gebrochen wurde. „Ihr wärt nie so stark oder intelligent wie heute, hättet ihr rein gar nichts dafür getan. Ich wohne zwar in Spirit, aber ich habe trotzdem mitbekommen, wie du damals bis zum Umfallen trainiert hast, Benni. Und du, Carsten, hast auch schon immer Zaubersprüche wie ein Verrückter gebüffelt und sie anzuwenden gelernt. Also sagt nicht, dass ihr keine Leistungen erbracht habt. Ja klar, Talent zu haben kann hilfreich sein. Aber ohne Fleiß, Ausdauer und Hingabe ist es wertlos.“ Carsten hob den Blick und warf Konrad ein schwaches Lächeln zu. „Ach so, kommt ihr eigentlich auch auf die Abendgesellschaft?“, erkundigte sich Florian und wechselte damit vollkommen überraschend das Thema. „Was für ein Ding?“, fragte Ariane verwirrt. „Die Abendgesellschaft der Adligen. Das ist eine Zusammenkunft der Familien hoher Häuser, die einmal im Jahr stattfindet. Aber dort werden überwiegend nur Höflichkeiten ausgetauscht und die guten Verhältnisse gestärkt.“, erklärte Anne, die eindeutig Bescheid wusste. „Und es ist todlangweilig.“, ergänzte Laura das wichtigste. „Warum sollten wir dahin gehen?“ „Na ja, ich halte es für sinnvoll. Das ist eine der wenigen Gelegenheiten, in denen wir an Lukas rankommen können.“, sinnierte Florian. „Vielleicht finden wir so etwas mehr über Mars‘ Pläne heraus.“
„Oder wir erfahren mehr über Jack.“, fiel Janine auf. „Was willst du über den noch groß herausfinden? Er ist böse. Schluss, Aus, Ende.“, zischte Anne gereizt. „Aber ganz sicher nicht durch und durch.“, griff Susanne ihrer besten Freundin unter die Arme. „Garantiert steckt auch Gutes in ihm und wir dürfen nicht vergessen, dass wir alle Dämonenbesitzer brauchen werden, um Mars Einhalt zu gebieten.“ „Bevor wir so ein Himmelfahrtskommando starten und versuchen, einen Bösewicht zum Guten zu bekehren, sollten wir uns vielleicht erst mal auf die Suche nach dem neuen Besitzer des Farblosen Drachen machen! Immerhin ist seine ehemalige Besitzerin vor einigen Wochen abgekratzt!“, meinte Anne verärgert. „Anne!!!“ Nahezu jeder funkelte die Sultanstochter vorwurfsvoll an. Besorgt betrachtete Laura Benni, doch dieser hatte den Blick abgewandt und da seine Haare sein Gesicht verbargen, war es Laura unmöglich zu erkennen, wie schwer Annes Kommentar ihn getroffen hatte. Diese schien erkannt zu haben, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. „…Tut mir leid…“ Doch Benni erwiderte nichts darauf. Eagle schnaubte. „Und mein Taktgefühl liegt also unter dem einer Rosine.“ „Annes auch und jetzt halt die Klappe.“, schnauzte Ariane ihn an. Verzweifelt kaute Laura auf ihrer Unterlippe herum. Sie war sich ziemlich sicher, dass Anne Benni verletzt hatte. Eufelia war für ihn immerhin wie eine Mutter gewesen, auch wenn sie häufig ziemlich streng gewesen ist. Laura wusste selbst, wie schrecklich es ist mitansehen zu müssen wie jemand ermordet wird, der einem nahesteht… Noch nicht einmal Benni würde je darüber hinwegkommen. Vorsichtig nahm Laura Bennis Hände in ihre. Dieses Mal war sie es, die ihm Trost spenden musste, nicht umgekehrt. Dummerweise hatte Laura keine Ahnung, wie man so was tat… Sie hatte keine Ahnung, was man in solchen Situationen am besten sagte. Nie fand sie die richtigen Worte, wenn es drauf ankam. Doch Laura erinnerte sich daran, dass Benni sie eigentlich nie mit Worten getröstet hatte… Es waren immer seine Gesten gewesen, die sie wieder Mut schöpfen ließen. Laura hoffte, dass ihre Gesten dieselbe Wirkung auf ihn haben würden. Sie schöpfte Hoffnung, als Benni seinen Blick hob und ihr endlich in die Augen schaute. Zwar wirkte sein Gesicht so ausdruckslos wie sonst auch, doch irgendwie wusste Laura trotzdem, dass er traurig war… Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und legte die Arme um seinen Nacken, um Benni in eine Umarmung zu ziehen. Einen Moment später umfasste er sie zögerlich, ehe er kurz darauf seinen Griff etwas verstärkte und seinen Kopf auf ihre Schulter legte, als würde Laura ihm tatsächlich Halt geben können. Laura wusste nicht, wie lange sie so standen. Genauso wenig, wie sie mitbekam, dass die anderen die beiden mitfühlend betrachteten. Obwohl sie hoffte, dass eine Umarmung ausreichen würde wusste Laura, dass sie Benni nicht würde auf Dauer helfen können… Laura spürte, wie jemand um ihre Beine streifte, der ein leises Winseln von sich gab. „Du hast doch noch Wolf!“, fiel Laura auf. Benni löste sich etwas aus der Umarmung, um Laura ins Gesicht sehen zu können. Auf seinen fragenden Blick hin erklärte sie: „Na ja… Er war doch schon immer bei Eufelia-Sensei gewesen. Ähm… Mit ihm… äh… lebt vielleicht auch ein Teil von ihr hier weiter… irgendwie…“ Laura spürte, wie ihre Wangen knallrot wurden. Da wollte sie schon mal was Aufmunterndes, Taktvolles sagen und dann kam das dabei raus. „Das klingt total bescheuert…“ Doch Wolf gab ein zufriedenes Knurren von sich und Benni schüttelte den Kopf. „Nein, du hast Recht. Auch wenn Eufelia-Sensei nicht mehr lebt… heißt das nicht, dass alles, was sie ausgezeichnet hat, ebenso zerstört worden ist. Oder dass ich jetzt alleine bin.“ Carsten kam zu ihnen rüber und packte Bennis Unterarm. „Schön, dass du das endlich mal erkannt hast.“ „Oh, und ich sollte vielleicht endlich mal zurück nach Spirit… Rina kann ganz schön überfürsorglich sein.“, fiel Konrad auf. Florian schnaubte. „Gerade jetzt, wo Benni endlich kapiert hat, dass er von keinem von uns alleine gelassen wird, hast du vor zu gehen? Was bist du denn für ein ‚großer Bruder‘?!?“ Konrad lachte auf, ging zu Benni, Laura und Carsten rüber und wuschelte seinem ‚kleinen Bruder‘ durchs Haar. „Ich würde ihn nie einfach alleine zurück lassen. Er hat doch noch euch. Und am wichtigsten: Er hat Laura!“ Während alle anderen bei Konrads Kommentar zustimmend lachen mussten, wurde Laura selbstverständlich mal wieder knallrot im Gesicht. Konrad winkte der Gruppe kurz zu. „Dann sehen wir uns bei der Abendgesellschaft.“ Anne schnaubte. „Wir haben noch nicht mal zugesagt.“ „Jetzt schon.“, meinte Florian amüsiert, „Ob ihr nun wollt, oder nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Benni ist ja hier ganz eindeutig in guten Händen, dann kann ich mich auch beruhigt auf den Heimweg machen.“ Er klopfte Benni und Laura kurz auf die Schulter und folgte Konrad zu dem großen Tor der Coeur-Academy, als er noch über die Schulter rief: „Wir sehen uns bei der Abendgesellschaft!“ Anne schnaubte empört. „Was erlauben die sich?!“ „Nach dem, was du eben angestellt hast, kommst du noch ganz schön glimpflich davon.“ Laura hatte Janine noch nie so verärgert erlebt. „Hey, was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, fragte Anne, ebenso verwirrt wie Laura. „Ich habe doch gemeint, es tut mir leid! Und das war mein voller Ernst. Ich hab halt vergessen, dass es… verletzend sein kann.“ „Aber so etwas vergisst man nicht. Wir nehmen auch Rücksicht auf deine Probleme. Es wäre angebracht, wenn du dasselbe für uns tun könntest.“ Verärgert und etwas aus der Bahn geworfen musterte Anne Janine. Natürlich war die Prinzessin es nicht gewohnt, so öffentlich kritisiert zu werden. Aber Laura unterstützte Janine vollkommen, denn es war bitter nötig. Trotzdem war sie froh, als Öznur die angespannte Stimmung brach. „Okay Leute, wir sind alle müde und gereizt. Vielleicht sollten wir ins Bett gehen.“ Eagle nickte. „Gute Idee, ich sollte langsam mal losfliegen.“
„Ach, du kannst gerne auch hier schlafen, Eagle-Beagle.“, bot Lissi ihm zwinkernd an. Eagle lächelte sie an. „Danke für das Angebot, aber ich glaube, das wäre deinem Schwarzkäppchen nicht Recht und ich möchte nicht, dass es mich bei den Direktoren verpfeift.“ „Wieso sollte ich das tun?“, fragte Carsten leicht verletzt. „Ganz einfach, weil du nichts weiter als ein kleiner, schleimender Streber-Wurm bist.“ Kurz darauf hatte Eagle bereits seine Dämonenform angenommen und war im Nachthimmel verschwunden. Laura biss sich auf die Unterlippe, als sie Carstens traurigen und eindeutig verletzten Gesichtsausdruck sah. Er wirkte, wie ein kleiner Hund, den man im Regen auf der Straße ausgesetzt hatte. „Dafür ist Eagle eine motzende Hexe mit Speckschwarten.“, meinte Ariane schnaubend. Carsten mühte sich ein schwaches Lächeln ab. Öznur seufzte. „Was genau ist denn passiert, dass sich Eagle bei dir wie das letzte Arschloch verhält?“ Doch Carsten antwortete nicht, stattdessen wandte er sich an Laura und Benni. „Ich würde schon mal gehen, wenn…“ Mitfühlend betrachtete Laura ihren besten Freund. Er schaffte es noch nicht einmal, ihnen offen mitzuteilen, dass ihn dieser Kommentar so sehr verletzt hatte, dass er nun etwas Zeit für sich brauchte. Zorn brodelte in ihr hoch, doch sie wusste, dass sich darunter eigentlich Schmerz verbarg. Es tat unglaublich weh, Carsten nach wie vor so leiden zu sehen. „Schlaf gut.“, verabschiedete Benni seinen besten Freund. Bedrückt schaute Laura ihm hinterher, wie er in Richtung Jungenhaus davon ging. Carsten war eigentlich sehr groß, doch er wirkte nicht so, da er nie ganz aufrecht stand. An seiner Haltung sah man die vielen Jahre an Unterdrückung. Man sah, wie man ihn hatte leiden lassen und er es nie geschafft hatte zu lernen, sich zu behaupten. Auch die anderen Mädchen hatten ihm besorgt hinterhergeschaut, bis sich Öznur auffordernd an Benni wandte. „Im ernst, was ist zwischen den beiden vorgefallen?!?“ Aber natürlich sagte Benni ihnen nichts. „Lasst es doch einfach gut sein.“, meinte Susanne zu den Mädchen, bevor sie ihn weiter mit Fragen nerven konnten. „Warum?!? Ich will jedenfalls wissen, warum sich Eagle wie ein Arsch verhält!“, entrüstete sich Öznur. „Das wirst du schon noch erfahren, wenn die Zeit gekommen ist und sie bereit sind, es uns zu erzählen.“, erwiderte Susanne ruhig, während sie mit ihrer Magie die Lampions vom Himmel holte und ihr Licht löschte. „Das war bei Benni doch auch so gewesen.“ „Na ja, bei Benni hat Flo uns das eigentlich alles erzählt.“, berichtigte Ariane sie. „Aber auch erst dann, als der richtige Zeitpunkt gekommen war.“ Susanne hatte die Lampions inzwischen vollständig vom Himmel geholt und schaute Benni fragend an. „Denkst du, die Elfen würden den Rest wegräumen?“ „Wenn du den restlichen Kuchen für sie da lässt, sicher.“, antwortete er. Susanne atmete auf. „Dann geh ich auch mal ins Bett, gute Nacht.“ Janine und Lissi folgten ihr und kurz darauf gingen auch Öznur und Anne. Ariane räusperte sich, um ein verlegenes Kichern zu tarnen. „Ich vermute mal, ihr wollt noch einen Moment für euch haben. Dann bis später.“ Laura seufzte und war froh, dass das doch recht kalte Licht der Sterne ihren geröteten Wangen entgegenwirkte. „Gehst du noch mal zu Carsten?“
Benni schüttelte den Kopf. „Stimmt, vermutlich will er gerade einfach alleine sein…“ Betrübt senkte Laura den Blick. Am liebsten wäre sie Eagle hinterhergeflogen und hätte ihn grün und blau geschlagen. Aber weder das Fliegen noch das grün und blau Schlagen würde sie auf die Reihe bekommen. „Eagle ist so ein Idiot!“
„Wem sagst du das.“ Verlegen schaute Laura zu Benni hoch. Natürlich hatte sie mal wieder keinen Plan, was sie jetzt machen sollte. „Ähm, dann… Bis morgen…?“ Benni zog Laura zu sich und küsste sie sanft, was sofort wieder dieses Bauchkribbeln auslöste und Laura dazu veranlasste, den Kuss zu erwidern. Wolf schien sich seinen Kommentar, verpackt in einem Bellen, offensichtlich nicht verkneifen zu können. „Warum konnte dich Eagle nicht wieder mitnehmen?!“ Mit hochrotem Kopf funkelte Laura ihn an, doch Wolf bellte nur nochmal und verschwand im Wald. Beschämt wandte sich Laura an Benni. „Er ist gemein!“ Auch wenn sie nicht wusste, was Wolf gesagt hatte, war sie sich sicher, dass es etwas ‚Gemeines‘ war. Außerdem hatte er die Atmosphäre ruiniert! Benni verdrehte amüsiert die Augen, nahm Lauras Hand und ging mit ihr bis zum Brunnen auf dem großen Platz der Coeur-Academy, während nur das Grillenzirpen und Lauras unnatürlich lauter Herzschlag zu hören war. Am Brunnen angekommen ließ er ihre Hand los und strich ihr stattdessen ein paar Strähnen aus dem Gesicht. „おやすみ…“, meinte er nur, ehe er ihr noch mal einen kurzen Kuss gab und kurz darauf zum Jungengebäude ging. Während Laura darauf wartete, dass sich ihr Herzschlag wieder beruhigte, hörte sie in ihrem Kopf auf einmal eine belustigte Stimme. „Was würden die irdischen Mädchen jetzt sagen? Wie süüüüß.“ ‚Halt die Klappe, Leo!‘, fuhr Laura den Schwarzen Löwen in Gedanken verlegen an. Kapitel 41: Pläne schmieden --------------------------- Pläne schmieden „Laura? Kommst du noch oder willst du am Schreibtisch Wurzeln schlagen?“ „Hä? Wohin?“ Verwirrt schaute Laura von ihren Zeichensachen auf und direkt in Arianes braun-grün gesprenkelte Augen, die sie kritisch musterten. „In Lissis, Susis und Ninies Zimmer natürlich, weil… Sag mal… Du hast mir vorhin gar nicht zugehört, oder?“ Doch sie war kurz darauf viel mehr an dem interessiert, was Laura da aufs Papier gebracht hatte. Ariane prustete los. „Das- das ist doch nicht ernsthaft Benni?!?“ Natürlich wurde Laura sofort knallrot im Gesicht. „Na und?!“ Sah die Zeichnung wirklich so schlecht aus?!? Ehe sie sich versah, hatte Ariane ihr den Skizzenblock unter den Händen weggeluchst und schaute sich die Bilder an. „Nane! Lass das, bitte!!!“ Ariane kicherte. „Wieso denn?“ Weil es ihr total peinlich war?!? Mit hochrotem Kopf und flehendem Blick schaute Laura ihre beste Freundin an, denn sie wusste, dass sie bei ‚Gewalt‘ keine Chance gegen Ariane hätte. Doch diese blätterte weiterhin unbeirrt in Lauras Skizzenblock herum. Laura biss sich auf die Unterlippe. „Bitte hör auf Nane. Das ist mir echt peinlich!“ Immerhin hatte sie nicht nur einmal versucht, Benni zu zeichnen… Aber egal wie oft sie sich an ihm versucht hatte, sie hatte es einfach nie geschafft. Sie hatte es nie geschafft, ihn so zu zeichnen, wie er in Wirklichkeit war. Wie sie ihn in Wirklichkeit sah! Wie… wie ein gefallener Engel! Na gut, Lauras Bilder waren nie sehr realistisch, da sie sie immer im Manga-Stil zeichnete, aber trotzdem fehlte Benni auf jedem Bild diese Ausstrahlung, die er eigentlich hatte! Fragend schaute Ariane sie an. „Wieso peinlich? Ich find sie schön.“ Das Kichern konnte sie sich trotzdem nicht verkneifen. „Und es ist süß, wie oft du Benni zeichnest. Aber warum bin ich insgesamt nur viermal drauf?!?“ Verlegen wich Laura ihrem Blick aus, doch Ariane nutzte den Moment der Unaufmerksamkeit für sich aus. „Komm lieber mit, sonst befindet sich dieser Block sehr bald in sehr falschen Händen.“ „Nane, nein!!!“ Laura stürmte ihrer Zimmergenossin hinterher in das Zimmer von Lissi, Susanne und Janine, wo der restliche Teil ihrer Gruppe versammelt war. „Hey Leute, seht mal!“, rief Ariane schon beim Betreten des Raumes, doch da hatte Laura sie endlich einholen können und riss den Skizzenblock wieder an sich. Carsten lachte. „Hast du wirklich versucht, in Lauras Heiligtum zu schauen?“ „Mehr noch, ich hab‘s sogar geschafft.“, meinte Ariane grinsend. Laura drückte ihren Skizzenblock an sich, als würde sie ihn so vor den anderen beschützen können. Immerhin war er für sie so etwas, was für andere das Tagebuch war… Ariane seufzte. „Du brauchst dich echt nicht zu schämen, so schlecht zeichnest du wirklich nicht.“ „Na und?“ Laura genierte sich, dieses so-mehr-oder-weniger-Lob anzunehmen. „Das ist privat!“ „Kann ich nur zu gut verstehen.“, stellte Ariane kichernd fest. Natürlich schienen die anderen sofort alle verstanden zu haben, worauf Ariane hinauswollte: Dass sich Benni nicht nur einmal… nicht nur zehnmal… vielleicht noch nicht mal einhundertmal in ihrem Skizzenblock befand. Und zwar ziemlich häufig mit Engelsflügeln… Es waren aber keine perversen Bilder, oder so, was Lissi vermutlich denken würde! Laura versuchte, Benni einfach nur… einfach nur schön zu zeichnen. Halt so, wie er in Wirklichkeit auch war! …Aber wie gesagt, es gelang ihr einfach nicht. Anne räusperte sich. „Na gut, wir sind jetzt alle da.“ „Na endlich.“, kommentierte eine relativ tiefe Stimme, die aus dem Computer zu kommen schien. Neugierig schaute Laura über Susannes Schulter, die vor dem Laptop saß, um den sich auch die anderen versammelt hatten. Benni mal ausgenommen, der wie sonst auch etwas abseits an dem Fenster stand. Nicht zuletzt auch aus dem Grund, da es vor dem Laptop verdammt eng und gequetscht war. „Ihr macht eine Videokonferenz über Skype?“, bemerkte Laura irritiert und befreite sich aus dem Mädchenknäuel. „Besser so, als wenn wir uns schon wieder herumteleportieren müssen.“, bemerkte Florian amüsiert. „Ich bin immer noch überrascht, dass ihr in eurer Schwuli-Region überhaupt Internet habt.“, meinte Eagle sarkastisch. „Trifft sich gut, dasselbe hab ich mich ebenfalls bei dir gefragt. Ihr Indigoner schottet euch sonst doch auch gerne von Damon ab.“, erwiderte Florian ruhig. „Also, was ist jetzt wegen der Abendgesellschaft?“, fragte Anne genervt, bevor Eagle noch fieser werden konnte. „Wir wollten wissen, ob auch wirklich jeder von euch kommen kann.“, erklärte Konrad sachlich. „Ich bezweifle zwar, dass ihr Johannes mitnehmen wollt, aber was ist mit dem Rest?“ „Also… Eingeladen sind von uns Anne, Laura und Carsten.“, zählte Susanne die drei Adligen auf, während sich Laura zu dem Fenster flüchtete, an dem auch Benni stand und teilnahmslos nach außen schaute. Laura setzte sich auf die Fensterbank, den Skizzenblock immer noch an sich gepresst. „Und was ist mit Benni? Seine… Eltern sind im Prinzip doch auch adlig. Über sie könnte er also auch eine Einladung bekommen.“, bemerkte Janine vorsichtig. „Dann wüsste Lukas allerdings sehr bald, wer ich wirklich bin. Und mit ihm der Purpurne Phönix.“, bemerkte Benni trocken und setzte sich neben Laura auf die Fensterbank, was sofort ihr Herz höherschlagen ließ. „Und die trachten jetzt schon genug nach deinem Leben.“ Konrad seufzte „Warum musst du auch ausgerechnet der ‚Erbe des Yoru-Clans‘ sein?“ „Aber was ist denn jetzt mit dem Rest von uns?“, fragte Öznur verwirrt. „Wir sind alle so mehr oder weniger nicht adlig und daher auch nicht eingeladen.“
„Ihr könnt aber noch als Begleitung mitkommen.“, meinte Florian. „Begleitung?“ Ariane schaute den Computer verwirrt an. „In der Einladung heißt es: ‚Begleitung ist erwünscht‘.“, erklärte Carsten. „Wenn du alleine auftauchst, stehst du eigentlich immer dumm da.“ „Weshalb du auch nie mitgekommen bist.“, bemerkte Eagle bissig. Verletzt wandte sich Carsten ab. Laura hielt sich mit aller Kraft zurück, den Laptop bei Eagles Kommentar kurz und kleinzuschlagen. Er konnte ja nichts dafür, dass Eagle ein Arschloch war… „Klappe jetzt, Eagle.“, schnauzte Anne den Häuptlingssohn an. „Also, dann nehme ich mal fest an, dass Benni Lauras Begleitung ist.“, kehrte Ariane zum eigentlichen Thema zurück. „Was?!?“ Erschrocken schaute Laura sie an. Carsten lachte auf. „Komm schon, Benni war damals doch immer deine Begleitung gewesen.“ „Ja, aber damals war er auch noch mein Bodyguard…oder so… Heute ist das…anders.“ „Und dieses ‚Anders‘ ist ein ausschlaggebender Grund mehr, warum er deine Begleitung ist.“ Ariane zwinkerte ihr zu. Verlegen wich Laura den Blicken der anderen aus. Ja klar, sie freute sich riesig, dass Benni ihre Begleitung war. Aber… auf der Abendgesellschaft würde sie schon wieder ihrem Vater gegenüber treten… „Also ich nehme mal an, dass Öznur bei Eagle mitkommt.“, fuhr Janine belustigt fort. „Beschlossene Sache.“, meinte Florian bestimmt, ohne die beiden Betroffenen nach der Meinung zu fragen. Öznur zuckte überraschend gelassen mit den Schultern. „Kein Problem.“ Laura fand es bewundernswert, wie sie in dieser Situation noch so ruhig sein konnte. Sie selbst bekam bekanntlich bei der kleinsten Andeutung schon fast einen Herzinfarkt… „Na gut.“, kam Eagles Stimme aus dem Computer und klang auch nicht wirklich abgeneigt. „Und Ariane könnte bei Carsten mitgehen.“, schlug Konrad vor. Laura entging es nicht, dass Carstens recht dunkle Haut bei diesem Vorschlag einen rötlichen Schimmer bekam. Sie lachte in sich hinein. Carsten mochte Ariane?!? Diese zuckte mit den Schultern. „Lieber Carsten als Eagle.“ Laura hörte ein nicht sehr erfreutes Schnauben aus dem Laptop kommen, das offensichtlich von besagtem Eagle stammte. „Du hast einen seltsamen Geschmack, Sommersprösschen.“ „Da bist du der erste, der das behauptet.“, konterte Ariane. „Nicht streiten Leute, bitte.“, schritt Janine schlichtend ein. „Was ist mit Lissi, Susi und mir?“ „Hmmm… Sollte Janine wirklich mit? Immerhin war auch die Regierung von Mur häufig bei den Treffen anwesend.“, überlegte Anne kritisch. „Stimmt, das könnte ganz schön gefährlich für dich werden.“, bemerkte Ariane besorgt. Geknickt senkte Janine den Blick. „Aber ich will nicht als einzige zurückbleiben müssen…“ „Was ist, wenn du dich als Elbin verkleidest?“, schlug Florian vor. „Du kannst als meine Begleitung mitkommen. Mehr als spitze Ohren würdest du sowieso nicht brauchen.“ Begeistert klatschte Ariane in die Hände. „Stimmt, Ninie passt perfekt in das Bild einer Elbin!“ Konrad kicherte. „Du fragst nicht die Prinzessin, Flo?“ „Wieso sollte ich?“, fragte Florian ruhig. „Ohoooo, eine Prinzessin also.“ Öznur lachte auf. „Und ich hab mich schon gefragt, warum du anscheinend keine Freundin hast!“ „Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun.“, meinte Florian und klang deutlich desinteressierter bei diesem Thema als Laura gedacht hätte. „Frag dich lieber, wie Susanne und Lissi noch mitkönnen.“ „Susanne kann ruhig als meine Begleitung mitkommen.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Was?!?“, die übrigen Mädchen schauten sie verwundert an. „Das war so klar, Banani! Es ist mehr als eindeutig, dass du vom anderen Ufer kommst!“, rief Lissi plötzlich aus, „Aber nicht meine Schwester, das lasse ich nicht zu!“ Gereizt zischte Anne. „Soll Susanne mitkommen, oder nicht? Abgesehen davon geht es dich einen Scheißdreck an, an wem oder was ich interessiert sein könnte.“ Laura entging nicht, dass Lissis Blick trotz allem noch kritisch war, bis sie schließlich meinte: „Naaaa guuuut… Und was ist mit mir?“ „Rina würde mich grün und blau schlagen, wenn ich eine andere Begleitung als sie hätte…“, meinte Konrad und lachte verlegen auf. Auf einmal hörten sie von weiter entfernt ein: „Stimmt genau!“ Die übrigen mussten lauthals loslachen, bis auf Lissi, die sich entrüstete: „Aber ich will auch mitkommen!“ „Na ja… Wir wissen noch nicht mal, ob du dich auf einer Abendgesellschaft überhaupt richtig zu benehmen weißt.“, meinte Anne bissig. Verärgert funkelte Lissi sie an. „Weil du das auch so genau wissen kannst, oder?“ Susanne legte ihrer Schwester eine Hand auf die Schulter. „Das stimmt, Lissi kann sich vorbildlich benehmen, wenn sie nur will.“ „Aber es gibt keinen mehr, der noch eine freie Begleitung hat.“, stellte Janine fest. „Ach was, Lissi kann ruhig auch bei mir noch mitkommen, wenn sie will.“, schlug Eagle vor. Ariane kratzte sich am Hinterkopf. „Ääääähm… Damon an Eagle, du gehst mit Öznur auf dieses komische Treffen.“ „In dem Schreiben heißt es nur ‚Begleitung ist erwünscht‘, eine Einschränkung wird nicht erwähnt. In Mur und Terra haben einige sogar fünf Tussen an den Armen hängen.“, erklärte er nüchtern. „…So könnte Lissi jedenfalls mitkommen, auch wenn das ganz schön…“ „…pervers ist?“, beendete Anne Susannes Satz. „Nur, wenn das für dich okay ist, Öznur.“, meinte Eagle und klang zu Lauras Überraschung ziemlich sanft. Öznur schnaubte. „Mir doch egal, wenn wir so jedenfalls komplett sind.“ Laura und Ariane tauschten einen besorgten Blick aus. Es war Öznur eindeutig nicht egal. Laura musste Florian schon Recht geben, Eagle und Öznur passten eigentlich ziemlich gut zusammen. Aber Eagle war nun mal… ein Arschloch. Und solange er diese Eigenschaft hatte, würde aus ihm und Özi nie was werden können. Konrad seufzte. „Jaaa, jaaa… Der jugendliche Übermut heutzutage. Ich hab so was damals nicht gemacht… Man hab ich was verpasst.“ „Von wegen, gut so!“, hörten sie Konrads Verlobte von weiter entfernt erneut rufen, was wieder dafür sorgte, dass der größte Teil der Gruppe loslachen musste. Aus den Augenwinkeln merkte Laura, wie Benni den Kopf schüttelte. „Und ihr meint immer, ich sei lebensmüde.“ „Ich gehe jetzt nicht davon aus, dass Özi Eagle gleich umbringen wird, nur, weil er auch noch Lissi mitnimmt.“, sinnierte Ariane. „Das gesamte Unterfangen ist nichts weiter als ein Tanz auf dem Vulkan.“, erwiderte Benni ruhig. „Ihr bringt damit unnötig viele in Lebensgefahr.“ „Was?!? Wieso denn?“, fragte Janine betroffen. „Na ja… Stimmt schon, Lukas hat dich damals gesehen, als wir in Ivory die Feuerblume geholt haben…“ Eagle überlegte. „Aber vermutlich weiß er trotzdem nicht, dass du eine Dämonenbesitzerin bist.“ „Genau, als Flos Begleitung könnte es auch genauso gut sein, dass du seine Freundin bist und damals einfach nur als Hilfe mitgekommen warst.“, meinte Öznur zuversichtlich. „Nicht nur Janine, ihr begebt euch alle in Gefahr.“ Ariane schaute Benni verwirrt an. „Schön, dass du dich anscheinend um uns sorgst und besonders, dass du uns das inzwischen sogar sagen kannst, aber ich sehe daran nicht wirklich was Gefährliches.“ Carsten strich sich nachdenklich über seine Narben. „Na ja, Benni hat schon Recht. Mars ist nicht dumm. Er kann sich garantiert denken, dass nahezu alle Dämonenbesitzer auf der Abendgesellschaft anwesend sein werden.“ „Aber er hat offensichtlich nicht vor, uns zu töten. Sonst hätte er das bei Johannes damals ohne Probleme machen können.“, sinnierte Konrad, „Er möchte sich einfach sicher sein, dass wir keine Gefahr für ihn darstellen.“ „Und das geht am besten, wenn er uns irgendwie in seiner Gewalt hat.“, beendete Florian Konrads Gedankengang. „Wir sollten also schauen, dass Johannes derweil irgendwo sicher aufgehoben ist, sonst nutzt Mars diese Gelegenheit aus.“ Carsten nickte. „Vielleicht bekommen wir von den Direktoren Unterstützung… Hier auf der Coeur-Academy ist er sicher.“ Janine wandte sich an Benni. „Und wir können uns inzwischen auch ganz gut selbst verteidigen.“ Da musste Laura ihr Recht geben. Sie hatte zwar seit ihrem Geburtstag nur eine einzige richtige Trainingsstunde gehabt, aber nun hielt sie länger durch und die anderen waren sowieso allesamt keine schlechten Kämpfer mehr. Noch lange nicht so gut wie Carsten, Konrad, Eagle und Florian, oder gar wie Benni, aber immerhin ganz gut. Seufzend verschränkte Benni die Arme vor der Brust, als schien er eigentlich nicht wirklich diskutieren zu wollen. Laura kaute auf ihrer Unterlippe herum und zog die Beine an. Inzwischen wusste sie, dass man Benni am besten Glauben schenken sollte. Er hatte halt einen verdammt guten Instinkt. Das hatte er oft genug unter Beweis gestellt. Nur die anderen schien er damit noch nicht überzeugt haben zu können. Vorsichtig legte Laura ihm eine Hand auf den Arm und als Benni ihren Blick erwiderte, lächelte sie ihn aufmunternd an. Doch Benni entfernte ihre Hand und stand auf. „Ich werde euch ja offensichtlich nicht davon abbringen können.“ „Wir müssen nun mal herausfinden, was genau Mars vorhat. Sonst wären noch mehr Leute in Lebensgefahr, nicht nur wir.“, meldete sich Susanne zu Wort. Laura schaute die Gruppe fragend an, auch wenn Bennis Abweisung sie verletzt hatte. „Wie genau wollt ihr das eigentlich machen? Lukas ist zwar total bescheuert, aber nicht dumm… Er wird garantiert nicht auf der Abendgesellschaft herumposaunen, dass er auf Mars‘ Seite ist, der am liebsten unsere ganze Welt zerstören würde.“ Lissi kicherte. „Vielleicht wird er mit etwas Alkohol ja gesprächiger.“ Susanne schaute ihre Schwester irritiert an. „Du möchtest ihn abfüllen?“ „So abwegig ist der Gedanke eigentlich nicht…“, überlegte Florian. „Ich kann mir schon vorstellen, dass Lissi das schaffen würde und er hat sie auch noch nie gesehen, wenn ich mich nicht täusche.“ „Und was war in Spirit?“, erinnerte Konrad. „Da hat Benni Lukas so grün und blau geschlagen, ich glaube der wusste danach nicht mal mehr, wo oben und unten war.“, bemerkte Anne schadenfroh grinsend. Benni schien von der ganzen Aktion immer noch nicht überzeugt. „Wie könnt ihr allesamt so naiv sein?“ „Und wie kannst du so pessimistisch sein?“ Ariane schüttelte seufzend den Kopf. „Was will Mars denn groß ausrichten? Abgesehen davon ist er immer noch in dieser tiefsten Schlucht der Unterwelt gefangen.“ „Ist das für euch die Garantie zur Sicherheit?“ Missbilligend wandte sich Benni ab. „Ihr unterschätzt ihn.“ „…Du hast Angst vor ihm.“, bemerkte Eagle leicht amüsiert. Laura fiel auf, wie Benni die Hand zur Faust ballte. „Nicht vor ihm. Vor dem, wozu er in der Lage ist. Ihr wart nicht dabei, als seine Flammen Eufelia-Sensei in Sekundenschnelle ermordet haben. Oder als er mich in Gestalt des Feuer-Phönix angegriffen hat.“ Trotz seiner ruhigen Stimme wusste Laura, dass Benni tatsächlich Angst vor dem hatte, was Mars noch alles machen könnte. Wen er alles verletzen oder gar töten könnte… Genauso wie die anderen, die betroffen den Blick abwandten. Vorsichtig nahm Laura Bennis zitternde Faust und zog ihn wieder zu sich auf die Fensterbank, wo sie ihre Wange an seinen Handrücken schmiegte. Seine Hand fühlte sich in Vergleich zu ihrem Gesicht so schön kühl an… Was vermutlich daran lag, dass Laura natürlich wieder mal leicht erröten musste. Sich offensichtlich geschlagen gebend öffnete Benni seine Faust und strich ihr einige Strähnen aus dem Gesicht. „Aber uns will er doch gar nicht töten, nur dich.“, bemerkte Ariane. Abwehrend hob sie die Hände. „Ich wollte damit nicht sagen, dass das gut ist! Also… Aber so bist du jedenfalls in unserer Nähe sicher und ich glaube nicht, dass du Laura von der Seite weichen würdest. So kann dich jedenfalls kein Monster-Feuer-Vieh angreifen.“ „Es geht nicht um mich.“, erwiderte Benni nur, ging aber nicht weiter darauf ein. Doch Carsten schien im Gegensatz zu einigen anderen verstanden zu haben, was er meinte. „Stimmt, wenn du neben Jacob und Samira Yoru stehst ist die Verwandtschaft offensichtlich… Aber sie waren doch auch damals schon öfter auf denselben Treffen, auf denen du warst und es hat trotzdem keiner bemerkt.“ „Das heißt also, Benni darf nicht in die Nähe seiner Eltern kommen?“, fragte Janine betroffen. Die Geschichte, dass Bennis Eltern ihren Sohn nur aus dem Grund ausgesetzt hatten, um ihn vor Mars zu beschützen schien besonders sie gerührt zu haben. Ja klar, Laura fand das zwar auch rührend, aber sie hatte die Folgen davon miterlebt. Sie fand Bennis Eltern deswegen nicht böse, immerhin hatten sie keine andere Wahl gehabt. Aber Laura war sich ziemlich sicher, dass Benni nicht so… abweisend geworden wäre, wäre er bei ihnen aufgewachsen. Auch wenn er sich inzwischen stark zum Guten gebessert hatte, worüber Laura richtig, richtig froh war. Vorsichtig lehnte sie ihren Kopf gegen Bennis Schulter, während sie Konrad aus dem Computer sagen hörte: „So wäre es am sichersten. Es wäre auffälliger, würden Jacob und Samira ausgerechnet jetzt nicht kommen. Sie waren bis auf wenige Ausnahmen eigentlich immer auf den Abendgesellschaften zu Gast gewesen. Und wenn Laura hin gehen würde aber Benni nicht, wäre das genauso verdächtig. Solange sie sich unauffällig aus dem Weg gehen und sonst normal verhalten wüsste ich nicht, was schiefgehen sollte. Immerhin sind sie teils unbewusst die ganze Zeit schon damit durchgekommen.“ „Trotzdem ist es sehr riskant. Das alles.“ Missbilligend schüttelte Benni den Kopf. „Doch mir glaubt sowieso nie jemand.“ Laura zuckte bei seinem Kommentar zusammen, denn natürlich fühlte sie sofort angesprochen. Immerhin war sie es, die ihm damals beim Thema Schwarzer Löwe nicht geglaubt hatte… Carsten biss die Zähne zusammen. „So ein Unsinn! Aber auf Mars‘ nächsten Schritt abwarten ist noch riskanter. Bisher hatten wir fast immer Glück gehabt, aber weiß Gott, wie lange das noch anhält.“ „Da hat Carsten Recht…“ Susanne nickte nachdenklich. „Aber wir sollten trotzdem vorsichtig sein. Besonders du Lissi, wenn du wirklich versuchst, Mars‘ Pläne aus Lukas zu quetschen.“ Lissi setzte ihre Unschuldsmiene auf. „Was für Pläne, Susi? Ich will einfach nur Lauras absolut heißen Cousin näher kennenlernen.“ Sie grinste ihre Schwester an. „Keine Angst, ich komm schon zurecht. Abgesehen davon kann ich so einigen gewissen Leuten zeigen, dass ihr sehr wohl auf mich angewiesen seid.“ Anne verdrehte auf Lissis Kommentar hin spöttisch die Augen, aber Susanne kicherte. „Ich weiß, dass du das kannst. Aber bitte sei trotzdem vorsichtig.“ „Und übertreib’s nicht.“, mahnte Florian sie. „Wenn du merkst, dass er Verdacht schöpft, suchst du sofort das Weite, verstanden?“ „Jaaaaa, Flöhchen.“, antwortete Lissi wie ein brav erzogenes kleines Mädchen. „Das gilt für alle.“, wandte sich Konrad auch an den Rest. „Benni hat schon Recht, wir bringen mit diesem Unterfangen nicht nur uns selbst in Gefahr, sondern auch alle, die uns nahestehen. Falls irgendetwas passieren sollte, haut ihr sofort ab oder ruft um Hilfe.“ Die gesamte Gruppe nickte. „Na also.“ Ariane grinste Benni an. „Und falls wirklich was passiert, kannst du uns jedenfalls unter die Nase reiben, dass du Recht gehabt hattest.“ Benni seufzte. „Falls wirklich was passiert ist es bedeutungslos, wer Recht oder Unrecht hatte.“ „Dann darf halt nichts passieren.“, meinte Öznur bestimmt. „Seh‘ ich auch so.“, gab Eagle ihr Recht. „Dann geh ich davon aus, dass ihr übermorgen im Laufe des Tages kommt.“ Carsten nickte. „Ich denke, Janine kann sich inzwischen selbst nach Ivory zu Florian teleportieren. Der Rest von uns kommt dann nach Indigo, bis auf Laura deren Eltern dieses Jahr immerhin die Gastgeber sind.“ Laura schaute Benni fragend an. „Und was ist mit dir?“ Auch wenn sie es schon verstehen konnte, dass Benni vermutlich lieber soweit es ging ihrem Vater aus dem Weg gehen wollte… Er war ihre Begleitung! „Wie du willst.“, antwortete Benni nur. Lauras Wangen färbten sich rötlich. Natürlich wollte sie so oft wie möglich bei ihm sein! …Aber so offensichtlich konnte sie das nicht sagen. Doch Benni hatte ja sowieso einen sechsten Sinn für ihre Gedanken. Was sie sowohl gut als auch schlecht fand. Allerdings nahm Konrad ihr die komplizierte Antwort ab. „Benni kommt am besten mit Rina und mir, immerhin sind wir seine Erziehungsberechtigten und so lenkt das vielleicht von seinen leiblichen Eltern ab.“ Enttäuscht senkte Laura den Kopf, als Benni einen Arm um sie legte und sie näher an sich zog. Natürlich hatte er ihre Gedanken erahnen können! Während sie sich glücklich und verlegen zugleich an ihn kuschelte, hörte sie Lissi begeistert rufen: „Ihr wisst, was das heißt Mädels: Shopping!“ Ariane stöhnte auf. „Neeeiiiin.“ „Oh doch!“, meinte Lissi bestimmt. „Das ist eine Abendgesellschaft der Adligen, Nane-Sahne! Wir müssen entsprechend aussehen, immerhin wollen wir unsere armen Begleitungen doch nicht blamieren!“ „Warum können wir nicht einfach die Kleider vom Neujahrsball nehmen?“, fragte Ariane genervt, die Shoppen ganz eindeutig nicht leiden konnte. „Also wirklich.“ Tadelnd schnalzte Lissi mit der Zunge. „Diese Kleider waren für eine etwas elegantere Abendparty zwar ganz in Ordnung, aber für ein Treffen hoher Tiere viel zu schlicht.“ „Und was ist, wenn wir das Geld dafür nicht haben?“, fragte Öznur und klang selbst leicht gereizt. Lissi zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, Özi-dösi.“ Florian seufzte. „Also Janines Kleid soll sowieso elbenhaft aussehen. Da frage ich mal eine Freundin, ob sie hilft.“ „Also die Prinzessin.“, bemerkte Konrad kichernd. „Warum musst du andauernd solche Witze machen?“, fragte Florian ihn genervt. Einige der Mädchen tauschten amüsierte Blicke aus, bis Carsten total verlegen meinte: „Du kannst ein Kleid von mir haben, Nane… Also- nein! So meinte ich das nicht, ich- ich gebe dir das Geld dafür!“ Danach wurden keine amüsierten Blicke mehr ausgetauscht, sondern viele der Mädchen lagen sofort vor Lachen auf dem Boden und aus dem Lautsprecher des Laptops konnte Laura hören, dass es den drei Jungs ähnlich erging. Sie selbst bekam schon Bauchschmerzen. Carsten würde garantiert richtig gut in einem Kleidchen aussehen! Kichernd klopfte Ariane ihm auf die Schulter. „Danke, ich weiß das sehr zu schätzen.“ Mit hochrotem Kopf brachte Carsten nur noch ein Nicken zustande. Laura versuchte sich zusammenzureißen. Sie war immerhin genauso verpeilt wie er, wenn es um Beziehungen ging… Und ihr Bauch tat allmählich ganz schön weh. „Na gut, dann spendiere ich Öznur ein Kleid.“, meinte Eagle und hatte es natürlich von Anfang an besser formulieren können als Carsten. Öznur schnaubte. „Das ist auch das mindeste, nachdem du mich zu nichts weiter als eine von vielen degradiert hast.“ „Eine von zweien.“, berichtigte er, aber zufrieden stimmte das Öznur noch lange nicht. Anne schnaubte. „Muss ich Susanne jetzt auch ein Kleid kaufen?“ Sofort prusteten wieder fast alle los. „Auf jeden Fall!“, rief Öznur lachend. „Nein, das ist nicht nötig.“, brachte Susanne ebenso belustigt hervor. „Lissis und meine Eltern sind zwar nicht adlig, aber als Oberbürgermeister von Kara doch recht wohlhabend. Was denkt ihr, woher Lissi das ganze Geld für ihre Kleidungen hat?“ Erleichtert atmete Eagle auf. „Ein Glück, dann bleibt von meinem Taschengeld doch noch was übrig.“ „Sonst wäre dein monatlicher Zigarettenvorrat den Bach runtergegangen, was?“, bemerkte Anne spöttisch. „Ja, wäre er.“, antwortete er ruhig. „Dann sollte er Lissi lieber doch ein Kleid kaufen.“, murmelte Laura und spürte, wie Benni zustimmend nickte. Eigentlich war es ihr vollkommen egal, ob sich der, der den armen Carsten ständig in die Verzweiflung stieß, die Lunge kaputt rauchte. Aber seit Benni wegen Eagles Raucherei das Eisblumengift nicht hatte bemerken können, würde sie Eagle bei jeder Zigarette, die er anzündete, am liebsten eine reinhauen. …Auch, wenn das bei Lauras Kraft nichts bewirken würde. Was vermutlich der Grund dafür war, warum sie es noch nie gemacht hatte. „Okay, dann haben wir jetzt alles geklärt, oder?“, fragte Konrad, „Rina ist nämlich immer noch ganz schön sauer wegen meinen Kommentaren vorhin und wartet schon mit der Schere auf mich…“ „…Mit der Schere? Interessante Waffe. Wofür?“, fragte Anne belustigt. Anscheinend hatte sich Rina in Konrads Arbeitszimmer geschlichen, denn plötzlich stand sie neben ihm, wie Laura soweit es ihr möglich war auf dem Laptop erkennen konnte. „Oh, ich muss Konrad noch für übermorgen die Haare schneiden. Das hat er jetzt davon.“, meinte Rina schadenfroh. Konrad stöhnte auf. „Bitte nicht, ich mag diese Länge.“
„Selbst schuld!“ Rina schlug ihn auf den Hinterkopf. „Dein ‚jugendlicher Übermut‘ ist dieses Mal zu sehr mit dir durchgegangen.“ Konrad schüttelte lachend den Kopf. „Dann musst du aber auch Benni die Haare schneiden, wenn er übermorgen kommt.“ „Nur über meine Leiche.“, erwiderte Benni und klang dabei ruhig und sarkastisch zugleich. Trotzdem, oder gerade deswegen, bekam Laura wieder einen Lachanfall. Rina überlegte. „Lass mal sehen.“ Mit einer Handbewegung scheuchte sie durch den Laptop die Mädchen beiseite, bis diese eine Gasse gebildet hatten, sodass Rina Benni und Laura betrachten konnte, wie sie auf der Fensterbank saßen, Laura sich langsam von ihrem Lachanfall beruhigte und Benni sie immer noch im Arm hielt. Schließlich meinte Rina: „Ich sehe keinen Grund, Benni die Haare zu schneiden. Er ist vorbildlich lieb zu seiner Freundin.“ Und wieder lachten die übrigen Mädchen los. „So werdet ihr bestraft?“, fragte Laura amüsiert. Benni nickte. „Irgendwie schon… Danke.“ Trotz ihrer geröteten Wangen musste Laura grinsen und strich Benni durch seine seidig weichen, platinblonden Haare. „Ein Glück, dass du ihr entkommen bist. Ich mag deine Haare genau so, wie sie jetzt sind.“ Total verlegen vergrub sie ihr nun noch mehr gerötetes Gesicht wieder in Bennis Brust. „…Und das war peinlich.“ Aber es war halt so! Sie fand kurze Haare an Jungs schrecklich! Na gut, nicht immer, es gab auch welche, denen das stand. Aber trotzdem mochte sie es, wenn sie etwas länger waren. Vermutlich hatten ihre ganzen Mangas sie in diesem Punkt beeinflusst. Andererseits wollte Laura aber auch nicht, dass Benni so lange Haare wie Carsten hatte, oder gar wie Eagle. Sie fand halt genau diese Länge toll! Benni erwiderte nichts darauf, sondern strich ihr einfach nur übers Haar, aber Laura war sich eigentlich sicher, dass er sich darüber gefreut hatte… Tief im Inneren… Wenn man sonst nur so Sachen wie Monster oder Onkel oder sonst so was in der Art zu hören bekam, freute man sich doch garantiert mal über ein Kompliment! Okay, das ‚eiskalter Engel‘ vom Direktor konnte man auch in gewisser Weise als Kompliment betrachten, aber… es kam vom Direktor! Vom Laptop her hörte Laura Konrad schnauben. „Du Glückspilz, Benni.“ Rina klatschte in die Hände. „Auf jetzt.“ Seufzend verabschiedete sich Konrad und ging offline. „Also da ist es eindeutig, wer die Hosen anhat.“, bemerkte Eagle belustigt. „Na gut, ich geh dann auch mal. Bis übermorgen.“ Auch er und Florian verließen die Videokonferenz. Die Mädchen wandten sich an Benni und Laura.
„Da hast du noch mal Schwein gehabt, Benni.“, bemerkte Ariane lachend. „Bedank dich lieber mal bei Laura.“ „Hat er schon.“, meinte Laura verlegen, war aber auch selbst leicht amüsiert. Öznur kicherte. „Du achtest also doch jedenfalls etwas auf dein Aussehen.“ „Oh nein, gar nicht.“, belustigt verdrehte Carsten die Augen. „Das Haareschneiden sieht in der Familie Ritus aber meistens so aus, dass es eigentlich der Butler macht. Rina gibt aber so nervtötende Anweisungen, dass es in einem Chaos ausartet und er ihr schließlich einfach die Schere in die Hand drückt.“ Benni nickte. „Am Ende hat man nichts davon als Kopfschmerzen.“ „…Und eine ruinierte Frisur.“, ergänzte Carsten lachend. „Oh jeee, das ist ja wirklich eine Bestrafung.“, bemerkte Öznur mitleidig. „…Du meinst wegen der ruinierten Frisur und nicht wegen der Kopfschmerzen.“, fiel Anne nüchtern auf. „Natürlich!“, rief Öznur empört. „Kopfschmerzen verschwinden wieder, aber eine ruinierte Frisur lässt sich nicht so schnell beheben, außer durch noch kürzer schneiden. Und wer will das schon?!“ Anne schüttelte den Kopf „Deine Probleme will ich haben.“ „In der Tat. Özi-dösi muss sich jetzt noch keine Gedanken darum machen, was sie anzieht. Das macht Eagle-Beagle ja schon für sie.“ Lissi kicherte. „Ich denke, er wird sich ganz schön Mühe geben, nachdem du so verärgert gewirkt hast.“ Öznur verschränkte schnaubend die Arme vor der Brust. „Das hoffe ich für ihn.“ „…Magst du ihn eigentlich wirklich?“, erkundigte sich Janine schüchtern. Seufzend ließ sich Öznur auf eins der drei Betten fallen. „Jaaa, ich mag ihn schon, aber er kann manchmal halt so… so ein Arsch sein!“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann mir keine Beziehung mit jemandem vorstellen, der Tag aus Tag ein seinen kleinen Bruder drangsaliert. Halbbruder hin oder her, Carsten ist immer noch sein Bruder!“ Bedrückt wandte Carsten den Blick ab. „Obwohl er so bescheuert ist, scheinst du ihn trotzdem zu mögen… Oder irre ich mich da?“, fiel Susanne auf. Carsten setzte sich neben Laura und Benni auf die Fensterbank. „Wie ihr schon gesagt habt… Er ist mein Bruder. Ich kann ihn nicht hassen…“ Traurig musterte Laura ihren besten Freund. Es schien ihn wirklich fertig zu machen, dass sein eigener Bruder ihn so verabscheute… „Ich verstehe, was du meinst…“ Laura klammerte sich an Bennis Arm. „Auch, wenn ich letztens erfahren musste, dass Lucia und Luciano in Wahrheit alles andere als freundlich und zuvorkommend waren… dass Lukas sie beeinflusst hatte… und dass sie in Wirklichkeit total gemein zu Benni waren… Ich kann sie trotzdem nicht hassen!“ „Aber zu dir waren sie jedenfalls freundlich, wenn ich das richtig verstanden habe.“, meinte Anne schulterzuckend. „Dich haben sie nicht wirklich gehasst. Bei Carsten ist das anders.“ „Hey, mich können Madre und Padre auch nicht wirklich leiden.“, meldete sich nun auch Lissi zu Wort. „Und ich hatte mir am Anfang auch noch erhofft, dass sich das ändern wird.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber es hat sich nichts geändert. Und irgendwann verschwindet die Zuneigung automatisch, auch wenn sie zur Familie gehören.“ „Es tut mir leid…“ Betroffen wandte Susanne den Blick ab. „Ach was Susi. Ich hab doch gesagt, dass du nichts dafür kannst. Das ist nun mal so!“ Nachdenklich stemmte Ariane die Fäuste in die Hüften. „Vielleicht braucht unsere liebe Lissi deswegen so viele Beziehungen… Weil die Zuneigung der Eltern ihr verwehrt geblieben ist.“ „Das ist jetzt doch sehr weit hergeholt.“, kommentierte überraschender Weise Benni ihre Aussage. Carsten prustete los. „Stimmt, deiner These nach müsste Benni dann zu dem totalen Herzensbrecher geworden sein. Immerhin ist er komplett ohne Eltern aufgewachsen.“ „Er ist doch der totale Herzensbrecher. Wenn auch ungewollt.“ Öznur zuckte mit den Schultern. „Ich will nicht wissen, wie viele Mädchenherzen gebrochen waren, als Benni nach den Osterferien eine Freundin hatte.“ Sie zwinkerte Laura zu, die natürlich wieder mal rot wurde. Aber… Irgendwie fand sie es auch schön, als Bennis Freundin bezeichnet zu werden! …Wenn man sich erst mal dran gewöhnt hatte. Carsten schüttelte lachend den Kopf. „Aber er ist nicht so ein Macho, wie Eagle.“ „Und der hatte elterliche Zuneigung.“, bemerkte Laura. „Na ja… Ist seine Mutter nicht sehr früh gestorben?“, erinnerte sich Ariane mitfühlend. Carsten nickte. „Kurz vor meiner Geburt.“ „Also fehlt die elterliche Zuneigung doch zum Teil.“, verteidigte Ariane ihre These. „Und Benni beweist immer noch das Gegenteil.“, widersprach Janine lachend. „Und wo wir schon bei elterlicher Zuneigung sind: Davon hatten Laura und ich auch nicht so viel.“, ergänzte Anne. „Benni ist ein Fall für sich!“, meinte Ariane abwehrend. „Und du auch, Anne. Und Laura… Tja, die war sowieso von Anfang an total Benni-vernarrt!“ Natürlich wurde Laura bei Arianes Bemerkung schlagartig knallrot. Benni-vernarrt?!? Benni-vernarrt?!?!? „Okay, jetzt übertreibt ihr echt!“, versuchte Laura sich zu verteidigen, während die Mädchen und Carsten wie immer lachen mussten. Carsten hielt im Lachen inne, schaute Laura an, wie sie immer noch an Benni gekuschelt war und schüttelte schließlich wieder lachend den Kopf. „Nein, Ariane trifft es perfekt. Es könnte sogar sein, dass sie etwas untertreibt.“ Laura war das alles todpeinlich. Okay, dann war sie halt ‚Benni-vernarrt‘, aber warum mussten die das so direkt sagen? So direkt vor Benni?!? Das Lachen der übrigen Mädchen und Carsten hörte sich auf einmal so unerträglich laut an, dass Laura die Hände auf ihre Ohren presste. Doch es schien nicht zu helfen. Warum musste eigentlich immer sie diejenige sein, über die gelacht wurde?!? Schließlich hielt Laura es nicht mehr aus. „Hört auf!“, brüllte sie unter Tränen, „Hört auf!!!“ Mit einem Schlag war es still im Raum, dennoch hörte Laura ein schreckliches Dröhnen in ihren Ohren. „Laura, so war das nicht gemeint, wir wollten nicht-“, setzte Ariane an und legte ihre Hand auf Lauras Arm, doch sie schüttelte sie grob ab. „Nein, ich will das nicht mehr hören! Immer müsst ihr mich auslachen! Immer wieder!“ „Wir lachen dich nicht aus.“, versuchte Janine sie zu beruhigen. „Doch, tut ihr!“, schluchzte Laura. „Nein, überhaupt nicht.“, versicherte Carsten ihr und strich tröstend über ihren Rücken. „Dass wir lachen ist alles andere als böse gemeint. Wir finden es… irgendwie süß, dass du Benni so sehr magst und das auf deine Art und Weise zeigst.“ „Ja, so wie wir vorhin alle bei Carstens Kommentar lachen mussten. Es war halt total süß!“, meinte Öznur kichernd, woraufhin Carsten knallrot im Gesicht wurde. Ariane nickte. „Und wie wir hin und wieder über Benni lachen, weil auch er richtig knuffig sein kann, wenn er bei dir ist… Wie jetzt.“ Erst jetzt bemerkte Laura, dass Benni sie trotz ihrer Heulattacke immer noch im Arm hielt, was ihren Herzschlag sofort beschleunigte. Schniefend wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen weg. „Trotzdem ist es gemein… Mir ist das halt peinlich!“ „Deine Gefühle für Benni müssen dir doch nicht peinlich sein.“, bemerkte Öznur verwirrt. „Ja, doch! …Nein! …Ich…“ Laura hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte. Es war ihr halt peinlich!
Nicht ihre Gefühle, sondern die Art, wie sie ihre Gefühle zum Ausdruck brachte! Und besonders, dass die anderen sie immer wieder ins Lächerliche zogen… Wenn auch unbeabsichtigt. Und das Schlimmste war sowieso, dass das alles auch noch immer wieder in Bennis Gegenwart passieren musste! Ariane seufzte. „Benni, wie wäre es, wenn du mal was dazu sagen würdest?!“ Laura wollte es gar nicht erst hören, wie peinlich er sie fand… Denn Benni konnte leider ziemlich direkt sein. „Was denn?“, kam Bennis Gegenfrage. Ariane stöhnte auf. „Was weiß ich?!“ „Am besten irgendetwas Schnulziges. Dass du sie nicht peinlich, sondern total süß findest, oder so in der Art.“, schlug Öznur kichernd vor. So ein Unsinn, dachte Laura bedrückt. Ich bin nicht süß, sondern einfach nur todpeinlich. Sie fragte sich, warum sich Benni überhaupt noch mit ihr abgab… „So etwas liegt mir nicht.“, erwiderte Benni auf Öznurs Vorschlag. Na also. Betrübt senkte Laura den Kopf. Benni konnte nicht lügen, also blieb ihm nichts Anderes übrig, als die Wahrheit zu umschreiben. Und so, wie er das gesagt hatte, wollte er ihr die grausame Wahrheit anscheinend ersparen: Dass er sie nämlich nicht total süß, sondern peinlich fand. Laura wollte sich deprimiert aus seiner Umarmung lösen, doch genau in diesem Moment verstärkte Benni seinen Griff und drückte sie an sich. „Und du hast das natürlich sofort missverstanden.“, bemerkte er nüchtern. Lauras Gesicht an Bennis Brust fühlte sich kochend heiß an. Also meinte er damit, dass er sie doch süß und nicht peinlich fand? …Oder hatte er gedacht, dass sie vorhin das gedacht hatte und sie doch so fand, wie ihr eigentlich erster Gedanke war?!? …Nein, eigentlich müsste er damit gemeint haben, dass seine Aussage noch lange nicht hieß, dass er sie peinlich statt süß fand… Oder doch nicht?!?
Laura war total verwirrt. Aber er hatte seine Umarmung verstärkt und das hätte er doch nie und nimmer gemacht, wenn er sie peinlich fand… …Also fand er sie doch süß!!! Zwar war Laura immer noch vollkommen durcheinander, aber irgendwie auch glücklich, wenn ihr Gedankengang tatsächlich stimmte. ~*~ Sehr zu Arianes Bedauern hatte sich Lissi trotzdem noch durchsetzen können, was die Shoppingtour betraf, weshalb sich jetzt einige der Gruppe auf der Einkaufsmeile in Jatusa befanden. Benni hatte sich fein rausreden können, da er am Samstag ja auch noch nachmittags Unterricht hatte. Ariane würde jetzt auch viel lieber Trainieren, als Einkaufen… Laura war auch aus dem Schneider, da sie bei der Abendgesellschaft einen Kimono tragen würde. Es hatte zwar eine längere Diskussion gegeben, warum sie nicht jedenfalls wieder ein Kimono-ähnliches Kleid trägt, aber Laura traute sich das einfach nicht in Gegenwart ihres Vaters… Ariane mochte Leon Lenz kein bisschen. Sie verstand schon, warum er nicht ganz begeistert von Benni war. Immerhin hatte sie ihn anfangs aufgrund seiner verschlossenen Art auch ziemlich unsympathisch gefunden. Aber im Prinzip war Benni eigentlich richtig nett. Sarkastisch, aber doch nett. Und zu Laura war er nicht nur nett, sondern total lieb, was dafür sorgte, dass sogar Ariane ihn inzwischen gern hatte. Wenn Lauras Vater nur das sehen würde, was sie und die anderen mitbekamen… Er würde wissen, dass Benni der Richtige für seine Tochter wäre. Und inzwischen wusste Ariane genau, dass Benni Lauras Gefühle erwiderte. Auch, wenn er selbst sie vermutlich immer noch nicht wirklich verstand. Ariane hatte Übung darin bekommen, Bennis Gefühle zu erkennen, auch wenn sich diese selten in seiner Mimik zeigten. Doch seine Taten sprachen dafür umso lauter. Die Zuneigung, die er für Laura empfand, war darin eindeutig zu sehen. Aber Leon Lenz machte einen auf Oberhaupt der Familie Capulet! Hoffentlich würde er es mal schaffen, Benni auf der Abendgesellschaft endlich mal unvoreingenommen betrachten zu können, nicht als ‚Teufelskind‘ oder ‚Waldläufer ohne Identität‘ oder sonst wie… Sondern einfach nur als Benni. Ariane seufzte. Und hoffentlich ist diese dämliche Shoppingtour schnell vorbei! Ninie war auch nicht mitgekommen, da Florian sich ja mithilfe dieser ominösen Prinzessin um ihr Kleid kümmerte. Wehe es war nicht hübsch! Aber eigentlich war sich Ariane ziemlich sicher, dass Ninie eine hinreißende Elbin werden würde, egal in welchem Kleid. Und sie war sich ebenso sicher, dass Florian garantiert darauf achtete, dass es auch hübsch war und zu ihr passte. Öznur war trotzdem mitgekommen, obwohl sie erst mit Eagle ein Kleid kaufen würde. Immerhin brauchten die anderen neben Lissi auch eine Modeberaterin, die nicht nur auf einen ‚angemessenen‘ Ausschnitt achtete. Ariane fand sich mit der Gruppe in einem total überteuerten Laden wieder, in dem eindeutig nur die höheren Schichten einkauften. Aber die Kleider waren wirklich hübsch, dass musste sich Ariane eingestehen als sie Susanne beobachtete, die ein langes Kleid mit Rüschen und Blumen und sonstigen Verzierungen in altrosa anprobierte, in dem sie einfach nur atemberaubend schön aussah. Arianes Blick fiel auf Anne, die derweil bei den Hosenanzügen stand und einen dunkelgrünen mit goldenen Streifen herausholte. Öznur sog geräuschvoll die Luft ein. „Oh mein Gott, seht mal alle her: Anne hat Spaß am Einkaufen!!!“ Diese zischte genervt. „Von wegen. Ich finde nur diesen Hosenanzug hübsch.“ Öznur kicherte. „Susi in dem langen rosa Kleid und du in dem dunkelgrünen Hosenanzug… Ihr werdet garantiert ein wunderschönes Paar abgeben!“ Anne verdrehte die Augen. „Sie ist nur meine Begleitung.“ „Diesen einen Abend kannst du doch mitspielen.“, meinte Carsten amüsiert. Öznur schnippte mit den Fingern. „So, Susi ist nun fertig und Anne anscheinend auch, wenn ihr der Anzug passt. Nun komm ich zu euch, Carsten und Nane!“ Carsten seufzte. „Ich hatte befürchtet, dass du das sagst.“ Lissi klopfte ihm auf die Schulter. „Etwas mehr Entrustiasmus, Cärstchen!“ „…Es heißt Enthusiasmus.“, berichtigte er sie. Sie zuckte mit den Schultern. „Vertrauen brauchst du aber auch. Besonders Selbstvertrauen. Aber egal. Los, suchen wir dir einen bezaubernden Anzug!“ „Das kann ich auch selbst.“, meinte Carsten verlegen, doch Lissi bestand darauf, ihn bei der Entscheidung zu ‚unterstützen‘. „Achte darauf, dass er lila Augen hat, das müssen wir unbedingt betonen!“, rief Öznur ihr hinterher, „Oh, und für Nane werd‘ ich vermutlich silber oder so nehmen. Also pass auf, dass die auch bloß zusammenpassen!!!“ Ariane seufzte, während sie Öznur beim Kleider-betrachten beobachtete. „Warum macht ihr eigentlich ein so großes Tam-tam darum, dass wir optisch zusammenpassen?“ „Weil du seine Begleitung bist?“, fragte Öznur, rhetorisch gemeint. Sie zuckte mit den Schultern und hängte eins der Kleider wieder auf die Stange. „Irgendwie sollte es doch schon eindeutig sein, dass ihr zusammengehört. Findest du nicht?“ „Und wieso?“ Verwundert schaute Öznur sie an. „Willst du etwa, dass man denkt, du willst nichts mit ihm zu tun haben?“ „Was?!? Nein!“ Abwehrend hob Ariane die Hände. „Wird das denn gleich so interpretiert?!?“ „Keine Ahnung. Aber ihr sollt zusammen doch ein schönes Bild abgeben.“ Grinsend hielt Öznur Ariane eins der Kleider hin. „Ich hoffe es passt, denn es ist perfekt!“ Und leider musste Ariane Öznur in diesem Punkt Recht geben, das Kleid war wirklich wie für sie gemacht. Der Stoff war glänzend silbern und reichte etwa bis zu den Knien, wo noch irgend so ein Netz-Spitzen-Dings befestigt war, wie auch immer man so was nannte. Zu Arianes Erleichterung hatte das Kleid jedenfalls einen Träger, an dem lila Stoff-Orchideen befestigt waren, denn ohne Träger hatte Ariane immer das ungute Gefühl, dass ihr das Kleid gefährlich weit nach unten rutschen könnte. Und das Glück war auf ihrer Seite, es passte perfekt, was Ariane ein weiteres Kleidergesuche ersparte. Carsten war auch -trotz Lissi- überraschend schnell fertig geworden, auch wenn Ariane seinen Anzug nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Nur Lissi selbst brauchte natürlich noch eine Stunde, bis sie ein Kleid für sich gefunden hatte. Es würde vermutlich nicht zu Öznurs und Eagles Outfits passen, aber Lissi wollte sich ja sowieso sobald es ging an Lukas hängen… Ariane traute Lissi schon zu, Lukas Mars‘ Pläne abzuluchsen. Aber sie machte sich trotzdem Sorgen. Benni hatte schon Recht, sie brachten mit dieser Aktion nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch alle, die ihnen nahestanden… Ariane hoffte von ganzem Herzen, dass Lissi genauso viel Glück haben würde, wie sie bei ihrer schnellen Kleidersuche. Kapitel 42: Ein bisschen Rebellion ---------------------------------- Ein bisschen Rebellion „Und ihr müsst wirklich alle nach Indigo weiter? Kann nicht irgendjemand hierbleiben?“, fragte Laura die inzwischen geschrumpfte Gruppe vor dem verschnörkelten Tor des Lenz-Anwesens. Janine hatte sich alleine nach Ivory zu Florian teleportiert und Benni wurde von Carsten zuvor bereits nach Spirit gebracht, während Susanne sich und Anne nach Dessert teleportiert hatte. Nun sollte Laura bei ihren Eltern in Yami abgesetzt werden… Aufmunternd legte Carsten seine Hand auf ihre Schulter. „Heute Abend sehen wir uns doch sowieso schon wieder.“
„Ja aber… Bis dahin sind es noch sieben Stunden!“, bemerkte Laura betrübt. Sie hatte um ehrlich zu sein Angst davor, O-Too-Sama alleine gegenüber treten zu müssen… Würde er diese Gelegenheit nicht ausnutzen, um sie, wegen ihrer Beziehung mit Benni, mit einer sieben Stunden andauernden Moralpredigt zu foltern? „Ach komm, diese sieben Stunden ohne uns wirst du wohl noch überleben.“ Ariane zwinkerte Laura zu. Zerknirscht gab Laura die Diskussion auf. Es hatte sowieso keinen Sinn. Ariane, Carsten, Öznur und Lissi verabschiedeten sich von ihr und verschwanden in dem farbenfrohen Licht von Carstens Teleportzauber. …Und Laura blieb alleine zurück. Nicht sehr erwartungsfreudig schlurfte sie den Steinweg zu der Villa entlang, der von den Laternen und kleinen Kirschbäumen nahezu eingezäunt war. Laura schaute zurück zu dem wieder verschlossenen Eingangstor. Die Steinmauer, die die Villa umgab und das verschnörkelte Tor hatte Laura schon immer an ein Gefängnis erinnert… Wenn auch ein schönes Gefängnis. Es war wie ein goldener Käfig. Sie durfte ihn nur dann verlassen, wenn sie von jemandem begleitet wurde, der in der Lage war, auf sie aufzupassen… Wie Benni, Carsten oder auch Rebecca. Und danach hatte man sie immer wieder hier eingesperrt. Der Butler öffnete ihr die Tür und Laura streifte sich die Schuhe von den Füßen, als sie in das modern-japanisch eingerichtete Gebäude trat. „Ihr Vater ist in der Bibliothek, Hime-Sama.“, informierte Kaj sie. Laura seufzte. Na toll, jetzt konnte sie nicht mehr einfach so unbemerkt in ihr Zimmer gehen… Wobei… Das hätte sie so oder so nicht gekonnt, da Kaj ihre Ankunft garantiert bei ihrem Vater angekündigt hätte. Sie hätte sich schon über die Mauer und den Balkon in ihr Zimmer schleichen müssen, um unbemerkt zu bleiben… und im Unbemerkt-Bleiben war Laura natürlich nicht sehr talentiert. Also ging sie in die Bibliothek im Erdgeschoss, die auch gleichzeitig das Arbeitszimmer ihres Vaters war. Nachdem sie angeklopft und das „Herein.“ auf Japanisch von O-Too-Sama gehört hatte, öffnete Laura die Tür und trat ein. Für gewöhnlich fühlte sich Laura in Bibliotheken immer wohl, weil sie eine entspannende Atmosphäre hatten und mit den ganzen Büchern in den dunklen Holzschränken zum Teil auch altertümlich und dadurch irgendwie magisch wirkten… Aber in dieser Bibliothek war das anders. Ja gut, auch hier standen unzählig viele Bücher in dunklen Holzschränken herum, aber diese Bücher waren keine, in denen Laura freiwillig schmökern wollte. Wenn es nicht gerade geschichtliche Bücher waren, dann hatten sie irgendwie anders mit Politik oder sonstigen Gesellschaftswissenschaften zu tun. In einem Regal standen auch naturwissenschaftliche Bücher und weitere Regale waren von einer Menge Klassikern gesäumt. Aber ausgerechnet diese Klassiker, die Laura nicht gerne las… Ihr Vater saß an einem schweren Holzschreibtisch vor dem Fenster und schaute noch nicht einmal dann von seinen Formularen auf, als Laura in die Mitte des Raumes gekommen war. „Ohayō gozaimasu, O-Too-Sama.“, grüßte sie ihren Vater mit einer kleinen Verneigung und versuchte, sich die ungemütliche Atmosphäre nicht anmerken zu lassen. Aber sie klang eigentlich sowieso immer total verschüchtert. „Ohayō.“, erwiderte O-Too-Sama die Begrüßung, ohne von den Zetteln aufzublicken. …Mehr nicht. Laura schluckte den Klos im Hals runter. Anscheinend wollte ihr Vater keine Moralpredigt abhalten, sondern sie gleich mit Ignoranz bestrafen… „Ich… geh dann mal hoch.“ Darauf reagierte O-Too-Sama gar nicht mehr. Laura floh regelrecht aus der Bibliothek, die Treppen hinauf, bis sie ihr Zimmer erreicht hatte. Dort angekommen ließ sie die Tür in die Angeln fallen, lehnte sich dagegen und sank auf den Boden. Es war grauenvoll gewesen… Und Laura fühlte sich auch noch schuldig!
Aber was konnte sie denn für ihre Gefühle für Benni?! Es war halt nun mal so! Bei Benni fühlte sie sich so wohl und geborgen, wie bei keinem anderen… Nur bei ihm war sie wirklich glücklich! Aber warum konnte O-Too-Sama ihn nicht leiden?!? War es einfach nur wegen Bennis sturem und rebellischem Charakter? Oder lag es daran, dass er ein ‚Waldläufer ohne Identität‘ war, wie O-Too-Sama ihn einst genannt hatte? Laura fragte sich, wie er über Benni denken würde, wenn er wüsste, wer er wirklich wäre… Denn auch, wenn der Yoru-Clan schon lange nicht mehr herrschte, war er doch noch sehr hoch angesehen. Aber Benni konnte ja nicht zu seinen leiblichen Eltern, es musste ein Geheimnis bleiben. Um sie vor Mars zu schützen… Dennoch musste Laura bei dem Gedanken kichern, dass Benni der sogenannte ‚Erbe des Yoru-Clans‘ war, wie man den Nachfolger immer nannte. Er war im Prinzip nichts anderes als ein Prinz… Diese Erkenntnis hob Lauras Stimmung wieder etwas. Jaaaa, wenn O-Too-Sama wüsste… Dann würde er sich garantiert in Grund und Boden schämen, den ‚Erben des Yoru-Clans‘ so abwertend behandelt zu haben, dachte sie sich leicht schadenfroh. Das nächste Hindernis bis zum Abend, an dem sie die anderen -und insbesondere Benni- endlich wiedersehen konnte, war das Mittagessen. Die Zeit davor hatte Laura problemlos mit dem Schmökern in Manga überbrücken können. Aber beim Mittagessen konnte sie sich nicht einfach so hinter ihren japanischen Comics verstecken. Doch die Sache mit Benni bereitete ihr dieses Mal beim Treffen mit O-Too-Sama viel weniger Sorgen… Dieses Mal würde er sehen, wie sie sich ernährte. Denn Laura war seit dem Ende der Osterferien Vegetarierin… Und O-Too-Sama mochte bekanntlich keine Vegetarier. Missbilligend schüttelte er den Kopf. „Den Floh hat Dir dieser Waldläufer ins Ohr gesetzt, ist es nicht so?“ Denn natürlich war das sein erster Gedanke. Er mochte weder Vegetarier, noch Benni. …Und Benni war von klein auf Vegetarier! „So ein Unsinn!“, verteidigte Laura ihn. „Er zwingt keinem seine Ernährungsweise auf und er heißt Benni und nicht Waldläufer!“ „Zügle Deine Zunge!“, herrschte O-Too-Sama sie bei ihrem Ton an und Laura zuckte sofort zusammen. Er räusperte sich und meinte schließlich, etwas ruhiger: „Es ist vollkommen gleich, ob er jemandem seine Ernährungsweise aufzwingt oder nicht. Auch wenn es Dir unbewusst ist, er übt trotzdem einen Einfluss auf Dich aus. Einen negativen, sehr zu meinem Bedauern.“ Frustriert biss sich Laura auf die Unterlippe. Das stimmte aber nicht! Ja gut, durch Benni hatte sie die ‚andere Seite‘ kennengelernt. Bisher hatte sie sich immerhin nie Gedanken darüber gemacht, was sie da eigentlich aß! Aber die Entscheidung, kein Fleisch mehr zu essen, war letztlich ihre eigene gewesen! Und Laura vermisste den Fleischgeschmack auch gar nicht. „Schatz, dadurch fehlen dir aber wichtige Vitamine.“, mischte nun auch O-Kaa-Sama im Gespräch mit. Laura seufzte. „Nein, keine Sorge, O-Kaa-Sama. Du kennst Carsten doch, er passt schon auf, dass ich mich ausgewogen ernähre.“ Und das stimmte tatsächlich. Immerhin war Carsten sowohl ein begnadeter Koch, als auch ein talentierter Mediziner und das, obwohl er gerade mal sechzehn Jahre alt war. Wenn er sich nicht mit ausgewogener und gesunder Ernährung auskannte, dann niemand. Mit ihm oder den Mädchen hatte Laura damals eigentlich gar nicht diskutieren müssen, sie hatten ihre Entscheidung sofort akzeptiert. Auch wenn jemand wie Anne daraufhin spöttisch die Augen verdreht hatte. Na gut, sie hatten ebenfalls vermutet, dass Benni Laura in diesem Punkt beeinflusst hatte. Und Laura musste sich eingestehen, dass das zum Teil vermutlich sogar stimmte… Aber es war nicht, um ihn zu beeindrucken! Abgesehen davon, dass es Laura sowieso ein Rätsel war, womit man Benni eigentlich beeindrucken konnte… Sie wollte keine Tiere mehr essen und fertig! O-Too-Sama gab ein gereiztes Schnauben von sich. „Immerhin passt der Indigoner-Prinz noch auf Dich auf. Er wäre weitaus besser für Dich geeignet, als dieser oberflächliche Atheist.“ Okay, nun rastete Laura völlig aus. Benni und oberflächlich? Benni und oberflächlich?!? Verärgert sprang sie auf und schlug die Hände auf den Tisch. „Warum zum Teufel redest du ständig so über Benni?!? Du kennst ihn doch überhaupt nicht wirklich!!!“ „Rede nicht in diesem Ton mit mir, junge Dame!“ Auch ihr Vater war aufgestanden und blickte erzürnt auf seine Tochter hinab. „Nur, wenn du endlich verstehst, dass du Benni nicht nach seiner Herkunft, seiner Ernährungsweise, seinen religiösen Ansichten oder was weiß ich was beurteilen sollst!!!“, schrie Laura unter Tränen. „Und er passt sehr wohl auf mich auf!!! Ich hab schon aufgehört zu zählen, wie oft er mir alleine in diesem Jahr bisher schon das Leben gerettet hat!!!“ „Weil es seine Aufgabe ist.“, erwiderte O-Too-Sama. „Ich habe von der Direktorin gehört, wie ihr ihn nennt: den ‚eiskalten Engel‘. Er ist ein gefühlskalter Killer!“ „Ist er nicht!!!“, brüllte Laura. „Und er wird immer seltener so genannt! Weißt du eigentlich, warum er so gefühlskalt rüberkommt?!? Weil Menschen wie du ihn damals immer und immer wieder verletzt habt! Kein Wunder, dass er sich gottverlassen fühlt! Kein Wunder, dass er sich versucht hat, von allen abzuschotten!!!“ Laura hatte genug von all dem. Sie stürmte zu dem Ausgang und riss die Schiebetür auf. „Ach so und er ist nicht oberflächlich!!! Der einzige Oberflächliche hier bist du!!!“ Unter Tränen rannte Laura die Treppe wieder hinauf in ihr Zimmer. Sie hörte von unten, wie ihr Vater sie lautstark anwies, wieder zurück zu kommen und fertig zu essen, aber nach alldem war Laura der Appetit vergangen. Sie schloss die Zimmertür ab und warf sich schluchzend aufs Bett. Warum nahm ihr Vater nie Rücksicht auf ihre Gefühle? Warum?!?
Er war der Gefühlskalte, nicht Benni!!! Laura hörte ein Klopfen an der Tür und das Kaj irgendetwas sagte von wegen Abendgesellschaft und zurechtmachen und Rina, aber Laura beachtete ihn gar nicht. Sie wollte mit keinem hier mehr was zu tun haben… Sie wollte einfach nur noch zu Benni. Laura hatte keine Ahnung, wie ewig lange sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sich die Augen aus dem Kopf geheult hatte, als es erneut an die Tür klopfte. „Hime-Sama, Rina-Sama ist eingetroffen.“, hörte sie Kaj von der anderen Seite sagen. Verwirrt rieb sich Laura über die Augen. „Hä?“ „Hey Laura, schon gut, lass mich rein, ich beiß auch nicht.“, kam nun auch Rinas Stimme von der anderen Seite der Tür. Widerwillig mühte sich Laura aus ihrem Bett und ging zur Tür, um den Schlüssel rumzudrehen. „Ist offen.“, murmelte sie nur und ging zu ihrem Bett zurück. Doch ehe sie sich wieder in den Kissen und der Decke verkriechen konnte, öffnete sich die Tür und die junge Vampirfrau bat sie, die Vorhänge zuzuziehen. Genervt stöhnte Laura auf. Sie wollte alleine sein! Oder bei Benni!!! Verärgert stapfte sie zur Balkontür und zog die Vorhänge zu. „Was willst du?!?“, herrschte sie Rina in dem nun dunklen Zimmer an. Diese knipste das Licht an. „Dir beim Zurechtmachen für die Abendgesellschaft helfen, was sonst?“, fragte sie schulterzuckend. Laura beobachtete, wie Rina sich von einem bodenlangen schwarzen Umhang mit Kapuze befreite, der anscheinend ihren gesamten Körper vor der Sonne beschützt hatte. Trotz ihrer verweinten Augen konnte Laura erkennen, dass Rina hinreißend aussah. Sie trug ein langes samtrotes Kleid mit Spitze und wunderschönem Dekolleté, das sie mit Samthandschuhen und schwarzen Lack-High-Heels kombiniert hatte. An ihrem Hals hing eine schwer und teuer wirkende Goldhalskette mit einem roten Rubin und ihre blonde Haarpracht hatte sie gekonnt zu einer Hochsteckfrisur bändigen können, die Laura etwas an ihre eigene Frisur vom Neujahrsball erinnerte. Nur das Rina irgendwie viel besser damit aussah… Rina stellte eine größere Schachtel auf dem Bett ab und betrachtete Laura zum ersten Mal eingehender. „Meine Güte, wie siehst du denn aus?!?“ Beschämt wich Laura ihrem Blick aus. „Na wie wohl?“ Wie als hätte sie gerade geheult wie ein Weltmeister natürlich! Mitfühlend seufzte Rina. „Ich hab am Telefon schon von eurem Butler gehört, dass es da eine ‚kleine Auseinandersetzung‘ gab…“ Laura schniefte. „Kleine Auseinandersetzung ist gut… Warum hasst mein Vater Benni so?!?“ Tröstend legte Rina ihr eine Hand auf die Schulter. „Einfach, weil Benni ist wie er ist… Aber jetzt komm, beruhige dich wieder. Mit diesen verheulten Augen wirst du doch wohl nicht auf die Abendgesellschaft gehen wollen?“ „Ich will gar nicht auf die Abendgesellschaft!“ Rina kicherte. „Sicher? Aber Benni wird doch da sein.“ Passend zu ihren rot geschwollenen Augen färbten sich nun auch Lauras Wangen rot. Sie wollte überall hin, wo Benni war! …Sogar auf diese dämliche Abendgesellschaft. „Na also.“, meinte Rina zufrieden, als sie bemerkte, dass sich Laura geschlagen gab. „Aber zurechtmachen… Heißt das, du willst mir die Haare schneiden?!?“, krisch Laura entsetzt. Rina lachte auf. „Nein, keine Angst. Ich möchte dir nur etwas helfen, was dein Outfit und dein Styling an sich betrifft.“ „Aber… O-Too-Sama ist so traditionell. Ich muss einen Kimono tragen!“ Das ‚O-Too-Sama‘ brachte Laura nur mühsam über die Lippen und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Rina seufzte. „Keine Sorge, das hab ich mit ihm schon geregelt. Er war zwar nicht erfreut, hat aber eingesehen, dass du unter den jungen Leuten doch auch lieber ‚modern‘ herumlaufen möchtest. Abgesehen davon…“ Kichernd gab sie Laura einen leichten Stoß in die Rippen. „…Abgesehen davon kannst du heute ruhig noch etwas mehr rebellieren. Und du willst doch, dass Benni dich hübsch findet!“ „Was?!? Denkst du, Benni findet mich nicht hübsch?!?“, schrie Laura verängstigt auf. Beruhigend hob Rina die Hände. „Unsinn! Du kennst Benni, ihm ist das eigentlich egal. Und auch, wenn er das von sich aus nie sagen würde… und es auch gar nicht in Worte fassen könnte… Er würde dich auch in den hässlichsten Lumpen hübsch finden.“ „Und… Warum muss ich mich dann groß zurechtmachen?“, brachte Laura trotz hochrotem Gesicht zustande. Erneut kicherte Rina. „Weil ich will, dass er dich nicht nur hübsch, sondern bezaubernd findet! Bring ihn mal so richtig aus der Fassung! Beeindrucke ihn! Zeig ihm, dass du nicht nur hübsch bist, sondern auch wunderschön sein kannst!“ Laura fragte sich, ob ihr Kopf nicht gleich platzen müsste, so erhitzt, wie er sich anfühlte. „…Nach der Geschichte mit O-Too-Sama reicht es mir, wenn er mich ‚nur‘ hübsch findet…“ „Ach was, ich weiß, dass das nicht wahr ist.“ Bestimmt stand Rina auf und hob den Deckel von der Kiste. Da sie gegen die Vampirdame sowieso nichts würde ausrichten können -und bevor Rina auf die Idee kam, ihr mit einem Haarschnitt zu drohen- gab sich Laura also geschlagen und ließ sich von Rina ‚zurechtmachen‘. Im Prinzip hatte sie ja auch Recht… Laura würde sich riesig freuen, wenn sie in Bennis Augen tatsächlich wunderschön aussah… Er war zwar nicht oberflächlich, wie sie ihrem Vater davor bereits versucht hatte klarzumachen, aber auch er konnte Sachen schön finden. Und ja, Laura wollte wirklich, dass Benni sie mal wunderschön fand… Nach getaner Arbeit seufzte Rina schließlich zufrieden. „Traumhaft… Wenn Benni jetzt nicht hin und weg von dir ist, hat er offiziell nicht mehr alle Tassen im Schrank.“ Neugierig betrachtete Laura sich im Ganzkörperspiegel und… und musste sich eigestehen, dass sie wirklich traumhaft aussah… Rina war tatsächlich Meisterin in ihrem Gebiet. Das schwarze Kleid, das sie Laura mitgebracht hatte, war zwar trägerlos, aber obenrum eine Korsage, sodass Laura keine Angst hatte, es könne ihr runterrutschen. Denn es war dadurch ziemlich eng. Aber nicht so eng, dass sie nicht mehr atmen konnte. Es war auch nicht zu weit ausgeschnitten, was Laura ein weiteres Gefühl der Sicherheit gab, da sie bei ihrer spärlichen Oberweite leider nicht so viel bieten konnte, wie Rina oder manche andere der Mädchen. So war dadurch auch ihr Selbstwertgefühl gerettet worden. Das Kleid war vollständig mit schwarzer Spitze gespickt, auf der sich Rosen, Ranken und Schnörkel befanden. Insgesamt war es so lang, dass es wohl fast auf dem Boden schleifen würde, hätte Laura keine schwarzen, glänzenden Plateau-High-Heels an, in denen sie sogar überraschend gut laufen konnte. Um ihren Hals trug Laura ein Band ebenfalls aus schwarzer Spitze. Trotz allem brachte sie es nicht übers Herz, die Kreuzkette abzulegen die Benni ihr vor einigen Monaten zum Valentinstag geschenkt hatte… Inzwischen war sie wie ein Teil von ihr geworden. Was Lauras Frisur betraf… Rina konnte zwar angeblich keine Haare schneiden, aber im Frisieren war sie ein Profi. Sie sah fast genauso aus wie die, die sich Rina selbst gemacht hatte. Also die Frisur, die Laura auch auf dem Neujahrsball hatte. Doch dieses Mal waren ihre Haare gelockt und am Ansatz des Dutts steckten drei schwarze Rosen, die anscheinend sogar echt waren. Auch das Schminken beherrschte Rina perfekt. Lauras Make-up war dezent, aber doch irgendwie auffällig. Es betonte ihre langen Wimpern und dunklen Augen, aber auch ihre Lippen kamen schön zur Geltung. Etwas verschämt zupfte Laura an den ellenbogenlangen Spitze-Armstulpen und wandte sich wieder vom Spiegel ab. Rina lächelte Laura an. „Gefällst du dir so?“ Mit geröteten Wangen nickte Laura. Sie war alles andere als eingebildet, aber trotzdem… sie fand sich richtig hübsch! Und sie hoffte von ganzem Herzen, dass auch Benni sie hübsch -oder wie Rina sagte ‚bezaubernd‘- finden würde… Die Zeit verlief deprimierend schweigsam, während sie in der Limousine saßen, die der Chauffeur zu der großen Halle in dem wohlhabenden Viertel von Zukiyonaka steuerte. Diese Halle war in einem wirklich edlen Gebäude, das eigentlich nur dazu diente, Yamis Wohlstand zu demonstrieren. Es hatte Ähnlichkeit mit der Villa, in der Laura lebte, wirkte aber noch mehr wie ein japanisches Schloss. Hinter einem Absperrband gegenüber dieses Schlosses standen ein Haufen Journalisten, die um die besten Fotos der reichsten und berühmtesten Leute wetteiferten. Laura war schon sehr lange nicht mehr auf einer Abendgesellschaft gewesen, sie hatte schon fast vergessen, wie viel da immer los war. Sie verließ die Limousine auf der Seite zum Schloss hin, wo sie, eingezäunt von muskulösen Männern in Anzügen und mit Sonnenbrille, vor dem Blitzgewitter geschützt war. Denn laut dem Jugendschutzgesetz war es verboten, minderjährige Kinder berühmter Personen zu ‚bedrängen‘, wie zum Beispiel mit Fotos und Autogrammen und so. So sollte ihnen eine jedenfalls halbwegs normale Kindheit ermöglicht werden. Während sich Laura also in das Innere des Schlosses flüchten durfte und musste, stellten sich ihre Eltern den bösen Kameras dieser ganzen Leute und lächelten freundlich in die Runde. Erst im Schloss war Laura aufgefallen, dass Rina hinter ihr war. „Solltest du nicht auch fotografiert werden?“, fragte sie die Vampirin verwirrt. Rina zwinkerte Laura zu und legte den Umhang ab, den sie seit dem Verlassen des Lenz-Anwesens wieder getragen hatte, um sich vor der untergehenden Sonne zu schützen. „Wir Vampire haben Sonderrechte, immerhin wollen wir ja nicht verbrutzeln.“ „Ah, ach so.“ Wieder etwas aufgeheitert kicherte Laura. „Beneidenswert.“ Lachend schüttelte Rina den Kopf. „Nicht wirklich. Lieber werde ich von Paparazzi heimgesucht, als in Gefahr zu laufen, mit etwas Pech in der Sonne zu verbrennen.“ „…Das ist wahr.“ Neugierig schaute sich Laura um. „Wo sind eigentlich die anderen?“ Rina gab ihren Mantel einem Bediensteten und ging mit Laura den Gang weiter zur großen Halle. Kurz davor bogen sie aber in einen Seitengang ab. Bereits bevor Laura um die Ecke ging, hörte sie schon Bennis ruhige Stimme, die zu jemandem -vermutlich Konrad- sagte: „Warum musste jeder von ihnen mitkommen? Du weißt doch selbst, dass sie-“ Genau in dem Moment, in dem Laura und Rina um die Ecke kamen und Benni sie erblickte, brach er unvermittelt im Satz ab. Laura fiel auf, dass er anscheinend irgendetwas sagen wollte, aber aus irgendeinem Grund nichts sagen konnte, während sein Blick zwar ruhig aber irgendwie auch überrascht an ihr haftete. Neben Konrad, waren auch noch Carsten mit Ariane und Eagle mit Lissi und Öznur da, die Benni und Laura amüsiert beobachteten. Während Bennis Blick immer noch schweigend auf ihr ruhte -und sich Laura fragte, wieso- hatte sie jedenfalls die Möglichkeit, wie eine Bekloppte Benni anzuschmachten. Denn er sah umwerfend aus! Es stand außerfrage, dass Benni bei Vampiren lebte, immerhin sah er selbst aus wie einer. Von dem schwarzen Auge mal abgesehen. Seine Kleidung war in Schwarz- und Rottönen gehalten und erinnerte Laura an einen ihrer Lieblingsmangas, der in der viktorianischen Zeit spielte. Benni trug eine Art Anzugsjacke -frack, wie auch immer man so was nannte, was ihm vorne bis zu den Hüften reichte und hinten bis zu den Knöcheln ging. Dieser Anzugsjacken-mantel hatte einen klassischen ‚Vampir-Stehkragen‘ und in ein Knopfloch war eine schwarze Rose angesteckt, die so aussah wie die, die sich in Lauras Haaren befanden. Unter diesem edlen Frack war eine dunkle, weinrot glänzende Weste und darunter wiederrum befand sich ein schwarzes Hemd mit Rüschen anstelle einer Krawatte, was umso vampirmäßiger wirkte. Überrascht fiel Laura der dunkelrote, etwas breitere Gürtel auf, an dem auf Bennis rechter Seite ein Schwert, genauer ein Degen befestigt war. Aber warum auch immer Benni eine Waffe trug, jedenfalls stand sie ihm wie angegossen und es wäre auch seltsam, würde er keine Waffe tragen. Denn irgendwie gehörte sie zu seinem Outfit einfach dazu. Die schwarze Stoffhose war in kniehohe Reiterstiefel gesteckt, was umso traditioneller wirkte. Aber egal, wie gut Benni in diesen Kleidungen aussah und wie gut sie ihm standen, Laura war trotz allem immer und immer wieder am meisten überwältigt von seinem wunderschönen Gesicht. Und diese seidigen, fluffigen Haare, die einen eigentlich dazu einluden, da durch zu wuscheln, auch wenn sie ordentlich gekämmt waren. An sich… wenn hier jemand von ihnen wirklich wunderschön und bezaubernd aussah, dann war es auf jeden Fall Benni und nicht Laura. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie lange sie sich einfach nur angeschaut hatten, jedenfalls lachte Konrad plötzlich los. „Was ist denn los, Benni?! Hat es dir die Sprache verschlagen?“ Benni öffnete den Mund, als wolle er etwas erwidern, schloss ihn aber wieder. Rina kicherte und verließ ihren Platz neben Laura, um zu Konrad rüber zu gehen. „Ich hab doch gesagt, das funktioniert.“ Konrad schüttelte lächelnd den Kopf und klopfte Benni auf die Schulter. „Falls du deine Sprache wiederfindest, kannst du ihr ruhig sagen, dass sie bezaubernd ist. So was hören die meisten Mädchen gerne.“ Doch selbst darauf reagierte Benni nicht. Carsten lachte auf. „Toll, danke Laura. Jetzt hast du ihn vollkommen aus der Bahn geworfen!“ Lauras Wangen färbten sich rötlich. Meinte Carsten das ernst? ‚Aus der Bahn geworfen‘ im positiven oder negativen Sinne?!? „Ääääähm…“, gab sie etwas überfordert von sich. Fand Benni sie nun schön oder hässlich?!?!?!?!? Schließlich schüttelte Benni den Kopf und kam endlich zu ihr rüber. Denn natürlich traute sich Laura bei ihrem rasenden Herz nicht, in diesen mörderisch hohen Schuhen auch nur einen Schritt zu gehen. Vor Aufregung würde sie sich da nur den Knöchel verstauchen… Bestenfalls. Gedankenversunken strich Benni ihr einige Strähnen aus dem Gesicht, während Lauras Herz anscheinend einen Weltrekord zu brechen versuchte. Jedenfalls bis Benni plötzlich murmelte: „Du siehst toll aus.“ Überrascht schaute Laura ihn an. „W-wirklich?“, hauchte sie, nun vollkommen überfordert. Benni nickte nur, während er ihr immer noch tief in die Augen schaute. Von den anderen hörte Laura ein gerührtes ‚Oooooooooooooh‘, doch das bekam sie gar nicht wirklich mit. Sie freute sich riesig, dass Benni sie anscheinend tatsächlich schön fand… So schön, dass er zu Beginn sogar erst mal sprachlos war! Und das sollte was heißen, denn normalerweise ließ sich Benni eigentlich gar nicht aus der Bahn werfen. Mit Freudentränen fiel Laura ihm um den Hals. Das war das Zweitschönste, was er je zu ihr gesagt hatte! Es kam direkt nach diesem ‚unausstehlich-unwiderstehlich-Spruch‘ von ihrem Geburtstag. Sie spürte, wie Benni ebenfalls seine Arme um sie legte, was Lauras Herz einen weiteren Freudensprung machen ließ. In diesem Moment hatte sie die traurigen und haarsträubenden Momente vom Nachmittag vollkommen vergessen. Mit einem Schlag waren sie in die hinterste Ecke ihrer Erinnerungen verbannt. …Aber irgendwie… sehnte sie sich trotzdem noch nach Bennis Nähe. Irgendwie sehnte sie sich trotzdem noch nach mehr… Rina hatte Recht, sie konnte heute ruhig noch etwas mehr rebellieren. Laura löste sich wieder ein kleines bisschen aus der Umarmung und küsste Benni. Einfach so. Dieses Mal traf sie sogar wirklich seinen Mund! Die freudige Erkenntnis darüber wurde sehr schnell wieder zu diesem wohligen Kribbeln, als Benni ihren Kuss sanft erwiderte. Zum Glück kam er Laura länger vor, als er eigentlich war, denn etwas zu spät erinnerte ihre Schüchternheit sie daran, dass hier sehr viele Leute waren… Die das Geschehen natürlich begeistert beobachtet hatten. Doch bevor jemand einen seiner typischen Kommentare fallen lassen konnte, hörte Laura hinter sich ein strenges Räuspern, dass sie nur zu gut kannte. Erschrocken drehte sie sich um, soweit das in Bennis Armen möglich war, und musste betroffen feststellen, dass O-Too-Sama den Kuss, seiner missbilligenden Mimik nach, ganz eindeutig mitbekommen hatte. „Ich hätte etwas mehr Anstand von euch beiden erwartet.“, meinte er vorwurfsvoll. Laura wollte sich irgendwie rechtfertigen, brachte aber keinen Ton zustande. „Daran ist doch nichts anstandslos.“, bemerkte Ariane verwirrt. „Laut Etikette schon.“, erklärte er tadelnd. „Es gehört sich nicht für eine Prinzessin, in aller Öffentlichkeit eine Person zu küssen. Nur in besonderen Ausnahmen.“ „Das ist ja total bescheuert!“, empörte sich Öznur lautstark, „Die Etikette verbietet es zwei Leuten, die sich lieben, das in aller Öffentlichkeit zu zeigen?!?“ War es überhaupt nötig, zu erwähnen, dass Laura bei dieser Bemerkung wie immer knallrot wurde? Doch ihre Röte war sofort wie weggeblasen, als Laura hörte, was O-Too-Sama daraufhin zu Benni sagte: „Liebe ist für Dich doch ein Fremdwort, Waldläufer. Ist es nicht so? Du kannst nichts anderes, als Menschen zu verletzen. Doch Du kannst dich darauf verlassen, solltest Du meiner Tochter eines Tages das Herz brechen, wovon ich ausgehe, werde ich die Todesstrafe doch noch durchsetzen, vor der ich Dich einst vor Jahren bewahrt habe.“ Laura bemerkte, wie Benni die Zähne zusammenbiss und sich sein Griff an ihrer Schulter verstärkte, was ihn allerdings nicht verzweifelt, sondern eher unheimlich erscheinen ließ. „Sollte ich Ihrer Tochter wirklich das Herz brechen, wäre mein Leben ohnehin verwirkt.“ Laura fiel die Kinnlade herunter. Niemand, noch nicht einmal O-Too-Sama wusste darauf etwas zu erwidern. Dieser Kommentar schien jeden wie einen Blitz getroffen zu haben. Nach einem endlos wirkenden Schweigen schlug Konrad schließlich vor: „Wollen wir nicht langsam mal reingehen?“ Die Fassung wiedergewinnend meinte O-Too-Sama: „Ja, das sollten wir.“ Während sein kritischer Blick weiterhin auf Benni ruhte, gingen er und O-Kaa-Sama weiter in die große Halle. Laura, die die Fassung noch nicht wiedergewonnen hatte, starrte Benni ungläubig an. „W-war das… War das… dein… Ernst?“ Nach einem kurzen Zögern nickte Benni und befreite sie ganz aus der Umarmung. Betroffen trat Laura von dem einen auf den anderen Fuß. Sie hatte keinen Plan, was sie dazu noch sagen konnte… Einerseits freute sie sich natürlich total, weil Benni damit ja im Prinzip gemeint hatte, dass sie… dass sie eigentlich so was, wie… wie der Grund war, warum er lebte… Oder so. Aber andererseits… machte es sie auch traurig. Benni sollte sein Leben nicht verwirken!
…Na gut, dann sollte er ihr halt auch nie das Herz brechen!!! Damit wäre dann jeder glücklich. …Bis vielleicht in Ausnahme von O-Too-Sama. Aber das konnte ihr dann auch egal sein. Die Etikette war Laura ebenfalls egal, erneut kuschelte sie sich in Bennis Arme. „Das einzige, was mir das Herz brechen könnte wäre, wenn du nicht mehr da wärst…“, murmelte sie, das Gesicht in seiner Brust vergraben. Eagle stöhnte auf. „Okay, jetzt wird’s mir echt zu schnulzig. Knutscht von mir aus ruhig noch weiter rum, ich geh rein.“ Er packte jeweils Öznur und Lissi mit einer Hand an den Armen und schleifte seine beiden Begleiterinnen mit sich in die große Halle, die Laura und Benni nur zu gerne weiter beobachtet hätten. Konrad kicherte. „Irgendwie musstest du es ihm noch heimzahlen, oder?“ Benni verstärkte die Umarmung etwas und schien den Kopf zu schütteln. „Das hätte ich jedem sagen können.“ Rina seufzte melodramatisch. „Ach Gott, wie süß!“ „Heimzahlen?“, fragte Laura verwundert, immer noch -trotz dieser bescheuerten Etikette- an Benni gekuschelt. „Du denkst doch nicht ernsthaft, dass Benni von dieser ‚kleinen Auseinandersetzung‘ nichts mitbekommen hat?“, meinte Rina kichernd. „Was?!?!?!?“ Panisch schaute Laura sie an. Diese ‚kleine Auseinandersetzung‘ war ihr todpeinlich… Einfach nur aus dem Grund, weil sie danach glatte drei Stunden geheult hatte. Rina zuckte mit den Schultern. „Er war im Zimmer, als ich mit Kaj telefoniert habe und er mir das erzählt hat… Und ich konnte ziemlich deutlich erkennen, dass Benni für seine Verhältnisse sehr verärgert gewirkt hat.“ Verlegen schaute Laura zu Benni hoch, doch er erwiderte ihren Blick nur ruhig und löste die Umarmung wieder. Ehe das Laura einen Stich ins Herz versetzen konnte, hielt er ihr die linke Hand entgegen. „Gehen wir endlich rein.“ Mit wie immer rasendem Herzen legte Laura ihre rechte Hand in seine. Benni war bei Vampiren aufgewachsen, natürlich verstand er es, sich vorbildlich und gentlemanlike zu benehmen! Daher schaffte er es, wie immer elegant zu wirken, während er Laura in die große Halle geleitete und sie dabei noch unauffällig stützte. Denn obwohl Laura eigentlich ganz gut in den Schuhen laufen konnte, zitterte sie durch die plötzliche Aufregung am ganzen Körper und hatte auf einmal Mühe, ans Atmen zu denken. Sie wusste, dass Benni dieser ganzen Aktion immer noch kritisch gegenüberstand, als befürchtete er tatsächlich, es könne etwas passieren. Und da sein Instinkt ihn bisher noch nie im Stich gelassen hatte, war die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch, dass wirklich etwas passierte… Kapitel 43: Erde und Wind -------------------------    Erde und Wind       Amüsiert hatte Carsten beobachtet, wie Laura Benni heute eindeutig mal die Sprache verschlagen hatte. So was hatte er bei seinem besten Freund bisher noch nie erlebt! Okay, Laura sah aber auch wirklich umwerfend aus. Aber dass Benni deswegen so baff war… Das sollte schon was heißen. Nur, dass Lauras Vater den Kuss mitbekommen hatte tat Carsten leid… Dabei war es doch so schön, Laura so glücklich zu sehen. Aber Benni hatte ihm ja die Stirn bieten können, wenn auch auf eine sehr ungewöhnliche und doch ergreifende Weise. Natürlich wusste Carsten, dass Laura die wichtigste Person in Bennis Leben war. Immerhin kannte er seinen besten Freund besser als dieser sich selbst. Aber dass Benni das von sich aus mal sagen würde und dann auch noch so formuliert… Damit hatte er selbst Carsten überrascht. Verlegen hielt Carsten Ariane seine vor Aufregung zitternde Hand entgegen, wie Benni es zuvor auch bei Laura gemacht hatte. Nicht nur Laura sah heute Abend bezaubernd aus… Natürlich hatte der größte Teil inzwischen seine Gefühle für Ariane bemerkt… Und natürlich hatte sich Öznur deshalb bei der Kleiderwahl auch große Mühe gegeben. Arianes silbernes Kleid mit den lila Orchideen passte wirklich sehr gut zu Carstens schwarzem Anzug mit schmalen silbernen Streifen, unter dem er ein weißes Hemd und eine lila Krawatte trug. Er war nicht so traditionell gekleidet wie Benni in seinem viktorianischen Vampir-mäßigen Outfit oder Eagle. So wie es in Yami unter dem Adel eigentlich Brauch war, einen Kimono zu tragen, war die Festlichkeitskleidung der Indigoner irgendetwas zwischen Anzug und klassischer Indianerkluft. Also im Prinzip ein Stoffanzug in Erdtönen und mit Fransen. Passend zu diesem Anzug sah auch Öznur heute Abend wie eine klassische Indigonerin aus. Durch ihre dunkle Haut und dem etwas kürzeren roten Kleid, dass sie noch heute Vormittag mit Eagle in Karibera gekauft hatte sah man ihr nicht mehr an, dass sie eigentlich aus Monde stammte. Was umso praktischer war, denn je weniger die anderen Leute über die Dämonenbesitzer wussten, desto sicherer waren diese. Ariane grinste Carsten an und nahm seine Hand, die er ihr entgegengehalten hatte. Vermutlich dachte sie sich gar nichts dabei… Aber dennoch musste Carsten tief durchatmen, um seinen Herzschlag zu beruhigen. Nach dieser Kleider-Sache hatte er keine Lust, sich noch mehr vor Ariane zu blamieren… Benni hatte schon Recht, er war eindeutig ein gutmütiger Trottel. Was verdammt frustrierend war. „Denkst du auch, dass etwas passieren wird?“, fragte Ariane ihn plötzlich im Flüsterton, während sie die prunkvolle große Halle betraten. „Immerhin… Er hat wirklich versucht mit uns zu diskutieren und das, obwohl er eigentlich so schweigsam ist.“ Carsten seufzte. Er konnte Arianes Sorge nur zu gut nachvollziehen, aber dennoch… „Wie gesagt, wenn wir nicht mehr über unsere Gegner herausfinden, wird früher oder später garantiert etwas passieren. Wir müssen diese Gelegenheit nutzen.“ „Wahnsinn und das hängt jetzt alles von- mpf!“ Etwas grob, was ihm sehr leidtat, hielt Carsten Ariane den Mund zu. ‚Kein Wort mehr darüber.‘, versuchte er ihr zu erklären, ohne es aussprechen zu müssen. Vorsichtig befreite er Ariane wieder und murmelte auf ihren irritierten Blick hin ein schwaches „Entschuldigung“. Dann zeigte er mit dem Kopf in Richtung Lauras Eltern. Leon Lenz führte ein Gespräch mit einer kleinen Gruppe, in der sich auch Lukas befand. Der Grund, warum sie hier waren. Lukas schien die Person neben ihm als seine Begleitung vorzustellen. Ein junger Mann mit hellblonden Haaren und blauen Augen, der in einem eleganten schwarzen Anzug mit dunkelblauer Krawatte gekleidet war. Für den Bruchteil eines Atemzugs erwiderte er Carstens Blick und seine Lippen formten sich zu einem leicht spöttischen Lächeln. Warum auch immer, doch Carsten überkam in diesem Moment ein eisiger Schauer. Es war das plötzliche Gefühl eines Herzstillstandes als würde auch die Zeit aufhören zu schlagen. „Ernsthaft? Lukas ist schwul?“, fragte Ariane verwirrt. „Nicht wirklich.“ Auf einmal stand Herr Bôss neben ihnen, dessen Auftauchen Ariane und Carsten fast zu Tode erschreckt hatte. „Was machen Sie denn hier?!?“ Vorwurfsvoll funkelte Ariane ihn an, doch der Direktor grinste nur. „Nicht nur die Adligen, sondern auch sonst sehr einflussreiche Leute sind eingeladen, wie Chefs großer Firmen, oder halt auch die Direktoren besonderer Eliteschulen. Der ist zum Beispiel auch da.“ Er deutete mit dem Kopf auf einen Mann, den Carsten am liebsten nie wieder gesehen hätte. Den Direktor des FESJ. „Ich an deiner Stelle würde ihm jetzt unter die Nase reiben wie gut es dir geht.“, schlug Herr Bôss belustigt vor. Carsten schluckte schwer. Da stand ausgerechnet der Mann, der die sechs schrecklichsten Jahre seines Lebens verkörperte. Und ausgerechnet dieser Mann unterhielt sich auch noch mit Eagle und seinem Vater. Carsten konnte sich dieses Bild nicht ansehen. Er ertrug das Gefühl nicht, wie sich sein Herz schmerzhaft zusammenquetschte. Eine Panik breitete sich langsam in ihm aus, als ihm das Atmen zur Zumutung wurde. Er wollte schon auf dem Absatz kehrt machen und so schnell er konnte von hier verschwinden, als Ariane ihn zurückhielt. Er versuchte seine Hand aus ihrer zu ziehen, doch Ariane hatte den starken Griff einer Kampfkünstlerin. „Vor deiner Vergangenheit weglaufen wird dir auch nicht helfen.“ „Es ist mir aber lieber als mitansehen zu müssen, wie sich anscheinend jeder, der mich hasst, nun zusammentut und sich gegen mich verbündet.“, erwiderte Carsten, den Blick auf den Ausgang gerichtet. „Das weißt du doch gar nicht!“, widersprach Ariane ihm. „Ach nein?! Eagle war es, der mich auf diese Schule gebracht hat! Mein Vater war es, der nichts dagegen unternommen hatte! Der damit sogar einverstanden war! Und dieser Direktor hat mich über ein halbes Jahrzehnt lang foltern lassen! Bin gespannt, was sie sich jetzt ausdenken!!!“ „Dann sei lieber still, bevor du ihnen mit deinem Herumgebrülle auch noch eine Möglichkeit bietest.“, zischte der Direktor warnend. Carsten biss die Zähne zusammen und versuchte, sich zu beruhigen, indem er das Thema wechselte. „Sie meinten, Lukas sei nicht wirklich schwul?“ Herr Bôss schüttelte den Kopf. „Angeblich ist dieser junge Mann ein politisch Interessierter und Engagierter und Lukas hält viel von ihm, weshalb er ihm heute Abend einen Einblick gewähren lassen wollte.“ Ariane runzelte die Stirn. „Wenn das keine fette Lüge ist.“ Der Direktor nickte belustigt. „Ja, die, die Bescheid wissen können das durchblicken. Hättet ihr mir aber nicht gesagt, was wirklich hinter ihm steckt, hätte ich das allerdings geglaubt. Na ja… Vielleicht auch nicht. Schaut euch den jungen Mann mal genauer an.“ Carsten tat, wie ihm geheißen und war froh, dass der Kerl dieses Mal nicht wieder rüber schaute. Die blonden Haare wirkten irgendwie künstlich… Waren sie gefärbt? Und die Augen kamen Carsten seltsamer Weise bekannt vor, auch wenn es ihm aus der Entfernung schwerfiel, den Grund dafür genauer erkennen zu können. Carsten seufzte. „Ich geb’s auf. Irgendwie wirkt er nicht echt… und er kommt mir bekannt vor. Aber mehr kann ich von hier aus nicht sehen.“ Überrascht hob Herr Bôss eine Augenbraue. „Mehr nicht?“ „Und er jagt mir Angst ein.“, gab Carsten verbissen zu. Kein schöner erster Eindruck von einer Person… „Ich versteh immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen.“, meinte Ariane verwirrt. Herr Bôss zuckte mit den Schultern. „Der eiskalte Engel hatte noch nicht einmal hinsehen müssen, um dahinter zu kommen. Na gut, mit seinen Vampirsinnen ist er euch auch klar im Vorteil.“ „Ich hab inzwischen auch übermenschliche Sinne bekommen.“, schmollte Ariane. „Aber er hat viel mehr Übung darin, sie einzusetzen.“, bemerkte der Direktor. „Kommt schon, es ist offensichtlich.“ „… Oh Gott…“ In Carstens Kopf machte es Klick. Ja, es war offensichtlich. Lukas und seine ‚Begleitung‘ waren etwa fünf Minuten vor Laura und Rina eingetroffen und Carsten hatte sich schon gewundert, warum Benni die Diskussion auf einmal wieder aufgegriffen hatte. Immerhin hatten sie schon geklärt, dass es zwar verdammt gefährlich war auf die Abendgesellschaft zu gehen, ihnen jedoch keine andere Wahl blieb. Aber jetzt erkannte Carsten den Zusammenhang. Jetzt wusste er, wieso: Lukas Begleitung war niemand geringerer als Jack. Die rotbraunen Haare waren vermutlich unter einer blonden Perücke versteckt und um seine grünen Augen zu verbergen trug er blaue Kontaktlinsen. Natürlich hatte Benni es sofort erkennen können. So gut Jack sein Äußeres auch getarnt hatte, der persönliche Geruch und die Stimme ließen sich nicht so leicht verbergen. Und durch seine übermenschlichen Sinne hatte Benni ihn daher in noch nicht mal einer Sekunde entlarven können. Verdammt!, fluchte Carsten in Gedanken. Mars war nicht dumm, er hatte Jack garantiert als Aufpasser für Lukas mitgeschickt. Sie mussten ihn also irgendwie ablenken, damit Lissi sich um Lukas kümmern konnte… Carsten musste unbedingt auch die anderen ihrer Gruppe darüber informieren. Nur dummer Weise konnten sie hier nicht einfach so eine Krisenversammlung oder dergleichen einberufen. Das wäre noch nicht einmal verdächtig, sie würden sich sofort verraten. Besonders, da einige zu ihrem Schutz so tun mussten, als würden sie sich gar nicht kennen. So durften Lissi und Susanne sich zum Beispiel bloß nicht über den Weg laufen, denn heute Abend waren sie keine Geschwister. Lissi war Indigonerin und Susanne kam aus Dessert. Carsten hatte die beiden bereits gesehen und war überrascht gewesen, was für eine Wirkung Schminke doch haben konnte. Wenn man wusste, dass sie Zwillinge waren, war es natürlich immer noch eindeutig. Aber für Außenstehende sahen sie wie zwei ganz verschiedene Personen aus. Janine und Florian waren noch nicht eingetroffen, aber auch die beiden mussten so tun, als ob sie die Mädchen nicht kannten. Was natürlich besonders Ariane schockiert hatte, immerhin wollte sie doch ‚ihre Ninie‘ wie sonst auch behandeln und nicht wie eine fremde Person. „Was ist denn jetzt?“ Arianes drängende Frage riss Carsten wieder aus seinen Gedanken. Er überlegte, wie er ihr die Situation erklären konnte, ohne dass Jack es mitbekommen würde. Immerhin hatte dieser durch seine Dämonenform auch übermenschliche Sinne. Carsten nickte dem Direktor dankbar zu und zog danach Ariane mit zum Büffet, wo sie zwar immer noch verwirrt war, sich aber was zu essen holte, während Carsten unbemerkt einen kleinen Zettel und Stift herbeizauberte, auf den er ein einziges Wort schrieb:   Jack   Diesen Zettel zeigte er Ariane, die es sofort verstanden hatte und sich folglich am alkoholfreien Punsch verschluckte. Nachdem ihr Husten sich gebessert hatte meinte sie: „Der Punsch ist lecker, denkst du, die anderen wollen auch welchen haben?“ Carsten hatte alle Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. Mussten sie jetzt ernsthaft so verschlüsselt wie in den Filmen sprechen?!? Jack hatte doch garantiert sowieso schon Verdacht geschöpft! Aber wie es der Zufall so wollte, war das Gespräch zwischen denen die sich anscheinend gegen Carsten verbündet hatten zu Ende, denn Eagle hatte seine beiden Begleiterinnen wieder aufgegabelt und kam mit ihnen ebenfalls zum Büffet. Offensichtlich mussten sie tatsächlich so seltsam verschlüsselt reden, denn Lissi meinte plötzlich in die Runde: „Ihr habt doch gesagt, ihr stellt mir diesen hübschen Politiker vor!“ „Jetzt warte doch noch etwas, es wird sich schon eine Gelegenheit geben.“, machte Carsten bei dem ziemlich albernen Spiel mit. Aber es war trotzdem lustig. „Du siehst doch, dass er in ein Gespräch verwickelt ist.“, fuhr er fort und griff über das Büffet, um sich einen Käsespieß zu nehmen, wo er den Zettel vor seinem Bruder auf den Tisch fallen ließ, den er zuvor Ariane gezeigt hatte. Carsten vermutete zwar immer noch, dass Jack garantiert schon längst Verdacht geschöpft hatte, aber trotzdem sollten sie ab sofort auf Nummer Sicher gehen. Eagle lehnte sich auf den Tisch und ließ dadurch den Zettel unter seiner Hand verschwinden, nachdem er unbemerkt den Inhalt gelesen hatte. Daraufhin meinte er: „Jetzt nicht mehr.“ Carsten beobachtete, wie er gemeinsam mit Lissi direkt auf Lukas und den verkleideten Jack zuging, deren Gespräch mit den anderen offensichtlich zu Ende war, und hoffte von ganzem Herzen, dass Eagle wusste, was er tat. Unbemerkt beobachtete er, wie sich die vier freundlich unterhielten. Zwar hatte er kein so ausgeprägtes Gehör wie Öznur, die mit Ariane über das Essen am Büffet diskutierte, aber immerhin konnte er Lippenlesen. Dass sich das mal als nützlich erweisen würde… Er bekam zwar nicht allzu viel von dem Gespräch mit, weil einige mit dem Rücken zu ihm standen, hin und wieder Leute vorbeigingen, die die Sicht auf sie verdeckten und Carsten auch noch unentdeckt bleiben musste, aber anscheinend schien es gut zu laufen. Als Häuptlingssohn war Eagle nun mal ein Meister der Kommunikation. Er schien Lissi als gute Freundin vorgestellt zu haben, die zu dem Königshaus Lenz aufblicke und politisch sehr interessiert sei, weshalb sie unbedingt Lukas Lenz kennenlernen wolle, der immerhin zu den erfolgreichsten Politikern zähle. Carsten musste sich eingestehen, dass er Lissi unterschätzt hatte. Denn statt seltsam los zu quietschen, wie sie es normalerweise machen würde, klang ihre Stimme, soweit er es hören konnte, ruhig und trotzdem begeistert. Sie meinte, es sei ihr eine Ehre, ihn endlich kennenlernen zu können. Irgendwie lenkte Eagle das Thema auf Lukas Begleitung, dass er ja gar nicht gewusst habe, dass Lukas einen Freund habe, woraufhin Lissi Lauras Cousin einerseits beglückwünschte aber andererseits diese Umstände auch bedauere, da Lukas garantiert eine beträchtliche Menge Mädchenherzen gebrochen habe. Carsten konnte seinen Augen kaum trauen… Lissi konnte ja genauso gebildet reden wie Susanne! Okay, er war sich schon immer sicher gewesen, dass sie nicht dumm war, sonst hätte sie es nie und nimmer auf die Coeur-Academy geschafft, aber dennoch… Sie konnte genauso gebildet reden wie Susanne!!! Warum zum Teufel war Lissi sonst so anders?!?  Lukas erklärte derweil anscheinend die Geschichte, die Carsten bereits vom Direktor gehört hatte und forderte seine ‚Begleitung‘ plötzlich auf, ihnen doch ein Glas Punsch zu holen. Erneut musste Carsten das Lachen unterdrücken. Doch als der verkleidete Jack bei ihnen am Büffet angekommen war, meinte er plötzlich: „So amüsant finde ich das nicht.“ „Ach nicht? Also ich schon, immerhin werden Sie gerade von ihrer Begleitung zum Punschholer degradiert.“, versuchte Öznur, einen Smalltalk anzufangen. „Immer noch besser, als nur einer von zwei Begleitern zu sein. Das wäre mir sehr unangenehm.“, erwiderte er, freundlich und fies zugleich. Öznur schnaubte, kam allerdings nicht zu Wort, weil Jack daraufhin noch meinte: „Wobei… Immerhin hat sich der Häuptlingssohn stark gebessert. Mir ist zu Ohren gekommen, dass ihn letztes Jahr gar drei junge Frauen begleitet haben.“ Öznur grummelte etwas Unverständliches, doch Jack wandte sich an Carsten. „Schön, dass sein kleiner Halbbruder jedenfalls Anstand besitzt.“ Er wies auf Ariane. „Deine Freundin?“ Mit hochrotem Kopf nickte Carsten. Immerhin hätte Ariane sonst keinen Grund gehabt, mitzukommen, was verdächtig geworden wäre. Jack hob eine Augenbraue. „Sie sieht aber gar nicht wie eine Indigonerin aus…“ „Wir haben uns auf der Coeur-Academy kennengelernt.“, erklärte Ariane und hakte sich bei Carsten unter, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. …Was ihn noch roter werden ließ. Jack schien verwirrt. „Auf der Coeur-Academy? Ich dachte, Indigo sei eine unabhängige Region.“ „Ich war eine Ausnahme.“ Carsten hoffte, dass seine Stimme nicht so angespannt klang, wie er sich fühlte. „Na das ist auch das Mindeste, was sie für dich tun konnten… Nachdem sie dich auf diese Höllenanstalt geschickt hatten.“ Damit hatte Jack Carsten völlig überrascht. Er musste aufpassen, sich nicht zu verplappern, immerhin stand es noch nicht hundertprozentig fest, dass Jack wusste, dass einige ihn durchschaut hatten. Daher fragte Carsten vorsichtig: „W-woher… wissen Sie das?“ „Das weißt du genau.“ Jack schaute ihn durch die blauen Kontaktlinsen eindringlich an und Carsten bekam es erneut mit der Angst zu tun. Daher war er dankbar, dass Jack seinen Blick wieder abwandte. „Wie viele der Dämonenbesitzer sind hier?“ Er schaute sich im Saal um. Erst auf Öznur, die immer noch neben ihm stand. „Eins…“ Danach auf Ariane. „Zwei…“ Anne und Susanne, die sich mit irgendwelchen Firmenchefs unterhielten, beziehungsweise diskutierten. „Drei, vier… Ich glaube übrigens nicht, dass die beiden zusammen sind…“ Laura und Benni standen bei Konrad, Rina und weiteren Senatsmitgliedern. „Fünf, sechs…“ Lissi und Eagle, die immer noch mit Lukas sprachen. „Sieben, acht…“ Danach fiel sein Blick auf Florian, der genau in dem Moment zusammen mit weiteren Wesen aus Ivory eintraf. Unter ihnen auch der König, die Königin und jene Prinzessin, die in der Videokonferenz mit einigen Andeutungen erwähnt wurde. Und… Janine. Würde Carsten sie nicht persönlich kennen, hätte er nie und nimmer vermutet, dass Janine ein Mensch war. Sie war eine Elbin, eindeutig. Eine wunderschöne Elbin. „Neun…“, zählte Jack weiter und Carsten hoffte von ganzem Herzen, dass niemand in diesem Moment irgendwie Janine verraten würde. Denn für sie war es von allen am gefährlichsten. Weshalb Carsten selbst versuchte, Jack ruhig zu beobachten. Dieser betrachtete Janine noch einen weiteren kurzen Moment, wandte sich allerdings nach einer Weile wieder ab. Die Zehn kam nicht mehr. Stattdessen musterte er Carsten kritisch. „Neun Besitzer und je ein Gezeichneter und Gesegneter. Was habt ihr vor?“ „Das sollten wir eigentlich dich fragen.“ Fragend schaute Ariane ihn an. „Warum tust du all das?“ „Den Punsch holen? Frag nicht, keine Ahnung. Es kotzt mich immer noch an, dass Lukas auf einmal das Gefühl hat, mich herumkommandieren zu können.“, antwortete Jack sarkastisch. Öznur stöhnte auf. „Nicht der Punsch. Okay, doch auch. Nein, warum… Warum bist du auf der bösen Seite?“ Jack verdrehte die vermeintlich blauen Augen. „Ist für euch alles so schwarz-weiß?“ „Nein, mein Dämon ist grau.“ Plötzlich stand Eagle bei ihnen. „Dieser Witz war schlecht.“, meinte Jack nüchtern, doch sowohl er als auch Carsten schauten gleichzeitig überrascht in dieselbe Richtung und bemerkten: Lissi und Lukas waren nicht mehr dort, wo sie vorhin noch standen. Jack stieß einen leisen, vulgären Fluch aus und schien sie suchen zu wollen, doch Eagle packte ihn grob am Arm. „Die beiden wollen etwas Zeit für sich.“ Missbilligend schüttelte Jack den Kopf. „Lukas ist so was von scheiß naiv. Scheint in der Familie zu liegen, seine Cousine ist nicht groß anders.“ Eagle verstärkte seinen Griff und Jack verzog schmerzverzerrt das Gesicht. „Rede lieber nicht so über Laura, wenn du weißt, dass ihre Freunde deine Gesprächspartner sind.“ Jack schnaubte und erwiderte Eagles Blick. Zwar war er bei weitem noch nicht so furchteinflößend wie Benni, weil ihm diese Vampirausstrahlung fehlte, aber trotzdem bekam Carsten bei Jacks Blick eine Gänsehaut. Zum Glück dauerte er nicht lange an, denn Jack riss sich grob von Eagle los und ging auf die Haupttür zu, durch die sie vorhin in die große Halle gekommen waren. Vermutlich, um Lukas und Lissi zu folgen. Eagle zischte ein verärgertes „Verdammt“ und folgte ihm. Warum auch immer, vermutlich, weil sie nicht wollten, dass Eagle im Alleingang irgendein waghalsiges Manöver startete, folgten Carsten, Ariane und Öznur ihm. Sie hatten gerade erst die Halle verlassen, als sie sehen konnten, wie Eagle Jack einholte und ihn mithilfe seiner Wind-Energie über die Treppen in den Keller stieß. Jack war allerdings alles andere als unsportlich, sodass er seinen Sturz in einen Rückwärtssalto umwandelte und aufrecht auf den Beinen landete. Eagle sprang über das Geländer hinterher und wäre Carsten kein antiker Begabter, hätte er den Kampf mit bloßem Auge nicht verfolgen können, der sich zwischen Eagle und Jack entwickelte. Auch wenn sein großer Bruder der zweitstärkste Kämpfer Damons war, schien Jack ihm dennoch gewachsen zu sein. Mal hatte Eagle die Oberhand, dann gewann Jack sie und zwischendurch setzte einer der beiden seine Energie ein. Einer von Jacks Gesteinsbrocken hätte fast Carsten und die Mädchen erwischt, hätte er nicht rechtzeitig ein Magieschild beschwören können. Schließlich landete Eagle endlich einen kritischen Treffer. Er nutzte Jacks ungeschützte linke Seite aus und verpasste ihm einen blitzschnellen Hieb direkt gegen die Rippen. Carsten meinte, ein Knacksen gehört zu haben, als Eagle Jack aus dem Gleichgewicht brachte und ihn mit einem Schlag gegen die Brust, unterstützt von seiner Wind-Energie, gegen die Wand schleuderte, diese durchbrach und in einem kleinen Raum im Keller landete. Carsten rannte hinterher und bekam aus den Augenwinkeln mit, wie Eagle Jack einen schmerzhaften Tritt in den Bauch verpasste. „Stopp!!!“, schrie er zu seinem Bruder rüber. Eagle hatte Jack eindeutig besiegt, das reichte jetzt! Überraschender Weise hielt Eagle bei seinem nächsten Schlag tatsächlich inne und richtete sich auf, allerdings nicht, ohne Jack noch einen weiteren Tritt zu verpassen, der ihn auf dem Boden halten sollte. Eagle schnaubte. „Ernsthaft? Du willst mich davon abhalten, diesen Arsch zu vermöbeln?“ Noch bevor sich Jack aufrichten konnte trat Eagle ihm auf den Rücken. „Carsten hat Recht, lass ihn!“, forderte Öznur ihren Begleiter auf. „Und dann? Soll er zu Lukas rennen und unseren ganzen Plan vereiteln?“ Eagle verlagerte sein Gewicht noch mehr auf das Bein, das Jack am Boden halten sollte. „Na gut, dann verhandeln wir halt mit ihm!“, schlug Ariane vor. „Wir lassen ihn gehen aber dafür lässt er uns diese Nacht in Ruhe und unser Ding, genauer Lissis Ding, durchziehen. Das wäre fair.“ „Ja, klar. Als würde er diese Abmachung einhalten. Er ist der Böse!“, erinnerte Eagle sie. „Sieht eben gerade aber anders aus.“, keuchte Jack, trotz seiner Lage noch ziemlich sarkastisch. „Pah, nur weil ich dir ne Abreibung verpasst habe.“ Carsten war sich hundertprozentig sicher, dass Eagle mit seinem Sieg jetzt angeben wollte. Dennoch ließ er zum Glück von Jack ab und diesen sich aufrichten. Jack zog die blonde Perücke aus und zeigte somit zum Teil sein wahres Aussehen mit den rotbraunen Haaren, die auf der rechten Seite länger waren, als auf der linken. Öznur hatte sowas mal einen Sitecut genannt, wenn sich Carsten recht erinnerte. Verbissen ging er auf Jack zu und kniete sich vor ihn. Er sah echt übel zugerichtet aus und als Heiler bekam Carsten sofort das Gefühl, ihn verarzten zu müssen. Ja, obwohl er ‚der Böse‘ war. „Ernsthaft? Du willst mir helfen?“ Jack stieß Carstens Hand weg, allerdings war alleine diese Bewegung schon schmerzhaft und als Jack husten musste, spuckte er etwas Blut aus. Carsten biss die Zähne zusammen. „Du brauchst einen Arzt, das sieht nämlich wirklich übel aus.“ Schon alleine auf dem ersten Blick konnte Carsten sehen, dass Jack ein blaues Auge, einige gebrochene Rippen, einen verstauchten Arm und ein gebrochenes Bein hatte. Okay, auch Eagle sah von diesem Kampf ziemlich mitgenommen aus, mit mehreren Blutergüssen und vielen Prellungen und Carsten vermutete, er hatte eine leichte Gehirnerschütterung und da er humpelte einen verstauchten Fuß. Aber er hatte Jack eben durch die Wand katapultiert! Also ging es Jack garantiert schlechter als Eagle. Sein großer Bruder rieb sich das Handgelenk, vermutlich eine weitere Verstauchung und meinte missbilligend: „Sei nicht noch bescheuerter, als du eigentlich schon bist.“ „Und du hältst dich da raus.“, forderte Carsten ihn gereizt auf. Als er sich wieder Jack zuwandte, schüttelte dieser den Kopf. „Ernsthaft, du verletzt noch meinen Stolz.“ „Dann steig von deinem hohen Ross runter!“, griff Öznur Carsten unter die Arme. „Wir wollen dir helfen!“ „Und dafür soll ich auf eure Seite wechseln.“, vermutete Jack nüchtern. „So ein Unsinn! Wir sind keine Erpresser, im Gegensatz zu Mars!“, empörte sich Ariane. Jack seufzte. „Mars ist kein Erpresser. Also… zumindest mich erpresst er nicht.“ „Und warum bist du dir da so sicher?“, fragte Öznur, fast schon sanft klingend. „Weil.“ Er warf Carsten einen drohenden Blick zu. „Unterschätz mich nicht, Carsten. Ich warne dich ein allerletztes Mal.“ Betrübt senkte er den Blick. „Ich will dir wirklich nur helfen, ohne irgendeine Gegenleistung. Immerhin weiß ich, dass auch Gutes in dir steckt. Sonst hättest du mich damals im FESJ-“ Nach diesen Worten war Carsten gar nicht mehr in der Lage zu realisieren, was geschah. Er hörte nur noch, wie Jack auf einmal schrie: „Ich hab dich gewarnt!“ und sich irgendetwas in seine linke Seite schnitt. Um ihn herum färbte sich auf einmal alles blutrot. Carsten hatte das Gefühl zerrissen zu werden, als er den Halt am Boden verlor.   ~*~   Das alles geschah so schnell, dass Ariane noch nicht einmal hätte schreien können. Sie konnte nur mit entsetzt geweiteten Augen mitansehen, wie unter Jacks Hemdärmel zwei längliche Metallklauen hervorschossen, die von orange-lodernden Flammen umgeben waren und direkt auf Carstens Gesicht zielten. Carsten schrie vor Schmerz auf und löste aus Reflex eine Magieexplosion aus, deren Wucht sowohl Jack als auch ihn traf. Sie riss Carsten von den Beinen, schleuderte ihn gegen die gegenübergelegene Wand und ließ ihn dann hart auf dem Boden aufschlagen. Dort blieb er reglos liegen. Doch Jack hatten sie eindeutig unterschätzt. Trotz seiner Verletzungen und dieser Explosion war er in Sekundenschnelle bei Carsten und hob die Klauen für einen weiteren Angriff. Gerade als Öznur panisch schrie: „Eagle, mach was!“ schoss ein Messer an Ariane vorbei und durchbohrte Jacks Hand. Dieser hielt in der Bewegung inne und schaute, ebenso wie Ariane, nach demjenigen, der ihn angegriffen hatte. Und Ariane fiel ein Stein vom Herzen, als sie sah, wie Benni über das Geländer den Rest der Treppe herunter sprang und in wenigen Schritten das Loch erreicht hatte, das sich durch den Kampf zwischen Eagle und Jack gebildet hatte. Er brauchte noch nicht einmal etwas zu sagen. Alleine sein tödlich eiskalter Blick und das rötlich flackernde rechte Auge reichte schon aus, um Jack klarzumachen, dass er lieber von hier verschwinden sollte… Und genau das tat Jack. Ariane bemerkte das orangene Leuchten eines Rings an seinem Finger, als hinter ihm ein schwarz-orangener Strudel auftauchte, der Jack verschluckte. „Scheiße, warum hast du ihn entkommen lassen?!?“, fuhr Eagle Benni verärgert an. Doch dieser beachtete ihn nicht und ging stattdessen in schnellen Schritten direkt auf Carsten zu, der immer noch reglos auf dem Boden lag. Inzwischen hatte sich eine große dunkle Blutlache unter ihm gebildet, dass Ariane schon alleine beim Anblick davon richtig schlecht wurde. Dennoch war ihre Angst um Carsten groß genug, dass sie ihre Übelkeit überwand, um ihn verzweifelt zu betrachten. Jacks Angriff hatte ihm eine unheimlich große, tiefe Wunde zugeführt, die von seiner linken Schläfe, über sein Kinn, den Hals und zum Teil den linken Arm ging, bis sie etwa bei der Taille endlich aufhörte. „I-ist er… tot?“ Ariane brachte bei ihrer verängstigten Frage nur ein Flüstern zustande. Benni hatte sich derweil neben seinen besten Freund gekniet und versuchte, trotz mangelnder Arzt-Kenntnisse, mithilfe seiner Anzugsjacke die starke Blutung zu stillen. „Was ist denn los?!“, hörte Ariane Lauras panische Stimme hinter sich. Kurz darauf hatte sie die um Carsten versammelte Gruppe erreicht und hielt entsetzt den Atem an. „Carsten?!?“ Vollkommen aufgelöst kniete sich Laura auf die andere Seite neben ihn und schien gar nicht zu bemerken, dass sein Blut ihre Beine rot färbte. „Carsten?!? Carsten, was hast du?!? Sag was!!!“, schrie sie verzweifelt unter Tränen. „Wach auf!!!“ Im Gegensatz zu Laura war Benni wie immer beeindruckend ruhig. Ariane hörte, wie er einige Sätze auf Rumänisch sagte, vermutlich zu Konrad, der ihn durch seine Vampirsinne trotz der Entfernung hören konnte. Kurz darauf stand der Vampir auf einmal neben ihr. „Saya ist schon unterwegs.“, meinte Konrad nur. Erstaunt beobachtete Ariane, wie sich das Blut unter Carsten nach und nach auflöste, bis es vollkommen verschwunden war. Gleichzeitig bemerkte sie eine petrolfarbene Aura, die um Konrads Körper loderte. „Was hast du gemacht?“, fragte Ariane schließlich, als er anscheinend fertig war. „Das verlorene Blut gespeichert.“, erklärte Konrad, „So braucht er keine Transfusion. Bevor er an Blutmangel sterben würde kann ich es ihm wieder geben.“ „Und warum gibst du es ihm nicht jetzt?!?“ Verzweifelt schaute Öznur ihn an. „Weil ich die Wunden nicht heilen kann.“ „Dann hol Susi!!!“, forderte Laura den Vampir nahezu hysterisch auf. Doch Konrad schüttelte den Kopf. „Ihre Dämonenprüfung scheint sie ganz schön traumatisiert zu haben… Als ich sie aufforderte mitzukommen, wurde sie genauso blass, wie Carsten eben ist.“ Verzweifelt hob Öznur die Hände. „Das kann doch nicht wahr sein! Wir sollten doch lernen unsere Kräfte einzusetzen und nicht, Angst vor ihnen zu bekommen! Carsten stirbt hier vielleicht!!!“ Derweil hatte sich Benni wieder aufgerichtet und legte Carstens verwundeten Arm über seine Schulter, um ihn zu stützen. Dieser gab vor Schmerz einen erstickten Laut von sich. „Was machst du da?! Du tust ihm weh!!!“, schrie Ariane Benni erschrocken an. „Wir müssen ihn von hier weg bringen.“, erwiderte er nur und Ariane fragte sich, ob er wirklich so ruhig war, wie er nach außen hin wirkte, während sie, Laura und Öznur kurz vor einem Nervenzusammenbruch standen. Konrad nickte. „Carstens Blut riecht ungewöhnlich gut. Wer weiß, wie lange die anderen Vampire dem noch widerstehen können.“ Öznur seufzte. „Na super! Und wohin?! Du siehst doch, jede noch so kleine Bewegung ist für ihn schmerzhaft!“ „Durch die Hintertür nach außen. Dort wartet Saya mit einem Krankenwagen.“, antwortete Benni knapp. Doch auch nur ein Schritt nach vorne ließ Carsten erneut vor Schmerz aufschreien. Seine Stimme klang heiser und als würde ihm das Atmen Schwierigkeiten bereiten. Ariane kniff die Augen zusammen. Sie konnte Carstens Leiden und das Blut nicht länger mitansehen. „Eagle, jetzt hilf Benni doch!“, forderte Laura Carstens großen Halbbruder flehentlich auf. Dieser verdrehte genervt die Augen, ging aber zu Carsten rüber und legte den zweiten Arm über seine Schultern, allerdings bei weitem nicht so vorsichtig wie Benni, sondern unnötig grob, sodass er ihm nur noch mehr Schmerzen bereitete. „Ernsthaft, musste das jetzt sein?!“, herrschte Öznur ihn an. „Schon schlimm genug, dass du nichts getan hast, um ihn zu beschützen aber jetzt benimm dich nicht noch asozialer!!!“ „Schaffen wir ihn endlich hier raus.“, drängte Konrad die streitende Gruppe. „Sich jetzt an den Hals zu fallen wird Carsten nicht gerade das Leben retten.“ Ariane war froh, dass jedenfalls ein paar wenige von ihnen die Ruhe bewahren konnten. Ohne Konrad und Benni hätten sie Carsten vermutlich schon längst verloren… Während sie durch den Keller unentdeckt zur Hintertür gelangten, klammerte sich Laura die ganze Zeit über zitternd an Arianes Hand und versuchte, sich mit ihrem Schluchzen zurückzuhalten. Endlich außen angekommen wartete bereits Saya mit dem Krankenwagen. Eagle und Benni legten Carsten auf einer Trage ab und Saya strich ihrem Sohn einige seiner schwarzen Strähnen aus dem verschwitzten und blutigen Gesicht. „Carsten hörst du mich? Wir bringen dich jetzt in das Krankenhaus in Karibera, okay?“, sagte sie mit erstaunlich beherrschter Stimme zu ihm. Carsten brachte als Antwort nur ein kraftloses und dennoch offensichtlich schmerzhaftes Nicken zustande. Saya schob die Trage in den hinteren Teil des Krankenwagens, während Laura sie panisch fragte: „Warum Karibera?!? Das von Zukiyonaka ist doch viel näher, Carsten muss so schnell wie möglich behandelt werden!!!“ Saya schnaubte. „Bei denen kannst du keine gute Behandlung erwarten. Nach der Sache mit Benni mach ich das lieber selbst.“ „Ja, aber-“, setzte Laura an, doch Benni schob sie sowohl sanft als auch drängend Richtung Krankenwagen. „Steig ein.“ Sein Blick fiel auf Öznur und Eagle. „Ihr wartet, bis Lissi fertig ist und kommt nach.“ „Und die anderen?“, fragte Öznur. „Sollen ebenfalls zum Krankenhaus kommen. Aber zeitversetzt, sonst decouvrieren sie sich.“ Ariane seufzte. „Jack hat es doch sowieso schon herausgefunden…“ „Und die anderen Adligen?“, erinnerte Konrad sie, „Ihr werdet nicht nur von Mars gesucht, jeder möchte euch aus irgendeinem Grund in seiner Gewalt haben.“ „Na los, steigt ein.“, forderte Saya sie drängend auf. Öznur drückte Laura und Ariane kurz an sich. „Das wird schon, er darf einfach nicht sterben!“ Sie musste bei diesen Worten aber selbst schluchzen. Eagle verdrehte bei ihrem Aufheiterungsversuch zwar spöttisch die Augen, aber Ariane hielt sich mit aller Kraft zurück, ihm ins Gesicht zu boxen. Sein Kampf mit Jack hatte ihn schon übel genug zugerichtet und sie mussten sich beeilen, um Carsten endlich ins Krankenhaus zu bringen. Laura und Ariane quetschten sich neben den Fahrer nach vorne, der sofort los düste, als alle eingestiegen waren, während Benni und Konrad hinten Saya dabei halfen, dass Carsten diese Fahrt überhaupt überlebte. „Carsten darf nicht sterben…“, schluchzte Laura und klammerte sich an Ariane. Diese drückte ihre beste Freundin an sich und verfluchte sich selbst und alle anderen, dass sie nicht auf Benni gehört hatten. „Er hatte Recht… Wir waren viel zu unvorsichtig.“ Kapitel 44: Durch den Wind -------------------------- Durch den Wind Eagle stieß einen Fluch aus, als er sein Gewicht zu sehr auf das Bein mit dem verstauchten Knöchel verlagerte. Na klar. Carsten wurde jetzt verhätschelt bis zum geht nicht mehr und er durfte trotz seiner Verletzungen auf diese kleine Schlampe warten! Verdammt noch mal, er hatte Jack daran gehindert, ihr gesamtes Vorhaben zu versauen! War ein Dank dafür zu viel verlangt?! „Setz dich.“, forderte Öznur ihn in harschem Ton auf, der alles andere als dankbar klang. Eagle ließ sich auf einem Stuhl in der Küche nieder, während Öznur ihm einen eiskalten Beutel gegen die Schulter drückte. „Ah! Hast du sie noch alle?!“ „Das muss gekühlt werden. Klare Anweisung von Susanne.“, erwiderte Öznur. „Und du sollst dich ausruhen.“, kam von weiter hinten eine etwas freundlicher klingende Anweisung von Susanne selbst. „Sag Bescheid, falls du Schwindel oder Übelkeit verspürst, oder das Bewusstsein verlieren könntest.“ Eagle schüttelte schnaubend den Kopf, was allerdings sofort Schwindel auslöste, weswegen er es lieber bleiben ließ, sich überhaupt zu bewegen. Susanne kam mit einigen Verbänden und machte sich daran, Eagle das verstauchte Handgelenk zu bandagieren. Die Bediensteten, die in der Küche arbeiteten, schauten zwar hin und wieder etwas verwirrt nach ihnen, sagten aber nichts. Eigentlich sollte sich Eagle darüber freuen, dass sich zwei hübsche Mädchen um seine Wunden kümmerten. Aber derzeit war seine Laune einfach zum kotzen. Besonders, weil Öznur auch nicht gerade sanft mit ihm und seinen Verletzungen umging. Eagle war zwar keine Memme, aber es tat trotzdem scheiß weh. „Was ist dein Problem, verdammt noch mal?!“, schnauzte er sie deshalb gereizt an, als Öznur ihm einen der Kühlbeutel fast ins Gesicht geworfen hatte, der für den Bluterguss an seiner Schläfe bestimmt war. „Was mein Problem ist?!? Dein kleiner Bruder wurde eben fast umgebracht!!! Und du hast nichts gemacht, um ihm zu helfen! Im Gegenteil!!!“ „Na und?“ Bei dem erneut aufkommenden Schwindel ließ Eagle das Kopfschütteln dieses Mal lieber bleiben und hielt mit der nicht verletzten Hand den Kühlbeutel gegen seine Schläfe. „Wie oft muss ich dir noch sagen, dass er nicht mein Bruder ist? Ich kann ihn nicht leiden, okay? Es ist mir herzlichst egal, ob er nun stirbt oder nicht!“ „Rrrrraaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah, das kann doch nicht wahr sein!!! Er ist dein Bruder, verdammt noch mal!!!“, schrie Öznur aufgebracht. Okay, nun wurde Eagle schon alleine von ihrem schrillen, lauten Ton schwindelig. Hoffentlich war Lissi bald fertig mit Lukas und kam wieder, damit Eagle endlich seine Ruhe haben konnte. „Öznur, beruhige dich bitte.“, forderte Susanne sie ruhig auf. „Es hat keinen Sinn jetzt mit Eagle zu schimpfen. Mit seinen Verletzungen ist er ohnehin schon genug bestraft.“ Schnaubend wandte sich Eagle ab. Ernsthaft? Bestraft?!? Er rettete diese komische Aktion und nun wurde er durch seine Verletzungen bestraft?!? „Ist alles in Ordnung mit euch?“, erkundigte sich Samira Yoru und kam von der Küchentür zu ihnen rüber, gefolgt von ihrem Mann Jacob Yoru. Eagle schnaubte. Wohl kaum. „Können Sie diesem unsensiblen Wurm vielleicht etwas Geschwisterliebe beibringen?“, fragte Öznur das Ehepaar verzweifelt. „Carsten stirbt vielleicht und dem da ist das scheiß egal!“ „Ist nun mal so!“, herrschte Eagle sie an. „Und jetzt hör endlich auf, dich in meine Angelegen-“ Der plötzlich aufkommende starke Schwindel brachte Eagle zum Schweigen. Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Es kam ihm vor wie in Zeitlupe, als der Kühlbeutel ihm aus der Hand fiel und sich oben und unten auf einmal vertauschte. Ehe er vom Stuhl fiel, stützte ihn jemand und er hörte gedämpft, wie Samira Öznur riet, lieber rauszugehen. Seine Sicht schärfte sich wieder, als Susanne ihm die Stirn kühlte. „Ich habe doch gesagt, du sollst dich ausruhen und nicht ausrasten.“, seufzte sie und gab den Kühlbeutel an Samira weiter, um sich nun um Eagles verstauchten Fußknöchel zu kümmern. Okay, eigentlich war es bescheuert, so über Benedicts Mutter zu denken, aber in Eagles Kopf fühlte sich eben gerade sowieso alles wie Matsch an. Da durfte der Gedanke zur Ausnahme schon mal dabei sein, dass Samira Yoru verdammt heiß war, auch wenn sie um die zwanzig Jahre älter war als er. Wobei ‚heiß‘ nicht ganz der treffende Ausdruck war… Sie erinnerte ihn mit dem hellblauen, leicht glitzernden, eng anliegenden Kleid eher an diese Eiskönigin, wo Sakura in den Weihnachtsferien im Kinofilm war. Falls der Film keine Animation geworden wäre, hätte Samira unter Garantie diese Rolle bekommen. Ja, in Eagles Kopf war zurzeit wirklich nur Matsch. Er machte sich Gedanken über einen Kinderfilm, verdammt noch mal!!! „Und warum kümmern Sie sich jetzt um mich?“, fragte er träge, als Samira das Stirnkühlen übernahm. „Müssten Sie nicht auch total sauer sein, weil es mir am Arsch vorbeigeht, ob der beste Freund von Benedict nun stirbt oder nicht?“
Samira seufzte. „Nicht sauer, es macht mich nur sehr traurig. Sisika hätte nicht gewollt, dass sich zwischen euch so eine Kluft bildet…“ „Lass meine Mutter aus dem Spiel!“, rief Eagle aufgebracht und wollte aufspringen, doch als ihm erneut schwindelig wurde, ließ er es lieber bleiben und beobachtete stattdessen, wie Jacob den Kopf schüttelte und einige Worte mit seiner Frau wechselte. Doch das Rauschen in Eagles Ohren hinderte ihn daran, irgendetwas zu verstehen. Nach dem Gespräch verließ Jacob die Küche und kam kurz darauf mit Florian zurück. „Wir bringen dich jetzt ins Krankenhaus zu den anderen.“, meinte dieser und half Eagle zusammen mit Jacob auf die Beine. Eagle schnaubte. „Echt jetzt? Wie edelmütig von euch. Und was ist mit Lissi?“
„Hier bin ich, Eagle-Beagle!“ Kam Lissis Quietsche-Stimme vom Eingang, was Eagles derzeitigen gesundheitlichen Zustand nicht gerade besserte, sondern nur noch mehr Kopfschmerzen verursachte. „Hast du was herausfinden können?“, erkundigte sich Florian, während er und Jacob Eagle auf dem Weg zur Hintertür hin stützten, wo Saya vorhin mit dem Krankenwagen auf sie, genauer auf die kleine Nervensäge Carsten, gewartet hatte. Tatsächlich beantwortete Lissi seine Frage mit einem Nicken, wirkte dabei aber seltsam niedergeschlagen. „Ich erzähl euch alles später…“ Statt mit einem Krankenwagen, fuhren sie dieses Mal bei den Yorus mit. Also Eagle, Lissi und Öznur, die anderen würden dann später irgendwann nachkommen. Auch während der Fahrt nahm Eagle alles um ihn herum nur verschwommen wahr. Er war froh, als sie die Autobahn herunterfuhren und die Landschaft ihm immer vertrauter wurde. Jacob parkte seinen Porsche auf einem Besucherparkplatz vom Krankenhaus von Karibera, einem flachen, länglichen Gebäude mit Holzfassade. Öznur und Lissi, die sich bei dem Viersitzer auf einen Platz gequetscht hatten, waren offensichtlich froh, endlich wieder ihren Freiraum zu haben, während Jacob Eagle aus dem Wagen half. Eagle war erleichtert, dass er seine Übelkeit in den Griff bekommen hatte. Denn auch wenn er Benni nicht allzu sehr mochte, waren seine Eltern doch ganz okay und der silberne Porsche war cool, den hätte er nicht vollkotzen wollen. Dennoch war ihm scheiß schwindelig und er wollte sich einfach nur noch hinlegen. Bei dem ganzen Durcheinander in seinem Kopf kam er gar nicht dazu, mithilfe seiner Energie den Heilprozess zu beschleunigen und Eagle hoffte, dass sich das schnell bessern würde. Natürlich musste ausgerechnet Benedict aus dem Eingang des Krankenhauses kommen. „Wie geht es Carsten?!?“, fragte Öznur ihn aufgebracht. „Laut Saya kritisch.“, antwortete er nur und Eagle wurde den Gedanken nicht los, trotz seiner derzeitigen Verfassung einen Hauch Sorge in Benedicts Stimme gehört zu haben. Die beiden Mädchen tauschten einen verzweifelten Blick aus, während ausgerechnet Benedict Eagle stützte und in das Innere des Krankenhauses half. „Ich will deine Hilfe nicht.“, meinte Eagle schnaubend. „Dennoch brauchst du sie.“, erwiderte Benedict trocken. Eagle hatte eigentlich erwartet, dass Benedict ihn genauso grob behandeln würde, wie er selbst vorhin mit Carsten umgegangen war. So Rache-mäßig. Aber überraschender Weise war Benedict trotz allem ziemlich behutsam. Einerseits war Eagle auch froh darüber, immerhin war er verwundet, aber andererseits… Musste ihm der eiskalte Engel jetzt ein schlechtes Gewissen machen?!? Ja, gut, Eagle gab es zu. So sehr er Carsten auch hasste, er hätte ihn ruhig aufgrund seiner Verletzungen etwas besser behandeln sollen. Einfach weil es ihm ja wirklich so miserabel ging. Aber jetzt kam diese Einsicht sowieso schon zu spät. Benedict brachte Eagle in ein nicht belegtes Krankenzimmer, wo sich auch Laura und Ariane befanden, die beide immer noch ziemlich aufgelöst schienen. Während er Eagle auf einem Bett absetzte, beobachtete dieser, wie Ariane erfolglos versuchte, Laura und sich selbst zu beruhigen. Klar, sie hatte mitansehen müssen, wie Jack Carsten angegriffen hatte und das hatte schon ein ziemlich krasses Bild abgegeben. Eagle schnaubte. Ernsthaft? Hatte Jack ihm so übel zugesetzt, dass er inzwischen mit seinen Gedanken sogar zu Carsten abdriftete?! Auch Öznur und Lissi waren in das Krankenzimmer gekommen und versuchten ebenfalls, Laura und Ariane zu beruhigen, was ihnen aber nicht gerade gelang, da sie selbst kurz vorm Losheulen waren. ‚Klappe!‘, würde Eagle ihnen am liebsten jetzt zurufen, oder ‚Heult wo anders, ich will schlafen!‘, aber dafür war er viel zu erschöpft. So streifte er sich einfach die Schuhe von den Füßen und legte sich im Anzug auf das Bett. Einschlafen konnte er bei dem Geflenne der Mädchen leider nicht, aber immerhin konnte er sich ausruhen. Das war doch schon mal etwas. Nach und nach trudelten auch die restlichen der Dämonenbesitzer ein, erst Anne und Susanne und schließlich auch Florian und Janine mit Rina und immer wieder war die erste Frage: ‚Wie geht’s Carsten?‘ Als sie zum weiß Gott wievielten Mal fiel, platzte Eagle schließlich der Kragen. „Ihm geht’s scheiße! Zufrieden?! Und mir übrigens auch, also haltet entweder endlich mal die Fresse oder verschwindet!“ Seine Reaktion klang schroffer, als beabsichtigt und natürlich musste ausgerechnet Laura betroffen zusammenzucken, die sich das alles sowieso immer viel zu sehr zu Herzen nahm. Und natürlich hielt Benedict es nicht für nötig, sie zu trösten. Na gut, er war gerade auch gar nicht hier. Öznur schnaubte verärgert. „Echt jetzt?!?“ Laura schluchzte. „Wie kann dir Carsten so egal sein?!“
„Stimmt. Sogar als Benni damals bei dem Feuer schwer verletzt wurde, warst du betroffener.“, bemerkte Anne kritisch. „Ist halt so.“ Eagle zuckte mit den Schultern und stellte leicht erfreut fest, dass die beschleunigte Heilung endlich ihre Wirkung zeigte, da diese Bewegung kaum mehr weh tat. „Aber warum?!?“, schrie Laura weinend. „Carsten ist dein Bruder!!!“ Genervt massierte sich Eagle die Schläfen. Trotz der beschleunigten Heilung war er immer noch verletzt! Also warum mussten die Mädchen eigentlich bei jeder Kleinigkeit gleich loskreischen?!? Öznur seufzte. „Das hab ich ihm auch schon gesagt, aber es hat keinen Sinn. Eagle ist und bleibt ein Arsch.“ „Schön, dass du das auch noch in meiner Gegenwart sagen musst.“, schnaubte Eagle gereizt. „Ich hoffe halt, dass sich das irgendwann mal ändern wird!“ Verärgert funkelte Öznur ihn an. Laura schluchzte. „Na und? Selbst wenn… Carsten rettet das auch nicht!“ Ariane drückte sie wieder an sich. „Er wird schon wieder… Und wo zum Teufel ist der eiskalte Engel?!? Eigentlich sollte er sich doch um seine Freundin kümmern. Er weiß doch, wie schwer Laura das ganze trifft!“ Anne verdrehte die Augen. „Der drückt sich garantiert mal wieder davor, sie zu trösten. Ist doch typisch für ihn.“ „So ein Unsinn.“, nahm Janine Benedict in Schutz. „Saya hat Benni zum Häuptlingsanwesen geschickt.“, erklärte Konrad ruhig, der gerade das Zimmer betreten hatte. „Er soll für Carsten frische Sachen holen, die nicht gerade voller Blut sind.“ „Wie geht es ihm?“, erkundigte sich Susanne zögernd und Eagle gab sich alle Mühe, bei dieser Frage nicht schon wieder auszurasten. Konrad seufzte. „Na ja… Etwas besser. Ich habe ihm das Blut wiedergegeben und Saya hat die Wunden genäht, er ist also außer Lebensgefahr. Aber wenn er aus der Narkose aufwacht, wird er höllische Schmerzen haben…“ Janine atmete auf. „Aber er wird es schaffen?“
„Er hat gute Chancen.“, antwortete Konrad, was aber noch einiges offen ließ. „K-können wir… Zu ihm?“, fragte Laura, immer noch schluchzend und an Ariane geklammert. Konrad zwinkerte ihr zu und ging aus der offenen Tür raus. Kurz darauf kam Saya rein, die ein Krankenbett vor sich herschob. Viele der Mädchen stürmten sofort zu ihr, warteten aber, bis sie das Bett mit gerade mal zwei Metern Abstand neben das Bett von Eagle gestellt hatte. „Carsten! Wie geht es dir?!“, fragte Ariane besorgt. „Er schläft, du Dummkopf. Er wird dir nicht antworten können.“ Anne schlug ihrer Freundin auf den Hinterkopf. „Autsch! Na und?!“ Ariane rieb sich die schmerzende Stelle und funkelte Anne vorwurfsvoll an. „Aber ist es nicht zu gefährlich, wenn Sie ihn auf ein normales Krankenzimmer bringen?“, erkundigte sich Susanne besorgt. Saya winkte ab. „Ach was, Carstens Zustand ist ziemlich stabil. Und sollte es ihm wirklich unvermittelt schlechter gehen, gibt es hier genug Leute, die das sofort bemerken würden. Nicht wahr?“ Bei ihrer Frage lächelte sie zu Benni rüber. Eagle hatte gar nicht bemerkt, dass er inzwischen auch gekommen war und abseits bei Konrad an der Tür stand. „Na endlich!“, rief Ariane. Sie schaute den eiskalten Engel auffordernd an und deutete dann auf Laura, die neben ihr an dem Bett stand, in dem Carsten lag und immer noch total verheult war. Aber überraschender Weise saß sowohl ihre Frisur als auch ihre Schminke immer noch perfekt. Rina wusste anscheinend auch über Lauras Hang zum Heulen Bescheid. Tatsächlich schien der eiskalte Engel inzwischen etwas aufgetaut zu sein. Denn im Gegensatz zu sonst reichte schon alleine diese Aufforderung aus, dass er zu Laura rüberging und sie sanft in den Arm nahm, während sich Laura Trost suchend wie ein kleines Kätzchen an ihn kuschelte. Da Eagle den beiden ein bisschen Privatsphäre lassen wollte, richtete er sich etwas in seinem Bett auf, um Carsten mal genauer betrachten zu können. Nicht aus Sorge um ihn versteht sich, sondern einfach aus Neugierde. Seine linke Seite, die Jack regelrecht aufgeschlitzt hatte, war über und über mit großen weißen Pflaster-artigen Dingern beklebt. Eagle war kein Arzt, er kannte sich mit dem ganzen Zeug nicht aus. Aber einige der Mädchen schienen Carsten nicht wegen seiner Verletzungen zu betrachten. „Oh mein Gott!“, rief Öznur auf. „Ich wusste ja gar nicht, dass Carsten einen so guten Körperbau hat!!!“ Sowohl Florian, als auch Konrad und Rina mussten bei ihrem Kommentar lauthals loslachen, während sich Benni und Eagle fast gleichzeitig mit der Hand auf die Stirn schlugen. Allerdings war das für Eagle doch noch ziemlich schmerzhaft. „Ernsthaft?“, fragte er die Mädchen genervt. „Hey, das hatte keiner von uns gedacht!“, verteidigte sich Öznur. „Ich dachte, er hätte eher einen dürren Körper…“ „Wie Lauch!“, ergänzte Lissi. Laura schnaubte beschämt. „Ich bin nicht ‚dürr‘!“ „Oh doch, Bohnenstängchen. Und wie.“, widersprach Lissi ihr. Florian verdrehte grinsend die Augen. „Nur weil wir Magier sind, heißt das noch lange nicht, dass wir körperlich schwach sind. Im Gegenteil. Damit wir nicht unter den Nachwirkungen unserer Magie leiden, brauchen wir eine gewisse Fitness.“ „Ja schon, aber trotzdem. Ich hätte nicht gedacht, dass Carsten so muskulös ist.“, meinte Öznur unnötig begeistert. Na gut, muskulös musste hier wohl etwas anders definiert werden. Genau genommen war Carsten immer noch alles andere als muskulös. Er hatte kein sonderlich breites Kreuz und die definierte Muskulatur war zwar schon sichtbar aber nicht so stark ausgeprägt. Schlank beschrieb diesen Spargeltarzan also nach wie vor deutlich besser als muskulös. Aber zur Ausnahme hielt sich Eagle mit seiner Meinung mal zurück, immerhin war es ja nicht so, dass Carsten schlecht aussah. …Jacks Angriff hatte eindeutig irgendeinen Schaden in Eagles Hirn verursacht. Anne verdrehte die Augen. „Er war sechs Jahre im FESJ, eine Besserungsanstalt, die einen mit den reinsten Knochenarbeiten foltert. Und du denkst ernsthaft, nach diesen sechs Jahren hätte er noch nicht mal ansatzweise Muskeln bekommen?“ Lissi klatschte in die Hände. „Uuuuuuuuuuuuuuuuuuuuh, Banani, das ist ja mal was ganz Neues. Seit wann nimmst du unser Cärstchen denn so in Schutz?“ „Ich nehm ihn nicht in Schutz. Das sind neutral betrachtete Fakten.“, zischte Anne sie an. Einige der Mädchen tauschten vielsagende Blicke aus. „Na ja, er ist der erste Junge, dem du nicht ständig Kontra gibst.“, bemerkte Janine. Susanne nickte. „Da hat sie Recht.“ Anne grummelte etwas, aber das wurde von einer sich gerade öffnenden Tür überspielt. Chief, also Eagles und Carstens Vater, trat ein. Auch wenn Eagle ein angespanntes Verhältnis zu seinem Vater pflegte, hatte er doch großen Respekt vor Chief. Er war ein stattlicher Indigoner mit langen, glatten, schwarzen Haaren, die bereits einige gräuliche Strähnen hatten. Dennoch besaß er eine furchteinflößende und autoritäre Ausstrahlung, die durch das markante Kinn unterstützt wurde. Ebenso durch die etwas schmaleren hellbraunen bis orangenen Augen, die er an Eagle weitervererbt hatte. Er wandte sich an Saya. „Bist du fertig? Können wir gehen?“ Noch bevor Saya antworten konnte, meinte Öznur plötzlich: „Äh, hallo? Kein: ‚Wie geht es meinem Sohn?‘?!?“ Chief schaute zu Eagle rüber, der inzwischen aufrecht auf dem Bett saß. Zwar war er noch angeschlagen, aber es ging ihm weitgehend wieder ganz akzeptabel. Im Vergleich zu vor einigen Stunden jedenfalls. „Ich sehe, dass es ihm relativ gut geht, daher brauche ich nicht zu fragen.“, meinte Chief, nachdem Eagle seinen Blick kurz erwidert hatte. Ariane biss die Zähne zusammen. „Öznur hatte nicht Eagle gemeint.“ Nur ganz kurz betrachtete Chief Carsten, vielleicht noch nicht mal eine Sekunde lang, ehe er sich der Tür zuwandte. „Gehen wir.“ „Oh nein!“ Öznur stapfte an Chief vorbei, versperrte ihm den Weg raus und schlug die Tür zu. Bei dem Knall entstand um die gesamte Tür herum eine Stichflamme und der roten Aura um Öznur und ihren rot glühenden Augen nach zu urteilen, war sie verdammt angepisst. „Niemand verlässt hier diesen Raum, bis sich nicht endlich geklärt hat, warum Carsten so scheiße von seiner Familie behandelt wird!“ Auf Chiefs irritierten Blick hin meinte Öznur: „Das hat er nicht verdient!!!“ Eagle konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Diese Aktion von Öznur kam ihm echt zu blöd vor. „Ach nein?“
„Nein! Was ist daran so lustig?!“, fragte Öznur ihn verärgert. Eagle verdrehte die Augen. „Du willst uns in ein Krankenzimmer einsperren und dadurch zum Reden bringen? Abgesehen davon: Wenn du dich so sehr um ihn sorgst, dann solltest du vielleicht merken, dass Herumbrüllen ihm nicht gerade hilft. Im Gegenteil.“
„Was?!?“, schrie Öznur ihn an. „Du weichst uns doch immer aus, wenn wir wissen wollen, warum du Carsten so sehr hasst!“ Susanne ging zu ihr rüber und legte ihre Hand auf Öznurs Schulter. „Aber Eagle hat Recht. So gut dein Vorhaben auch gemeint ist, Carsten braucht unbedingt Ruhe.“ Öznur atmete tief durch und schien sich allmählich zu beruhigen. Doch das rot flammende Lodern wollte trotzdem nicht ganz verschwinden. „Na gut, ein allerletztes Mal auf die freundliche Tour.“ Anne warf Eagle einen warnenden Blick zu. „Also. Sag uns endlich, warum du Carsten nicht ausstehen kannst, oder ich katapultier dich aus dem Fenster. Dann wird die leichte Gehirnerschütterung von vorhin noch dein geringstes Problem gewesen sein.“ Natürlich wusste Eagle, dass er Anne haushoch überlegen war, aber da er ja nicht ganz auf dem Damm war, ging er trotzdem lieber auf Nummer Sicher. Außerdem musste er auch aufpassen, dass er die anderen nicht zu sehr verärgerte. Anne alleine war vielleicht kein Problem, aber auch Öznur traute er zu, handgreiflich zu werden und er wollte nicht als Brathähnchen enden. Und auf Florians Würge-Ranken hatte er erstrecht keine Lust. Einmal war schon mehr als genug. Bei Benedict baute Eagle jedenfalls darauf, dass er sehr beherrscht und nicht so kampflustig war und außerdem, wie vorhin auch, Rücksicht darauf nehmen würde, dass Eagle immer noch verwundet war. Verbissen stellte Eagle fest, dass Benni von allen hier wohl den ehrenvollsten Charakter hatte… Verdammt. „Also?“, drängte Ariane, „Sagst du uns, warum du Carsten nicht leiden kannst oder möchtest du den Weg nach Hause kriechen?“ Also im Drohen waren die Mädchen jetzt keine Meisterinnen, aber was soll’s. Seufzend gab sich Eagle geschlagen. War ihm doch egal, was sie danach von ihm hielten, wenn sie wussten, warum er Carsten nicht ausstehen konnte. „Es gibt keinen richtigen ‚Grund‘. Ich hab ihn einfach noch nie leiden können.“ „Das kann nicht sein.“, widersprach Susanne ihm. Ariane nickte. „Egal wie nervig kleine Geschwister auch sein können, man hat sie trotzdem lieb. Ich spreche da aus eigener Erfahrung.“ „Nun, dann liegt es vielleicht daran, dass ich Carsten nicht als meinen Bruder betrachte, wie ich euch schon die ganze Zeit versuche zu verklickern.“, meinte Eagle genervt. „Das versteh ich nicht ganz…“ Verwirrt schaute Laura ihn an. „Sakura magst du doch und sie ist auch nur deine Halbschwester.“ Eagle schnaubte. „Das ist was anderes.“ „Nein, ist es nicht.“ Öznur gab sich eindeutig Mühe, nicht zu laut zu sprechen. „Doch, ist es.“, gab ihm ausgerechnet sein Vater Recht. „Und daran bist alleine du Schuld.“ Eagle hatte keine Ahnung wieso, aber der Kommentar seines Vaters machte ihn regelrecht aggressiv. Vermutlich, weil dieser Kommentar ausgerechnet von seinem Vater kam. Ja klar, der Arsch wusste ja auch, wieso Eagles Beziehung zu Carsten was anderes war, als seine Beziehung zu Sakura. Doch Chief schien nicht verstanden zu haben, dass Eagle genau das mit seiner Aussage gemeint hatte, da er seinen Sohn nur total verwirrt anschaute. „Woran soll ich die Schuld tragen?“ Eagle ballte die Hände zu Fäusten. „Jetzt tu nicht so scheinheilig! Im Endeffekt bist du der Grund, warum ich Carsten schon immer gehasst habe! Du und Saya!!!“ Als niemand, noch nicht einmal die beiden Angesprochenen, verstanden, was er meinte, platzte Eagle endgültig der Kragen. „Denkt ihr im Ernst, ich bin so bescheuert, dass ich das nicht merken würde?! Dass du meine Mutter betrogen hast?!?“
„Ich habe sie nie betrogen.“, meinte Chief verwirrt. „Verkauf mich nicht für dumm! Carsten ist etwa zwanzig Minuten nach ihrem Tod auf die Welt gekommen! Super Timing, nicht wahr?!? Etwa neun Monate davor fickst du ihre beste Freundin und kaum ist Mutter tot hast du an ihrer Stelle noch nen Sohn!!! Wahnsinn, ein toller Stammesführer bist du!!!“, brüllte Eagle seinen Vater voller Zorn an. „Rede nicht in diesem Ton mit mir!“, erwiderte Chief wütend. „Ich rede, wie ich will!!!“ Eagle spürte, wie er derweil die gesamte Aggression, die sich über Jahre angestaut hatte, in Form seiner Wind-Energie endlich freiließ. Sie riss das Fenster auf, ließ Gegenstände im Raum herumwüten und warf einige der nicht so standhaften Mädchen zum Teil sogar schmerzhaft zu Boden. Doch Eagle war es egal. Diese ganzen Leute hier konnten ihn mal! Ehe es tatsächlich lebensgefährlich wurde, spürte er, wie jemand ihn in einem schmerzhaften Polizeigriff packte. „Lass es, du bist nur ein primärer Gesegneter! Du kannst mich nicht kontrollieren!“, rief Eagle über die Schulter Benedict zu, der nahezu unheimlich ruhig erwiderte: „Das habe ich auch gar nicht nötig.“ Eagle spürte, wie Benedict seinen Griff an Eagles Handgelenk verstärkte und zu spät fiel ihm auf, dass es jenes Handgelenk war, welches er sich im Kampf gegen Jack verstaucht hatte. Ein brennender Schmerz fuhr durch Eagle, als Benni ihm das schon verstauchte Handgelenk auch noch fast brach und mit einem Schlag war der gesamte Wind verschwunden. Krachend fielen die zuvor noch herumgeflogenen Sachen auf den Boden und ein Tisch hätte fast den immer noch im Bett liegenden Carsten erschlagen, als ein zweiter Windstoß kam, der alles wieder auf seinen rechten Platz brachte. Auch ohne hinzusehen wusste Eagle, dass dieser von Benedicts Wind-Energie ausgelöst worden war. Schwer atmend rieb sich Eagle das Handgelenk, das Benedict endlich wieder losgelassen hatte. Es tat höllisch weh. Derweil beobachtete er, wie sich die Mädchen wieder auf die Beine mühten und ihn zum Teil verängstigt musterten. Susanne wurde anscheinend von irgendetwas Scharfem gestreift, da sich ein leicht blutender Schnitt in ihrem Unterarm befand, der allerdings so schnell heilte, dass man ihm dabei schon zusehen konnte. Eagles Blick fiel auf seinen Vater, der ihn zornig anfunkelte. „Das reicht Eagle, du gehst jetzt sofort nach Hause und lässt dich hier nicht mehr blicken. Du bist eine Schande für die Familie.“
„Ach ja, bin ich?“, fragte Eagle gereizt. „Und was bist du dann?!“ „Es reicht!“ Unterbrach Samira Yoru den Streit. Es war schon fast beeindruckend, wie viel Kraft sie in diese zwei Worte legen konnte. Saya nickte. „Beruhigt euch, alle beide. Das hier ist ein Krankenhaus. Mein Krankenhaus. Und ich dulde eure Streitigkeiten hier nicht länger. Also entweder ihr verhaltet euch so, wie ihr euch eurem Verstand entsprechend eigentlich verhalten sollt, oder ihr könnt beide gehen.“ Da sogar Chief nichts erwiderte, blieb Eagle lieber auch still. Das letzte was er gebrauchen konnte war als Verletzter von Saya aus dem Krankenhaus geworfen zu werden, weil er sich mit seinem Vater gestritten hatte. „Ich glaube, hier liegt ein grundliegendes Missverständnis vor.“ Samira schaute Eagle fragend an. „Kannst du dich noch daran erinnern, wie Sisika aussah?“ „Willst du damit sagen, sie war hässlich?!“, fuhr Eagle sie aufgebracht an. Jacob Yoru hob beruhigend die Hände. „Beantworte einfach die Frage.“ Zähneknirschend wandte sich Eagle ab. „Nein, kann ich nicht. Wie auch?! Der Arsch, der sich mein Vater schimpft, hat offensichtlich alle Fotos entsorgen lassen und leider besitze ich nicht so ein Elefantengedächtnis, wie der eiskalte Engel.“ Benedict reagierte gar nicht darauf, während Chief widersprach: „Ich habe sie nicht entsorgt. Nur weggesperrt!“ „Und warum?!?“ „Wie soll ich deiner Meinung nach eine gesamte Region führen, wenn ich ständig an meine verstorbene Frau erinnert werde?!?“, fragte Chief. Auch wenn es rhetorisch gemeint war, antwortete Eagle: „Ich glaube, das war kein großes Problem für dich. Immerhin hast du sie betrogen!“ Dieses Mal hielt sich Eagle jedoch mit aller Kraft zurück, um nicht schon wieder auszurasten. Denn Benedict stand immer noch hinter ihm und Eagle hatte keine Lust, am Ende nicht nur ein verstauchtes, sondern ein gebrochenes Handgelenk zu haben. Samira seufzte. „Und genau hier liegt das Problem.“ Sie kam zu Eagle rüber und holte ihr Portemonnaie aus der Handtasche. Aus diesem wiederrum holte sie ein Bild und reichte es Eagle. Neugierig kamen fast alle Mädchen rüber, um das Foto ebenfalls zu betrachten, während Eagle es kritisch musterte. Jedenfalls vorerst… Das Foto zeigte drei junge Frauen und einen Mann, geschätzt drei Jahre älter als er und es stand sofort fest, wer sie waren. Bei den beiden in der Mitte handelte es sich um ein Brautpaar, offensichtlich Samira und Jacob. Neben Jacob stand Saya, anscheinend eine Trauzeugin und neben Samira… Eagles Mutter Sisika. Mit einem Schlag fiel Eagle das Atmen schwer und langsam hob er den Blick, als hätte er Angst, sein Kopf würde platzen, wenn er ihn zu schnell bewegte. Sisika hätte auch genauso gut Carstens Zwillingsschwester sein können. Es fiel ihm schwer, auf dem Bild seine Mutter erkennen zu können, einfach weil er immer und immer wieder Carsten in ihr sah! Der Mund, die weißen Zähne… Das war sein Lachen. Die freundlichen, großen Augen mit diesem magischen Lila… Das waren seine Augen. Der einzige Unterschied war, dass ihre schwarzen Haare nicht glatt waren, sondern perfekte Locken hatten. „W-wie ist das möglich?“, fragte Eagle mit zitternder Stimme, während er Carsten beobachtete, schwer verwundet und immer noch nicht bei Bewusstsein und in ihm auf einmal gleichzeitig seine Mutter sah, wie sie auf ihrem Sterbebett lag. „Was ist das für ein fauler Zauber?!“ Verzweifelt und verwirrt schaute er Chief, Saya, Samira und Jacob an. „Das ist keine Magie.“, erwiderte Saya ruhig. „Carsten ist Sisikas leiblicher Sohn.“ Da Eagle seine Sprache nicht wiederfinden konnte, fragte Ariane schließlich, ebenso verwirrt: „Aber wie kann das sein? Sie ist vor seiner Geburt gestorben, das hat Carsten selbst mal gesagt.“ Saya seufzte. „Na ja… Als Sisika erfuhr, dass sie zum zweiten Mal ein Kind erwartete, stand bereits fest, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Hätte sie das Kind allerdings behalten, hätte es sie so sehr geschwächt, dass sie keine zwei Monate mehr überlebt hätte. So wäre das nicht nur ihr, sondern auch der Tod des Kindes gewesen.“
„Ich habe ihr geraten, es abzutreiben.“, fuhr Chief verbissen fort. „Wenn der Junge ihren Tod bedeutet hätte und dabei noch nicht einmal selbst überleben konnte…“ Nach einer Weile meinte Saya schließlich: „Aber natürlich hat sie sich dagegen gewehrt. Sie wollte unter allen Umständen jedenfalls ihr Kind retten. Und als wäre das nicht genug, hatten Samira und Jacob sie auch noch nach allen Kräften unterstützt.“ „Natürlich.“, meinte Samira, als sei das selbstverständlich. „Wir konnten ihre Situation immerhin vollkommen nachvollziehen…“ Sie warf einen traurigen Seitenblick auf Benni, der ihm allerdings auswich. „Aber Carsten ist am Leben… Was habt ihr also gemacht?“, fragte Laura verwirrt und ging zu Benni rüber, um seine Hand zu nehmen. „Ich habe ihn an Sisikas Stelle ausgetragen.“, antwortete Saya. Einen Moment lang war der Raum bloß in ehrfürchtiges Schweigen getaucht. Eagle konnte nicht glauben, was seine Ohren ihm da weismachen wollten zu hören. Saya hatte… was? Also war sie gar nicht Carstens richtige Mutter? Er war in Wahrheit… Aber… „… Ihr wart wirklich gute Freunde…“, bemerkte Janine gerührt. „Aber wie kann es dann sein, dass Eagle Carsten von Anfang an so sehr gehasst hat? Immerhin sieht er seiner Mutter doch schon fast zum Verwechseln ähnlich!“, fragte Öznur. … Mit einem Schlag bekam Eagle bei ihren Worten ein schlechtes Gewissen. Er hatte Carsten sein Leben lang gehasst! Er hatte sich immer geweigert, ihn als seinen Bruder zu betrachten! Hatte allen Frust und Ärger an ihm ausgelassen! Und warum?!? Eagle ließ das Foto betrübt sinken. „Als kleines Kind hab ich immer gedacht, dass er meiner Mutter die Lebensenergie ausgesaugt hat, oder so ähnlich… Deshalb habe ich ihn irgendwie seit ich denken kann gehasst und auch als ich später wusste, dass das eigentlich unlogisch ist, der Hass…“ Eagle zitterte am ganzen Körper. Zur Ausnahme war ihm mal wirklich zum Heulen zumute, doch er hielt sich mit aller Kraft zurück. Nicht vor den ganzen Leuten. „Carsten sah Sisika schon als Baby sehr ähnlich. Vermutlich hat dich diese Ähnlichkeit unterbewusst verwirrt und um eine Antwort zu finden, hast du dir dann diese Geschichte zusammengereimt.“, vermutete Samira. „Und vielleicht hatte ihn auch das Bild damals negativ geprägt, als wir Carsten auf Sisikas Brust gelegt hatten.“, fiel Saya auf. „Hä?“ Fragend legte Ariane den Kopf schief. Saya seufzte traurig. „Carsten wusste seit seiner Geburt, dass ich nicht seine wahre Mutter bin…“ „Echt jetzt?!“, fragte Laura überrascht. „Ja, er hatte einfach keine Ruhe gegeben. Normalerweise beruhigen sich Neugeborene ja, wenn sie den Herzschlag ihrer Mutter hören, aber bei Carsten war das nicht so.“, erklärte Saya, „Erst als wir ihn zu Sisika gelegt haben, obwohl es in dem Moment nur noch ihre Leiche war, hat er sich beruhigt und ist eingeschlafen…“ „Das heißt, er wusste von Anfang an, dass seine leibliche Mutter tot ist?“ Janine rieb sich über die Augen, in denen sich anscheinend Tränen gesammelt hatten. Klar, sie war immerhin Vollwaise… Sie konnte Carstens Situation vermutlich viel zu gut mitfühlen. Saya nickte. „Vielleicht ist es euch aufgefallen, er hat mich immer nur bei meinem Namen genannt.“ „Stimmt!“, bemerkte Laura überrascht. Fragend schaute sie Benni an. „Wusstest du davon?“ Dieser nickte als Antwort. „Und warum habt ihr mir nichts gesagt?!“, fragte Eagle verärgert. „Hätte ich gewusst, wie das alles wirklich war, dann- … dann…“ „Dann… wärst du Carsten gegenüber nicht so ein Arschloch gewesen?“, schlug Öznur ihm vor. Verbissen nickte Eagle. Ja, dann hätte er das alles verstehen können!
Dann hätte er weder seinen Vater noch Carsten die ganze Zeit über gehasst!!! Chief seufzte. „Bis eben gerade haben wir gar nicht gewusst, dass du es nicht wusstest…“ „Aber Eagle hat euch doch sogar irgendwie dazu gebracht, Carsten auf das FESJ zu schicken! Warum habt ihr das nicht hinterfragt?!“ Vorwurfsvoll funkelte Laura Chief und Saya an. „Woher hätten wir denn wissen sollen, dass die Ähnlichkeit von Carsten und Sisika der Ursprung seines Hasses war?“, fragte Saya traurig. „Und Chief war es sowieso recht, dass Carsten aus seinen Augen verschwand…“ „Was?!? Wie können Sie ihrem eigenen Sohn das antun?!? Wissen Sie eigentlich, was er deshalb von Ihnen denkt?!?“, fragte Ariane aufgebracht. „Wie kann ich über den Tod von Sisika hinwegkommen, wenn ich sie Tag aus Tag ein vor Augen habe?!“, erwiderte Chief gereizt. „Ich habe nicht umsonst alle Bilder weggeschlossen! Und kaum fällt mein Blick auf Crow, sehe ich an seiner Stelle sie!“ „Aber das ist doch schön! Es ist wie als würde Sisika durch Carsten noch weiterleben!“, meinte Laura hoffnungsvoll, als Eagle noch etwas auffiel… Etwas Eindeutiges, was ihm eigentlich sofort hätte verraten können, dass Carsten sein vollständiger Bruder war… „Crow…“, murmelte er vor sich hin. Chief nickte. „Sie hat sich gewünscht, dass er nach einem Vogel benannt wird, so wie sie auch dich nach einem benannt hat. Crow, Krähe… Der Bote des Todes… Das hat gepasst.“ „Sie haben Carsten also ‚Todesbote‘ genannt?!“, fragte Öznur erschrocken. „Krähen haben in der Mythologie nicht nur eine so negative Bedeutung. Sonst hätten wir diesen Namen nie und nimmer zugelassen.“, beruhigte Samira sie. „In der Indigonischen Kultur heißt es, diejenigen mit dem Krafttier ‚Krähe‘ besitzen eine hohe Intelligenz.“ Jacob nickte zustimmend. „Und man könne die Pforte in die Welt alles Übernatürlichen sehen, wenn man einer Krähe in die Augen schaut… Angeblich. Aber es ist nicht zu bestreiten, dass Carstens Augen alleine durch das Lila schon übernatürlich wirken.“ Öznur atmete erleichtert auf. „Okay, dann passt der Name ja doch ganz gut zu Carsten… Aber trotzdem! Man nennt keinen ‚Todesboten‘!“ Saya seufzte. „Vielleicht stellt sich Carsten sogar deshalb lieber mit seinem Erstnamen statt dem eigentlichen offiziellen vor? Wer weiß. Sisika hätte ihn vermutlich Sparrow genannt…“ Traurig lachte sie auf. Doch Eagle war nicht zum Lachen zumute… Crow, Sparrow… Das war doch jetzt egal. Viel schlimmer war doch, dass er von Anfang an versucht hatte, Carstens Leben zur Hölle zu machen! Das Leben seines kleinen Bruders… Unbeabsichtigt rutschte Eagle das Foto aus der Hand, das er die ganze Zeit über verkrampft gehalten hatte. Aber ehe er es aufheben konnte, hatte Öznur es schon genommen und reichte es ihm. Anscheinend wirkte sein Gesichtsausdruck ziemlich verzweifelt, denn Öznur lächelte ihn aufmunternd an. „Hey, das wird schon. Du wirst schon sehen, Carsten wird wieder gesund und du kannst alles wieder gut machen.“ Traurig schaute Eagle zu Carsten rüber. „Du denkst doch nicht ernsthaft, dass er mir das alles verzeihen wird, was ich ihm in diesen sechzehn Jahren angetan habe…“ „Na ja… Er wollte sogar Jack helfen.“, überlegte Ariane. „Das war was anderes…“ „Aber du bist sein Bruder!“ In Lauras Augen standen mal wieder Tränen. „Tief im Herzen hat er dich immer geliebt…“ Kapitel 45: Konfrontation -------------------------    Konfrontation       Traurig betrachtete Janine Carsten. Selbst im Schlaf schienen ihn seine Wunden zu quälen… Und vermutlich nicht nur die Wunden, die Jack ihm zugefügt hatte. Sie wusste ja selbst wie es war, wenn man ohne Eltern aufwuchs. Aber Carsten hatte seine leibliche Mutter nie kennengelernt. Wie ging es ihm mit diesem Wissen? Äußerlich hatte er sich ja fast immer fröhlich und lebensfroh gezeigt, aber innerlich… Sie warf einen Seitenblick auf Benni. Vermutlich wusste nur er, wie sich Carsten wirklich fühlte. Erst jetzt fiel Janine auf, wie nahe sich die zwei standen. Ja gut, sie hatte schon davor gesehen, dass die beiden eine sehr starke Freundschaft verband. Aber jetzt konnte sie erst erkennen, wie stark diese Freundschaft wirklich war. Carsten war der einzige von ihnen, den Benni in seine vollständige Vergangenheit eingeweiht hatte. Immerhin hatte noch nicht einmal Laura gewusst, dass Benni von seinen Eltern ausgesetzt worden war. Nur Carsten hatte er davon erzählt. Benni wiederum wusste über Carstens leibliche Mutter Bescheid. Beide sind im Prinzip ohne Eltern aufgewachsen, dachte Janine traurig. Und sie waren beide Ausgestoßene der Gesellschaft, obwohl sie eigentlich so lieb und hilfsbereit sind… Sie hätte nie gedacht, dass sich Carsten und Benni so ähnlich waren. Eigentlich kamen die zwei ihr grundverschieden vor, wie Licht und Finsternis. Janine schreckte hoch, als sie ihr Handy vibrieren hörte und holte es aus dem kleinen Beutel, den Selen, die Prinzessin von Ivory, ihr als Handtasche geschenkt hatte. An sich war Selen eine wunderbare Elbin. Sie hatte ein großes Herz und war ausgesprochen freundlich. Kein Wunder, dass ihr Volk sie so sehr liebte. Janines Handy war allerdings alles andere als wunderbar… Es war ein sehr altes Modell, dass sie sich vor einem halben Jahr gekauft hatte, nachdem sie sich aus Mur geschlichen hatte, um auf die Coeur-Academy zu gehen. Dennoch hatte sie selbst für dieses alte Handy ein Jahr lang bei dem Waisenhaus von Schwester Vitoria und den anderen Nonnen arbeiten müssen, um das Geld dafür zu bekommen. Das Display zeigte ihr eine neue Nachricht an. Was Janine verwirrte, denn sie bekam fast nie Nachrichten und ihre Handynummer hatten nur die Mädchen und einige der männlichen Dämonenbesitzer. Noch nicht einmal ihre Adoptivmutter hatte sie, da in Mur fast alle Telefonate abgehört wurden. Janine öffnete die Nachricht und las sie durch.   Komm nach außen.   Sie schauderte. Der Absender war anonym… Hilfesuchend schaute sie zu Benni und als er ihren Blick erwiderte, zeigte sie ihm zitternd die Nachricht. „Geh ruhig.“ Da Benni anscheinend keine Gefahr in der Nähe witterte, war Janine wieder etwas beruhigter. Sie nickte ihm dankbar zu und meinte zu der restlichen Gruppe „Ich komme gleich wieder.“, ehe sie das Krankenzimmer verließ. Ein warmer Wind wehte außerhalb des Krankenhauses um Janine und ließ ihr Kleid flattern. Es war tatsächlich ein echtes Elbengewand. Ein langes, figurbetontes Kleid aus edler Seide in einem sanften Beige-Ton, das an den Rändern mit goldenen Ranken verziert war. Janine strich sich die offenen Haare aus dem Gesicht und schaute sich verwundert um. Etwas abseits bei den Grünanlagen des Krankenhauses sah sie eine Person auf einer Bank sitzen, die sie nur aufgrund des leuchtenden Displays eines Handys entdeckt hatte. Vorsichtig ging sie auf diese Person zu. „Ähm… Guten Abend?“ Guten Morgen wäre vielleicht passender, es war immerhin schon vier Uhr in der Früh. Wer war um diese Zeit denn noch wach und wollte mit ihr sprechen? Der Angesprochene blickte auf. „Hi, Feen-Prinzessin. Wo sind denn deine Elbenöhrchen hin?“ Erschrocken wich Janine zurück. Jack?!? „W-was willst du hier?“, fragte sie verängstigt. Warum hatte Benni sie nur gehen lassen?!? Während Janine überlegte, ob sie nun wegrennen oder doch lieber um Hilfe rufen sollte, zeigte Jack auf sein Bein, das in einem scheinbar improvisierten Verband steckte. „Keine Angst. Ich hab nicht vor, dich anzugreifen.“ Janine atmete auf. Benni hätte sie auch nie und nimmer gehen lassen, wenn da draußen wirklich jemand war, der ihr gefährlich werden konnte. Aber… Jack war trotz allem noch gefährlich, auch mit gebrochenem Bein! Das hatte er unter Beweis gestellt, als er Carsten fast getötet hatte! „Warum bist du dann hier?“, fragte Janine und bekam einen Funken Hoffnung. „Hast du vielleicht ein schlechtes Gewissen wegen Carsten?!?“ Jack schnaubte und steckte sein Smartphone und Kopfhörer in die Tasche einer löchrigen, ausgewaschenen Jeans. „Unsinn.“ „Na ja, aber so wie ich mal gehört habe, hast du dich mit Carsten einst ganz gut verstanden.“ Zögernd setzte sich Janine neben ihn auf die Bank. Irgendwie hatte sie nicht das Gefühl, dass Jack gefährlich war. Obwohl er sich vor einigen Stunden sowohl gnadenlos als auch herzlos gezeigt hatte… Lag es vielleicht daran, dass er immer noch ziemlich fertig vom Kampf gegen Eagle aussah? „Das war doch so, oder?“, fragte Janine weiter, „Du hattest Carsten damals in Schutz genommen, als ihr gemeinsam im-“ „Saaaaag es bloß nicht!“, unterbrach Jack sie plötzlich schroff. Janine zuckte erschrocken zusammen. „W-warum nicht?“ „Warum?!?“ Jack atmete tief durch, als wolle er sich wieder beruhigen. Entsprechend beherrschter meinte er danach: „Ich bin immer noch ein Dämonenbesitzer und daher liegt es nicht in meinem Interesse, einen anderen Dämonenverbundenen umzubringen.“ Warnend schaute er Janine durch seine strahlend grünen Augen an. „Wenn euch also euer Leben lieb ist, sagt niemals dieses F-Wort in meiner Gegenwart.“ F-Wort? Etwa FESJ? Löste wirklich alleine dieses Wort in Jack so eine Aggression aus, dass er unbeabsichtigt jemanden töten könnte? Natürlich! Carsten hatte garantiert irgendetwas über das FESJ gesagt, weshalb Jack die Selbstbeherrschung verloren und ihn angegriffen hatte! Immerhin hatte er ja eben gerade selbst gesagt, dass er eigentlich keinen Dämonenverbundenen töten wolle. „Also wolltest du Carsten gar nicht angreifen?“ Janine schöpfte wieder Hoffnung. Vielleicht war Jack doch nicht so abgrundtief böse wie nun alle von ihm dachten. „Nein, verdammt.“ Jack schüttelte missbilligend den Kopf. „Wenn ich ihn töten wollte, hätte ich das schon längst getan.“ „Also hast du tatsächlich ein schlechtes Gewissen und bist deshalb hergekommen.“, folgerte sie mit einem leicht amüsierten Ton in der Stimme. Grummelnd verschränkte Jack die Arme vor der Brust und erwiderte nichts. Janine unterdrückte ein Kichern und nutzte sein Schweigen stattdessen dazu aus, ihn genauer zu betrachten. Seinen rotbraunen Haaren mit dem Sidecut nach zu urteilen, ging er vom Geschmack eher in Bennis Richtung. Wobei Jacks Style weniger gothic-mäßig schien, sondern eher rockig. Vermutlich hörte er auch gerne Metal. Jedenfalls trug Jack ein schwarzes Band T-Shirt und an seiner löchrigen Jeans einen Nietengürtel. Die Jeans steckte in Biker Boots und an den Armen hatte er mehrere Bänder und eine lederne Armschiene. Janine fiel ein goldener Ring an dem Mittelfinger seiner rechten Hand ins Auge, der zwar schlicht wirkte, aber einen orangenen Edelstein in der Mitte hatte und nicht wirklich zu Jacks restlichem Outfit passte. Auch wenn er sonst nicht gerade schmucklos war. Aus der Nähe sah Janine nun an einem Ohr zwei Ohrstecker unten und einen Ring oben. An seiner linken Augenbraue hatte Jack einen weiteren Piercing. Als Jack sie aus den Augenwinkeln musterte, musste sich Janine eingestehen, dass er richtig schöne grüne Augen hatte… „Nein, nicht wirklich.“, meinte er plötzlich. „Was?“ Jetzt hatte er sie total aus ihren Gedanken gerissen. Zum Glück… „Ich bin nicht hier, weil ich ein ‚schlechtes Gewissen‘ habe.“, erklärte Jack nüchtern. „…Weißt du eigentlich, dass deine Tarnung aufgeflogen ist?“ Janine entwich der Atem. Verängstigt wich sie zurück, bis sie gegen die Lehne der Bank stieß. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht! Die künstlichen Elbenohren hatte sie sich mit Florians Hilfe angezaubert und diesen Zauber hatte sie in dem Krankenzimmer von Carsten wieder zurückgenommen, weil die Ohren ihr langsam unangenehm wurden… Doch jetzt wusste Jack, dass sie sich nur verkleidet hatte! Und warum hatte sie das nicht selbst bemerkt? Warum musste erst der Böse sie daran erinnern?!? Jack verdrehte die Augen. „Beruhig dich, ich wusste es schon seit Monaten.“ Was Janine allerdings nicht wirklich beruhigte. Seit Monaten?!? „Seit dem Tag, oder eher der Nacht, als Lukas seinen Auftrag in den Sand gesetzt hat, euch in Spirit zu attackieren, um genau zu sein.“ Jack zuckte mit den Schultern. Stimmt, Janine erinnerte sich. Damals war er es gewesen, der gemeinsam mit diesem ehemaligen ‚Freund‘ von Benni Lukas geholt hatte. Verzweifelt überlegte Janine, wie sie Jack davon abbringen konnte, es Mars oder irgendjemand anderem sonst zu sagen. Falls er das nicht ohnehin schon längst getan hatte… Aber warum erzählte er ihr es überhaupt? Was wollte er damit erreichen? „Hast du es… schon jemandem gesagt?“, fragte sie vorsichtig. Jack zuckte erneut mit den Schultern. „Nope.“ Janine schluckte einen Kloß im Hals herunter. „Und warum nicht? Willst… willst du mich… erpressen?“ „Jup.“ „W-was-“ Janines Stimme zitterte genauso sehr wie ihr Körper. „Was… willst du denn?“ Sie kniff die Augen zusammen. Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen… Jack klang genauso gelassen, wie bei seinen beiden Antworten zuvor, vielleicht sogar ein bisschen amüsiert. „Deine Jungfräulichkeit.“ Und Janine wünschte sich, an Carstens Stelle schwer verwundet im Krankenbett zu liegen. Was hatte er da gesagt?! Am liebsten würde sie jetzt um Hilfe rufen, aber was könnten die anderen denn schon groß ausrichten? Wenn sie Jack töten würden, würde das den Dämon befreien und wer weiß, was der dann machen würde… Und gefangen nehmen konnten sie Jack auch schlecht. Garantiert würde er irgendwann fliehen können und Janine an Mars und den Diktator der Mur-Region verraten. Und aus Rache würde er ihr dann garantiert ohnehin… Die grausigen Zukunftsaussichten ließen Janine erschaudern. Eigentlich blieb ihr ohnehin keine andere Wahl… Janine hatte sich in ihm getäuscht. Auch wenn er Carsten nicht absichtlich verletzt hatte, er war trotzdem böse. Durch und durch böse… „Und… du wirst es dann wirklich keinem verraten?“ Jack nickte. „Niemandem.“ Janine schluchzte und wischte sich einige Tränen von der Wange. Ihre Stimme klang genauso schwach wie sie sich fühlte. „Okay…“ Daraufhin geschah… nichts. Sie hatte keine Ahnung, was sie erwartet hätte. Aber mit dieser plötzlichen Stille hatte Janine gar nicht gerechnet. Vorsichtig und immer noch am ganzen Körper zitternd hob sie ihren Blick, doch Jack saß immer noch einfach auf der Bank und schaute in die schwarze Nacht. „Wow, das hätte ich nicht erwartet.“, meinte er schließlich. Er beugte sich zu ihr rüber und wuschelte durch ihre Haare. „Du bist echt taff, meinen Respekt.“ Janine zuckte bei seiner Berührung zusammen, aber Jack schien davon keine Notiz zu nehmen. Er lehnte sich wieder zurück und schaute in den Sternenhimmel. Diese Ruhe machte Janine allerdings noch viel mehr Angst. Was dachte er? Was hatte er vor?! Erneut musste sie schluchzen. Jack seufzte. „Ach nee, nicht weinen.“ „Lass mich doch! Du bist doch derjenige, der… der mich…“ Weiter kam Janine nicht, da ihr Schluchzen die Oberhand gewann. „Okay, jetzt beruhige dich erstmal wieder.“ Alleine seine Stimme jagte ihr mit einem Schlag höllische Angst ein, sodass sich Janine dazu zwang, still zu sein. Doch das änderte nichts daran, dass sie am ganzen Körper zitterte und die Tränen über ihre Wangen liefen. Erneut zuckte Janine zusammen, als Jack seine Hand auf ihre Schulter legte. „Okay, ich geb’s zu. Ich bin zu weit gegangen.“ „Ach echt?!“ Janine schlug seine Hand weg. Er sollte sie nicht noch mal anfassen! Jede Berührung von ihm ekelte sie an!!! „Hey, ich bin kein Vergewaltiger!“ „Und was bist du dann?!? Jemand der denkt, ich würde das freiwillig machen?!?“, schrie Janine unter Tränen und stolperte von der Bank, um einen Sicherheitsabstand zwischen sich und Jack zu bringen. Der gab einen genervten Laut von sich und trotz seines gebrochenen Beins ging er zu Janine rüber und packte sie an den Handgelenken. Zwar versuchte Janine sich mit aller Kraft zu wehren, doch gegen Jack hatte sie keine Chance. Noch ehe sie um Hilfe rufen konnte, hielt er ihr den Mund zu. „Ich hab gesagt, du sollst still sein.“, zischte er ihr warnend ins Ohr. „Ich hab keine Lust, jetzt noch mal auf irgendeinen deiner Freunde zu treffen, schon gar nicht Benedict oder Eagle.“ Die wissen doch sowieso, dass du da bist!, dachte sich Janine, bekam aber bei diesem Gedanken erst recht Panik. Ja, sie wussten es. Also warum kamen sie dann nicht und halfen ihr?!? Janine versuchte, um Hilfe zu rufen, obwohl Jack ihr immer noch den Mund zuhielt. Aber stattdessen bekam sie fast keine Luft mehr. „Okay, ich mach dir einen Vorschlag.“, meinte Jack genervt. „Hör mir einfach zu und wenn ich fertig bin, kannst du von mir aus ruhig um Hilfe rufen.“ Janine versuchte sich zusammenzureißen und nickte. Hatte sie denn auch groß eine Wahl? Jack entfernte die Hand wieder von ihrem Mund und wischte sie an seinem T-Shirt ab, da einige von Janines Tränen über sie liefen. Am liebsten würde Janine jetzt schon um Hilfe rufen, aber sie hielt sich trotzdem an die Abmachung, aus Angst, sie könnte Jack sonst nur noch mehr verärgern. Dieser seufzte. „Ich bin kein Vergewaltiger. Verdammt, ich würde jemandem noch nicht mal den ersten Kuss stehlen wollen!“ Verwirrt schaute Janine ihn an, während er unbeirrt fortfuhr. „Ich will dich weder zu… sowas zwingen, noch hab ich vor, dich zu verraten. Ich… Keine Ahnung. Vielleicht wollte ich einfach nur wissen, ob du wirklich dazu bereit wärst, so ein großes Opfer zu bringen.“ Kraftlos sackte Janine in die Knie, nicht wissend, was sie jetzt noch von Jack halten sollte. Er war böse! Er hatte Carsten fast umgebracht! …Aber nicht mit Absicht… Er hatte Janine eben gerade regelrecht gefoltert! …Hatte aber nie vorgehabt, sie zu vergewaltigen… Er arbeitete für Mars! …Und wollte sie trotzdem nicht an ihn verraten… „Wer oder was bist du?“, fragte Janine. Nach wie vor zitterte ihre Stimme und ihr fiel gar nicht auf, wie sie sich weitere Tränen aus den Augen wischte. Sie war vollkommen durcheinander. Janine war sich eigentlich sicher, dass Jack kein schlechter Mensch war! Und doch konnte er so grausam sein… „Keine Ahnung.“, antwortete er schulterzuckend. „Und jetzt hör bitte auf zu weinen.“ Als Janine immer noch leicht schluchzte, meinte er seufzend: „Früher war ich nicht so… Vielleicht ist das echt der schlechte Einfluss von den ‚Bösen‘, wie deine Freunde jetzt sagen würden. Aber was hätte ich denn sonst machen sollen?! In dieser Höllenanstalt verrotten?!?“ Am Ende hörte Janine eindeutig die Verzweiflung in Jacks Stimme. Mit ‚Höllenanstalt‘ hatte er garantiert das FESJ gemeint… „War… war es damals wirklich so schlimm?“ Janine traute sich kaum, diese Frage laut auszusprechen. Immerhin rastete Jack bei diesem Thema ja anscheinend völlig aus. Er seufzte. „Das müsstest du doch von Carsten wissen.“ „Er redet fast nie darüber… Und wenn, dann nur unfreiwillig.“, bemerkte Janine überrascht. Stimmt, Janine konnte sich nicht daran erinnern, dass Carsten je freiwillig dieses Thema angesprochen hatte. Im Gegenteil, sie erinnerte sich noch gut daran, wie Carsten reagiert hatte, als Öznur nach den Osterferien unbeabsichtigt indirekt auf das FESJ gekommen war. Er hatte richtig wütend gewirkt, so hatte Janine ihn noch nie erlebt! „Es scheint wirklich die Hölle gewesen zu sein…“, stellte sie betroffen fest. Jack setzte sich ihr gegenüber im Schneidersitz auf den Boden. „Ich erledige lieber die schmutzige Arbeit für Mars, als wieder dorthin zurückgehen zu müssen. Auch wenn die Leute zum Teil nicht besser sind…“ Fragend schaute Janine ihn an. „Ich würde dich nie verraten, weil du dann garantiert in die Fänge von Roland gelangen wirst.“, antwortete Jack. „Roland? Das ist doch…“ „Genau, dieser wunderbare Diktator, der über deine Region herrscht.“, erklärte er zerknirscht, „Der Perversling widert mich an. Er hat… eine besondere Vorliebe für junge Mädchen wie dich.“ Janine schauderte. „Aber du warst vorhin nicht gerade besser…“ Ja, sie versuchte Jack ein schlechtes Gewissen zu machen. Und überraschender Weise gelang es ihr sogar… „Verdammt, ich weiß doch, dass das scheiße von mir war.“ Er seufzte. „Aber ich kann‘s dir wohl kaum verübeln, wenn du jetzt darauf herumhacken willst.“ Jack mühte sich wieder auf die Beine und Janine bemerkte, wie der orangene Stein in seinem Ring kurz aufleuchtete und danach ein schwarz-orangenes Portal entstand. „Warte!“, rief Janine ihm zu. „Woher hast du eigentlich meine Handynummer?“ „Ach, das war nicht schwer.“, bemerkte Jack belustigt, „Ich musste einfach nur deinen Namen herausfinden und mich dann in die Zentralrechner einiger Mobilfunkanbieter hacken. Das kommt davon, wenn man einen Nachmittag lang mal keine Mord-Aufträge hatte…“ Janine schauderte. Trotz allem war ihr Jack immer noch gruselig. Aber… es steckte tatsächlich noch Gutes in ihm. Tief in ihm verborgen… Bevor er gehen konnte, meinte sie deshalb: „Aber dein Bein… Es muss richtig behandelt werden. Ein Arzt wird sich schon um dich kümmern, du kannst ruhig mit rein kommen.“ Jack streckte ihr die Zunge raus. „Ich bin immer noch ‚der Böse‘.“ Er schüttelte betrübt den Kopf. „Außerdem gehe ich euch jetzt erst mal lieber aus dem Weg. Wegen Carsten werdet ihr mich schön hassen…“ „Ihm geht es gut, er wird es schaffen.“ Jack schien einen Moment verwirrt inne zu halten. Doch bei seinem Blick kurz darauf zog sich Janines Herz zusammen. Das war Reue, Bedauern. Trauer. Es tat ihm leid. Er bereute es, Carsten angegriffen zu haben. Mit seinem Sarkasmus schien er eher versucht zu haben zu überspielen, wie sehr es ihm in Wahrheit selbst zu schaffen machte. Jack ließ zwei Metallklingen aus seiner Lederarmschiene hervorschießen, bei der Janine gedacht hatte, sie wäre nur wie die ganzen restlichen Armbänder Zierde. „Weißt du, was das ist?“, fragte er. Janine schüttelte den Kopf. „Diese Klauen gehören zu den Dämonenwaffen. In diese Waffen können wir gezielt die Energie unseres Dämons leiten. Und genau das hab ich gemacht, als ich Carsten angegriffen habe…“ Da Jack nach einer Weile immer noch nichts gesagt hatte, fragte Janine drängend, da sie langsam Angst bekam: „Und???“ Jack ließ die Klauen wieder in der Armschiene verschwinden. „Je nachdem, welche Energie in diese Waffen geleitet wird, üben sie unterschiedliche Effekte aus. Die Erde kann zum Beispiel Leute regelrecht versteinern…“ Janine stockte der Atem. „W-wie meinst du das?“ „Sie lähmt nach und nach den Körper, bis sogar das Herz aufhört zu schlagen…“ Jack senkte den Blick. „Und es gibt kein Heilmittel.“ „Das kann nicht sein! Es gibt zu allem ein Heilmittel!!!“, widersprach Janine verzweifelt. „Und für Karystma?“, konterte Jack. Betrübt schüttelte er den Kopf. „Carsten ist dem Tod geweiht.“ Er wandte sich dem Portal zu. „Sag ihm bitte, dass es mir leid tut… Ich wollte das wirklich nicht.“ Auch fünfzehn Minuten, nachdem Jack verschwunden war, kniete Janine immer noch schluchzend auf dem Boden. Ihre Gedanken überschlugen sich, doch einer stach immer wieder besonders hervor: Carsten wird sterben und wir können nichts dagegen unternehmen! Plötzlich legte ihr jemand die Hand auf die Schulter, was Janine erschrocken zusammenzucken ließ. „Kommst du wieder rein?“, fragte Florian sie sanft. „H-hast du… das mitbekommen? Das was Jack gesagt hat? Über Carsten?!“, schluchzte Janine verzweifelt. Florian senkte den Blick und nickte. „Los, komm mit rein.“ Er half ihr auf die Beine, doch Janines Knie zitterten immer noch zu sehr, als dass sie aus eigener Kraft stehen konnte. Daher war sie dankbar, dass sie sich auf Florians Arm stützen durfte. Kaum waren sie vor dem Krankenzimmer angekommen, flog auch schon die Tür auf und Ariane überfiel sie mit einer Umarmung. „Wie geht’s dir, Ninie?!“, fragte sie aufgebracht und zog Janine in das Krankenzimmer. „I-ich… keine Ahnung…“, stammelte Janine. „Ich bin total durcheinander…“ „Kann ich verstehen.“ Zischend verschränkte Anne die Arme vor der Brust. „Jack ist so ein Arschloch!“ Öznur nickte bestimmt. „Wieder zu verschwinden war eine weise Entscheidung.“ Überrascht fragte sich Janine, warum die Mädchen so gut Bescheid wussten, aber kurz darauf erinnerte sie sich, dass ja jetzt fast alle von ihnen die Dämonenform hatte und sich dadurch ihre Sinne geschärft hatten. „Aber… er hat es ja nicht mit Absicht gemacht…“, meinte Janine, dennoch war sie sich nicht sicher, ob sie Jack tatsächlich in Schutz nehmen sollte. „Das spielt keine Rolle! Er ist dafür verantwortlich, dass Carsten sterben wird und wir nichts machen können!!!“, schrie Laura verzweifelt unter Tränen. „Und warum nimmst ausgerechnet du ihn in Schutz, nachdem was er dir eben angetan hat?!“, fragte Ariane und fiel Janine wieder um den Hals. „Der ist das Letzte!!!“ „Aber Carsten schien er wirklich nicht verletzen zu wollen…“, meinte Susanne nachdenklich. „Er klang eben wirklich so, als würde er seinen Angriff bereuen.“ Öznur stemmte die Hände in die Hüften. „Dann hätte er ihn halt nicht angreifen sollen!“ „Na ja… Ihr habt es doch sicher auch gehört. Jack hat gemeint, wenn uns unser Leben lieb sei, dann sollten wir dieses ‚F-Wort‘ niemals in seiner Gegenwart sagen…“, überlegte Janine laut. Laura wischte sich schniefend aber verwirrt einige Tränen aus den Augen. „F-Wort?“ Anne verdrehte die Augen. „Er flippt aus, wenn man ‚fick dich‘ sagt? Was für ein Idiot.“ „Nein! Ich glaube, er meinte ‚FESJ‘!“, meinte Janine verzweifelt und wandte sich an Eagle, „Hatte Carsten vielleicht irgendetwas derart gesagt, bevor Jack ihn angegriffen hatte?“ Eagle schien immer noch total mitgenommen zu sein. Sehr wahrscheinlich aus dem Grund, dass ihn das schlechte Gewissen plagte, Carsten sein Leben lang die Hölle heiß gemacht zu haben, obwohl er tatsächlich vollständig sein kleiner Bruder war… Dennoch fasste er sich etwas und nickte langsam. „Ja, ich glaube, Carsten hatte es, kurz bevor Jack ihn angegriffen hatte, tatsächlich gesagt…“  Laura kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Wie kann ein Wort jemanden so aggressiv machen, dass er einen umbringen will?“ „Na ja… Carsten reagiert darauf doch auch immer ziemlich… untypisch für seinen sonstigen Charakter.“, stellte Susanne fest, „Anscheinend ist das FESJ bei beiden ein wunder Punkt.“ Bei ihren Worten senkte Eagle wieder schlechten Gewissens den Blick. „Das entschuldigt aber trotzdem nicht, dass Jack für Carstens Tod verantwortlich sein wird!“, schrie Laura nach wie vor schluchzend. Ariane nickte traurig. „Und es entschuldigt auch nicht das, was er dir angetan hatte! Test hin oder her, das war emotionale Folter!!!“ „Nane… Ist schon gut.“, versuchte Janine sie zu beruhigen. „Es ist vorbei und Jack scheint es wirklich zu bereuen, mich so auf die Probe gestellt zu haben. Ich glaube, dass ihn tatsächlich solche Leute anwidern.“ Anne schnaubte, sagte aber nichts. Benni schaute zu Herrn Yoru rüber. „Gibt es wirklich kein Heilmittel?“ Sein Vater verschränkte die Arme vor der Brust und überlegte. „Es gibt einen Haufen Bücher über die Dämonenwaffen, alleine drei fette Wälzer befassen sich schon nur damit, welche Arten der Waffen es überhaupt gibt und welche Wirkung welche Energie hat. Aber sonst… Ich meine, in einem von Coeurs Tagebüchern mal darüber gelesen zu haben.“ „Wirklich?!“, fragte Öznur hoffnungsvoll. „Kannst du dieses Buch holen?“ Herr Yoru nickte. „Ich werde sehen, ob ich helfen kann.“   ~*~   Susanne unterdrückte ein Gähnen, was Konrad allerdings trotzdem bemerkte. „Ihr solltet euch alle erst einmal etwas ausruhen.“, riet er ihnen. „Es bringt Carsten rein gar nichts, wenn ihr ihm irgendwie helfen wollt, aber dafür viel zu erschöpft seid.“ „Aber-“, setzte Laura an, um ihm zu widersprechen, wurde allerdings von ihrem eigenen Gähnen unterbrochen.  „Und Carsten?“, fragte sie stattdessen matt. „Soll er etwa ganz alleine hierbleiben?“ „Es sind zurzeit genügend Zimmer frei, wenn ihr bei ihm bleiben wollt.“, bot Saya ihnen an. „Und Eagle sollte sicherheitshalber sowieso noch nicht nach Hause, auch wenn seine Verletzungen nichts Ernstes sind. Man weiß ja nie.“ Sie schaute ihren Stiefsohn fragend an. „Würdest du bei Carsten bleiben?“ Eagle wandte den Blick ab, nickte aber. Er tat Susanne unendlich leid… Er hatte ja nicht wissen können, dass das alles nur ein Missverständnis war! Und jetzt war es für ihn vielleicht sogar zu spät, Carsten jedenfalls noch um Verzeihung bitten zu können… Auch wenn Eagle der Meinung war, dass alles, was er Carsten angetan hatte, sowieso unverzeihlich wäre. Aber Laura hatte Recht, Eagle war Carstens Bruder! Carsten hatte ihn immer geliebt, trotz alldem, was Eagle ihm angetan hatte. „Ich bin der Meinung, wir sollten wirklich alle hier bleiben.“ Ariane seufzte. „Bevor noch jemand angegriffen wird…“ Anne zuckte mit den Schultern. „Dann sollten wir jedenfalls unsere Sachen holen, oder wollt ihr in euren Abendkleidern schlafen?“ „Nein, nicht wirklich.“, meinte Öznur betrübt. „Wir machen uns dann auch mal auf den Weg.“, meinte Herr Yoru und nickte der Gruppe zu. „Ich lasse es euch wissen, wenn ich etwas Hilfreiches finde.“ „Ihr könnt auch mal meinen Vater fragen.“, schlug Samira vor. „Er ist Waffenspezialist und durch Eufelia weiß er auch einiges über die Dämonenwaffen.“ „Waffenspezialist?“ Laura schauderte. „Das kann man sich bei ihm gar nicht vorstellen.“ Samira lächelte sie an. „Sollen wir dich mit nach Yami nehmen?“ Laura wandte verlegen den Blick ab und meinte schließlich: „Ich würde lieber hier bleiben, aber O-Too-Sama…“ Rina verdrehte die Augen. „Wir hatten doch schon besprochen, dass du ihm ruhig etwas mehr die Stirn bieten kannst.“ Anne nickte bestimmt. „Du bist viel zu brav.“ Lauras Wangen färbten sich bei ihrem Kommentar zwar ganz leicht rötlich, aber dennoch nickte sie. „Na gut, dann gute Nacht.“, meinte Konrad und schaute die Gruppe aufmunternd an. „Das wird schon, keine Angst. Carsten ist fast genauso unverwüstlich wie Benni.“ Dieser Kommentar brachte jedenfalls einige der Mädchen zum Lächeln. Immerhin hatte Benni das nicht sehr schöne Talent, sich ständig in lebensgefährliche Situationen zu bringen und war trotzdem immer mit dem Leben davongekommen. Wenn auch manchmal nur sehr knapp. Zusammen mit Janine kümmerte sich Susanne darum, dass jeder kurz zu seinem vorherigen Aufenthaltsort teleportiert wurde, damit sie alle Koffer zusammenbekamen und so auch Schlafzeug und Kleidung für den kommenden Tag. Inzwischen waren nur noch ihre gewohnte Gruppe und Eagle im Krankenhaus, der Rest hatte sich bereits auf den Heimweg gemacht. Dennoch fand Susanne keinen Schlaf, genauso wenig wie die meisten anderen. Plötzlich hörte sie, wie Janine aufstand und zu ihrem Bett rüber ging. „…Kommst du mal mit zu Benni?“, fragte ihre beste Freundin sie schüchtern. Susanne sah sie verwundert an und auch Lissi löste fragend den Blick von ihren manikürten Nägeln. „Ich wollte ihn was fragen…“, war Janines einzige Antwort darauf und Susanne wurde den Gedanken nicht los, dass es um Jack ging. Sie wusste nicht, was sie von dem Jungen halten sollte… Natürlich mochte sie ihn nicht! Immerhin hatte er Carsten tödlich verwundet und Janine gefoltert! Aber dennoch hatte sie Mitleid mit ihm. Er war ja nicht gänzlich freiwillig bei Mars. Durch ihre übermenschlichen Sinne hatte Susanne das Gespräch zwischen ihm und Janine mitverfolgen können. Und sie fand es durchaus nachvollziehbar, dass sich Jack der dunklen Seite zugewandt hatte, um so dem FESJ zu entfliehen. Zu diesem Zeitpunkt war er vermutlich noch sehr zerbrechlich und verwundbar gewesen… und leicht beeinflussbar. Susanne richtete sich auf. „Okay, ich komme mit.“ Janine wandte sich Lissi zu. „Das wird nicht lange dauern…“ Doch Susannes Schwester winkte ab. „Von mir aus lasst euch Zeit. Aber passt auf, dass ihr die zwei nicht stört.“ Susanne verdrehte kichernd die Augen. Natürlich hatten die Mädchen es so organisiert, dass Laura zur Ausnahme mal nicht bei Ariane war, sondern zu Benni ins Zimmer gesteckt wurde. Ein Zweierzimmer versteht sich. Dennoch bezweifelte Susanne, dass sie die beiden wirklich ‚stören‘ würden. Dafür war Laura immer noch viel zu mitgenommen wegen Carsten und außerdem viel zu schüchtern. Gemeinsam mit Janine verließen sie das ihnen zugeteilte Zimmer und gingen den Gang entlang zu dem Zimmer, in dem Benni und Laura waren. Leise klopfte Janine an und wenige Sekunden später öffnete Benni die Tür. „Ä-ähm… Ich hoffe, wir stören nicht…“, meinte Janine verlegen. Benni schüttelte den Kopf, kam zu ihnen raus auf den Gang und schloss die Tür hinter sich. „Sie schläft.“, war seine einzige Erklärung darauf. Was Susanne ziemlich beeindruckte. „Wie kann Laura einfach so schlafen? Also…verstehe mich bitte nicht falsch, das ist sehr gut. Besonders für sie. Aber… Normalerweise beklagt sich Laura, dass sie ständig so schlimme Einschlafprobleme hat.“ „Carsten hat einst behauptet, ich habe eine beruhigende Wirkung auf sie.“, meinte Benni schulterzuckend. Janine kicherte. „Wie süß… Gut, dass Laura bei dir schläft.“ „Was wollt ihr denn nun?“, erkundigte sich Benni, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die weißverputzte Wand. Nervös senkte Janine den Blick. „Warum hast du mich vorhin einfach so rausgehen lassen? Du wusstest doch garantiert, dass es Jack war, also weshalb…“ „Keine Ahnung… Instinkt?“, vermutete Benni. „Echt jetzt?!“ Plötzlich kam Ariane aus ihrem Zimmer zu ihnen auf den Flur. „In so einer Situation verlässt du dich auf deinen Instinkt?!? Jack hat Ninie gefoltert!!! Und was wäre, wenn das nicht leeres Gerede gewesen wäre?!? Wenn er sie angegriffen hätte?!?!? Wenn er-!“ Für den Bruchteil eines Atemzugs wurde Bennis Blick unsagbar beängstigend und unheimlich, was Ariane unvermittelt verstummen ließ. Benni wies auf die Tür, hinter der sich das Zimmer befand, in dem Laura seelenruhig schlief. Ariane schien es verstanden zu haben, denn sie wandte beschämt und verbissen zugleich den Blick ab. „Er hat Janine nicht angegriffen.“, meinte Benni ruhig. „Aber dennoch, wie konntest du sie nach der Sache mit Carsten einfach so gehen lassen?“, fragte Susanne neugierig. Benni zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, Instinkt.“ Kritisch runzelte Ariane die Stirn. „Wie kann es sein, dass du keinen Schimmer von Emotionen hast und trotzdem so ein unfehlbares Bauchgefühl?“ „Wie kann es sein, dass ich Gefühle sonst nicht verstehe?“, konterte Benni und hätte Susanne nicht einen Hauch Verzweiflung und auch Frust aus seiner Stimme gehört, hätte sie vermutet, dass er es sarkastisch gemeint hatte. Ariane stöhnte auf. „Du bist echt kompliziert.“ Benni beachtete ihren Kommentar nicht und wandte sich stattdessen Janine zu. „Sonst noch was?“ Diese überlegte einen Moment und schien tatsächlich eine weitere Frage zu haben: „Denkst du… Denkst du, Jack könnte sich bessern?“ „Ich bin kein Psychologe.“, erwiderte Benni darauf. „Das solltest du eher Jannik oder seine Mutter fragen.“ Ariane verdrehte die Augen. „Du hast doch hier diesen super Instinkt. Was sagt der?“ Benni warf ihr nur einen kurzen Blick zu, richtete ihn schließlich aber auf den Boden. „Der fragt sich, ob Carsten überlebt.“ Seine Antwort ließ Susanne das Herz schwer werden. Natürlich zeigte Benni selten offen seine Gefühle. Größtenteils aus dem Grund, weil er sie nicht wirklich verstand, aber trotzdem… Gerade weil er so verschlossen wirkte, war es keinem aufgefallen, dass er sich mindestens genauso viele Sorgen um Carsten machte wie der Rest von ihnen. Immerhin waren die beiden wie Brüder… „‘Tschuldige…“, murmelte Ariane schuldbewusst. So langsam sollten sie eigentlich wissen, wie es um Bennis Gefühle stand, denn mit der Zeit hatte er sich ihnen ja wirklich etwas geöffnet. Sonst hätte er eben nie und nimmer gesagt, dass er sich große Sorgen um seinen besten Freund machte. „Wir sollten versuchen, wenigstens etwas zu schlafen…“, meinte Susanne, um das bedrückende Schweigen zu unterbrechen. Die beiden anderen Mädchen gaben ihr sofort mit einem Kopfnicken Recht. „Tut mir leid, dass wir gestört haben…“, murmelte Janine verlegen, auch wenn Benni ihr mit einem Kopfschütteln erneut widersprach. „Gute Nacht.“, meinte Ariane und verschwand in dem Zimmer, in dem sie, Anne und Öznur schliefen. „Schlaf gut.“ Aufmunternd schaute Susanne Benni an, auch wenn sie wusste, dass das wohl kaum helfen würde. Da fiel ihr noch etwas ein. „Ach so, Lissi hat übrigens gemeint, dass sie uns beim Frühstück erzählen wird, was sie von Lukas erfahren hat. Anscheinend wollte sie uns nicht noch mehr Gründe geben, nicht einschlafen zu können…“ Denn Lissi wirkte ungewohnt bedrückt, seit sie von Lukas zurückgekommen war. Benni nickte darauf hin nur. „Gute Nacht.“, verabschiedete sich auch Janine. „Oyasumi.“, murmelte Benni und ging wieder in das dunkle Zimmer. Susanne warf ihrer besten Freundin einen prüfenden Blick zu. Auch wenn Janine es sich nicht anmerken ließ, war sie sich doch ziemlich sicher, dass die Konfrontation mit Jack ihr immer noch zu schaffen machte. Das kannte Susanne aus eigener Erfahrung, immerhin schlief sie seit der Sache mit Naoki gar nicht gut. Aber bis auf Carsten hatte sie keiner mehr darauf angesprochen. Worüber Susanne auch ziemlich froh war, denn eigentlich wollte sie das einfach nur vergessen. Doch sie konnte es nicht. Kapitel 46: Verlust ------------------- Verlust Wie erwartet war keiner von ihnen ausgeschlafen, als sie sich zum Frühstück in der Cafeteria des Krankenhauses versammelten. Susanne hatte maximal zwei Stunden schlafen können und ein Blick auf die anderen reichte aus, um zu wissen, dass es ihnen ähnlich erging. Eagle sah sogar so aus, als habe er gar nicht geschlafen. Was besonders für ihn schlecht war, denn die beschleunigte Heilung der Wunden verlief normalerweise im Schlaf am besten. Plötzlich kam Saya zu der schweigsamen Gruppe. „Falls ihr mit Carsten reden wollt, er ist seit einer halben Stunde wach.“ „Echt?!?!?“, rief Laura aufgebracht und sprang auf. Saya nickte lächelnd. „Ja, aber versucht bitte ruhig zu bleiben. Es geht ihm… Na ja…“ Der Rest hatte schon verstanden und nickte betrübt. Es war ein fürchterliches Gefühl das Susanne überkam, als sie Carstens Krankenzimmer betrat. Carsten lag reglos im Bett schaute einfach nur auf die Decke. Sein Blick war leer und trostlos. Aus den Augenwinkeln bemerkte Susanne, wie Laura sofort beim Betreten des Zimmers mit den Tränen zu kämpfen hatte. Und sie konnte es nur zu gut verstehen. Carsten strahlte eigentlich immer so ein Licht aus, ein Licht voller Lebensfreude. Doch nun war noch nicht einmal einen Funken davon zu erkennen. „Wie geht es dir?“, fragte Susanne ihn vorsichtig. Seine matten lila Augen richteten sich nur kurz auf sie, ehe Carsten den Blick senkte. Doch eine Antwort bekam sie nicht auf ihre Frage. Susanne tauschte einen besorgten Blick mit Janine aus, ehe sie es den anderen gleichtaten, die sich bereits um Carstens Bett versammelten. Schweigend beobachtete sie, wie sich Laura auf die Bettkante setzte und Carstens rechte Hand nahm, da diese Seite von Jacks Angriff weitgehend verschont geblieben ist. Allerdings nicht ganz, denn nach und nach würde Carstens gesamter Körper durch Jacks Erd-Energie gelähmt werden… „…Konnte Lissi was herausfinden?“, fragte er plötzlich mit schwacher Stimme. Fragend schaute Susanne ihre jüngere Zwillingsschwester an, sowie weitere ihrer Gruppe. Lissi hatte ihnen immer noch nicht berichtet, was sie nun von Lukas erfahren hatte. „Na ja…“, setzte Lissi zögernd an und schien sich zum ersten Mal unwohl dabei zu fühlen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Schließlich seufzte sie. „Es war kaum auszuhalten. Lukas gehört zu den Leuten, die total jammernd werden, wenn sie betrunken sind. Er hat mir eigentlich die ganze Zeit nur vorgeheult, dass ‚sein Herr‘ ihn gar nicht wirklich zu schätzen weiß aber dafür so viel von Jack hält und ihn bevorzugt und so weiter.“ „Also hast du nichts erfahren?“, fragte Ariane leicht enttäuscht. „Doch, schon…“, erwiderte Lissi. „Aber leider nicht viel. Das war auch ein Punkt auf Lukas‘ Jammer-Liste: Dass ‚sein Herr‘ ihn in kaum was einweiht, weil er ihm nicht vertraut oder warum auch immer. Aber von Mars Plänen wusste er trotzdem ein bisschen was, wenn auch nichts Detailliertes. Zum Beispiel, dass Mars vorerst nicht mehr vorhat, die Dämonenbesitzer zu fangen, da er erkannt hat, dass ihm ständig ein Strich durch die Rechnung gemacht wird.“ Susanne merkte, wie Janine erleichtert aufatmete, doch Anne klang kritisch als sie meinte: „Ich bezweifle, dass uns das freuen sollte…“ Lissi nickte und kringelte sich leicht nervös eine ihrer schwarzen Locken um den Zeigefinger. „Lukas hat gemeint, dass Mars nun jemand anderen ins Visier nehmen möchte: Den ‚Erben des Yoru-Clans‘.“ „Was?!?“ Panisch schaute Laura zu Benni rüber, der äußerlich von allen noch am wenigsten betroffen wirkte. Was bei seinem Charakter allerdings zu erwarten war. „A-aber… Sie wissen ja nicht, dass es Benni ist, oder? Oder?!?“, fragte sie Lissi verzweifelt. Diese zuckte mit den Schultern. „Also Lukas schien es nicht zu wissen, aber das soll nichts heißen. Denn er hat gemeint, dass Mars mal erwähnt hat, die Yorus hätten seit Generationen ein ganz bestimmtes Erkennungsmerkmal. Aber keine Ahnung, was das sein soll.“ Fragend schaute Öznur in die Runde. „Weiß es jemand von euch?“ Doch anscheinend wusste es keiner, noch nicht mal Carsten, oder gar Benni selbst. Saya überlegte. „Wir könnten Jacob und Samira fragen, sie müssten es noch am ehesten wissen. Oder Nicolaus.“ „Frau Yoru hat doch sowieso vorgeschlagen, dass wir ihn mal fragen können wegen… Wegen der Dämonenwaffe…“, meinte Janine vorsichtig. Dennoch wich Carsten den Blicken der anderen aus. „Es gibt kein Heilmittel…“, sagte er matt. „Vielleicht doch!“, widersprach Laura und versuchte optimistisch zu klingen. „Immerhin hat Herr Yoru gemeint, dass er mal davon gelesen hat, oder so.“ „Wir müssen es wenigstens versuchen.“, gab Ariane ihr Recht. Öznur nickte euphorisch. „Genau, wir lassen dich nicht einfach so sterben!“ Susanne konnte Carstens Reaktion darauf nicht wirklich deuten. Sie wusste nicht, ob er nun gerührt war oder einfach traurig und verzweifelt. Aber seine Angst konnte sie erkennen, seine Angst davor, zu sterben. Sie war deutlich zu sehen, als Carsten zu versuchen schien, seinen linken Arm zu bewegen und dieser Versuch ein Misserfolg blieb. Der Arm war anscheinend bereits vollständig gelähmt. Carsten biss die Zähne zusammen, als wolle er ein Aufschluchzen verhindern. Doch die Angst die er hatte, konnte er vor den anderen nicht verbergen. „Das reicht, wir müssen zu Herr Weihe!“ Hilfesuchend schaute Laura Benni an und richtete sich auf. „Sofort!“ „Nein!“, schrie Carsten plötzlich auf und ließ alle anderen zusammenzucken. „Bleibt hier. Lasst mich nicht alleine…“ Am Ende war seine zitternde Stimme kaum mehr zu hören. Saya legte ihrem Stiefsohn die Hand auf die unverletzte Schulter. „Ganz ruhig, Carsten. Du stehst immer noch unter Schock.“ Sie wandte sich an die anderen. „Vielleicht könntet ihr euch aufteilen.“ Öznur nickte. „Gute Idee. Laura, du bleibst mit Benni, Susi, Nane und Eagle bei Carsten. Ninie, Lissi, Anne und ich gehen zu Bennis Opa und fragen ihn.“ Ariane verdrehte die Augen. „Benni sollte schon mitgehen, wenn ihr seinen Opa besucht, oder?“ „Dann sollte Anne vielleicht bei uns bleiben.“, meinte Susanne. „Ein Angriff ist zwar unwahrscheinlich, aber es sollte doch jedenfalls ein guter Kämpfer da sein und Eagle ist dafür noch zu angeschlagen.“ „Kein Problem.“, meinte Anne nickend. „Okay, dann kommt endlich!“, drängte Öznur sie. „Ich teleportier uns nach Cor.“ „Ähm Özi… Ich würde das lieber machen.“, äußerte sich Janine zögernd. „Wieso denn?“ Verwirrt schaute Öznur sie an. „Kannst du dich denn an den Zauber erinnern?“, fragte Ninie. Öznur wollte schon zu einem ‚Ja, klar!‘ ansetzen, als sie innehielt und verlegen den Kopf schüttelte. Janine kicherte. „Deshalb mache ich das lieber.“ Eagle verdrehte die Augen. „Echt jetzt, irgendwann kannst du den hoffentlich.“ Öznur schnaubte. „Kümmer dich lieber um deine eigenen Sorgen.“ Mit einer Kopfbewegung wies sie auf Carsten, woraufhin Eagle verbissen den Blick senkte. Carsten selbst hatte das allerdings nicht mitbekommen, da er -wenn auch mit schwacher Stimme- mit Benni diskutiert hatte. Anscheinend machte er sich trotz seiner miserablen Lage immer noch Sorgen um seinen besten Freund. Denn Benni erwiderte auf Carstens Bitte nicht mitzugehen, da er sich sonst noch verraten könnte: „Wenn es sich um ein optisches Erkennungsmerkmal handelt, weiß der Purpurne Phönix doch ohnehin schon wer ich bin.“ Carsten schien ihm widersprechen zu wollen, gab die Diskussion allerdings seufzend auf. Benni verließ seinen Platz an der Bettkannte und ging zu Janine rüber. „Ihr müsst Karibera für die Teleportation verlassen.“, bemerkte Saya. „Sisikas Mutter hat eine Magiebarriere um die Stadt errichtet und nur sie könnte sie entschärfen.“ „Sie ist zurzeit daheim, ich kann hingehen und sie darum bitten.“, bot überraschender Weise Eagle sich an. Carsten warf einen verwirrten Blick auf seinen Bruder. Anscheinend wusste er noch gar nicht, dass Eagle inzwischen die Wahrheit über ihn erfahren hatte und sich nun bemühte, seine Taten irgendwie wieder gut zu machen. Saya schüttelte entschieden den Kopf. „Du bist immer noch verwundet und musst dich ausruhen.“ Bevor jemand anderes zu Wort kam meinte Laura plötzlich: „Ich kann das machen!“ Verlegen biss sie sich auf ihre Unterlippe, was wohl ihre Angewohnheit war, wenn sie nervös wurde. „A-also ich meine… Ich kenne den Weg ja und Carstens und Eagles Oma auch… Also… deshalb… ähm…“ „Beeile dich.“, unterbrach Benni sie, bevor ihr mangelndes Selbstvertrauen sie von dieser Idee abbringen konnte. Verwundert schaute Laura ihn an und Susanne war sich ziemlich sicher ein dankbares Lächeln auf ihren Lippen gesehen zu haben, als sie meinte: „Mach ich.“ und kurz darauf bereits aus dem Zimmer geeilt war. Anne schnaubte. „Du lässt das ernsthaft Laura machen?“ „Wieso nicht?“, erwiderte Benni daraufhin nur. „Lass sie doch Banani, du hast doch gesehen, wie sehr es sie gefreut hat, mal eine wichtige Aufgabe zu bekommen.“, erwiderte Lissi und musste kichern. „Lauch ist so süß!!!“ Öznur lachte auf. „Oh ja. Und es ist gut, dass Benni sie das hat machen lassen. Etwas mehr Selbstwertgefühl kann Laura nicht schaden.“ „Und außerdem würde es noch länger dauern zu Fuß aus der Stadt zu gehen.“, fügte Eagle hinzu. „Sogar Laura ist da schneller.“ „U-und woran merke ich, dass die Barriere aufgehoben wurde?“, fragte Janine. „Das spürst du.“, antwortete Carsten und klang beängstigend erschöpft. Hoffentlich gab es ein Gegenmittel für ihn… Und hoffentlich fanden sie es auch rechtzeitig. Etwa zwei Minuten später hatte Susanne auf einmal das Gefühl, als würde man ihr eine Last von den Schultern nehmen, die sie zuvor gar nicht bemerkt hatte und sie war sich hundert prozentig sicher, dass es sich dabei um die Magiebarriere handelte, die nun aufgelöst worden war. Auch Janine schien es bemerkt zu haben, denn sie meinte: „Okay, dann sehen wir uns später.“ „Wir haben aber kein Problem damit, wenn du auch ohne uns gesund wirst, Cärstchen.“ Lissi warf ihm einen Luftkuss zu und entlockte durch ihre Eigenart tatsächlich ein kleines, wenn auch melancholisches Lachen von Carsten. Susanne beobachtete den kleinen Kreis, der in einem strahlend gelben Licht verschwand, als Janine den Teleportzauber gesprochen hatte. Nachdem sie weg waren, ging Eagle zu dem zweiten Bett in diesem Zimmer und ließ sich erschöpft darauf fallen. „Brauchst du etwas?“, erkundigte sich Saya fürsorglich, doch Eagle schüttelte den Kopf. „Versuch trotzdem etwas zu schlafen.“, riet sie ihrem Stiefsohn. „Und du versuchst das am besten auch.“, meinte sie, nun an Carsten gewandt. „Ich kann euch Tabletten bringen, wenn ihr wollt.“ Etwa im selben Augenblick lehnten Eagle und Carsten ihr Angebot mit einem Kopfschütteln ab. „Okay, dann gehen wir mal und lassen euch etwas Ruhe.“ Ariane warf den beiden Jungs ein kurzes Lächeln zu. „Und falls ihr was braucht, lasst es uns wissen.“, meinte Susanne noch, ehe sie gemeinsam mit dem Rest das Krankenzimmer verließ. Auf dem Gang seufzte Anne schließlich: „Wir haben die beiden jetzt nicht ernsthaft in einen Raum gesteckt, damit sie sich versöhnen können, oder? Oh Mann… Warum mach ich bei so ‘nem Unsinn auch noch mit?“ „Weil du sonst als einziges Mädchen dageblieben wärst?“, stichelte Ariane grinsend. Annes Augenverdreher ignorierte sie und ergänzte stattdessen: „Außerdem hat sich doch schon des Öfteren gezeigt, dass zwei Leute alleine lassen die beste Möglichkeit ist, damit sie sich wieder vertragen. Siehe Laura und Benni.“ Trotz der gegenwärtigen Situation musste Susanne kichern. ~*~ Kaum waren sie in Cor in einer kleinen unscheinbaren Seitengasse angekommen, spürte Öznur schon, dass etwas nicht stimmte. Benni schien es ähnlich zu gehen, denn ganz untypisch für seinen sonstigen Charakter, stieß er einen Fluch in einer anderen Sprache aus und war plötzlich verschwunden. Inzwischen kannte auch Öznur den Grund ihres unguten Gefühls. „Ein Feuer!“ Die Mädchen tauschten einen besorgten Blick aus und verließen die Seitengasse. Sie eilten die Einkaufsstraße entlang und wurden schließlich von einem Knäuel Menschen aufgehalten, das sich vor einem kleinen Laden versammelt hatte, um geschockt das Geschehen zu begaffen. Jedoch wirkten sie bei weitem nicht so geschockt wie die Mädchen, die sofort erkannten, um welchen Laden es sich hier handelte. Die Feuerwehr war zwar bereits eingetroffen, aber auch wenn sich unter den Feuerwehrmännern sogar ein paar Magier befanden, schienen sie Schwierigkeiten zu haben, das Feuer unter Kontrolle zu bekommen. „Wo ist Benni?!“, rief Janine ihnen in dem Getöse fragend zu. „Ich kann ihn nirgends sehen!“ „Vermutlich drinnen.“, meinte Lissi und wandte sich an Öznur. „Dösi, wir müssen das Feuer löschen!“ „Aber was ist, wenn es genauso ist, wie das Feuer damals, das Eufelia getötet hat?!“, fragte Öznur verzweifelt. „Das hatte nicht auf mich gehört!“ „Bitte versuch es wenigstens!“, flehte Janine sie an. „Benni ist da drinnen und vermutlich auch Herr Weihe!“ Öznur atmete tief durch und gab sich einen Ruck. Janine hatte Recht, sie musste es wenigstens versuchen! Sie konzentrierte sich darauf, die Flammen unter Kontrolle zu bekommen und spürte, dass es sogar funktionierte! „Da ist Bennlèy!“, rief Lissi plötzlich und packte Öznur und Janine am Arm, um sie mit sich zu Benni zu ziehen und riss Öznurs Aufmerksamkeit dadurch von dem Feuer los. Benni kam gerade aus einer flammenfreien Lücke, wo vermutlich einst die Tür war. Öznur konnte spüren, dass er sich diese Öffnung mit seiner eigenen Feuer-Energie gemacht hatte, weshalb dieser Brand anscheinend wirklich nicht Mars‘ Werk war. Jedenfalls nicht direkt… Erst jetzt konnte Öznur sehen, dass Benni Herr Weihe nach draußen half, den das Feuer und der Rauch anscheinend sehr geschwächt hatte. Gleichzeitig mit Öznur, Lissi und Janine kamen auch einige Sanitäter mit einer Liege bei Benni an, wo er seinem Großvater drauf half. Jedoch lehnte Herr Weihe seltsamer Weise die erste Hilfe von ihnen ab und wandte sich stattdessen seinem Enkel zu. „Was soll das? Lass dich behandeln.“, bat Benni ihn, doch Nicolaus schüttelte den Kopf. „Das wird mich auch nicht mehr retten…“, erwiderte er mit geschwächter, rauer Stimme und obwohl Öznur diesen lieben, älteren Herrn kaum kannte, überkam ihr bei seinen Worten eine unglaubliche Angst. Benni wollte ihm widersprechen, doch Herr Weihe kam ihm zuvor. „Meine Tochter hat mir erzählt, was vorgefallen ist. Carsten kann noch gerettet werden, im Gegensatz zu-“ Er wurde von seinem keuchenden Husten unterbrochen. „Zu mir…“ „Bitte sagen Sie so was nicht!“, flehte Janine ihn an. „Wenn Sie jetzt sofort behandelt werden, dann… vielleicht…“ Doch Nicolaus schüttelte erschöpf aber bestimmt den Kopf. „Ich bin alt… Mein Körper zu schwach…“ Er wandte sich kraftlos wieder Benni zu. „Suche nach ‚Coeurs Vermächtnis‘. Was genau das ist-“ Erneut überkam ihm ein schmerzhafter Husten. „…das weiß ich leider nicht…“ „Jii-chan…“, setzte Benni an, doch anscheinend wusste er nicht, was er sagen sollte. Es brach Öznur das Herz, als sie die Welle von Trauer in Bennis Stimme hörte. Von Laura wusste sie, dass ‚Jii-chan‘ ein liebevoller Ausdruck für Großvater war, was ihr zeigte, dass Benni seinen Opa anscheinend sehr mochte, obwohl er bis vor einigen Wochen noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie verwandt waren. Und kaum hatte seine Familie endlich die Möglichkeit, sich wieder zu vereinigen… Mit letzter Kraft wuschelte Nicolaus durch Bennis Haare und lächelte zu seinem Enkel hinauf. „Danke, dass du der letzte bist… den ich sehen darf…“ Benni kniff die Augen zusammen und nahm seinen Großvater in die Arme. Öznurs Herz zog sich bei dem Anblick der zwei schmerzhaft zusammen und sie machte sich gar nicht erst die Mühe, gegen die Tränen anzukämpfen, die ihr kamen. Erst recht nicht, als Nicolaus langsam den Arm sinken ließ und kurz darauf in Bennis Armen starb. Janine wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und ging dann zu Benni rüber, um ihm eine Hand auf seinen zitternden Arm zu legen. Öznur hatte keine Ahnung, was sie nun machen sollte… Sie konnte nur noch da stehen und schweigend beobachten, wie sich Benni an Nicolaus leblosen Körper klammerte. Schließlich war es einer der Sanitäter, der Benni behutsam aufforderte, ihn loszulassen. Widerwillig folgte Benni dieser Bitte, doch trotz seines zitternden Körpers wirkte seine Mimik seltsam emotionslos, schon fast so wie eingefroren, während er beobachtete, wie die Sanitäter mit dem Leichnam seines Großvaters wegfuhren. Auf die Frage, ob er mitkommen wolle hatte Benni nur mit einem schwachen Kopfschütteln geantwortet. Vorsichtig legte Öznur ihm eine Hand auf die Schulter. „Lass uns zurück nach Indigo gehen…“ Denn dort war Laura und auch wenn Benni es sich nur ein bisschen anmerken ließ, er brauchte unbedingt Trost. Und den konnte er nur bei Laura finden. Doch Benni hatte anscheinend ganz andere Gedanken. „…Er weiß es…“ „Was?“, fragte Janine verwirrt. „Mars weiß-“ Der Blick, den Benni Janine kurz darauf zuwarf, war nicht mehr ganz so beherrscht. „Bring mich nach Yami.“ Seine Aufforderung verwirrte Janine allerdings nur noch mehr. „Schnell!“ Nun klang Bennis Stimme tatsächlich drängend und auch leicht besorgt. „Bring mich zu den Yo- zu meinen Eltern!“ Nun hatte auch Janine verstanden, denn sie griff eilig nach Bennis und Öznurs Hand und Öznur schnappte sich schnell noch Lissi, ehe Janine die vier weg teleportierte, ungeachtet der Menschenmasse, die sich um sie befunden hatte. ~*~ Aufgrund der Magiebarriere kamen sie an der Stadtgrenze von Zukiyonaka an, doch das Anwesen der Yorus befand sich glücklicher Weise keine Meile von ihnen entfernt. Mit seiner übermenschlichen Geschwindigkeit war es Benni ein Leichtes, das Haus innerhalb weniger Minuten zu erreichen, was die einzige Möglichkeit für ihn war, nicht zu spät zu kommen. Denn seit ihrer Ankunft in Yami wusste er bereits über Lukas Anwesenheit bei Samira und Jacob Bescheid. Benni brach die Hintertür auf und ließ sich von seinen Sinnen durch die Villa führen, bis er einen Raum betrat, der seiner beträchtlichen Anzahl an Büchern nach die Bibliothek des Hauses war. Ihn überkamen mehrere Eindrücke auf einmal. Das gewaltige Büro mit den vielen dunklen Regalen und Büchern, mit den Gerüchen von Holz und Papier, den Samtsofas und –sesseln auf einem dunkelroten Teppich und der massive Holzschreibtisch vor dem großen Fenster mit Lesecouch. Lukas auf dessen Gesicht sich ein regelrecht psychotischer Ausdruck abzeichnete und der einen Dolch in der geballten Faust hielt, von dem dunkles Blut auf den nahezu gleichfarbigen Teppich tropfte. Und schließlich Samira, die vor ihrem Mann kniete, einerseits um ihn an den Schultern zu rütteln und in zu versuchen, durch ihre Stimme aus der Ohnmacht zu wecken und andererseits, um ihn mit ihrem Körper vor Lukas zu schützen. Unter Jacob wiederum breitete sich eine dunkle Blutlache aus, die von einigen tiefen Stichwunden im Schulterbereich ausgingen. All diese Eindrücke fielen in nicht mal einem Augenschlag auf Benni ein und Lukas hatte seine Ankunft noch gar nicht realisiert, als ein Hieb von Benni in die Magengrube Lukas durch den großen Raum schleuderte und ihn gegen den schweren Schreibtisch krachen ließ, wo er benommen liegen blieb. Benni ging zu den Yorus rüber, wo er mithilfe Jacobs auf dem Sofa liegender Sweatjacke die Blutung an der Schulter seines Vaters zu stoppen zu versuchte. Unmittelbar fühlte sich Benni an den nahezu identischen Moment erinnert, als er in Carstens Blut kniete, in der Hoffnung, das was er tat würde seinem besten Freund irgendwie helfen. „Ruf einen Krankenwagen.“, meinte er, an Samira gewandt, die allerdings erwiderte: „Das hat Jonathan bereits gemacht…“ „Du verdammter…“ Zerknirscht mühte sich Lukas auf die Beine, mit dem Vorhaben, Benni anzugreifen, doch ein Gedanke reichte ihm, um Leon Lenz‘ Neffen mit Dornenranken festzuhalten, die ihn daran hinderten, auch nur eine kleine Bewegung zu tätigen. Zeitgleich mit dem Butler Jonathan nach seinem Telefonat trafen auch Lissi, Öznur und Janine ein, die inzwischen das Anwesen ebenfalls erreicht hatten. „Was ist passiert?!“, erkundigte sich Öznur aufgebracht, doch ein Blick auf Lukas bot ihr ausreichende Erklärung. „Ich hätte es mir denken können…“ Lukas antwortete auf ihre Feststellung mit einem irren Lachen. „Ja hättest du.“ Sein verrückter Blick richtete sich auf Benni. „Doch ich hätte mir nie gedacht, dass du es bist! Der Erbe des Yoru-Clans!“ Erneut lachte Lukas und klang dabei nahezu hysterisch. „Du!!! Der Waldläufer, der weder eine Identität noch gutes Benehmen besitzt!“ Noch während Lukas sprach, entstand ein orange loderndes Portal und niemand geringerer als Jack passierte es. „Also wenn du ihn schon fertig machen willst, dann jedenfalls mit Sachen die auch stimmen.“, kommentierte er und klang ziemlich querulantisch. „Jetzt mal im Ernst, wie kannst du mit diesem Kater von letzter Nacht auf die Idee kommen Drogen zu nehmen?“ „Oh, Lukas ist high?“, stellte Lissi überrascht fest. Jack seufzte. „Leider. Und ich darf das wieder ausbaden.“ „Ooooh, du Armer.“, kommentierte Öznur mit einer alles anderen als mitleidig klingenden Stimme. Jack verdrehte die Augen und befreite Lukas grob aus den Dornenranken. „Mars ist ziemlich angepisst, dass du auf eigene Faust gehandelt hast…“ Unsanft stieß er ihn durch das Portal. „Warte!“, hielt Öznur ihn zurück, als er ebenfalls das Portal passieren wollte. „Das Feuer in Cor. War das auch Lukas?“ Jack schüttelte den Kopf. Eine kleine Geste und doch verriet sie alles. „Du warst es…“, stellte Janine fest und konnte das Entsetzen nicht verbergen. „Was für ein Feuer?“, fragte Samira besorgt, doch niemand brachte es über das Herz, ihr mitzuteilen, dass ihr Vater vor noch nicht einmal zehn Minuten durch besagtes Feuer ums Leben gekommen war… Jack beachtete sie nicht. Selbst sein Blick blieb abgewandt. „Hast du immer noch die Hoffnung, ich würde euch helfen wollen?“ Während Janine betroffen den Blick senkte, schaute Samira ihren Sohn verzweifelt an. „Was für ein Feuer?!?“ Für gewöhnlich hätte Benni ihre Frage nüchtern beantwortet, doch dieses Mal zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen und er wusste nicht, was er erwidern sollte. „Jii-chan ist…“ Mehr bekam er nicht über die Lippen. Und mehr brauchte Samira auch nicht zu hören, um zu verstehen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. „Nein, das kann nicht… Das darf nicht…“ Inzwischen war der Krankenwagen den Jonathan gerufen hatte endlich eingetroffen, was für Jack der Anlass war, wieder zu verschwinden.
„Man sieht sich.“ Er winkte ihnen kurz zu. „Du bist ein echtes Arschloch, weißt du das?!?“, brüllte Öznur ihm hinterher, als sich das Portal bereits schloss. Nicht viel später betraten die Sanitäter den Raum und kümmerten sich unverzüglich um Jacob. „Frau Yoru, bitte steigen Sie doch schon mal in den Krankenwagen.“, bat einer der Sanitäter Samira, während die anderen ihren Gatten auf eine Trage legten. Doch Bennis Mutter schien nicht dazu in der Lage, irgendwelche Tätigkeiten vollbringen zu können, sei es auch nur eine Reaktion auf diese Bitte. Jonathan schien dies bemerkt zu haben. „My Lady, wenn Sie erlauben werde ich Herrn Jacob begleiten. So können Sie bei den jungen Herrschaften bleiben.“ Samira nickte langsam. „Das wäre sehr nett… Danke Jonathan.“, brachte sie, wenn auch nur sehr schwer, über die Lippen. Kapitel 47: Versteinertes Herz ------------------------------ Versteinertes Herz Immer noch betroffen schaute Janine dem davonfahrenden Krankenwagen hinterher und musterte kurz darauf Benni. Carsten war schwer verletzt, Jack hatte seinen Großvater ermordet und nun kam auch noch sein Vater ins Krankenhaus… Und dennoch stand er da, einige Meter von ihr entfernt, mit unveränderter, ausdruckslos wirkender Miene und beobachtete seine Mutter, die eindeutig mit den Tränen zu kämpfen hatte. Nein, Janine musste sich berichtigen. Bennis Miene war nicht ausdruckslos. Sie schien eher wie versteinert. Es wirkte fast so, als würde er seine Emotionen absichtlich abschalten. Als würde er es sich nicht erlauben wollen, durch irgendwelche Gefühle beeinflusst zu werden. Oder als würde er es nicht ertragen können, wenn er es zuließe… Wortlos machte er kehrt und ging zurück ins Haus. Öznur schaute sie und Lissi fragend an. „Was hat er vor?“ „Ich denke diese Tagebücher holen.“, vermutete Lissi. „Ja aber…“ Öznur warf einen mitfühlenden Blick auf Samira, als Benni kurz darauf das Haus auch schon wieder verließ, tatsächlich mit zwei großen Taschen in der Hand, in denen sich wahrscheinlich die Bücher befanden. „Wir können sie auch in Karibera durcharbeiten.“, meinte er nur und wandte sich an seine Mutter. „Möchtest… du mitkommen?“, fragte er zögernd. Diese nickte kraftlos. Schweigend verließen sie Zukiyonaka wieder, bis sie die Magiebarriere verlassen hatten, damit Janines Teleportzauber seine Wirkung zeigen konnte. Die ganze Zeit über ging Benni wortlos an der Seite seiner Mutter, doch niemand der Mädchen konnte es ihm verübeln, nichts zu machen. Immerhin kannte er diese Frau gerade mal ein bis zwei Monate… Janine war dankbar, endlich die Magiebarriere passiert zu haben und teleportierte die Gruppe sofort nach Karibera. Offensichtlich war die Magiebarriere dort noch nicht wiedererrichtet worden, denn sonst hätte sie das beim Aussprechen des Zaubers spüren und ihn abbrechen müssen, da es sonst unschöne Folgen für sie alle hätte. Doch so konnten sie direkt beim Krankenhaus wieder ankommen, wurden auf dem Weg zum Zimmer von Carsten und Eagle allerdings von Ariane, Susanne, Anne und Laura abgefangen. „Und? Habt ihr was herausgefunden?!?“, fragte Laura drängend, hielt aber inne, als sie die Gesichter genauer betrachtete. „Was… Was ist denn passiert?“ „Gehen wir erst mal zu den anderen beiden.“, wich Öznur schnell aus. „Wie geht’s ihnen eigentlich?“ Anne zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Es wurde jedenfalls schon wieder die ‚Demonstrativ-alleine-lassen-Taktik‘ angewandt.“ „Das heißt, es könnte sein, dass sich die beiden endlich mal vertragen?“, fragte Öznur hoffnungsvoll. „Wer weiß.“, meinte Anne, eher am Erlebnis der anderen interessiert. ~*~ Betrübt starrte Carsten an die weiße Decke, nachdem die Mädchen den Raum verlassen und ihn mit Eagle alleine gelassen hatten. In seinem linken Bein spürte er dieses ungemütliche Kribbeln, wie wenn ein Körperteil eingeschlafen war, was ihm zeigte, dass nun auch dort langsam die Lähmung begann. Sein linker Arm ließ sich bereits gar nicht mehr bewegen… Würde er wirklich so sterben? Er hatte es tatsächlich geschafft, die sechs schlimmsten Jahre seines Lebens im FESJ zu überstehen und nun würde er doch sterben? Eigentlich hatte Carsten seit seiner Kindheit schon immer davon geträumt, alles Mögliche zu erkunden. Erst Damon, dann das zerstörte Gebiet und schließlich den Rest der Welt. Er wollte alles gesehen haben, nicht nur Indigo, Yami und die grauen Mauern des FESJ. Doch nun konnte er das vergessen. Es gab kein Heilmittel, egal wie angestrengt die anderen gerade danach suchten… Eine Welle von Angst überkam Carsten. Plötzlich fühlte sich jeder Atemzug unglaublich schwer an als wäre in seiner Brust überhaupt kein Platz für so etwas wie Sauerstoff. Er versuchte ruhig zu bleiben, sich zusammen zu reißen. Warum mussten die Mädchen ihn auch ausgerechnet mit Eagle zurücklassen?! Lieber wäre er alleine seinen Gefühlen ausgesetzt als in Gegenwart von demjenigen zu sein, der ihn von allen am meisten hasste! „…Brauchst du etwas?“, fragte dieser ihn plötzlich zögernd. „Ja. Reiß von mir aus deine Sprüche und verschwinde dann.“, antwortete Carsten, so schroff es ihm mit seiner zitternden, erschöpften Stimme möglich war. „Ich will zumindest meine letzten Stunden, die ich lebend verbringe, nicht gedemütigt werden…“ Die Antwort darauf war allerdings bloß eine unangenehme Stille, die Carstens angestrengten, fast schon panischen Atem nur noch mehr betonte. Seit Carsten aufgewacht war, schien Eagle schon so eigenartig schweigsam. Regelrecht bedrückt. Vorsichtig drehte Carsten seinen Kopf so weit, bis er seinen Bruder beobachten konnte. Vorhin hatte er sich auch bereits so ungewohnt hilfsbereit gezeigt, was Carsten sehr verwunderte. Noch überraschter war er, als er Eagle auf der Bettkante sitzen sah, gar nicht so selbstsicher wie sonst. Die Ellenbogen hatte er auf die Knie gestützt und den Kopf gesenkt. Sein Gesicht wurde zum Teil von seinen langen schwarzen Haaren verdeckt, die er zur Ausnahme nicht zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Nach einem länger anhaltenden Schweigen brachte Eagle schließlich ein „Es tut mir leid…“ über die Lippen. Diese Entschuldigung warf Carsten so aus der Bahn, dass er für einen Moment lang sogar seine Lähmung vergaß und Eagle einfach nur vollkommen irritiert anschaute. „W-was… Wie meinst du das?“, fragte er nach einiger Zeit schließlich. Eagle schien irgendwie zu einer Erklärung ansetzen zu wollen, sagte allerdings doch nichts, als würde er die richtigen Worte nicht finden können. Carsten konnte die Zeit nicht einschätzen, in der er seinen großen Bruder einfach nur beobachtete. Er beobachtete, wie Eagle gebeugt auf dem Bett saß, den Blick abgewandt hatte und mit dieser Situation vollkommen überfordert schien. Dieses bedrückte Schweigen hielt eine ganze Weile an und kam Carsten mit der fortschreitenden Lähmung wie eine Ewigkeit vor. Folglich war er irgendwie dankbar, als es an der Tür klopfte und Eagle zögernd darauf erwiderte: „Herein…“ Es waren Ariane, Susanne, Anne und Laura, überraschender Weise gefolgt vom Rest der Gruppe, der eigentlich nach Cor wollte und weiterhin noch Samira und Saya. Eine Sorgenflut überkam Carsten, als er Öznurs, Lissis und Janines entmutigte Gesichter sah und erstrecht, als er bemerkte, wie niedergeschlagen Samira schien. „Was ist passiert?“, erkundigte er sich mit einer grausigen Vorahnung und schaute fragend seinen besten Freund an. Ein eisiger Schauder überkam ihn, als er Benni sah. Eigentlich schien seine Mimik wie sonst auch ziemlich neutral, Carsten konnte jedoch genau das Leid darin erkennen. Ein großes Leid. „Benni, was ist los?“ ~*~ Laura beobachtete, wie sich die Mädchen auf die paar Stühle und das Bett, in welchem Eagle noch saß, verteilten. Benni gesellte sich wie gewohnt nicht zu ihnen, sondern lehnte sich etwas abseits gegen die Fensterbank. Laura wusste, dass irgendetwas Schreckliches passiert war, auch wenn noch niemand etwas dazu gesagt hatte. Deswegen setzte sie sich gleich neben Benni auf die schmale Fensterbank, in der Hoffnung, irgendwie für ihn da sein zu können. „…Also? Was ist nun passiert?“, fragte Ariane vorsichtig in die Runde, nachdem niemand von sich aus mit einer Erklärung anfangen wollte. Es war Öznur, die schließlich das Wort ergriff: „Als wir in Cor ankamen, merkten wir sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Nun ja und dabei handelte es sich… um einen Brand.“ „Etwa dasselbe Feuer, was auch damals bei… bei Eufelia-Sensei war?“, fragte Laura geschockt, auch wenn es ihr schwerfiel, das in Bennis Gegenwart so direkt auszusprechen. Özi schüttelte den Kopf. „Nein, es ließ sich zum Glück dieses Mal kontrollieren, aber trotzdem… trotzdem ist… hat Herr Weihe…“ „…es nicht überlebt.“, beendete Janines leise Stimme Öznurs Satz. Laura war, wie als fiele sie aus allen Wolken und schlug qualvoll auf dem Boden auf. Herr Weihe war tot? Nicolaus? Bennis Opa?!? Der Rest schien ebenso geschockt wie sie selbst, nur Frau Yoru nicht, die ihre Tränen nun nicht mehr zurückhalten konnte und sofort von Saya in den Arm genommen wurde. Vorsichtig warf Laura einen Seitenblick auf Benni, doch an seiner Mimik hatte sich nichts verändert. Er wirkte äußerlich immer noch kühl, fast so wie eingefroren. Doch an seinen Augen konnte Laura die Trauer deutlich erkennen, als schien ihm die Selbstbeherrschung im Moment tatsächlich schwer zu fallen. Deshalb nahm sie sanft seine Hand und strich mit ihrem Daumen über seinen Handrücken. Sie wollte ihm zeigen, dass sie es irgendwie versuchte, für ihn da zu sein, ihm irgendwie Trost spenden wollte. Nach einer Weile meinte Lissi schließlich: „Na ja, und auf einmal hat Benni gemeint, dass Mars anscheinend schon weiß, wer er ist und dann sind wir nach Yami und dort sind wir auf Lukas gestoßen, der Jacob angegriffen hatte.“ „Was?!?“, fragte Laura erschrocken und verstärkte automatisch den Griff um Bennis Hand. „Aber er… Ihm… Ihm ist doch nichts passiert, oder?“ Janine schüttelte den Kopf. „Nichts allzu Schwerwiegendes jedenfalls. Benni ist noch rechtzeitig gekommen.“ Ein ungemütliches, deprimiertes Schweigen breitete sich in dem Raum aus und sie konnten nur hören, wie Samira leise schluchzte. Es musste schrecklich für sie sein. An einem einzigen Tag wurde ihr Mann angegriffen und verwundet und ihr Vater war gestorben. Bennis Hand, die Laura hielt, spannte sich an als er mit gesenktem Blick sagte: „Es tut mir leid.“ „Das ist doch nicht deine schuld!“, widersprach Laura ihm aufgebracht. „Genau genommen schon…“, erwiderte Anne trocken. Vorwurfsvoll funkelten die Mädchen sie an, doch Anne zuckte mit den Schultern. „Was denn? Der Purpurne Phönix ist hinter dem eiskalten Engel her. Die anderen sind alle nur Kollektivschaden und für ihn nur soweit von Wert, als dass sie Benni schaden können. Also würde ich an eurer Stelle vorsichtig sein. Carsten hat’s doch auch schon erwischt, würde mich nicht wundern, wenn auch Samira, Konrad und insbesondere Laura auf seiner Liste stehen.“ „Anne, es reicht!!!“, schrie Laura sie an, als sie merkte, wie sich Benni bei jedem ihrer Worte mehr und mehr verspannte. Anne zuckte bei ihrem schroffen Tonfall zusammen und wollte etwas darauf erwidern, doch als sie Lauras Blick sah, blieb sie überraschender Weise tatsächlich still. Was vermutlich auch besser für ihre Gesundheit war. Denn obwohl Laura nun die Finsternis-Energie unter Kontrolle hatte, war sie sich im Moment nicht sicher, ob Anne da heil rauskommen würde. Laura warf Carsten einen hilfesuchenden Blick zu, der ihn allerdings ebenso ratlos erwiderte. Trotz seiner schweren Verletzung machte er sich im Moment genauso viele Sorgen um Benni, wie sie selbst. Denn es war mehr als offensichtlich, dass es Benni schwerfiel, seine Maske aus Stein nicht zu verlieren. Besonders, nach dieser absolut taktlosen Aktion von Anne! Sanft nahm Laura auch Bennis andere Hand. „Möchtest du mit rauskommen?“ Das war das einzige, was ihr im Moment einfiel, um ihm auch nur irgendwie eventuell helfen zu können. Benni brauchte seine Freiheit. In der Natur fühlte er sich am wohlsten. Also hoffte Laura, dass ihm die Natur nun irgendwie Trost spenden könnte, wenn sie selbst schon nicht dazu in der Lage war. Und außerdem wollte sie ihn auch einfach nur weg von den ganzen Leuten hier bringen. Klar, hier waren auch noch Frau Yoru und Carsten. Und Laura war sich ziemlich sicher, dass Benni die beiden ebenfalls brauchte, auch wenn er Frau Yoru noch nicht lange kannte. Und Carsten würde Bennis Gegenwart bei seiner schlimmen Verfassung garantiert auch gut finden… Aber trotzdem musste Benni hier raus. Und tatsächlich beantwortete er ihre Frage mit einem schwachen Nicken. „Wir gehen etwas spazieren.“, meinte Laura nur, an den Rest gewandt und verließ mit Benni das Krankenzimmer. Es war ein warmer, gemütlicher Tag und in der Luft lag ein herrlicher Duft von Wiesen, Blumen und Bäumen. Die Temperatur war perfekt für ein T-Shirt, aber nicht zu heiß und die Sonne löste ein angenehmes Prickeln auf Lauras Haut aus. Sie hoffte, dass diese friedliche Gegend ihre Wirkung auf Benni nicht verfehlte und tatsächlich meinte Laura zu spüren, dass er weniger verspannt war. Deswegen nutzte sie die ländliche Umgebung in Indigo aus und steuerte direkt auf den Wald zu, der in der Nähe von Karibera lag. Dort angekommen schaute Laura Benni verunsichert an. „Möchtest du lieber alleine sein?“ Auch wenn ihr der Gedanke nicht gefiel, musste sie ihm doch diese Frage stellen. Denn wenn sie mit Benni in der Natur unterwegs war, kam sie sich häufig irgendwie überflüssig vor. Sie hatte das Gefühl, als würde er lieber alleine sein. Als wäre sie ihm nur ein Klotz am Bein. Doch Benni schüttelte den Kopf. „Wirklich nicht?“, verwundert schaute Laura ihn an. Anstatt darauf zu antworten, nahm Benni einfach nur wieder Lauras Hand und ging weiter, tiefer in den Wald hinein. Da Laura im ersten Moment noch total von der Rolle war, stolperte sie die ersten paar Schritte hinterher, ehe sie sich wieder fassen und ihr Schritttempo an Bennis anpassen konnte. Eine Weile liefen sie bloß nebeneinander den Waldweg entlang. Laura wollte irgendetwas sagen, etwas wie ‚Es tut mir leid wegen Nicolaus‘, doch sie hielt sich zurück. Irgendwie fühlte es sich falsch an, das Schweigen zu brechen. Es war keine ungemütliche Stille. Es schien eher, als würden Benni und sie einfach nur die Landschaft und die Gegenwart des jeweils anderen genießen. Insofern man das in der gegenwärtigen Situation so einfach sagen konnte. Aber selbst wenn es Benni auch nur ein kleines bisschen besser ging, hatte Laura schon mehr erreicht als sie erwartet hatte. Laura atmete tief durch. Erst jetzt merkte sie, wie verspannt sie selbst eigentlich war. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete den Duft des Waldes ein. Sie glaubte, die angenehme, reine Luft bis in ihre Lungen zu spüren. Sie merkte, wie die Ruhe der Natur auch ihre aufgebrachten Gefühle allmählich beruhigen konnte. Ein schwaches, wenn auch nach wie vor trauriges Lächeln stahl sich von ihren Lippen und sie verstärkte ihren Griff um Bennis Hand. ~*~ Vorwurfsvoll funkelte Ariane Anne an. „Was sollte das?!?“ Doch diese hatte offensichtlich nicht kapiert, dass sie etwas total Falsches gesagt hatte, denn Anne erwiderte nur mit ihrem für sie typischen zischenden Ton: „Was denn?“ Ariane biss die Zähne zusammen, um noch halbwegs beherrscht rüber zu kommen. „Na was wohl? Das was du vorhin gesagt hattest war das allerletzte!“ „Es waren einfach nur Beobachtungen, nichts weiter.“, meinte sie trocken. Ariane stieß in Gedanken einen Fluch aus. Anne hatte wirklich einfach keine Ahnung! Ihr Taktgefühl war sogar noch schlechter als das von Eagle!!! Zum Glück griff ihr Susi unter die Arme, die doch noch etwas beherrschter war als Ariane. „Mag sein, dass das nur eine neutrale Betrachtung war, aber sie kam definitiv zum falschen Zeitpunkt und am falschen Ort. Du musst es nicht noch schlimmer für Benni machen als es sowieso schon ist. Man sieht es ihm an, wie sehr ihn all das belastet und wir wissen alle, dass das was zu heißen hat.“ „Und außerdem ist Benni sowieso scharfsinnig genug.“, ergänzte Ninie, „Er hat doch schon längst bemerkt, dass andere vermutlich nur leiden müssen, weil Mars es auf ihn abgesehen hat.“ „Dann ist es doch nicht so schlimm.“, meinte Anne nur schulterzuckend, die es anscheinend immer noch nicht gerafft hatte! „Oh mein Gott und wir hatten immer Benni als gefühllos bezeichnet!“, rief Öznur aus und atmete tief durch. „Hör mal, es ist trotzdem total unnötig gewesen, das auszusprechen. Natürlich hat er sich das schon gedacht, aber man muss es ihm nicht auch noch unter die Nase reiben! Und wenn man es genau betrachtet ist es auch nicht Bennis Schuld, sondern immer noch die von Mars! Immerhin kann Benni ja nix für seine Abstammung, aber Mars kann sehr wohl was dafür, dass er es auf den Erben des Yoru-Clans abgesehen hat.“ „Ja gut, ich hab’s kapiert. Ich bin halt eine unsensible Kuh.“, zischte Anne. „Schön, dass wir uns darin jedenfalls einig sind.“, murmelte Ariane. Ehrlich, es war schon schlimm genug, dass es Carsten so schlecht ging und dass er vielleicht… Vorsichtig warf Ariane einen Seitenblick auf ihn. Natürlich machte er sich im Moment auch riesen Sorgen um Benni, das sah man sofort. Aber man sah halt auch, wie übel zugerichtet er selbst war. Für einen kurzen Augenblick fragte sich Ariane, was von beidem wohl schlimmer wäre. Mitansehen zu müssen, wie alle möglichen Leute um dich herum wegen dir zu Schaden kommen und leiden müssen, weil irgendein geisteskranker Heini es auf dich abgesehen hat oder selbst zu diesen Leuten zu gehören… Ariane entschied sich dazu, dass sie sich in keine der beiden Situationen wiederfinden wollte. Öznur seufzte. „Und jetzt?“ „Keine Ahnung.“, erwiderte Ariane niedergeschlagen. „Habt ihr eigentlich irgendwas rausfinden können?“ „Bennlèy hat ein paar Tagebücher mitgehen lassen.“, meinte Lissi und hob zwei Taschen hoch, die deutlich mehr als Arianes Definition von ‚ein paar‘ waren. „Vielleicht sollten wir damit anfangen.“ „Gute Idee. Gib her, dieses Rumsitzen macht mich noch verrückt.“, forderte Eagle sie auf. Doch Ariane wurde den Gedanken nicht los, dass es weniger das Herumsitzen war, was Eagle so verrückt machte, sondern eher die Tatsache, dass er vermutlich inzwischen genauso dringend ein Heilmittel für Carsten finden wollte wie der Rest von ihnen. Während Lissi weitere von diesen ‚paar‘ Büchern an die Mädchen austeilte, hörte Ariane Carsten matt fragen: „Ihr glaubt wirklich immer noch, dass es ein Heilmittel gibt?“ „Klar!“, empörte sich Ariane, „Es hat gefälligst eins zu geben und basta!“ Doch aufheitern konnten ihre Worte Carsten nicht wirklich. Er wandte nur hoffnungslos den Blick ab und erwiderte nichts mehr darauf. Etwa eine Stunde lang lasen sie alle nur in den Tagebüchern von Coeur und Ariane fand es eigentlich sogar ganz interessant und schön geschrieben. Aber sie konnte sich nicht wirklich auf den Inhalt konzentrieren, sondern suchte eigentlich nur nach irgendwelchen Hinweisen über die Dämonenwaffen oder ähnlichem, sodass die Situation im magischen Krieg und ihr Kampf gegen den Herrscher der Zerstörung viel zu sehr in den Hintergrund geriet. Klar, Ariane fragte sich schon, ob da vielleicht drinnen stand, wie sie eventuell Mars besiegen könnten. Aber just in diesem Moment war das nicht von Bedeutung. Das wichtigste war Carsten zu retten. Die Welt kann noch warten. Lissis missmutiges Seufzen unterbrach die Stille. „Ach Manno, wenn Lauch und Bennlèy noch da wären, würde das viel schneller gehen.“ Öznur schnaubte. „Anne konnte ja nicht die Klappe halten.“ „Ach, ist es nun meine Schuld, dass die zwei einen netten kleinen Spaziergang machen.“, zischte Anne zurück. „Ja, ist es.“, erwiderte Öznur. „Nicht schon wieder streiten, bitte.“ Susanne schaute die zwei auffordernd an. „Wir haben wirklich andere Sorgen.“ „Ja, genau deshalb sollten uns die zwei auch helfen und nicht auf beleidigte Leberwurst machen.“, maulte Anne weiter. Janine überhörte ihren mal wieder unnötigen Kommentar. „Benni, das sind ganz schön viele Bücher. Wir brauchen eure Hilfe. Kommt bitte zurück, wenn es dir inzwischen besser geht.“ Irritiert schaute Öznur sie an. „Was denn?“, fragte Ninie schüchtern. „So weit sind Laura und Benni jetzt sicherlich auch nicht weggegangen, also dürfte er uns eigentlich noch hören, wenn es darauf ankommt.“ Offensichtlich behielt Ninie Recht, denn etwa eine viertel Stunde später kamen Laura und Benni zurück. Wortlos nahmen beide eins der Bücher in die Hand, doch statt auf die Fensterbank setzten sie sich dieses Mal auf den Boden neben Carstens Bett. Mit halbem Ohr bekam Ariane mit, wie Carsten irgendetwas zu Benni auf Indigonisch sagte und dieser irgendetwas in ebendieser Sprache erwiderte. Natürlich hatte Ariane keine Ahnung, worum es in der Unterhaltung der beiden ging. Vermutlich wollte er einfach nur wissen, wie es Benni so ging. Doch da warf auf einmal Eagle irgendetwas mit so schroffem Ton in das Gespräch der beiden, das Ariane unwillkürlich zusammenzuckte, obwohl sie noch nicht einmal wusste, was er da eigentlich gesagt hatte. Okay, vielleicht wollte Carsten doch nicht einfach nur wissen, wie es Benni ging. Benni ergänzte noch irgendetwas und daraufhin erwiderte Carsten nichts mehr, sondern wandte einfach nur den Blick ab, wie er schon zuvor auch auf Arianes Kommentar reagiert hatte. „Was ist denn los?“, erkundigte sich Laura besorgt. Eagle schnaubte. „Ich hätte nicht erwartet, dass Carsten noch pessimistischer sein kann als du.“ „Wieso? Was ist denn?“ „Wenn es dir zu viel Umstand bereitet, kannst du gerne das Buch weglegen. Das gilt auch für den Rest von euch.“, meinte Benni trocken. „Was?!? Niemals!“, rief Laura erschrocken auf. „Spinnst du?!?“, fuhr Ariane ihn an. „Echt jetzt, du bist sein bester Freund, wie kannst du nur so etwas sagen?!“, empörte sich Öznur. Benni warf Carsten einen Blick zu, der deutlich genug das sagte, was Benni nicht aussprach. ‚Siehst du?‘ Nun machte es in den Köpfen der Mädchen klick. Das, was Benni gemeint hatte, kam also im Prinzip von Carsten und war vermutlich der Inhalt ihrer Diskussion gewesen. „Oh, sorry, war nicht so gemeint.“, entschuldigte sich Ariane mit einem verlegenen Lachen bei Benni und fuhr daraufhin Carsten an. „Spinnst du?!?“ Eagle schnaubte. „Ich hab’s doch gesagt, noch pessimistischer als Laura. Wenn Benni meint, dass es Hinweise auf ein Gegenmittel gibt und wir sogar wissen, wo wir suchen müssen, warum sollten wir es dann bleiben lassen?! Gerade jetzt sollten wir die Hoffnung nicht verlieren!“ „Warum interessierst du dich überhaupt dafür?!“, schrie Carsten plötzlich. Durch die Anstrengungen, die sein Körper ohnehin zu ertragen hatte, klang seine Stimme ganz rau und heiser. „Wenn ich mich recht entsinne, war es dir vor ein paar Stunden noch vollkommen gleich, wie es mir geht und ob ich die Sache nun überlebe oder nicht! Ich glaube, es wäre dir sogar sehr willkommen, wenn ich endlich verrecken würde!!!“ „Was?! Nein, ist es nicht!!!“, brüllte Eagle zurück und Ariane bemerkte, wie ein Windstoß durch ihre Haare zauste. Ehe die Situation eskalieren konnte, ging Laura dazwischen. „Leute bitte, nicht streiten!“
Doch Carsten schien so in Rage, dass er ihre gute Absicht gar nicht erst zur Kenntnis nahm. „Ach komm, du weißt genau, dass es stimmt! Was denkst du, wie es mir geht, wenn Eagle ausgerechnet jetzt mit seiner Ich-bin-so-ein-toller-Bruder-Heuchelei anfängt und über Hoffnung redet?!? DU hast gut reden, immerhin wurdest du damals andauernd bei deinem Rumgeheule getröstet! Obwohl dir Benni sogar gesagt hat, dass du nicht sterben wirst! Und du hattest ihm trotzdem nicht geglaubt! Und mich darf jetzt nicht mal mehr das aufregen?! Ich hab halt nur meine eigene Kraft und nicht die eines übernatürlichen Wesens, ohne das ich nicht lebensfähig wäre!“ Bei seinen Worten zuckte Laura betroffen zusammen. Entsetzt musterte Ariane Carsten. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Zu Laura?! Seiner besten Freundin, die für ihn wie eine kleine Schwester war?!? Es war so irritierend, dass so etwas ausgerechnet über Carstens Lippen kam, dass niemand wusste, wie sie darauf nun reagieren sollten. Ariane konnte nur beobachten, wie Laura mit den Tränen zu kämpfen hatte, deutlich bemüht, Carstens Aussage über ihr ‚Rumgeheule‘ nicht auch noch zu bestätigen. Dieser hatte sich allerdings noch nicht beruhigt. „Jetzt fängst du schon wieder damit an! Und natür-“ „Es reicht.“, schnitt Benni ihm mit ruhigem aber trotzdem scharfem Ton das Wort ab. Anscheinend brachte diese leicht schroffe Anweisung seines besten Freundes Carsten wieder zur Vernunft, denn seinem Blick nach zu urteilen, schien nun auch er selbst zu realisieren, was er da gesagt hatte. Vollkommen verzweifelt schaute er Laura an, die er zuvor noch total fertiggemacht hatte. „Laura es- es tut mir so leid, ich- ich weiß nicht… Ich weiß nicht was mit mir los war…“ Ariane bemerkte, wie er zu zittern begann, allerdings weder die linke Schulter noch der Arm, was ihr einen Kälteschauer über den Rücken jagte. Bisher hatte sie es noch gar nicht so sehr wahrgenommen, dass Carsten tatsächlich gelähmt, regelrecht von innen versteinert wurde. Aber diese Muskeln konnten sich schon gar nicht mehr bewegen… Carsten bereute seine Worte anscheinend so sehr, dass ihm bereits die Tränen kamen und er leise zu schluchzen anfing. „Es tut mir so leid…“ Vorsichtig setzte sich Laura zu ihm auf die Bettkante und nahm ihn in den Arm. „Es ist schon okay.“ Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Nein, ist es nicht! Es ist keine Rechtfertigung, dass ich so etwas zu dir sage, nur, weil ich… weil ich Angst habe…“ Carstens Schluchzen wurde stärker und ebenso verstärkte Laura die Umarmung. „Das wird schon, du wirst wieder gesund. Wir werden ein Heilmittel finden…“, sagte sie, während eine kleine Träne über ihre Wange kullerte. Ganz leise hörte Ariane, wie Carsten schluchzte: „Ich will nicht sterben…“ „Wirst du nicht.“, sagte Benni mit so einer Überzeugung in seiner Stimme, dass Ariane glatt glaubte, er habe das Heilmittel schon gefunden. Benni legte die Hand auf Carstens nicht verwundete Schulter. „Mars hat mir bereits Eufelia und meinen Großvater genommen. Ich lasse nicht zu, dass noch jemand ums Leben kommt.“ Erst jetzt bemerkte Ariane, dass sich auch in ihren Augen Tränen gesammelt hatten. Schnell wischte sie sie weg. Noch war nicht alles verloren, noch gab es mehr als genug Bücher, in denen sie nach weiteren Hinweisen von einem Heilmittel suchen konnten! Eine weitere Stunde lasen sie noch in den Tagebüchern, doch immer noch ohne Erfolg. Ariane spürte, wie nach und nach ihre Konzentration schwand. Sie hatte einfach viel zu wenig Schlaf gehabt. Genauso wie der Rest von ihnen, wie sie bei einem Blick in die Runde feststellen musste. Die Erlösung klopfte an die Tür. Es war Saya, die den Raum vor einiger Zeit mit Samira verlassen und ihr vermutlich seelischen Beistand geleistet hatte. „Ihr könnt in eurer Verfassung doch nicht die ganze Zeit durcharbeiten.“, sagte Eagles und Carstens Stiefmutter fürsorglich. „Kommt etwas Essen. Carsten bringe ich auch gleich was.“ Die Mädchen tauschten einige unsichere Blicke aus. „Geht nur.“, meinte Eagle. „In eurer Verfassung seid ihr sowieso keine Hilfe.“ „Oh nein Dickkopf, du kommst auch mit.“, wies Saya ihn an, die Eagles Absicht zurückzubleiben und weiter zu suchen, sofort erkannt hatte. „Dämonenbesitzer hin oder her, du bist immer noch verwundet und brauchst erst recht etwas, um wieder auf die Beine zu kommen.“ Widerwillig gab sich Eagle geschlagen. Ariane fragte sich, ob Carsten immer noch der Meinung war, dass Eagle ihm diese fürsorgliche-großer-Bruder-Nummer nur vorheuchelte. Nach dem vorhin zu urteilen schienen sie sich jedenfalls noch nicht ausgesprochen zu haben. Wobei… Konnte man das nach so kurzer Zeit schon erwarten?
Immerhin hatten die beiden sechzehn Jahre lang Geschwisterkrach! Ein ‚Es tut mir leid‘ wie vorhin bei Laura reichte garantiert noch lange nicht. Ariane legte das Buch zur Seite und folgte dem Rest der Gruppe zur Tür. Fragend schaute sie Laura und Benni an. „Kommt ihr nicht mit?“ Laura schüttelte den Kopf. „Ihr wart länger an den Büchern als wir.“ „Stimmt, es wäre nur fair, wenn ihr noch mindestens eine Stunde weitersucht, als Ausgleich für euren ‚kleinen‘ Spaziergang.“, meinte Anne und bekam von Öznur einen Schlag auf den Hinterkopf. „Wir sprechen uns noch.“ „Abgesehen davon Banani, wie kannst du dir so sicher sein, dass es tatsächlich ein ‚kleiner Spaziergang‘ war?“, fragte Lissi und konnte die Andeutungen natürlich nicht unterlassen. „Wir haben nichts gemacht.“, meinte Laura, wurde aus Verlegenheit wegen Lissis eindeutiger Andeutung aber trotzdem rot. Lissi warf ihr einen Luftkuss zu. „Das sagen sie alle, Lauchi.“ Ariane kicherte und schob Lissi durch die Tür. „Jetzt reicht es aber, lass uns Essen.“ ~*~ Während die Tür in die Angeln fiel verschränkte Laura trotzig die Arme vor der Brust. „Wir haben wirklich nichts gemacht.“ „Es ist Lissi.“, meinte Carsten und Laura glaubte, ein leichtes Schmunzeln um seine Lippen zu sehen. „Eigentlich ist es schön, dass wir jedenfalls noch ein kleines bisschen Normalität haben…“ „Was ist denn an Lissi normal?“ Natürlich war Lauras Frage rhetorisch, aber sie war froh, dass sie dadurch Carsten jedenfalls ein bisschen aufheitern konnten. Doch dieser Moment hielt nur ganz kurz an. „Es tut mir wirklich leid…“, meinte Carsten betrübt. „Immer noch deswegen?“ Laura schüttelte den Kopf. „Es ist nicht so schlimm. Ich kann verstehen, dass du ausgerastet bist. Ich meine… ich kann verstehen wie du dich vermutlich gerade fühlst.“ Carsten seufzte. „Gerade das macht es umso schlimmer… Du bist die einzige, die tatsächlich weiß wie es sich anfühlt, wenn der Tod naht. Ich… bin vermutlich einfach neidisch auf dich.“ Irritiert schaute Laura ihn an. „Na ja, du hast es hinter dir. Und du hast überlebt. Ich will einfach nur, dass es vorbei ist. Ich ertrage das nicht länger. Aber…“ Ein Zittern überkam Carsten, sein Atem klang angestrengter. „Aber ich habe auch Angst davor. Wenn es vorbei ist, dann…“ „Du wirst nicht sterben!“ Entschlossen sah Laura ihn an, auch wenn sie eigentlich wieder kurz davor war, loszuheulen. Warum musste es auch ausgerechnet Carsten erwischen?!? Warum nicht Anne??? Auf die könnte sie in letzter Zeit nur zu gut verzichten, besonders nach dieser schrecklichen Aktion vor ein paar Stunden. Eine Weile lasen Laura und Benni noch in Coeurs Tagebüchern weiter. Zwischendurch kam Saya vorbei und brachte Carsten etwas zu essen und hatte auch für Laura und Benni jedenfalls ein paar belegte Brötchen dabei. Doch Carsten aß kaum was und Laura bekam auch nur ein halbes Brötchen runter. Den Rest konnte sie dadurch immerhin Benni andrehen, sonst hätte er vermutlich gar nichts gegessen. Irgendwann fiel Laura auf, dass Carsten anscheinend eingeschlafen war. „Er schläft, oder?“, flüsterte sie fragend zu Benni, der nickte. Laura seufzte und nagte gedankenverloren an einem Salatblatt herum. Da legte Benni das Buch aus der Hand und fragte plötzlich: „Ist es wirklich nicht so schlimm?“ Dummerweise wusste Laura sofort, was er meinte. „Na ja, also… Ähm…“ Seufzend gab sie sich geschlagen. „Eigentlich hatte er es ja nur gesagt, weil er in dem Moment so verzweifelt war und nicht wusste, wie er mit diesen ganzen Gefühlen umgehen soll, weil sie so… viel zu stark sind.“ Beschämt lachte Laura auf. „Da sollte ich ihm das wohl am allerwenigsten übelnehmen, nach allem, was ich in solchen Momenten schon gesagt und getan habe. Aber trotzdem… Irgendwie tut es weh.“ Benni nickte. „Es liegt einfach die Vermutung nahe, dass er es bereits des Öfteren gedacht und bloß nie ausgesprochen hat.“ Einen Moment lang war Laura verwundert, dass Benni ihre Gedanken so treffend beschreiben konnte. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass Carsten ihn ja auch einst schwer getroffen hatte, als er ihn als Monster bezeichnet hatte. Damals hatte er seine Worte zwar genauso sehr bereut, aber trotzdem hatte es etwas gedauert, bis Benni wieder warm mit ihm werden konnte. Aber Benni ging es damals auch viel schlechter, als er das zu hören bekommen hatte. Laura erfreute sich ja endlich mal guter Gesundheit. Und trotzdem… Laura seufzte. „Er hat halt Recht. Ich bin eine Heulsuse und ich wette, insgeheim seid ihr alle auch genervt davon. Und ohne den Schwarzen Löwen krieg ich nun mal nichts auf die Reihe. Ich wäre noch nicht mal am Leben!“ Benni erwiderte nichts darauf und Laura war sich ziemlich sicher, dass er einfach nichts sagte, weil er ihr sonst zustimmen müsste. Es ist halt so. Dachte sie traurig. Ich bin eine Heulsuse, ich kann nichts und bin eigentlich nur ein Hindernis für die anderen. Wenn der Schwarze Löwe und Benni nicht wären… Ich hätte schon so oft eigentlich sterben müssen. Und Benni? Er ist super stark, super schlau, super schön, … Er kann alles! Warum gibt er sich immer noch mit mir ab? Ich meine klar, wir sind zusammen, aber er müsste doch schon längst die Schnauze voll von mir haben. …Ich bin einfach nicht gut genug für ihn… Betrübt senkte Laura den Kopf. „Ich habe dich einfach nicht verdient.“ Eine Weile lang musterte Benni sie einfach nur, bis er schließlich doch noch etwas darauf erwiderte. „Da hast du Recht.“ Sein Kommentar ließ Laura erschaudern, doch Benni war noch nicht fertig. „Du verdienst mich nicht. Ich kann dir nicht das nötige Ausmaß an Liebe geben das du brauchst, auch wenn ich es gerne täte. Ich schaffe es nicht, richtig darauf zu reagieren, wenn du Kummer hast. Ich bekomme es noch nicht einmal auf die Reihe, dich zum Lachen zu bringen. Ich bringe dich nur zum Weinen.“ Überrascht schaute Laura auf, nur um zu sehen, dass es nun Benni war, der den Blick abgewandt hatte. „A-aber… Das stimmt doch gar nicht!“, verteidigte sie ihn vor seinen eigenen Vorwürfen. Benni schaute sie aus dem Augenwinkel an. „Doch, es stimmt. Du weißt es genau. Inzwischen wissen es alle. Ich verstehe Emotionen einfach nicht. Also kann ich auch nicht entsprechend darauf reagieren.“ Laura gab sich einen Ruck. Es konnte doch nicht sein, dass Benni, ausgerechnet Benni, solche Selbstzweifel hatte! „Weil du es irgendwie die ganze Zeit geschafft hast, sie auszuschalten, oder?“ „Mag sein…“, erwiderte er, als würde er sich selbst noch nicht einmal verstehen. Doch auf einmal war es Laura, die sich sicher war, was mit ihm los war. „Du hast einfach Angst davor, wieder so verletzt zu werden! Die Sache mit deinen Eltern damals, dass die anderen Menschen dich so schlecht behandelt haben… Kein Wunder, dass du dich so von allen zurückgezogen hast!“ Sie schluckte einen Kloß im Hals herunter. „Und kaum schaffst du es, dich zu trauen, Gefühle so langsam wieder zuzulassen, passieren solche schlimmen Sachen. Eufelia-Sensei und Herr Weihe sterben… Carsten vielleicht auch…“ Nun musste sie selbst mal wieder mit den Tränen kämpfen. War diese Abwehrhaltung, die Benni als Kind entwickelt hatte, diese Barriere vor den Gefühlen, die er sich aufgebaut hatte, denn so schlecht? Immerhin hatte er sich dadurch vor diesem ganzen Schmerz schützen können. „Vielleicht hast du Recht, vielleicht sind Gefühle eine Schwäche.“ „Aber sie machen uns menschlich.“, murmelte Benni. Laura schreckte hoch. „Was?“
„Vor ihrem Tod bat mich Eufelia-Sensei zu lernen, meine Gefühle in den rechten Augenblicken zuzulassen…“ Lauras Herz fühlte sich an wie ein schwerer Stein. Natürlich hatte sich Eufelia-Sensei immer um Benni gesorgt, immerhin hatte sie ihn ja wie ihren eigenen Sohn behandelt. Und sie schienen ja sogar irgendwie entfernt verwandt zu sein! So gruselig Laura sie auch fand, musste sie sich eigestehen, dass Eufelia immer nur Bennis Wohl am Herzen lag, wie einer wahren Mutter. Klar hatte sie ihn streng erzogen, aber so war sie nun mal. Sie wollte einfach, dass er in der Lage war, sich selbst und die, die ihm wichtig sind, verteidigen zu können. Sie wollte vermutlich auch einfach nur, dass er glücklich war. Doch wie kann jemand glücklich sein, der so etwas wie Freude nicht verstand? Wer weiß, vielleicht hatte Eufelia-Sensei Laura auch nicht sosehr gehasst? Vielleicht hatte sie sich das alles einfach nur eingebildet? Es wäre immerhin nicht das erste Mal. Laura zitterte am ganzen Körper. Vielleicht hatte Eufelia-Sensei ja auch immer gehofft, dass Laura es eines Tages schaffen würde, Benni glücklich zu machen? Verunsichert betrachtete sie ihn. Dieses Mal schien Benni derjenige zu sein, der zerbrechlich wirkte. Als könnte er es nicht ertragen, noch jemanden zu verlieren. Als könnte ihn noch so etwas endgültig zerstören. Nein! Laura schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden. Das würde sie nicht zulassen! Niemals! Sie rückte näher an ihn heran, um ihn in eine Umarmung ziehen zu können. „Ich bin vielleicht nicht die stärkste, erst recht nicht, wenn es um Charakterstärke geht, aber etwas hab ich definitiv durch die Sache mit meinem Geburtstag und dem Schwarzen Löwen gelernt. Und zwar, dass es sich lohnt das Leid zu ertragen und den Schmerz zuzulassen. Denn es gibt immer wieder wunderschöne Momente, die das Leben lebenswert machen und die einem Hoffnung geben.“ Lauras Wangen färbten sich rötlich. „Wie zum Beispiel, als du mich an meinem Geburtstag geküsst hast.“ Total verlegen, verstärkte Laura ihre Umarmung. „Und schon alleine aus dem Grund, dass ich dich habe, bin ich froh, dass der Schwarze Löwe mich nicht verlassen hat.“ Laura hatte das Gefühl, als würde Benni etwas erwidern wollen, doch er sagte nichts. Stattdessen lehnte er sich tatsächlich gegen sie, als würde sie ihm Halt geben können. Kapitel 48: Coeurs Vermächtnis ------------------------------ Coeurs Vermächtnis „Hey ihr zwei, das kann doch nicht wahr sein! Kaum lässt man euch für ein paar Stunden mit den Büchern alleine, fangt ihr an zu faulenzen und macht ein Nickerchen!“ Arianes empörter Ausruf ließ Laura hochschrecken. Irritiert schaute sie sich um. Sie war immer noch in Carstens Krankenzimmer, Carsten selbst war bereits wach und beobachtete Laura, leicht amüsiert. Was vermutlich daran lag, dass sie tatsächlich eingeschlafen war, bemerkte sie beschämt. Und noch schlimmer, sie war anscheinend auf Bennis Schoß eingeschlafen! Sofort wurde Laura knallrot, was den Großteil der Mädchen kichern ließ. „Lauch ist so süß!“, quietschte Lissi. Anne zischte. „Und sowas von unproduktiv. Der eiskalte Engel hat immerhin weitergelesen.“ Laura schnaubte, doch warf kurz darauf einen vorsichtigen Blick auf Benni. Ging es ihm nun nach ihrem Gespräch tatsächlich besser oder verbarg er seine Gefühle mal wieder hinter einem Pokerface? Auch Ariane betrachtete Benni. „Hast du was gefunden?“
Benni schüttelte den Kopf. „Nichts, was nach einem Vermächtnis klingt.“ Janine seufzte. „‘Coeurs Vermächtnis‘… Was könnte Nicolaus damit gemeint haben?“ „Na ja, Herr Yoru hat gemeint, dass Coeur sozusagen den Yoru-Clan erhalten hat, obwohl sie ja anscheinend nur mit Leonhard verlobt war. Vielleicht ist das ihr Vermächtnis?“, überlegte Laura laut. Öznur schüttelte den Kopf. „Wenn es so wäre, dann wäre doch eigentlich Benni das, was wir suchen. Und der ist nicht wirklich ein Heilmittel, oder?“
„Oh, oh, oh, vielleicht ist es ja Bennlèys Blut! Cärstchen muss sein Blut trinken, wie ein sexy Vampir!“, rief Lissi begeistert. Während der eigenartigen Überlegungen der Mädchen, die Laura nicht wirklich beabsichtigt hatte, fing Benni auf einmal an, in den Büchern zu kramen, auf ihre Deckel zu schauen und einige von ihnen grob zu überfliegen, als suche er nach etwas Bestimmtem. „Hast du eine Idee?“, fragte Laura hoffnungsvoll. „Könnte es tatsächlich dein Blut sein?“, erkundigte sich Öznur amüsiert. Benni schüttelte den Kopf. „Es ist die Erhaltung. Über diese Energie verfügt der Silberne Pegasus, Coeurs Dämon. Sie konnte trotz der Widerstände im Adel die Blutlinie des Yoru-Clans erhalten. Vielleicht ist ihr Vermächtnis mithilfe ihrer Energie entstanden.“ „Wir suchen nach einem Heilmittel, also ist es gut möglich.“, sinnierte Susanne. „Nicht direkt. Wir suchen nach dem Ursprung der Waffen.“, erwiderte Benni. Verwirrt schaute Laura ihn an. „Hä?“ „Sie sind aus dem Material ‚Viecor‘ geschaffen.“, erklärte er. „Ist daraus nicht auch Lauras und dein Kreuz?“, fragte Ariane. Benni nickte. „Na ja, ‚vie‘ bedeutet Leben und ‚cor‘ Herz.“, überlegte Susanne, „Nicht umsonst erzählt man sich diese Geschichte, dass es bei zwei sich wahrhaftig Liebenden einen vor dem Tod bewahren könne.“ „Oh wie süß, du glaubst also doch an die wahre Liebe?!“, rief Öznur begeistert auf. Lissi klatschte in die Hände. „Dann müssen wir nur noch jemanden finden, der unser Cärstchen wahrhaftig liebt!“ Anne verdrehte genervt die Augen. „Das ist bloß ein Ammenmärchen, sowas funktioniert doch nie und nimmer.“ „Aber wie hilft uns das Viecor sonst weiter?“ Fragend schaute Janine Benni an. Dieser überflog immer noch die Seiten von einem der Tagebücher, während er antwortete. „Die Bedeutung von Coeur ist ebenfalls Herz.“
Eagle zuckte mit den Schultern. „Gut, da liegt der Gedanke nahe, dass sie irgendwie dieses Material erschaffen hatte. Aber warum sollte sie ein Material für Waffen erschaffen, das auch noch ausgerechnet das Wort ‚Leben‘ im Namen hat?“ „Genau.“, erwiderte Benni nur. „Und wonach suchst du jetzt?“, fragte Laura ihn, immer noch etwas verwirrt. „Es geht um Leben. Sie muss dieses Material nach Leonhards Tod erschaffen haben.“ „Sozusagen um damit fertig zu werden, dass er gestorben ist?“ Benni bestätigte Lauras Frage mit einem Nicken. Anne zuckte mit den Schultern. „Na ja, vielleicht wollte sie mit den Waffen Frust ablassen.“ Wortlos reichte Benni ihr das Buch, welches er eben überflogen hatte. Irritiert betrachtete sie die aufgeschlagene Seite, bis Öznur sie aufforderte, es endlich vorzulesen. Anne schnaubte, gab aber der Bitte nach. „Wieder haben sich diese Menschen zu der Quelle geschlichen und wieder haben sie die Rohstoffe gestohlen, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe befanden. Es sind erneut weniger Bäume geworden und auch das Erz hat abgenommen. Ich kann mir schon denken, was sie damit machen. Natürlich, in dem Wasser liegt eine ungeheure Macht inne, aber sie sollen es nicht dazu missbrauchen, Todeswerkzeuge zu erschaffen! Ich habe mit Eufelia gesprochen und sie hat mir versprochen, ein Auge darauf zu werfen und im Notfall diese Diebe zu verjagen. Das Wasser ist zum Heilen da, nicht zum Verletzen! …“ „Das Wasser?“, fragte Ariane. „Das scheint Coeurs Vermächtnis zu sein!“, rief Laura hoffnungsvoll auf. Benni nickte. „Anscheinend ist es nicht das Metall, sondern besagte Quelle, welche den Namen Viecor trägt.“ „Verstehe. Das Metall, aus dem die Dämonenwaffen sind, ist also wahrscheinlich irgendwie mit dem Wasser in Berührung gekommen und hat dadurch diese besonderen Fähigkeiten erlangt.“, erklärte sich Eagle. „Das würde auch zur Erhaltungs-Energie passen, immerhin sind die Waffen sehr robust, obwohl das Material eigentlich so leicht ist. Vielleicht erklärt das auch, warum wir unsere Energien in die Waffen leiten können. Da sie durch Energie entstanden sind und außerdem die Fähigkeit haben könnten, unsere Energie zu ‚erhalten‘.“ Susanne nickte. „Das klingt einleuchtend. Coeur hat erwähnt, dass das Wasser eigentlich dazu da ist, Menschen zu heilen. Die Waffen wurden nur so gefährlich, weil sie mit dem Wasser aus der Quelle in Berührung kamen. Es ist also gut möglich, dass es eine Art Gegengift darstellt.“ „Also müssen wir nur noch herausfinden, wo es liegt!“, rief Laura begeistert. „Na ja, können wir uns denn sicher sein, dass es ausgerechnet diese Quelle ist, die Heilfähigkeiten hat? Das sind alles nur Spekulationen und wir dürfen kein Risiko eingehen.“, meinte Anne kritisch. „Ziemlich sicher.“, erwiderte Benni, der schon längst in einem anderen der Bücher blätterte. „Dann los, wir müssen nur noch wissen, wo sie ist. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!“, drängte Laura ihn. „Hier steht, Eufelia habe in der Nähe der Quelle gelebt.“ Benni warf Laura einen Blick zu. „Es könnte jene sein, die in dem einen Teich mündet, bei dem wir damals des Öfteren gespielt hatten.“ „Der in den ich mal reingefallen und fast ertrunken bin?! Oh nein, der hatte definitiv nichts Heilendes an sich!“, rief Laura empört aus. Immerhin brachte ihr Kommentar es dazu, dass Carsten ein leises Kichern von sich gab. Benni verdrehte die Augen. „Du bist aber nicht ertrunken. Und dieser Ort hatte schon immer etwas Besonderes, Magisches an sich. Dir hatte es dort auch gefallen.“ Trotzig verschränkte Laura die Arme vor der Brust. „Ja, schon. Bis ich fast ertrunken bin.“ „Nur fast.“ Benni legte das Buch zur Seite und wandte er sich dem Rest der Gruppe zu. „Wir sollten so bald wie möglich aufbrechen.“ Gesagt, getan. Laura hatte selten gesehen, wie flott die Gruppe alles für den Aufbruch vorbereitete und besonders, wie gut alle zusammenarbeiteten. Derweil kümmerten sich Saya und Susanne nochmal um Carstens Verletzungen, immerhin würden sie eine Weile unterwegs sein und das würde ganz schön an seinen Kräften zehren. Außerdem stand auch noch eine Teleportation bevor, um Zeit zu sparen. Dieses Mal war es Eagle, der zu seiner Großmutter gegangen war, damit diese schon wieder die Magiesperre auflöste. Aber es war Carstens Oma, also dürfte sie damit doch sicherlich kein Problem haben, wenn davon das Leben ihres Enkels abhinge. Nachdem alle fertig waren waren es Susanne und Janine, die die Gruppe an die Grenze von Obakemori teleportierten. Laura fand sich mit dem Rest auf jener Kreuzung im Wald wieder, an welcher der eine Weg Richtung Zukiyonaka, der andere zu ihrem Elternhaus und der dritte nach Obakemori führte. Sie beobachtete, wie Benni und Eagle Carsten stützten, welcher kaum mehr die Augen offenhalten konnte, so mitgenommen wie er war. „Wollt ihr ihn wirklich den ganzen Weg dorthin tragen?“, erkundigte sich Susanne besorgt. „Hast du eine Alternative?“, erwiderte Eagle. Benni hielt für einen Moment inne und schien in den Wald zu hören, als er schließlich vorsichtig Carstens Arm von seinen Schultern nahm und Eagle aufforderte, ihn für einen Moment alleine zu halten. „Ich komme gleich wieder.“, meinte er nur und verschwand zwischen den Bäumen. Die Mädchen und Eagle tauschten zwar verwirrte Blicke aus, warteten aber brav. Wenige Minuten später kam Benni zurück, gefolgt von einem gewaltigen Tier. Laura konnte nicht anders, als zu diesem prächtigen Wesen aufzuschauen, das mit seinem riesigen Geweih, dem glänzenden kastanienbraunen Fell und der anmutigen Haltung wie der König des Waldes wirkte. Er war garantiert noch viel größer als ein gewöhnlicher Hirsch, immerhin schien er doppelt so groß wie Laura zu sein! „Wie schön.“, hauchte Janine und beobachtete, wie der Herr des Waldes trotz seiner Größe sehr grazil auf die Knie ging, damit Benni und Eagle es leichter hatten, Carsten auf seinen Rücken zu setzen. „Wo hast du den denn aufgetrieben?“, fragte Öznur staunend. Kritisch verschränkte Anne die Arme vor der Brust. „Und warum hilft er uns?“ Doch Benni beantwortete ihre Fragen nicht, sondern ging mit dem Hirsch den Weg Richtung Obakemori entlang. Öznur und Anne mussten sich eingestehen, dass sie womöglich gar keine Antworten mehr auf ihre Fragen bekamen und folgten ihm stattdessen, ebenso der Rest von ihnen. Auf ihrem Weg durch den Wald wagte keiner auch nur einen Mucks zu sagen, aus Angst, den Hirsch irgendwie zu verschrecken. Und gleichzeitig auch aus Respekt. Es fiel Laura immer noch schwer zu glauben, dass dieses so mächtig wirkende Wesen irgendwelchen dahergelaufenen Jugendlichen wie ihnen helfen würde. Nun gut, sie waren genau genommen nicht irgendwelche dahergelaufenen Jugendliche und Benni mit seiner Begabung, sich mit Tieren zu verständigen, hatte unter Garantie eine essenzielle Rolle dabei gespielt, aber trotzdem kam es Laura seltsam vor. So besonders kam sie sich immerhin gar nicht vor, dass sie es wert wäre, die Hilfe von so jemand Besonderem anzunehmen. Vorsichtig beschleunigte Laura ihren Schritt um zu Benni aufzuschließen, aber trotzdem darauf bedacht, nicht zu laut zu sein. Sie kannte diese Strecke und sie hatte das ungute Gefühl, dass sie bei ihrem Weg zur Quelle an etwas vorbeikommen würden. Etwas voller Erinnerungen. Sowohl schöne, als auch leider sehr tragische… Lauras Vorahnung erwies sich als richtig, als sie schließlich an einer Lichtung ankamen. Sie war froh, Benni eingeholt zu haben, denn kaum hatten sie diese Lichtung erreicht, griff er fast automatisch nach ihrer Hand. Laura schluckte schwer und verstärkte ihren Griff um Bennis Hand. Da, wo einst Eufelias Haus stand, in dem Benni seine ganze Kindheit und Jugend verbracht hatte, war jetzt nur noch tote Erde. Vertrocknete, steinartige Erde in der sich an einigen Stellen gewaltige Risse auftaten und die so wirkte, als würde in den nächsten Jahrzehnten dort kein Grashalm mehr wachsen können. „Das ist die Zerstörungs-Energie?“, fragte Janine schaudernd. Laura konnte nicht länger hinschauen, alleine der Anblick dieses Ortes weckte zu viele Erinnerungen. Erinnerungen von der Sorte, die sie lieber vergessen würde. Wie zum Beispiel die furchtbare Zeit, in der Benni durch den Angriff auf diesen Ort mehrere Tage im Koma gelegen hatte. Wie schlecht es ihm zu dieser Zeit ging, sowohl körperlich als auch seelisch. Vor ihrem inneren Auge sah sie Benni, wie er durch die Flammen eingeschlossen war und dann, wie ein riesiger Phönix auftauchte und- Laura schüttelte sich. „Lass uns weitergehen, bitte.“ Benni nickte, doch Laura bemerkte, wie schwer es ihm fiel, den Blick von der tristen Erde loszureißen. Von der Lichtung, an der Eufelias Haus einst stand, war es nicht mehr allzu weit bis zur Quelle, auch wenn Laura meinte, dass ihr als Kind der Weg viel weiter vorgekommen wäre. Nun gut, damals war sie auch viel kleiner gewesen, da war es nicht verwunderlich, dass es sich fast wie eine Tagesreise angefühlt hatte. Doch so hatte ihre gesamte Wanderung insgesamt nur eineinhalb, vielleicht höchstens zwei Stunden gedauert. Und ja, Benni hatte Recht. Dieser Teich, bei dem sie letztlich ankamen, war wunderschön. Er schien regelrecht von sich aus zu leuchten und die schönsten und prächtigsten Blumen wuchsen um ihn herum. Angrenzend an den Teich gab es einige Erhöhungen, von denen das Wasser in kleinen Kaskaden herunter plätscherte und irgendwo ganz oben befand sich vermutlich die Quelle Viecor. Laura hatte ihn viel düsterer in Erinnerung gehabt, was definitiv daran lag, dass sie einmal beim Schlittschuhlaufen ins Wasser eingebrochen war und halt auch damals schon nicht schwimmen konnte. Aber jetzt so im Nachhinein war Laura froh, dass sie gezwungenermaßen doch hierher zurückkommen musste. Denn nun war es für sie schwer vorstellbar, wie bei einem so wunderschönen Ort etwas so Schreckliches wie Ertrinken hätte passieren können. Laura fing bereits an, an ihren eigenen Erinnerungen diesbezüglich zu zweifeln. Auch der Rest der Mädchen bewunderte diese paradiesische Umgebung. Nur Benni und Eagle nicht, die Carsten vorsichtig vom Hirsch hoben. Laura betrachtete ihren besten Freund besorgt. Sein Zustand hatte sich trotz Sayas und Susannes Pflege furchtbar verschlechtert. Vermutlich hatte ihm die Teleportation doch viel zu sehr zugesetzt, was Laura keineswegs wundern würde. Immerhin hatte sie in der Zeit vor ihrem Geburtstag selbst sehr schwer damit zu schaffen gehabt. Und wahrscheinlich verbreitete sich diese Art Versteinerungsgift auch noch weiter in seinem Körper, denn während Laura die Jungs beobachtete bemerkte sie, dass Carsten offensichtlich weder seine Arme noch seine Beine bewegen konnte. Noch nicht mal mehr seinen Kopf konnte er aus eigenen Kräften heben! Ein Schauder überkam sie und Laura war froh, dass sie endlich die Quelle erreicht hatten. Denn sie war sich nicht sicher, wie lange Carsten noch durchhalten könnte. So fertig wie er aussah anscheinend nicht mehr lange… Eagle schaute Benni fragend an. „Und was jetzt? Denkst du, wir müssen ihn nur ins Wasser bringen und das macht den Rest?“ „Es ist am ehesten präsumtiv.“, antwortete dieser. „Benni, Damisch bitte.“, erinnerte Ariane ihn daran, dass der Großteil ihrer Gruppe keinen so ausgeprägten Wortschatz hatte. Doch Benni schenkte ihr keine Beachtung, stattdessen stieg er voll bekleidet in den Teich, um Eagle von dort aus zu helfen, Carsten ebenfalls ins Wasser zu befördern. „Glaubt ihr wirklich, dass das funktioniert?“, fragte dieser, doch Laura konnte es kaum verstehen, so schwach wie seine Stimme inzwischen war. „Es muss funktionieren.“, meinte Eagle nur. „Und? Geht’s dir schon besser?“, fragte Laura erwartungsvoll als Carsten schließlich komplett im Wasser war und nur noch etwas von Benni gestützt wurde. Doch ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als Carsten mutlos den Kopf schüttelte. „Baka. Alle beide.“, kommentierte Benni die Situation, als sich Carstens Augen ungläubig weiteten. „Hä?“, fragte Ariane verwirrt, aber auch mit einem Funken Hoffnung in der Stimme. Immer noch vollkommen fassungslos hob Carsten die Hände aus dem Wasser und betrachtete sie, während er vorsichtig die Finger bewegte. „Ich- ich kann mich- ich kann mich wieder bewegen.“ In seinen Augen sammelten sich Tränen, als ihm bewusst wurde, was gerade geschehen war. „Ich kann mich tatsächlich wieder bewegen!“ Carsten war so überwältigt, dass er Benni unerwartet um den Hals fiel und ihn dadurch für einen kurzen Moment unter Wasser drückte. Ein Stein fiel Laura vom Herzen und erleichtert lachte sie auf. Sie dachte erst gar nicht daran, dass sie eigentlich gar nicht schwimmen konnte, als sie ebenfalls ins Wasser sprang, um beiden Jungs um den Hals zu fallen, während der Rest der Gruppe die drei lachend beobachtete. Schließlich war es Benni, der sich aus dem Knäuel befreite und sich auf das angrenzende Erz setzte, um Carsten aus dem Wasser zu helfen, der unmittelbar danach von den restlichen Mädchen überfallen und geknuddelt wurde. Derweil fischte Benni auch Laura aus dem Wasser, der bis dahin ihre fehlende Schwimmfähigkeit immerhin aufgefallen war. Laura hatte keine Ahnung, wie lange die restlichen Mädchen Carsten belagerten, nur hin und wieder konnte sie aus dem Getümmel Sachen vernehmen wie: „Das ist unglaublich! Bis vor ein paar Minuten ging noch gar nichts und jetzt bist du komplett geheilt!!!“ oder auch: „Geht es dir wirklich gut?“ Nachdem sich die Mädchen beruhigt hatten, war es Öznur, die sie wie Vögel versuchte wegzuscheuchen und Eagle zu Carsten rüber zerrte, mit den Worten: „Du bist dran.“ „Stimmt, du hattest die Chance, in Ruhe mit Carsten zu sprechen und die hast du nicht genutzt. Jetzt müssen wir halt aufpassen, dass du endlich mal mit ihm redest!“, gab Ariane ihr bestimmt Recht. Amüsiert schaute Laura zu, wie diese eigenartige Aktion der Mädchen Eagle ganz schön aus der Bahn warf. Vorher hatte er seinen Bruder einfach nur erleichtert beobachtet, doch jetzt, als er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, hatte Eagle keinen Plan, was er machen sollte. Was so überhaupt nicht zu ihm passte. „W-was soll ich denn mit ihm besprechen?“ Irritiert und auch leicht verlegen schaute er Öznur an, doch die warf ihm einen warnenden Blick zu. „Das weißt du ganz genau.“ Seufzend versuchte Eagle es erst gar nicht weiter, sich rauszureden und wandte sich stattdessen Carsten zu, der das Geschehen neugierig verfolgt hatte. Da Eagle offensichtlich nicht die richtigen Worte fand, war es letztlich Carsten, der das Schweigen zwischen ihnen brach. „War das, was du vorhin gesagt hattest, es täte dir leid, wirklich ernst gemeint?“ Eagle beantwortete die Frage nur mit einem verhaltenen Nicken. Schließlich gab er sich doch einen Ruck. „Es tut mir wirklich leid, glaub mir bitte jedenfalls das. Ich weiß, ich kann dich nicht um Verzeihung bitten, immerhin war ich… Ich meine… Ich war über sechzehn Jahre lang ein totales Arschloch zu dir. Das kann… das ist einfach unverzeihlich. Aber du solltest jedenfalls wissen, dass du… Na ja, dass ich…versuchen werde mich zu bessern. Also… ich werde versuchen… der große Bruder zu sein, den du all die Jahre eigentlich verdient hättest. Nicht so ein Arschloch, wie ich-“ Bevor Eagle seinen Satz beenden konnte, nahm Carsten ihn plötzlich in die Arme und drückte seinen großen Bruder an sich.
„Ich hab keine Ahnung, warum du auf einmal so ganz anders denkst, aber ich verzeihe dir, wenn ich… nur endlich dein Bruder sein darf.“ Laura bemerkte, wie Carstens Schultern leicht zitterten, doch sie war sich sicher, dass ihm nicht aus Trauer die Tränen kamen. Zögerlich, eigentlich sogar schon verunsichert, erwiderte Eagle die Umarmung, während Öznur gerührt seufzte. „Hach, das ist doch ein schönes Happy End.“ Schnaubend verschränkte Anne die Arme vor der Brust, während sie die Brüder betrachtete. „Trotzdem beeindruckend, wie weg du offensichtlich warst. Weißt du eigentlich, was für einen Krach die Vollidioten wegen ebendieser Geschichte gemacht haben? Und du hast ernsthaft keine Ahnung?!?“ Verwirrt schaute Carsten sie an, nachdem er sich von der Umarmung gelöst hatte. „Wie meinst du das?“
„Drücken wir es einfach so aus, dass lediglich ein großes Missverständnis vorlag, weshalb Eagle solch enorme Probleme hatte, dich zu akzeptieren. Da war es ein holpriger Weg, bis alle Parteien auf den gleichen Nenner gebracht werden konnten.“, fasste Susanne die Geschehnisse zusammen, die es gebraucht hatte, bis endlich rauskam, dass Carsten und Eagle mehr als nur Halbbrüder waren. Diese Erklärung schien Carsten schon zu reichen, denn er schaute seinen großen Bruder sowohl wissend als auch erleichtert an. Verlegen kratzte sich dieser am Hinterkopf und wechselte das Thema. „Geht es dir wirklich gut? Also… Sind die Wunden von Jacks Angriff wirklich gänzlich verheilt?“
„Ich weiß nicht…“ Vorsichtig entfernte Carsten die Bandagen von seinem linken Arm und betrachtete diesen, wie der Rest von ihnen. Gänzlich verheilt waren seine Wunden offensichtlich noch nicht, Laura konnte immer noch rote Striemen von Jacks Metallklauen auf Carstens Arm erkennen. Aber die Wunden waren definitiv nicht mehr so tief wie zuvor, sondern schienen nun eher wie Kratzer. Laura war zwar erleichtert darüber, aber auch ein bisschen empört. „Warum wissen wir erst jetzt von dieser Quelle? Die hätte Benni damals auch sofort heilen können!“, schnaubte sie. Dann wären ihm jedenfalls die körperlichen Qualen erspart geblieben!!! Doch ausgerechnet Benni verdrehte auf ihren Kommentar hin die Augen. „Was denn?! Ist so!!!“, herrschte sie ihn an. Warum musste sie ausgerechnet denjenigen, der diese Heilkräfte der Quelle bitter nötig gehabt hätte davon überzeugen, dass er diese Heilkräfte der Quelle bitter nötig gehabt hätte?!? „Mein Leben hing jedoch nicht von der Existenz dieser Quelle ab.“, widersprach Benni ihr, was Laura ein bisschen ruhiger stimmte. „Es ist schon traurig, dass Coeur diesen Ort im Endeffekt verstecken musste, weil die Menschen ihn eigentlich für ihre selbstsüchtigen Zwecke missbrauchen wollten.“, meinte Janine und schaute sich um. „Er ist wunderschön.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Na ja, abgesehen davon, dass wir jetzt vermutlich nicht wirklich vorhaben, die Rohstoffe für Waffen von hier mitzunehmen… Waren wir denn groß anders als diese selbstsüchtigen Menschen?“
„Klar!“ Ariane stemmte die Fäuste in die Hüften. „Ich meine, natürlich wollten wir, dass Carsten überlebt, weil wir ihn auch alle mögen. Aber wir brauchen ihn halt auch, um gegen Mars zu kämpfen und damit ist unsere Tat für ganz Damon von Nutzen.“ „Schön, dass wir jedenfalls eine ehrvollere Sache da rein interpretieren können. Mir jedenfalls war Damon in dem Moment vollkommen schnuppe.“ Verlegen lachte Laura auf. „Ich wollte einfach nicht, dass Carsten stirbt.“ „Apropos sterben. Hier, zieh das an, bevor du dich erkältest und deshalb doch noch stirbst.“, meinte Ariane leicht sarkastisch an Carsten gewandt und holte ein T-Shirt aus einem Rucksack, den sie für die Wanderung mitgenommen hatten. Laura entging es nicht, dass Carsten leicht verlegen schien, als er Ariane dankend das rote T-Shirt aus der Hand nahm. Plötzlich meldete sich Lissi zu Wort: „Ach, du kannst auch gerne weiter so rumlaufen, Cärstchen.“ „Stimmt, du hast einen durchaus vorzeigbaren Körper.“ Öznur lachte auf. Nun wurde Carsten erst recht verlegen. Mit hochrotem Kopf versuchte er, die Mädchen nicht weiter zu beachten und zauberte sich trocken, um das T-Shirt anzuziehen. Laura lachte in sich hinein. Die Mädchen hatten zwar irgendwie schon recht, aber für sie war Carsten nicht wirklich sexy und verführerisch, sondern einfach nur niedlich. Besonders in solchen Momenten. Ganz im Gegensatz zu… Laura warf einen Seitenblick auf Benni und bemerkte zu spät, dass er ihren Blick erwiderte. Sie saßen immer noch auf diesen Viecor-Steinen am Rand des Teiches, ein kleines bisschen Abseits von den anderen. Daher waren sie zum Glück weniger der Magnet der Blicke, als Benni Laura durch das immer noch pitschnasse Haar strich. Zwar war es bei den Temperaturen nicht allzu unangenehm, so nass zu sein, aber langsam wurde es doch frisch. Für einen Moment, war Laura auf einmal schön mollig warm und als dieser vorbei war, fiel ihr auf, dass Benni sie offensichtlich mit seiner Feuer-Energie getrocknet hatte. Auch er selbst war wieder trocken und richtete sich auf, um Laura ebenfalls auf die Beine zu helfen. Anscheinend hatten einige der Mädchen sie doch beobachtet, denn Lissi nahm das als Anlass, Benni empört anzumotzen: „Und was war das bitteschön für eine Aktion vorhin Bennlèy?! Gehst einfach so ins Wasser?! Ohne dich auszuziehen?!?!?“ Die Mädchen lachten auf. „Hattest du ernsthaft gedacht, ein Strip-Tease zu sehen?“, fragte Öznur belustigt. „So was bleibt leider nur Laura vorbehalten.“ Nun war es nicht Carsten, sondern Laura, die knallrot wurde. Was die Mädchen natürlich sofort als Anlass nahmen, weiter darauf einzugehen. „Ohooooo, gibt es etwas, das wir wissen müssen?“ Öznur musterte sie und Benni lachend. „Was?!? Natürlich nicht!!!“ Was sollte das denn?!? Kaum stand es fest, dass Carsten überleben würde, machten die Mädchen schon wieder ihre Scherze über Laura und Benni?!?!?
Und was zum Henker wollten die mit Strip-Tease?!?!?!? Amüsiert schüttelte Carsten den Kopf. „Kommt schon, Benni ist doch definitiv nicht der Typ für so was.“ „Aber du.“ Ariane kicherte und natürlich wurde Carsten wieder total rot. Lissi grinste. „Ach, stille Wasser sind tief. Ich kann mir schon vorstellen, dass Bennlèy und Cärstchen ziiiiemlich leidenschaftlich sein können, genauso wie Ninie und Lauch.“ Dabei wurden nun alle Angesprochenen -mit Ausnahme von Benni selbstverständlich- knallrot. Laura grummelte. „Wollen wir uns nicht so langsam mal auf den Rückweg machen?“
Doch Lissi war noch nicht ganz fertig. „Hab ich etwa Recht, Lauch? Beeennlèeeey, hab ich Recht, was Lauch betrifft?!?!?“ Immerhin fiel Benni Laura nicht in den Rücken und beantwortete die Frage nicht. Öznur verdrehte die Augen. „Auf jetzt, ich will auch zurück. Es ist schon spät.“ Ein Blick auf die Uhr verriet Laura, dass sie Recht hatte. Nur durch den Sommer war es halt um acht Uhr abends noch ziemlich hell… Die Gruppe machte sich auf den Rückweg und alles andere als erfreut stöhnte Ariane auf. „Ach Mann, morgen ist ja wieder Schule.“ „Hey, weitaus angenehmer, als dieses Wochenende.“, kommentierte Eagle ihre begeisterte Einstellung. Kapitel 49: Auszeit ------------------- Auszeit Seufzend ließ Laura den Kopf auf ihre Matheunterlagen fallen. Sie saß an ihrem Schreibtisch in ihrem Zimmer an der Coeur-Academy und lernte für die bevorstehenden Zwischenprüfungen. Diese waren am ausschlaggebendsten für die Noten am Ende dieses Halbjahres. Alle Schüler mussten immer in sechs Fächern eine Prüfung absolvieren. Davon war ein Fach die Kampfkunst bzw. die Magielehre, die sowohl einen theoretischen als auch einen praktischen Teil hatte. Das war laut der Lehrer und älteren Schüler auch die wichtigste Prüfung. Wenn man dort durchfiel, konnte man noch einen Wiederholungsversuch in den Ferien starten und wenn man den auch nicht schaffte war’s das und man durfte das Jahr wiederholen. Okay, es war eine Schule für antike Begabte, da war es eigentlich klar, dass diese Fächer die wichtigsten waren. Aber Laura fand die Regelung trotzdem ziemlich krass. Die anderen fünf Fächer konnte man immerhin noch irgendwie ausgleichen, falls man in einem durchfallen würde. Darunter waren noch die Pflichtfächer Mathe und Damisch. Als viertes Fach durfte man sich eine der Sprachen aussuchen, die man belegte. In Lauras Fall war das natürlich Japanisch. Jeder nahm dort seine Muttersprache, denn an der Coeur-Academy wurden alle möglichen Sprachen aus den Regionen Damons unterrichtet, aus denen auch die Schüler kamen. Das stellte natürlich für Janine und Carsten ein Problem dar, denn diese beiden waren die jeweils einzigen aus ihrer Region, weshalb ihre Muttersprache an der Schule nicht gelehrt wurde. Okay, für Carsten war das genau genommen kein Problem, der konnte sowieso alles. Und Janine schien auch ein Talent für Sprachen zu haben, soweit Laura das beurteilen konnte. Als fünftes Fach durfte man sich eine der Sportarten aussuchen, die man nachmittags immer belegte. Da Laura bekanntlich total unsportlich war kam für sie in dem Fall nur Reiten infrage. Das bekam sie noch so halbwegs auf die Reihe. Das letzte Fach durfte man sich komplett frei aussuchen und Laura hatte sich natürlich für Kunst entschieden, in der Hoffnung ihr Manga-Zeichnen-Hobby würde sich jedenfalls so auszahlen können. „Laaaaaauuuuuuraaaaaaa, kannst du mal über meine Aufgabe schauen? Ich bekomme da was ganz Anderes raus.“, kam von der anderen Seite des Raumes Arianes flehende Stimme. „Klar.“ Laura ging zu ihrem Schreibtisch rüber und schaute über Arianes Aufgabe. Die beiden Mädchen hatten sich darauf geeinigt, so oft es ging gemeinsam zu lernen. Das hatte eine gewisse Förderung der Motivation, weil sie so beide gleichzeitig leiden mussten, sich im Notfall vielleicht helfen konnten und auch noch über die Aufgaben und so weiter lästerten, wenn sie es nicht auf die Reihe bekamen. Jedenfalls in Mathe war das häufig sehr hilfreich. „Du hast bei der Polynomdivision hier einen Vorzeichenfehler eingebaut.“, meinte Laura, als sie bemerkte, dass Nane einfach nur ein Minus vergessen hatte. „Und das hat mein Ergebnis so verfälscht? Oh Mann, Mathe kann echt böse sein. Danke schön.“ „Kein Problem.“ Laura warf einen Blick auf die Uhr. „Oh, es ist schon so spät? Wir haben gleich Sport, Nane.“ „Oh nein, wie schrecklich, ich muss aufhören zu lernen!“, rief Ariane aufgebracht und schon waren ihre Mathesachen verschwunden. Da warf sie selbst einen Blick auf ihre eigene Uhr. „Stimmt doch gar nicht, wir haben noch zwanzig Minuten Zeit, bis die Stunde losgeht!“ Laura kicherte. „Oh nein, du hättest noch volle zehn Minuten zum Lernen gehabt.“ Ariane verdrehte die Augen, da fiel ihr noch etwas auf. „Moment, hast du nicht gleich Prüfung?“ Laura seufzte. „Ja, Reiten. Deswegen möchte ich auch etwas früher los.“ „Ach sooo. Und ich dachte schon, du wolltest Benni nach seinem Unterricht abfangen und mit ihm gemeinsam zum Sportplatz gehen.“ Laura wurde sofort rot. „Gar nicht wahr.“ Also… eigentlich schon wahr. Ariane grinste sie wissend an. „Na gut, ich begleite dich noch bis zum Hauptgebäude.“ Während sie den großen Platz entlanggingen, dessen Gras saftig grün und mit lauter Gänseblümchen und Butterblumen geschmückt war, fragte Laura Ariane: „Du hast in Leichtathletik am Mittwoch deine Prüfung, oder?“
„Jap, leider.“ Ariane überlegte einen Moment. „Wobei… So schlimm wird das nicht.“
Laura schnaubte. „Will ich doch meinen, nachdem du beim letzten Sprint Anne Meterweit hinter dir gelassen hast.“ Das war eine lustige Geschichte. Ariane musste letzte Woche gegen Anne ein Rennen in der Leichtathletikstunde machen und hatte eine deutlich bessere Zeit als sie, auch wenn es genau genommen nur ein paar Millisekunden waren. Das Rennen an sich war zwar nicht so spektakulär gewesen, aber die Folgen beim Abendessen waren unterhaltsam genug. Denn natürlich mussten die Mädchen Anne damit aufziehen. Sie hatte gegen Ariane ein Rennen verloren! Ariane lachte. „Anne mag vielleicht im Kämpfen viel stärker sein als ich, aber in Leichtathletik ist mir keiner gewachsen!“ Von hinten klopfte jemand Ariane auf die Schultern. „Wohl wahr Nane-Sahne. Aber im Schwimmen bin ich diejenige, die dich abzieht.“ „Pah, das wollen wir mal sehen, Lissi.“ Herausfordernd grinsend drehte sich Nane um. Lissi, Susanne, Öznur und Janine waren zu ihnen aufgeschlossen, was vermutlich daran lag, dass Laura und Ariane inzwischen beim Hauptgebäude standen. Sie waren direkt am Ausgang, der den Naturwissenschaftsräumen am nächsten lag und die Magierinnen hatten zufällig gerade Bio gehabt. Wo Lissi auf einmal herkam, konnte Laura allerdings nicht sagen. „Hehe, ich glaube, das läuft auf ein weiteres Rennen hinaus.“, meinte Öznur belustigt. „Wenn du unbedingt verlieren möchtest, Nane-Sahne?“ Ariane hob beide Augenbrauen. „Denkst du im Ernst, du kannst mich schlagen?“ Lissi zuckte mit den Schultern. „Klar, immerhin herrsche ich über das Wasser.“ „Und mein Dämon ist ein Hai.“ Ariane schnaubte. „Sag uns, wie’s ausgegangen ist.“, bat Janine Susanne belustigt. „Oder dreh gleich ein Video!“, schlug Öznur begeistert vor. „Schlimm genug, dass Laura das letztens verpennt hatte!“ Susanne kicherte. „Ich habe mein Handy leider nicht dabei.“ „Dann geh’s holen!“, forderte Öznur sie spaßend auf. „Was holen?“ Just in diesem Moment verließen Carsten und Benni das Gebäude. Vermutlich hatte Carsten noch auf ihn gewartet, da Benni im Nebenraum von den Magiern Chemie hatte. „Susis Handy, damit sie auf Video aufnehmen kann, wie ich Nane-Sahne im Schwimmen fertigmache.“, erklärte Lissi begeistert die Situation. Carsten lachte auf. „Oh ja, bitte. Man hat nie ein Handy dabei, wenn man dringend eines gebraucht hätte.“ Während sich Laura verwirrt fragte, ob er damit auf irgendwas anspielen wollte, bekam sie indirekt von Janine eine Antwort, die Carsten und Benni interessiert und belustigt anschaute. „Wie war Hauswirtschaftslehre, Benni?“ Und tatsächlich hatte Carsten mit seiner Aussage etwas andeuten wollen, denn er musste auf ihre Frage hin sofort loslachen. „Oh ja, Benni, wie war Hauswirtschaftslehre?“ „Du warst doch dabei.“, erwiderte Benni trocken. „Hä? Jetzt sagt doch endlich, was los ist!“, forderte Laura sie auf, die schon vor Neugier platzte. Endlich ließ sich Carsten dazu herab, auch die anderen einzuweihen. „Ich wollte mir in der Freistunde mal ein Unterhaltungsprogramm gönnen und habe Benni in den Hauswirtschaftslehre-Unterricht begleitet.“ Öznur verdrehte die Augen. „Du hast es ja auch nicht nötig, zu lernen.“ „War es denn jedenfalls interessant? Also, unterhaltsam?“, fragte Ariane grinsend. Wieder musste Carsten lachen. „Oh ja, und wie. Als wäre die Stichflamme nicht lustig genug gewesen, weil Benni das Fett in der Pfanne hatte zu heiß werden lassen. Er hatte es auch noch tatsächlich geschafft, dass seine Nudeln im Wasser Feuer fingen.“ Nun lachte auch der Rest der Mädchen lauthals los. „Ist das physikalisch überhaupt möglich?“, fragte Ariane zwischen zwei Atemzügen, nachdem sie sich ein bisschen beruhigt hatte. Carsten zuckte die Schultern. „Laut dem Lehrer ist das inzwischen schon Standard. Aber er schmeißt Benni trotzdem nicht raus, weil es einfach zu lustig ist.“ „Du hast Chemie doch erst in den zwei Stunden danach.“, witzelte Laura. Benni verdrehte die Augen. „Du hast vor mir Prüfung.“, brachte er sie auf den Boden der Tatsachen zurück und redete sich so aus dieser dämlichen Situation raus. Dummerweise gelang das, denn Janine meinte plötzlich. „Oh je, und ich bin sogar eine der ersten!“ Ariane drückte sie fest an sich. „Dann viiiiiel Glück, Ninie! Ich drück dir ganz fest die Daumen.“ Danach zog sie auch Laura kurz in ihre Würgeumarmung. „Und dir natürlich auch!“ Nach einem kurzen Blick auf Benni meinte sie schließlich: „Und dir auch, aber du hast das ja nicht nötig. Außer, du würdest in HL die Prüfung machen, hehe.“ Doch Benni ignorierte sie und machte sich auf den Weg zu den Ställen. Laura verabschiedete sich noch hastig von dem Rest und wünschte Lissi viel Erfolg für deren Prüfung, die sie, wie es der Zufall so wollte, gleich ausgerechnet in Schwimmen absolvieren würde. Danach gingen Janine und Laura Benni hinterher in Richtung Ställe und Reitplatz. „Schön zu sehen, dass es Carsten wieder gut geht, oder?“ Janine lächelte zu Benni und Laura rüber. Benni nickte. Laura schmunzelte. „Hast du ihm deshalb eben nicht gekontert, als er sich mit der HL-Sache einen Spaß erlaubt hat?“ Benni antwortete nicht auf ihre Frage, aber Laura war sich ziemlich sicher, dass das der Fall war. Überraschenderweise fand sie die Zeit eben trotz der Prüfungsphase richtig schön, regelrecht angenehm. Die Abendgesellschaft und Carstens schlimme Verletzungen lagen nun eine Woche zurück und Laura war einfach froh, dass sie endlich mal etwas Alltag genießen konnten. Carsten war auch wieder ganz der Alte, nur noch leicht rötliche Striemen auf seiner Haut erinnerten daran, dass er vor einer Woche nur knapp dem Tod entkommen war. Alleine der Gedanke daran ließ Laura erschaudern. Bisher hatten sie wirklich unverschämt viel Glück gehabt. Was wäre passiert, wenn Jacob nicht die Tagebücher von Coeur gehabt hätte, oder wenn Nicolaus Benni vor seinem Tod nicht noch diesen einen Tipp hätte geben können? An sich war Carsten genau genommen ja nur am Leben, weil Benni da war. Seit jenem Moment, als Benni Jack auf der Abendgesellschaft davon abgehalten hatte, Carsten den Gnadenstoß zu verpassen, war er es auch gewesen der die nötigen Informationen in Erfahrung gebracht hatte, um Carsten zu retten. Laura warf einen Seitenblick auf Benni, während sie den Stall betraten. Leider musste sie feststellen, dass er innerhalb der letzten Woche wieder stiller, in sich gekehrter geworden ist. Klar, sie konnte es ihm nicht verübeln. Auch wenn es seinem Vater anscheinend besser ging war Herr Weihe immer noch tot… Genauso wie Eufelia-Sensei. Lissi hatte ja gemeint, dass Mars es inzwischen nicht mehr versuchen würde, an die Dämonenbesitzer heran zu kommen und es dafür nun auf den Erben des Yoru Clans abgesehen hatte. Laura fragte sich, was genau er vorhatte. Wollte er Benni tatsächlich in die Verzweiflung stürzen, indem er alle ihm wichtigen Leute ermordete? Würde es ihm vielleicht sogar gelingen?! Oder würde Benni nun auf Distanz gehen, in der Hoffnung, genau das zu verhindern? Aber noch verbrachte er zum Glück seine Zeit mit den Mädchen, Carsten und Laura. Und niemand von ihnen wiederum hatte auch nur im Geringsten vor Benni abzuweisen, weil sie Angst vor Mars hätten. Immer noch in Gedanken versunken machte sich Laura daran, Peggy, ein wunderschönes schwarz-silbernes Einhorn, für ihre Prüfung fertig zu machen. Peggy schien zu bemerken, dass sie gedanklich ganz woanders war und stupste sie mit seiner Nase an. Laura schreckte auf. „Oh, ‘tschuldigung.“ Peggy schnaubte. Wollte er fragen, was mit ihr los war? Oh Mann, Laura würde sich auch so gerne mit Tieren verständigen können! „Er sagt, du hast den Sattel verkehrt herum aufgelegt.“ Erschrocken zuckte Laura zusammen. Benni stand an die Tür gelehnt in der Box und beobachtete sie ruhig. „Und der Halfter sei zu eng, er bekäme noch Kopfschmerzen.“ „Oh nein! Tut mir leid, tut mir leid!“ Hastig machte Laura die Riemen vom Halfter weiter, bevor sie sich dem Sattel widmete, den sie, weiß Gott wieso, tatsächlich verkehrt herum aufgelegt hatte. War sie so in ihren Gedanken versunken gewesen?! Es war definitiv nicht die Prüfungsangst, die Laura im Moment so nervös machte, während sie alles in Ordnung und zu Peggys Zufriedenheit brachte. Okay doch, auch die. Aber zurzeit machte sich Laura einfach große Sorgen um Benni, auch wenn sie bisher nicht mit ihm darüber gesprochen hatte… Benni schien zu bemerken, dass Laura irgendetwas bedrückte. „Was hast du?“ „Ich bin nur nervös.“, wich sie ihm aus. Nervös war sie sowieso. Vor jeder Prüfung aufs Neue. Sie hatte ihn also nicht angelogen, sie war wirklich nervös! „Und ich sollte schon mal los. Bald bin ich an der Reihe und ich muss Peggy noch etwas einreiten. Komm Peggy.“ Laura nahm die Zügel und wollte mit Peggy an Benni vorbei die Box verlassen, doch er packte ihren Arm und hielt sie damit zurück. „Das ist nicht nur Prüfungsangst.“ Laura wich seinem Blick aus, doch Benni ließ nicht locker. „Habe ich irgendetwas falsch gemacht?“ „Was?!? Nein, natürlich nicht!“, rief Laura erschrocken. „Ich äh… Ich weiß nur nicht, wie ich das sagen soll…“ Benni nahm Laura Peggys Zügel aus der Hand und meinte nur zu dem Einhorn: „Sei so nett und warte außen. Wir kommen gleich mit Flicka nach.“ Peggy schnaubte und trabte aus dem Stall. Irritiert musterte Laura Benni. „W-was? Wie… Wie meinst du das?“ „So, wie ich es Peggy geschildert habe.“ „Ja, aber…“ „Nichts aber. Ich komme mit.“ Mit diesen Worten ging Benni zu Flickas Box. Laura hatte keinen Plan, wie sie Bennis Worte und die folgenden Taten deuten sollte. Hatte er echt vor, vor ihrer Prüfung noch mit ihr auszureiten? Das hatten sie noch nie gemacht! Doch schon war Benni wieder da, wobei er Flicka nur den Halfter angelegt hatte. „Keinen Sattel?“, fragte Laura interessiert. „Sie hasst den.“, erklärte Benni trocken. Flicka gab zur Bestätigung ein Wiehern von sich. „Und… Das ist wirklich dein Ernst?“, fragte Laura verunsichert. „Also… Du möchtest wirklich mit mir ausreiten?“ “Natürlich.” Laura wurde knallrot. „Ist das nicht langweilig?“
„Weshalb?“ Benni verließ mit Laura und Flicka den Stall, wobei er Flicka nicht am Zügel nahm. Diese lief einfach so neben Benni her. Stattdessen war es Laura, die er am Arm gepackt teils mitschleifen musste. Nicht, weil Laura keine Lust hatte mit Benni auszureiten. Oh nein, sie freute sich eigentlich total darauf! Aber… Benni wollte mit ihr ausreiten??? Tatsächlich wartete Peggy seelenruhig vor dem Stall auf sie und kam Laura entgegen. Sie hievte sich auf das Einhorn und beobachtete, wie sich Benni trotz fehlendem Sattel auf Flickas Rücken schwang, ohne ihr auch nur irgendwie weh zu tun. Benni warf Laura einen fragenden Blick zu. „Also?“ Verlegen schaute sie auf Peggys silbern glänzende Mähne. „Also was?“ „Wo möchtest du lang?“ „Ähm… Keine Ahnung…“ Verunsichert erwiderte Laura endlich Bennis Blick. „Möchtest du wirklich mit mir ausreiten?“ Benni seufzte. „Sagte ich doch schon. Ja. Und davon abgesehen: Du musst bis zur Prüfung sowieso noch an deiner Haltung arbeiten.“ Er steuerte mit Flicka auf einen Waldweg zu, der weg von der Coeur-Academy führte und ohne Lauras Befehl begann Peggy den zweien zu folgen. Als sie den Weg durch den Wald erreicht hatten, fragte Benni schließlich: „Was belastet dich so? Und bitte hör auf, mir auszuweichen.“ Laura seufzte. Benni war einfach viel zu stur. Andererseits… Es war eigentlich schon richtig, dass sie ihre Sorgen mit ihm teilte. Besonders, weil er ja derjenige war über den sie sich Sorgen machte. „Ich habe einfach Angst.“, antwortete sie. „Vor was?“ „Dass… dass du dich wieder von uns allen abwenden wirst.“ Endlich schaffte sie es, ihm dabei in die Augen zu schauen. „Erst Eufelia-Sensei, dann Nicolaus und als wäre das nicht schon genug auch noch beinahe dein Vater. Und von Carsten will ich gar nicht erst anfangen. Es ist eindeutig, was Mars damit bezwecken möchte! Aber… ich mache mir Sorgen, dass er sein Ziel tatsächlich erreichen könnte.“ Dieses Mal wich Benni ihrem Blick aus. Er schien nach irgendeiner Antwort zu suchen, doch schließlich schüttelte er den Kopf und meinte nur: „Deine Sitzhaltung muss aufrechter sein. Das kostet dich sonst einige Punkte.“ Zerknirscht verbesserte Laura ihre Sitzhaltung. Also war nun er es, der diesem Thema auswich. „…Seine Beerdigung war letzten Freitag, oder?“, fragte sie nach einer Weile. Ohne ihr in die Augen zu schauen nickte Benni. „Warum bist du nicht hingegangen?“ Benni seufzte. „Ich konnte ihr nicht unter die Augen treten.“ „Ihr?“ Verwirrt musterte Laura ihn. „Deiner Mutter?“ Zögernd nickte er. „Wir sollten zurück, deine Prüfung fängt bald an.“ Laura biss sich auf die Unterlippe. Das kann doch nicht wahr sein! Natürlich verstand sie, dass Benni das Thema lieber bleiben ließ. Doch sie konnte das nicht so einfach abhaken. Einfach aus dem Grund, weil es ihm offensichtlich immer noch so schlecht deswegen ging. Benni hatte Flicka bereits gewendet und nun standen sie nebeneinander. Laura atmete tief durch. Irgendwie wollte sie ihm zeigen, dass sie für ihn da war. Vielleicht waren die Wunden noch zu frisch, als dass er sich ihr komplett anvertrauen könnte. Aber trotzdem konnte sie das nicht einfach so ignorieren. Laura beugte sich zu ihm rüber und wollte ihm einen Kuss geben. Doch sie verlor ihr Gleichgewicht, rutschte aus dem Sattel und flog mit dem Gesicht voran Richtung Erde. „Aaauuuuuaaaaaa!!!!“ Laura rieb sich das schmerzende Knie. Hä? Knie? Sie hätte doch eigentlich voll auf die Nase fliegen müssen! „Alles in Ordnung?“ Benni saß immer noch auf Flickas Rücken und beobachtete sie, teils besorgt und teils amüsiert. Derweil wieherte Peggy ununterbrochen, als würde er gerade den Lachanfall seines Lebens haben. Mühsam richtete sich Laura auf und stellte verbissen fest, dass ihre weiße Reiterhose durch den Dreck nicht mehr so weiß war. Warum mussten diese verdammten Hosen eigentlich weiß sein?!? Schwarz war doch viel praktischer! „Ja, ja… Alles in Ordnung… Irgendwie…“, stammelte Laura und stellte fest, dass der Schmerz in ihrem Knie immerhin schon nachgelassen hatte. Sie seufzte. „Toll, so kann ich doch nicht in die Prüfung!“ Benni schüttelte den Kopf. „Was wolltest du überhaupt?“ Laura schnaubte und wurde natürlich knallrot. „Kannst du dir das nicht denken?“ Natürlich konnte er sich das denken. Benni verdrehte die Augen, kam aber zu ihr runter. Sanft strich er ihr einige Strähnen aus dem Gesicht und fragte: „Bereite ich dir solche Sorgen?“ Verlegen wandte Laura den Blick ab, nickte aber. „Ich würde dir so gerne helfen…“ „Das tust du bereits. Alleine durch deine Anwesenheit.“ Benni küsste sie ganz kurz auf die Lippen, was Laura noch roter werden ließ als sie zuvor bereits war. „Wenn du dich jetzt beeilst, kannst du dich noch vor der Prüfung umziehen.“, meinte er und schwang sich wieder auf Flicka. Laura nickte langsam und mühte sich wieder auf Peggy, der sich inzwischen endlich eingekriegt hatte. Sie galoppierten den Weg zurück und Laura hatte ziemlich Mühe damit, mit Bennis Tempo mitkommen zu können und gleichzeitig auch noch den hängenden Ästen auszuweichen. Irgendwie schaffte sie es aber tatsächlich, unbeschadet am Campus anzukommen. Von ihrer peinlichen Aktion zuvor mal abgesehen. Aber hey, immerhin schien sie Benni tatsächlich damit geholfen zu haben! Das war doch was! Als sie bei den Ställen ankamen, kam ihnen auch schon Janine entgegen. „Da seid ihr ja, ich habe euch schon gesucht!“ Besorgt betrachtete sie Laura. „Ist alles okay? Was ist passiert?“ Laura seufzte beschämt. „Ich bin vom Einhorn gefallen…“ …Nachdem ich versucht habe, Benni zu küssen… „Immerhin landen Katzen auf ihren Pfoten.“, kommentierte besagter Benni, „Das hat dir eine Kopfverletzung erspart.“ „Meine Hose ist trotzdem im Eimer.“ Janine kicherte. „Komm schnell mit, du kannst meine anziehen.“ Laura atmete erleichtert auf. „Vielen Dank.“ Sie stieg von Peggy ab, der bei Benni und Flicka blieb, während Janine und Laura in Peggys leerstehende Box gingen, um dort die Reithosen zu tauschen. Laura war dankbar, dass Janine sie nicht nach der Ursache fragte, warum sie überhaupt vom Pferd gefallen war. Stattdessen fragte sie Janine: „Wie lief deine Prüfung eigentlich?“ „Ziemlich gut.“, antwortete Janine zufrieden. „Eine Latte hatte Sunny zwar runtergerissen, aber das war zum Glück nicht allzu dramatisch, immerhin sind wir ja noch Anfänger.“ „Das ist doch schön.“ Das Timing war perfekt, denn gerade als Laura mit Peggy am Reitplatz ankam, wurde auch schon ihr Name aufgerufen. Ihr war zwar etwas unwohl bei der Sache, dass nicht nur Janine, sondern auch Benni ihr bei der Prüfung zuschauten, aber trotzdem lief sie auch für Laura ganz zufriedenstellend. Als sie den Parcours wieder verließ, warteten die beiden bereits auf sie. „Nochmal danke für die Hose.“ Janine winkte ab. „Das ist nun wirklich nicht der Rede wert.“ Laura ging zurück in den Stall und machte sich daran, Peggy das Zaumzeug abzulegen und ihn abzuduschen, während sie und Janine sich über die Prüfungen unterhielten. „Immerhin haben wir für diese Woche erstmal unsere Ruhe.“, bemerkte Laura. Denn pro Woche wurde immer nur eine Prüfung absolviert. „Als nächstes kommt Fremdsprache, oder?“ Janine nickte. „Du hast dich für Japanisch entschieden, nehme ich an.“ „Jap. Und du? Deine Muttersprache ist eigentlich Russisch, oder?“, erkundigte sich Laura neugierig. Janine nickte. „Nur leider wird das hier ja nicht unterrichtet…“ Laura fühlte sich etwas unwohl darüber zu sprechen und konzentrierte sich unnötig stark darauf, Peggy mit einem Möhrchen für getane Arbeit zu belohnen. „Bei solchen Sachen merkt man das besonders, dass man der einzige seiner Region ist, oder?“ „Schon… Aber auch in Geschichte und Powi. Es ist schon erschreckend, was man in Mur alles erfährt, beziehungsweise, was sie einem alles verschweigen.“ „Und in welcher Sprache lässt du dich nun prüfen?“ „In Englisch.“, antwortete Janine. „Die zweite Sprache die ich belegt habe ist Deutsch und das wäre lebensmüde.“ Laura lachte auf. „Oh ja, das habe ich von einigen bereits gehört.“ Nachdem Peggy wieder sauber, satt und zufrieden auf der Weide sein Leben genießen konnte, gingen Laura und Janine wieder raus, um Benni bei seiner Prüfung zuzuschauen. Dieser wartete mit Flicka bereits, dass man ihn endlich aufrief, welche zu ihrem sichtlichen Widerwillen für die Prüfung einen Sattel tragen musste. „Viel Erfolg euch beiden.“ Laura lächelte sowohl Benni, als auch das edle schwarze Einhorn an. Flicka schnaubte irgendetwas, woraufhin Benni meinte: „Ich habe genauso viel Lust darauf wie du. Wir müssen uns einfach beeilen, dann ist es schneller vorbei.“ Just in diesem Moment wurde sein Name aufgerufen und Benni betrat auf Flicka den Parcours. Laura traute sich gar nicht zu blinzeln, während sie beobachtete, wie Benni fehlerfrei, um nicht zu sagen perfekt den Parcours abritt und noch dazu eine so professionelle Ausstrahlung hatte, dass man niemals denken würde er wäre nur ein Schüler. Als er nach kurzer Zeit fertig war, verkündete ihr Lehrer Herr Karosu Bennis Zeit und fügte hinzu, dass er den Schulrekord gebrochen habe. Die am Rand stehenden Schüler applaudierten, während Benni, wie immer mit seinem neutralen Blick, wieder zu ihr und Janine rüberkam. Janine kicherte. „Herzlichen Glückwunsch.“ „Das ist also dein Geheimnis. Ihr habt beide keine Lust und wollt einfach, dass alles schnell vorbei ist?“ Laura lachte. Benni zuckte nur mit den Schultern. Da sie durch die Prüfung der anderen sonst keinen Sportunterricht mehr hatten, beschloss Laura, auf Benni zu warten, bis er Flicka Gammel-fertig gemacht hatte. Janine hatte sich nach Bennis Prüfung verabschiedet. Sie wollte zum Schwimmbad und schauen, ob Ariane und Lissi ihr Rennen bereits gemacht hatten. Selbstverständlich in der Hoffnung, es noch mitansehen zu dürfen. Als Benni aus dem Stall kam, nahm er einfach Lauras Hand und ging mit ihr zum Wald. Inzwischen war es schon normal, dass sie vor oder eigentlich eher nach dem Abendessen einen Spaziergang im Wald machten. Meistens war es dann immer Laura, die ununterbrochen am Erzählen war oder sich über die Prüfungszeit oder Mars oder sonst was aufregte. Außer, sie stellte Benni mal eine Frage zu einem Baum oder einer Pflanze, an der sie vorbeikamen. Dann war er es, der einen ewigen Monolog zu führen begann. Was Laura unglaublich süß fand. Sie wusste zwar, dass Benni die Pflanzen- und Tierwelt sehr am Herzen lag, doch wenn man ihm mal die Möglichkeit bot dieses Wissen zu teilen, wurde man sich erst bewusst, wie sehr er die Natur eigentlich liebte. Doch dieses Mal sagte keiner von ihnen ein Wort. Sie genossen einfach die ruhige, friedliche Atmosphäre. Plötzlich hielt Benni an. „Ich möchte dir was zeigen.“ Er hob einen faustgroßen Stein vom Boden auf und warf ihn Laura zu. Überrascht versuchte Laura ihn zu fangen aber er rutschte ihr aus der Hand. Trotzdem schaffte sie es ihn beim Fall noch irgendwie zu erwischen. „Ein Stein?“, fragte Laura verwirrt. „Wirf mich damit ab.“, forderte Benni sie auf. Erschrocken schaute Laura ihn an. „Waaas?!?“ „Mach einfach.“ Laura schluckte schwer, tat aber dennoch, was Benni von ihr verlangte. Sie zielte auf ihn und warf. Doch bevor der Stein Benni berühren konnte, loderte eine finstere Aura auf und der Stein fiel sofort auf den Boden. Erstaunt schaute Laura ihn an. „Woha! Wie hast du das gemacht?“ „Mithilfe der Finsternis-Energie.“, erklärte Benni. „Mit ihr kannst du die Energie eines sich bewegenden Gegenstandes absorbieren. Mit einiger Übung kannst du sogar den Gegenstand an sich einfangen.“ „Wie ein schwarzes Loch?“, fragte Laura fasziniert. Benni nickte. „Ah! Also kannst du die Pistolenkugeln auffangen, weil du ihnen davor die Energie ausgesaugt hast!“ „Sozusagen.“ „Wie cool!!! Kannst du mir das beibringen?!?“ Begeistert schaute Laura ihn an. Benni nickte. „Aus diesem Grund sind wir hier.“ Laura würde am liebsten Freudensprünge machen, wäre sie nicht so schüchtern. Sie war immer noch eine Niete im Kämpfen, obwohl sie inzwischen viel besser beim Training mitmachen konnte, da der Schwarze Löwe ihren Energievorrat nicht mehr manipulierte. Laura hoffte jedenfalls ihre Finsternis-Energie so gut beherrschen zu können, dass die Gruppe sie nicht mehr als Last betrachten müsste. „Okay, also zeig mir, wie du das machst!“, forderte Laura Benni enthusiastisch auf. Benni hob den Stein wieder auf. „Du musst es dir lediglich vorstellen und anschließend mindestens genauso viel Energie einsetzen, wie der Stein in diesem Moment an kinetischer Energie besitzt.“ „Wieso denn mindestens genauso viel?“, fragte Laura irritiert. „Wenn du zu wenig Energie einsetzt behält der Stein die restliche und fliegt weiter. Du musst sie ausgleichen. Im Idealfall setzt du denselben Energiebetrag ein, den der Stein besitzt. So nimmst du genau die Energie in dir auf, die du angewandt hast. Dadurch verlierst du keine.“, erklärte Benni. Laura blickte trotzdem noch nicht ganz durch. „Wenn ich also genauso viel Energie einsetze, wie der Stein hat, wäre es also so, wie als hätte ich gar keine Energie eingesetzt?“ Benni nickte. „Jedenfalls geht die Energiedifferenz gegen Null.“ „Wow, kein Wunder, dass du in Physik Prüfung machst.“, bemerkte Laura nur. Eigentlich war es beeindruckend, dass Benni mithilfe der Physik so viel Ahnung über ihre Kräfte hatte. Aber Laura war damit ein bisschen überfordert. „Also wie finde ich heraus, wieviel ‚kinetische Energie‘ dieser Stein hat?“, fragte sie. „Durch ausprobieren. Irgendwann entwickelst du ein Gespür für die Energien der Gegenstände.“ Die nächste halbe Stunde verbrachten sie damit, dass Benni den Stein in die Luft warf und Laura versuchte, ihm im Flug die Energie wegzunehmen, sodass er zu Boden fiel. Erst hielt Laura es für unmöglich, das jemals zu lernen. Sie fühlte sich, als würde sie mit geschlossenen Augen versuchen eine Zielscheibe mit einem Dartpfeil zu treffen, bei der sie keine Ahnung hatte wo sie sich überhaupt befand. Mal setzte sie viel zu wenig Energie ein und mal viel zu viel. Aber mit Bennis Tipps konnte sich Laura tatsächlich so langsam an den richtigen Energiebetrag herantasten. Nach dieser halben Stunde war Laura allerdings ganz schön ausgelaugt. Erschöpf setzte sie sich unter einen Baum und lehnte sich gegen dessen Stamm. Sie hatte das Gefühl, ihre Knie bestünden aus Wackelpudding. Vollkommen fertig wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Wie konnte das eigentlich sein? Sie hatte die ganze Zeit nur rumgestanden und Energie eingesetzt und war trotzdem so platt! Benni setzte sich neben sie und reichte ihr eine Wasserflasche. „Du hast dich für deine ersten Versuche sehr gut geschlagen.“, meinte er, während Laura die Hälfte der Flasche in einem Zug austrank. „F-findest du?“ Überrascht und auch verlegen schaute sie ihn an. Sie war der Ansicht gewesen, sie hätte sich genauso ungeschickt angestellt wie beim Kampftraining. „Ich hatte damals mindestens eine Woche gebraucht, um zu lernen was du in dieser halben Stunde gemeistert hast.“ Lauras Wangen wurden noch roter, als sie durch ihre Erschöpfung ohnehin schon waren. „Du hast dir das alles aber auch selbst beibringen müssen. Ich habe einen guten Lehrer, der mir hilft.“ „Wirklich? Wer?“ Benni nahm ihr die Flasche aus der Hand, um selbst einen Schluck zu trinken.
Laura boxte ihm gegen die Schulter. „Wer wohl?“ Sie lehnte sich gegen ihn und nachdem Benni die Flasche im Rucksack verstaut hatte, legte er einen Arm um ihre Schultern. Entspannt schloss Laura ihre Augen und atmete Bennis vertrauten Duft ein. „Ich liebe diese Momente mit dir…“ Benni erwiderte zwar nichts darauf, gab ihr jedoch einen Kuss auf den Scheitel und lehnte seinen Kopf gegen ihren. Kapitel 50: Partyzeit --------------------- Partyzeit Inzwischen hatten sie den Freitag der ersten Prüfungswoche erreicht und jeder war mit seiner Sportprüfung durch. Anne und Carsten waren die letzten der Gruppe gewesen, da Karate und Basketball erst heute stattgefunden hatten. Carsten saß wie sonst auch zum Abendessen bei den Mädchen am Tisch und hörte mit halbem Ohr Öznur zu, die sich über die kommenden Prüfungen aufregte. Interessanter war Arianes Gespräch mit Janine über die vergangenen Sportprüfungen. Ariane hatte in Leichtathletik anscheinend sehr gute Leistungen erzielt. Das hatte ihre Laune endlich wieder gebessert, da sie es gegen Lissi beim Schwimmen nur zu einem Unentschieden geschafft hatte. „Wo hast du eigentlich Laura und Benni gelassen, Anne?“, fragte Ariane plötzlich. Anne zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich. Da sie im Gegensatz zu mir keine Prüfung machen mussten hatten sie frei.“ „Meines Wissens sind sie Spazieren.“, meinte Carsten. „Ja, ja. Spazieren. Die zwei Süßen wollen uns doch nur im Glauben lassen, dass sie spazieren sind.“, kommentierte Lissi auf einmal und zwinkerte ihnen zu. Janine kicherte. „Ich glaube, sie sind wirklich nur spazieren.“ Fünf Minuten später kamen Laura und Benni schließlich auch zu ihnen an den Tisch. Carsten fiel auf, dass Benni inzwischen gar nicht mehr bei der Schülervertretung saß. Nun gut, der Extratisch der Schülervertretung war genau genommen auch nur von symbolischer Bedeutung. Meistens saßen alle von ihnen an den Tischen der ‚gewöhnlichen‘ Schüler. „Ihr habt euch ganz schön Zeit gelassen Lauch. Hält Bennlèy tatsächlich so lange durch?“, fragte Lissi sie grinsend. Lauras Gesicht färbte sich tiefrot. Ja, sie hatte Lissis ‚Andeutung‘ verstanden. „Wir waren nur Spazieren.“ Lissi kicherte. „Das kaufen dir vielleicht Nane-Sahne, Ninie oder Cärstchen ab. Aber mich kannst du damit nicht hinters Licht führen, Süße.“ „Wir waren wirklich nur spazieren!“, rief Laura total verlegen. Carsten konnte das Lachen nicht mehr zurückhalten. „Lissi möchte dich doch nur aufziehen.“ Lissi schaute ihn mit ihrer Unschuldsmiene an. „Aufziehen? Also Cärstchen, nein. Ich doch nicht! Ich möchte nur wissen ob Bennlèy tatsächlich so gut im Bett ist, wie ich vermute.“ Laura schnaubte beschämt, versuchte Lissi aber immerhin zu ignorieren. Stattdessen meinte Öznur: „Hey Leute, da jeder von uns nun endlich seine Prüfung hinter sich hat, wie wär’s, wenn wir mal Feiern gehen?“ Janine schüttelte seufzend den Kopf. „Ich glaube, es wäre besser, wenn wir lernen würden.“ Öznur winkte ab. „Doch nicht an einem Freitagabend!“ „Gerade du hast es aber bitter nötig.“, kommentierte Anne direkt. „Du meckerst schon die ganze Zeit rum, wie furchtbar das mit den kommenden Prüfungen wird, hast aber noch keinen Finger gekrümmt.“ Öznur schnaubte. „Das ist mir halt einfach zu viel auf einmal. Ich hab keine Ahnung, wie ich das alles in dieser kurzen Zeit noch lernen soll! Gerade in Mathe!!!“ „Weil du das ganze Schuljahr über noch nichts gemacht hast und nur Shoppen gegangen bist.“, meinte Anne trocken und biss von ihrem Wurstbrot ab. „Abgesehen davon steht das Angebot dir zu helfen immer noch. Du musst es nur annehmen.“ Ariane seufzte. „Aber wir haben durch unsere ganzen Aktionen wegen den Dämonen schon ganz schön viel Zeit einbüßen müssen. Schon alleine die Sonntage, die wir für das Extra-Training jetzt opfern. Von unseren Ausflügen zu den Schreinen und so weiter mal ganz zu schweigen. Wir haben neben den Dämonen halt noch ein normales Leben!“ Susanne zwirbelte eine ihrer kurzen schwarzen Strähnen. „Das stimmt und die Lehrer nehmen leider keine Rücksicht darauf.“ „Ja, aber trotzdem können wir doch mal Feiern gehen!“, meinte Öznur drängend. „Wir machen sonst kaum was Cooles gemeinsam!“ Anne hob eine Augenbraue. „Wir hängen wegen der Dämonen doch andauernd aufeinander rum.“ „Ja toll! Dabei werden ein paar von uns gerne mal fast umgebracht oder es gibt irgendwelche Familienkrisen, wenn wir uns nicht gerade selbst an die Kehle gehen!“ Eindringlich schaute Öznur in die Runde. „Wir haben keine ruhigen Momente, wo wir uns mal wirklich näher kennenlernen! Und damit meine ich nicht: der eine wurde sein ganzes Leben lang von seinem großen Bruder gemobbt, während der andere als Kind so krass unter der Gesellschaft leiden musste, dass er jetzt psychisch regelrecht krank ist. Ich weiß von keinem von euch, was er gerne an Musik hört oder ob er Haustiere hat beziehungsweise hatte.“ Nach einer Weile meinte Ariane schließlich: „Da hast du einen Punkt.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Dann hole dir während deiner nächsten Shoppingtour doch einfach ein Freundebuch und die Sache hat sich geklärt.“ Entnervt stöhnte Öznur auf. „Du bist sowieso niemand, der sich einfach mal amüsieren kann.“ „Dann weißt du doch schon was über mich.“ Ariane winkte ab. „Ignorier sie. Ich finde deine Idee gut! Auch wenn Feiern gehen eigentlich nicht so meins ist…“ „Das ist eigentlich nichts Großes, Nane. Hauptsache mal gemeinsam rausgehen und was unternehmen. Wir müssen uns ja nicht gleich betrinken!“, meinte Öznur und schaute nun den Rest fragend an. „Wie sieht’s aus?“ Laura seufzte. „Tut mir leid, aber ich habe Benni endlich dazu bringen können, mit mir meine Lieblingsfilme von Hayao Miyazaki zu schauen.“ „Aber nur auf Japanisch mit Untertitel.“, kommentierte Benni. „Och nööö, dann schau ich automatisch immer nur auf den Untertitel und nicht aufs eigentliche Bild.“ Laura verzog das Gesicht. „Das ist der Sinn der Sache. Du musst für die Prüfung einige Kanji beherrschen.“ Laura seufzte. „Blöde Schriftzeichen.“ „Und der Rest?“ Fragend schaute Öznur in die Runde. „Übrigens wollte ich auch Eagle fragen, ob er mal vorbeikommt. Das wäre doch eine prima Gelegenheit, Carsten!“ Damit hatte Öznur ihn nun überrascht. Verlegen lachte Carsten auf. „Ich gehe zwar für gewöhnlich auch nicht gerne Feiern, aber mal schauen, wohin das noch führt.“ „Ich bin sowieso dabei, Özi-dösi.“ Lissi grinste. „Du kommst doch auch mit Ninie, oder?“, drängte Ariane. „Laura lässt mich schon im Stich, du bitte nicht auch noch!“ „Ä-ähm… Na gut…“ Begeistert fiel Ariane Janine um den Hals. So ergab es sich, dass Carsten sich nach Indigo teleportierte, um Eagle abzuholen und sie sich schließlich alle in einer Diskothek in Jatusa wiederfanden. Also unter alle verstand sich Öznur, Lissi, Ariane, Janine, Eagle und Carsten. Susanne hatte gerade heute Abend den Sanitätsdienst, Anne hatte keine Lust und Laura und Benni schauten Chihiros Reise ins Zauberland. Die beiden wurden durch Lissi auch prompt zu einem Gesprächsthema. „Lauch hat sich mit dem Filmschauen doch nur rausgeredet, um jetzt eine heiße Nacht mit Bennlèy zu haben. Ist es nicht so?“ Carsten schüttelte lachend den Kopf. „Die schauen wirklich nur einen Film.“ Wobei er inzwischen noch nicht einmal mehr selbst davon gänzlich überzeugt war. Auch wenn Laura trotzdem viel zu schüchtern und verklemmt war, als dass sie und Benni schon miteinander schlafen würden. Eine Weile versuchte Lissi noch aus Carsten herauszubekommen, wie es nun zwischen Laura und Benni schon stand, aber sie erfuhr trotzdem nichts. Schon alleine aus dem Grund, da Carsten selbst es noch nicht einmal wusste. Er konnte auch nur Vermutungen anstellen. Dann wechselte das Gesprächsthema endlich zu Musik. Ariane war nicht sehr angetan von dem dröhnenden, lauten Techno und auch Janine und Carsten war es viel zu laut für ihren Geschmack. Eagle, Lissi und Öznur hatten jedoch kein Problem damit. Zwischendurch verschwanden Eagle und Öznur und brachten jedem einen Cocktail mit, beziehungsweise Carsten musste sich ein Bier andrehen lassen. Verunsichert betrachtete Ariane das Getränk. „Wir dürfen sowas doch noch gar nicht trinken.“ Eagle winkte ab. „Der eine Cocktail wird euch schon nicht umbringen, keine Sorge.“ Vorsichtig probierte Janine einen Schluck. „Der schmeckt wirklich gut…“ Lissi runzelte die Stirn. „Natürlich tut er das! Hast du noch nie zuvor einen Cocktail getrunken?“ Janine schüttelte den Kopf und auch Ariane musste verneinen, als Lissi diese Frage an sie weiterleitete. Öznur lachte. „Goldig, wie unschuldig ihr noch seid.“ Da kamen zwei Typen zu ihnen rüber. „Lissi! Lange nicht mehr gesehen!!!“, rief einer von ihnen. „Jonas! Phillip!“, rief Lissi erfreut, ging zu ihnen rüber und umarmte sie zur Begrüßung. „Wieso habe ich das Gefühl, dass du öfter hierherkommst.“, bemerkte Eagle belustigt. Lissi zuckte mit den Schultern. „Ich mag’s hier und die Leute sind total nett.“ „Kein Wunder, dass die Türsteher uns einfach so durchgelassen haben.“, überlegte Carsten laut. Denn sie kamen ohne Ausweiskontrolle rein, was ihn schon sehr irritiert hatte. Aber anscheinend hatte Lissi hier entsprechende Kontakte. „Wie geht’s euch so?“, erkundigte sich diese bei ihren beiden Freunden und startete einen Smalltalk mit ihnen. Irgendwann wurde einer von ihnen auf den Rest aufmerksam. „Sind das Freunde von dir?“ Lissi nickte. „Jop, wenn ich vorstellen darf: Die heiße Lady hier ist Öznur und die zwei Süßen Ariane und Janine. Und unsere gutaussehenden Begleiter sind Eagle und Carsten.“ „Freut mich! Ich bin Phillip!“, stellte sich einer der beiden vor. „Und ich Jonas.“ Der andere grinste frech. „Aber mal ehrlich: Diese hübschen Mädels hast du uns vorenthalten? Warum seid ihr nicht schon früher vorbeigekommen?!“ Jonas legte jeweils einen Arm um Janines und Arianes Schultern. „Wie wär’s Mädels, möchte eine von euch Süßen tanzen?“ Sowohl Janine als auch Ariane zuckten erschrocken zusammen und brachten keinen Ton über die Lippen. Lissi kicherte. „Tut mir leid mein Guter. Ich glaube, die zwei brauchen noch ein bisschen, um mit dieser Welt warm zu werden.“ Jonas lachte. „Ach so ist das!“ Er klopfte beiden Mädchen auf die Schultern. „Sorry, ich wollte euch nicht so überrumpeln.“ Grinsend schüttelte Phillip den Kopf. „Oller Macho. Wir machen uns dann mal wieder, schönen Abend noch.“ Er und Jonas umarmten Lissi erneut. „Man sieht sich hoffentlich des Öfteren!“, verabschiedeten sie sich. Nachdem die beiden verschwunden waren legte Ariane ihre Hand über ihr Herz. „Was war das denn?!?“ Eagle lachte. „Der Gute hat versucht mit euch zu flirten.“ Fröstelnd rieb sich Janine die Arme. „Ich fühle mich hier nicht wohl…“ „Alles in Ordnung.“, beruhigend legte Öznur eine Hand auf Janines Schulter. „Da hinten ist gerade die Sitzecke frei geworden, wir können uns gerne erstmal etwas zurückziehen. Dort dürfte die Musik auch nicht so laut sein.“ Ariane und Janine flohen regelrecht in die Sitzecke und quetschten sich auch sofort in die Ecke, wo sie von Öznur und Lissi flankiert wurden, um anscheinend bloß nicht wieder angesprochen zu werden. Für Carsten wiederum war es ein seltsames Gefühl, dass sich Eagle auf einmal einfach so neben ihn setzte, ohne irgendwelche bösen, hinterhältigen Absichten. Selbstverständlich war er überglücklich, dass sein Bruder ihn endlich akzeptierte und mehr als offensichtlich darum bemüht war, sein Verhältnis zu Carsten zu verbessern. Genau genommen war Carsten darüber so froh, dass er Jack insgeheim für dessen Angriff sogar dankbar war! Denn eigentlich hatte ja dies alles Folgende ausgelöst. Auch wenn er es den anderen niemals gestehen dürfte. Sie würden ihn für verrückt halten. Und trotzdem musste sich Carsten tatsächlich erst einmal daran gewöhnen, dass Eagle keine bösen, hinterhältigen Absichten mehr hatte. Carsten ärgerte sich über sich selbst, dass er immer noch automatisch eine Abwehrhaltung einnahm, wenn Eagle ihm näherkam. Und leider schien Eagle das aufzufallen, auch wenn er es sich nicht anmerken lassen wollte. „Lissi, deine Freunde sind gruselig.“, meinte Ariane plötzlich. Lissi winkte ab. „So ein Unsinn, Nane-Sahne. Die sind total cool drauf.“ Öznur nickte. „Das stimmt, die zwei waren wirklich sympathisch. Warum habt ihr sie so abgewiesen? Die wollten nur ein bisschen reden und vielleicht mit euch tanzen.“ „Nur ein bisschen reden?“, fragte Janine verunsichert. Eagle zuckte mit den Schultern. „Na ja, nur reden jetzt auch nun wieder nicht. Die wollten schon ein bisschen mit euch flirten. Jedenfalls der eine.“ „J-ja, aber…“, setzte Janine an. Lissi ging ein Licht auf. „Ninie! Kann es sein, dass du noch nie zuvor mit jemandem geflirtet hast?!“, bemerkte sie erschrocken. Beschämt schüttelte Janine den Kopf. „Ich glaube nicht…“ „Und du Nane-Sahne?!?“ Auch Ariane schüttelte den Kopf. Kritisch runzelte Öznur die Stirn. „Ihr habt wirklich noch überhaupt keine Erfahrungen? Hattet ihr nicht schon mal einen Freund?“ Sowohl Ariane als auch Janine schüttelten den Kopf. „Waaaaaaaaaaaaaaas?!?!? Wieso denn das?!?!?!?!?“ Nun schien Lissi total aus der Fassung gebracht worden zu sein. „Na ja…“, meinte Janine zögernd, „In Mur herrschen… andere Sitten. Mein Adoptivvater war einer der einzigen Männer die ich kannte, der seine Frau und Kinder nicht geschlagen hat. Eine Freundin aus der Mittelschule hatte andauernd blaue Flecken… und eine andere Freundin hatte… andere… schlechte Erfahrungen…“ „Oha…“ Mitleidig musterte Öznur Janine. Eagle seufzte. „Das ist krass. Als Außenstehender bekommt man für gewöhnlich gar nichts aus Mur mit.“ „Ach stimmt, du bist damals bei den Prüfungen für die Dämonenform erst in Dessert dazu gestoßen.“, bemerkte Öznur. „Wir waren davor in Mur gewesen und da sieht’s echt übel heruntergekommen aus. Ich kann nicht glauben, dass einige Menschen tatsächlich unter solchen Bedingungen leben müssen!“ Carsten merkte, dass sich Janine bei dem Thema immer unwohler fühlte. Nervös spielte sie an einer ihrer blonden Haarsträhnen und wich den Blicken der anderen aus. Auch Eagle schien das aufzufallen, denn er wechselte zum ursprünglichen Thema zurück. „Und du hattest also auch noch nie einen Freund, Ariane?“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Nee. Irgendwie bin ich gar nicht an Beziehungen interessiert. Ich stelle mir das eigentlich total stressig vor. Ich muss ihn dann meinen Eltern vorstellen und alle Familienfeiern müsste ich dann mit ihm besuchen, auch die von seiner Familie. Dafür hat man doch gar keine Zeit!“ Carsten musterte unnötig genau das Logo seiner Bierflasche. Eine Harfe. Die anderen sollten nicht bemerken, dass Arianes Kommentar ihn schwer getroffen hatte. Selbstverständlich hatte er schon vermutet, dass Ariane weder an einer Beziehung mit ihm noch mit sonst wem interessiert war. Aber das aus ihrem Mund zu hören war trotzdem schmerzhaft. Sehr schmerzhaft. Öznur redete gerade auf Ariane ein, dass sie ein vollkommen falsches Bild von Beziehungen habe, aber Carsten klinkte sich aus der Unterhaltung aus und war mehr an den Inhaltsstoffen seines Bieres interessiert. Er hatte noch nie zuvor Bier getrunken und eigentlich war das Zeug was Eagle ihm gebracht hatte ganz okay. „Cäääärstchen!!! Wir brauchen mal deine Hilfe!“, rief Lissi ihn aus seinen Gedanken. Erschrocken fuhr Carsten hoch. „Was ist?“ „Es geht ja gar nicht, dass weder Nane-Sahne noch Ninie Erfahrungen mit Jungs haben. Du übst jetzt mal flirten mit den beiden! Auf, sprich Nane-Sahne mal an!!!“, forderte Lissi ihn drängend auf. Carsten wurde sofort knallrot. „Was?“ Lissi stieß ihren Ellenbogen in seine Seite. „Nur keine falsche Scheu, Cärstchen!“ Lissi, diese… Carsten war viel zu verlegen, um auch nur irgendwie darauf reagieren zu können. Sie wollte, dass er mit Ariane flirtete?!?!? Und das, obwohl sie vor wenigen Minuten erst gesagt hatte, sie sei sowieso nicht an irgendeiner Beziehung interessiert?!? Deswegen immer noch verletzt und gleichzeitig auch beschämt wich Carsten Arianes Blick aus, die von all dem weniger begeistert und eher gelangweilt beziehungsweise genervt schien. Eagle lachte auf. „Ich bezweifle, dass Carsten für ein Flirttraining der richtige ist. Der Gute hat immerhin noch weniger Erfahrung mit Frauen, als Janine und Ariane mit Männern.“ Öznur verpasste ihm einen warnenden Rippenstoß, während Lissi ihm einen enttäuschten Blick zuwarf. Eagle zuckte mit den Schultern. „Die Erfahrung kommt, wenn sie kommen muss. Man braucht kein ‚Training‘ für Flirten, Beziehungen, Küssen oder sonst was. Das lernt man mit der Zeit und im Idealfall mit der richtigen Person. Du musst jetzt nicht auf Teufel komm raus Flirtprofis aus den dreien machen.“ Tatsächlich schienen Eagles Argumente ihre Wirkung bei Lissi erreicht zu haben, denn sie ließ sowohl Carsten als auch die Mädchen damit in Ruhe. Erleichtert warf Carsten seinem Bruder einen Seitenblick zu. Er war sich ziemlich sicher, dass Eagle mit seinem fies-scheinenden Kommentar Carsten nur vor der peinlichen Situation bewahren wollte, mit dem Mädchen in das er verliebt war vor aller Augen ein Flirttraining zu machen und sich dadurch bis auf die Socken zu blamieren. Wahrscheinlich wusste Eagle spätestens seit Lauras Geburtstag von Carstens Gefühlen für Ariane Bescheid. Genaugenommen war es nicht übersehbar gewesen, bei seiner unbeholfenen Reaktion auf Arianes ‚Witz‘, dessen Übersetzung sie noch nicht einmal kannte. „Apropos ‚Erfahrung‘.“, meinte Ariane plötzlich. „Ihr drei redet so, als wärt ihr die Götter der Beziehungen und wüsstet alles darüber. Wie ‚erfahren‘ seid ihr denn jetzt eigentlich?“ „Meinst du mit ‚erfahren‘, ob wir schon mal Sex hatten?“ Öznur legte fragend den Kopf schräg. Ariane zuckte mit den Schultern. „Alles Mögliche.“ „Na ja…“, setzte Öznur an. „Ich hatte zwei feste Freunde. Der eine war nur so ne ‚Mittelstufenromanze‘, aber das mit Sebastian war auf jeden Fall was Ernstes…“ Bedrückt seufzte sie. Carsten erinnerte sich, dass Öznur vor ihrer Dämonenprüfung mal von Sebastian erzählt hatte. Die beiden hatten sich nicht wegen eines Streites oder so getrennt, sondern das Karystma hatte ihr Sebastian gewaltsam genommen. Nach einem kurzen Moment meinte sie schließlich: „Jedenfalls hatte ich seither keinen Freund mehr, nur noch lockere Bekanntschaften.“ „Lockere Bekanntschaften?“, löcherte Lissi. „Typen mit denen ich höchstens etwas rumgemacht habe.“ Öznur verdrehte die Augen. „Aber dein erstes Mal hattest du trotzdem schon, ooodeeer???“, stocherte Lissi weiter. „Klar.“ Janine wurde rot. „Wie könnt ihr einfach so über solche Themen reden?“ Eagle zuckte mit den Schultern. „Ist doch nichts dabei. Das sind vollkommen normale Themen, die Gesellschaft stellt sie nur gerne als Tabu dar.“ Öznur boxte ihm gegen die Schulter. „Ich wäre eher daran interessiert, was du schon alles ‚angestellt‘ hast. Du scheinst in Beziehungen ja sehr offen zu sein.“ „Ach was, eigentlich geht es sogar.“, meinte Eagle lachend. „Ich hatte vier feste Beziehungen, die länger als zwei Monate hielten. Die längste ging knapp ein Jahr. Sonst eher ‚lockere Bekanntschaften‘, wie du so schön gesagt hast oder ein paar One-Night-Stands.“ „Das geht ja wirklich noch.“, bemerkte Lissi, leicht enttäuscht. „Ich hätte um ehrlich zu sein mehr von dir erhofft, Eagle-Beagle.“ Öznur verdrehte die Augen. „Was willst du dir da noch mehr erhoffen? Ich wäre eher daran interessiert, was du schon so alles getrieben hast.“ „Oh ja, ich auch.“, meinte Eagle belustigt. „Ich glaube ich nicht.“, ergänzte Ariane. Lissi überlegte. „Also Beziehungen, die über zwei Monate gingen hatte ich kaum. Für gewöhnlich One-Night-Stands, wenn der Typ gut war auch gerne häufiger. Ein paar Dreier hatte ich auch schon und… Ach so, mit einem Mädel hatte ich’s auch mal. Wenn ich so darüber nachdenke, war die eigentlich die beste von allen... Ich sollte mir häufiger mal Frauen suchen.“ Eagle hob eine Augenbraue. „Lesbensex? Da würde ich gerne mehr Einzelheiten wissen.“ Öznur trat ihm gegen das Schienbein. „Perversling.“ Auch den Rest des Abends verbrachten sie damit, über alles Mögliche zu reden. Carsten erfuhr, dass Ariane noch nie ein Haustier hatte, während Öznur von ihrem Hund Pelliccia schwärmte, ein weißer Flauschball, der aber leider vor zwei Jahren gestorben war, was besonders ihre älteren Schwestern mitgenommen hatte. Auch über den Musikgeschmack der anderen erfuhr Carsten so einiges. Ariane zum Beispiel hörte kreuz und quer von allen möglichen Richtungen etwas und besonders K-Pop schien sie zu mögen. Janine hörte interessanter weise gerne Bands wie Nightwish, Evanescence oder Delain und sowohl Öznurs, Lissis als auch Eagles Geschmack war eher die modernere Musik, die im Radio lief und mit der Carsten wenig anfangen konnte. Diese Lieder klangen alle doch recht ähnlich und selbst, wenn mal ein gutes dabei war, wurde es im Radio dann so häufig gespielt, dass man alsbald die Schnauze voll davon hatte. Eagle hörte außerdem auch gerne Hip Hop und Rap und war ein großer Fan von Eminem. Erst jetzt bemerkte Carsten, dass er bis eben gar nicht gewusst hatte, was für einen Musikgeschmack Eagle eigentlich hatte. Wie schlecht er seinen Bruder eigentlich kannte. Carsten selbst war eher ein Fan von weniger Gesang. Chopin gefiel ihm, aber auch Bach und Beethoven und manchmal auch Mozart. Daraufhin bekam er von Eagle den Kommentar „Hätte ich mir eigentlich denken können.“ zu hören. Anscheinend kannte sein Bruder ihn auch schlechter als er gedacht hatte. Auch der Rest des Abends verlief noch sehr angenehm. Eagle forderte zwischendurch Öznur mal zum Tanzen auf und Lissi konnte es sich nicht verkneifen und schwärmte davon, dass die zwei ein richtig tolles Paar abgeben würden. Als sie schon anfangen wollte, Pläne zu schmieden, wie sie die beiden wohl verkuppeln könnte, meinte Janine, dass das wahrscheinlich gar nicht nötig sein würde. Gegen eins machten sie sich schließlich auf den Rückweg. Obwohl er ziemlich spät erst zurückgekommen war, war Carsten nicht so müde wie erwartet. Nun gut, durch das FESJ war er auch schlimmeres gewöhnt. Hier an der Coeur-Academy hatte er immerhin noch genug Zeit, beim Duschen etwas zu trödeln und war trotzdem noch viel zu früh fürs Frühstück. Dennoch machte er sich schon auf den Weg. Wahrscheinlich würde er in der Mensa auf Anne und Susanne treffen, die notorischen Frühaufsteher der Mädchen.
Auf dem Weg nach unten wurde Carsten in der ersten Etage von Benni abgefangen. „Kannst du bitte mal mitkommen?“ „Was ist denn?“, fragte Carsten irritiert. „Laura ist gestern direkt nach dem Film eingeschlafen und traut sich nicht mehr aus dem Zimmer raus, in der Angst, jemand könne sie sehen und falsche Schlüsse ziehen.“, erklärte er. Erfolglos versuchte Carsten sein Lachen zu unterdrücken. „Laura ist was?!?“ Benni verdrehte die Augen. „Komm einfach.“ Immer noch lachend folgte Carsten Benni den Flur im ersten Stock entlang bis zu dessen Ende, wo die Schülervertretung ihre privaten Räumlichkeiten hatte. Benni öffnete die Tür zu seinem Zimmer und meinte: „Du brauchst dich nicht zu verstecken. Es ist nur Carsten.“ Als Laura mit hochrotem Kopf unter der Decke hervorlugte, konnte Carsten nicht anders, als wieder lauthals loszulachen. Und Lauras genuscheltes „Das ist nicht lustig.“ sorgte nur dazu, dass Carsten noch mehr lachen musste. Schließlich beruhigte er sich etwas und meinte zu ihr: „Und was soll ich jetzt machen? Dich unsichtbar zaubern, damit du unbemerkt zum Mädchenhaus rüber kannst?“ Laura nickte als Antwort lediglich. Grinsend verdrehte Carsten die Augen, tat ihr allerdings diesen Gefallen. Er wusste ja, dass Laura ziemlich schüchtern war. Und er konnte ihre Sorge durchaus nachvollziehen, dass falsche Schlüsse gezogen werden könnten, wenn jemand sie morgens aus Bennis Zimmer kommen sehen würde. Besonders, wenn Carsten daran dachte wie sehr sich die Mädchen den Kopf darüber zerbrachen, ob sich Laura und Benni schon gewissermaßen näher gekommen waren. Also… Lissi zerbrach sich den Kopf darüber. Carsten und Benni begleiteten die unsichtbare Laura bis zu ihrem Zimmer, wo sie sie in Ruhe ließen, damit sich Laura fertig machen konnte. Ariane schien immer noch seelenruhig zu schlafen, was Laura sehr gelegen kam. So würde ihre nächtliche Abwesenheit nicht weiter auffallen. Als Laura schließlich fertig war, gingen sie zu dritt zur Mensa, wo wie erwartet Anne und Susanne bereits am Frühstücken waren. „Guten Morgen.“, grüßte Susanne sie freundlich. Von Anne kam nur ein mürrisches „Morgen“. Als sie alle etwas zu Essen hatten erkundigten sich Susanne, Anne und Laura über den Ausflug in die Disco und noch während Carsten am Erzählen war, stießen die restlichen Mädchen zu ihnen. „Eigentlich war es wirklich nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte.“, sinnierte Ariane. Janine nickte. „Es war zwar ziemlich laut, aber irgendwie war es sogar schön, mal etwas ganz anderes zu machen als das, was wir bisher so gewöhnt sind.“
„Sag ich doch!“ Triumphierend stemmte Öznur die Fäuste in die Hüften. „Also, wann gehen wir das nächste Mal hin?“ Anne hielt beim Essen inne und schaute sie irritiert an. „Du willst schon wieder Feiern gehen?“ „Warum nicht? Wir könnten doch gleich heute Abend gehen!“, schlug Öznur begeistert vor. „Du, Susi, Laura und Benni, ihr müsst unbedingt auch mal mit!“ Während Anne genervt die Augen verdrehte, schüttelte Benni mindestens genauso begeistert den Kopf. Öznur schaute beide enttäuscht an. „Was habt ihr denn?“ „Abgesehen davon, dass ich mir so langsam aber sicher echt Sorgen mache, ob du die Prüfungen überhaupt bestehst, da du einfach nie am Lernen bist?“, erkundigte sich Anne grimmig. Ariane hob beide Augenbrauen. „Und das von Anne. Nicht schlecht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Is‘ so. Und auf dieses laute Discogebrumme und das dämliche Herumgehampel auf der Tanzfläche hab ich auch einfach keine Lust. Also hör endlich auf zu fragen, Öznur.“ „Nur du meckerst doch die ganze Zeit. Dem Rest hat’s gefallen!“, empörte sich Öznur. „Und du meckerst andauernd über die Prüfungsphase und hast, wie schon tausend Mal gesagt, immer noch keinen Finger dafür gekrümmt!“, erwiderte Anne, noch gereizter. „Hey, bitte Leute. Es reicht.“, schritt Carsten beruhigend ein. „Öznur hat schon Recht, im Endeffekt war das Feiern gehen doch nicht so übel, wie einige von uns es erwartet haben. Aber Özi, du musst auch einsehen, dass Anne Recht hat. Wir befinden uns nun einmal gerade jetzt in der Prüfungsphase. Das ist einfach ein ungünstiger Zeitpunkt zum Feiern gehen. Und wenn einige von uns definitiv nicht in eine Disco gehen wollen, musst du das auch respektieren. Gerade Anne, die sowieso immer noch Schwierigkeiten hat mit Jungs klarzukommen, willst du an einen Ort schicken, wo für gewöhnlich viele Leute hingehen, um jemanden in relativ enthemmter Atmosphäre kennenzulernen?“ An Anne gewandt meinte Carsten: „Das war nicht böse gemeint…“ Anne zuckte mit den Schultern. „Ich weiß. Es fasst ‚ich hab keinen Nerv von einem angetrunkenen, durch Testosteron aufgegeilten Typ angemacht zu werden‘ eigentlich ziemlich nett zusammen.“ „Das stimmt, die Jungs dort sind wirklich ziemlich… locker.“, kommentierte Ariane auch nicht sonderlich begeistert. „Und Benni wäre an so einem belebten, lauten Ort ebenfalls alles andere als gut aufgehoben.“, fuhr Carsten fort. „Und ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass sich Laura dort ebenso wenig wohlfühlen würde.“ Zögernd nickte Laura auf Carstens Kommentar hin. Leicht enttäuscht seufzte Öznur. „Und wie wollen wir stattdessen unsere Abende verbringen?“ „Vielleicht endlich mal mit Lernen?“, schlug Anne immer noch leicht gereizt vor. Kapitel 51: Lernstress und Zickenkrieg -------------------------------------- Lernstress und Zickenkrieg Inzwischen hatten sie die zweite Prüfungswoche überlebt, in welcher die Fremdsprachen getestet wurden. Es war Sonntagvormittag und Ariane befand sich zusammen mit Laura, Lissi und Anne beim wöchentlichen Training bei Benni. Eigentlich wäre es Ariane lieber sie könnte die Zeit zum Lernen nutzen, aber das Training durfte trotzdem nicht vernachlässigt werden. Auch wenn sie in letzter Zeit nichts mehr von Mars, Jack, Lukas oder sonst wem gehört hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder auf einen von ihnen treffen würden. Und je besser die Vorbereitung darauf war, desto höher war ihre Chance dieses Treffen zu überleben. Mit der Zeit waren die Mädchen wirklich viel besser im Kämpfen und im Umgang mit ihren spezifischen Waffen geworden, selbst Laura hatte einige Fortschritte zu verzeichnen. Diesen Sonntag war sogar Eagle zu Besuch gekommen, um mit den Mädchen zu trainieren. Gerade versuchte Anne verbissen ihn in einem Trainingskampf zu besiegen. „Mal ehrlich, Eagle spielt doch nur mit ihr, oder?“, bemerkte Öznur lachend. Janine nickte. „Er scheint sich tatsächlich nicht groß anstrengen zu müssen.“ Lissi zuckte mit den Schultern. „Na ja, auch wenn Eagle-Beagle Bennlèy niemals wird das Wasser reichen können, ist er immerhin noch der zweitstärkste Kämpfer Damons. Und Banani ist ein Nichts im Vergleich zu ihm.“ „Das hab ich gehört!“, brüllte Anne vom Kampfplatz rüber, was aber dafür sorgte, dass sie ihre Deckung vernachlässigte und Eagle ihr letztlich den ‚Gnadenstoß‘ gab. „Hättest du sie nicht etwas früher von ihrem Leid erlösen können?“, witzelte Öznur. Eagle kam zu den Zuschauern rüber, während sich Anne mühselig aufrichtete. „Oh hi. Ihr seid ja auch hier.“, grüßte er die Magier. „Aber natürlich! Als es hieß, dass du Anne eine Abreibung verpasst, mussten wir uns das unbedingt ansehen!“, erklärte Öznur und umarmte ihn zur Begrüßung. „Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“, zischte Anne, die sich inzwischen wieder aufgerafft hatte. „Auf Eagles, ist das nicht eindeutig?“, zischte Öznur zurück. Fragend hob Eagle eine Augenbraue, doch Ariane winkte ab. „Vergiss die zwei. Mit der Zeit zoffen die sich immer mehr. Man kann schon gar nicht mehr wirklich mit denen zu Abend essen, ohne dass es in einem Zickenkrieg ausartet.“ „Wieso denn das? Von Mars haben wir seit ein paar Wochen nichts mehr gehört. Eigentlich sollte doch alles okay sein.“ „Für dich vielleicht.“, maulte Öznur. „Wir sind mitten in der Prüfungsphase.“ „Und du gehst gefühlt jeden Abend Feiern statt zu lernen. Aber dann herummeckern, wie furchtbar die Prüfungsphase ist, nicht?“ Missbilligend verschränkte Anne die Arme vor der Brust. Ariane seufzte. „Da hast du’s.“ „Immerhin versuche ich es jedenfalls, diese Zeit noch zu genießen. Du paukst ja nur die ganze Zeit! Apropos pauken: Immerhin bin ich noch hier beim Training, im Gegensatz zu Susi. Wo steckt die?“ Lissi verdrehte die Augen. „Au Mann, Özi-dösi. Susi hat doch vorgestern Abend schon erzählt, dass sie für Samstagnachmittag und Sonntag nach Hause geht.“ „In dem Moment war Öznur doch garantiert Feiern gewesen.“, kommentierte Anne. Dies und Öznurs „War ich nicht!“ ignorierten die anderen allerdings. Stattdessen erkundigte sich Laura, warum Susanne eigentlich nach Hause gegangen war. „Irgendwie gab’s gestern Abend ein wichtiges Essen mit alten Bekannten, bei dem Susi dabei sein sollte.“, erklärte Lissi. Kritisch runzelte Ariane die Stirn. „Und du nicht?“ Lissi zuckte mit den Schultern. „Madre und Padre meinten am Telefon einfach nur ‚Larissa hat sicherlich keine Zeit, immerhin sind zurzeit die Zwischenprüfungen‘. Also im Prinzip wurde ich ausgeladen.“ „Dein Vater ist ja sehr freundlich.“, kommentierte Eagle. „Das sagt der richtige. Wessen Vater hat sich denn bitteschön nicht um Carstens Wohlehrgehen gekümmert?“, erinnerte Laura ihn daran, dass sein Vater auch nicht der netteste war. „Aber Moment… Du heißt gar nicht Lissi?!“ Lissi zuckte mit den Schultern. „Eigentlich heiße ich Larissa Alejandra Nora Tieges, aber ich mag meinen vollständigen Namen nicht.“ Kritisch runzelte Anne die Stirn. „Das ist zwar nachvollziehbar, aber wie hast du es dann angestellt, dass selbst auf der Klassenliste nur Lissi Tieges steht?“ „Man kann den offiziellen Namen in der Anmeldung zu einem gewissen Grad abändern, falls einem der Name unangenehm ist oder so ähnlich. Deswegen wissen viele Lehrer zum Beispiel auch gar nicht, dass Crow mein offizieller Name ist.“, erklärte Carsten. „Das kann man?“, fragte Ariane überrascht. Carsten nickte. „Irgendwo auf Seite sechzehn in der Anmeldung stand das, glaube ich.“ „Du hast das ernsthaft durchgelesen?“, fragte Öznur kritisch. „Und dir auch noch die Seitenzahl behalten können?“, fragte Ariane noch kritischer. Carsten ignorierte die Fragen der Mädchen und wandte sich an Lissi: „Aber warum beordern deine Eltern Susanne ausgerechnet mitten in der Prüfungsphase nach Eau?“ Lissi zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich. So wie ich Padre kenne hat das irgendwas mit seinem Beruf zu tun. Wahrscheinlich möchte er Susi als Aushängeschild, so nach dem Motto: Schaut, wie toll und vorbildlich meine Familie ist, ich bin ja ein soooo guter Bürgermeister.“ „Wenn dein Dad wirklich so drauf ist hast du mein Beileid.“ Verstimmt schüttelte Eagle den Kopf. Lissi warf ihm einen Luftkuss zu. Da wurden die Mädchen von Benni angewiesen, zu ihrem Training zurückzukehren, die Pause sei vorbei. Während Ariane mit Lissi trainierte, unterhielten sie sich trotzdem weiter. „Sag mal, hat Susi dann auch mehrere Vornamen?“, erkundigte sich Ariane neugierig. Lissi nickte. „Jep, Susanne Francesca Teresa Tieges.“ Ariane verzog das Gesicht. „Und ich fand meinen Zweitnamen schon immer ätzend.“ Auch beim Mittagessen war das Hauptthema der Mädchen ‚Zweitnamen‘. Insbesondere Anne wurde von ihnen aufgezogen, da sie eigentlich Anne Maria hieß. Mal ehrlich, Anne war keine Maria. Definitiv nicht. Nur aus Eagle konnten sie nicht herausquetschen, wie sein Zweitname lautete. Sie erfuhren lediglich, dass er wie Carsten einen eher internationalen ersten Vornamen und dann den offiziellen Vornamen an zweiter Stelle hatte. Auch wenn Ariane einfach nicht verstehen konnte, warum in Indigo der offizielle Vorname der Zweitname war. Während sie am Nachmittag weiter trainierten, stieß Susanne endlich wieder zu ihnen. Ariane hielt in ihrem Messerwurftraining inne und schaute zu, wie Lissi auf ihre Schwester zustürmte und ihr um den Hals fiel. Auch Anne beobachtete die Zwillinge. „Wie war das Essen?“ „Ich wette, Padre hatte wieder ganz viel Fisch beordert.“, kommentierte Lissi sofort. Susanne nickte. „Er mag nun mal traditionell spanische Gerichte.“ „Und was waren das jetzt für wichtige Bekannte, wegen denen du fast ganz Damon überqueren musstest?“, fragte Ariane kritisch und verschonte die Zielscheibe von ihren Wurfversuchen. Susanne schaute Lissi an. „Erinnerst du dich noch an die Familie Garcia?“ „Diese Snobs vom Dienst? Wie könnte ich die vergessen.“ Lissi verzog das Gesicht. „Waren die diese ach so tollen Bekannten?“ „So schlimm wie du sie beschreibst sind sie auch nun wieder nicht. Aber ja, sie waren gestern Abend zu Gast gewesen.“ Kritisch runzelte Lissi die Stirn. „Ich hab seit zehn Jahren oder so nichts mehr von denen gehört. Was wollten die?“ Susanne zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber Miguel war auch dabei.“ „Das wird ja immer besser.“ Entnervt stöhnte Lissi auf. „Miguel?“, fragte Ariane verwirrt. „Miguel Garcia, der Sohn von den Freunden unserer Eltern.“, erklärte Lissi, „Mega verwöhnt und total hochnäsig. Denkt, man würde ihm alles auf dem Silbertablett servieren. Er ist sogar noch schlimmer als du, Banani. Und das, obwohl er nicht mal adelig ist.“ Anne zischte verstimmt. „Was soll denn das heißen?!“ Beschwichtigend hob Susanne die Hände. „Du übertreibst, Lissi. Bei beiden.“ Lissi zuckte mit den Schultern. „Bei Banani vielleicht.“ „Auch bei Miguel. Mag sein, dass er früher nicht gerade der netteste war, aber er hat sich wirklich gut entwickelt. Er ist ein richtiger Gentleman geworden und studiert außerdem Jura.“ Lissi schnaubte. „Das klingt sehr verdächtig.“ Irritiert runzelte Ariane die Stirn. „Seit wann bist du so kritisch? Gerade gegenüber einem Jungen?“ „Ich kenne meine Eltern. Lass mich raten: Padre möchte, dass du mal mit Miguel ausgehst, damit ihr euch besser kennenlernt, oder?“ Verlegen lachte Susanne auf. „Ja, schon…“ Nun runzelte auch Anne kritisch die Stirn. „Wieso denn das?“ „Ich kann dir sagen, wieso!“, ärgerlich stemmte Lissi die Fäuste in die Hüften. „Padre möchte eine Beziehung zwischen Susi und Miguel, um Bonuspunkte bei seinen Wählern zu sammeln und in zwei Jahren wieder gewählt zu werden!“ „Wie soll ihm das Bonuspunkte verschaffen, wenn Susanne dem Jugendschutzgesetz nach sowieso nicht in die Presse darf?“, fragte Anne, immer noch sehr kritisch. Lissi zuckte mit den Schultern. „Das spricht sich trotzdem rum und die Garcias haben relativ viel Einfluss in diesem Gebiet, da sie gute Anwälte sind. Diese Vollidioten!“ „Lissi, jetzt beruhige dich doch bitte wieder.“, versuchte Susanne ihre Schwester zu beschwichtigen. Doch Lissi ließ sich nicht beschwichtigen, im Gegenteil. Sie steigerte sich nur noch mehr hinein. „Ich soll mich beruhigen?!? Schon schlimm genug, dass Padre dich wegen deiner netten, lieben, höflichen Art andauernd für sein Ansehen ausnutzt. Aber jetzt will er dir sogar dein Liebesleben vorschreiben?!? Und das ausgerechnet auch noch mit Miguel, diesem verwöhnten Arschloch?!? Das beruhigt mich kein bisschen!!!“ Leicht erschrocken musterte Ariane Lissi. Solche Wutausbrüche kannte sie für gewöhnlich nicht von ihr, aber andererseits… In gewissem Maße war das doch nur Lissis Beschützerinstinkt. Sie wollte nicht, dass ihre Schwester eine Beziehung mit dem -ihrer Meinung nach- Falschen einging. Das war vollkommen nachvollziehbar. Ariane konnte sich ja noch nicht mal mit dem Gedanken anfreunden, dass ihre eigene Schwester eines Tages alt genug sein würde, um eine Beziehung mit jemandem eingehen zu können. Brrrr, nein. Bloß nicht! Ariane schüttelte sich bei dem irgendwie gruseligen Gedanken. Eagle, der die Mädchen bisher nur beobachtet hatte, legte nun sanft eine Hand auf Lissis Schulter. „Jetzt komm erstmal wieder runter. Deine Sorgen bezüglich dieses Typen haben sicher ihre Gründe. Aber letztendlich ist es Susannes Entscheidung, ob sie mit ihm ausgehen möchte oder nicht.“ Lissi atmete tief durch und gab leicht zähneknirschend zu: „Du hast ja Recht, Eagle-Beagle. Aber ich trau dem Typen einfach nicht.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Wenn schon Lissi, also gerade Lissi, einem Typen nicht traut, dann solltest du dich echt von ihm fernhalten, Susi.“ Susanne lächelte ihre Zwillingsschwester und Anne dankbar an. „Es ist lieb von euch, dass ihr euch um mich sorgt. Aber ich habe bereits beschlossen, ihm eine Chance zu geben. Es stimmt schon, dass er ein bisschen verwöhnt ist, aber wie gesagt: Eigentlich ist er ein sehr freundlicher, zuvorkommender junger Mann geworden.“ Missbilligend wandte sich Anne ab. „Dann mach halt was du willst. Offensichtlich ist es dir ja egal, was wir denken.“ Mit diesen Worten stapfte sie davon. Lissi hob überrascht die Augenbrauen. „Hat Banani ihre Tage?“ „Ich würde eher sagen Prüfungsphase.“ Seufzend schaute Ariane das Messer in ihrer Hand an und versuchte, die Zielscheibe zu treffen. Immerhin, fast hätte sie es geschafft! Wenn man an ihre kläglichen Versuche am Anfang dachte, war das doch schon etwas! Auch die nächste Woche verging schneller, als Ariane es gedacht hätte. Wahrscheinlich hatte sie das Gefühl die Zeit würde nur so an ihnen vorbeirasen, da sie immer irgendwie beschäftigt waren. Sei es nun das Training oder das Lernen für die Halbjahresprüfungen. Gerade saßen sie beim Abendessen und das erste, wonach Öznur sie fragte war: „Hey, wie wär’s wenn wir heute endlich mal wieder gemeinsam Feiern gehen?“ „An einem Donnerstag?“ Kritisch musterte Ariane sie. Öznur ging viel zu häufig Feiern in letzter Zeit. So krass war das zuvor noch nicht gewesen, erst seit Beginn der Prüfungsphase. Und genau seitdem wirkte sie auch total neben der Spur. Immerhin: Wie häufig musste sie eigentlich noch fragen, um zu kapieren, dass niemand von ihnen mehr Zeit und Lust hatte Feiern zu gehen? Die einzigen, die sie manchmal noch begleiteten waren Lissi und Eagle, der dafür sogar extra nach Cor flog. Der Rest seilte sich eigentlich immer ab. Öznur zuckte mit den Schultern. „Die Woche ist doch fast rum, müsstet ihr nicht auch schon eure Prüfungen haben?“ „Nur, weil du Montag schon durch warst für diese Woche heißt das noch lange nicht, dass das bei uns auch so ist.“, zischte Anne. „Ja aber du hattest doch heute Powi, oder?“, überlegte Öznur, „Genauso wie Ninie HL und Carsten Chemie. Warum auch immer der gerade das als Wahlfach nehmen musste. Ich dachte, das seien die letzten Prüfungen gewesen.“ Carsten lachte. „Sag nichts gegen Chemie, das ist richtig interessant!“ Öznur schnaubte. „Streber.“ Gleichgültig zuckte Carsten mit den Schultern. „Jedenfalls schreiben Laura und Benni morgen noch.“ „Oh ups, das hab ich vergessen, sorry.“ Verlegen lachte Öznur auf. Ja, sie war ziemlich neben der Spur. Ariane fragte sich, wie Öznur die Prüfungen bisher eigentlich überstehen konnte. Ihr Wahlfach Spanisch schien am Montag anscheinend relativ gut gelaufen zu sein und die Italienischprüfung letzte Woche war auch keine Katastrophe. Dafür, dass sie offensichtlich kaum etwas dafür gemacht hatte war das noch nicht mal übel. Laura zuckte mit den Schultern. „Schon gut, wir wären ja so oder so nicht mitgekommen.“ Öznur schnaubte. „Ihr seid solche Spaßbremsen.“ „Das sagt ausgerechnet diejenige, die von uns allen am meisten rummeckert.“, erwiderte Laura überraschend trocken. So langsam hatte Ariane tatsächlich den Eindruck, dass sich Laura ziemlich gut entwickelte. Ihr Selbstvertrauen war zwar immer noch unter aller Kanone, aber trotzdem wirkte sie irgendwie selbstsicherer als zuvor. Wenn sich Ariane so an die Zeit vor Lauras Geburtstag erinnerte… Oh Gott, hatte dieses Mädchen einen instabilen Charakter gehabt. Inzwischen wurde Laura das Ziel von Öznurs Gezicke. „Du schiebst doch die ganze Zeit Panik wegen den Prüfungen.“ „Das stimmt. Aber immerhin beleidige ich hier niemanden.“ Anne lachte auf. „Seit wann kannst du denn solche Konter abgeben?!“ Ariane grinste. Also hatte nicht nur sie den Eindruck, dass sich Laura verändert hatte. „Aaaaaw, Bennlèy hat anscheinend einen guten Einfluss auf dich! Wie süß!!!“, quietschte Lissi erfreut. Lauras Wangen färbten sich leicht rötlich. „…Hat er das?“ Selbst Anne nickte. „Früher hättest du sofort losgeflennt.“ Trotzig schaute Laura sie an. „Hätte ich nicht.“ „Na ja, sagen wir hättest du fast.“ Belustigt klopfte Carsten ihr auf die Schulter. Laura verschränkte die Arme vor der Brust und wich den Blicken der anderen aus, was den Großteil zum Lachen brachte. Aber tatsächlich schien Laura das Gelächter nicht mehr so zu verletzen, wie es früher der Fall war. „Was habt ihr morgen eigentlich für Prüfungen?“, erkundigte sich Janine. „Du hast Kunst, oder, Laura?“ Laura nickte. „Und du, Benni?“ „Physik.“, antwortete Benni knapp. Öznur schaute ihn schockiert an. „Physik?! Das ist ja noch schlimmer, als Chemie! Wieso machst du ausgerechnet in Physik Prüfung?!?“ „Physik hat die wenigsten Prüflinge.“ Ariane prustete los. „Was für ein Luxus, sich das Fach anhand der Anzahl der Prüflinge auszusuchen.“ Auch Carsten lachte. „Benni, wie er leibt und lebt.“ Anschließend wandte er sich an Öznur. „Um zum ursprünglichen Thema zurückzukommen: Wie wäre es, wenn du heute das Feiern mal bleiben lässt, und wir zusammen Mathe lernen?“ Öznur seufzte. „Das ist doch sowieso sinnlos.“ „Gott, du klingst genauso pessimistisch, wie Laura damals.“ Anne verdrehte die Augen. „Du kannst Mathe ja auch! Ich krieg da gar nichts hin.“, meckerte Öznur sie an. „Es wird aber nicht besser, wenn du überhaupt nichts dafür machst.“, erwiderte Carsten. „Die Prüfung ist erst in einer Woche. Wenn du dich jetzt noch reinhängst, könntest du noch die Kurve kratzen.“ Tatsächlich gab Öznur die Diskussion auf, wirkte aber nicht sehr überzeugt. Carsten konnte Öznur die kommenden Tage noch zum Lernen überzeugen, auch wenn es nicht so viel Wirkung zu zeigen schien. Auch Susanne versuchte sich daran, ihr die Themen zu erklären, doch auch ihre Art zu erklären schien bei Öznur nicht zu fruchten. Nachdem sich selbst Benni dazu bereit erklärt hatte, sein Glück zu versuchen und es nichts gebracht hatte, lagen bei Öznur am Abend vor der Mathe-Prüfung die Nerven blank. Anne versuchte, noch zu retten, was es überhaupt zu retten gab, aber es brachte einfach rein gar nichts. „Jetzt versuche doch jedenfalls, dich zu konzentrieren!“, gereizt kämpfte Anne um Selbstbeherrschung. Wie dumm konnte die bitte schön sein?! „Ich versuche es ja, aber es geht einfach nicht!“, rief Öznur verzweifelt. Anne seufzte. „Bei dir ist wirklich Hopfen und Malz verloren.“ „Du kannst einfach nicht erklären!“, maulte Öznur. „Ach ja, und Carsten, Susanne und Benedict auch nicht.“ „Ach, es ist doch scheiß egal!“ Wütend warf Öznur das Mathe Buch in die Ecke. „Wozu brauch ich diesen Scheiß später eigentlich?!“ „Jetzt komm erst mal runter.“, versuchte Anne sie zu beruhigen. „Nein, ich komm nicht runter! Jeder versucht mir das zu erklären und es bringt einfach rein gar nichts! Es ist einfach hoffnungslos! Du wirst schon sehen, ich fall morgen durch, fliege von der Schule und lande dann in der Gosse!!!“ Anne versuchte, die bei ihr angestaute Aggression runterzuschlucken. Auch, wenn sie Öznur am liebsten zurück anbrüllen würde. „Es bringt dir nichts, wenn du jetzt nur rumheulst.“ „Du hast gut reden! Bei dir ist es scheiß egal, ob du bestehst oder nicht! Du wirst sowieso den Platz deiner Mutter einnehmen, weil euch reichen Schnöseln einfach alles in den Arsch geschoben wird!“ Anne biss die Zähne zusammen. Nicht ausrasten. Nicht ausrasten. „Okay, ich geb dir noch eine Chance dich zu entschuldigen. Meine Abstammung hat nichts mit deiner Inkompetenz und Faulheit zu tun.“ „Was heißt hier faul?! Die letzte Woche habe ich nur durchgepaukt!“ „Weil du davor deinen Arsch nicht hochgekriegt und dich nur auf Partys abgeschossen hast.“ Nicht ausrasten. Bloß nicht ausrasten. „Immerhin geh ich überhaupt Feiern, während du dich andauernd nur verkriechst!“ Niiiiicht ausrasten. „Vielleicht hab ich auch einfach keinen Bock, mich von irgendwelchen dahergelaufenen Typen abschleppen zu lassen?!“ Schnippisch verschränkte Öznur die Arme vor der Brust. „Vielleicht würde dir das wenigstens helfen, mit deinem Vaterkomplex fertig zu werden.“ Anne rastete aus. Sie sprang vom Stuhl auf und trat ihn in die Ecke, sodass ein Bein abbrach. „Du Schlampe hast doch keinen Plan von dem, was du da sagst! Lebst in deiner heilen rosa Welt und flennst rum, wenn der Fingernagel abbricht! Fall doch durch in Mathe! Flieg doch von der Schule! Du passt eh viel besser in ein Bordell! Dafür hast du ja genug geübt!!!“, brüllte Anne. Auch Öznur sprang vom Stuhl auf. „Du bist-“ Anne stieß sie zur Tür. Sie spürte, wie die Energie der grünen Schlange um sie herum aufloderte. „Zisch ab! Verschwinde!!! Sonst kill ich dich wirklich noch!!!“ Mühselig richtete sich Öznur auf, als die Tür geöffnet wurde. „Was ist denn los?“, fragte Susanne besorgt. Ohne ein Wort rempelte Öznur sie zur Seite und rannte raus. „Anne, was-“ „Verpiss dich!!!“, brüllte Anne auch Susanne an und stieß sie mit ihrer Sand-Energie gegen die Wand auf der anderen Seite des Ganges. Da kamen auch die restlichen Mädchen aus ihren Zimmern. „Anne, was soll das?!?“, rief Ariane erschrocken. „Lasst mich in Ruhe!!!“, brüllte Anne. Sie konnte sich nicht beherrschen. Sie wollte sich gar nicht mehr beherrschen. Lissi half Susanne auf die Beine und warf Anne einen Todesblick zu. „Es ist besser, du gehst jetzt.“ Anne knirschte mit den Zähnen. Sie wollte Lissi gerade den Kopf abreißen. Sie wollte jedem gerade den Kopf abreißen. Doch ein Blick in die warnenden Augen der anderen Mädchen verriet ihr, dass sie es besser bleiben lassen sollte. „Ich hab eh keinen Bock auf euch.“, wütend machte sie auf dem Absatz kehrt und ging Richtung Ausgang des Wohnheims. Irritiert schaute Carsten auf seine Armbanduhr. Es war nun schon viertel nach sieben und die Mädchen waren immer noch nicht beim Abendessen erschienen. „Ob was passiert ist?“, fragte er Benni auf Indigonisch. „Das kannst du sie selbst fragen.“, antwortete er. Kurz darauf kamen die Mädchen tatsächlich zu ihnen an den Tisch. Besorgt bemerkte Carsten, dass ihre Gesichtsausdrücke nichts Gutes verrieten. „Ist alles in Ordnung? Und wo sind Anne und Öznur?“ Ariane seufzte. „Um ehrlich zu sein, keine Ahnung.“ „Auf einmal kam aus deren Zimmer ein lautes Poltern und die zwei haben sich total angebrüllt.“, erklärte Lissi, „Als Susi nachschauen wollte was los ist, rannte Özi an ihr vorbei und Anne stieß Susi gegen die Wand. Danach verschwand auch sie.“ Carsten warf einen Blick auf Susanne. „Geht’s dir gut?“ Susanne nickte. „So schlimm war es nicht.“ „So schlimm war es nicht?!? Susi!!! Anne hat dich gegen die Wand gestoßen! Da gibt’s kein ‚so schlimm war es nicht‘!“, rief Lissi aufgebracht. „Aber warum ist sie nur so wütend gewesen?“, fragte Janine, eher sich selbst als den Rest. Die Gruppe warf sich fragende Blicke zu, bis sie erkannten, dass niemand eine Ahnung hatte. „Irgendwie habe ich das Gefühl, es hat was mit der Mathe-Prüfung morgen zu tun.“, überlegte Carsten. „Aber das ist noch lange kein Grund, so gewalttätig zu werden.“, bemerkte Ariane kopfschüttelnd. Janine seufzte. „Wir sollten erst einmal abwarten und hoffen, dass sich das von selbst löst.“ „Besser ist das.“, stimmte Susanne ihr zu. „Anne ist gerade viel zu aufgewühlt, als dass man sich ruhig mit ihr unterhalten könne und wo Öznur hin ist, wissen wir auch nicht. Wir können nur hoffen, dass sich das noch alles ergibt.“ Nach dem Abendessen teilten sie sich wieder in kleinere Gruppen auf. Laura und Benni gingen spazieren, auch wenn Lissi sich nicht mit ihren Andeutungen zurückhalten konnte. Carsten hatte Sanitätsdienst und Susanne, Lissi, Janine und Ariane gingen lernen. Kurz vor der Sperrstunde um zehn Uhr kamen alle noch einmal zusammen. Anne war immer noch nicht zurück und auch von Öznur schien jede Spur zu fehlen. Ariane seufzte. „Toll. Und was machen wir jetzt?“ „Anne ist laut Benni beim Trainingsplatz. Aber wo Öznur ist, weiß er auch nicht.“, erklärte Carsten. „Dann wäre es vielleicht wirklich besser, wenn wir Anne fragen was nun zwischen den beiden vorgefallen ist und ob sie weiß, wo Öznur hin ist.“, überlegte Susanne. Lissi runzelte die Stirn. „Müssen wir das wirklich? Ich bezweifle, dass Banani gerne mit sich reden lässt und sooo selten kommt es jetzt auch nun wieder nicht vor, dass Özi-dösi nach der Sperrstunde immer noch unterwegs ist.“ „Aber am Abend vor einer wichtigen Prüfung?“ Susanne schüttelte den Kopf. „Das würde selbst Öznur nicht machen.“ Ariane nickte. „Sogar Lissi ist vor den Prüfungen nie unterwegs.“ Nachdenklich gab Lissi ihr recht. „Stimmt schon, etwas seltsam ist es.“ „Denkst du, du kannst mit ihr reden, Carsten?“, erkundigte sich Janine. „Dir vertraut sie und du kannst dich auch ganz gut zur Wehr setzen, falls Anne wirklich noch zu aggressiv ist.“ „Ich kann es versuchen.“ Gemeinsam mit Laura und Benni ging er noch einmal zur Mensa und packte für Anne zwei belegte Brötchen ein, falls diese hungrig war. Hungrig konnte man sehr leicht sehr aggressiv werden, also ließ sie sich vielleicht damit etwas zähmen. „Sicher, dass ich nicht mitkommen soll?“, erkundigte sich Benni überraschend fürsorglich. Carsten lachte auf. „Ach was. Ich habe Jacks Wutausbruch überlebt. Da werde ich wohl auch Annes überleben können.“ „Ich weiß nicht, wer gefährlicher ist.“, kommentierte Benni sarkastisch. Laura kicherte. „Wir können ja in der Nähe bleiben.“ Also machte sich Carsten auf zum Trainingsplatz und beobachtete amüsiert, wie Laura und Benni in Richtung des westlichen Waldes gingen, um für den Notfall da zu sein, falls sich Anne doch nicht beruhigt hatte. Carsten fand Anne bei den Sandsäcken, wo sie ziemlich aggressiv und alles andere als taktisch auf einen davon einschlug. „Wie geht es dir?“, erkundigte sich Carsten vorsichtig. Anne hielt in ihrem Schlagschauer inne und warf ihm zischend einen Blick zu. Carsten fühlte sich, wie als würde eine Schlange ihn für ihre nächste Mahlzeit auswählen. Besonders, da Annes sonst dunkelblaue Augen einen grünlichen Schimmer hatten und sich ihre Pupillen zu dämonischen Schlitzen verengt hatten. „Was willst du?!“, zischte sie. Carsten hielt die belegten Brötchen hoch. „Nicht aufgefressen werden, jedenfalls.“ „Lass den Scheiß!“, schrie Anne ihn an und innerhalb eines Wimpernschlags stand sie dicht vor ihm. „Besser du gehst jetzt.“ Von Annes bedrohlichem Blick nicht sonderlich eingeschüchtert schüttelte Carsten den Kopf. „Was habe ich dir denn getan?“ Er drückte Anne eines der Brötchen in die Hand und setzte sich auf eine Bank. Anne war ihm nicht gefolgt, sondern warf ihm immer noch ihren aggressiven Schlangen-Blick zu. Nach einer Weile deutete Carsten Anne an, sich neben ihn zu setzen. Und tatsächlich stapfte sie zu ihm rüber, setzte sich hin und biss einen großen Bissen von dem Brötchen ab. Einige Bissen später schien sie sich wirklich etwas beruhigt zu haben. „Wie geht es dir?“, fragte Carsten erneut. Anne seufzte, immer noch gereizt. „Scheiße. Sieht man das nicht?“ „Doch. Deutlicher, als mir lieb ist sogar.“ Sie warf ihm einen kritischen Blick zu. „Also? Was willst du?“ Carsten reichte Anne das zweite Brötchen, da sie das erste bereits verschlungen hatte. „Du kannst es dir wahrscheinlich schon denken.“, meinte er. „Lass mich damit einfach in Ruhe!“, schrie Anne, wieder wütender. „Würde ich ja gerne.“ Carsten warf ihr einen ernsten Blick zu. „Aber was auch immer zwischen dir und Öznur vorgefallen ist, es ist schon Sperrstunde und Öznur ist immer noch nicht zurückgekommen. Und wir können sie auch nirgends auf dem Schulgelände finden.“ Gleichgültig zuckte Anne mit den Schultern. „Na und? So häufig wie die Feiern ist, ist das doch kein Grund zur Sorge.“ „Nein, da hast du Recht. Aber dem zufolge, was die Mädchen erzählt haben, war euer Streit der Grund, warum sie überhaupt verschwunden ist. Und das ist schon ein Grund zur Sorge.“ „Was weiß ich wo sie ist!“, schrie Anne. „Und es juckt mich auch kein bisschen.“ „Es juckt dich nicht? Anne, ihr seid Freundinnen.“ Anne seufzte. „Den Eindruck habe ich irgendwie nicht.“ Da Anne nun eher verletzt als wütend wirkte, legte Carsten vorsichtig eine Hand auf ihre Schulter. „Was ist denn passiert?“ Zähneknirschend schien sich Anne geschlagen zu geben. Sie lehnte sich gegen Wand und starrte auf den Boxsack, dem sie vor kurzem noch die Hölle heiß gemacht hatte. „Wir haben gelernt. Also ich habe versucht, ihr noch irgendwie Mathe zu erklären. Aber keine Chance. Öznur ist einfach viel zu dumm um das zu verstehen. Und da haben wir uns halt in die Haare gekriegt.“ „Du hast deinen Stuhl in die Ecke gefeuert, ihr Morddrohungen gemacht und außerdem auch noch deine Wut an Susanne ausgelassen. Geschweige denn von diesen Sportgeräten hier.“ Carsten deutete auf den Boxsack. „Du lässt dich zwar leicht provozieren, aber das ist selbst für dich keine Reaktion auf ‚in die Haare kriegen‘.“ „Was kann ich dafür, dass Öznur auf einmal behauptet, vielleicht würde es mir helfen mit meinem Vaterkomplex fertig zu werden, wenn ich mich von allen möglichen Typen abschleppen lasse?!?“ Irritiert runzelte Carsten die Stirn. „Das hat sie gesagt?“ Zerknirscht nickte Anne. „Sie hat die ganze Zeit nur rumgeflennt von wegen sie packt die Prüfung morgen nicht und fliegt von der Schule und so weiter. Ich hab versucht sie zu beruhigen aber sie hat andauernd weiter geheult.“ Carsten seufzte. Er wusste nicht genau, warum Öznur so etwas zu Anne gesagt hatte und wie Anne sie versucht hatte zu beruhigen, dass so etwas überhaupt zustande gekommen war. Aber schon alleine, dass Öznur in ihrer Wut Annes wunden Punkt ausgenutzt hatte… Natürlich passierte so etwas leicht, wenn man in Rage war. Carsten konnte davon ein Lied singen. Man musste sich nur an seine Art Streit mit Benni erinnern, der lediglich durch ein Missverständnis zustande gekommen war. Auch er hatte damals Bennis wunden Punkt getroffen. Und selbst wenn eigentlich alles wieder beim Alten war belastete es Carsten immer noch. So sehr, dass er Benni vor einigen Wochen sogar erneut darauf angesprochen hatte und immer wieder beteuert hatte, wie leid es ihm tat. Benni hatte einfach nur mit dem Kopf geschüttelt und gemeint, dass es längst vergessen sei. Doch das schlechte Gewissen blieb immer noch an Carsten haften. Und als er letztens durch Jacks Angriff so stark verletzt und dem Tod nahe war, hatte er auch noch Laura verbal angegriffen! Als hätte er aus dem Ereignis zuvor nichts gelernt gehabt! Carsten ballte eine Hand zur Faust. Laura hatte er seitdem nicht mehr darauf angesprochen und sie verhielt sich ihm gegenüber auch wie gewohnt, als hätte sie es ihm tatsächlich schon verziehen. Aber auch hier blieb das schlechte Gewissen zurück. Nun hatte Carsten die Sorge, dass sich Öznur und Anne in einer ähnlichen Situation befanden. Jedoch schien Anne viel nachtragender als Benni oder Laura und Öznur viel uneinsichtiger als Carsten. Ob die beiden jemals wieder so gut miteinander auskommen konnten, wie all die Zeit zuvor? Betrübt beobachtete Carsten Anne, wie sie den Kopf in den Nacken gelegt hatte und einfach nur noch müde aussah. Ihre Aggression schien verschwunden zu sein und wenn man daran dachte, dass dies drei Stunden gedauert hatte, wurde es auch so langsam mal Zeit. „Und jetzt?“, fragte sie matt. „Irgendwie sollten wir uns auf die Suche nach Öznur machen. Jeder wird anders mit seinem Frust fertig und irgendwie befürchte ich, dass sich Öznur nicht dadurch abreagiert, indem sie einen Boxsack verprügelt.“ „Nein, sie würde sich wahrscheinlich eher in einer Disco volllaufen lassen.“ Carsten nickte besorgt. „Und deshalb sollten wir uns auf die Suche nach ihr machen.“ Genervt stöhnte Anne auf. „Ich weiß, ich sollte mich zusammenreißen und helfen. Aber mir wäre es gerade lieber, sie käme überhaupt nicht mehr zurück.“ „Ich kann es dir nicht verübeln…“ Carsten schüttelte den Kopf. Ob Benni damals dasselbe gedacht hatte? „Aber wir können uns ja trotzdem auf die Suche nach Öznur machen.“ Plötzlich stand Susanne in der Tür zum Trainingsraum und hinter ihr die restlichen Mädchen. Vorwurfsvoll funkelte Anne sie an. „Ihr habt gelauscht?“ „Wir haben uns Sorgen gemacht.“ Susannes Antwort schien eher eine Rechtfertigung zu sein. Lissi verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber nachdem, was du Susi angetan hast, haben wir lieber einen starken jungen Mann vorgeschickt.“ Anne schnaubte. „Ich seh‘ Benni hier aber nirgends.“ Carsten verdrehte die Augen. „Jedenfalls kommt dein Sinn für Humor wieder zurück.“ „Bennlèy hat garantiert jetzt eine heiße Nacht mit Lauch.“, sinnierte Lissi. Ariane seufzte. „Und du verlierst deinen Sinn für Humor anscheinend nie. Also? Was ist der Plan?“ „Öznur finden, hoffen dass sie nicht zu viel getrunken hat, beruhigen und wieder hierherbringen.“, meinte Carsten. „Was für ein Plan.“ Anne klang immer noch leicht schnippisch, aber inzwischen wirkte es wieder wie ihre normale Art. „Und wie wollen wir das anstellen?“, fragte Lissi. „Für das Finden bist du zuständig.“ Irritiert runzelte Lissi die Stirn. „Ich?“ „Du.“ Carsten nickte. „Durch deine Dämonenform dürfte sich dein Geruchsinn stark gebessert haben. Du könntest also mithilfe von Öznurs Parfüm ihre Fährte aufnehmen und verfolgen. Außerdem kennst du die Diskotheken in Jatusa, weshalb du besser dafür geeignet bist, als zum Beispiel Ariane.“ Anne lachte auf. „Also ist Lissi der Spürhund?“ Lissi streckte ihr die Zunge raus, ging aber zum Glück nicht weiter darauf ein. Auch sie wusste, dass man Anne im Moment lieber nicht zu sehr provozieren sollte. „Und nachdem ich Özi-dösi gefunden habe?“, fragte sie stattdessen. „Wer ist dafür zuständig zu hoffen, dass sie nicht zu viel getrunken hat?“ Carsten lachte auf. „Im Idealfall jeder von uns. Die Preisfrage ist, wer sie beruhigen sollte.“ „Das stimmt. Ich bezweifle, dass sie auf jemanden von uns gerade gut zu sprechen ist.“ Nachdenklich nickte Susanne. „Wahrscheinlich steigert sie sich so sehr in die Situation rein, dass sie letztlich denkt wir alle hätten etwas gegen sie, da wir nie mit ihr Feiern gehen wollten.“ Ariane runzelte die Stirn. „Würde sie das wirklich denken?“ „Nachdem, wie sie sich vorhin reingesteigert hat, wäre das nicht überraschend.“, meinte Anne zerknirscht. „Also würde sie das denken.“ Ariane seufzte. „Toll. Und jetzt? Schicken wir Benni los, dass er sie mit Gewalt zurückbringt?“ „Willst du ihn und Lauch wirklich in ihrer heißen Nacht stören?“ Ariane verdrehte die Augen. „Lissi! Da gibt es keine heiße Nacht!“ „Bist du dir da so sicher?“ „Du-“ Kopfschüttelnd ließ Ariane es bleiben. „Das war eh nur ein Gedankenspiel. Aber trotzdem. Wer von uns könnte Öznur beruhigen, wenn sie denkt, wir alle hätten uns gegen sie verschworen?“ „Eagle?“, schlug Janine vor. „Öznur scheint ihn ziemlich zu mögen und hat bei ihm wahrscheinlich auch am meisten Verständnis dafür, dass er nicht immer mit ihr Feiern gegangen ist. Ihn würde sie also am ehesten noch an sich heranlassen. Und wenn selbst das nichts hilft, könnte er sie wirklich mit Gewalt zurückbringen.“ Fragend schaute Susanne Carsten an. „Denkst du, er würde uns helfen?“ „Fragen kostet jedenfalls nichts.“ Carsten holte sein Handy aus der Hosentasche und rief Eagle an. Wie eigentlich schon erwartet, erklärte sich Eagle sofort bereit zu helfen und stellte auch keine großen Nachfragen, wie es überhaupt zu dem Streit zwischen Öznur und Anne gekommen war. Also teleportierte sich Carsten nach Indigo, um ihn abzuholen. Außerhalb der Magiebarriere von der Coeur-Academy trafen sich alle wieder. „Nun gut, also wir gehen wie folgt vor. Ich teleportiere mich nun mit Eagle und Lissi nach Jatusa. Nachdem Lissi Öznur gefunden hat komme ich mit Lissi zurück und überlasse dir den Rest, Eagle. Anschließend kannst du mir Bescheid sagen und ich hole euch ab oder du bringst sie selbst hierher zurück.“, erklärte Carsten und fühlte sich schon so, als würde er den Plan für die kommende Schlacht erläutern. Wenn man daran dachte, was eventuell noch mit Mars auf sie zukommen würde und auch, was sie wegen Mars schon alles hatten durchmachen müssen, kam ihm dieses Problem hier gerade ganz schön kindisch vor. Eagle nickte. „Und ich versuche also irgendwie sie zu beruhigen.“ „Wofür du auch gerne deinen männlichen Charme einsetzen kannst.“ Lissi zwinkerte ihm zu. Carsten seufzte. Ja, im Vergleich zu der Sache mit Mars kam ihm das wirklich sehr kindisch vor. Aber man konnte es nicht ändern. Also teleportierte er sich mit Lissi und Eagle nach Jatusa. Eagle und Carsten folgten Lissi einige Straßen entlang, bis sie schließlich vor einem Club Halt machte. „Da drin müsste Özi-dösi sein.“, meinte das kleine Mädchen mit den Zöpfchen und den großen Brüsten. Eagle streckte sich. „Dann mal an die Arbeit.“ „Viel Glück.“, wünschte Carsten ihm und teleportierte sich und Lissi zurück zur Coeur-Academy. Ohne Ausweiskontrolle ließen die Türsteher Eagle in den Club, obwohl er eigentlich erst in drei Monaten 18 wurde. Und selbst dann galt man in einigen Regionen Damons noch nicht als volljährig. Und Öznur war gerade mal 16 und bekam eben gerade wahrscheinlich mehr und stärkeren Alkohol, als sie dürfte und vertragen würde. Kopfschüttelnd schaute sich Eagle in dem eigentlich dämmrigen Raum um, der ständig von verschiedenfarbigen Lichtern schlagartig erleuchtet wurde. Die Tanzfläche war voll von sich im Takt der dröhnenden Musik räkelnden Gestalten. An Tischen standen oder saßen Leute und kippten einen Shot nach dem anderen in sich. Eagle verzog das Gesicht. Nüchtern war es kaum auszuhalten. Eigentlich ging er gerne in Clubs und dem Trinken war er auch nicht abgeneigt, aber das hier wirkte eher wie eine heruntergekommene Bruchbude in der mit Drogen gehandelt wurde. Der in der Luft liegende Rauch erschwerte ihm immens die Sicht, jedoch hatte er Öznur trotzdem sehr bald finden können. Sie stand ebenfalls auf der Tanzfläche, eng an irgendeinen Typen gepresst und tanzte mit ihm oder was auch immer das sonst sein sollte. Denn so wie der Typ an Öznur rumfummelte sah es nicht wirklich nach tanzen aus, sondern eher, als würde er sie gleich flachlegen wollen. Seufzend schüttelte Eagle den Kopf. Er verstand durchaus, warum er in der aktuellen Situation am besten dazu geeignet war, Öznur wieder zur Besinnung zu bringen. Aber nervig war es trotzdem. Dafür schulden die mir was, dachte er sich wenig begeistert und ging auf die Tanzfläche und Öznur mit dem Grapscher-Typen zu. Dieser schaute Eagle kritisch an, als er ihn bemerkte. „Was willst du, Alter?“ Nun drehte sich auch Öznur zu Eagle um. „Heeeeey, Eagle!!! Was machs‘ du’n hier?“ Dich vor einer großen Dummheit bewahren, so besoffen wie du anscheinend bist. Eagle zwang sich ein Lächeln auf. „Ach weißt du, ich hatte einfach mal Lust darauf in Jatusa Feiern zu gehen.“ Zum Glück, oder eher trauriger Weise, fand Öznur es kein bisschen verdächtig, dass Eagle spontan mal von Indigo nach Cor kam, um alleine Feiern zu gehen und sich dafür auch noch genau dieses Drogenkartell auszusuchen. „Na was für’n Zufall!“ Eagle deutete auf eine der Sitzecken. „Darf ich dich auf einen Drink einladen?“ Auch wenn Öznur offensichtlich schon mehr als genug getrunken hatte. Aber Hauptsache er bekam sie erstmal runter von dieser Tanzfläche und weg von diesem Typen. „Alter, die Braut gehört zu mir.“, meldete sich dieser Typ zu Wort und klang auch so, als hätte er schon in paar Drinks intus. Doch Öznur beachtete ihn nicht weiter. „Aber gerne doch!“ Eagle legte einen Arm um Öznur, um sie von dem Typen abzuschirmen und gleichzeitig aufzupassen, dass sie nicht gleich auf die Nase flog, so wie sie schon am Wanken war. „Ey Mann, Finger weg von meinem Babe!“ Eagle warf ihm einen leicht bedrohlichen Blick über die Schulter zu. „Sie ist nicht dein Babe.“ Als der Typ zurückstolperte und panisch Reißaus nahm stellte Eagle fest, dass er wohl doch etwas zu bedrohlich war. Als er Öznur endlich zu den Sitzecken manövriert und ihr einen -alkoholfreien- Cocktail und sich selbst ein Bier gekauft hatte, versuchte er sie direkt, wenn auch vorsichtig, zum Reden zu bringen. „Was machst du eigentlich hier? Ich dachte, ihr habt morgen eine Prüfung.“ Öznur winkte ab. „Na un‘? Ich will mir von den ollen Prüfungen doch nich‘ vorschreiben lassen wie ich meine Freizeit verbring.“ „Aber am Abend zuvor Party machen ist schon mutig. Kannst du den Stoff so gut, dass du selbst verkatert die Prüfung absolvieren kannst? Meinen Respekt. Ich hab das einmal gebracht und dann nie wieder.“ „Ey, komm mir nich‘ mit der scheeeeiß Prüfung!“, rief sie, nun etwas aufgebrachter. Eagle hob die Hände. „Okay, sorry. Schlechtes Thema. Verstanden.“ Öznur lehnte sich gegen ihn und linste zu ihm hoch. „Sach mir lieber, was du hier willst. Aaaaw, wolltes du mich vorm Ronny beschützn? So ein edler Ritter bis du!“ Eagle war sich nicht sicher, ob das nun Sarkasmus oder ernst gemeint war. „Dir schien seine Fummelei nichts ausgemacht zu haben.“ Öznur kicherte. „Hihi, so isser halt.“ Sie pikste ihm in die Brust. „Eifersüchtich?“ Eagle seufzte. „Eher besorgt. Wie viel hast du denn schon getrunken, Özi?“ Öznur legte den Zeigefinger an die Lippen und überlegte, zuckte aber schließlich mit den Schultern. „Keine Ahnung. Is‘ mir aber auch egaaal.“ „Merk ich.“ Verträumt, oder eher einfach nur betrunken, spielte Öznur mit einer Strähne von Eagles langen, schwarzen Haaren. „Un’nu? Möchtes du mich gefügich mach’n? Du kleiner Casanova!“ Eagle schaute auf sein Bier. Es hatte viel zu wenig Alkohol für diese komische Situation. „Wenn ich an dieses Schauspiel von vorhin denke bist du gefügiger als es mir lieb ist. Denkst du ernsthaft, ich würde das ausnutzen wollen?“ Vielleicht als Vorwand, um sie zur Akademie zurückbringen zu können? So abwegig war der Gedanke noch nicht mal. Lieber das, als Gewalt anwenden zu müssen. „Wills du mich denn nich‘?“ Öznur klang leicht enttäuscht. Ernsthaft, wie viel hat die getrunken?, fragte sich Eagle. Er seufzte. „Nicht in diesem Zustand. Du kannst gerne darauf zurückkommen, wenn du wieder nüchtern bist.“ Herausfordernd schaute Öznur ihn an. „Also wills du mich doch.“ Einen Moment lang erwiderte Eagle ihren Blick und betrachtete sie. Er hatte sich schon sehr oft gedacht, dass Öznur sehr hübsch und verdammt heiß war. Und von ihrem abgedrehten Verhalten jetzt während der Prüfungsphase mal abgesehen war sie eigentlich auch sehr freundlich und witzig und hatte insgesamt einen tollen Charakter. Von ihrem Temperament ganz zu schweigen. Verdammt noch mal, Eagle liebte ihr Temperament. Sie war zu Recht die Besitzerin des Roten Fuchses, des Herrschers des Feuers. Doch so besoffen und neben der Spur, wie sie gerade war… Eagles Mund verformte sich zu einem schiefen Lächeln. „Schlaf deinen Rausch aus und dann können wir dieses Gespräch gerne fortführen.“ Öznur grinste ihn an. „Okay.“ Letztlich war es gar nicht so schwer sie zum Gehen zu bewegen. Wobei Eagle Carsten nur per SMS informierte, dass er selbst Öznur zur Akademie brachte. Noch war die Sache mit Anne nicht geklärt und Eagle wusste auch nicht, ob es Öznur gefallen würde, wenn Carsten auf einmal abholbereit vor dem Club wartete. Die Hauptsache war erstmal sie zurückzubringen. Vorort würde sie dann sowieso nicht mehr so einfach abhauen können. Da konnte man dann den Rest regeln. Wie schon damals, als er Laura nach ihrem Anfall durch das Karystma zur Coeur-Academy zurückgeflogen hatte, öffneten Susanne, Lissi und Janine ihr Zimmerfenster das auf der Waldseite lag, sodass Eagle sich selbst und Öznur unbemerkt hineinschleusen konnte. „Wie geht es ihr?“, erkundigte sich Susanne besorgt. Eagle zuckte mit den Schultern. „Betrunken bis zum geht nicht mehr und auf dem Weg hierher eingeschlafen.“ Laura seufzte. „Na das kann ja morgen was werden.“ „Und was machen wir jetzt mit der?“ Anne verschränkte die Arme vor der Brust. „Wehe die kotzt in meinem Zimmer herum.“ Susanne legte eine Hand auf Annes Schulter. „Keine Sorge, wir behalten Öznur hier.“ Janine nickte. „Wir haben uns schon gedacht, dass du Öznur sowieso erstmal aus dem Weg gehen möchtest. Sie kann in meinem Bett schlafen und ich würde bei dir im Zimmer übernachten, wenn das in Ordnung ist.“ „Danke.“ Anne klang ziemlich erleichtert. Seufzend schüttelte Eagle den Kopf. Er wusste von Carsten, dass Öznur in deren Zickenkrieg anscheinend das Tabu gebrochen hatte und er konnte es Anne nicht übelnehmen, daraufhin so ausgerastet zu sein. Aber trotzdem. Es war so albern. Eagle setzte sich auf die Fensterbank des immer noch geöffneten Fensters und holte seine Zigarettenpackung raus. „Darf ich?“ Susanne nickte. „Du hast uns gerade so geholfen, da können wir dir nicht verbieten zu rauchen.“ Eagle musste lächeln, als er sich seine Zigarette anzündete. „Ihr seid zu nett.“ Seufzend ging Anne zu ihm rüber und streckte die Hand aus. „Dann schneid dir eine Scheibe dieser Nettigkeit ab und gib mir auch eine.“ Irritiert runzelte Eagle die Stirn. „Du rauchst, Anne?!“, fragte Ariane schockiert. Anne zuckte mit den Schultern. „Eigentlich nicht mehr, aber bei dem was heute so los war brauch ich einfach eine.“ Eagle gab ihr eine Zigarette und sein Feuerzeug. „Verpetz mich aber nicht.“ Anne nahm einen tiefen Zug. „Du darfst doch auch noch nicht rauchen.“ „Ich bin Indigoner, im Prinzip ist es Teil unserer Kultur. Jedenfalls ist es bei uns schon ab 16 erlaubt.“ Lissi kicherte. „Also dürfte Banani noch nicht einmal in Indigo rauchen. Und so was wird mal Herrscherin über Dessert? Schäm dich.“ Sie zwinkerte Anne zu. „Was, du bist noch 15?“, fragte Eagle verwirrt. Er hatte gedacht, Anne sei ein paar Monate älter als Laura. „Ninie und ich auch noch.“, meldete sich Ariane zu Wort. „Na und?“ Lissi lachte auf. „Aber ihr beiden habt immerhin bald Geburtstag. Bei Banani dauert es noch etwa ein halbes Jahr.“ Nun lachte auch Eagle. „Echt? Du bist die jüngste der Mädchen?“ „Ich hab meinen Abschluss halt ein Jahr früher gemacht.“ Schnaubend verdrehte Anne die Augen. Eine Weile noch chillte Eagle bei den Mädchen und quatschte mit ihnen, bis er sich schließlich auf den Heimweg machte. Susanne und Janine hatten ihm zwar vorgeschlagen ihn wieder nach Indigo zurück zu teleportieren und auch Carsten hatte sich angeboten, wobei er wegen der Sperrstunde nicht mehr im Mädchenwohnheim war, aber es war eine so angenehm warme Sommernacht, dass Eagle richtig Lust auf einen netten Rundflug hatte. Janine schaute von ihrem Mittagessen auf, als sich Öznur in einer Wolke der Verzweiflung auf den Platz neben sie setzte. „Alles in Ordnung mit dir? Du siehst fast genauso schlimm aus wie vor der Mathe Prüfung letzte Woche.“, bemerkte Ariane. Öznur seufzte. „Ich hab so Schiss vor den Ergebnissen von Mathe und heute sollen die ja kommen.“ „Bist selbst schuld dran.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Du musstest dich ja am Abend zuvor abschießen.“ „Ach halt doch die Fresse!“ „Mädels, nicht schon wieder.“ Carsten seufzte. Auch Janine seufzte. Seitdem Anne und Öznur diese Auseinandersetzung hatten kamen sie überhaupt nicht mehr miteinander klar. Es war sogar so schlimm, dass Öznur das Zimmer hatte verlassen müssen. Jetzt wohnte sie bei den Zwillingen und Janine war zu Anne gezogen. Öznur schnaubte. „Ihr Cracks könnt mich einfach nicht verstehen.“ „Aber selbst wenn Mathe nicht so gut gelaufen ist, könntest du es doch mit deinen anderen Fächern ausgleichen.“ Susi ignorierte ihren leicht bissigen Kommentar. „Ja schon, aber ich brauche trotzdem einen Notenpunkt.“ Seufzend senkte Öznur den Kopf. „Und selbst das krieg ich wahrscheinlich noch nicht mal hin.“ „Wie gesagt, selbst schuld.“ „Anne, du bist echt eine Bitch!“ Wütend funkelte Öznur sie an. „Aber Damisch heute lief doch ganz gut, oder?“, erkundigte sich Susi und versuchte irgendwie ein normales Gespräch ohne Schimpfworte zustande zu bringen. „Ja aber die Noten zum Ausgleichen hab ich ja schon! Es geht mir nur noch darum, nicht mehr in eine Nachprüfung zu müssen!“ „Verdient hättest du es aber.“ Carsten seufzte. „Bitte Anne, lass diese Kommentare doch endlich. Du musst sie ja nicht auch noch anstacheln.“ Die Arme vor der Brust verschränkend lehnte sich Anne in ihrem Stuhl zurück, sagte aber immerhin nichts mehr. Ariane schlug mit der Hand auf den Tisch. „Aber ehrlich, eure Zickereien können wir erst recht heute gar nicht vertragen!“ Janine ahnte schon, was jetzt kam. Ariane fiel ihr um den Hals. „Alles Gute zum Geburtstag, Ninie!!!“ „D-Danke schön.“ Auch der Rest gratulierte ihr, als letzte Susanne, die Janine ein in Geschenkpapier eingepacktes Päckchen reichte. „Das ist von uns allen zusammen.“ Janine öffnete es und zum Vorschein kam ein Paket mit viel Wolle und einem Buch mit Strickmustern. Begeistert öffnete Janine das Buch und schaute sich die verschiedenen Muster an. „V-vielen Dank!“ Ariane grinste. „Susi hat uns erzählt, dass du mega gerne strickst, es dir aber immer an Wolle mangelt. Wobei ich schon hoffe, dass eine Mütze für uns bei rausspringt. Ich liiiiebe Strickmützen!“ Janine kicherte. „Das lässt sich einrichten.“ „Jetzt müssen wir noch singen!“, rief Lissi begeistert. Anne verzog das Gesicht. „Wehe.“ Auch Janine schüttelte den Kopf. „Bitte nicht, es ist mir immer so unangenehm, wenn die Leute für mich singen. Ich weiß dann nie, was ich machen soll.“ „Ich glaube das geht fast jedem so.“ Laura lachte auf. Lissi seufzte. „Ach kommt schon.“ „Nein. Vergiss es.“ Anne warf ihr einen leicht bedrohlichen Blick zu. „Naaaaa guuuut.“ Lissi formte ihre Lippen zu einem Schmollmund. „Aber eine Party schmeißen wir trotzdem noch, oder?“ „Bitte Lissi, ich möchte nicht feiern…“ „Natürlich möchtest du!“ Lissi schaute Janine eindringlich an. „Du wirst 16, Ninie! Sweet Sixteen! Das muss gefeiert werden!“ „Aber es sind doch noch Prüfungen und-“ „Die sind doch für diese Woche schon rum für uns alle! Ach komm schon, Ninie!“ Janine konnte nicht wirklich nachvollziehen, warum Lissi so unbedingt ihren Geburtstag feiern wollte. Andererseits war es Lissi. „Na ja, hatte Florian uns nicht sowieso auf diese Festwoche in Ivory eingeladen?“, überlegte Susi, anscheinend einen Kompromiss suchend. „So wie ich ihn verstanden habe, wird die Prinzessin von Ivory heute volljährig und deswegen finden die ganze Woche über Feierlichkeiten in Elfin statt.“ Anne hob eine Augenbraue. „Die Feiern eine ganze Woche lang ihren Geburtstag? Die Region muss ja Kohle bis zum Abwinken haben.“ Begeistert klatschte Lissi in die Hände. „Oh ja, Elfin ist so wunderschön! Und ich wollte schon immer so ein traditionelles Elben-Fest sehen!“ „Ich auch!“, rief Laura begeistert. „Ich stelle mir das immer so vor wie die Mittelaltermärkte in den anderen Regionen.“ „Und so feiern wir nicht direkt deinen Geburtstag, Ninie. So wie bei Carsten damals bei dem Jatusaner-Markt.“, meinte Ariane. Janine lachte beschämt auf. „Das Fest würde ich auf jeden Fall auch gerne sehen.“ Fragend schaute Carsten Benni an. „Florian hat uns ja eingeladen. Denkst du, du kannst uns spontan für heute bei ihm ankündigen?“ Benni nickte. „Müssen wir irgendetwas berücksichtigen, wenn wir auf dieses Fest gehen?“, erkundigte sich Susi bei ihm. „Immerhin ist es ein internes Fest. Ich bezweifle, dass Leute aus anderen Regionen so gerne gesehen sind.“ „Das nicht, der Großteil weiß nur nichts von der Existenz dieser Feste in Ivory.“, meinte Benni nur. „Jedoch sollte man trotzdem entsprechend gekleidet sein, aber darum kümmert sich Florian sicher.“ „Warst du schon mal auf so einem Fest?“, erkundigte sich Laura. Benni nickte. „Mehrmals.“ Laura seufzte. „Natürlich nimmst du mich nie mit.“ „Du hast nie gefragt.“ Benni stupste Laura mit Zeige- und Mittelfinger gegen die Stirn. „Du hast mir nie davon erzählt.“, erwiderte Laura schmollend. Nach dem Essen kündigte Benni die Gruppe bei Florian an und da aufgrund der Prüfungen viel Unterricht ausfiel, konnten sie sich schon am frühen Nachmittag mit Carstens Hilfe nach Ivory teleportieren. Vor Elfins Mauern wurden sie von Florian erwartet. „Schön, dass ihr es doch noch gepackt habt, zu kommen!“, rief er freudig als Begrüßung. Eagle winkte ihnen zu. „So sieht man sich wieder.“ „Schön, dass du auch kommen konntest.“, grüßte Carsten ihn. Janine lachte in sich hinein. Es tat gut zu sehen, wie die Brüder inzwischen besser miteinander auskamen. Besonders für Carsten freute sie sich. Er muss es wirklich schwer gehabt haben all die Zeit. „Wo ist Öznur?“, fragte Eagle, als er merkte, dass eine von ihnen fehlte. Carsten seufzte. „Sie hat vorhin erfahren, dass sie in Mathe Null Punkte hat und die Prüfung nachholen muss. Deswegen ist sie nun ziemlich schlecht drauf und wir konnten sie nicht zum Mitkommen überreden.“ Schnaubend verschränkte Anne die Arme vor der Brust. „Mal wieder typisch. Nervt die ganze Zeit während der Prüfungsphase herum von wegen Feiern gehen und was gemeinsam unternehmen und jetzt, wo wir mal Luft haben und etwas gemeinsam unternehmen wollen, kommt sie nicht mit.“ Lissi zuckte mit den Schultern. „Besser so, als jetzt hier bei uns die ganze Zeit Trübsal zu blasen und die Stimmung zu vermiesen.“ „Sie tut mir trotzdem leid. Niemand geht gerne in eine Nachprüfung.“ „Janine, du bist zu gutmütig.“ Anne schüttelte den Kopf. „Sie ist selbst dran schuld.“ „Lassen wir das Thema zumindest für heute einmal bleiben.“, schlug Carsten vor, „Wir sollten uns freuen, dass die meisten Prüfungen schon rum sind.“ „Was fehlt denn noch?“, fragte Eagle. Ariane winkte ab. „Nur noch Kampfkunst beziehungsweise Magielehre nächste Woche Samstag. Und da Carsten und Benni uns sowieso andauernd nebenbei trainieren wird das wohl keine große Herausforderung.“ Eagle lachte auf. „Ach so, na dann.“ Laura zog Benni am Arm ein bisschen Richtung Eingangstor. „Los jetzt, ich will endlich auf das Fest!“ „Nicht so ungeduldig.“ Grinsend hob Florian den Zeigefinger. „In eurem jetzigen Aufzug würden euch alle nur verwirrt anschauen. Wenn ihr auf ein Fest in Ivory geht, solltet ihr auch entsprechend gekleidet sein.“ Erst jetzt bemerkten die Mädchen, dass Eagle nicht wie sonst Jeans und Shirt trug, sondern eine Art Mix aus mittelalterlicher Leinenkluft und Indianertracht. Oder wie auch immer man sein Outfit sonst nennen sollte, denn eigentlich bestand es nur aus einer kürzeren Leinenhose, Ledersandalen einigen Lederbändern und einer Art Kriegsbemalung am Oberkörper und im Gesicht. Der Grund, warum ihnen diese Aufmachung bisher nicht wirklich aufgefallen war lag darin, dass es irgendwie nicht aus dem Rahmen zu fallen schien, sondern sich gut in die Umgebung eingliederte. Jedenfalls besser als die Mädchen, Benni und Carsten in ihren modernen Kleidungen, wie Janine feststellen musste. „Hot, Eagle-Beagle! Das lässt sich sehen.“, kommentierte Lissi Eagles Aufmachung. Eagle grinste. „Als es hieß, man solle im Prinzip möglichst mittelalterlich aussehen konnte ich mich nicht zurückhalten.“ „Kein bisschen eingebildet.“, kommentierte Anne sarkastisch und verdrehte die Augen. Eagle zuckte mit den Schultern. „Wer kann, der kann.“ „Warum hast du eigentlich deine Sachen nicht an, Benni?“, fragte Florian. „Für die Akademie brauchte ich sie nicht, deshalb hatte ich alles in Obakemori.“ Mehr sagte Benni nicht dazu und Florian reagierte darauf auch nur mit einem bedrückten Nicken. „Aber müsste nicht bei deinen Eltern noch einiges sein?“, erkundigte sich Carsten vorsichtig. „Jedenfalls sah es in dem Zimmer das sie für dich eigenrichtet haben so aus, als hätten sie vieles aus Obakemori von Eufelia-Sensei zugeschickt bekommen. Selbst der Drache den du einst geschnitzt hattest war dort und der stand definitiv immer bei Sensei.“ „Kann sein.“, meinte Benni nur. „Denkst du Eufelia wusste, dass so etwas passieren würde?“, überlegte Ariane. „Kann sein.“, erwiderte Benni abermals, was ein recht deutliches Zeichen war, dass er das Gesprächsthema lieber wechseln würde. Die Gruppe folgte Florian einige Seitenstraßen innerhalb der Stadtmauern entlang, wo keine Festlichkeiten stattfanden. Staunend schaute sich Janine um. Der gepflasterte Weg, die steinernen Häuser, die Blumen und Bäume die die Straßen zierten… Alles war so wunderschön. Die gesamte Stadt war mit weißen Steinen erbaut worden und sah schon fast so aus wie Minas Tirith aus Herr der Ringe. Nur, dass sie nicht so extrem in die Höhe gebaut war, sondern leicht ansteigend zum Schloss hin. Janine hatte Elfin schon mehrmals gesehen, einmal als sie für die Feuerblume hierher kamen um Benni von dem Gift zu retten und einmal vor der Abendgesellschaft der Adligen. Und trotzdem hätte sie sich immer noch gerne weiter begeistert umgeschaut. Aber leider waren sie bereits bei ihrem Zielort angekommen. Dabei handelte es sich um ein etwas größeres Haus ganz in der Nähe des Schlosses. Als Florian die Tür öffnete wurde er auch direkt von einem jüngeren Mädchen beinahe umgeworfen, die ihm erfreut um den Hals gefallen war, kaum dass sich die Tür geöffnet hatte. „Flora! Willst du mich umbringen?!“, rief Florian außer Puste aber dennoch lachend, nachdem er sie von sich herunter bekommen hatte. Das Mädchen kicherte einfach nur zufrieden und wandte ihre Aufmerksamkeit auf die Besucher. „Ihr müsst Florians Freunde sein. Mein Name ist Flora Karanto, ich bin seine jüngere Schwester. Es freut mich, euch kennen zu lernen.“, stellte sie sich vor und machte einen kleinen aber dafür sehr eleganten Knicks. Florians Schwester sah fast so aus wie Florian, nur jünger und weiblicher. Janine schätzte sie auf etwa dasselbe Alter wie Carstens und Eagles kleine Halbschwester, vielleicht etwas älter. Dennoch wirkte sie viel erwachsener als Sakura. „Flora hilft euch Mädels bei der passenden Gewandung.“, erklärte Florian und Flora nickte lächelnd. Die Mädchen folgten Flora in ein Zimmer im ersten Stock. Das Haus war zwar relativ groß, wirkte durch die warme hölzerne Einrichtung und vielen Pflanzen aber sehr gemütlich und hell. „Flora, wie alt bist du denn?“, erkundigte sich Lissi. „In Elbenjahren 17.“, antwortete Flora. „Waaaas?! Du siehst viel jünger aus!“, rief Ariane schockiert. Flora kicherte. „Vielen Dank. Dies kann ich aber auch an sehr viele von euch weitergeben. Eigentlich seid ihr 16, oder?“ „Außer die beiden hier.“ Lissi zeigte auf Ariane und Anne. Kurz darauf zog sie Janine zu sich. „Und das ist unser Geburtstagskind.“ „Lissi!“, rief Janine beschämt. Das musste man doch nicht jedem unter die Nase reiben! „Ich wünsche dir alles Gute.“, gratulierte Flora ihr und reichte ihr die Hand. Schließlich wandte sie sich an den Rest. „So, und nun helfe ich euch bei euren Gewandungen.“ Ariane nickte. „Ja, bitte. Wir wollen nicht wie seltsame Touris rüber kommen.“ „Ähm… Ich habe bereits ein Kleid, um mich musst du dir also keine Gedanken mehr machen.“, merkte Janine zögernd an. Auf den fragenden Blick der Mädchen hin meinte sie noch: „Das Kleid das ich auf der Abendgesellschaft getragen hatte…“ „Ach stimmt ja, damals bist du als Florians Begleitung mitgekommen!“, erinnerte sich Laura. Janine nickte. Flora suchte für den Rest der Mädchen passende Kleider aus dem Schrank, der überraschend groß und voll war. „Wenn ihr wollt könnt ihr sie gerne behalten. Hier passt nichts mehr rein und ich benutze sie sowieso nie.“ „Warum denn das? Sie sind so schön.“, fragte Laura und betrachtete das beige-grüne Kleid mit goldenen Verzierungen, das Flora ihr gereicht hatte. Eigentlich passte es überhaupt nicht zu Lauras dunklem Manga-mäßigen Kleidungsstil, aber es würde ihr mit ihrer hellen Haut und den roten Haaren sicherlich wundervoll stehen. „Ich bin recht selten hier und habe in meinem Elternhaus sowieso noch viel mehr Kleider.“ Ariane runzelte die Stirn. „In deinem Elternhaus?“ Flora nickte. „Das hier ist Florians eigenes Haus. Er ist vor etwa zehn Jahren bereits ausgezogen. Ich bin nur hin und wieder zu Gast.“ „Ach, er wohnt gar nicht mehr bei seinen Eltern?“ „Nein, wir wohnen weiter vom Schloss entfernt. Doch seit er zum Hauptmann ernannt wurde muss er immer in Bereitschaft sein und sollte deswegen möglichst in Schlossnähe wohnen.“ „Jetzt bin ich verwirrt.“ Ariane kratzte sich am Hinterkopf. „Ich dachte Florian sei 26. Er wurde wirklich mit 16 zum Hauptmann ernannt?“ „Wie?“ Flora schien einen Moment verwirrt, lachte dann aber auf. „Ach so, nein nein. Florian ist 26 in Elbenjahren. Das bedeutet, dass er in Menschenjahren bereits 53 ist.“ „Waaaas?! So ein Opi?!“, rief Lissi erschrocken. „Und du bist dann in Menschenjahren…“ „32“ Flora lachte. „Wir altern etwa halb so schnell wie ihr.“ Laura überlegte. „Also ist es nicht so schlimm wie in Herr der Ringe, wo Legolas irgendwie 7000 Jahre alt ist.“ „Das ist irgendwie sehr irritierend.“, meinte Ariane nur. „Und Vampire?“ Flora überlegte. „Bei denen ist es ziemlich extrem. Ich meine es hieß Vampirjahre seien ein Zehntel von Menschenjahren.“ Susanne nickte. „Das stimmt, Konrad meinte einst er sei 223, also ist er etwa 22 in Vampirjahren.“ Laura überlegte. „Das heißt Vampireltern müssen sich 20 bis 30 Jahre lang mit einem Baby rumschlagen? Oha.“ Während Flora sich noch um ihre Kleider kümmerte und die Mädchen sich umzogen, redeten sie noch etwas weiter über Elben, Vampire und Ivory und Spirit. Besonders interessant war der Krieg zwischen den beiden Regionen, der anscheinend vor über 50 Jahren angefangen und vor etwa 20 Jahren erst geendet hatte. Anscheinend hatten die Bewohner Ivorys seit der Gründung Damons ein Problem damit, dass die Unterweltler, also Wesen die der komplette Gegensatz zu ihnen darstellten, in einer Region direkt neben ihnen wohnten. Eine Weile hatten sie es versucht zu akzeptieren, jedoch brachte irgendwann ein Tropfen das Fass zum Überlaufen und Krieg brach aus. Die anderen Nationen hatten sich komplett aus diesem Krieg herausgehalten, da sie zwar eigentlich auf der Seite von Ivory standen, allerdings als normale Menschen viel zu große Angst vor den Vampiren hatten. Laut Floras Erzählung hatten Florian und Konrad durch ihre Dämonen anscheinend einen großen Beitrag zum Ende des Krieges geleistet. Flora zuckte mit den Schultern. „Wie genau es dazu kam, dass sich die beiden nicht bekämpft haben, weiß ich aber nicht. Das solltet ihr meinen Bruder oder Konrad fragen.“ Ariane nickte. „Unbedingt! Es ist richtig schockierend, dass wenige Jahre bevor wir zur Welt kamen irgendwo in Damon noch Krieg herrschte!“ Bedrückt seufzte Janine. „Na ja, in etwa diesem Zeitraum wurden doch auch die ehemaligen Dämonenbesitzer schon verfolgt…“ „Eigentlich sollten wir den gerade herrschenden Frieden wirklich zu schätzen wissen.“, sinnierte Susanne. „Du meinst den noch gerade herrschenden Frieden.“, berichtigte Anne sie. „Wer weiß, wie lange das noch anhält, wenn Mars irgendwo in den Tiefen der Unterwelt irgendwelche Weltzerstörungs-Pläne schmiedet.“ Nachdem sie fertig mit Umziehen waren gingen sie endlich auf den Markt und es war für Janine fast wie das Paradies. Es ging wirklich in die Richtung eines Mittelaltermarktes, jedoch war die Atmosphäre hier viel heller und fröhlicher. Jeder trug recht helle Gewandungen, selbst Benni war in der braunen und beigen Leinen-Kleidung die Florian ihm gegeben hatte zur Ausnahme mal nicht in schwarz gekleidet. Die Stimmung der Besucher auf dem Fest war ausgelassen und heiter. Für Kinder gab es Pony-Einhorn-Reiten und verschiedene Spiele und viele der Erwachsenen hatten einen Krug mit Alkohol in der Hand und sangen bei den Liedern der Spielleute mit. Auf einem größeren Platz tanzte eine große Menge an Elben zur Musik der Spielleute und Flora zog ihren großen Bruder ebenfalls in die Mitte um mit ihm zu tanzen. Laura seufzte. „Ich würde auch gerne mittanzen, aber das scheint so ein mittelalterlicher Gesellschaftstanz mit bestimmten Schritten zu sein…“ „Ja, leider.“, gab Janine ihr Recht. Auch sie betrachtete sehnsüchtig die tanzenden Elben, wie sie alle diese eleganten Bewegungen ausführten und dabei so fröhlich und unbekümmert wirkten. Es war fast wie in einem Märchen. Eagle lachte. „Das ist ganz anders als unsere traditionellen Tänze.“ „Wie sehen die denn aus?“, fragte Ariane. „Wenn ich euch das jetzt zeigen würde gäbe es ein ziemlich seltsames Bild ab.“, erwiderte Eagle grinsend. „Jetzt will ich es erst recht sehen.“ Lissi zog Eagle und Carsten einige Schritte nach vorne. „Auf meine Herren, ich bitte um eine kleine Demonstration eurer kulturellen Künste!“ Carstens Wangen färbten sich sofort rot. „Lissi, das passt wirklich nicht hier rein.“ „Gerade deshalb ja.“, mischte sich nun auch Ariane lachend ein. Da kamen zwei Elbenmädchen etwa in ihrem Alter auf sie zu und schauten die Indigonerjungs an. „Wollt ihr mit uns tanzen?“ Verlegen kratzte sich Carsten am Hinterkopf. „Entschuldigt, wir sind nicht aus dieser Region und kennen die Schritte nicht…“ Eins der Mädchen packte Carsten an den Händen und zog ihn Richtung Tanzfläche. „Ist doch nicht schlimm, wir bringen es euch bei!“ Wie als würde er sich wehren hob Eagle die Hände. „Sorry, aber ich mag Tanzen wirklich nicht.“ Er schob Janine vor sich. „Aber dieses junge Fräulein schien sehr begeistert davon zu sein. Könntest du so lieb sein und ihr die Schritte stattdessen beibringen?“ „W-wie?“ Janine war leicht überfordert. Das andere Elbenmädchen lachte auf. „Aber gerne doch!“ So wurde auch Janine auf die Tanzfläche gezogen. Zwar kamen sie und Carsten sich erstmal total fehl am Platz vor, doch die beiden Mädchen brachten ihnen geduldig alles bei und schienen dabei auch sehr viel Spaß zu haben. Janine war überrascht, wie unvoreingenommen und fröhlich alle Leute hier waren. Es stellte einen so starken Gegensatz zu Mur dar, wo alles immer so grau, trist und düster wirkte und Fremde, falls je welche über die Grenze kamen, kritisch beäugt wurden. Genaugenommen wurden ja sogar die Leute aus der Region selbst kritisch beäugt. Janine und Carsten tanzten noch eine Weile mit den Mädchen und anderen Elben und auch Lissi und Susanne wurden in die Schrittfolgen eingeweiht und tanzten alsbald mit. Etwas mitleidig schaute Janine zu Laura rüber. Sie wusste, dass Laura auch gerne mittanzen würde. Aber sie war viel zu schüchtern um irgendjemanden zu fragen und traute sich noch nicht einmal Benni gegenüber ihren Wunsch zu äußern. Der sehr wahrscheinlich die traditionellen Tänze Ivorys sogar kannte, wie Janine ihn inzwischen einschätzte. Nachdem die Spielleute ihren Auftritt beendet hatten kam eine andere Gruppe daher und stimmte ein Lied an. Viele der Elbenmädchen fingen plötzlich an begeistert zu kreischen. „Was ist das denn?“, fragte Ariane irritiert. Florian, der inzwischen wieder zu ihnen gestoßen war, antwortete: „Minnegesang. Minnesänger sind hierzulande genauso beliebt wie bei euch Musikstars wie Jacob Yoru. Gerade bei den Mädchen.“ Anne runzelte die Stirn. „Okay, gerade erlebe ich einen Kulturschock.“ Florian lachte auf. „Ach was, man gewöhnt sich dran.“ „Also… Ich finde es ganz schön…“, gab Janine zögernd zu. Um ehrlich zu sein konnte sie nicht verstehen, warum die anderen Mädchen so wenig Begeisterung zeigten. Der Sänger hatte eine wunderschöne Stimme und die Melodie die seinen Gesang begleitete war sehr harmonisch. Flora nickte. „Das ist Sersin, mein Lieblingsminnesänger!“ Sie nahm Janine an der Hand. „Möchtest du mitkommen? Ein paar Freundinnen haben Plätze ganz vorne freigehalten. Für dich ist sicherlich auch noch Platz!“ „Oh ja, gerne!“, rief Janine erfreut. Gemeinsam mit Flora lief sie in die Elbenmenge und hörte mit halbem Ohr Ariane seufzen. „Und da geht sie von dannen.“ Sersins Auftritt war wirklich wunderbar gewesen, doch als er fertig war stellte Janine fest, dass die restliche Gruppe anscheinend weniger begeistert davon war und der Großteil bereits die Flucht ergriffen hatte. Nur noch Ariane war geblieben und hatte auf Janine gewartet. „Wo sind denn die anderen hin?“, fragte Janine verwundert. Ariane überlegte kurz. „Ähm, sie wollten soweit ich weiß noch ein bisschen das Fest erkunden. Es finden irgendwo Showkämpfe statt und Eagle wollte es sich nicht entgehen lassen auch daran teilzunehmen. Lissi ist auf eigene Faust losgezogen. Florian und Benni sind mit Laura und Carsten zum Stall. Anscheinend bekommt ein Einhorn dort ein Fohlen und Florian sollte bei der Geburt dabei sein. Und Laura findet Babytiere sowieso niedlich. Anne und Susi sollten aber gleich wiederkommen. Aus irgendeinem Grund hat Anne Susanne zur Seite gezogen und wollte mit ihr über irgendetwas reden.“ „Über was denn?“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Das fragst du die Falsche. Jedenfalls wollten wir alle uns vor halb zehn auf dem Zentralplatz treffen. Dort findet eine Feuershow statt und im Anschluss werden Laternen zu Ehren der Prinzessin angezündet.“ Wie Ariane vorhergesagt hatte kamen Susanne und Anne alsbald zu ihnen zurück und da es schon neun war machten sie sich auf zu dem Zentralplatz. Ein riesiger Platz, wie Janine feststellen musste, als sie ihn schließlich erreicht hatten. Er war sogar noch größer als der große Platz der Coeur-Academy! Nachdem sich die Mädchen etwas Süßes bei einem Bonbon-Macher an diesem Platz geholt hatten gingen sie zu den anderen, die bereits auf sie warteten. „Wo ist Florian?“, fragte Janine, da Florian als einziger fehlte. „Nachher gibt es noch eine Parade mit der Königsfamilie und einigen aus dem Heer und da sollte er als Hauptmann schon dabei sein.“, erklärte Flora. Anne seufzte. „Wow, die scheuen hier echt keine Kosten und Mühen für dieses Fest.“ Flora zuckte mit den Schultern. „Die Prinzessin wird nun mal volljährig und das ist für uns ein Grund zu feiern.“ „Aber eine ganze Woche lang?“ Auch Laura konnte nicht nachvollziehen, wieso man eine ganze Woche lang den Geburtstag einer Prinzessin feierte. Auch wenn es ein besonderer war. „O-Too-Sama würde noch nicht einmal auf die Idee kommen ein Fest für die Bevölkerung zu organisieren. Garantiert wird mein 20. Geburtstag eher so wie eine Abendgesellschaft, wenn es nach ihm ginge.“ „Bei euch ist man erst mit 20 volljährig?“, fragte Ariane verwirrt. „In Lumiere schon mit 18.“ „In Eau auch.“, meinte Susi. „Ich kann mir vorstellen, dass es dadurch häufig Verwirrungen gibt, wenn man in andere Regionen reist.“ „Gerade beim Alkohol- und Zigarettenkauf.“ Eagle lachte auf. „Aber zurück zum Thema: Das ist schon seltsam, dass Yami so etwas nicht macht. Ich werde ja bald volljährig und deshalb finden schon seit einigen Monaten Vorbereitungen für ein regionsweites Fest statt. Aber auch nur an dem Tag selbst. Eine Woche können wir uns wahrscheinlich eher weniger leisten, dann wären alle Alkoholvorräte aufgebraucht.“ „Also besteht deine Riesengeburtstagsfeier nur aus Saufen.“, bemerkte Anne trocken. „Zum Großteil.“ Eagle grinste. Lissi kicherte. „Gibt es dann jedenfalls auch eure traditionellen Tänze?“ „Ich befürchte es.“ Dieses Mal seufzte Eagle, offensichtlich nicht sehr erpicht darauf an seinem Geburtstag zu tanzen. Die Mädchen lachten auf. „Dann müssen wir unbedingt dabei sein!“, rief Ariane kichernd. „Pff, dann müsst ihr aber auch mittanzen. Wir sind da nicht so nachsichtig wie die Elben hier. Wer sich mit unserer Kultur nicht auskennt hat nichts in Indigo verloren.“ Anne runzelte die Stirn. „Seid ihr so nationalistisch?“ „Was ist falsch daran?“, fragte Eagle schulterzuckend. „Genau genommen gehören wir zu den Ureinwohnern dieses Kontinents. Wir sind direkte Nachfahren der Dryaden, die mit den Menschen eine Beziehung eingegangen sind. Ich finde das ist schon ein Grund stolz auf seine Nationalität zu sein.“ „Eeeeeeeeeecht? Indigoner stammen von den Dryaden ab?!“ Arianes Augen weiteten sich vor Überraschung und Bewunderung. Carsten nickte. „Unser Stamm stellt eine Art Nebengruppe dar. Früher waren wir, obwohl wir nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung ausgemacht hatten, ziemlich angesehen da in unseren Adern sowohl das Blut von Menschen als auch von Dryaden fließt. Doch seit dem magischen Krieg in dem die Dryaden sogar gänzlich ausgelöscht wurden meidet man uns.“ „Krass, das wusste ich auch nicht.“, bemerkte Anne und schien auch fasziniert zu sein. „Und was sind dann Elben? Ich hab immer geglaubt die wären ein Mix aus Menschen und Dryaden.“ Flora schüttelte den Kopf. „Genau genommen sind wir ein Mix aus Dryaden und Vampiren, aber die Vampir-Gene sind rezessiv. Deswegen ist das einzige was uns mit den Vampiren verbindet nur noch die helle Haut.“ Ariane runzelte die Stirn. „Und trotzdem kam es zum Krieg zwischen Ivory und Spirit?“ Carsten zuckte mit den Schultern. „Das will nichts heißen. Menschen haben sich ja auch sehr lange nicht mit Vampiren vertragen obwohl der erste Herrscher über diesen Kontinent ein Vampir war.“ „Der Herrscher der Nacht, oder?“, vergewisserte sich Susanne. „Ist er nicht der Gründer des Yoru-Clans?“ Carsten nickte und hielt einen Moment inne. Derweil lachte Ariane auf. „Das erklärt, warum Benni so bleich ist!“ „Das erklärt auch, warum du so ein seltsam gemischtes Blut hast.“, meinte Carsten, an Benni gewandt. „Wie meinst du das?“, fragte Laura irritiert. „Jedenfalls weiß ich jetzt, woher seine Sonnenallergie kommt.“ „Benni hat eine Sonnenallergie?“ Janine schaute die Jungs fragend an. „Na ja, man kann es als solche bezeichnen. Zumindest muss sich Benni an sonnigen Tagen immer mit Sonnencreme eincremen und zwar am besten eine mit dem höchsten Lichtschutzfaktor den es gibt. Sonst hat er innerhalb weniger Minuten einen ziemlich starken Sonnenbrand.“, erklärte Carsten. Laura nickte. „Als wir kleiner waren hatte Benni mal vergessen sich einzucremen und wir hatten den ganzen Tag draußen verbracht. Am Ende lag er für fast eine Woche mit hohem Fieber im Bett und sah so aus, als wäre seine ganze Haut verbrannt.“ Sie schüttelte sich. „Das war furchtbar gewesen.“ „Ist das wahr?“ Besorgt schaute Janine Benni an. Dieser nickte. „Das war das letzte Mal, dass ich es vergessen hatte.“ Ariane seufzte. „Dann ist das Vampirblut ja eher ein Fluch als ein Segen.“ „Na ja, aber das erklärt auch Bennis übermenschlichen Sinne.“, meinte Carsten nachdenklich. „Was mich nur irritiert ist, dass in Bennis Blut relativ viel Vampirblut enthalten ist. Gerade da sich Vampir-Gene rezessiv vererben und der Wächter der Nacht vor über 500 Jahren gelebt hat.“ Er seufzte. „Immerhin weiß ich jetzt endlich, woher es kommt. Als Saya damals die Blutprobe gemacht hatte konnte ich einfach keine passende Erklärung finden.“ „Aber du musst kein Blut zum Überleben trinken, oder Bennlèy? Falls doch kann ich dir meins aber gerne anbieten.“ Lissi warf Benni einen Luftkuss zu. Doch dieser schüttelte den Kopf. „Ich brauche kein Blut und will auch keins.“ Laura kicherte. „Als Vegetarier erst recht nicht, oder? Da hattest du nochmal Glück gehabt.“ Eine Weile philosophierte die Gruppe noch über Bennis Vampir-Gene und wie er sie sich zu Nutzen machen könnte. Wobei Benni selbst davon wie immer am wenigsten interessiert zu sein schien. Dadurch verging die Zeit allerdings relativ schnell und alsbald begann die Feuershow. So schön der Minnegesang vorhin auch war, dieses Spektakel übertraf alles, was es auf dem Fest überhaupt gegeben hatte. Man sollte meinen, dass antike Begabte und gerade auch Magier von Feuershows nicht sehr beeindruckt sein sollten. Dies war jedoch nicht im geringsten der Fall. Die Feuerspucker hatten eine so beeindruckende Choreographie und die Kunststücke sahen so schwierig und faszinierend zugleich aus, dass sie alle regulären Feuershows in den Schatten stellte. Selbstverständlich gab es die klassischen Elemente auch in dieser Vorführung. Jedoch wirkte alles viel gefährlicher. Nicht nur, dass die Athleten ohne irgendwelche Hilfsmittel wie Drachen Feuer speien konnten, sie hüllten sich selbst auch noch gänzlich in Flammen ein und tanzten oder ließen das Feuer gefährlich nah an die Zuschauer kommen. Und trotzdem wirkte die Show wunderschön und war begleitet von eindrucksvoller und auch spannender Musik. Die Feuershow endete damit, dass die Artisten anfingen Laternen zu verteilen, die im Anschluss zu Ehren der Prinzessin angezündet werden sollen um in den Himmel empor zu steigen. Janine war beeindruckt, wie reibungslos der Ablauf von statten ging. Kaum hatte jeder eine Laterne in der Hand, richtete sich alle Aufmerksamkeit auf den Palast, von dem aus kurz darauf die ersten Laternen in Richtung Himmel aufstiegen. Nach und nach zündeten die Besucher des Festes ihre Laternen mit ihrer Magie oder irgendwelchen Hilfsmitteln an und ließen sie ebenfalls in die Höhe steigen. Der Anblick dieser ganzen Laternen war wunderschön und Janine musste gezwungenermaßen an die Szene aus dem Rapunzel-Disney-Film denken. Sie liebte diese Szene doch in der Realität wirkte es umso bezaubernder. Diese vielen Laternen die symbolisierten, wie wichtig die Prinzessin den Bewohnern Ivorys war. Dieses warme leuchtende Orange in das der Himmel und die ganze Stadt getaucht wurde. Es schien sogar die Herzen der Besucher dieses Festes zu wärmen. Jedenfalls in Janine stieg solch eine wohlige Wärme auf. Eagle lachte auf. „Gott, wie schwul ist das denn?“ „Und wie.“ Anne schüttelte missbilligend den Kopf. Ariane boxte beiden in die Seite. „Seid still! Der Rest will das hier genießen!“ Lächelnd beobachtete Janine den Rest. Der Großteil schien die Szenerie ebenso atmosphärisch zu finden wie sie selbst. Sie konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, als ihr Blick auf Laura fiel. Diese schien insgeheim eine totale Romantikerin zu sein und schaute mit großen, leuchtenden Augen in den Himmel, während Freudentränen über ihre Wangen liefen. Benni beobachtete eher Laura als die Laternen und wischte ihr leicht amüsiert einige der Tränen von der Wange und legte kurz darauf einen Arm um ihre Schultern, als sich Laura gegen ihn lehnte. Janine war sich ziemlich sicher ein leichtes Lächeln auf Bennis Lippen zu erkennen. Der liebevolle Blick mit dem er Laura anschaute ließ sie seufzen. Am Anfang hätte es außer Carsten wahrscheinlich niemand für möglich gehalten, dass Benni überhaupt dazu in der Lage war jemanden zu lieben. Noch nicht einmal Benni selbst. Und nun schaute er Laura mit diesem warmen, sanften Blick an. Wie sehr wünschte sich Janine, dass auch sie eines Tages jemanden hätte, der sie mit einem solchen Blick ansehen würde. Auch Lissi seufzte gerührt. „Ich hatte es nie für möglich gehalten, aber so, wie Bennlèy gerade zu Lauch schaut wirkt er einfach nochmal um Unmengen hübscher als zuvor.“ Während Susanne kicherte, verdrehte Anne die Augen. „Oh Gott, ich kotz gleich.“ „Ich auch.“, kommentierte Eagle. „Zu viel Kitsch auf einmal. Bitte, gönnt mir eine Pause.“ Wieder boxte Ariane ihnen in die Seiten. „Ihr müsst ja nicht hinschauen.“ Kurz darauf fand als krönender Abschluss die Parade statt, in der die Königsfamilie und die wichtigsten Personen Ivorys, darunter auch Florian als Hauptmann, die Festmeile auf ihren Einhörnern entlang ritten. Während Janine und der Großteil der Gruppe einfach nur von der wunderschönen Atmosphäre vereinnahmt wurde, schienen sich Eagle und Anne als Leidensgenossen so langsam aber sicher anzufreunden, wie Janine belustigt feststellen musste. Kapitel 52: Der Klotz am Bein ----------------------------- Der Klotz am Bein Inzwischen war die letzte Prüfungswoche angebrochen und mit ihr auch die letzte Schulwoche. Die Stimmung der Mädchen war überwiegend ausgelassen und fröhlich, da nur noch die Prüfung in Kampfkunst oder Magielehre stattfand und diese kein Problem darstellen sollte. Nur bei Öznur war die Laune unter dem Nullpunkt, denn sie war die einzige von ihnen, die in eine Nachprüfung musste. Gerade verließen alle zusammen nach dem Mittagessen den Mensaturm. Ariane streckte sich zufrieden gesättigt und fragte in die Runde: „Wollen wir heute Nachmittag etwas zusammen machen?“ „Was denn?“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich. Zusammen herumlungern, reden, vielleicht ein netter Spaziergang? Wir könnten auch schwimmen gehen, es ist so gutes Wetter!“ „Hmmm, eigentlich wollte ich in die Stadt, shoppen.“, überlegte Lissi laut. „Aber schwimmen gehen fänd ich auch toll. Das neue Erlebnisbad in Jatusa soll richtig schön sein.“ „Ich würde auch gerne mal wieder schwimmen.“, pflichtete Susanne ihr bei. Anne zuckte mit den Schultern. „Ich zwar auch, aber wir haben doch ein Schwimmbad direkt hier an der Akademie. Also warum sollten wir dafür extra in die Stadt?“ „Mann, Banani. Du weißt noch so wenig.“ Lissi schüttelte den Kopf. „Dieses Schwimmbecken hier ist doch nur zum Schwimmen da. Es fehlt das nötige Feeling!“ Anne runzelte die Stirn um zu verdeutlichen, dass sie nicht den blassesten Schimmer hatte wovon Lissi da redete. Diese seufzte. „Man will nicht nur schwimmen, sondern sich zwischendurch nochmal ein bisschen entspannen, sonnen, mit den anderen quatschen, vielleicht einen Eiscafé oder so genießen und so weiter. Außerdem gibt es dort auch einen Beachvolleyball Platz. Ich möchte unbedingt mal wieder Volleyball spielen!“ „Das klingt schon so als hättest du beschlossen wir gehen in dieses Erlebnisbad.“, kommentierte Anne trocken. Lissi nickte. „Hab ich.“ „Da meckert ihr mich die ganze Zeit an, wenn ich mit euch Feiern gehen möchte, aber wenn ihr auf einmal beschließt ins Schwimmbad zu gehen ist das kein Problem oder was?“, maulte Öznur. Ariane verdrehte die Augen. „Das liegt daran, dass du andauernd mitten in der Prüfungsphase Feiern gehen wolltest.“ „Aber die Prüfungsphase ist doch noch gar nicht vorbei!“ Anne zischte Öznur an. „Als würdest du ernsthaft Lernen, wenn wir unterwegs sind.“ „Was soll das jetzt schon wieder heißen?! Lädst mich direkt aus, wie?“ Ariane seufzte. „Leute, jetzt hört doch bitte endlich mal damit auf! Das ruiniert die ganze gute Laune.“ „Was für ne gute Laune?“, maulte Öznur. „Ihr habt gut reden, niemand von euch muss in eine Nachprüfung. Selbst Lissi hat alles auf Anhieb bestanden, sogar Mathe!“ „Wie schon tausendmal gesagt: Du bist durchgefallen, weil du deinen Arsch nicht hochkriegen konntest!“, zickte Anne zurück. „Sagt die Schlampe, die sowieso alles in ihren Arsch geschoben bekommt.“ „Du verdammte-“ Anne war einen Schritt auf Öznur zugegangen und schien schon auf sie losgehen zu wollen, als Carsten sie an den Schultern packte und dadurch zurückhielt. Seufzend schüttelte er den Kopf. „Ihr solltet euch endlich mal bei der anderen Person aussprechen. Und zwar in Ruhe und ohne diese ganzen Beleidigungen.“ „Sehe ich auch so.“ Laura nickte. „Dieser eine Streit kann doch nicht jetzt auf einmal eure ganze Freundschaft zerstören. Reißt euch endlich mal zusammen und springt über euren Schatten! Bei jeder Gelegenheit so ein Theater zu veranstalten nervt nicht nur uns und alle anderen in eurem Umfeld, sondern wird euch in Zukunft noch echt leidtun.“ Anne zischte. „Tu nicht so als hättest du hier gerade total die Ahnung. Wer reagiert denn bei jeder Kleinigkeit über und flennt sofort los?!“ Laura biss sich verletzt auf die Unterlippe. „Ich weiß. Aber trotzdem…“ Sie warf einen scheuen Seitenblick auf Benni. „Gerade da ich so leicht überreagiere habe ich schon unnötigen Streit angefangen und hatte nicht den Mut gehabt, das sofort zu klären. Die Folge war über ein Jahr lang nichts mehr von dieser Person gehört zu haben. Und glaubt mir, dass war gar nicht schön. Und es dann doch irgendwann in Ordnung bringen zu wollen ist noch schwieriger und unangenehmer.“ „Du meinst als du damals Benni so viele Vorwürfe gemacht hast wegen diesen komischen Freunden von Jannik, oder?“, überlegte Ariane und erinnerte sich so langsam wieder an die Geschichte. Diese drei Typen mit denen Jannik und Benni während ihrer Mittelschulzeit herumgehangen haben hatten anscheinend recht häufig ziemlich miese Dinge ausgefressen gehabt. Und als Laura erfuhr, dass Benni mit solchen Typen rumhing, hatte sie ihm riesen Vorwürfe gemacht, bis sie schließlich gänzlich den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Noch dazu kam, dass er kurz darauf sowieso seinen Mittelschulabschluss gemacht hatte und an die Coeur-Academy gegangen war, was es nicht gerade erleichtert hatte, den Kontakt wiederaufzunehmen und die Sache zu klären. Abgesehen davon, dass Laura bis zu ihrer Einschulung an der Akademie ein Jahr später noch nicht einmal wusste, wo Benni überhaupt abgeblieben war. Aus Geschichten von Carsten und Laura wusste Ariane inzwischen ziemlich sicher, dass Laura und Benni vor dieser Art Streit ein sehr gutes Verhältnis hatten, obwohl Benni schon immer der ruhigere, kältere Typ war. Dieses eine Jahr ohne ihn musste ziemlich hart für Laura gewesen sein… Bedrückt nickte Laura als Antwort auf Arianes vorige Frage. „An so einem blöden Streit sollte eine Freundschaft nicht zerbrechen.“ „Laura hat vollkommen Recht.“, stimmte Carsten ihr zu. „Ihr müsst euch nicht sofort wieder vertragen. Das erwarten wir gar nicht von euch und es ist sowieso sehr schwierig bis hin zu unmöglich. Aber wenn ihr euch jetzt immer weiter streitet macht ihr es umso schlimmer. Versucht eure Kommentare runterzuschlucken und euch mal in die Situation des jeweils anderen zu versetzen. Natürlich ist es für Öznur schmerzhaft, wenn sie die ganze Zeit unter die Nase gerieben bekommt, dass sie nicht genug gelernt hat, Anne. Sie macht sich selbst wahrscheinlich schon mehr als genug Vorwürfe, deswegen brauchst du das nicht für sie zu übernehmen. Und Öznur, du musst dich nicht wundern, dass Anne dir so feindlich gesinnt ist. Du weißt genauso gut wie ich, dass man ein Thema, was die andere Person sehr belastet, nicht gegen diese verwenden sollte. Das ist wie ein Vertrauensbruch.“ Öznur schnaubte. „Die dumme Kuh hat doch damit angefangen, mich zu beleidigen.“ „Ich hab versucht dir Mathe zu erklären! Du hast die ganze Zeit nur rumgeheult!“, rief Anne aufgebracht. „Es ist vollkommen egal, wer angefangen hat!“, rief Carsten und klang plötzlich ziemlich wütend. So wütend, dass nicht nur Öznur und Anne, sondern sogar die anderen Mädchen betroffen zusammenzuckten, als hätten auch sie irgendetwas falsch gemacht. Carsten warf Öznur einen eindringlichen Blick zu. „Erinnerst du dich noch daran, als vor einigen Monaten in Dessert versehentlich dieses Thema angesprochen wurde? Und wie Anne darauf reagiert hatte?! Kannst du dich noch daran erinnern wie du dich gefühlt hattest, als Eagle damals erzählte, was da vorgefallen war?!?“ Eingeschüchtert nickte Öznur. Carsten atmete tief durch und fuhr nun etwas ruhiger fort. „Dann müsstest du genau verstehen warum ich sagte es ist egal, wer angefangen hat. Wenn du Anne wirklich als gute Freundin betrachtest solltest du deine Worte bereuen und nicht versuchen, sie zu rechtfertigen.“ Öznur schluckte schwer. „Aber-“ „Kein ‚Aber‘.“ Carsten schnitt ihr mit der Hand das Wort ab. „Versuch einfach, deinen Fehler einzusehen. Und Anne… Ich habe eigentlich nicht das Recht dir das zu sagen, aber versuche zumindest etwas entgegenkommender zu sein. Wenn du Öznur immer weiter provozierst gibst du ihr noch nicht einmal die Chance ihren Fehler einzusehen und sich zu entschuldigen.“ Anne knirschte mit den Zähnen, wirkte aber beeindruckend beherrscht dafür, dass sie gerade von Carsten zurechtgewiesen wurde. „Das klingt die ganze Zeit so, als sei das alles meine Schuld.“ Öznur schnaubte empört. „Das ist alles deine Schuld.“ Der Blick den Carsten Öznur zuwarf war schon fast so bedrohlich und einschüchternd wie der seines großen Bruders, wenn diesem etwas gewaltig gegen den Strich ging. Ariane schauderte. Carsten war Eagle gerade gar nicht so unähnlich, so überraschend das auch sein mochte. Benni, als einziger nicht eingeschüchtert von Carstens verärgertem, bedrohlichem Blick, schüttelte seufzend den Kopf. „Du machst dir immer noch Vorwürfe wegen damals.“ „Natürlich mach ich das.“, meinte Carsten verbissen. Benni verdrehte daraufhin nur die Augen. „Vergiss das doch endlich.“ Irritiert runzelte Ariane die Stirn. Wovon sprachen die beiden da? Anne seufzte. „Ich glaube, ich versteh so langsam worauf du hinauswillst.“ Sie hob die Hände. „Meinetwegen, ich versuche einen auf eiskalten Engel zu machen und mich ruhig zu verhalten. Ich kann aber nichts versprechen, wenn die mir wieder blöd kommt.“ „Was soll das denn jetzt heißen von wegen blöd kommen?!“ Öznur stemmte die Fäuste in die Hüften. Anne biss die Zähne zusammen. „Das heißt genau das, was du gerade machst.“ Sie schaute den Rest an. „Was das Schwimmbad betrifft, ich passe. Lieber geh ich trainieren und hab fürs erste meine Ruhe.“ Und mit diesen Worten verließ sie die Gruppe und ging Richtung Sportgelände. Trotzdem war die Atmosphäre immer noch sehr unangenehm. Ariane mochte keine Streitereien und sie merkte, dass auch der Rest sich unwohl fühlte. Trotzdem fiel ihr nichts ein, was die Stimmung wieder heben könnte. Sie warf Laura einen fragenden Blick zu. „Was meinte Benni mit ‚Vorwürfe wegen damals‘?“ „Als Benni im Krankenhaus war und ich seine Aussage so falsch interpretiert hatte, hatte Carsten ihn doch indirekt ein Monster genannt. Jetzt scheint er diese Situation auf Anne und Öznur zu projizieren.“, erklärte sie mit leiser Stimme, als sei sie immer noch etwas eingeschüchtert. Öznur seufzte. „Ach, deswegen bist du so ausgerastet, Carsten.“ Zögernd spielte Janine an einer ihrer blonden Haarsträhnen. „Özi… Bereust du es denn nicht, dass du Anne an die Sache mit ihrem Vater erinnert hast?“ Eine Zeit lang hielt Öznur Janines schüchternem und trotzdem eindringlichen Blick stand. Aber nur eine kurze Zeit lang. Bedrückt schaute sie auf den Boden. „Doch, jetzt wo ich so wirklich darüber nachdenke…“ Sie seufzte. „Es stimmt schon, ich hab mich richtig scheiße verhalten. Schon die ganze Zeit über. Und es tut mir auch richtig leid, glaubt mir. Aber es ist halt so… Ich… Ich… Ach, ich weiß nicht. Du hast Recht. So im Nachhinein… Es ist wirklich meine Schuld. Aber irgendwie glaube ich nicht, dass Anne mir verzeihen wird.“ Carsten legte eine Hand auf Öznurs Schulter. „Das wird schon. Die Hauptsache ist erst einmal, dass ihr die Situation des jeweils anderen versteht.“ Öznur warf ihm ein schwaches Lächeln zu. An den Rest gewandt meinte sie schließlich: „Wegen dem Schwimmbad: Tut mir leid, aber ich will auch erstmal meine Ruhe haben.“ Ariane nickte. „Schon okay.“ Nachdem auch Öznur verschwunden war setzte sich Ariane seufzend auf den Rand des Brunnens. „Mein Gott, was für ein Drama. Und ich dachte immer sowas gäbe es nur in Filmen oder Büchern. Ich hoffe das wird wieder. Die letzten Wochen war deswegen immer eine so schlechte Stimmung.“ Laura setzte sich neben Ariane auf den Brunnenrand. „Wenn man bedenkt, dass nur die Prüfungsphase zu alldem geführt hat…“ „Na ja und was machen wir jetzt?“, fragte Lissi. „In die Stadt würde ich trotzdem gerne. La Belle hat eine neue Kollektion rausgebracht und ich muss sie mir unbedingt anschauen!“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Mir ist alles Recht, Hauptsache die Stimmung bessert sich endlich wieder.“ Dem stimmten auch Janine, Susanne und Carsten zu. Also ging der Rest von ihnen einfach in die Stadt und wanderte die Einkaufsstraßen von Jatusa entlang. Ariane seufzte. Sie hatte gehofft kopflos in der Stadt entlang zu laufen würde die Stimmung wieder etwas heben, aber dem war nicht wirklich so. Lissi wirkte zwar so unbekümmert wie immer, während sie die Schaufenster aller möglichen Klamottenläden bewunderte, aber der Rest… Carsten schien mit den Gedanken bei jenem Vorfall zu sein, wo er Benni einst mit seinen Worten verletzt hatte und war deshalb alles andere als gut drauf. Janine und Susanne schienen sich trotz Lissis Bemühungen auch nicht ganz aufheitern zu lassen. Benni war sowieso der eiskalte Engel, er war einfach nicht dafür gemacht gute Laune zu versprühen. Und auch Laura wirkte immer noch leicht bedrückt und irgendwie auch nervös. Während sie an einem Obststand vorbeiliefen erinnerte sich Ariane an den Witz, den sie einst von Lissi gehört hatte, der aber alles andere als lustig war, wie sie schließlich von Carsten erfahren hatte. Na wer weiß, vielleicht hatte Ariane auch einfach nur einen komischen Humor? Oder der Witz war nur witzig, wenn man ihn auf Französisch sagte? Sie würde gerade alles versuchen, damit nur endlich wieder eine bessere Stimmung herrschte. Sie zupfte Carsten am Ärmel seines T-Shirts um seine Aufmerksamkeit zu erregen und zeigte auf die Bananen beim Obststand. „Hey Carsten, voulez vous coucher avec moi ce soir?“ „W-was?!“ Statt zu lachen wurde Carsten plötzlich knallrot im Gesicht. Auch Laura, Susanne und Janine wirkten perplex. Nur Benni nicht, der irgendwie husten oder sich räuspern musste oder so. Irgendwie war dieses Geräusch schwer zu deuten. Lissi nahm Ariane und Carsten an den Armen. „Oooooooh ihr zwei, wirklich?!? Ich wusste gar nicht, dass ihr schon so weit seid!!! Na gut, genau genommen wusste ich noch nicht mal, dass ihr zusammen seid. Aber ich freu mich meeeeegamäßig für euch!!! Eigentlich wurde es auch so langsam mal Zeit. Ich hatte immer gedacht, dass dir Cärstchens Gefühle noch nicht einmal aufgefallen sind! Aber jetzt… Also überrascht habt ihr mich damit aber trotzdem! Sonst habt ihr euch immer so normal verhalten!!!“ Jetzt war Ariane endgültig verwirrt. „Was meinst du, Lissi?“ Lissi umarmte beide ganz fest. „Einfach nur, dass ich mich riiiiiiesig für euch freue, Nane-Sahne!“ „Hä? Nur weil ich ihn fragte, ob wir uns eine Banane teilen?“ „Ja!!!“ Lissi hielt inne. „Ähm… Was?“ Carsten verbarg sein knallrotes Gesicht hinter seinen Händen. „Oh Gott, Nane.“ „Ich sagte doch, du hättest ihr die Wahrheit sagen sollen.“, kommentierte Benni und räusperte sich erneut. „Wahrheit? Kann mir bitte einer sagen was hier vor sich geht?! Und was hat eine Banane damit zu tun?!?“ Laura wirkte leicht von der Rolle und Ariane konnte es ihr nicht verübeln. Wovon sprachen die denn da? „Benni, 助けて!“, brachte Carsten in einem flehentlichen Ton auf Japanisch hervor. „Und warum soll Benni dich retten?! Was ist los?“ Laura war immer noch sehr verwirrt. Benni gab ein „pff“ von sich und so langsam kam Ariane die Idee, dass er eventuell kurz davor war lauthals loszulachen und es bisher nur mit einem Husten verdeckt hatte. Schließlich wandte sich Benni an Ariane. „Voulez vous coucher avec moi ce soir bedeutet nicht ‚Willst du eine Banane mit mir teilen‘.“ Ariane runzelte die Stirn. „Nicht? Aber Carsten hatte das so übersetzt.“ „Ja, da er in diesem Moment viel zu verschüchtert war, um dir die korrekte Übersetzung zu nennen.“ „Und die wäre?“ So langsam bekam Ariane ein ungutes Gefühl in ihrem Magen. „Im Prinzip bedeutet es: ‚Möchten Sie diese Nacht mit mir schlafen?‘“ „Hä?“ Ariane verstand nicht, was Benni meinte. Oder verstand sie es doch? Irgendwie hatte sie den Eindruck, sie müsste es verstehen. Aber sie verstand es nicht. Oder wollte sie es nicht verstehen? Lissi seufzte. „Nane-Sahne… Es bedeutet ‚Lass uns Sex haben.‘“ „W-Waaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaas?!?!?!?!?“ Okay, sie wollte es nicht verstehen. Überfordert druckste Ariane herum. „A-aber du- Du hattest das doch gesagt! Zu dem Typen! Nicht wahr?!? U-und dann- Der Typ hatte gelacht und du sagtest- du sagtest den sollte ich mir merken! Diesen Witz!!!“ Lissi runzelte die Stirn. „Wovon redest du?“ „A-aber… Erinnerst du dich nicht? Ich hab mit dir über Laura und ihren Geburtstag geredet! Und dann- und dann kam da dieser Typ! Dieser Julius oder so!!!“ „Ah, du meinst Julien!“ Lissi klatschte in die Hände. „Ich habe häufiger mit ihm auf Französisch geredet. Gut möglich, dass ich das mal zu ihm gesagt hab.“ „J-ja aber- Du-…“ Ariane war das alles gerade totpeinlich. Wie konnte sie das überhaupt so verstanden haben? Wie war sie überhaupt auf die Idee gekommen diesen Witz zu erzählen?!?!?! Susanne lachte auf. „Jetzt verstehe ich! Du hast Lissi das sagen hören und für einen Witz gehalten, da Julien gelacht hat. Dann hast du diesen Witz Carsten erzählt und da er viel zu schüchtern ist konnte er dir die richtige Übersetzung nicht geben und hat sich stattdessen irgendetwas ausgedacht.“ So langsam ratterte es auch in Lauras und Janines Köpfen und auch die beiden fingen kurz darauf an lauthals loszulachen. Lissi überlegte. „So ist das also. Aber Cärstchen: Warum ‚eine Banane mit mir teilen‘? Na gut, in gewissem Maße passt es ja sogar. So verkehrt war die Übersetzung also im Endeffekt gar nicht.“ „Ich habe einen Obstkorb mit Bananen gesehen.“, erklärte Carsten nur, immer noch purpurrot im Gesicht. „Aber wann hat Ariane dir denn diesen ‚Witz‘ erzählt?“, fragte Susanne. „An Lauras Geburtstag.“ Carstens Antwort war kaum mehr als ein Nuscheln. „Nur Benni schien es mitbekommen zu haben.“ „ほんとうに。ばか。“ Benni schüttelte den Kopf und wirkte ziemlich belustigt. Laura lachte auf. „Ach deshalb hatte Benni die Banane gefuttert!“ „Oooooh, wolltest du sie mit Cärstchen teilen?!“, fragte Lissi und lachte ebenfalls. Benni nickte. „Leider hat er mich abgewiesen.“ Inzwischen lachten fast alle, außer Ariane, Carsten und Benni, wobei Benni nur so halb dazu zählte. Man merkte deutlich, dass er all das ziemlich amüsant fand. Gott, war das Ariane peinlich. Aber so was von peinlich! Peinlicher als alles andere, was irgendjemand je gebracht hatte!!! Wie konnte Laura ihre eigenen Aktionen nur peinlich finden?!?!? Dies übertraf all ihre peinlichen Aktionen zusammen!!!!!!! Laura lachte ebenfalls herzlichst. „Und die Moral von der Geschicht‘: Trau Lissis Witzen besser nicht!“ „Oh Gott Carsten, es tut mir so leid.“, murmelte Ariane, immer noch ultra beschämt. Peinlich, peinlich, peinlich, peinlich. „Schon gut, du konntest es ja nicht wissen.“, murmelte Carsten, mindestens genauso verlegen. Susanne überlegte. „Na ja, sollte Französisch nicht eigentlich Arianes Muttersprache sein? Immerhin ist es Lumiéres ursprüngliche Nationalsprache.“ „Ich habe nie Französisch gelernt, ich beherrsche nur Damisch.“, gab Ariane nicht minder beschämt zu. Im Nachhinein: Warum eigentlich?!? Jeder hier beherrschte die ursprüngliche Sprache seiner Region!!! Na gut, Laura tat sich noch etwas schwer mit den Kanji aber das waren ja auch ätzend viele. Trotzdem konnte sie fließend Japanisch! Und Lissi und Susanne beherrschten Spanisch! Und in Janines Region konnte sowieso der Großteil eigentlich nur Russisch! Und Carsten beherrschte Indigonisch und wahrscheinlich noch viel mehr! Und Benni konnte sogar alle Sprachen Damons sprechen! Sogar Französisch!!! Und Ariane?!?!? Okay, tief durchatmen. Tiiiief durchatmen. Natürlich war all das ultra peinlich aber hey, positiv sehen! Ariane hatte ihr Ziel erreicht, alle -na gut, fast alle- lachten und ihre Laune schien sich deutlich gebessert zu haben! Und selbst Carsten kam so langsam wieder runter und schien das ganze allmählich lustig zu finden. Bei diesen Gedanken musste Ariane grinsen. Es war zwar nicht so wie ursprünglich geplant, aaaber: Die gute Laune war zurückgekehrt! Lissi kicherte. „Jetzt weiß ich jedenfalls ein Geburstagsgeschenk für Nane-Sahne.“ „Kein Französischbuch. Bitte. Und erstrecht keine Bananen.“, kommentierte Ariane Lissis Idee trocken, die nur verschmitzt lächelte. Kurz darauf klatschte Lissi in die Hände. „Und wo gehen wir jetzt noch so hin?“ „Eigentlich wäre noch genug Zeit für einen Schwimmbadbesuch.“, überlegte Susanne. „Unsere Sachen haben wir ohnehin schon dabei.“ „Prima Idee! Auf geht’s!“, rief Lissi enthusiastisch. „Ähm… Also…“, setzte Laura zögernd an, sagte aber nichts weiter, sondern spielte nur am Saum ihres Tops herum. Lissi seufzte. „Ach Lauch, du musst nicht schwimmen, wenn du nicht willst. Du kannst dich auch einfach auf der Wiese entspannen.“ „Oder wir bringen dir schwimmen endlich mal bei.“, schlug Ariane vor. „Es ist echt gefährlich, dass du das nicht kannst. Es ist schon seltsam genug, dass dir niemand schwimmen beigebracht hat, als du noch klein warst. Insbesondere eine gewisse Person, die dich ohnehin anscheinend häufiger mal aus dem Wasser fischen musste.“ Ariane schaute Benni fragend an. „Ernsthaft, warum hast du ihr schwimmen nicht beigebracht?“ „Die Grundtechnik beherrscht sie.“, antwortete Benni. „Laura gerät nur sofort in Panik, sodass sie diese nicht anwenden kann.“ Lissi packte Laura am Arm. „Ach was, Wasser ist doch kein Grund um Panik zu bekommen. Na los, wir üben im Schwimmbad ein bisschen.“ „Lissi, darum geht es gar nicht-…“, meinte Laura nur. Ariane seufzte. „Worum dann? Sprich mal Klartext, Laura.“ Nervös fummelte Laura an ihrer Halskette herum. Sie trug immer noch die mit dem Kreuzanhänger, die Benni ihr einst zum Valentinstag geschenkt hatte, wie Ariane auffiel. „Na ja, also eigentlich wollte ich… Ehm…“, druckste sie herum, „Ich wollte in ein Café gehen…“ Lissi zuckte mit den Schultern. „Wenn dir das lieber ist? Aber im Schwimmbad gibt’s auch ein Café.“ „Nein!“, rief Laura und ihre Wangen färbten sich leicht rötlich. „Ich wollte mit Benni in ein Café gehen!“ „Benni ist doch auch dabei, also-“ Susanne hielt inne. „Oh Gott, du meinst ein Date!!!!!“, rief Lissi plötzlich und packte begeistert Lauras Hände. „Du meinst ihr wolltet eigentlich in die Stadt, da ihr zwei ein Date habt, nicht wahr?!?!?!?“ Ariane kicherte und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass ziemlich viele Passanten die Gruppe des Öfteren verwirrt musterten. Laura brachte mit ihrem hochroten Gesicht nur noch ein Nicken zustande. „Ach deshalb wirktest du die ganze Zeit schon so nervös.“ Carsten lachte auf. „Benni, du hättest uns ja zumindest sagen können, dass ihr schon was anderes geplant hattet. Du weißt doch selbst, wie schüchtern Laura ist.“ Benni zuckte nur mit den Schultern. Ariane grinste ihn herausfordernd an. „Oder warst du selbst auch zu schüchtern, um uns darüber zu informieren?“ Erneut zuckte Benni mit den Schultern. „So haben wir immerhin dein Schauspiel nicht versäumt.“ Während Ariane ihm einen empörten und verlegenen Blick zuwarf, kicherte Janine. „Da ist was dran.“ Derweil schob Lissi Laura zu Benni rüber. „Dann mal los ihr zwei Turteltäubchen! Wir wollen euch nicht weiter belästigen!“ Nachdem sie Laura, die immer noch knallrot war, bei Benni abgeliefert hatte, ging sie zum Rest der Gruppe und winkte den beiden ‚Turteltäubchen‘ zu. „Viel Spaß ihr Lieben!“ Auch Carsten, Ariane, Susanne und Janine winkten lachend und machten sich auf zur nächsten Bushaltestelle, um zum Erlebnisbad zu fahren. „Ach wie süüüüüß!“, schwärmte Lissi als weiter. Sie schien bei Lauras und Bennis Beziehung ganz schön mitzufiebern. Mehr, als der Rest von ihnen und selbst denen lag es sehr am Herzen, dass zwischen den zweien alles gut lief. Janine kicherte. „Ich hätte nie erwartet, dass sie sich jemals wie ein normales Pärchen verhalten würden.“ „Wieso denn das?“, fragte Carsten lachend. Ariane zuckte mit den Schultern. „Na ja, Laura ist total schüchtern und Benni… Ehrlich? Niemand von uns hat auch nur im Geringsten daran gedacht, dass er überhaupt dazu im Stande ist, eine Beziehung mit irgendjemandem zu haben. Ich fand es schon die ganze Zeit seltsam, dass Laura so verliebt in ihn war. Na ja, zumindest am Anfang konnte ich sie überhaupt nicht verstehen.“ Carsten seufzte. „Du hast schon Recht. Gerade am Anfang des Schuljahres war Benni extrem kalt und abweisend. So kannte ich ihn gar nicht.“ „Deshalb ja. Und wir kannten ihn nur so.“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Weiß Gott wie oft ich ihm am liebsten eine gescheuert hätte, weil er Laura ständig zurückgewiesen hatte.“ „Na ja, Laura hat doch vorhin erwähnt, dass sie einst einen ziemlich schlimmen Streit mit Benni angefangen hatte. Und erst vor einem halben Jahr konnten sie sich überhaupt wieder vertragen.“, überlegte Janine. Carsten nickte. „Ein Streit mit Benni sieht eigentlich immer so aus, dass irgendjemand Benni anmeckert und ihm noch nicht einmal die Gelegenheit gibt, sich zu rechtfertigen.“ Er seufzte. „Man sieht es ihm zwar nicht an, aber Benni hat ein sehr großes Harmoniebedürfnis. Und er hatte schon immer Laura gegenüber eine starke Zuneigung empfunden, auch wenn er diese zuvor nie als Liebe interpretiert hatte. Ich weiß nicht, was Laura damals zu ihm gesagt hatte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ihre Worte ihn damals noch mehr verletzt hatten als meine neulich, als wir dieses Missverständnis hatten.“ Ariane seufzte. „Okay, nachvollziehbar ist es schon, dass er dann zum Schuljahresbeginn noch so sehr auf Abstand gegangen war.“ „Dafür ist es doch jetzt umso schöner zu sehen, wie er endlich auftaut.“, meinte Susanne und lachte auf. „Und als Ariane vorhin mit dem ‚Voulez vous coucher avec moi ce soir?‘ angefangen hatte, schien er sogar beinahe gelacht zu haben.“ Lissi prustete los. „Ach deshalb hatte er so komisch gehustet!!!“ Auch der Rest musste lachen. Lissi tippte Carsten gegen den Arm. „Sag mal Cääääärstcheeeeen? Weißt du inzwischen eigentlich, ob die zwei schon ‚Voulez vous coucher avec moi ce soir‘ gemacht haben?“ Carsten lachte auf, während Ariane genervt die Augen verdrehte. „Das ist wirklich deine Hauptsorge zurzeit, oder? Dabei geht es niemanden etwas an!“ Lissi warf Ariane einen unschuldigen Blick zu. „Gib’s zu, du bist auch neugierig, Nane-Sahne.“ „Bin ich nicht!“ „Klar bist du. Muss dir doch nicht peinlich sein.“ Lissi zwinkerte Ariane zu. Lachend meinte Carsten: „Wenn es euch wirklich so interessiert: Ich habe Benni neulich gefragt und er meinte, da sei noch nichts.“ Enttäuscht stürzte Lissi die Lippen. „Wie da ist noch nichts? Nicht mal annährend? Nicht mal ein bisschen rumgemacht? Und was hat dieses ‚noch‘ genau zu bedeuten?!? Ich brauche Details, Cärstchen!“ Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht weiter nachgefragt. Und wie Ariane schon sagte: Es geht uns nichts an.“ Zum Glück ließ Lissi das Thema damit bleiben. Den Rest des Tages verbrachten sie zu fünft im Erlebnisbad. Sie schwammen in den Becken herum, testeten alle möglichen Wasserrutschen aus, spielten Beachvolleyball -worin Lissi überraschend gut war- und aßen Eis. Selbst als sie wieder zum Abendessen in der Coeur-Academy waren, hielt die gute Stimmung weitgehend an. Lissi erzählte Anne und Öznur von Arianes peinlicher Aktion und auch wenn sich die beiden Mädchen immer noch aus dem Weg gingen, hagelte es immerhin keinen Beleidigungsschauer mehr, was Ariane positiv als einen guten Anfang einer Versöhnung deutete. Der Samstag und damit auch der letzte Schultag und die letzte Prüfung der Zwischenprüfungen kam wie im Flug und ehe sie sich versahen war es Nachmittag und alle hatten die Ergebnisse der praktischen und theoretischen Prüfung in der Hand. Und wie erwartet hatten alle ohne große Probleme bestanden. Zur Feier des Tages wollten sie etwas gemeinsam unternehmen und selbst Eagle war zu Besuch gekommen. Carsten war überrascht, wie häufig sein Bruder doch vorbeikam, nur um ein bisschen Zeit mit ihnen zu verbringen. Hatte Eagle ansonsten niemanden mit dem er rumhing? Was hatte er überhaupt sonst zu tun? Er konnte doch nicht andauernd zufälliger Weise genau dann Zeit haben, wenn etwas unternommen wurde. Nun ja, jedenfalls war er zu Besuch gekommen und schien auch ziemlich froh darüber zu sein, dass sich Öznur und Anne nicht mehr an die Kehle gingen. Ihre Beziehung war zwar auch nicht gerade die herzlichste, aber immer noch besser als der Krieg, der noch wenige Tage zuvor geherrscht hatte. Nun stellte sich die Frage: Was wollten sie eigentlich unternehmen? „Und was spricht jetzt gegen eine Tour in die Stadt und Shopping?“ Lissi zog einen Schmollmund. „Die Tatsache, dass ein Großteil von uns sowieso keinen Bock auf Shopping hat?“, vermutete Anne sarkastisch. „Außerdem waren wir doch erst letztens in der Stadt gewesen.“, ergänzte Janine. „Eigentlich wäre es ganz schön, mal was anderes zu machen.“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Also ich würde eigentlich gerne wieder ins Schwimmbad.“ „Aber der Eintrittspreis…“, setzte Janine an, sagte aber nicht mehr dazu. Carsten überlegte. „Also Benni zuliebe würde ich auch eher weniger in die Stadt wollen und an sich auch große Menschenmassen meiden.“ „Dann soll der sich zuliebe mal einen Vorschlag machen.“ Anne schaute Benni auffordernd an. „Bei einem Spaziergang neulich haben Laura und ich einen Teich entdeckt. Das Wasser wäre sogar steril genug um darin schwimmen zu können.“, ging Benni überraschender Weise sogar darauf ein. Ariane schien begeistert von dieser Idee. „Oh, ein Teich in dem man schwimmen kann und ein Spaziergang! Perfekt!!!“ „Und noch dazu könnten wir etwas zu essen einpacken und picknicken.“, schlug Carsten vor. Er schaute seinen Bruder fragend an. „Hast du deine Schwimmsachen dabei?“ „Ob du’s glaubst oder nicht, ich hatte bei diesem Wetter schon eine Ahnung gehabt.“ Eagle grinste. „Dann können wir ja gleich los!“, rief Lissi erfreut. In kurzer Zeit hatten alle die nötigen Sachen zusammengepackt und folgten Benni durch den Wald. Es gab keinen richtigen Waldweg, dennoch war die Strecke angenehm zu laufen und durch die Schatten die die Bäume warfen war es auch eine angenehmere Temperatur. Denn heute hatten sie über dreißig Grad und das größte Problem bei der Prüfung waren bei vielen die durch die Hitze bedingten Konzentrationsschwierigkeiten gewesen. Carsten beobachtete Ariane und Laura, die miteinander redeten. Ariane hielt ein Laugenbrötchen und Laura ein Schokoladencroissant in der Hand. „Warum willst du das Brötchen jetzt noch nicht essen? Ich dachte, du hättest Hunger.“, erkundigte sich Laura, während sie beobachtete, wie Ariane das Laugenbrötchen in die Tüte zurücksteckte. „Ich will mich challengen und das Brötchen erst essen, wenn wir angekommen sind.“, erklärte Ariane. „Alles eine Frage der Selbstbeherrschung.“ Laura überlegte. „Aha… Aber warum?“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Einfach so. Eine kleine Herausforderung halt. Außerdem nervt es mich, wie die anderen in letzter Zeit andauernd damit ankommen, wie verfressen ich sei.“ Anne, die den beiden zugehört hatte, lachte. „Bist du doch auch! Andauernd redest du über Essen. Du hättest Hunger, das Essen war lecker, du hättest wieder Hunger, …“ Ariane schnaubte. „Stimmt gar nicht.“ Laura lachte auf. „Ach was, jeder gute Manga braucht einen Essensmaniac!“ „Ja, aber warum muss ich das sein?!“, fragte Ariane empört. „Nix da!“ „Okay, dann mach ich mit bei der Challenge.“ Laura kicherte. Carsten grinste und wandte sich wieder an Benni, mit dem er zuvor eigentlich geredet hatte. „Irgendwie ist es lustig, die Mädchen zu beobachten.“ Benni antwortete nicht darauf, aber auch darüber musste Carsten grinsen. „Und du bist auch nicht gesprächiger als sonst.“ „Findest du?“, fragte Eagle auf einmal. „Ich hatte den Eindruck heute zum ersten Mal in meinem Leben seine Stimme gehört zu haben.“ „Jetzt übertreibst du. So schweigsam ist Benni auch nun wieder nicht.“ Aus dem Hintergrund hörten sie Ariane plötzlich aufschreien. „Was machst du da?!?“ Erschrocken drehte sich Carsten um, nur um zu sehen, dass Ariane entsetzt Laura anschaute, die einen Happs von ihrem Schokoladencroissant genommen hatte. „Ich dachte, du wolltest mit mir die Challenge machen!“, rief Ariane. „Schorry Nane, isch hab schu groschen Hunger.“, meinte Laura nur kauend. Carsten lachte auf, während sich Eagle wieder kopfschüttelnd umdrehte. „Wie haltet ihr es nur mit denen aus?“ Carsten grinste herausfordernd. „Und warum willst du andauernd zu Besuch kommen?“ „Geht dich nichts an.“, schnaubend wandte sich Eagle ab. „Gib’s zu Eagle-Beagle, du willst deine Beziehung zu Cästchen verbessern!“, rief Lissi ihm von hinten zu. Überrascht horchte Carsten auf. Stimmte das, was sie da sagte? „Wie kommst du denn auf so eine blödsinnige Idee?“ Erneut schnaubte Eagle. „Keine Ahnung, vielleicht weil du mich am Telefon andauernd fragst, ob Carsten auch dabei ist, wenn ich was mit dir unternehmen möchte?“ Öznur war zu ihnen aufgeschlossen und grinste Eagle an. „Wann soll ich das denn deiner Meinung nach gemacht haben?“ Eagle warf Öznur einen Blick zu, der fast wie eine Warnung zu sein schien. Öznur zuckte mit den Schultern. „Ständig, als ich dich angerufen hatte und gefragt hatte, ob du mit Feiern gehen willst.“ „So ein Blödsinn!“, rief Eagle. Carsten kratzte sich leicht verlegen am Hinterkopf. „Wirklich?“ „Alta! Ischör!“, sagte Öznur mit gekonntem Assi Slang. „Gar nicht wahr!“, rief Eagle etwas lauter und wirkte auch etwas verlegener. Die restlichen Mädchen beobachteten das Theater lachend, während Carsten seinen Bruder belustigt und nicht zuletzt auch dankbar und glücklich betrachtete. Eagle warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu, doch als Carsten ihn anlächelte, wandte er sich sofort wieder ab. Carsten atmete auf. Das Wissen, dass Eagle ihn endlich als seinen Bruder akzeptierte ließ sein Herz leichter werden. Von Benni hatte er inzwischen die ganze Geschichte gehört, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass Eagle ihn so gehasst hatte. Und auch, wie sehr er diesen Hass inzwischen zu bereuen schien. Carsten wusste nicht genau, was er darüber denken sollte. Eigentlich war es ihm auch egal. Das einzige was zählte war, dass er endlich von seinem großen Bruder akzeptiert wurde. Und mehr hatte sich Carsten nicht gewünscht. Auch der weitere Weg zum Teich lief in etwa so ab. Noch eine Weile nahmen die Mädchen Eagle in die Mangel, wie er eigentlich seine Beziehung zu Carsten verbessern wollte. Irgendwann kamen sie auf die Idee ihn und Öznur zu fragen, ob zwischen den beiden eigentlich was lief, was beide leicht verlegen verneinten und von dem Punkt aus kam Lissi auf die Bananen-Geschichte von Ariane und Carsten, worüber sich Eagle dann sehr amüsieren konnte. Schließlich hatten sie eine Lichtung erreicht und wenige Meter später kämpften sie sich durch einiges Gestrüpp eine Anhöhe hinauf, von der aus man direkt auf den Teich sehen und sogar schon fast hineinspringen konnte. Carsten fragte sich, wie Benni es nur immer wieder packte so schöne Orte zu finden. Der Teich war oval förmig und recht groß und das Wasser war komplett sauber und kaum von Wasserpflanzen vollgewuchert, was das Gestrüpp um den Teich herum eigentlich nicht vermuten ließ. Auf dem Teich befand sich leicht seitlich eine kleine Insel auf der einige Bäume standen und viele bunte Blumen wuchsen, die in den Sonnenstrahlen badeten. „Wie schön!“, rief Ariane staunend und hüpfte sofort zum Teich runter. Lissi, Susanne und Janine folgten ihr, wenn auch etwas langsamer und vorsichtiger. Grinsend drehte sich Carsten um und beobachtete Laura, wie sie vor dem ganzen Gestrüpp stand und als einzige noch nicht bei ihnen war. „Kommst du?!“ „Aber hier sind so viele Brennnesseln…“ Zögerlich aber erfolglos suchte Laura nach einem Aufstieg, der weniger vollgewuchert war. Anne seufzte genervt. „Jetzt stell dich doch nicht so an.“ Carsten runzelte die Stirn. „Du warst doch schon mal hier. Wie bist du denn damals hochgekommen?“ Innerhalb eines Wimpernschlags war Lauras Gesicht hochrot. Eagle lachte auf. „Ich hab da so eine Ahnung.“ „K-könnt ihr nicht schon einmal vorgehen?“, druckste Laura verlegen. Während Eagle lachen musste, grinste Carsten nur wissend. „In Ordnung.“ „Hä? Ist es echt okay, sie da zurückzulassen?“, fragte Öznur verwirrt. Eagle schob sie Richtung Ariane und Rest. „Ja, ja. Passt schon.“ Auch die übrigen gingen also runter zum Teich, als Laura plötzlich leicht panisch rief: „Benni! Dich meinte ich nicht!“ Nun musste Carsten doch lachen. „Sei nicht so fies, Benni. Du weißt doch genau, was Laura gemeint hatte.“ Benni warf Carsten einen leicht amüsierten Blick zu und drehte sich schließlich wieder um, um zu Laura zurück zu gehen. Grinsend beobachtete Carsten, wie Benni hinter der Anhöhe verschwand und kurz darauf mit Laura wieder auftauchte, die er Huckepack trug. Als die Mädchen dies erblickten, mussten sie natürlich sofort loslachen, was dazu führte, dass Laura ihr hochrotes Gesicht hinter Benni versteckte. „Wie süüüüß!!!“, riefen Öznur und Lissi begeistert, während Benni Laura auf der Anhöhe absetzte. Anne täuschte einen Würgereiz vor. „Ich bekomm Diabetes.“ Bei dem steilen, erdigen Weg durch das Gestrüpp hinunter zum Rest, traute sich Laura immerhin selbst zu laufen. Auch wenn sie sich trotzdem noch an Bennis Arm klammerte, in der Angst auf der feuchten Erde auszurutschen. Selbst als sie bei Carsten und den anderen angelangt waren, konnte sich der Rest noch nicht vor Lachen einkriegen. „Sowas hatten wir in den letzten Wochen viel zu selten.“, meinte Öznur und wischte sich eine Träne aus den Augen. „Du meinst solche Laura-ist-so-tollpatschig-Situationen?“ Ariane grinste. „Das stimmt, die hatten wir in letzter Zeit leider nicht so häufig gehabt.“ „Können wir endlich weiter gehen?“, fragte Laura mit hochrotem Kopf. Janine nickte, immer noch kichernd. „Hier können wir uns jedenfalls nicht sehr gemütlich hinsetzen.“ „Ja, wir sollten lieber auf die Insel.“ Lissi hüpfte einige Schritte weiter und erst als sie auf Höhe der Insel war fiel Carsten auf, dass sie nicht in den Teich eintauchte, sondern gemütlich auf der Wasseroberfläche stand. „Woha! Wie machst du das denn?!?!?“, rief Ariane beeindruckt. „Ich vermute, sie erzeugt mit ihrer Wasser-Energie eine Strömung nach oben die stark genug ist, dass sie Lissi auf dem Wasser stehen lässt.“, überlegte Carsten und Öznur verzog das Gesicht. „Igitt, Physik. Aber stimmt das, Lissi?“ „Wer weiß?“ Lissi lachte zufrieden. „Ich wollte euch zumindest zeigen, was ich letztens im Schwimmbad gelernt habe.“ „Ach deswegen warst du auf einmal verschwunden!“, fiel Ariane auf. Lissi grinste nur. „Jetzt kommt endlich, ich dachte, ihr wollte auf die Insel!“ Öznur seufzte. „Und wie sollen wir das machen? Im Gegensatz zu dir können wir nicht auf dem Wasser laufen, Jesus.“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Rüber schwimmen?“ „Bitte nicht!“, rief Laura plötzlich. „Ich kann doch nicht schwimmen und da sind garantiert eklige Wasserspinnen!“ Sie schaute Benni flehentlich an, doch dieser zuckte nur mit den Schultern und sprang in einem Satz zu der Insel rüber, die etwa sieben Meter entfernt war. Amüsiert beobachtete Carsten, wie Laura tief durchatmete und über die in dem Wasser liegenden Baumstämme versuchte, zu Benni auf die Insel zu kommen. Auf einem der Baumstämme rutschte sie plötzlich aus und fiel rücklings ins Wasser. „Benni, Hilfe!!!“, schrie Laura erschrocken und fuchtelte wie wild um sich. „Laura, das Wasser ist-“, setzte Benni an, doch Laura war viel zu panisch, um ihm zuhören zu können. „Das Wasser ist eklig! Ich ertrinke!!!“ Benni sprang zu Laura ins Wasser und packte sie am Arm. „…kniehoch.“ „Oh…“ Beschämt schaute Laura an sich herunter und bemerkte, dass das Wasser tatsächlich nur bis zu ihren Knien ging. Und sofort brachen wieder alle Zuschauer in schallendes Gelächter aus. „Du versuchst heute einen Rekord zu brechen, oder, Laura?!“, prustete Ariane. „Das hättest du auch gleich sagen können, statt einfach rüber zu springen und mich dort zurück zu lassen.“, nuschelte Laura zu Benni. Anne schüttelte missbilligend den Kopf. „Ernsthaft, du bist so unfähig.“ „Gar nicht wahr.“, murmelte Laura nur und watete durch das Wasser zu der Insel rüber. Belustigt musterte Carsten Benni. „Ich glaube, du neckst sie heute ein bisschen zu sehr.“ Benni zuckte mit den Schultern. „Es ist immer noch eine Art Training. Ich wollte schauen was sie macht, wenn sie nicht hinüber schwimmen kann.“ Carsten seufzte und zog sich die Schuhe aus, um wie Laura durch das Wasser zur Insel gelangen zu können. „Wir wollten diesen Tag genießen, weil die Prüfungen vorbei sind und die Ferien angefangen haben.“ Benni schüttelte den Kopf. „Wir haben schon viel zu viel Zeit durch die Prüfungen verloren.“ „Meinst du wegen Mars?“ Carsten watete durch das Wasser zu Benni. „Ich verstehe nur zu gut, warum du besorgt bist und dass du am liebsten aus allen genauso gute Kämpfer machen würdest wie du einer bist. Aber gönn den Mädchen mal eine Pause. Uns und Susanne hat die Prüfungsphase zwar nichts ausgemacht, aber der Rest hatte durch das Lernen kaum eine Sekunde Freizeit. Lass es für sie doch einfach ein netter Ausflug sein und kein Überlebenstraining.“ Benni seufzte. „Wie könnt ihr überhaupt an nette Ausflüge denken, wenn in der tiefsten Schlucht der Unterwelt ein Dämon nur darauf wartet, dass der Bann der ihn gefangen hält schwach genug ist um ihn zu brechen und im Anschluss die ganze Welt zu zerstören?“ „Ach komm schon.“ Eagle schlug Benni auf die Schulter. „Mars hat die ganze Prüfungsphase über nichts von sich hören lassen. Ich glaube nicht, dass er sich genau heute oder morgen ausgesucht hat, um uns zu vernichten.“ „Je mehr Zeit wir verlieren desto wahrscheinlicher ist es aber.“, erwiderte Benni. Ariane stöhnte auf. „Ach komm, sei mal ein bisschen optimistischer!“ Sie hüpfte zu den Jungs rüber und zeigte auf Laura, die sich die Haare auswringte um nicht ganz klitschnass zu sein. „Als ihr zwei dieses Rendezvous da neulich hattet war Laura danach so gut gelaunt gewesen, dass ich sie kaum mehr wiedererkannt hatte. Du solltest nicht der strenge Sensei sein, sondern lieber ihr Freund, der sich wünscht sie jeden Tag so fröhlich machen zu können.“ „Rendezvous? Du meinst Date, oder?“, fragte Öznur. „Ja, aber ich mag das Wort ‚Date‘ irgendwie nicht. Deswegen sag ich lieber Rendezvous.“ Anne lachte. „Das ist aber Französisch. Bist du dir auch wirklich sicher, dass es das bedeutet was du denkst?“ Ariane blies die Backen auf. „Ja, ich bin mir sicher, dass ich weiß, was es bedeutet.“ Sie wandte sich wieder Benni zu. „Na ja, jedenfalls hoffe ich, dass du verstehst, was ich meine.“ Wieder seufzte Benni. „Ja und nein. Ich kann nicht ihr Freund sein, der sich wünscht sie jeden Tag fröhlich machen zu können, wenn sie beim Kampf gegen Mars und seine Untergebenen ums Leben kommt.“ Ariane runzelte die Stirn. „Also ich meinte damit nicht, dass du aufhören solltest sie oder sonst wen von uns zu unterrichten. Es sollte nur bedeuten: Wenn wirklich Training ist, dann sollst du Benni-Sensei sein und ansonsten ihr Freund der sie liebt. Und abgesehen davon bist du doch sowieso immer da, um sie zu beschützen. Und uns auch, hoffe ich zumindest.“ Benni atmete tief durch und erwiderte endlich Arianes Blick. „Ich kann sie nicht vor Mars beschützen, ebenso wenig wie den Rest von euch. Das hat sich nun schon zweimal gezeigt. Gerade aus diesem Grund müssen wir einen Weg finden ihn aufzuhalten, bevor der Bann zu schwach geworden ist und er tun und lassen kann was immer ihm beliebt.“ Carsten beobachtete, wie Ariane unter Bennis Blick zusammenzuckte und zu zittern begann und bei seiner eiskalten Stimme fuhr selbst Carsten ein Schauder über den Rücken. Er legte seine Hand auf Bennis Schulter. „Du machst dir ziemlich viele Gedanken darüber, oder?“ Benni wandte den Blick von Ariane ab, die ihn ebenso mitleidig beobachtete wie Carsten. Seufzend schüttelte Eagle den Kopf. „Du hast ja echt Angst vor Mars.“ „Ich will nicht noch jemanden durch ihn verlieren müssen…“, murmelte Benni nur, als jemand seine linke Hand nahm. Benni schaute in Lauras lächelndes Gesicht. „Du musst dir nicht so viele Sorgen machen. Wir können inzwischen ziemlich gut auf uns selbst aufpassen und mit Mars werden wir schon irgendwie fertig.“ „Wir?! Ich hab mich wohl verhört!“ Nun kam auch Anne zu ihnen rüber. „Meinst du mit ‚wir‘ ernsthaft auch dich?“ Sie zeigte auf Laura und anschließend auf den Teich. „Du bist schwach, ungeschickt und auch nicht gerade die hellste. Das hast du innerhalb der letzten Minuten mal wieder mehrmals unter Beweis gestellt. Wie willst du bitteschön auf dich selbst aufpassen können?!? Eher noch bist du uns ein Klotz am Bein!“ Laura biss sich auf die Unterlippe und funkelte Anne wütend an. „Ich bin kein Klotz am Bein.“ Anne lachte. „Ach nein?! Wer ist dann die Laura, mit der ich sonst immer zu tun hatte?! Du bist die Definition von Klotz am Bein! Find dich damit ab und hör auf große Reden zu schwingen!“ Laura drückte Bennis Hand fester. „Ich kann kämpfen!“ Auf Annes Gesicht breitete sich ein herausforderndes Grinsen aus. „Beweis es mir.“ „Fein. Du wirst schon sehen, ich kann dich inzwischen besiegen.“ Carsten war überrascht, wie selbstbewusst Laura klang und auch ihr Blick sah so aus, als hätte sie keine Scheu Anne zu zeigen, was in ihr steckte. Anne lachte auf. „Wenn gerade du mich besiegst, müssen wir uns wirklich keine Gedanken mehr um Mars machen.“ Immer noch überraschend selbstbewusst lächelte Laura. „Du willst es echt drauf ankommen lassen, oder?“ Anne schien leicht provoziert und zeigte auf die schmale Wiese auf der Insel. „Okay, dann beweise uns, dass du kein Klotz am Bein bist.“ Anne ging zu der Insel rüber und Laura folgte ihr, als Ariane sie am Arm festhielt. „Laura, ich versteh ja, dass du es satt hast dich von Anne fertig machen zu lassen. Aber hältst du das für so eine gute Idee?! Ich meine, es ist Anne! Sie ist die stärkste von uns Mädchen!!!“ „Ich krieg das hin, Nane.“ „Aber-“ „Lass sie.“, unterbrach Carsten Arianes Sorgen. Sie wandte sich an ihn. „Es ist Anne!!! Ich will Laura nachher nicht im Krankenzimmer abliefern müssen!“ Während sich Laura und Anne in einigen Metern Abstand gegenüber auf die Wiese stellten, setzte sich der Rest von ihnen in den Schatten der Bäume, die auf der Insel standen. Ariane protestierte immer weiter, ganz deutlich in Sorge um Laura. Carsten seufzte. „Jedenfalls bekommst du deine Trainingseinheit, Benni.“ Ariane schaute daraufhin Benni vorwurfsvoll an. „Warum sagst du eigentlich nichts dagegen?!? Ich kann verstehen, dass du dir wegen Mars Sorgen um uns machst und so weiter. Und es ist auch echt lieb von dir, dass du dich so um uns und insbesondere um Laura sorgst! Aber es ist Anne! Die einzige schlechtere Wahl wären du, Carsten oder Eagle!!!“ Benni schüttelte den Kopf. „Gib Laura die Chance, sich selbst zu beweisen.“ „Sie ist jedenfalls ungewöhnlich von sich selbst überzeugt.“, stellte Susanne verwundert fest. „Vielleicht ist sie wirklich stark genug geworden, um mit Anne stand halten zu können.“ Eagle stellte sich in der Rolle des Kampfrichters ebenfalls auf die Wiese. „Hat irgendwer noch Wetteinsätze?“ Anne knackste zweimal mit ihrem Nacken. „Das ist es nicht wert zu wetten.“ „Wenn du meinst… Also wie wollt ihr kämpfen? Mit oder ohne Energien?“, fragte Eagle. „Mit Energien, bitte.“, meinte Laura. Anne lachte auf. „Du kannst deine Energie doch kaum kontrollieren!“ Schulterzuckend meinte sie anschließend: „Von mir aus gerne, aber die wird dich trotzdem nicht retten. Ich würde dich auch ohne meine Sand-Energie fertigmachen können.“ Eagle schaute Laura leicht besorgt an. „Bist du dir auch wirklich sicher, dass du das willst? Anne scheint keine Gnade zeigen zu wollen.“ „Ich will auch keine Gnade.“ Es war schon beinahe gruselig, wie eisern und entschlossen Lauras Stimme und ihr Blick waren. Carsten vermutete wirklich, dass Laura eine Chance gegen Anne hatte, auch wenn er sich nicht erklären konnte, warum sie plötzlich so viel stärker sein könnte als vor einigen Monaten. Seufzend meinte Eagle nur: „Wenn du dir so sicher bist… Aber wenn’s lebensgefährlich wird schreite ich ein. Ich will nicht, dass das hier zu einem blutigen Gemetzel wird. In Ordnung? Bereit?!“ Laura und Anne begaben sich in Kampfposition. „Los!“, rief Eagle und Anne stürmte sofort auf Laura los. Überrascht beobachtete Carsten, wie Laura Annes erstem Schlag zur Seite auswich und den zweiten mit der Handfläche wegschlug. Aber sie war schon immer ziemlich gut im Verteidigen gewesen. Die Frage war nur, wie lange sie das durchhielt. Nachdem Laura den ersten Schlagschauer von Anne ohne einen Treffer überstanden hatte, wollte Anne ihr einen Tritt ins Gesicht verpassen. „Vorsicht!“, schrie Ariane erschrocken, doch Laura fing den Tritt mit der Hand ab, ohne sich auch nur einen Millimeter vom Fleck bewegt zu haben. Verwirrt brachte Anne etwas Abstand zwischen sich und Laura. „Wie konntest du das so einfach blocken?!“ „Siehst du? Ich bin nicht so schwach, wie du denkst!“, rief Laura zu Anne rüber. Diese schnaubte, noch mehr provoziert. „Okay, ich hab keine Lust mehr zu spielen.“ Anne nahm Anlauf, um den Schwung in einen Schlag zu stecken, doch Lauras Reflexe waren gut genug, um diesem auszuweichen. Jedoch ging Annes Angriff sofort in einen Tritt über, der auf Lauras Nacken zielte. Sie hatte sie nun keine Chance mehr, diesen irgendwie zu blocken. Carsten hielt den Atem an und Eagle schien schon kurz davor sein zu wollen, den Kampf zu stoppen, als Annes Bein plötzlich mitten in der Luft stehen blieb. „Du bist viel langsamer als Benni.“, meinte Laura nur und trat das andere Bein weg, mit dem Anne auf dem Boden stand, sodass diese auf ihren Hintern fiel. Carsten runzelte die Stirn. Wie hatte Laura das gemacht? Der Kampf hätte entschieden sein müssen. Zähneknirschend richtete sich Anne auf. „Du verdammte-!!!“ Mit ihrer Sand-Energie beschwor sie einen Sand-Speer, den sie auf Laura warf. Doch kurz bevor er Laura ein Loch in die Stirn bohren konnte, loderte genau an dieser Stelle eine schwarze Flamme auf, in welcher der Speer verschwand. Jetzt schien Anne endgültig verwirrt. „Was zum Henker hast du gemacht?!?“ „Solange ich meine Energie verwenden kann bin ich stärker als du.“, meinte Laura nur. Das hatte wohl das Fass zum Überlaufen gebracht, denn mit einem wütenden Schrei beschwor Anne zwei weitere Sandspeere und warf den einen auf Laura, während sie mit dem anderen in der Hand auf sie zustürmte. Auch der erste Speer verschwand wieder in so einem schwarzen Loch und als Anne mit dem zweiten Speer fast zeitgleich bei Laura ankam, fing Laura diesen mit der linken Hand ab und verpasste Anne mit der rechten Handfläche, die auf einmal in eine schwarze Aura gehüllt war, einen Schlag. Dieser stieß Anne allerdings nicht zurück, sondern ließ sie einfach nur benommen in die Knie sacken und keuchend nach Luft schnappen. Nach einer Weile, in der Anne immer noch keuchte und hustete, fragte Eagle zögernd: „Kannst du noch weiterkämpfen, Anne?“ Als Anne nicht darauf antwortete, sondern nur weiter nach Luft rang, meinte Eagle schließlich: „Ich glaube, der Kampf ist entschieden. Und irgendwie hat Laura gewonnen…“ Die restlichen Zuschauer blieben still und den meisten von ihnen stand der Mund offen, während sie einfach nur auf das Bild das sich ihnen bot starrten. So auch Carsten. Hatte Laura gerade ernsthaft Anne besiegt, ohne auch nur einen einzigen Treffer zu kassieren?! „Was zum- Wie-“, stammelte Öznur. „Komm schon Benni, du hattest doch irgendwie deine Finger mit im Spiel!“, meinte Ariane ungläubig. Benni lehnte sich lediglich gegen den Baum hinter ihm und meinte: „Ich war an diesem Kampf nicht beteiligt.“ „Ja, aber wie… Laura hat Anne… besiegt?!“ Auch Lissi konnte es nicht glauben. Derweil war Susanne zu Anne gegangen, um sich nach ihrem Wohlergehen zu erkunden. „Geht es dir gut?“, hörte Carsten sie besorgt fragen. Anne hustete noch einmal. „Na ja… Ich fühl mich irgendwie so erschöpft.“ Wieder hustete sie. „Wie… wie als hätte ich mich beim Training viel zu sehr verausgabt…“ Auch Eagle kniete sich zu Anne runter. „Wie meinst du das denn? Körperlich schien der Kampf keine große Herausforderung gewesen zu sein.“ „Keine Ahnung…“, meinte Anne einfach nur schwer atmend. Eagle schaute Laura verwundert an. „Was hast du mit ihr angestellt? Dieser eine Schlag hätte sie eigentlich nicht so ausknocken dürfen.“ „Im Prinzip habe ich ihrem Körper Energie entzogen. Das ist fast so, wie wenn wir bei Carstens Teleportation Energie verlieren, nur eine größere Menge. Deswegen fühlt sie sich nun so erschöpft. Aber in ein paar Minuten dürfte es ihr wieder besser gehen.“, erklärte Laura. Susanne strich der keuchenden Anne die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und half ihr beim Aufstehen. Carsten bemerkte, wie Annes Knie zitterten und das Bild von Laura, wie sie einst nach einer Teleportation zusammengebrochen war, schoss ihm in den Kopf. „Brauchst du Hilfe?“, erkundigte sich Eagle bei Susanne, während sie Anne auf dem Weg zu den Bäumen stützte, doch sie schüttelte den Kopf. „Geht schon, danke.“ Im Schatten angekommen half Susanne Anne, sich gegen den nächstbesten Baum zu lehnen und Janine brachte ihr eine Flasche mit Wasser aus der Provianttasche. Laura kam derweil schweigend zu ihnen rüber und setzte sich neben Benni. Der Rest beobachtete entweder sie oder Anne ohne auch nur ein Wort sagen zu können. Sie waren immer noch vollkommen überrascht von dem, was passiert war. Nach einer Weile meinte Laura beschämt: „Starrt mich doch bitte nicht so an…“ „Tut mir ja sehr leid aber… du hast Anne besiegt!“ Ariane packte Laura an den Schultern. „Wie zum Henker hast du das gepackt?!?“ Lissi nickte. „Sorry Lauch, aber du bist die schlechteste Kämpferin von uns. Von deiner relativ guten Verteidigung mal abgesehen, die du wegen deiner geringen Ausdauer noch nicht mal lange aufrecht halten kannst, hast du sonst nur Schwächen!“ Mit geröteten Wangen schüttelte Laura den Kopf. „Stimmt gar nicht. Benni meinte, ich hätte auch noch ziemlich gute Reflexe.“ „Ja aber selbst dann…“, setzte Ariane an. Eagle war derweil ebenfalls bei ihnen angekommen. „Wie konntest du überhaupt diesen ersten Tritt von Anne abwehren? Selbst wenn du ihn abgefangen hättest, hättest du eigentlich mindestens einen Meter nach hinten gestoßen werden müssen. Da steckte richtig viel Kraft drinnen.“ „Davon mal abgesehen… Du hast Annes Sandspeere verschwinden lassen!“, rief Öznur aufgebracht. „Die waren weg! Einfach so! Futsch!!! In Luft aufgelöst!!!“ „Das war wegen der Finsternis-Energie…“, erklärte Laura und wich den Blicken der anderen mit hochrotem Kopf aus. So selbstbewusst sie vor kurzem noch war, so unwohl fühlte sie sich jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. „Hä?“, fragte Lissi verwirrt. „Na ja, mit der Finsternis-Energie kann ich Sachen absorbieren. Entweder nur die Energie die irgendwelche Gegenstände haben, oder die Gegenstände selbst. Das geht sogar bei Lebewesen, auch wenn es dort etwas schwieriger ist.“ „So hast du Anne also am Ende in die Knie gezwungen.“, vermutete Janine, die inzwischen auch wieder zu ihnen gekommen war. Nur Susanne blieb noch bei Anne und kümmerte sich um sie. Carsten runzelte die Stirn. „Das sah aber schon sehr gezielt aus. Wie kannst du die Finsternis-Energie in so kurzer Zeit so gut beherrschen, dass du Anne genau so viel Energie entziehen konntest, dass sie dies nur erschöpft und nicht gleich umgebracht hat? Vor wenigen Monaten hast du noch andauernd die Kontrolle über deine Energie verloren, da der Schwarze Löwe sie ständig manipuliert hat.“ „Gerade deshalb.“, meinte Benni plötzlich. Carsten und die anderen schauten ihn fragend an. „Der Schwarze Löwe hatte schon immer die Finsternis-Energie in Laura manipuliert, seit diese seine Dämonenbesitzerin war. Dadurch war sie die ganze Zeit dazu gezwungen die Energie zu kontrollieren, sodass dies irgendwann sogar unbewusst geschah. Im Prinzip hat sie also ihr Leben lang schon trainiert.“ Carsten runzelte die Stirn. „Also geschah diese Manipulation nicht nur manchmal in Stößen, wo sie aufgrund dessen die Kontrolle verloren hatte?“ „Das waren nur emotionsbedingte Ausnahmefälle.“, erwiderte Benni. Arianes Augen weiteten sich vor Staunen. „Also hat Laura jede Sekunde ihres Lebens, seit sie die Besitzerin des Schwarzen Löwen ist, damit verbracht, die manipulierte Energie unter Kontrolle zu halten? Selbst im Schlaf?!?“ Benni nickte. „Erstaunlich. Dann ist es kein Wunder, dass sie die Energie so gut beherrscht.“, meinte Eagle beeindruckt. Benni zuckte mit den Schultern. „Sie ist besser im Beherrschen der Energie als jeder andere von uns.“ „Echt?!? Sogar besser als du?!?!?!“, fragte Ariane ungläubig. Wieder nickte Benni. „Viel besser.“ Während sich Lauras Wangen bei Bennis Kommentar wieder rötlich färbten, war der Rest nun endgültig von den Socken. Wer konnte es ihnen verübeln? Noch nicht einmal Carsten hätte es für möglich gehalten, dass Laura ausgerechnet im Beherrschen der Energie mit Abstand die beste von allen war. Ariane fiel Laura um den Hals. „Das ist ja der Wahnsinn!!! Und inzwischen kommst du so gut mit deiner Energie zurecht, dass du damit sogar Anne besiegen kannst!!!!!“ Laura wurde noch roter. „Aber nur mit der Energie… Ohne bin ich immer noch die schwächste von allen.“ Eagle zuckte grinsend mit den Schultern. „Ist doch egal. Es kommt aufs Gesamtpacket an. Und in diesem bist du die stärkere.“ Er überlegte. „Echt mies… Wenn du mit deiner Finsternis-Energie einfach alles absorbieren kannst, wärst du genaugenommen stärker als wir alle hier.“ „Außer Benni, der auch die Finsternis-Energie beherrscht.“, ergänzte Carsten. „Ariane müsste die Finsternis-Energie mit ihrer Licht-Energie abschirmen können.“, vermutete Benni. „Sie wäre Laura also ebenbürtig, wobei es wahrscheinlich in einem Patt enden würde.“ Lissi seufzte, leicht enttäuscht. „Also sind Lauch und Nane-Sahne die stärksten von uns?“ Carsten zuckte mit den Schultern. „Na ja, sie beherrschen die Licht- und Finsternis-Energie. Vom Rang her sind diese ganz oben, also ist es nicht verwunderlich, dass sie die stärksten Kräfte sind. Außer die göttlichen Energien natürlich.“ „Entstehung, Erhaltung und Zerstörung, oder?“, zählte Ariane auf. Carsten nickte. „Und unser Gegner ist der Herrscher der Zerstörung.“ „So langsam verstehe ich, warum Benni so eine Angst vor Mars hat. Wenn Licht und Finsternis den anderen Energien schon so überlegen sind, wie sieht es dann erst mit der Zerstörung aus…“, meinte Eagle seufzend. „Das wird echt ein harter Brocken, sollten wir gegen ihn kämpfen müssen.“ Carsten senkte betrübt den Kopf. Er konnte es Benni nicht verübeln, dass er sich ständig solche Gedanken darüber zu machen schien. Bevor ein bedrücktes Schweigen ausbrach, knurrte plötzlich Arianes Magen, woraufhin der Großteil sofort loslachen musste. „Wie war das mit ‚Ich will nicht der Essensmaniac sein‘?“, fragte Lissi und hielt sich den Bauch vor Lachen. Ariane schnaubte. „Nach allem was hier los war hatte ich halt nicht die Gelegenheit gehabt das Laugenbrötchen zu essen.“ Nach einer Weile meinte Öznur schließlich lachend: „Ich habe aber auch Hunger, lasst uns endlich was Essen.“ Sie packten also die Picknickdecke und den Proviant aus und selbst Anne war inzwischen wieder erholt genug, um sich zu ihnen zu gesellen. Während des Essens war das Hauptgesprächsthema immer noch Lauras Sieg. Anne schnaubte. „Ich geb zu, ich hab dich unterschätzt. Aber wann zum Henker hast du gelernt die Finsternis-Energie so gut zu beherrschen?“ „Stimmt, selbst wenn du sie so gut kontrollieren kannst, musst du immer noch wissen, wie du sie einsetzen musst.“, meinte Susanne nachdenklich. „Hast du dir das alles selbst beigebracht?“ Laura wurde wieder rot. „Nein, Benni hat mir das bei unseren Spaziergängen beigebracht.“ Lissi seufzte enttäuscht. „Echt? Ihr habt nur das gemacht?“ „Was hast du denn gedacht?“, fragte Laura, wurde aber sofort noch roter. „Vergiss es, ich kann’s mir denken.“ Lissi schaute sie schelmisch grinsend an. „Stimmen meine Vermutungen denn?“ „Nein, tun sie nicht.“, murmelte Laura, immer noch verlegen. Lissi sprang von der Decke auf und streckte sich. „Ich glaub dir kein Wort, Lauch. Aber egal, jetzt lasst uns endlich schwimmen gehen!“ Janine kicherte. „Mit vollem Magen soll man doch nicht schwimmen.“ „So voll ist der jetzt auch nun wieder nicht, Ninie.“ Lissi zog sich aus, bis sie nur noch den Bikini anhatte, den sie unter ihrer Kleidung trug. Carsten war nie aufgefallen, dass sie auf der linken Seite ihres Bauches einen blauen Schmetterling mit einer blauen Blume als Tattoo hatte. Selbst beim Schwimmbadbesuch letztens nicht. Wie lange hatte sie das schon? Öznur lachte. „Lissi, warum kein String-Bikini?“ „Der ist nur für besondere Anlässe.“, antwortete Lissi und warf den Jungs einen Luftkuss zu. Ariane schlug sich mit der Hand auf die Stirn. „Zu viel Information.“ „Auf jetzt, kommt endlich!“, rief Lissi und stand schon wieder auf dem Wasser. „Jetzt sei nicht so ungeduldig!“, rief Öznur und zog sich ebenfalls das Trägertop und die Hotpants aus. Eagle lehnte sich etwas zurück und beobachtete die Mädchen, wie sie sich nach und nach auszogen und nur noch den Bikini anhatten. Oder in Annes Fall eher einen längeren Sport Bikini. „Für sowas komm ich doch gerne her.“, kommentierte er das Bild, dass sich ihm bot. „Elender Perversling!“, rief Ariane zu ihm rüber. Anne verzog das Gesicht. „Widerlich.“ Eagle lachte nur über die Reaktion der Mädchen und beobachtete sie weiterhin, während Carsten die ganze Zeit verlegen den Blick abgewandt hatte. Öznur lachte auf. „Verschiedener, wie Brüder nicht sein könnten.“ Lissi war inzwischen wieder bei ihnen und zog Carsten auf die Beine. „Komm schon Cärstchen, ich will endlich ins Wasser.“ Während sich also auch Carsten von allem außer seiner Badehose entledigte, redete Lissi auf Laura ein, sie solle sich auch endlich umziehen. Doch natürlich war Laura viel zu verschüchtert, um vor der Gruppe beziehungsweise vor den Jungs Badesachen zu tragen. Lissi seufzte. „Ach Lauch, jetzt sei doch nicht so verklemmt! Obwohl… Wenn ich so wenig Oberweite hätte wie du, hätte ich wahrscheinlich auch Hemmungen.“ Ihr Kommentar ließ Laura nicht minder verlegen werden. Janine verdrehte die Augen. „Ach hör schon auf Lissi. Außerdem habe ich auch nicht so viel mehr als Laura.“ Lissi tippte auf Janine. „Und du bist die einzige in einem Badeanzug.“ Janine schüttelte seufzend den Kopf und wandte sich wieder Laura zu. „Jedenfalls gibt es keinen Grund, so schüchtern zu sein.“ „Ja aber…“, setzte Laura an und lunzte ein kleines bisschen in Bennis Richtung. Anscheinend der Hauptgrund, warum sie sich nicht traute, weniger als ihre aktuelle Kleidung zu tragen. Öznur kicherte. „Aaaaaw, es ist dir einfach nur unangenehm im Bikini vor deinem Freund zu stehen?“ „Wenn ich jetzt so darüber nachdenke … Ohooo, Bennlèy, wolltest du Lauch etwa einfach nur leicht bekleidet sehen, als du den Ausflug zum Teich vorgeschlagen hast?“ Lissi hielt inne und fuhr in verschwörerischer Stimme fort: „Oder hast du sie etwa schon so gesehen?“ Ariane stöhnte auf. „Man Lissi, das wollen wir gar nicht wissen!“ „Also… Wir wollen es wissen, aber wir sagen es nicht.“, ergänzte Öznur belustigt. „Genau!“, gab Ariane ihr Recht. „Äh, was?“ Und Laura wurde noch roter. „Laura, könntest du mir helfen?“, fragte Benni von weiter entfernt. Als sich Laura zu ihm umdrehte, warf er ihr seine Sonnencreme zu, die er aufgrund seiner sehr sonnenbrandanfälligen Haut immer benutzen musste. Erst jetzt fiel Laura auf, dass auch Benni nur noch seine Schwimmhose trug. Wäre das hier ein Manga, hätte Laura schon längst Nasenbluten bekommen oder ihr Kopf wäre explodiert oder so was in der Art., überlegte Carsten amüsiert, während er beobachtete wie Lauras Gesicht einen noch tieferen Rotton annahm. Falls das überhaupt möglich war. Derweil quietschte Lissi auf einmal los. „Ooooooooooooh, Bennlèy nur noch in Schwimmhose!!! So smexyyyyy!!!!!“ „Ich glaube, sie fällt gleich in Ohnmacht.“, merkte Anne trocken an. Susanne lachte. „Wer? Laura oder Lissi?“ „…Beide.“ Während der Rest der Mädchen wieder mal lauthals lachen musste, schlug sich Eagle mit der Hand auf die Stirn. „Was für ein Hühnerhaufen.“ „Und du magst sie trotzdem.“ Eagle grinste auf Carstens Kommentar hin. „Seltsamer Weise tatsächlich.“ Ebenfalls lachend beobachtete Carsten, wie sich Laura zusammenriss und zu Benni rüber ging, um ihm den Rücken einzucremen, damit dieser in zehn Minuten nicht genauso aussah wie Lauras Gesicht gerade. Den Rest des Tages verbrachten sie mit Schwimmen und Wasserschlachten, wobei die Magier und insbesondere Lissi einen ziemlich unfairen Vorteil hatten. Jedenfalls hätte Lissi nicht gleich eine riesige Welle auf alle anderen loslassen müssen. Benni hatte sich den Großteil der Zeit zum Lesen unter einen Baum verkrümelt, aber dafür leistete Chip ihnen im Wasser Gesellschaft, der sich so langsam mit den Mädchen anzufreunden schien, insbesondere mit Janine. Erst als die Sonne schon ziemlich tief stand, machten sie sich auf den Rückweg. Und wieder wurde Laura ungewollt zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, als sie sich nicht den steilen, rutschigen, schmalen Erdweg zu jener Anhöhe hoch traute, auf die sie von Benni beim Hinweg schon getragen wurde. „Keine Sorge Laura, ich laufe hinter dir und rette dich schon, wenn du fällst.“, munterte Ariane sie auf und schlug ihr auf den Rücken. Amüsiert beobachtete Carsten, wie sich Laura auf den Aufstieg machte, darauf bedacht, nichts vom Gestrüpp und erst recht keine Brennnesseln zu berühren. Dummerweise konzentrierte sie sich etwas zu sehr darauf dem Grünzeug auszuweichen, dass sie doch tatsächlich ausrutschte. Mitten im Fall griff Laura panisch nach dem nächstbesten, was sie zu fassen bekam und erwischte dabei einen Brennnesselstrauch, welchen sie gleich ganz aus dem Boden riss. Ariane sah dies allerdings nicht kommen, da sie noch unten stand und sich mit einer Ente unterhielt. So fiel Laura auf sie, beide fielen ins Wasser und die Ente nahm erschrocken quakend Reißaus. Ariane richtete als erste wieder auf und schüttelte sich. „Toll, danke Laura. Jetzt bin ich ganz nass! …Laura?“ Erst jetzt fiel Ariane auf, dass Laura kopfüber im Wasser gelandet und deshalb am Ertrinken war. Also fischte sie Laura aus dem Wasser. „Alles okay?” Laura keuchte und hustete. „Hast du nicht gesagt du rettest mich, wenn ich falle?!“ „Sorry, aber diese Ente war so süß…“ „Mann, Nane!“ Während der Rest, der das Geschehen erst leicht erschrocken beobachtet hatte, mal wieder lauthals loslachen musste, hatte sich Benni dazu erbarmt zu ihnen runter zu steigen und die Mädchen direkt mit seiner Feuer-Energie zu trocknen. „Und so was hat mich besiegt…“, kommentierte Anne das Geschehene und verdrehte die Augen. Carsten lachte. „Es ist halt immer noch Laura…“ Kapitel 53: Blut, Schweiß ------------------------- Blut, Schweiß Benni legte sich nach dem Training in das bequeme Stroh in Flickas Box, während das Einhorn selbst auf der Weide stand und die milde Sommerluft genoss. Zwei Tage war die Prüfung in Kampfkunst oder Magielehre und der Ausflug zum Teich nun her. Ursprünglich war der Plan, trotz der Ferien an der Coeur-Academy zu bleiben um dem Training die volle Aufmerksamkeit widmen zu können. Denn außer dem, was Lissi bei der Abendgesellschaft der Adeligen hatte in Erfahrung bringen können, wussten sie immer noch nahezu nichts über das Vorhaben des Purpurnen Phönix‘. So war eine gute Kampfvorbereitung bisher die beste Entscheidung, wie sie die unbestimmte Zeit die ihnen noch blieb nutzen konnten. Jedoch bildete der heutige Tag eine Ausnahme. Denn heute vor zwölf Jahren war Jonathan, Janniks Vater, ermordet worden und der Schwarze Löwe hatte daraufhin Yami angegriffen. Benni erinnerte sich besser an diesen Tag zurück, als ihm lieb war. Obwohl er damals erst fünf Jahre alt gewesen ist. Der Himmel war dunkel und trist, jedoch nicht durch gewöhnliche Wolken. Die Finsternis-Energie des Schwarzen Löwen hatte den Himmel über ganz Yami verdunkelt und somit einen unheimlichen Schatten der Verzweiflung und des Leids über die gesamte Region geworfen. Nach und nach wurde den Menschen durch die Finsternis die Lebensenergie aus ihren Körpern gesogen. Gerade ältere Menschen und Kinder hatten an diesem Tag den Tod gefunden. Benni war damals vom Kindergarten so schnell ihn seine Beine tragen konnten zum Anwesen der Familie Lenz gehastet. Dass die Erzieherinnen ihn daran hindern wollten das Gebäude zu verlassen hatte ihn dabei nicht groß gestört. Auch nicht, dass bereits einige Kindergartenkinder in seinem Alter vor seinen Augen aus Erschöpfung zusammengebrochen waren. Sie waren ihm alle herzlichst egal gewesen, für ihn war in diesem Moment nur Lauras Sicherheit von Bedeutung. Benni erinnerte sich noch schemenhaft daran, wie angespannt er war. Was sich den ganzen Weg zum Lenz-Anwesen über für ein stechender Schmerz in seinem Herzen ausgebreitet hatte, wodurch ihm das Atmen immens erschwert wurde. Doch es war nicht die Finsternis-Energie des Schwarzen Löwen gewesen, die ihm so zu schaffen gemacht hatte. Gegen diese war er bereits immun, obwohl in dem Moment seine Kräfte noch nicht freigesetzt waren. Viel mehr war es die lähmende Sorge um Laura, die dafür sorgte, dass er immer weiter hatte rennen müssen. Immer weiter und weiter, obwohl er nahezu keine Luft mehr bekommen hatte. Immerhin war Laura durch das Karystma so geschwächt, dass er befürchtete sie bereits tot vorzufinden, wenn er das Anwesen überhaupt erreicht hatte. Jedoch gab es eine Sache, die ihn gestoppt hatte. Noch während er der Villa immer näher kam, drangen Stimmen an sein Ohr. Stimmen, die ihm nur zu vertraut waren. Da war zum einen die helle, klare Stimme, die zu Lucia gehörte und sich kaum von Lauras zu unterscheiden vermochte. Dann die tiefere, jungenhafte Stimme Lucianos, Lauras großem Bruder. Und schließlich eine widerlich schleimige Stimme, bei der Benni sofort eine große Abneigung verspürte. „Es liegt nun in eurer Hand. Es ist eure ehrenhafte und königliche Pflicht, als die Erben des Lenz-Clans diesem Monster Einhalt zu gebieten und euer Volk zu retten.“, tönte der Besitzer dieser abstoßenden Stimme. „Du hast Recht.“, stimmte Luciano Lukas zu. „Wir können nicht zulassen, dass dieses Monster ganz Yami auslöscht!“ „Aber wie?!“, fragte Lucia verzweifelt. „Indem ihr ihm euch mutig und furchtlos entgegenstellt. Ihr müsst den Schwarzen Löwen bannen.“ Lukas schien die Hände auf die Schultern der Geschwister zu legen. „Erst dann kann ihm Einhalt geboten werden.“ „Denkst du, wir schaffen das, O-Nii-Sama?“, hörte Benni Luciano mit eingeschüchtert wirkender Stimme sagen. „Denkt an euer Volk, denkt an eure Eltern und an eure kleine Schwester. Diese Liebe, die ihr für sie empfindet wird euch die nötige Kraft geben dem Monster Stand halten zu können.“ Lukas lügt., schoss es unvermittelt durch Bennis Kopf, während er das Lenz-Anwesen endlich erreicht hatte. Er stürmte in das Innere dieses gewaltigen Gebäudes und die Treppen hoch in den ersten Stock. Doch statt in Lauras Zimmer zu gehen, wo diese schwer atmend im Bett lag, riss er die Tür zu Lucianos Zimmer auf. „Er lügt!“, schrie Benni heiser und erschöpft von der weiten Strecke, die er hatte hinter sich bringen müssen. „Glaubt ihm bloß kein Wort, er will euch umbringen!“ Luciano runzelte die Stirn. „Was redest du da für einen Unsinn?“ „Das ist kein Unsinn, ich sage die Wahrheit!“, widersprach Benni atemlos. Er wusste noch nicht einmal, warum er so verzweifelt versuchte Lucia und Luciano vor Lukas zu retten. Sie waren alles andere als freundlich zu ihm und dennoch… Wahrscheinlich lag es an Laura. Sie liebte ihre älteren Geschwister so sehr… Vergötterte sie regelrecht. Immerhin war Lucia ihre Zwillingsschwester und Luciano war sogar viermal so alt wie die beiden Mädchen. Alleine der Gedanke daran, wie sich Laura bei dem Tod der beiden fühlen würde ließ Bennis Herz schwer werden. Ein schmerzhafter Stich durchzuckte ihn, als er ihr weinendes Gesicht vor seinem inneren Auge sah. Nein, das konnte er nicht zulassen. Das durfte er nicht zulassen! „Bitte, glaubt mir! Der Schwarze Löwe wird sich nicht so einfach von euch bannen lassen!“, schrie Benni deshalb. Luciano kam in bedrohlichen Schritten auf ihn zu. „Tu nicht so, als hättest du eine Ahnung was hier vor sich geht, du Waldläufer.“ Er packte Benni an der Kehle, hob ihn hoch und stieß ihn unnötig grob gegen die Wand. „Was erlaubst du dir, so mit uns zu reden.“, zischte er ihm ins Ohr. „Du bist nichts weiter als ein Ausgestoßener, der noch nicht einmal von seinen eigenen Eltern geliebt wird. Du hast doch keine Ahnung wie es ist, wenn das Leben einer oder mehrerer wichtiger Personen von dir abhängt. Wir müssen es tun! Wir müssen Yami retten!“ Mit diesen Worten ließ Luciano wieder von Benni ab, der auf den harten Boden fiel. Keuchend versuchte er sich aufzurichten. Jedoch fehlte ihm die Kraft und er sackte erneut in die Knie. „Aber… Aber Laura-“, brachte er hustend hervor, wurde aber von Lucia unterbrochen. „Wag es nicht, unsere Schwester da mit hineinzuziehen!“ Lukas, der das Schauspiel bisher nur mit seinem schleimigen Grinsen beobachtet hatte, lachte schließlich auf. „Lasst ihn doch einfach. Was will das kleine Teufelskind denn groß ausrichten?“ Er ging zu Lucia und Luciano und legte ihnen wieder jeweils eine Hand auf eine Schulter. „Die Zeit rennt uns davon. Jede weitere Sekunde die verstreicht sterben noch mehr Leute eures Volkes und die Lebenskraft eurer Schwester schwindet mindestens genauso rasant.“ Luciano nickte nur und ging an Benni vorbei nach draußen, ihn nicht weiter beachtend. Auch Lucia verließ das Zimmer, warf Benni allerdings zuvor noch einen hasserfüllten Blick zu. „Ich weiß, dass du hier bist um auf mich und meine kleine Schwester aufzupassen. Aber ich warne dich: Besser du kommst ihr nicht zu nahe.“ Nachdem beide das Zimmer verlassen hatten kam Lukas auf Benni zu, welcher immer noch kraftlos auf dem Boden kniete und nach Luft rang. Das nahezu psychotische Lächeln welches auf Lukas‘ Lippen lag ließ Benni schaudern. Erneut wurde er an der Kehle gepackt und hochgehoben. Lukas‘ vor Wahnsinn verzerrtes Gesicht befand sich beängstigend nah an Bennis, welcher verzweifelt versuchte, sich aus diesem Klammergriff zu befreien. „Weißt du, wie gerne ich dir am liebsten jetzt die Zunge herausreißen würde?“, zischte er Benni zu. Schulterzuckend warf er ihn auf die andere Seite des Raumes, wo er schmerzhaft gegen eine Bettkante stieß. „Aber jetzt habe ich wichtigeres zu tun.“ Mit diesen Worten verließ auch er das Zimmer. Taumelnd mühte sich Benni auf die Beine. Sein Hals brannte und die Atemnot ließ ihn erstickt husten. Zwar wurde er von Eufelia-Sensei bereits zum Kämpfen ausgebildet, doch gegen Lukas und Luciano waren ihm die Hände gebunden. Selbst wenn er Luciano wahrscheinlich sogar schon die Stirn würde bieten können, handelte es sich immer noch Leon Lenz Sohn. Und Lukas war immer noch Leon Lenz Neffe. Wahrscheinlich würde man Benni sofort hinrichten lassen, würde er sich auch nur zur Wehr gegen sie setzen. Und trotzdem… Irgendwie musste er sie aufhalten! Laura zuliebe! Schwer atmend wankte Benni zu Lauras Zimmer, doch bevor er es öffnen konnte ging die Tür bereits auf und er blickte in Lauras verweintes Gesicht. Sie war beängstigend bleich und ihre kurzen rötlichen Haare fielen in einzelnen Strähnen in ihr Gesicht und zum Teil über die großen schokoladenbraunen Augen, die leidend zu Benni hochblickten. „W-was passiert hier?“, schluchzte Laura. „Wo sind Lucia und Luciano?! Und- und was ist mit dir passiert und…“ Unter Tränen brach Laura zusammen. Vorsichtig kniete Benni zu Laura auf den Boden, darauf bedacht, durch den Schwindel nicht umzukippen. Weinend klammerte sich Laura mit ihren kleinen Händen an sein schwarzes T-Shirt. Was genau passierte, wusste Benni zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht. Erst Eufelia-Sensei hatte ihn später darüber aufgeklärt, dass die Dämonenjäger den ehemaligen Besitzer des Schwarzen Löwen ermordet hatten und dieser daraufhin ganz Damon zeigte, dass diese Idee eine sehr schlechte gewesen war. Nach einer Weile, als Lauras Schluchzen sich allmählich besserte, meinte sie schließlich: „Ich will zu Lucia und Luciano…“ Benni wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Waren die beiden überhaupt noch am Leben? „Bitte!“, schrie Laura verzweifelt. Der flehende Blick den sie ihm zuwarf minderte Bennis Verzweiflung nicht im Geringsten. „Laura, ich glaube nicht-“ Doch da mühte sich Laura auch schon auf die Beine und torkelte in ihrem grünen mit weißen und hellrosa Blumen gemusterten Kimono den Gang entlang zur Treppe, die in das Erdgeschoss und zum Ausgang führte. „Warte, bitte!“, rief Benni ihr hinterher. Doch er wollte zu hektisch aufstehen und der plötzliche Schwindel riss ihn in eine tiefe Dunkelheit, fast so wie die Finsternis des Schwarzen Löwen. „Benni? Was ist passiert? Benni?!“ Nur ganz leise vernahm Benni diese Stimme, als sei sie wie ein weit entferntes Echo. Langsam kehrten seine Sinne zu ihm zurück und vorsichtig öffnete er die Augen. Verschwommen nahm er ein um die 20-jähriges Mädchen mit braunen Haaren war. Es war Rebecca, Lauras Kindermädchen. „Laura!“ Erschrocken richtete sich Benni auf, wäre durch den Schwindel jedoch erneut umgekippt, hätte Rebecca ihn nicht gehalten. „Wo ist Laura?!“, fragte Benni sie verzweifelt. Rebecca sah nicht minder besorgt aus. „Das wollte ich dich fragen. Ich kann sie nirgends auf dem Grundstück finden.“ Benni atmete mehrmals tief durch, um sich und seine aufgewühlten Gefühle zu beruhigen. Panik durfte er sich jetzt unter keinen Umständen erlauben. Nicht dann, wenn Laura irgendwo außen umherirrte, wo die Energie des Schwarzen Löwen jedem menschlichen Lebewesen die Kräfte raubte. Als er sich weitgehend wieder beruhigt hatte, sandte er seine übermenschlichen Sinne aus, um nach Laura zu suchen. „Hab sie!“, meinte er schließlich und mühte sich auf die Beine. Doch Lucianos und Lukas Angriffe hatten immer noch ihre Spuren hinterlassen, denn als Benni zur Treppe rannte taumelte er immer noch so sehr, dass er fast die Treppe heruntergefallen wäre, hätte er nicht im letzten Moment Halt am Geländer finden können. Rebecca eilte zu Benni rüber und ging vor ihm in die Hocke. „Steig auf, ich trag dich.“ Benni kletterte auf Rebeccas Rücken und ließ sich von ihr Huckepack tragen, während sie den Weg entlangrannte, den Benni ihr wies. Je näher sie zu Laura kamen, umso bedrückender wurde die Atmosphäre. Benni hatte den Eindruck an einer schweren Last zu ersticken, als sie schließlich bei Laura angelangt waren. Allzu weit war sie zum Glück nicht gekommen, aber dennoch hatte sie Lucia und Luciano erreichen können, die direkt vor dem Verursacher dieser erstickenden Atmosphäre standen. Wenige Meter vor ihnen ragte ein gewaltiger aus finsterer Energie pulsierender schwarzer Löwen hervor. Da Benni damals noch ein fünfjähriges Kind war, konnte er die Größe des Schwarzen Löwen nun nicht mehr genau einschätzen. Denn als Kind kam einem bekanntlich alles viel größer, mächtiger und bedrohlicher vor als es eigentlich war. Dennoch war sich Benni sehr sicher, dass dieses kolossale Wesen so hoch wie ein Wolkenkratzer gewesen sein musste. Und es schaute genau Laura an, die am ganzen kleinen Körper zitterte. Nur ihre bloße Willenskraft und kindliche Dickköpfigkeit schien sie noch auf den Beinen halten zu können. Aber nicht mehr allzu lange. Benni sprang von Rebeccas Rücken, erleichtert, dass seine Kräfte inzwischen zum Großteil zu ihm zurückgekehrt waren, und rannte zu Laura rüber. Ehe sie vor Erschöpfung vornüber kippte fing Benni sie auf und half ihr behutsam, sich auf den Boden zu setzen. Trotz allem schaute Laura immer noch mit vor Angst und Entsetzen geweiteten Augen zu dem Schwarzen Löwen hinauf, welcher ein bedrohliches, tiefes Knurren von sich gab. Laura schrie auf und klammerte sich erneut an Bennis T-Shirt, als das Karystma sie zu einem starken, erstickten Husten zwang. „Lass sie in Ruhe!“, brüllte Luciano zu dem gewaltigen Monster und zog damit dessen Aufmerksamkeit wieder auf sich. Während sich Laura immer noch unter dem schmerzhaften Husten krümmte, in den sich nun auch noch Blut mischte, betrachtete der Schwarze Löwe ihre älteren Geschwister kritisch. „Welche Macht war es, die eure ursprünglich reinen Herzen so verdorben hat?“ Er schien durch Telepathie mit ihnen zu sprechen und Benni konnte nicht anders, als bei der tiefen, von Macht getränkten Stimme seinen Griff um Laura zu verstärken. „Wovon redest du?! Du bist doch derjenige, der hier alle möglichen unschuldigen Bewohnern Yamis das Leben nimmt!“, schrie Lucia zu ihm hoch. „Ihr würdet dieser Region den Untergang bringen.“ Der Schwarze Löwe fixierte die beiden Geschwister und schwarze rauchige Finsternis-Energieschwaden schossen auf sie zu. „Neeeiiiin!!!“ Schreiend wand sich Laura aus Bennis Griff und rannte zu ihren Geschwistern. „Bitte! Lass sie in Ruhe! Ich flehe dich an!!!“ „Damit kommst du nicht durch!“, brüllte Luciano und stürmte auf das gigantische Monstrum zu, das sich vor ihm auftürmte. Doch er hatte sich ihm nur wenige Meter nähern können, als ihn die Dunkelheit mit ihren schwarzen Ranken aufhielt. Sie brach über Luciano herein und verschlang ihn. Und während Lucia vor Angst erstarrt den Todeskampf ihres großen Bruders mit ansehen musste, fiel die Finsternis-Energie auch über sie her. Ehe Laura ihre Geschwister erreichen konnte, fielen nur noch deren leblosen Körper zu Boden. Trotz ihres angestrengten Hustens mühte sie sich zu ihnen, bis sie schließlich tränenüberströmt bei den Leichen angelangt war. „Neeeiiiiin!!!!“ Lauras gellender Schrei war so verzweifelt, so voller Schmerz und Trauer, dass Bennis Herz auf einmal unsagbar weh tat. Er wollte zu ihr gehen. Sie in den Arm nehmen und vor allem Grausamen was hier gerade geschah beschützen. Doch jegliche Kraft war aus seinem Körper gewichen. Er konnte nur voller Sorge und Angst um Laura beobachten, wie sie sich zitternd aufrichtete und zu dem Schwarzen Löwen hinaufblickte. Obwohl sie am ganzen Körper bebte, hatte sie ihre Hände zu Fäusten geballt. Der Schwarze Löwe legte den Kopf schief und betrachtete Laura. Doch ihr störrischer und dennoch von Trauer übermannter Blick schien ihm zu gefallen. „Ich gebe dir zwölf Jahre.“, sagte er schließlich wieder in seiner tiefen furchteinflößenden Stimme. „Bis zu deinem sechzehnten Geburtstag am zwölften Mai werde ich dir Zeit geben. Beweise mir, dass du es würdig bist dich der Finsternis-Energie zu bedienen.“ Nun stieß der Schwarze Löwe selbst ein ohrenbetäubend lautes Löwenbrüllen aus und eine gewaltige Finsternis-Flut brach über Laura herein. Benni hörte sich ihren Namen schreien und streckte die Hand nach ihr aus, als sich Laura zu ihm umdrehte. Ihr Blick wirkte leer und leblos und die Adern in ihren Augen und um diese herum stachen pechschwarz hervor. Sie schienen zu pulsieren, wie als würde die Energie der Finsternis durch sie fließen. Dann, wie in Zeitlupe, schlossen sich Lauras Augenlider und sie begann in die Knie zu sacken. Das beklemmende, erstickende Gefühl ignorierend welches sich in Bennis Brust ausbreitete mühte er sich auf die Beine. Als ein stechender Schmerz durch sein rechtes Auge zuckte. Es war fast so, als würde man ihm einen Dolch in dieses rammen. Alles um ihn herum schwankte als befände er sich auf einem Schiff, welches auf hoher See in einem Sturm gefangen war. Über Bennis Gesicht lief vom rechten Auge ausgehend eine warme Flüssigkeit und der Schmerz wurde immer stärker, immer höllischer, immer unausstehlicher, während die Finsternis auch über ihn hereinbrach. Er wollte nach Laura greifen, versuchte sie mit aller Kraft zu fassen zu bekommen, doch da riss der Schmerz ihn in die pechschwarze, abgrundtiefe Dunkelheit des Schwarzen Löwen. „Benni?“ Keuchend schreckte Benni hoch und blickte in Lauras besorgtes Gesicht. „Alles in Ordnung?“ Sanft strich sie ihm einige Strähnen aus dem Gesicht und wischte ihm dabei den Schweiß von der Stirn. Immer noch schwer atmend lehnte sich Benni zurück in das Stroh, wo er allem Anschein nach eingeschlafen war. „Ein Traum…“, erklärte er eher sich selbst als Laura. Die Sorge aus Lauras Gesicht verschwand nicht im Geringsten, als sie sich neben ihn kniete und immer noch über Bennis verschwitzte Stirn strich. „Wohl eher ein Albtraum.“, meinte sie schließlich. Benni atmete noch einige Male tief durch, bis sich sein durch den Albtraum beschleunigter Herzschlag wieder normalisiert hatte und er sich langsam aufrichten konnte. Laura beobachtete ihn derweil schweigend. „…Was hast du geträumt?“, erkundigte sie sich schließlich zögernd. Benni war sich selbst nicht ganz sicher. Vor kurzem noch hatte er sich Gedanken über jenen Tag vor genau zwölf Jahren gemacht. Derweil schien er eingenickt zu sein. Er betrachtete Laura, wie sie ihn mit ihren großen, braunen Augen immer noch besorgt musterte. „Von vor zwölf Jahren.“, antwortete er schließlich. „Davon?“ Laura zeigte auf Bennis rechtes, rotes Auge. Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Haare es gar nicht verdeckten. Benni nickte lediglich und Laura wandte den Blick ab. „Kaum zu glauben, dass inzwischen schon zwölf Jahre vergangen sind und sich der Schwarze Löwe bereits entschieden hat…“ Freudlos lachte sie auf. „Na ja, ‚entschieden‘.“ Seufzend legte sich Benni wieder hin, bettete dieses Mal seinen Kopf aber nicht im Stroh, sondern auf Lauras Schoß. Diese strich ihm durch sein Haar, während sie ihren eigenen Gedanken nachging. Benni beobachtete sie derweil. Obwohl der Tod von Lauras Geschwistern inzwischen zwölf Jahre in der Vergangenheit lag, machte er ihr auch in der Gegenwart noch schwer zu schaffen. So wie gerade, wenn Benni ihren betrübten Blick korrekt deutete. Schweigend ließen sie eine geraume Zeit verstreichen, bis sich Benni schließlich aufrichtete. „Was wolltest du eigentlich?“ Laura seufzte, immer noch bedrückt. „Na ja, ich wollte ja noch nach Yami um Lucias und Lucianos Grab zu besuchen. Und da wollte ich wissen, ob du… Nun ja… Also Carsten meinte, er würde sich mit mir hin teleportieren, aber ich wollte trotzdem, dass…“ „…Ich mitkomme?“, beendete Benni ihren stockenden Satz. Nervös drehte Laura das Kreuz an ihrer Halskette zwischen den Fingern und nickte. „Ich weiß ja inzwischen, dass Lucia und Luciano dich anscheinend nicht mochten… Und dass du sie auch nicht besonders gut leiden konntest, also deshalb… Es ist kein Problem, wenn du nicht möchtest.“ Benni schüttelte den Kopf und beugte sich zu Laura runter, die immer noch im Stroh kniete. „Wenn du dir wünschst, dass ich dich begleite, dann mache ich das auch.“ Er küsste sie kurz auf die Lippen und half Laura anschließend auf die Beine. Nach dem Mittagessen begleiteten die Mädchen Laura, Carsten und Benni bis zum Südwald außerhalb der Coeur-Academy, um sie zu verabschieden. Ariane drückte ihre Zimmergenossin an sich. „Dann bis nachher.“ „Tschau, Nane.“, murmelte Laura, immer noch leicht schwermütig. Sie winkte dem Rest noch zu, ehe sie den kleinen Kreis mit Carsten und Benni schloss und Carsten den Teleport-Zauber sprach. Vor Zukiyonaka angelangt, spazierten sie noch ein paar wenige Kilometer zur Kirche und dem daran angrenzenden Friedhof. Benni hielt sich trotz allem etwas abseits von den zwei Gräbern, vor denen Laura stand. Ebenso Carsten. Schließlich meinte Benni zu seinem besten Freund: „Warte bitte hier, ich komme gleich wieder.“ Carsten nickte nur und Benni verließ die beiden. Er wusste nicht genau, weshalb er das tat. Dennoch drängte irgendetwas ihn dazu, ein ganz bestimmtes Grab aufzusuchen. Auf dem Weg dorthin kam er an Eufelia-Senseis Gedenkstein vorbei. Schweren Herzens betrachtete Benni ihn. Irgendjemand schien sich um den Stein und die davor gepflanzten Blumen zu kümmern und die Vermutung lag nahe, dass es sich dabei Jacob und Samira Yoru handelte. Sogar die Drachen-Artigen Rosen blühten noch, die Benni mithilfe der Pflanzen-Energie bei der Trauerfeier erschaffen hatte. Wieder verstand Benni seine Taten nicht, doch trotzdem tätigte er eine knappe japanische Verbeugung vor dem Gedenkstein, ehe er seinen Weg fortsetzte und schließlich bei dem Grab angelangt war, welches er ursprünglich gesucht hatte. Es handelte sich um ein Doppelgrab, wie er nun feststellte. Auf der einen Seite lag eine gewisse Emma Weihe, geborene Herbert, welche vor 19 Jahren bereits verstorben war. Und auf der anderen Seite, seit wenigen Wochen… Auch um dieses Grab schien man sich regelmäßig zu kümmern und alleine der Gedanke daran, wie Samira, nein, wie Bennis Mutter wahrscheinlich mehrmals die Woche herkam um die Blumen zu gießen und dabei immer und immer wieder auf die geschwungenen Schriftzüge an dem Marmorgrabstein schaute… Benni wandte den Blick ab. Warum hatte er Nicolaus nicht retten können? Warum hatte er nach seiner Pflegemutter auch noch seinen Großvater an den Purpurnen Phönix verloren?! Ebenso wie Victor und Verona, die ihn ebenso großgezogen hatten. Seufzend ließ sich Benni auf der Wiese vor dem Grab im Schneidersitz nieder und betrachtete den weißen Marmorstein. Seine Großmutter mütterlicherseits hieß also Emma? Woran war sie gestorben? Wie war es seinem Großvater seitdem ergangen? Eine Weile lang saß Benni weiterhin so vor dem Grabstein und ging seinen Gedanken nach, als ein unvermittelt auftauchender Nebel seine Aufmerksamkeit erregte. Der Nebel war innerhalb weniger Sekunden bereits so dicht, dass selbst das Grab neben dem seiner Großeltern kaum mehr zu erkennen war. Ohne überhaupt nachzudenken sprang Benni auf die Beine und begab sich in Abwehrhaltung, während all seine Sinne nach einer Bedrohung suchten. „Benedict, nicht wahr? Groß bist du geworden.“ Eine helle, klare Stimme ließ Benni sich ruckartig umdrehen. Hinter dem Grabstein seiner Großeltern stand eine schemenhafte Gestalt, doch sie besaß weder einen Geruch, noch waren ihre Schritte zu hören als sie um das Grab herum zu Benni kam. Sie hatte die schmale Silhouette einer jungen Frau. Als erstes erkannte Benni die langen rötlichen Locken, die das blasse Gesicht dieser Gestalt umrahmten. Sie trug einen grünen Kimono, auf dem sich ein helles Blumenmuster abzeichnete. Als sie ihm trotz des Nebels nah genug war, konnte Benni die großen schokoladenbraunen Augen sehen, die ihn mit einer unverkennbaren Verachtung betrachteten. „Lucia.“ „Nanu? Du hast mich direkt erkannt?“ Lucia kicherte hinter vorgehaltener Hand. „Hast du mich nicht zumindest für einen Moment lang für Laura gehalten? Dabei trage ich sogar extra einen ähnlichen Kimono wie sie damals.“ „Du bist tot.“ Lucia entfernte die Hand von ihrem Mund und wurde sofort ernst. „Bin ich. Und Luciano ebenso.“ „Was machst du also hier?“ Ohne es selbst zu merken, spannte sich Benni noch mehr an. Jeden Moment bereit einen Angriff abzuwehren. Er suchte mit seinem Hör- und Geruchsinn nach Laura und Carsten, doch was auch immer dieser Nebel genau war, er hinderte Benni daran etwas von seiner restlichen Umgebung wahrnehmen zu können. „Wer weiß? Vielleicht hast du den Verstand verloren?“ Lucia warf ihm ein höhnisches Lächeln zu. Unbeeindruckt dessen schüttelte Benni den Kopf. „Ist das Magie? Wer hat dich geschickt?“ „Mars.“, beantwortete sie seine zweite Frage. Benni konnte immer noch nicht genau beurteilen, wie er sich gerade fühlte. Nur, dass sich eine eisige Kälte in ihm ausbreitete. So kalt, dass sich auf seinen Armen eine leichte Gänsehaut abzeichnete. „Was möchte er?“ Lucia ging einige Schritte zurück und lehnte sich gegen den Grabstein von Emma und Nicolaus Weihe. „Er möchte, dass du zu ihm kommst.“ „Und wenn nicht?“ Eigentlich wollte Benni es gar nicht wissen. Er merkte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte und irgendetwas ihm die Kehle zuschnürte, sodass das Atmen schmerzhaft schwerfiel. Lucia begann den Grabstein zu streicheln. „Ich vermute, du weißt bereits was dann passieren würde.“ Der Blick, den sie Benni daraufhin zuwarf war weder spöttisch noch amüsiert. In ihm lag der pure Hass. „Ich sagte doch, du sollest dich von meiner kleinen Schwester fernhalten.“ Das Atmen fiel Benni immer schwerer, er hatte den Eindruck nahezu gar keine Luft mehr zu bekommen und unentwegt zitterten seine Hände. Lucia verließ den Grabstein wieder und stand nun dicht vor Benni. „Mars gibt dir drei Tage Zeit. Heute mitgezählt. Solltest du dich bis zum Ende des dritten Tages nicht in irgendeiner Form bei ihm gemeldet haben und ihm versichern, alle seine Befehle ohne Widerworte und Fragen auszuführen, werden weder Laura noch Carsten das nächste Morgenrot mehr erblicken.“ Spöttisch verzog Lucia die Miene und während sie verschwand, lichtete sich der Nebel auch wieder. Benni konnte weder einen klaren Gedanken mehr fassen, noch war er überhaupt dazu in der Lage zu Atmen. Kraftlos sackte er vor dem Grab zusammen, dass sich gemeinsam mit der restlichen Erde zu drehen schien. „Benni?!?“ Nur gedämpft vernahm er Carstens Stimme, während er angestrengt nach Luft schnappte und gleichzeitig gegen die Besinnungslosigkeit kämpfte. „Benni!!!“, hörte er nun auch Lauras helle Stimme, die vor Angst einen leicht schrillen Ton angenommen hatte. Benni war kochend heiß. Es war fast so, wie als befände er sich in einem Fieberwahn. Als er den Halt unter den Füßen verlor spürte er lediglich, wie mehrere Arme ihn auffingen. Träge öffnete Benni die ihm schwer vorkommenden Augenlider. Seine Umgebung nahm er nur verschwommen war, was vermutlich an der Erschöpfung und der Hitze die seinen Körper quälte lag. Wo war er? „…Benni?“ Eine angenehm kühle Hand wurde auf seine überhitzte Stirn gelegt. „Wo…“ Mehr brachte Benni nicht zustande. Er hatte gerade so genug Kraft sich der Besitzerin der Stimme zuzuwenden und selbst Lauras Gesicht, ihre langen leicht rötlichen Haare und ihren schmalen, zierlichen Körper konnte er nur schemenhaft erkennen. „Wir sind bei Herr und Frau Yoru.“, meinte Laura und ihre Stimme drang immer noch leicht gedämpft zu Bennis Ohren durch. Jedoch klärte sich allmählich sein Blick und trotz der Erschöpfung und des Schwindels war er einigermaßen dazu in der Lage seine Umgebung zu erkennen. Er lag in einem großen Bett und Laura saß auf der Bettkante und musterte ihn voller Sorge. Da öffnete sich die Tür und Carsten trat ein. „Ist er aufgewacht?“ Laura nickte. „Eben gerade.“ „Was ist passiert?“, fragte Benni matt. Carsten seufzte und kam zu ihnen ans Bett. „Sag du es uns. Als du nach einer Weile nicht zurückkamst sind Laura und ich dich suchen gegangen. Als wir dich endlich gefunden hatten warst du am Hyperventilieren und bist kurz darauf zusammengebrochen.“ So war das also… So langsam kehrten Bennis Erinnerungen zurück. Erinnerungen, die er lieber sofort wieder verdrängen würde. Der Purpurne Phönix hatte also Lucias Geist oder was auch immer das war losgeschickt, um Benni mitzuteilen die Zeit sei nun abgelaufen. Er hatte nur noch bis übermorgen Abend und sollte er ihm bis dahin nicht bedingungslosen Gehorsam geschworen haben, dann… Zitternd zwang sich Benni dazu langsam und tief durchzuatmen. Er fokussierte seinen Blick auf Laura, die ihn immer noch besorgt betrachtete. Tatsächlich half dies und sowohl sein Atem als auch sein Herzschlag normalisierten sich wieder. Dennoch war ihm furchtbar warm und diese Hitze hatte eine beeinträchtigende Wirkung auf seine Sinne. So bekam er erst beim Öffnen der Zimmertür mit, dass sich noch zwei weitere Personen hier befanden. „Ist er wach?“, hörte er eine fürsorgliche Frauenstimme welche Samira Yoru gehörte, wie er kurz darauf feststellte. Carsten nickte. „Noch einmal vielen Dank für Ihre Hilfe.“ Jacob winkte ab. „Wir haben zu Danken. Und davon abgesehen: Hör doch bitte endlich auf, so förmlich mit uns zu sprechen.“ Samira kam derweil zu Laura und Carsten an die Bettkante. „Wie geht es dir, Benni?“ Benni wusste darauf nichts zu erwidern, doch das störte Samira nicht groß. Sanft strich sie ihm über die Wange. „Das Fieber ist inzwischen etwas gesunken.“, meinte Carsten an Samira und Jacob gewandt. Jacob atmete auf. „Das ist gut.“ „Wie bin ich hier her gekommen?“ Bennis Stimme klang immer noch mindestens genauso erschöpft wie er sich fühlte. Und warum hatte er auf einmal Fieber? Hatte Lucias Nachricht ihn wirklich so stark getroffen, dass er dadurch zusammengebrochen war und nun mit Fieber im Bett lag? Die Panik, die in ihm alleine bei dem Gedanken an diese Nachricht wieder hochstieg war Antwort genug. Doch ehe er sich in seiner Angst verlieren konnte, riss Lauras Stimme ihn aus seinen Gedanken. „Nachdem du bewusstlos geworden bist wussten wir erst nicht, was wir machen sollten. Dann kam Carsten auf die Idee, dass wir dich am besten zu Herr und Frau Yoru bringen.“ Carsten nickte. „Zum Glück habe ich von Saya Jacobs und Samiras Telefonnummer bekommen. Dadurch konnten wir sie anrufen und sie haben uns beim Friedhof abgeholt und dich hier her gebracht.“ Laura beugte sich zu Benni runter und strich ihm über die immer noch verschwitzte, durch das Fieber glühende Stirn. „Aber was ist denn passiert, dass du auf einmal zusammengebrochen bist? Ich meine… Das sah eher wie eine meiner Panikattacken aus… Irgendwie…“ Carsten gab ihr mit einem Nicken Recht. „Das stimmt, so etwas passt überhaupt nicht zu dir…“ Trotz seiner Erschöpfung wollte Benni Carsten von Lucias Auftauchen unterrichten, doch als sein Blick auf Laura fiel stockte sein Atem. Wie sollte er ihr nur sagen, dass ausgerechnet ihre verstorbene Zwillingsschwester die Botschaft des Purpurnen Phönix‘ überbracht hatte? Nun gut, er musste sie ja nicht zwingend erwähnen. Und trotzdem: Wie sollte er ihnen überhaupt erklären, dass der Purpurne Phönix Benni erpresste? Dass er sie würde verraten müssen, um sie vor einem grausamen Tod zu bewahren?! Benni wusste, dass er Laura und Carsten von diesem Vorfall eigentlich erzählen sollte. Aber dennoch brachte er aus einem unerklärlichen Grund kein Wort über die Lippen. Es handelte sich nicht um Magie, welche ihn davon abhielt etwas zu sagen. Allerdings… Es war fast so, wie als würde der erdrückende Schmerz in seinem Brustkorb, die Panik, die sich in ihm ausbreitete ihn daran hindern ihnen auch nur eine Kleinigkeit erzählen zu können. Da Benni nicht antwortete, oder eher nicht antworten konnte, tauschten Laura und Carsten nur einen kurzen Blick aus und richteten sich seufzend auf. „So verschlossen wie immer…“ Carsten schüttelte den Kopf und warf Benni ein melancholisches Lächeln zu. „Du weißt doch, dass du uns vertrauen kannst. Wir wollen dir doch helfen…“ Bei Lauras traurigem Blick wurde Benni das Herz schwerer, als es ohnehin schon war. „Ich…“ Er wollte irgendetwas darauf erwidern, irgendetwas. Doch erneut fand er keine Worte. Laura beugte sich noch einmal kurz zu Benni runter und küsste ihn auf die Wange. „Ist schon gut. Wir sind dir nicht böse. Versuch einfach dich noch ein bisschen auszuruhen, okay?“ „Dein Fieber ist zwar schon etwas zurückgegangen, aber es ist trotzdem besser, wenn wir über Nacht bei Samira und Jacob bleiben.“, meinte Carsten, „Was auch immer der Grund ist, dass ausgerechnet du mit Fieber im Bett liegst ist mir zwar schleierhaft, aber gerade deshalb würde ich lieber auf Nummer sicher gehen.“ Benni schaute Samira und Jacob fragend und nicht zuletzt immer noch erschöpft an. „Ist das in Ordnung? Also, dass wir…“ „Natürlich.“ Samira warf ihm ein warmes, liebevolles Lächeln zu. „Ruh dich einfach noch ein bisschen aus. Wir sind da, falls du etwas brauchst.“ Sanft strich sie Benni durchs Haar und obwohl er diese Frau immer noch kaum kannte hatte er den Eindruck, dass er sie von Sekunde zu Sekunde mehr als seine Mutter betrachtete. Laura und Carsten verließen zusammen mit Jacob und Samira das Zimmer und da Benni immer noch so schwindelig war, schloss er die Augen. Kurze Zeit später döste er tatsächlich weg und fiel in einen unruhigen Fiebertraum. Spät abends wachte Benni erneut auf und nach Angaben von Carsten war das Fieber bereits weitgehend wieder verschwunden. Trotzdem hatte Benni keinen Appetit, als Samira ihm angeboten hatte etwas zum Essen zu bringen. Zwar war das Fieber fast vollständig zurückgegangen, was es Benni endlich ermöglichte wieder halbwegs klare Gedanken zu fassen, aber dennoch blieb das erdrückende Gefühl in seinem Brustkorb bestehen. Und immer noch wusste er nicht, wie er Laura und Carsten diesen Vorfall mit Lucia erzählen sollte. Dies war auch der Grund, weshalb er bei der erneuten Frage was eigentlich geschehen war, wieder schwieg. Inzwischen waren sowohl Carsten als auch Samira und Jacob bereits ins Bett gegangen und nur noch Laura befand sich bei ihm im Zimmer. Wahrscheinlich, um ihm ebenfalls gute Nacht zu sagen. Verlegen knetete Laura den Saum des ihr viel zu großen schwarzen T-Shirts welches sie trug. Da niemand mit der plötzlichen Übernachtung gerechnet hatte, hatte Samira Carsten und Laura einfach etwas von Bennis Anziehsachen gegeben, die hier aufbewahrt wurden. Unter Bennis schwarzem T-Shirt hatte Laura nur noch ihre Radlershorts an, die sie auch immer unter den Miniröcken trug. Laura seufzte betrübt. „Na dann, ich gehe auch mal ins Bett. Oyasumi.“ Erneut beugte sich Laura vor um ihm auf die Wange zu küssen. Doch als sie sich zum Gehen wandte, packte Benni ihren Arm. „Warte…“ „Brauchst du noch etwas?“, erkundigte sich Laura und ihr fürsorglicher, liebevoller Tonfall besserte Bennis Situation nicht im Geringsten. Sie durfte nicht sterben! Benni wollte weder Laura noch Carsten verlieren müssen!!! „Kannst… du hier bleiben?“, äußerte Benni seine Bitte, die Laura augenblicklich verlegen hochschrecken ließ. „D-du meinst… Ich- ich soll… hier? Bei dir?“ „Bitte…“ Trotz allem war Benni immer noch unsagbar erschöpft. Ständig drifteten seine Gedanken zu jener Drohung ab. Und immer wieder erzeugte dies einen qualvollen Stich im Herzen und schnürte ihm die Kehle zu. Bei einer genaueren Betrachtung von Laura stellte er fest, dass sich ihre Wangen gerötet hatten. Doch sie gab seiner Bitte nach und legte sich zu ihm ins Bett. „Du wirkst irgendwie so verzweifelt… Was ist nur passiert?“ Laura legte ihren Kopf auf Bennis Brust und atmete zitternd aus. Benni schloss die Arme um sie und ehe seine Gedanken wieder ihren Weg zu diesem Vorfall fanden konzentrierte er sich auf Lauras Herzschlag und atmete ihren leicht süßlichen Duft ein. Dies half, denn alsbald fiel er in einen endlich traumlosen Schlaf. Am darauffolgenden Tag war Benni immerhin so weit, dass er den ersten Schock überstanden hatte. Das Fieber war vollständig verschwunden und würde sich nicht dieser dauerhafte Schmerz in seinem Herzen befinden, der ihn jede Sekunde an die Konfrontation mit Lucia erinnerte, hätte alles beim Alten sein können. Das Frühstück bei Samira und Jacob war geprägt von bedrücktem Schweigen und trotz der erneuten Nachfrage von Laura und Carsten, was nun eigentlich passiert sei, brachte er immer noch kein Wort über die Lippen. Benni konnte es einfach nicht. Er konnte es nicht übers Herz bringen ausgerechnet Laura und Carsten davon zu erzählen. Die restliche Zeit über schwieg Benni. Meistens bekam er die Gespräche gar nicht mit sondern war in sich gekehrt und mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Laura und Carsten schienen sich darauf geeinigt zu haben ihn und diese tristen Gedanken vorerst in Ruhe zu lassen. Die Verabschiedung von Jacob und Samira Yoru und die Teleportation zurück zur Coeur-Academy bekam Benni nur am Rande mit. Stattdessen beschäftigte er sich immer und immer wieder mit der einen Frage. Einer einzigen Frage, auf die er trotz allem hin- und her-Überlegen keine zufriedenstellende Antwort zu finden vermochte. Was soll er tun? Zu Bennis Glück brachten Carsten und Laura die restlichen Mädchen dazu sich mit ihren besorgten Erkundungen nach seinem Wohlbefinden von ihm fern zu halten. Stattdessen holte Carsten Eagle, der als eine Art Aushilfslehrkraft für die Kampfkünstler fungieren sollte, damit sie ihr Training nicht vernachlässigen mussten. Den Vormittag über verbrachte Benni also abgeschottet von dem Rest bei Chip, Wolf und Raven im Wald. Auch wenn sie ebenso wenig eine akzeptable Lösung finden konnten wie er, waren sie dennoch in der Lage, Bennis aufgebrachten Gefühle und die wirren Gedanken etwas beruhigen zu können. Während Benni gegen einen Baum lehnte und in unbestimmte Ferne schaute, hatte sich Raven auf seinem Schoß zusammengekugelt und ließ sich kraulen, während Chip auf seiner Schulter und Wolf auf dem Gras neben ihm zu schlafen schienen. Eigentlich wusste Benni schon wie er sich entscheiden würde. Die Antwort stand genaugenommen schon in dem Moment fest, in dem Lucia ihn vor die Wahl gestellt hatte. Er wollte es nur immer noch nicht wahrhaben. Würde er jetzt dem Purpurnen Phönix die Stirn bieten und nicht absoluten Gehorsam schwören, würden Laura und Carsten sofort sterben. Es war Bennis einzige Hoffnung durch seinen vermeintlichen Verrat etwas Zeit zu schinden. Die Zeit, die die restlichen Dämonenverbundenen nutzen mussten um einen Weg zu finden Mars Einhalt zu gebieten. Was genau will er eigentlich von mir?, fragte sich Benni. Er bezweifelte, dass der Purpurne Phönix ihn lediglich aufgrund seines Kampftalentes für sich gewinnen wollte. Benni hatte den unguten Eindruck, dass da noch mehr dahinter steckte. Auch wenn er sich keinen wirklichen Grund zusammenreimen konnte. Benni seufzte und betrachtete die drei Tiere, die sich um ihn versammelt hatten. „Werdet ihr für mich auf Laura und Carsten aufpassen?“ Chips Fell sträubte sich. ‚Niemals! Weil du weiterhin auf sie aufpassen wirst!‘ ‚Ihm bleibt keine andere Wahl.‘ Raven fauchte Chip an. ‚Wir haben doch schon festgestellt, dass wir uns in einer Sackgasse befinden.‘ Wolf gab ein langgedehntes, verärgertes Knurren von sich, erwiderte aber sonst nichts darauf. Das Mittagessen ließ Benni ausfallen. Er würde sowieso keinen Bissen herunterbringen können. Stattdessen verbrachte er die Zeit damit sich im Büro der Schülervertretung die neusten Formulare anzuschauen. Eigentlich hatte er gehofft dadurch auf andere Gedanken gebracht zu werden. Doch es half nichts. Benni betrachtete das Blatt Papier vor sich, dessen Inhalt er noch während des Überfliegens schon wieder vergessen hatte. Da wurde die Tür zum Direktorrat geöffnet und Herr Bôss trat ein. „Das Formular füllt sich durch böse anschauen leider nicht von selbst aus. Glaub mir, ich habe es oft genug versucht.“ Benni ignorierte den Direktor, welcher sich auf einen Stuhl auf die andere Seite des Schreibtisches setzte. Eine undefinierte Weile lang schwiegen sie, bis Herr Bôss die Hand auf Bennis Stirn legte und seine Temperatur zu prüfen schien. Er seufzte. „So wie du gerade aussiehst, habe ich Angst, dass du direkt wieder zusammenbrichst.“ Auf Bennis Blick hin meinte er nur: „Ich habe von Carsten gehört, dass anscheinend irgendetwas passiert ist.“ Offensichtlich war es eine unausgesprochene Aufforderung, ihm von Geschehenem zu berichten. Während Benni weiterhin den Papierbogen vor sich anschaute spürte er Herr Bôss‘ geduldigen Blick auf sich ruhen. Er wusste, dass es besser war mit irgendjemandem darüber zu reden. Doch wie sollte er all dies in Worte fassen können?! Er hatte sich Chip, Raven und Wolf nur anvertrauen können, da diese ihn auch ohne Worte schon verstanden hatten. Benni spürte wie seine Hände erneut zu zittern begannen und wie sich abermals eine eisige Kälte in seinem Körper ausbreitete. „Mars erpresst mich.“ Herr Bôss schien die Stirn zu runzeln. „Wie bitte?“ Gepresst versuchte Benni zu atmen. Das Zittern verstärkte sich und ihm wurde leicht schwummrig. „Wenn ich ihm nicht bis zum Ende des morgigen Tages bedingungslosen Gehorsam geschworen habe… Dann wird er Laura und Carsten…“ Der Schwindel wurde stärker und stärker und trotz seiner verzweifelten Atemversuche fehlte Benni die Luft. „Benni. Hey!“ Der Direktor legte seine Hand auf Bennis Schulter und verstärkte seinen Griff, um Bennis Aufmerksamkeit gewinnen zu können. „Sieh mich an.“ Obwohl sich alles um ihn drehte zwang Benni sich dazu in die Augen des Direktors zu schauen, die ihn mit einem fast schon giftigen grün besorgt musterten. „Tief durchatmen. Ganz langsam.“ Benni tat wie ihm geheißen und holte ganz langsam ganz tief Luft, um sie umso langsamer entweichen zu lassen. Er wusste nicht, wie lange er sich so auf seinen Atem konzentrierte, bis sich sein Herzschlag wieder normalisiert hatte und sowohl das Zittern als auch der Schwindel wieder abnahm. Benni fuhr sich mit der Hand über die erhitzte Stirn. „Entschuldigen Sie…“ Herr Bôss ließ Bennis Schulter wieder los und lehnte sich im Stuhl zurück, während er einen leisen Fluch von sich gab. „Seit wann weißt du davon?“, fragte Herr Bôss nach einer Weile. „Gestern.“, antwortete Benni lediglich. „Als ihr in Yami ward, nehme ich an.“ Benni nickte nur. Wieder dehnte sich das Schweigen über einen längeren Zeitraum hinweg, bis Benni schließlich fragte: „Wie würden Sie handeln?“ Herr Bôss schien nachzudenken, bis er letztlich meinte: „Wahrscheinlich genauso wie du.“ Nach einem Moment ergänzte er: „Ich würde kein Risiko eingehen wollen und vorerst machen, was er von mir verlangt. Das wäre auch dein Plan, oder?“ Erneut brachte Benni nur ein Nicken zustande. Es gab also tatsächlich keine bessere Alternative? Schließlich seufzte Herr Bôss bedrückt. „Oh Junge, schau mich bitte nicht so an. Das erinnert mich nur an einen anderen Jungen den ich nicht retten konnte und der deswegen jetzt in einer ähnlichen Situation ist.“ Für gewöhnlich hätte Benni die Aussage des Direktors kalt gelassen, doch unter diesen Umständen erweckte sie seine Neugier. „Wie meinen Sie das?“ Herr Bôss schien einen Moment zu überlegen und meinte schließlich: „Vielleicht ist nicht alles an der Situation schlecht.“ Wieder legte er Benni die Hand auf die Schulter. Dieses Mal wirkte diese Geste allerdings so, als wolle er ihm damit Mut zusprechen. „So wie ich das verstanden habe braucht ihr alle Dämonenbesitzer, um Mars Einhalt gebieten zu können. Wer weiß? Vielleicht wird es dir durch diese erzwungene Lage ja möglich sein zu dem Besitzer des Orangenen Skorpions durchzudringen?“ „Das soll das Positive daran sein?“ Verbissen verließ Benni seinen Platz am Schreibtisch und ging zum nahegelegenen Fenster, von welchem aus er den Wald betrachten konnte. Trotz allem war ihm immer noch sowohl kochend heiß als auch eiskalt gleichzeitig und seine Hände zitterten weiterhin, wie er bemerkte als er sie auf die Fensterbank legte. Herr Bôss seufzte. „Trotz allem noch ein Pessimist.“ Er schüttelte den Kopf. „Im Moment mag es vielleicht noch so wirken als wärst du machtlos, egal für welchen Weg du dich entscheidest. Das stimmt. Aber überlege doch mal, wo du dir überall auf einmal Zugriff wirst verschaffen können, wenn du dich in Mars Fängen befindest und er dir einen gewissen Freiraum lässt. Ich verlange nicht von dir zu einem Spion zu werden. Das würde Laura und Carsten nur unnötig in Gefahr bringen. Aber die Chancen stehen gut, dass du trotz allem gegen Mars wirst vorgehen können.“ „Sie meinen, ich soll Jack zum Guten bekehren.“, stellte Benni nüchtern fest. „Valentin ist nicht böse.“ Der Direktor sprach dies mit solcher Überzeugung aus, dass Benni sofort wusste, dass er Valentin beziehungsweise Jack persönlich kannte. „Genaugenommen ist er dir gar nicht mal so unähnlich. Ich mag vielleicht ziemlich naiv klingen, aber es ist gut möglich, dass du dazu in der Lage sein wirst ihm die Augen zu öffnen.“ Benni wandte seinen Blick vom Wald ab um den Direktor kritisch und mit leichtem Misstrauen zu mustern. „Ich nehme stark an, dass Valentin durch seine Zeit bei Mars den Wert von Freundschaft und ähnlich starken Bindungen vergessen hat.“, erklärte der Direktor trocken und wies mit dem Kopf auf Benni. „Für dich stand bereits von Anfang an fest, dass du alles in deiner Macht Stehende tun wirst damit die zwei überleben. Ist es nicht so? Eben weil sie dir so viel bedeuten.“ Zögernd nickte Benni. „Konfrontier Valentin damit. Genau genommen wirst du das automatisch, wenn er mit dir in Kontakt kommt.“ Der Direktor richtete sich auf und kam ebenfalls zum Fenster. Obwohl Benni relativ groß war fühlte er sich bei der zwei Meter hohen Gestalt dieses Mannes beinahe wieder wie ein kleines Kind. „Vielleicht wirst zumindest du in der Lage sein, ihn aus seiner Verzweiflung zu retten.“ Kapitel 54: Und Tränen ---------------------- Und Tränen Carsten saß bei den übrigen Mädchen im Mensaturm an einem der vielen Tische die durch die Ferien kaum besetzt waren und starrte gedankenverloren auf sein Mittagessen. Es war nun schon der zweite Tag, an dem Benni das Essen ausfallen ließ. Der zweite Tag, an dem er jedem von ihnen aus dem Weg ging. Auch die Mädchen schienen gerade daran gedacht zu haben. Ariane seufzte. „Herrje, das kann ja nicht wahr sein. Das ist schon genauso schlimm wie damals, als er noch so kalt und abweisend war.“ Anne lachte auf. „Vielleicht ein Rückfall der ‚eiskalten-Engel-Krankheit‘.“ „Das ist nicht witzig.“ Carstens Hände spannten sich an, während er verbissen ausatmete und dabei versuchte weiterhin ruhig zu klingen. „Ihr habt ihn vorgestern nicht gesehen. Es muss irgendetwas Schlimmes, also irgendetwas richtig Schlimmes passiert sein.“ Laura nickte und Carsten fiel auf, dass auch sie ihr Essen bisher nicht angerührt hatte. „Er wirkte irgendwie so furchtbar verzweifelt. So… so hilflos!“ Susanne seufzte bedrückt und lehnte sich im Stuhl zurück. „Ihr meintet, er wäre mit Fieber vor dem Grab seines Großvaters zusammengebrochen… Auf mich wirkt es so, als wäre das Grab der Auslöser für diesen Zusammenbruch gewesen. Aber eigentlich passt das nicht zu ihm.“ „Schon alleine, dass er mit Fieber zusammenbricht passt nicht zu ihm!“, rief Laura etwas aufgebrachter. „Das stimmt. Das ist wenn dann eher dein Job.“ Anne schaute Laura mit einem leicht fiesen, sarkastischen Grinsen an. Carsten legte seine Hand auf Lauras zitternden Arm. Natürlich nahm sie das alles unsagbar mit. Und Carsten konnte ihre Gefühle sehr gut nachvollziehen, immerhin würde er gerade selbst am liebsten all seinen Frust und all seine Verzweiflung herausschreien. Aber so unnötig Annes Kommentare in dieser ohnehin schon angespannten Situation waren, Laura sollte sie trotzdem nicht töten. Geräuschvoll atmete Laura aus und versuchte den Kommentar zu ignorieren. Janine seufzte. „Es hat keinen Sinn. Wir kennen den Ursprung all dessen nicht und da Laura und Carsten auch nichts mitbekommen haben, bleibt uns keine andere Wahl, als Benni darum zu bitten alles zu erzählen.“ „Ja, aber Mister ‚Ich mache aus meinem Leben ein riesiges Geheimnis‘ würde sich uns niemals anvertrauen.“ Öznur schüttelte den Kopf. „Das haben wir doch schon damals gemerkt, als es letztlich Florian war, der uns von Bennis Vergangenheit erzählt hat.“ „Aber Benni hat sich doch sogar uns gegenüber inzwischen etwas geöffnet.“, widersprach Janine. Ariane zuckte mit den Schultern und wirkte im Gegensatz zu sonst alles andere als optimistisch. „Wir können es drehen und wenden wie wir wollen, aber bisher hat er sich noch nicht einmal Laura oder Carsten anvertraut. Und gerade Carsten schien doch sonst auch immer sein Ansprechpartner für Sachen die ihm zu schaffen machen gewesen zu sein.“ Mutlos senkte Carsten den Kopf. Ariane hatte Recht. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er von Benni immer die Ursache erfahren hatte, falls sein bester Freund mal Kummer hatte. Auch, wenn er sich diesen Kummer nicht immer anmerken ließ. Er wusste von Bennis einstiger Sorge, dass seine Eltern ihn für ein Monster hielten und deshalb ausgesetzt hatten. Er konnte seine Angst um Laura sehen, wenn es dieser nicht gut ging. Er wusste, warum sich Benni so stur weigerte Fleisch zu essen. Selbst bei der Ermordung von Victor und Verona, Konrads Eltern, hatte Benni durchscheinen lassen, dass jemand ihm wichtiges verstorben war, auch wenn Carsten diese Personen nicht kannte. Und auch von dem Vorfall vor einem, bald zwei Jahren als Laura nach einer Art Streit den Kontakt zu Benni abgebrochen hatte, hatte Benni ihm erzählt, trotz Carstens damaligem Aufenthalt im FESJ. Verzweifelt ballte Carsten die Hände zu Fäusten. Nur dieses Mal wusste er nicht, was mit Benni los war. Ausgerechnet dieses Mal! Wo man sogar an Bennis körperlicher Reaktion hatte erkennen können, dass es zu viel für ihn war. Dass er dem, was auch immer ihn belastete, nicht standhalten konnte. Die Mädchen schienen seinen Gefühlskampf beobachtet zu haben, denn erst als Laura ihre Hand auf Carstens Faust legte bemerkte er die Stille an diesem Tisch. Und in dieser Mensa. Es war alles so beängstigend still, fast schon so wie als wäre es die Ruhe vor dem Sturm. Eine leichte Panik stieg in Carsten auf, auch wenn er sich nicht erklären konnte, warum. Doch zum Glück riss Susannes Stimme ihn aus seinen Gedanken. „Vielleicht braucht Benni einfach noch etwas Zeit. Wenn es ihn wirklich so sehr belastet ist es doch gut möglich, dass sogar er erst einmal eine Weile braucht, um seine Gedanken zu sortieren.“ Langsam nickte Carsten. „Ich hoffe, du hast Recht…“ Nach dem Mittagessen wollte die Gruppe noch etwas Freizeit haben und sich nicht direkt wieder dem Training zuwenden. Außerdem brauchte Öznur die Zeit, um mit Susanne zu lernen, da immer noch die Nachprüfung in Mathe bevorstand und Öznur unter keinen Umständen das Jahr wiederholen wollte. Carsten machte sich auf den Weg zum Westwald, um etwas mit seinen tristen Gedanken alleine zu sein. Freudlos lachte er auf. Er war fast schon so wie Benni. Welcher, wie wenn man vom Teufel sprach, am Eingang des Waldes stand und Carsten mit seinem ruhigen, neutralen Blick beobachtete. Zögerlich ging Carsten zu Benni rüber und versuchte das unwohle Gefühl in seinem Bauch zu ignorieren. Bei seinem besten Freund angekommen nutzte er den Moment des Schweigens um ihn genauer betrachten zu können. Auf den ersten Blick wirkte Benni so kühl und abweisend wie immer, doch wenn man ihn genauer betrachtete… Bennis neutraler Blick wirkte eher so wie damals, als Nicolaus gestorben war. So, als würde er sich keine Emotionen erlauben. Und dennoch ließen die leichten Augenringe ihn erschöpft wirken. Benni wich Carstens besorgtem Blick aus und ging in den Wald, was Carsten als Aufforderung verstand ihn zu begleiten. Eine Zeit lang, die sich in eine quälende Ewigkeit zu dehnen schien, ging Carsten neben Benni durch den Wald und beobachtete seinen besten Freund weiterhin. Als würde er hoffen, aus Bennis Gesicht selbst die Antworten auf seine drängenden, verzweifelten Fragen lesen zu können. Was ist los mit dir? Was ist passiert? Schließlich ergriff Benni das Wort und durchbrach das erdrückende Schweigen. „Ich muss gehen.“ Carsten runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ Benni setzte sich beim nächstgelegenen Baum auf dessen Wurzel. Carsten setzte sich ihm gegenüber ins Gras und beobachtete ihn weiterhin. „Vorgestern kam eine Art Geist von Lucia zu mir und überbrachte mir eine Botschaft von Mars. Sollte ich ihm nicht bis zum Ende des heutigen Tages versichern alle seine Befehle ohne Widerworte und Fragen auszuführen, werden du und Laura sterben.“ Mit einem Schlag hatte Carsten den Eindruck sein Herz hätte aufgehört zu schlagen. Er wollte Benni zurufen er habe den Verstand verloren, doch irgendetwas in Carsten sagte ihm, dass dem nicht so war. Benni sagte die Wahrheit. Die grausame Wahrheit. Das war es also gewesen, dem selbst sein bester Freund nicht mehr standhalten konnte. Nun verstand Carsten Bennis Zusammenbruch. Besser als ihm lieb war sogar. „Und… und du…“ Carsten zwang sich dazu ruhig zu atmen. Es fiel schwer, nicht die Beherrschung zu verlieren. Es war regelrecht unmöglich. Einzig das Betrachten Bennis nahezu versteinert wirkenden Gesichtes half Carsten, sich zusammenzureißen. Benni wirkte zu emotionslos. Und den Augenringen nach zu urteilen hatte er letzte Nacht nicht eine Sekunde Schlaf finden können. „Ich werde machen was er sagt.“, beendete Benni Carstens Satz. Trotz allem wirkte seine Stimme seltsam beherrscht und kühl. Zu beherrscht und kühl. Carsten atmete tief durch. „Du hast das also einfach so beschlossen. Ohne dich jemandem von uns anzuvertrauen?“ Nach einer Weile meinte Benni: „Mir bleibt keine andere Wahl.“ „A-aber…“ Carsten ballte die Hand zur Faust. Eine unsagbare Wut kochte in ihm auf. „Warum hast du dich nicht zumindest uns anvertrauen können?!“, rief er verzweifelt. „Wir hätten gemeinsam nach einer Lösung suchen können.“ Benni wandte den Blick ab. „Es gibt keine andere Lösung.“ Carsten biss die Zähne zusammen. „Immer willst du alles auf eigene Faust machen! Du bist unmöglich, weißt du das?! Wir sind doch da für dich! Wir stehen hinter dir!!! Und du beschließt einfach so, hinter unserem Rücken, dass dir keine andere Wahl bleibt als uns zu verraten?!?“ Benni beobachtete Carsten weiterhin mit seinem emotionslosen Blick und erwiderte nichts darauf. Carsten war aufgesprungen. „Von mir aus! Dann geh doch!!! Ich will keinen Freund haben, der mir nicht vertraut!!!“ An Bennis Mimik veränderte sich immer noch nichts, doch Carstens Mundwinkel verzerrten sich zu einem traurigen Lächeln. „Das ist es doch, was du von mir nun hören wolltest, oder?“ Als Benni den Blick abwandte wusste Carsten, dass er Recht hatte. Bedrückt seufzend setzte er sich wieder hin. Einerseits würde er am liebsten hier und jetzt in Tränen ausbrechen. Andererseits war da noch dieser Zorn. Diese unbändige Wut. Dieser Hass auf Mars. Wie konnte er es wagen Benni das anzutun?! „Es ist besser ihr hasst mich, wenn ich euch in naher Zukunft als Feind gegenüberstehen muss.“, meinte er schließlich. So wollte er also damit fertig werden? Nun gut, es fiel ihnen leichter gegen Benni zu kämpfen, wenn sie in ihm den herzlosen Verräter sahen und dadurch hassen würden. Allerdings… Carsten lachte auf, jedoch klang es eher verzweifelt und verbittert. „Vergiss es Benni, ich kann dich nicht hassen. Immerhin bist du doch mein bester Freund. Und… Genauso wenig kann ich dir deine Entscheidung übel nehmen.“ Benni kniff die Augen zusammen. Das schien nicht die Reaktion von Carsten gewesen zu sein, die er sich erhofft hatte. Und dennoch hatte Carsten den Eindruck, dass Benni sich auch darüber freute. Dass er dankbar war. Carstens Vermutung bestätigte sich, als tatsächlich ein leises, schwaches „Danke“ über Bennis Lippen kam. Carsten legte eine Hand auf Bennis Schulter, die ganz leicht zitterte, wie er nun feststellte. „Überlass das hier uns. Wir finden schon einen Weg Mars aufzuhalten.“ Benni reagierte darauf lediglich mit einem Nicken. Carsten konnte die Zeit nicht einschätzen in der sie noch so da saßen. Er wusste nur, dass von Minute zu Minute seine Trauer und Verzweiflung zunahmen. Ebenso die Wut und der Hass. Schließlich atmete Benni tief durch und stand auf. „Erzähle dem Rest bitte trotzdem nichts. Es ist immer noch sinnvoller, wenn sie in mir den Feind sehen.“ Widerwillig nickte Carsten. „Und Laura?“ Sie würde es niemals verkraften gegen Benni kämpfen zu müssen. Sein ‚Verrat‘ würde ihr das Herz brechen! „Ich wollte jetzt zu ihr.“ Carsten atmete auf und betrachtete Benni ein letztes Mal genauer. Nun fiel ihm deutlich auf, dass es Benni alle Selbstbeherrschung die er hatte zu kosten schien, um auch nur aufrecht stehen zu können. Er sah deutlich den inneren Kampf, den sein bester Freund auszutragen hatte. Carsten zwang sich zu einem aufheiternden Lächeln. „Versuch doch zur Ausnahme mal jedenfalls ein bisschen optimistischer zu sein. Vielleicht hilft dir etwas farbigere Kleidung ja dabei!“ Benni gab daraufhin nur ein „Pff“ von sich, doch er wirkte tatsächlich ganz leicht belustigt. Schließlich wandte er sich ab. „Pass bitte für mich auf Laura auf.“ Carsten fühlte sich, wie als wäre er kurz davor am Galgen gehängt zu werden. „Mach ich.“ „Sayonara.“ Und Benni ging. Kraftlos lehnte sich Carsten gegen den Baum und schaute in das grüne dichte Blättergewirr. Er schwitzte und fror gleichzeitig und erst als er sich über die müden Augen rieb bemerkte er die Tränen, die bereits über seine Wangen liefen. Er wollte all seinen Frust herausschreien, doch es ging nicht. Es war wie als würde der Schrei in seiner Kehle stecken bleiben und dadurch verhindern, dass er zu Atem kam. Gut möglich, dass Carsten eine ganze Stunde lang so verbracht hatte, bis im Laub raschelnde Schritte seine Aufmerksamkeit erregten. Aus dem Wald kam eine Person auf ihn zu, doch trotz der schwarzen Kleidung war es nicht Benni. Das schwarze Band-T-Shirt, der Nietengürtel, die schwarze bis zu den Knien reichende Jeans, die Bikerboots, der Sitecut… Sofort war Carsten auf den Beinen und bereitete sich darauf vor in jedem Moment einen Zauber wirken zu müssen während er in Jacks grasgrüne Augen schaute. „Du lebst tatsächlich noch.“, war Jacks Begrüßung und ein schwacher Hauch Erleichterung schwang in seiner Stimme mit. Doch dieser Hauch war zu schwach, als das Carsten ihn bemerken würde. Oder eher als das er ihn bemerken wollte. Immer noch bekriegten sich die Gefühle in seinem Inneren. Trauer, Verzweiflung, Wut und Hass. Besonders dieser unsagbare Hass. „Was ihr ihm angetan habt…“ Zwar hörte Carsten seine eigenen Worte nicht, so benebelt war er von all diesen Gefühlen die über ihn hereinbrachen, jedoch schien seine Stimme tief und bedrohlich. Und voller Hass. Irritiert runzelte Jack die Stirn. Doch alleine das reichte aus um Carsten nur noch mehr zu provozieren. Mit einem Zischen umgab ihn in einer lilafarbenen flammenden Aura seine Magie. Eine Handbewegung reichte aus um einen Magieschub auf Jack loszuschicken, welcher diesen im letzten Moment mit einer aus dem Boden schießenden Steinwand abwehren konnte, die bei dem Treffer in ihre Einzelteile zerbarst. „Was ist denn los?!“, rief Jack über das ohrenbetäubende Krachen zu Carsten. „Das weißt du ganz genau, sonst wärst du wohl kaum hier!“, brüllte Carsten zurück und ließ eine weitere Flut der lila-lodernden Macht auf Jack los. Jack wich jedoch schnell genug zur Seite aus und fing den Aufprall mit einer Rolle ab, während Carsten den nächsten Angriff startete. Diesen konnte Jack nur noch zum Teil blocken. Vorsichtig richtete er sich wieder auf. Sein linker Arm, mit dem er sich geschützt hatte, war übersäht von einem Mix aus Schnitt- und Brandwunden. Doch Carsten war noch nicht fertig. All dieser Hass auf Mars der sich in der letzten Stunde angestaut hatte, all dieser Zorn wollte endlich entweichen. Carsten hatte beinahe den Eindruck blind zu sein. Er sah nur noch Jack und in ihm die Möglichkeit seinen Hass zu entladen. Er war nicht mehr der ‚gutmütige Trottel‘. Es scherte ihn nicht, dass er eigentlich Kampfmagie verabscheute und sich nur aufs Heilen spezialisiert hatte. Er wollte keine Leben retten. Er wollte nur noch töten. In die lilafarbene Aura mischten sich schwarze Flammen und Carsten formte sie zu einer Menschengroßen Kugel die den Verursacher dieses Hasses vernichten sollte. Die Jack vernichten sollte. Er hatte Benni all das angetan. Er und Mars. Sie mussten dafür bezahlen. Jack stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen ein „Fuck“ hervor, während er sich zur Abwehr bereit machte. Mit einem Schrei mit dem Carsten endlich all seinen Frust, all seinen Schmerz und all seine Verzweiflung herausstieß ließ er die flackernde Kugel mit rasanter Geschwindigkeit losfliegen. Als sie etwa die Hälfte des Weges hinter sich gebracht hatte tauchte eine grünlich schimmernde Barriere auf, die die Kugel abblockte und einen großen Teil der Explosion absorbierte. Dennoch war die Druckwelle stark genug um einen tosenden Wind in alle Richtungen zu schicken, bei dem sich sowohl Carsten als auch Jack schützend die Arme vors Gesicht halten mussten. „Was zum Teufel ist hier los?!“ Die laute, tiefe und nicht zuletzt verärgerte Stimme schien dem Erschaffer der Barriere zu gehören. Mit einem Schlag wich alle Kraft aus Carstens Körper und mit einem Keuchen sank er auf die Knie. Die Welt um ihn herum drehte sich und in Carsten stieg eine Übelkeit hoch, die ihn zum Erbrechen zwang. „Carsten!“ Schnelle Schritte näherten sich ihm und während Carsten hustend nach Luft schnappte wurde er an den Schultern gepackt. Eine leicht grünliche Aura umgab ihn und er merkte, wie er wieder an Kraft gewann. Es musste Heilungs-Magie gewesen sein, wie Carsten feststellte als er aufblickte und in Herr Bôss giftgrüne Augen schaute. Dieser seufzte. „Ihr Jungs wollt mir noch den Verstand rauben, oder?“ Auch wenn ein Hauch Sarkasmus in seiner Stimme lag schien er es ernst gemeint zu haben. Herr Bôss wandte seinen Blick dem anderen Anwesenden zu. „Valentin.“ Nun schaute auch Carsten auf und beobachtete Valentin/Jack. Dieser hatte zu seiner Überraschung einen leicht ratlosen aber auch verzweifelten Ausdruck auf dem Gesicht. Carsten war sich nicht sicher, wie er den Blick deuten sollte mit dem Jack den Direktor betrachtete. „Herr Bôss…“, brachte er lediglich hervor. „Lange nicht mehr gesehen.“ Carsten fiel auf, wie sich auf den Lippen des Direktors ein trauriges Lächeln abzeichnete, woraufhin Jack den Blick abwandte. Herr Bôss fuhr derweil unbeirrt fort. „Du bist groß geworden. Wie alt bist du inzwischen?“ „20.“ Jack hatte den Blick immer noch abgewandt. „Wirklich? Schon?“ Herr Bôss seufzte. „Wahnsinn, wie schnell die Zeit vergeht. Die Frisur steht dir übrigens.“ „Lassen Sie das.“, stieß Jack zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Carstens Gedanken überschlugen sich. Die beiden kannten sich. Eindeutig. Nur woher? Besonders, da Jack den Eindruck machte als sei ihm diese Situation äußerst unangenehm. Irgendwie schien er den Direktor sehr zu respektieren, wenn Carsten seine Reaktionen richtig deutete. „Du bist hier um Benedict abzuholen. Ist es nicht so?“, vergewisserte sich der Direktor. Jack brachte als Antwort lediglich ein Nicken zustande. Carsten schaute Herr Bôss verwundert an. „Sie wussten davon?“ „Er hat es mir gestern erzählt.“, erwiderte Herr Bôss, wandte seinen Blick allerdings nicht von Jack ab. Carsten biss sich auf die Unterlippe, bis diese zu bluten begann. Dann hatte sich Benni also wirklich noch jemandem anvertraut? Warum gerade dem Direktor? Warum war er nicht sofort zu Carsten gegangen?! Carsten nahm es Benni nicht übel. Er konnte es ihm gar nicht verübeln. Und trotzdem… Warum hatte er sich eher dem Direktor als seinem besten Freund geöffnet? „Sei so gut und nimm etwas Rücksicht auf ihn.“, meinte Herr Bôss an Jack gewandt und wies auf Carsten. „Seine besten Freunde zu verraten um sie vor dem Tod zu bewahren ist nicht gerade einfach. Selbst für den eiskalten Engel.“ Überraschender Weise nickte Jack darauf hin nur und ging auf sie zu. Kurz trafen sich Carstens und Jacks Blicke. Und er wurde den Gedanken nicht los einen Anflug von Schmerz in Jacks grünen Augen gesehen zu haben. Jack ging weiter, an ihnen vorbei und verschwand aus Carstens Sichtfeld. Nun ließ auch die restliche Anspannung nach und Carsten sackte erneut zusammen während sein Atem eher einem Keuchen glich. „Ganz ruhig. Du hast zu viel Magie verbraucht und damit kommt dein Körper jetzt nicht klar.“ Vorsichtig half Herr Bôss Carsten auf die Beine, welcher immer noch etwas taumelte. Doch allmählich besserte es sich wieder und Carsten konnte wieder ruhig atmen. „Warum haben Sie Jack gehen lassen?“ „Er muss Benedict zu Mars bringen. Wenn wir ihn jetzt aufhalten wird Mars nicht erfahren können, dass Benedict vorhat sich ihm euch zuliebe zu beugen. Dann würde Mars sowohl dich als auch Laura umbringen und für Benedict wäre alles verloren.“ Herr Bôss klang unheimlich neutral und resigniert bei seiner Erklärung, was Carsten ob er wollte oder nicht sofort an Benni erinnerte. Benni… Warum musste all das ausgerechnet ihm passieren? „Warum er?“ Ohne es zu wollen überkam Carsten ein Schluchzen. Der Direktor seufzte. „Das würde ich auch gerne wissen. Ob es daran liegt, dass er der Erbe des Yoru-Clans ist?“ Gedankenverloren nickte Carsten. Dies war durchaus möglich, wenn man daran dachte was Lissi ihnen einst berichtet hatte. Bei der Abendgesellschaft hatte sie immerhin von Lukas erfahren, dass Mars nun auf der Suche nach dem Erben des Yoru-Clans war. Also auf der Suche nach Benni. Verbissen wandte Carsten den Blick ab. Mars hatte sein Ziel also erreicht… Laura saß in ihrem Zimmer am Schreibtisch und schaute den geöffneten Skizzenblock an ohne auch nur die Motivation fürs Zeichnen zu besitzen. Seufzend drehte sie den Bleistift zwischen ihren Fingern. Ariane war gemeinsam mit Lissi und Anne im Schwimmbad der Coeur-Academy ein paar Bahnen schwimmen gegangen und da Laura immer noch nicht wirklich schwimmen konnte hatte sie sich nun alleine in ihrem Zimmer verkrochen um… Na ja, um eben ihren Skizzenblock anzustarren. Da klopfte es gegen ihre Zimmertür. „Ja?“ Laura hatte eigentlich damit gerechnet, dass es Carsten war. Deshalb war sie umso überraschter, als Benni ihr Zimmer betrat. Laura fiel der Stift aus der Hand. „B-Benni…“ Nicht wissend wie sie reagieren sollte starrte sie einfach Benni an, wie er zu ihr an den Schreibtisch kam und den Bleistift vom Boden hob. Ohne ein Wort setzte er sich auf Lauras Bett neben dem Tisch. Eine Weile beobachtete Laura Benni lediglich. Wenn sie es nicht besser wüsste würde sie sagen er sähe ganz normal aus. Doch sie wusste es besser. Für sie war der Schmerz in seinen Augen nicht zu übersehen. Ja, beide Augen, stellte Laura überrascht fest, als sie realisierte, dass Bennis Haare nur noch in einzelnen Strähnen in sein Gesicht fielen und dadurch das rote Auge nicht mehr ganz verdeckten. Laura versuchte das unangenehme Gefühl welches sich in ihr ausbreitete herunterzuschlucken, doch es gelang nicht. Vorsichtig legte sie ihre Hand erst auf Bennis Stirn und dann auf seine Wange, da sie befürchtete, dass er wieder Fieber hatte. Aber sein Gesicht fühlte sich kälter an als ihre eigene überhitzte Haut. „Du hattest Recht.“, meinte Benni plötzlich. Verwirrt runzelte Laura die Stirn. „Wie meinst du das?“ „Das was du vor der Reitprüfung gesagt hattest… Deine Sorge, Mars könne sein Ziel tatsächlich erreichen. Du hattest mit allem Recht gehabt.“ Benni legte den Bleistift den er bisher immer noch verkrampft in der Hand gehalten hatte auf dem Schreibtisch ab und ließ sich in Lauras Bett fallen. Laura wusste nicht, was sie denken sollte. Was hatte Benni da gerade gesagt? Wie meinte er das mit Mars und sein Ziel erreicht? Zögernd verließ Laura ihren Platz auf dem Schreibtischstuhl und setzte sich neben Benni auf das Bett. Sanft strich sie ihm über den Arm und beobachtete, wie Benni ausdruckslos an die Decke starrte. „Ich verwirke gerade mein Leben…“, murmelte er vor sich hin, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders. Und Laura verstand noch weniger. „Benni, bitte sag mir was los ist!“ Das einzige was sie gerade wusste war, dass sie unsagbare Angst um Benni hatte. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass er vorgestern auf einmal zusammengebrochen war und sich seit gestern bis eben nicht mehr hatte blicken lassen… Jetzt redete er auch noch etwas über Mars könne sein Ziel erreicht haben und Benni verwirke sein Leben! „Benni, das macht mir Angst! Bitte!“ Die Panik die sich in Laura ausbreitete sorgte dafür, dass sich Tränen in ihren Augen sammelten. „Was ist los?!?“ Endlich erwiderte Benni ihren Blick. Seine Augen waren leer und trostlos, während er seine Hand auf Lauras Wange legte und ihr einige der Tränen mit dem Daumen wegstrich. „Ich will nicht, dass du stirbst. Oder Carsten. Deshalb muss ich dich… Muss ich euch alle verlassen.“, erklärte er mit matter Stimme. Laura verstand noch weniger. Wobei sie eher den Eindruck hatte, sie wollte gar nicht verstehen was er da sagte. Wie er müsse sie verlassen?! So ein Blödsinn!!! „Wir sterben schon nicht! Du musst nicht gehen!“ Laura schluchzte. Im Prinzip hatte sie doch verstanden, was er gemeint hatte. Nein, das war eine Lüge! Das war ein mieser Scherz! Genau!!! Da erlaubte sich einfach wieder jemand einen gemeinen Scherz mit ihr und Benni. Wie der Schwarze Löwe damals! „Hör auf damit! Das ist nicht lustig!!!“, schrie Laura verzweifelt unter Tränen. „Denkst du ich finde das lustig?“ Obwohl Bennis Stimme nur ein kleines bisschen lauter geworden ist zuckte Laura schon zusammen. Doch sie hörte auch die Verzweiflung die in seiner Stimme lag deutlich raus. Zu deutlich. „Ich muss gehen, mir bleibt keine andere Wahl. Wenn nicht werden du und Carsten-“ Benni brach ab und atmete zitternd aus. Einen kurzen Moment lang beobachtete Laura, wie Benni nahezu um Selbstbeherrschung zu kämpfen schien, bis sie es nicht mehr mitansehen konnte. Vorsichtig legte sie sich neben ihn auf das Bett und nahm ihn in den Arm. „Bist du vorgestern deshalb zusammengebrochen?“ Sie spürte, wie Benni nickte. Ironischerweise war es Laura herzlichst egal, dass Mars tatsächlich damit drohte sie umzubringen. Also, es war ihr insofern egal, da ihr im Moment nichts an ihrem Leben lag. Viel schlimmer war es mitansehen zu müssen, wie diese Drohung Benni so unglaublich fertig machte. Ausgerechnet Benni! Derjenige, der fast sein ganzes Leben lang keine Gefühle gekannt oder gar empfunden hatte! Der von vielen aus diesem Grund eiskalter Engel genannt wurde! Warum musste Mars also ausgerechnet Bennis Gefühle nun ausnutzen?!? Warum mussten seine Gefühle, kaum dass er sie endlich zuließ, sich als eine Art Schwäche entpuppen?!? Laura verstärkte ihren Griff um Benni und kämpfte gegen weitere Tränen an. Sie wusste nicht, wie er vorgestern davon erfahren hatte. Es war ihr auch egal. Das einzige was sie im Moment beschäftigte war, dass Benni hier in ihren Armen lag und sich überhaupt nicht mehr Benni-typisch verhielt. Dass er wegen Mars in einen tiefen Abgrund der Verzweiflung gerissen wurde. „A-aber… Wie meinst du das mit du verwirkst gerade dein Leben?“, fragte Laura zitternd. „Weil ich dir das Herz brechen werde, wenn ich gehe.“, antwortete Benni tonlos. Laura erinnerte sich an seine Worte auf der Abendgesellschaft zu ihrem Vater, als dieser den Kuss mitbekommen hatte. ‚Sollte ich Ihrer Tochter wirklich das Herz brechen, wäre mein Leben ohnehin verwirkt.‘ Plötzliche Panik stieg in Laura auf. „Nein, das tust du nicht!!!“, schrie sie und klammerte sich an Bennis T-Shirt und seine Haare. „Du machst das ja nicht freiwillig, du machst das, weil du von Mars erpresst wirst!!! Ist es nicht so?!? Du willst doch überhaupt nicht gehen, das sehe ich! Das einzige, was mir gerade das Herz bricht ist dich so leiden zu sehen!!!“ Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in Bennis Haaren. Warum er? Warum ausgerechnet er?!? Eine Weile lang schwiegen sie, nur Lauras Schluchzen erfüllte den Raum. Schließlich löste sich Benni seufzend aus ihrer Umarmung. „Was mach ich nur mit dir?“ „Ich… Keine Ahnung.“, schniefte Laura. Immer noch weinend beobachtete sie Benni, wie er ihr gegenüber lag. Seine weißblonden Haare fielen immer noch in vereinzelten Strähnen über sein Gesicht, sodass sie dieses endlich mal komplett betrachten konnte, wozu sie nur sehr selten die Gelegenheit hatte. Sowohl das schwarze als auch das rote Auge zu sehen war zwar ungewöhnlich, aber irgendwie… Laura fand ihn damit noch hübscher, als wenn Benni sein rechtes Auge durch die Haare verdeckte. Was die Situation trotz allem nicht verbesserte, wie Laura schluchzend feststellte. Sanft strich Benni mit den Fingern über ihre Wange und wischte wieder einige der Tränen weg. „Wäre es dir lieber, wenn ich abweisender bin? Fällt es dir leichter mich gehen zu lassen, wenn ich mich wie Abschaum dir gegenüber verhalte?“ Laura schreckte hoch. „Was?! Nein, nie im Leben!!! Ich- ich meine natürlich will ich nicht, dass du gehst! Immerhin liebe ich dich doch!!! Aber… Aber ich verstehe, warum du gehen musst. Würde man mir sagen ich solle mich entscheiden zwischen Verrat und deinem und Carstens Tod… Na ja… Natürlich würde ich alles dafür tun, dass ihr am Leben bleibt.“ Erst jetzt fiel Laura auf, dass sich Bennis Augen vor Überraschung ein ganz kleines bisschen geweitet hatten. Er atmete aus und strich über Lauras Haar. „Dadurch fällt es zwar nun mir nicht gerade leichter zu gehen, aber danke.“ Immer noch schniefend wischte sich Laura über die Augen, musste bei diesem leichten Hauch Sarkasmus in Bennis Stimme aber trotzdem ein bisschen lächeln. Benni atmete tief durch. „Ich werde es jetzt zwar wahrscheinlich nicht gerade besser machen, aber was soll’s.“ Während er immer noch über Lauras Haare strich, beugte sich Benni zu ihr rüber und küsste sie. Ohne groß darüber nachzudenken erwiderte Laura den Kuss und zog Benni näher an sich. Sie wusste nicht wieso, doch seine Lippen schmeckten leicht süßlich. Und obwohl der Kuss immer leidenschaftlicher wurde waren sie so weich. Während Benni die eine Hand immer noch in ihren Haaren verfangen hatte strich er mit der anderen über Lauras Wange und wischte weitere Tränen weg. Laura klammerte sich an Bennis seidige Haare und sein T-Shirt. Einen Moment lang ließ Benni von ihren Lippen ab und küsste sie sanft auf die Wange, dann auf die Schläfe und schließlich auf die Stirn, nur um ihr dann wieder zärtlich auf die Lippen zu küssen. Inzwischen lag Benni über ihr und als sich ihre Lippen lösten und Laura langsam ihre Augen öffnete, trafen sich ihre Blicke. Lag in Bennis Augen schon immer so viel Liebe, wenn er sie anschaute? Fiel es Laura erst jetzt auf? Sie wusste es nicht. Alleine der Gedanke daran, dass er sie in nächster Zeit nicht mehr würde so anschauen können, dass sie sich nicht mehr würden so küssen können, ließ Laura erneut die Tränen kommen. „Ich liebe dich…“, wisperte sie. Benni schloss die Augen und legte seine Stirn auf Lauras. „Ich dich auch.“ Lauras Herzschlag wurde noch schneller, als er es durch den Kuss ohnehin schon war. Schluchzend zog sie Benni zu sich runter und vergrub ihr Gesicht in seiner Brust. Er hatte Recht, er machte es eben nicht gerade besser. Nun wollte Laura umso weniger, dass er ging! Doch andererseits war sie auch glücklich. Endlich hatte er ihr gesagt, dass er sie liebte. Worte, die sie sich schon so lange gewünscht hatte von ihm zu hören. Zitternd atmete Laura mehrmals tief durch, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte. Noch war das hier nicht der Weltuntergang. Noch konnten sie alles zum Guten wenden. Benni löste sich von ihr und richtete sich wieder auf. Laura tat es ihm gleich, obwohl sie am ganzen Körper zitterte. Aus traurigen Augen musterte Benni sie. „Es tut mir leid…“ Grob wischte sich Laura die Tränen weg. „Ach was, du kannst nichts dafür.“ Sie ballte die Hand zur Faust. „Mars wird noch sein blaues Wunder erleben, das kannst du mir glauben.“ Benni wirkte leicht amüsiert und küsste Laura auf die Stirn. „Irgendwie tu ich das sogar.“ Eine Weile lang saßen sie noch nebeneinander im Bett, bis sich Benni zögernd aufrichtete. „Musst du schon gehen?“ Traurig schaute Laura zu ihm hinauf. Benni seufzte. „Ich darf kein Risiko eingehen. Mir bleibt nur bis Mitternacht Zeit, sonst wird Mars…“ Laura nickte nur. Mars… Na warte. Du wirst dafür noch büßen. Laura wusste nicht, was sie gegen einen göttlichen Dämon überhaupt würde ausrichten können, doch das war ihr egal. Mars würde nicht ungeschoren davon kommen, darauf konnte sich das Riesen-Feder-Vieh verlassen. Doch trotz allem lag in Bennis auf den ersten Blick ausdruckslos wirkender Miene immer noch diese Trauer und Verzweiflung. Er wollte ebenso wenig gehen, wie Laura ihn gehen lassen wollte. Sie zwang sich zu einem möglichst aufheiternden Lächeln. „Das wird schon wieder.“ Benni seufzte. „Ich hoffe es. Danke, dass du für mich da warst…“ Er beugte sich zu ihr runter und küsste sie erneut sanft auf die Lippen, doch als er sich abwenden wollte hielt Laura ihn zurück. „Eine Sache noch… Aber sie wird dir nicht gefallen befürchte ich…“ Benni warf ihr einen kritischen Blick zu. Laura holte tief Luft. „Kannst du mich bitte bewusstlos schlagen?“ Tatsächlich wich Benni erschrocken einen Schritt zurück. „Was? Nein, kann ich nicht.“ Laura lachte betrübt auf. „Eigentlich freut mich das, aber unter diesen Umständen…“ Eisern schüttelte er den Kopf. „Vergiss es.“ Mit zitternden Händen krallte sich Laura an Bennis T-Shirt fest. „Bitte! Wenn du mich nicht irgendwie aufhältst würde ich dir definitiv hinterherrennen! Ich will dich immer noch nicht gehen lassen!!! Ich kann dich gar nicht gehen lassen!!!“ „Aber-“ „Benni!!!!!“, schrie Laura unter Tränen. „Ich weiß ja, dass dir keine andere Wahl bleibt und trotzdem… Dann würde ich dir halt folgen und gegen Lukas kämpfen! Oder gegen Jack!!! Oder gegen Mars!!!!! Ist mir vollkommen egal wer!!! Es ist mir egal, dass ich zu schwach bin!!! Aber ich werde dich nicht kampflos aufgeben!!!!!“ Benni kniff die Augen zusammen. „Du elender Sturkopf.“ Überraschend zog er Laura in eine Umarmung. „Leo… Ich flehe dich an: Halt sie bitte auf, wenn sie versucht solche Dummheiten zu unternehmen.“ Laura meinte ein belustigtes Kichern in ihrem Hinterkopf zu hören, doch sie ignorierte es, als Benni ihr sanft über die Wange strich und sie erneut auf die Lippen küsste. Einen Moment später spürte sie die Finsternis um sich. Ihr wurde ein bisschen schwindelig und eine unsagbare Müdigkeit überkam sie. Sie spürte, wie sie von Benni hochgehoben und ins Bett gelegt wurde, als sie kurz darauf auch schon einschlief. Kapitel 55: Wertvolle Erinnerungen ---------------------------------- Wertvolle Erinnerungen Ausdruckslos saß Carsten auf einer Bank in der Sporthalle und beobachtete die anderen beim Training. Benni war nun schon seit einer Woche gegangen und inzwischen wusste auch der Rest, dass er bei Mars war. Jedenfalls hatten sich die Mädchen die Bruchstücke aus Lauras und Carstens ‚Erzählungen‘ zusammenreimen können. Doch Bennis Bitte folgend sagten weder Laura noch Carsten irgendetwas zu seiner Verteidigung. Weshalb die Situation für Carsten nur umso schmerzhafter wurde. Der Großteil der Mädchen hatte wie von Benni erwartet mit der Zeit einen Groll gegen ihn entwickelt, da sie dachten er habe Carsten und insbesondere Laura das Herz gebrochen. Die einzigen die Bennis plötzlichem Umschwung noch kritisch gegenüberstanden waren Susanne, Janine und Lissi. Die drei konnten es sich nicht erklären, warum Benni sie ausgerechnet jetzt verlassen hatte. Susanne schien sich sogar ziemlich sicher zu sein, dass er nicht freiwillig gegangen war. Was sie an jenem Vorfall in Yami begründete, da sie vermutete es gäbe einen Zusammenhang zwischen diesem und Bennis Verrat. Wie gerne hätte Carsten ihr gesagt, dass sie Recht hatte… Die Gruppe legte eine kurze Verschnaufpause ein und kam zu Carsten rüber. Seitdem Benni gegangen war hatte Eagle seine Position als Lehrer für die Kampfkünstler eingenommen. Doch laut der Mädchen bekam er das nicht so gut hin wie Benni. Eagle war nun mal viel ungeduldiger und musste ständig seinen Kopf durchsetzen, was insbesondere zu kleineren Reibereien mit Anne führte. Zum Glück waren noch die Direktoren da, die ihnen etwas unter die Arme griffen. Frau Bôss war zwar genauso streng wie Eufelia-Sensei einst, doch sie stellte eine gute Ergänzung zu Eagle dar. Da Carsten gerade psychisch weniger dazu im Stande war die Magier zu unterrichten, hatte Herr Bôss sich dazu bereit erklärt dies komplett zu übernehmen. Ja, Carsten war psychisch gerade nicht auf dem Damm. Wie denn auch, wenn er wusste, dass sich sein bester Freund in den Fängen des Feindes befand, welcher seine Gefühle ausnutzte um ihn zu erpressen? Carsten ballte die Hand zur Faust und versuchte sich zusammenzureißen. Benni vertraute darauf, dass sie einen Weg finden würden Mars aufzuhalten. Er durfte sich jetzt nicht seiner Trauer hingeben! Und dennoch… Carsten konnte sich einfach nicht aus seinem Loch der Verzweiflung retten. Er warf einen Blick auf Laura, die als einzige von ihnen keine Pause vom Training machte. Sie ging mit Bennis vermeintlichem Verrat ganz anders um als Carsten. So, wie er es niemals von ihr erwartet hätte. Genaugenommen gönnte sie sich keine andere Freizeitaktivität mehr als Trainieren. Sie erinnerte Carsten schon regelrecht an Benni als er jünger war und alles dafür getan hatte um stärker zu werden damit man ihn endlich anerkannte. Ob Laura hoffte durch ihr eisernes Training stark genug werden zu können um Benni aus den Fängen von Mars zu befreien? Oder wollte sie einfach nur angestaute Aggressionen abbauen? Jedenfalls waren ihre Fausthiebe mit denen sie den Sandsack bearbeitete gar nicht mal so ohne. Ein trauriges Lächeln bildete sich auf Carstens Lippen. Eagle schien ihn beobachtet zu haben, denn auf einmal setzte sich sein großer Bruder neben ihn, trank einen Schluck aus der Wasserflasche und meinte schließlich: „Irgendwie seltsam, wie verkehrt die Welt auf einmal ist.“ Carsten seufzte bedrückt. „Du meinst, weil ich hier Trübsal blase und jeden Moment in Tränen ausbrechen könnte, während ausgerechnet Laura auf einmal wie verbissen am Trainieren ist?“ „Im Prinzip schon, ja.“ Ohne ihn anzuschauen hielt Eagle Carsten die Wasserflasche hin, doch Carsten nahm sie nicht entgegen. „Trink. Du hast eine ganz heiser klingende Stimme. Und ich wette, dass du die letzte Zeit kaum mehr was gegessen hast.“ „Na und?“, meinte Carsten nur. Eagle schnaubte. „Soll ausgerechnet ich dir jetzt einen Vortrag darüber halten, wie wichtig Essen und Trinken für deinen Körper ist, Herr Arzt?“ Ausdruckslos erwiderte Carsten Eagles leicht spöttischen Blick, gab sich aber geschlagen und trank ebenfalls einen Schluck aus der Flasche. Auch die Mädchen schienen ihn beobachtet zu haben, denn plötzlich donnerte Ariane los: „Dieser herzlose Idiot! Wie kann er euch das nur antun?!? Dir und Laura!“ Susanne seufzte. „Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Wir wissen doch alle, wie viel Laura und Carsten Benni bedeutet haben. Warum sollte ausgerechnet er sie verraten?“ „Offensichtlich haben sie ihm ja doch nicht genug bedeutet, wenn er lieber bei Mars und seinen Schergen ist.“ Öznur verschränkte die Arme vor der Brust, wirkte aber eher bemitleidend und weniger wütend. Carsten wusste nicht ob Laura die Mädchen gehört hatte, jedenfalls hatte ihr nächster Schlag anscheinend eine so ungeheure Wucht, dass sie damit den Sandsack einmal in der Mitte durchbohrt hatte. Moment. Den Sandsack durchbohrt?! Vor Überraschung starrte jeder Laura mit geweiteten Augen an. „Hat die gerade ernsthaft ein Loch in einen Sandsack geschlagen, der eigentlich speziell für Kampfkünstler gefertigt wurde?“, fragte Anne kritisch Atemlos lachte Eagle auf. „Ach du scheiße, da haben sich bei jemandem aber ganz schöne Aggressionen angestaut. Mars tut mir schon fast leid, wenn sie ihm eines Tages gegenüber stehen wird.“ Laura zog ihren Arm derweil wieder aus dem Sandsack heraus und knackste mit ihren Fingern. Öznur klopfte Carsten auf die Schulter. „Um ehrlich zu sein bin ich ziemlich froh, dass du anders damit umgehst und nicht wie Laura dort Aggressionen abbauen musst.“ Herr Bôss lachte auf. „Ach was, diese Phase hat er nur schon hinter sich gebracht.“ „Wie meinen Sie das?“, fragte Ariane verwundert. Wie zuvor Öznur es getan hatte klopfte nun auch Herr Bôss Carsten auf die Schulter, was aber anscheinend eher aufheiternd wirken sollte. „Glaubt mir, ihr wollt Carsten gar nicht aggressiv erleben müssen.“ „Unseren ‚gutmütigen Trottel‘?“ Anne zuckte mit den Schultern. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie der bedrohlich werden sollte.“ Eagle schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was soll das denn heißen? Er ist immer noch mein kleiner Bruder, unterschätzt ihn besser nicht.“ Während Carsten überrascht von Eagles Kommentar aufschaute, musste der Rest loslachen. „Überzeugt.“, kicherte Öznur. Nach der Pause, als sie zu ihrem Training zurückkehren wollten, hielt Carsten Eagle am Arm zurück. Sein großer Bruder schaute ihn fragend an. „Was ist?“ Carsten wandte den Blick von Eagle ab. „Warum tust du das?“ „Was?“ „Na ja… Irgendwie…“ Carsten wusste nicht, wie er seine Gedanken in Worte fassen sollte. Er hatte den Eindruck, dass Eagle zurzeit besonders fürsorglich gegenüber Carsten war. Es war fast schon so als mache er sich Sorgen um ihn oder so ähnlich! Natürlich hatte sich ihre Beziehung inzwischen immens gebessert. Aber es war immer noch sehr seltsam Eagle so zu erleben. Er schien sich fast schon so wie ein Freund zu verhalten, oder… Oder wie ein großer Bruder… Nach einem Moment des Zögerns ging Eagle vor Carsten, der immer noch auf der Bank saß, in die Hocke und betrachtete ihn. „Ich hab nicht den blassesten Schimmer, warum Benedict auf einmal die Seiten gewechselt hat. Und es interessiert mich auch nicht warum. Es ist nur… Dich so zu sehen, wie du andauernd diesen trostlosen Blick hast…“ Seufzend schaute Eagle zur Seite weg. „Irgendwie würde ich dir gerne helfen können…“ „Du möchtest mir helfen? …Wirklich?“, fragte Carsten ungläubig, immer noch den Blick abgewandt. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Eagle nickte. „Irgendwie…“ Seufzend stütze er sich auf seinen Knien ab und richtete sich wieder auf. Doch statt zu gehen stand er weiterhin vor Carsten und nach einer Weile legte er zögernd seine Hand auf Carstens Schulter. „Sag, wenn du was brauchst…“ Mehr als ein Nicken brachte Carsten nicht zustande. Schweigend beobachtete er wie Eagle zu den Kampfkünstlern zurückkehrte und diese ihr Training fortsetzten. Er wollte ihm wirklich helfen? Das war kein Scherz? Nachdem sie das Training für diesen Tag beendet hatten ging Carsten zu Laura. Seit Benni gegangen war hatten sie nicht mehr wirklich miteinander gesprochen. Carsten hatte den Eindruck, dass Laura schon genug litt, auch wenn man es ihr in Gegenwart der anderen erstaunlicherweise nicht wirklich ansehen konnte. Er wollte sie nicht auch noch mit seinem Schmerz belasten. Laura schien es ähnlich zu gehen, denn als sonst niemand mehr in der Halle war, warf sie Carsten einen gebrochenen und trotzdem zögernden Blick zu. „Wie geht es dir?“ Carsten konnte nicht anders. So schlecht er sich gerade auch fühlte, Lauras Leiden, dieser traurige Blick von ihr weckte in ihm sofort das Bedürfnis ihr helfen zu wollen. Vorsichtig nahm er sie in die Arme. „Vermutlich genauso wie dir.“ Nach einem weiteren Moment des Zögerns vergrub Laura ihr Gesicht in Carstens Brust und er merkte an ihren bebenden Schultern, dass sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. „Es tut so weh…“ Ihre zitternde Stimme die kaum mehr als ein Flüstern war brachte nun auch Carsten zum Weinen. Es war schon schwer genug sich in Gegenwart der anderen zusammenzureißen, doch dies hatte ihm nun den Rest gegeben. Das Wissen wie sehr Benni wahrscheinlich leiden musste war schon unerträglich genug, doch jetzt auch noch Laura so sehen zu müssen… Carsten verstärkte seinen Griff um Laura als hätte er Angst sie würde ansonsten in kleine Teile zerfallen. Ein zögerndes Klopfen an der Turnhallentür ließ Carsten und Laura hochschrecken. Als Laura erkannte, dass es sich dabei um den Direktor handelte, wischte sie sich schnell und unnötig grob mit dem Arm die Tränen weg. Einen Moment lang betrachtete Herr Bôss die beiden mitleidig, bis er schließlich meinte: „Hier.“ Er warf Carsten einen kleinen Gegenstand zu und als dieser ihn auffing stellte er fest, dass es sich dabei um einen Schlüssel handelte. Carsten schaute Herr Bôss fragend an. „Das ist der Schlüssel zu Benedicts Zimmer im Abteil der Schülervertretung.“, erklärte Herr Bôss. „Bevor er gegangen war schien er noch einmal dort gewesen sein und hatte ihn auf den Schreibtisch gelegt.“ Seufzend fuhr er sich durchs lange rosarote Haar. „Ich weiß nicht ob ich euch damit einen Gefallen tue oder die Situation nur noch verschlimmere, aber so könnt ihr jederzeit an seine Sachen. Wie wir das jetzt mit dem Amt des Schulsprechers machen wissen meine Frau und ich noch nicht, aber jedenfalls die Ferien über werden wir das Zimmer nicht anrühren müssen. Und danach mal schauen… Irgendwie finden wir schon eine Lösung.“ Er hob zum Abschied die Hand und verließ die Turnhalle wieder. Carsten wusste, dass der Direktor mit seinem letzten Satz nicht gemeint hatte, dass sie irgendwie eine Lösung für das Problem mit dem Amt des Schulsprechers finden würden. Sondern dass sie irgendwie einen Weg finden würden Benni wieder zurückholen zu können. Mit einem gewissen Wehmut betrachtete Carsten den kleinen Schlüssel in seiner Hand und schaute Laura schließlich fragend an. „Wollen wir in sein Zimmer?“ Seine beste Freundin zwang sich zu einem traurigen Lächeln. „Ich weiß auch nicht, ob das die Sache besser macht. Aber irgendwie… Ich würde tatsächlich gerne.“ Carsten nickte. „Ich auch.“ Gemeinsam verließen sie die Turnhalle, auch wenn Carsten noch einen kritischen Blick auf den Sandsack werfen musste. „Wie hast du das eigentlich hinbekommen? Das kann doch nie und nimmer bloße Kraft gewesen sein.“ Laura lachte beschämt auf und hob ihre Hand, die kurz darauf von einer finsteren Aura umgeben war. „Ich hatte die Finsternis-Energie bisher häufig nur in Formen der Verteidigung beim Training mit Benni ausprobiert.“ Bei diesen Worten senkte sie zwar ihren Blick, fuhr allerdings fort. „Wie ich mich mit meiner Energie verteidigen kann hat er mir zum Großteil beigebracht, aber für Angriffstechniken fehlte letztlich die Zeit…“ Sie seufzte bedrückt. „Jetzt muss ich es so machen wie Benni damals und mir irgendetwas selbst beibringen.“ „So ist das also…“, erwiderte er daraufhin nur. Schweigend betraten sie das Jungenwohnheim und gingen in den ersten Stock, wo sich am Ende des Ganges die Zimmer der Schülervertretung befanden. Die Tür zu dem separaten Gemeinschaftsraum der Schülervertretung war abgeschlossen, da anscheinend alle in den Ferien zuhause waren. Oder natürlich in Bennis Fall… Jedenfalls ließ sich diese Tür auch mit dem Schlüssel öffnen den Herr Bôss ihnen gegeben hatte und Carsten und Laura betraten den kleinen Gemeinschaftsraum. An der Wand gegenüber von ihnen hinter einem Sofa sahen sie mehrere eingerahmte Bilder ordentlich aufgereiht. Carsten folgte Laura zu dieser Bilderreihe und bemerkte, dass sie auf das letzte Bild schaute, was sich in dieser Reihe befand. Ein schwaches Lächeln zeichnete sich auf Carstens Lippen ab. „Wie lustlos Benni auf diesem Bild aussieht.“ Laura kicherte. „Er war noch nie ein großer Fan von Fotos gewesen. Dabei ist das doch eine so schöne Möglichkeit Erinnerungen festzuhalten.“ Carsten wandte sich an die Tür links neben der Bilderreihe, steckte den Schlüssel in das Schlüsselloch und drehte ihn um. Mit einem Klack ging der Riegel zurück und Carsten öffnete die Tür. Der Raum den sie betraten war dunkel und eine erdrückende Atmosphäre lag in ihm. Carsten merkte, wie sich Laura mit dem Handrücken über die Augen wischte. Ob es nun die dunkle Atmosphäre war oder die Erinnerungen an Benni, die dieser Raum gezwungener maßen weckte, wusste Carsten nicht. Doch auch ihm wurde schwer ums Herz, als er sich in dem tristen Zimmer umschaute. Er gab sich einen Ruck, ging auf die andere Seite und schob die Vorhänge des großen Bogenfensters beiseite, was den Raum sofort viel heller werden ließ. Obwohl Benni vor etwa einer Woche noch hier war tanzten kleine aufgewirbelte Staubkörnchen in dem nun entstandenen Licht. Gemeinsam mit Laura schaute sich Carsten in dem Zimmer um. Als sein Blick auf den verstaubten Spiegel zwischen Kleiderschrank und Sofa fiel musste er lächeln. „Denkst du, Benni hat den je benutzt?“ Laura lachte auf. „Irgendwie glaube ich nicht.“ Sie stand derweil beim Bücherregal neben dem Schreibtisch und betrachtete es. „Es überrascht mich irgendwie immer noch, dass Benni so gerne liest.“ Carsten kam zu ihr rüber. „Wie meinst du das?“ „Na ja, er scheint ja all diese Bücher und Mangas gekauft zu haben. Aber er hat nie von Eufelia-Sensei oder sonst jemandem Taschengeld bekommen und außer den paar wenigen Geburtstagsgeschenken auch sonst nie etwas einfach so. Wenn er etwas haben wollte musste er immer irgendwie arbeiten, um das nötige Geld zu verdienen.“ Carsten nickte. „Stimmt, deshalb war Benni auch schon immer so furchtbar geizig gewesen. Er hatte neben dem Training häufig noch ein paar Nebenjobs gehabt.“ Er lachte auf. „Für andere Leute die Hunde ausführen hatte er doch immer am liebsten gemacht.“ Auch Laura musste lachen. „Stimmt, irgendwann war er unter den Hundebesitzern sogar zu einer Berühmtheit geworden, weil die Hunde ihn so zu mögen schienen.“ „Und als wir ihn mal begleitet hatten waren die ganzen Hunde dir hinterhergerannt.“ Carsten grinste Laura an. Diese wurde rot. „Das war mega gruselig! Ich hatte echt Angst gehabt.“ „Dafür hatte Benni gut was zu lachen gehabt.“ Überrascht schaute Laura ihn an. „Echt? Ich kann mich gar nicht mehr so gut daran erinnern, da ich so in Panik war.“ „Und wie, er hat Tränen gelacht.“ Traurig lächelte Laura. „Wie alt waren wir denn da gewesen?“ Carsten überlegte. „Das war noch vor dem Zwischenfall mit den Profininjas, wir müssten vier und er fünf gewesen sein.“ Gedankenversunken verschränkte Laura die Arme vor der Brust und schaute die Bücher weiterhin an. „In diesem Jahr war richtig viel passiert. Erst haben wir dich kennengelernt, dann der Überfall des Schwarzen Löwen, dass du ein Dämonengezeichneter geworden bist, die Geschichte mit diesen Profininjas…“ Carsten nickte. „Das war alles vor zwölf Jahren…“ „Du hattest uns doch schon kennengelernt, bevor ich zur Dämonenbesitzerin wurde, oder?“, fragte Laura. „Ja, ein paar Monate davor.“, gab Carsten ihr Recht und lachte auf. „Wenn man bedenkt, wie wir uns damals kennengelernt hatten…“ „Da gibt’s nichts zu lachen!“, rief Laura aufgebracht. „O-Too-Sama und O-Kaa-Sama sind mit mir, Lucia, Luciano und Benni aufgrund irgendwelcher geschäftlichen Besprechungen nach Indigo und den ersten Eindruck den Benni und ich von dieser Region bekommen haben war der, wie du von Eagle und seinen komischen Freunden verprügelt wurdest!“ Carsten kratzte sich am Hinterkopf. „Das mein ich ja. Und heute meint Eagle zu mir, dass er mir irgendwie gerne helfen würde.“ „Gut so, der hat auch einiges wieder gut zu machen.“ Laura schnaubte. „Ich bin einfach nur froh, dass er mich endlich akzeptiert.“ Laura warf ihm aus den Augenwinkeln ein schwaches Lächeln zu. „Es ist echt beeindruckend, dass du ihm das alles was er dir angetan hat einfach so verzeihen kannst.“ Carsten seufzte. „Was passiert ist, ist passiert. Menschen können sich ändern.“ Er schaute Laura mit einem traurigen, wissenden Lächeln an. „Siehe Benni.“ Bedrückt holte Laura einen der vielen Detektiv Conan Mangas aus Bennis Bücherregal und betrachtete das Cover. „Er hatte endlich Gefühle gezeigt…“ Carsten wandte sich vom Bücherregal ab und dem Schreibtisch zu, als er stutzend innehielt. „Benni hat sein Katana mitgenommen.“, fiel ihm auf, als er die Schwerthalterung an der Wand sah. Nur ohne das Schwert, welches sich für gewöhnlich sonst immer dort befand. Laura ging zu Bennis Bett rüber und schaute unter das Kissen. „Die Black Death anscheinend auch…“ Carsten betrachtete den Schreibtisch wehmütig, als ihm ein weiterer Gegenstand auffiel, der fehlte. „Das Foto ebenso…“ Laura ließ sich auf das Bett sinken, wischte sich wieder mit der Hand über die Augen und schniefte. „Anscheinend erkennt Benni Fotos inzwischen doch als wertvolle Erinnerungsstücke an…“ Carsten ging zu ihr rüber, setzte sich neben sie und legte den Arm um Lauras Schultern. Schluchzend lehnte sie sich gegen ihn und Carsten musste selbst wieder mit den Tränen kämpfen. „Trotzdem ist es schön zu sehen, dass wir ihm anscheinend so wichtig sind.“, versuchte er sie und sich selbst ein bisschen aufzumuntern. Laura nickte lediglich und schluchzte weiter in Carstens T-Shirt. Gedankenverloren schaute sich Carsten im Zimmer um, als sein Blick auf den Kleiderschrank fiel. Sanft befreite er sich von Lauras klammernden Händen, stand auf, ging zum Schrank hinüber und öffnete ihn neugierig. „Hey, man schaut nicht einfach in die Schränke anderer.“, schniefte Laura. „Selbst wenn es Bennis ist.“ Doch was Carsten vorfand ließ ihn sofort loslachen, ohne das ihm überhaupt zum Lachen zumute war. „Was ist denn?“, fragte Laura und versuchte nun doch an Carsten vorbei in den Schrank zu linsen. Carsten öffnete den Schrank etwas mehr und trat lachend einen Schritt zur Seite. Laura runzelte die Stirn. „Bennis Anziehsachen. Na und? Was ist daran so lustig.“ „Na ja, Benni hat ja sowieso nicht viele Sachen.“ Carsten konnte sich vor Lachen kaum mehr einkriegen. „Und es sieht nicht wirklich so aus als seien sie weniger geworden…“ Inzwischen kamen ihm die Tränen und er bekam leichte Bauchschmerzen. „Also kam er anscheinend nicht auf die Idee Wechselsachen mitzunehmen, als er sich auf den Weg zu Mars machte.“ Das brachte Laura immerhin ein bisschen zum Kichern. Aber auch nur ein bisschen. Wenig später wurde sie wieder ernst und traurig. „Ich glaube nicht, dass er in diesem Moment überhaupt einen Gedanken daran verschwendet hat, dass er eventuell Kleidung zum Wechseln bräuchte…“ Carsten seufzte betrübt. „Das stimmt allerdings… Vielleicht ist immerhin Jack so freundlich und leiht ihm was. Der Modegeschmack passt ja so halbwegs.“ Laura lehnte sich zurück und schaute aus dem Fenster. „Ob Benni seinen ersten Tag bei Mars mit Shopping hatte verbringen müssen?“ „Ich glaube das wäre das schlimmste, was er sich hätte vorstellen können.“ Trotz des schwarzen Humors musste Laura kichern. „Ach Quatsch, so schlimm fände er das nicht. Viel schlimmer wäre es, wenn Mars ihn in der Küche arbeiten ließe.“ Nun konnten sie nicht anders, als beide lauthals loszulachen. Natürlich wusste Carsten, dass sie das nicht so ins Lächerliche ziehen sollten. Jedoch half es tatsächlich mit dieser Situation fertig zu werden. Er prustete los. „Stell dir mal vor wir müssten Mars gar nicht mehr bekämpfen, weil Benni ihn aufgrund seines Kochtalentes schon bezwungen hat.“ Laura wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln. „Er würde dir jetzt garantiert einen Schlag auf den Hinterkopf verpassen.“ Carsten streckte Laura die Zunge raus. „Dir doch auch. Oder… Nein, dir würde er jetzt eher gegen die Stirn schnippen.“ Ein Miau an der Zimmertür ließ Laura und Carsten hochschrecken. „Raven?“ Überrascht betrachtete Carsten die schwarze Katze, die ins Zimmer trottete, auf Lauras Schoß sprang und es sich dort bequem machte. Laura fing an sie am Kopf zu kraulen und Raven schloss gemütlich schnurrend die Augen. „Ob Benni über die Tiere weiß, was wir so machen?“, fragte sie sich, wieder etwas wehleidiger. Carsten überlegte. „Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass Mars das zulässt. Immerhin könnte Benni uns über diesen Weg auch geheime Informationen über ihn zukommen lassen und ich glaube, dass würde ihm nicht so passen.“ Bedrückt seufzte Laura. „Stimmt… Schade…“ Carsten kam wieder zum Bett und kraulte Raven ebenfalls. „Aber wenn das der Fall ist, wird Raven wahrscheinlich auch nicht zu Benni zurückkehren können. Wer weiß? Vielleicht hat er sie absichtlich hier gelassen damit sie ein Auge auf uns werfen kann?“ Ravens ‚Miau‘ schien wie eine zustimmende Antwort zu sein. Carsten kicherte. „Verpetz uns aber bitte nicht bei ihm, dass wir diese Witze gemacht haben, wenn du ihn irgendwann wiedersiehst.“ Wieder maunzte Raven. Da fiel eine von Lauras Tränen auf ihr samtiges schwarzes Fell. Erst jetzt bemerkte Carsten, dass Laura Raven nicht mehr kraulte sondern den Kopf gesenkt hatte und leise schluchzte. Er seufzte. Sie konnten sich zwar für einen Moment lang etwas aufheitern, aber trotz allem war Benni immer noch bei Mars. Er befand sich immer noch in den Klauen ihres Feindes. „Wie es ihm wohl gerade geht?“, fragte Carsten vor sich hin murmelnd. Raven schmiegte ihren Kopf gegen Carstens Hand. Danach richtete sie sich auf und streckte sich zu Lauras Gesicht hoch, wo sie mit ihrer kleinen Katzennase Lauras anstupste. Schluchzend wischte sich Laura über die Augen. „Du hast ja recht, wir sollten uns gefälligst zusammenreißen.“ „Ich glaube, das reicht für heute mit Lernen.“, meinte Susanne und klappte das Mathebuch zu. „Verstehst du es inzwischen etwas besser?“ Öznur seufzte. „Na ja… Irgendwie.“ „Die Prüfung ist nächste Woche am ersten August, oder?“, erkundigte sich Susanne, auch wenn die Frage eher rhetorisch war. „Bis dahin dürften wir alles durchhaben und du müsstest gut vorbereitet sein.“ Öznur nickte nur. Diese scheiß Nachprüfung. Dieses scheiß Mathe! Warum musste ausgerechnet sie durchfallen? Warum nur sie?!? Warum war nicht jedenfalls auch Lissi in irgendeiner Prüfung durchgefallen? „Warum packt Lissi eigentlich alles auf Anhieb, obwohl sie ständig so… planlos wirkt?“, erkundigte sich Öznur bei Lissis Zwillingsschwester. „Lissi ist nicht dumm.“, meinte diese. Abwehrend hob Öznur die Hände. „Ich meinte das nicht als Beleidigung.“ „Ich weiß doch.“ Susanne lächelte sie aufmunternd an. Gemeinsam verließen sie den mittelalterlich wirkenden Bücherturm und gingen auf das Mädchenwohnheim zu. „Ich meinte damit Lissi ist schlauer, als ihr denkt.“, erklärte Susanne ihre Aussage genauer. „Meistens ist sie einfach nur faul. Selbst in Klausuren.“ Öznur runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ Susanne überlegte. „Also ich würde sagen Lissi liegt von ihrem IQ her etwas unter dem von Benni. Sie muss nicht viel lernen für Klausuren und in den Prüfungen selbst schreibt sie dann immer nur so viel auf, bis sie die Note hat, die sie braucht oder gerne hätte.“ Wie bitte was? Überrascht hielt Öznur an. „Wie? Was hast du gesagt? Du meintest… Was?!?“ „Lissi ist hoch intelligent. Wenn sie wollte könnte sie dieselben Noten in den Prüfungen erzielen wie Carsten, Benni oder ich.“ Öznur fiel aus allen Wolken. Meinte Susanne das ernst? Lissi?!? Ausgerechnet Lissi?!? „J-ja aber… Sie wirkt immer so- so…“ „So dumm?“, sprach Susanne das aus, was Öznur nicht in Worte hatte fassen können. „Ja!“ Susanne lachte auf. „Der Schulstoff ist für Lissi einfach viel zu leicht, sie langweilt sich sehr schnell dabei. Außerdem macht sie sich aus ihrer Intelligenz nicht viel. Sie ist lieber das dumme, naive, kleine Mädchen das hübschen Jungs schöne Augen macht.“ „A-aber… Warum?!?“ Öznur verstand es nicht. Öznur verstand die Welt nicht mehr. Lissi war hochintelligent und stellte sich nur dumm?!? Susanne kicherte. „Um ehrlich zu sein weiß ich es selbst nicht. So ist nun mal ihr Charakter. Häufig sind die Lehrer bei ihr am Verzweifeln, weil sie Lissi einfach nicht einschätzen können.“ „Wow… Das hätt‘ ich nun echt nicht gedacht…“ Öznur war baff. Lissi?! Ausgerechnet Lissi zählte zu den intelligentesten der Mädchen?! „Du, Lissi, Carsten oder Benni. Wer denkst du ist eigentlich der schlauste von euch?“ Fragend schaute Öznur Susanne an. „Carsten, definitiv.“, meinte Susanne sofort und sehr überzeugt. „Ich meine mal gehört zu haben er habe einen IQ von etwa 190.“ „Das stimmt.“, gab ihnen auf einmal eine sehr tiefe Männerstimme recht. Überrascht drehten sich die beiden Mädchen um. „Eagle!“, stellte Öznur fest, wem diese Stimme gehörte. „Sag mal… Hättest du gedacht, dass Lissi fast so intelligent wie Benni ist?!“ Eagle runzelte die Stirn. „Hä? Nie im Leben. Ernsthaft?“ „Ernsthaft!“, rief Öznur aufgebracht. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Eagle lachte auf. „Nun ja, stille Wasser sind tief.“ Öznur boxte ihm in die Seite. „Sag mal, wie Intelligent schätzt du dich eigentlich ein?“ „Intelligenter als du jedenfalls.“, kommentierte er trocken. „Hey!“ Der war mies. Er zuckte mit den Schultern. „Was willst du groß an einem IQ ablesen? Sieht man doch perfekt an Lissi. Sie ist hoch intelligent und trotzdem wirkt sie als wäre sie gänzlich hohl in der Birne.“ Beschwichtigend hob er die Hände. „Nicht böse gemeint.“ Anschließend steckte er seine Hände in die Taschen seiner Jeans und ging mit Susanne und Öznur weiter Richtung Mädchenwohnheim. Vor dem Eingangsbereich fragte er schließlich: „Was habt ihr jetzt so vor?“ „Nun ja, ich muss mich jetzt zurecht machen und teleportiere mich anschließend nach Eau.“ Da sich Susannes Wangen bei ihrer Antwort leicht rötlich färbten ahnte Öznur schon, was sie damit andeuten wollte. Begeistert packte sie Susannes Hände. „Oh Susi, hast du etwa ein Date?!?“ „Ja… Also… Doch schon.“ Susanne strich sich eine ihrer kurzen schwarzen Strähnen hinters Ohr und wirkte immer noch leicht verlegen. „Das ist ja schön! Ich freu mich so für dich!!!“ Öznur fiel Susanne um den Hals. „D-danke.“ Sie lachte auf. „Mit diesem Michel?“, erkundigte sich Eagle. Susanne kicherte. „Fast, Miguel.“ „Und das, obwohl deine Schwester ihn anscheinend so gar nicht leiden kann?“ „Lissi macht sich vollkommen grundlos solche Sorgen. Ich habe mich nun bereits einmal mit Miguel privat getroffen und er ist wirklich sehr lieb.“, meinte Susanne. Eagle nickte nur. „Ich hoffe es für dich.“ Susanne hob leicht erschrocken den Kopf. „Ach so, sagt es aber bitte keinem. Jedenfalls nicht- Ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen dabei…“ Öznur runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ Susi seufzte. „Wegen Laura. Sie macht doch sicher gerade die Hölle durch, da Benni uns verraten hat. Es fühlt sich irgendwie falsch an eine Verabredung zu haben, während sie…“ „Ach so… Ich verstehe, worauf du hinauswillst.“ Betrübt warf Öznur einen flüchtigen Seitenblick auf Eagle, war aber froh, dass Susanne diesen nicht bemerkt hatte. Verärgert biss sie die Zähne zusammen. Benni, du Arschloch. Wie kannst du der armen Laura so etwas nur antun?! Susanne atmete tief durch. „Nun denn, dann gehe ich mal.“ Öznur drückte sie an sich. „Ich wünsch dir trotzdem viel Spaß.“ „Danke.“ Susanne verschwand im Mädchenhaus. „Du verstehst also, worauf sie hinauswill?“ Eagles tiefe Stimme wirkte leicht belustigt. Öznur schnaubte. Er hatte ihren Seitenblick also bemerkt. Er deutete auf das Gebäude neben dem Mädchenwohnheim, wo die Lehrer, andere Angestellte und nicht zuletzt auch Gäste der Coeur-Academy untergebracht wurden. „Möchtest du mitkommen?“ Seufzend nickte sie. Öznur begleitete Eagle in sein Gästezimmer und ließ sich auf die Couch fallen. „Susi hat recht… Na toll. Jetzt fühl ich mich auch schuldig.“ „Nur weil wir in letzter Zeit öfter miteinander rumhängen?“ Eagle öffnete seinen Pferdeschwanz und fuhr sich durch das lange glatte schwarze Haar. Scheiße, sah er gut aus. „Rumhängen?“ Öznur warf ihm einen kritischen Blick zu. Eagle setzte sich neben sie auf das Sofa. „Wie würdest du es denn nennen?“ Öznur zuckte mit den Schultern. „Rummachen trifft es wohl eher.“ Mit einem amüsierten schiefen Grinsen zog Eagle Öznur an sich ran und küsste sie. Öznur vergrub die Hand in seinen schwarzen Haaren und erwiderte den Kuss, welcher immer leidenschaftlicher wurde. Schließlich packte Eagle sie an den Hüften und zog sie auf seinen Schoß. Öznurs Herzschlag beschleunigte sich und ihr Atem zwischen den Küssen entwickelte sich zu einem Keuchen. Eagle packte ihre Haare und zog ihren Kopf leicht zurück, um an ihren Hals zu können. Öznur stöhnte bei dem wohligen Gefühl auf, welches sich in ihr ausbreitete als seine Lippen ihren Hals berührten. Mit der anderen Hand fuhr Eagle zuerst über ihren Hintern, bis er ihr Top packte. Für einen kurzen Moment unterbrach er seine Küsse und zog Öznur das Top über den Kopf, sodass sie obenrum nur noch den BH trug. Während sich Eagles Lippen langsam zu ihren Brüsten tasteten riss sich Öznur zusammen. „Warte.“, keuchte sie. Eagle hielt inne. „Was ist?“ Schwer atmend schaute sie Eagle in die Augen. „Was ist das hier eigentlich zwischen uns?“ Es fiel ihr schwer sich zusammenzureißen. Das Verlangen nach Eagle war zu groß. Doch sie wollte endlich wissen, wie es um sie stand. Waren sie nun in einer Beziehung oder war das hier nur eine dieser ‚lockeren Bekanntschaften‘? Eagle schien zu verstehen. Er ließ von Öznur ab, doch sie blieb trotzdem auf seinem Schoß sitzen. Eigentlich wollte sie ja gar nicht weg. Eigentlich wollte sie das ja auch gar nicht unterbrechen. Sie würde am liebsten direkt dort weitermachen, wo sie aufgehört hatten. Eagle lehnte sich zurück und legte einen Arm über die Sofalehne. „Was würdest du denn sagen?“ Öznur seufzte. „Ich weiß es irgendwie nicht. In dem einen Moment gehen wir noch einfach so zusammen Feiern und jetzt… Es ging irgendwie so schnell.“ „Zu schnell?“ Amüsiert schüttelte Öznur den Kopf. Es war süß, wenn er diesen rücksichtsvollen Ton hatte. Er klang so sanft und es schwang immer ein Hauch Sorge mit, die eigentlich so gar nicht zu dem stattlichen Indigoner passte. Öznur atmete tief durch. „Es ist nur so… Ich will eine feste Beziehung. Mit dir. Aber ich würde gerne wissen, ob du auch so denkst.“ Grinsend beugte sich Eagle wieder vor und küsste Öznur erneut. Jedoch war es dieses Mal nur ein sehr kurzer Kuss und als er sich von ihr löste war sein Gesicht trotzdem noch ganz nah an ihrem, sodass Öznur ihm direkt in die bernsteinfarbenen Augen sehen konnten, die gerade im Kontrast zu seiner dunklen, leicht rötlichen Indianerhautfarbe regelrecht zu strahlen schienen. „Und wenn dem so wäre?“ „Eagle, bitte. Das ist mir wichtig.“ Um seine Lippen zuckte ein Lächeln. „Ich bin froh, dass du das angesprochen hast. Mir liegt sowas ganz und gar nicht.“ Er atmete tief durch und Öznur hatte den Eindruck, dass er tatsächlich ein kleines bisschen verlegen war. „Ich wäre gerne mit dir in einer richtigen Beziehung.“ Öznurs Herz schlug genauso schnell wie zuvor, als er ihren Hals geküsst hatte. Doch dieses Mal war es kein Verlangen, was sich in ihr ausbreitete. Eher war es eine Art Wärme. Eine wohlige Wärme, wie wenn man in einer kalten Winternacht Zuhause vor dem knisternden Kamin saß. „Wirklich?“ „Wirklich.“ Der Blick in Eagles Augen verriet ihr, dass er sich keinen Scherz erlaubte. Er lehnte sie wieder zurück gegen die Sofalehne, während Öznur ihr Glück immer noch kaum fassen konnte. Sie wusste ja, dass Eagle nicht sehr geschickt in ernsthaften Beziehungen war. Als sie ganz am Anfang der Prüfungsphase mit den anderen Feiern waren hatte er so etwas in der Art ja angedeutet gehabt. Aber dennoch… Öznur hatte sich nun mal so langsam aber sicher in ihn verliebt. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Eagle sie die Zeit über weiterhin beobachtet hatte. Mit einem Lächeln beugte sie sich zu ihm. Doch nicht, um dort weiter zu machen wo sie zuvor aufgehört hatten, sondern einfach um ihren Kopf auf Eagles Brust zu legen und sich lediglich auf seine Nähe und Wärme zu konzentrieren. Sie hörte seinen kräftigen Herzschlag und begann sich zu entspannen. Eagle legte den Arm um sie und küsste sie auf den Scheitel. „Moment… Jetzt da es offiziell ist, müssen wir es den anderen etwa auch sagen?“ An seiner Stimme konnte sie hören, dass er leicht verunsichert wirkte. Öznur kicherte. „Natürlich.“ Nervös betrachtete Susanne Miguel welcher sich seiner Forelle widmete, während sie ihre Tortilla bisher kaum angerührt hatte. Er war ein großer, schlanker junger Mann mit gebräunter südländischer Haut und dunklen Locken. An seiner Kleidung sah man, dass er aus gutem Hause stammte und ebenso waren seine Manieren vorbildlich. Sie konnte sich nicht erklären, warum ihre Schwester so ein Problem mit ihm hatte. Nun ja, sie kennt ihn ja kaum., sinnierte Susanne. Das letzte Mal, dass sie Miguel gesehen hatten lag über zehn Jahre zurück und damals war er tatsächlich noch nicht so freundlich und zuvorkommend gewesen. Doch er hatte sich sehr gut entwickelt. Dennoch wollte sie nicht eine Beziehung mit jemandem eingehen, den ihre Schwester nicht akzeptieren konnte. Susanne beschloss, dass sie Miguel mal mit nach Cor nehmen sollte. So würden sich sowohl ihre Schwester als auch der Rest ein Bild von ihm machen können und Susanne war sich sicher, dass Miguel dazu in der Lage war sie zu überzeugen. Denn eigentlich würde Susanne gerne eine Beziehung mit ihm eingehen. Sie war sich nicht sicher, ob sie schon in ihn verliebt war. Doch so etwas brauchte für gewöhnlich seine Zeit, nicht wahr? Wie gesagt, er war sehr freundlich, zuvorkommend und aufmerksam. Wie würde sie keine Gefühle für ihn entwickeln können? Miguel schaute von seiner Forelle auf und musterte Susanne aus seinen braunen Augen. „Susanne, du wirkst so bedrückt. Ist irgendetwas vorgefallen?“, erkundigte er sich in einem rührenden besorgten Tonfall. Susanne seufzte. „Entschuldige… Es ist nur… Eine Freundin wurde erst letztens von ihrem Freund verlassen und ist deshalb am Boden zerstört. Ich mache mir Sorgen um sie.“ „Hatten sie Streit?“ „Ich weiß es nicht… Eigentlich sah es nicht danach aus. Im Gegenteil, die beiden waren ein Herz und eine Seele.“ Kritisch runzelte Miguel die Stirn. „Warum sollte er sie dann verlassen?“ „Das ist es ja…“ Seufzend legte sie die Gabel weg. „Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er das unfreiwillig getan hat. Es wirkte nahezu so als habe er keine andere Wahl gehabt, als zu gehen.“ Auch Miguel legte sein Besteck beiseite und strich sich nachdenklich eine schwarze Locke aus dem Gesicht. „Das wird ja immer suspekter. In meinen Ohren klingt es fast so, als habe man ihn erpresst oder dergleichen.“ Susannes Herzschlag schien für einen kurzen Moment auszusetzen. Mit vor Schreck geweiteten Augen schaute sie Miguel an. Doch es war nicht nur der Schock… Es war auch die Erkenntnis. Natürlich! Bennis Zusammenbruch wenige Tage vor seinem Verschwinden, Lauras plötzliche Trainingswut, die Tatsache, dass Laura und Carsten bei Nachfragen über Bennis Gründe für sein Gehen schwiegen, … Nun ergab alles einen Sinn! „Das muss es sein!“, rief Susanne aus. Überrascht schaute Miguel sie an. „Wirklich? Es war nur ein spontaner Gedanke. Ich meine, das klingt schon beinahe nach einem Verbrechen. Wer sollte bitteschön-“ „Doch, es ist ganz sicher so!“, widersprach Susanne bestimmt. Nun war sie sich zu einhundert Prozent sicher. Benni wurde von Mars erpresst. Es konnte gar nicht anders sein! Doch was sollte er gegen ihn in der Hand haben? Natürlich… Susanne fuhr sich mit der Hand durchs Haar, während sie in ihrem Kopf alle Puzzleteile zusammenfügte. Benni hatte schon zwei ihm sehr wichtige Menschen an Mars verloren. Weiterhin waren Konrads Eltern von Lukas ermordet worden welche Benni ebenfalls nahestanden, wie sie von Rina bei ihrem Besuch in Spirit erfahren hatten. Noch dazu wurde Bennis leiblicher Vater vor nicht allzu langer Zeit angegriffen und auch wenn es sich um eine Art Unfall gehandelt hatte, war auch Carsten bereits dem Tod gefährlich nahe gekommen. Nun war sich Susanne allem bewusst. Mars hatte Benni garantiert mit dem Tod von Laura oder Carsten gedroht, vielleicht sogar beiden. Selbst wenn Benni eine sehr starke Persönlichkeit hatte… Dies wäre sicherlich selbst für ihn zu viel. Aber warum erklärten Laura und Carsten ihnen dann nicht die Situation? Susanne war sich ziemlich sicher, dass Benni sie darüber in Kenntnis gesetzt haben musste. Anders wäre das Verhalten der beiden, insbesondere das von Laura, nicht zu erklären. Nun ja, er ist jetzt im Prinzip unser Feind, ob er das nun möchte oder nicht., überlegte Susanne. Vielleicht fällt es ihm leichter, wenn wir ihn hassen und dadurch tatsächlich auch als Feind betrachten? Susanne presste die Lippen zusammen. Sie wusste, dass sie Recht hatte. Natürlich verbesserte dies die Situation nicht im Geringsten. Nun taten ihr nicht nur Laura und Carsten, sondern insbesondere auch Benni unsagbar leid. Doch gleichzeitig breitete sich in Susanne eine Erleichterung aus. Benni hatte sie nicht verraten. Er wollte sie nie verraten. Sie konnte sich zwar nicht erklären, warum Mars es ausgerechnet auf Benni abgesehen hatte, außer vielleicht aufgrund seines ungeheuren Kampftalentes, jedoch beschloss sie sich erst später Gedanken darüber zu machen. Sie warf Miguel einen dankbaren und nicht zuletzt erleichterten Blick zu. „Danke. Vielen Dank. Das muss es sein, ganz sicher.“ Beschämt lachte sie auf. „Eigentlich ist es so logisch… Warum bin ich nicht darauf gekommen?“ Miguel warf ihr ein aufheiterndes Lächeln zu. „Manchmal behindern Gefühle einen dabei klar zu denken und man sieht selbst das offensichtlichste nicht. Da kann sich die Sichtweise eines neutralen Außenstehenden als sehr nützlich erweisen.“ Er wurde wieder ernst. „Aber das wirkt auf mich wirklich schon wie ein Verbrechen.“ Susanne seufzte bedrückt. „Im Prinzip ist es auch eins… Aber zurzeit sind uns die Hände gebunden. Wir können nichts ausrichten.“ Miguel lachte auf. „Du scheinst sehr viel Zeit für Lernen und Training in der Coeur-Academy zu verbringen, ihr seid einem Verbrecher auf der Spur über den du mir offensichtlich aus irgendeinem Grund nicht mehr erzählen möchtest, … Was bist du? Eine Geheimagentin?“ Susanne konnte nicht anders als ebenfalls zu lachen. „Wenn dem so wäre dürfte ich es dir leider trotzdem nicht sagen.“ Dennoch bereitete ihr sein Scharfsinn Sorgen. Natürlich war Miguel sehr schlau, doch nun wurde es langsam unheimlich… Dank ihrer Erkenntnis fiel es Susanne nun immerhin leichter das Treffen mit Miguel genießen zu können. Und sie hatte den Eindruck, dass dies auch ihn zu freuen schien. Nach dem Abendessen gingen sie noch gemeinsam an dem Strand in Kara spazieren und genossen den Sonnenuntergang, bis sie sich verabschiedeten und sich Susanne zurück zur Coeur-Academy teleportierte. Dort angekommen trommelte sie direkt alle Mädchen und Eagle zusammen. Nur Laura und Carsten ließ sie aus. Wenn Benni sie wirklich darum gebeten hatte nichts von seinen Gründen zu erzählen, damit sie ihn als Feind betrachten konnten, war es Susannes Erachtens vorerst sinnvoller die beiden nicht in ihre Vermutungen einzuweihen. Erst einmal wollte sie wissen, was der Rest davon hielt. Nachdem sich alle in Susannes, Lissis und -inzwischen auch- Öznurs Zimmer versammelt hatten, berichtete sie ihnen unverzüglich von ihrer Theorie. Nachdem Susanne mit ihrer Erzählung geendet hatte, herrschte eine Zeit lang betretenes Schweigen. Ariane ließ sich in Janines ehemaliges, inzwischen Öznurs Bett fallen. „Mist, das klingt verdammt einleuchtend. Zu einleuchtend.“ „Aber das ist doch lediglich eine Theorie.“, kritisch verschränkte Anne die Arme vor der Brust. „Warum sollte sich ausgerechnet der eiskalte Engel mit sowas erpressen lassen?“ Öznur runzelte die Stirn. „Wo warst du die ganze restliche Zeit? Man hat doch deutlich sehen können, wie sich Benni verändert hat. Ich wette er würde alles für Laura und Carsten tun, damit ihnen nichts passiert.“ „Und diese Geschichte mit dem Laura und Carsten sollen nichts sagen, damit wir ihn als Feind betrachten? Was soll der Mist?!“, zischte Anne zu Öznur. Eagle lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter den Kopf. „So unlogisch ist das gar nicht. Benedict ist mit Abstand der stärkste von uns. Selbst mit vereinten Kräften würden wir ihn nur mit Mühe und Not bezwingen können. Sollten wir ihm je im Kampf gegenüberstehen und hätten nicht die Bereitschaft ihn zu töten, würden gar zögern, wenn wir die Gelegenheit dazu bekämen, hätten wir überhaupt keine Chance gegen ihn.“ „A-aber… Warum das denn?“, fragte Janine besorgt. Eagle zuckte mit den Schultern. „Wenn du deinen Gegner nicht töten möchtest kämpfst du automatisch nicht mit aller Kraft die du hast. Die Kraft mit der du zuschlägst ist schwächer und -wie gesagt- wenn du die Gelegenheit bekommen würdest, würdest du zögern und das kostet dich einen wertvollen Moment, in welchem du unsagbar verwundbar bist. Das ist mir bei Jack letztens aufgefallen.“ „Hä?“ Die Mädchen schauten ihn irritiert an. „Bei der Abendgesellschaft.“, erklärte Eagle. „Ihr habt gesehen, wie stark Jack plötzlich war, als Carsten ihn versehentlich so in Rage gebracht hat. In dem Moment hatte er tatsächlich mit der Absicht zu töten angegriffen.“ Er seufzte. „Ich hatte damals nur einen kritischen Treffer bei ihm landen können, da er kurz davor gezögert hatte.“ Anne schaute ihn herausfordernd an. „Also ist Jack stärker als du?“ Eagle schnaubte. „Das bezweifle ich. Aber so schwach ist er auch nicht. Der Kampf hätte sich garantiert mehr in die Länge gezogen, hätte er ernsthaft gekämpft.“ Bedrückt atmete Ariane aus. „Jetzt fühle ich mich richtig schlecht, Benni so gehasst zu haben.“ „Und wie…“ Öznur ballte frustriert die Hand zur Faust. „Besonders, weil wir doch eigentlich hätten dahinter kommen müssen! Es ist so logisch! Laura und Carsten gehören für Benni eigentlich schon zur Familie! Warum waren wir so blind?!?“ Öznur schlug auf das Bett und aus Frust und Ärger schienen ihr Tränen zu kommen. Sanft nahm Eagle sie in den Arm und Susanne fragte sich, seit wann sich die beiden so nahestanden. Natürlich hatte sie bemerkt, dass sowohl Öznur als auch Eagle Gefühle für den jeweils anderen entwickelt hatten. Gerade die letzte Woche, die Eagle komplett mit ihnen an der Akademie verbracht hatte, hatte Susanne dies beobachten können. Aber dass sie sich bereits so nahe waren hätte Susanne trotzdem nicht erwartet. „Wahrscheinlich war einfach der Großteil von uns von seinen Gefühlen geblendet.“, vermutete er. „Ob er nun freiwillig gegangen ist oder erpresst wurde: Laura und Carsten leiden sehr darunter, egal was nun sein Beweggrund war.“ Ariane nickte zögernd. „Ich habe mir um ehrlich zu sein nie Gedanken über Benni gemacht. Für mich war es einfach nur schrecklich mitansehen zu müssen, wie furchtbar es Laura geht.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Ich hab ihm nie wirklich vertraut. Ehrlich gesagt hatte es mich nicht überrascht, dass er uns auf einmal verraten hat.“ „Du musst an deinem Bild über Jungs noch ganz schön arbeiten, oder?“, stellte Öznur seufzend fest. Zischend funkelte Anne sie an. Anscheinend war zwischen den beiden immer noch nicht alles im Reinen, auch wenn es immerhin nicht mehr sofort in einem Streit ausartete. Betreten schaute Susanne auf den Boden. „Und was machen wir nun?“ „Na ja, wir sind uns doch jetzt ganz sicher, dass Benni nichts dafür kann, dass er gegangen ist.“, meinte Öznur nachdenklich. „Schon, aber erzählen wir Laura und Carsten davon, dass wir Bescheid wissen? Immerhin sollten sie es doch in gewisser Weise vor uns geheim halten.“ Eagle verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich verstehe so halbwegs, was du meinst. Aber ich glaube, Laura und Carsten würde es eher helfen, wenn wir ihnen mehr Verständnis entgegen bringen.“ Öznur nickte. „Definitiv. Es hilft ihnen nicht, wenn wir weiter so tun als würden wir Benni hassen und ihn beschimpfen.“ „Im Gegenteil, wenn man daran denkt was Laura vorhin mit dem armen Box-Sack angestellt hat.“, stellte Ariane fest. „Ich glaube es wird ihnen besser gehen, wenn wir auch mit der Einstellung an die Sache rangehen, dass wir Benni retten wollen und nicht, dass wir ihm am liebsten an die Kehle gehen würden.“ „Und was ist, wenn wir wirklich mal dazu gezwungen sein werden gegen ihn zu kämpfen?“ Janine rieb sich die Arme, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte. Eagle zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, wir müssen mit der Einstellung kämpfen ihn töten zu wollen. Ansonsten haben wir keine Chance gegen ihn.“ „Aber ich will ihn nicht töten!“, rief Janine aus. „Und Benni uns doch sicherlich auch nicht!“ „Was ihn wiederum schwächt.“, überlegte Lissi. „Aber er wird sich das nicht anmerken lassen dürfen.“, meinte Susanne nachdenklich. „Angenommen Mars droht Benni wirklich mit Carstens und Lauras Tod, was sehr wahrscheinlich ist wie wir nun festgestellt haben. Dann hat er ihn auch jetzt noch vollkommen in seiner Hand. Er scheint sehr grausam zu sein, wenn man nur daran denkt, dass er die ganze Welt gerne zerstören würde. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Benni alles machen muss was er sagt und sich nicht den kleinsten Fehler erlauben darf.“ „Du meinst ansonsten tötet Mars die beiden, obwohl Benni um sie zu beschützen schon die Seiten gewechselt hat?“, stellte Ariane schaudernd fest. Susanne nickte. „Natürlich ist Benni nicht dumm. Er wird garantiert Wege bei der Ausführung von Mars Befehlen finden, die für ihn am wenigsten belastend sind. Doch wenn er sagt ‚Töte diese Person, ansonsten sterben Laura und Carsten.‘ würde Benni diese Person töten.“ Seufzend lehnte sich Öznur wieder gegen Eagle. „Mann ey, jetzt hab ich ein noch schlechteres Gewissen.“ „Du meinst, weil du mit Eagle-Beagle auf Wolke sieben schwebst, während Bennlèy für Lauch und Cärstchen zu Mars Sklaven geworden ist?“ Lissi betrachtete die beiden. „Ja, da ist dein schlechtes Gewissen gerechtfertigt.“ Verstimmt schüttelte Anne den Kopf. „Was geht eigentlich gerade mit euch ab? Erst heißt es Öznur und Eagle sind zusammen und kurz darauf erzählt Susanne, dass sie sich mit diesem Typen aus Eau trifft.“ Susanne übersah es nicht, dass Lissi bei Annes zweiter Aussage verärgert ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst hatte. Sie musste unbedingt ein Treffen mit Miguel arrangieren. Sie musste Lissi unbedingt zeigen, was für ein guter Mensch er geworden ist! Eagle streckte sich und stand von Öznurs Bett auf. „Wenn ihr nichts dagegen habt geh ich dann mal zu Carsten und sag ihm, dass wir ziemlich sicher über Benedict Bescheid wissen.“ Susanne nickte. „Besser du führst mit ihm ein ruhiges Gespräch, als wenn wir alle in einer großen Horde angelaufen kommen.“ Ariane konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Kann es sein, dass du deinen kleinen Bruder inzwischen ziemlich lieb gewonnen hast?“ Eagle reagierte daraufhin nur mit einem Schnauben. Er küsste Öznur noch kurz auf die Lippen und verließ anschließend das Zimmer. Fragend schaute Susanne Öznur an. „Ihr seid wirklich zusammen?“ Öznur nickte. „Beim Abendessen haben wir es den anderen gesagt. Sorry, du warst ja nicht dabei…“ „Ach was. Ich freue mich jedenfalls sehr für euch.“ Susanne war wirklich froh. Es gab ihr irgendwie ein bisschen Hoffnung in dieser doch sehr trostlosen Zeit. Hoffnung, dass doch noch alles gut werden würde. Auch Ariane sprang vom Bett auf. „Dann übernehme ich das Gespräch mit Laura. Ich hab echt ein mieses Gewissen, weil ich mich vor ihr immer so über Benni aufgeregt habe.“ Kurz darauf verließ auch der Rest das Zimmer. Susanne wusste nicht, was sie eigentlich vorhatte, als sie gedankenverloren über den Campus Richtung Sportgelände lief. Jedoch brachte Annes Stimme sie dazu, stehen zu bleiben. „Susanne, warte!“ Überrascht drehte sich Susanne um und sah Anne auf sie zukommen. „Was ist?“ „Die Sache mit Öznur damals. Als ich dich angegriffen hatte als ich so wütend war. Du weißt, dass es mir leidtut, oder?“ Verwirrt musterte Susanne sie. „Natürlich, du hattest dich bei dem Fest in Ivory doch schon entschuldigt gehabt. Ich meinte doch ich kann verstehen, dass Öznurs Kommentar dich so aufgewühlt hat. Es war ja nicht so, dass du mich mit Absicht angegriffen hattest. Du konntest in dem Moment einfach nicht klar denken und das auch aus einem nachvollziehbaren Grund. Es ist alles bestens, ich bin dir nicht böse.“ Anne atmete auf. „Das ist gut.“ Susanne musste bei Annes Erleichterung lächeln. „Belastet dich das wirklich noch so sehr?“ „Na ja… Ja.“ Sie kicherte. „Irgendwie ist das süß von dir.“ Anne schnaubte, jedoch… Wurde sie da gerade etwas rot? Ein seltsam betretenes Schweigen entstand und Susanne wurde leicht unruhig. „Ist… Noch etwas?“, fragte sie deshalb nach einer Weile, um diese unangenehme Ruhe zu durchbrechen. „Wie findest du diesen Miguel eigentlich?“ Annes Frage warf Susanne nun völlig aus der Bahn. „W-wie meinst du das?“ „Ich will nur wissen, was du von ihm hältst.“, erwiderte Anne schulterzuckend. „Nun… Er ist sehr nett und zuvorkommend und außerdem kann er auch sehr witzig sein. Und er ist ziemlich schlau. Ich bin wirklich froh, mit ihm vorhin indirekt über die Sache mit Laura und Benni gesprochen zu haben.“ „Ach so…“ Mehr sagte Anne nicht dazu. „…Warum interessiert dich das so?“ Irgendwie war Susanne nicht wohl bei der Sache. Kein bisschen. „Ach, nur so. Ich geh noch ein bisschen Sport machen. Man sieht sich.“ Mit diesen Worten ging Anne an ihr vorbei Richtung Sporthallen und ließ eine leicht verwirrte Susanne zurück. Warum interessierte sich Anne dafür, was sie von Miguel hielt? Susanne konnte einfach keine Erklärung darauf finden. Na ja, sie vertraut Jungs im Allgemeinen immer noch nicht so wirklich., überlegte sie. Gerade, da sogar Lissi Miguel gegenüber noch kritisch ist, macht sich Anne vielleicht einfach Sorgen… Susanne kicherte. Irgendwie fand sie das süß. Diese Fürsorge passte eigentlich nicht zu Anne. Erst jetzt erkannte sie, dass sie in der Nähe des Ballturms angekommen war, direkt bei den Reitställen. Susanne öffnete das Holztor und ging an den Boxen vorbei, bis sie bei der eines edlen schwarzen Einhorns angelangt war. Flicka schnaubte ihr zur Begrüßung zu und Susanne streichelte über ihre Nase. „Du vermisst Benni, oder?“ Wie als würde sie antworten, wieherte das Einhorn. Traurig lächelte Susanne und schaute zu dem Stroh rüber. Eigentlich hätte sie erwartet, dass Benni dort liegen und sich entspannen würde, doch natürlich war die Box bis auf Flicka leer. Seufzend betrat sie sie und setzte sich in das Stroh. Flicka legte sich neben sie und ließ sich den Hals tätscheln. Susanne erinnerte sich an jenen Tag nach dem Jatusaner-Markt, wo sie hier zum ersten Mal ein richtiges Gespräch mit Benni hatte führen können und so überrascht darüber war, wie freundlich er doch eigentlich war. Auch erinnerte sie sich daran, wie er ihr am Ende die Mütze mit den Katzenohren gegeben hatte, die sich Laura so gewünscht hatte. Damals hatte er Susanne darum gebeten Laura nicht zu sagen, dass sie von ihm war und Susanne hatte es für Laura umschrieben. Sie hatte gesagt, die Mütze sei von ihrem Schutzengel. Wehleidig seufzte sie. Du hast einen wunderbaren Schutzengel, Laura. Einen, der alles für dich tut. Der sich sogar auf die Seite des Feindes schlägt, nur um dich zu beschützen. Kapitel 56: Ein mutiger Schritt ------------------------------- Ein mutiger Schritt Eine weitere Woche verging und so langsam gewöhnte sich Laura an den alltäglichen Trott ohne Benni. Natürlich ging es ihr immer noch grauenvoll, wenn sie an ihn dachte. Jedoch half ihr das strikte Training dabei auf andere Gedanken zu kommen. Laura war überrascht von sich selbst, wie sie mit der Situation umging. Sie konnte sich auch nicht erklären, warum sie sich gerade nicht in ihrem Zimmer verkroch und dauerhaft am Heulen war. Irgendwie war ihr Drang Benni zu retten so groß, dass sie sich diese Schwäche nicht erlaubte. Sie wollte sie sich nicht erlauben und konnte es auch gar nicht. Das einzige was sie wollte war Benni endlich wieder hier bei sich in Sicherheit zu wissen. Sie wollte, dass er sie guten Gewissens in den Arm nehmen und küssen konnte. Sie wollte ihn aus den Fängen von Mars retten. Und dazu musste sie stärker werden. Und stärker und stärker und stärker. Bis sie so stark war, dass sie es selbst mit dem Purpurnen Phönix aufnehmen konnte. Natürlich war das ein Ding der Unmöglichkeit, doch das war Laura egal. Sie wollte einfach stark genug werden um Benni zu retten. Und für diese Stärke brauchte sie die Dämonenform. Nachdem sie den anderen schon seit Beginn der Woche damit in den Ohren gelegen hatte, dass sie endlich ihre Prüfung machen wolle, war es heute so weit. Verstimmt schüttelte Öznur den Kopf. „Dass gerade du so darauf erpicht bist die Prüfung zu machen…“ „Na und? Wir brauchen so oder so alle unsere Dämonenform um es mit Mars aufnehmen zu können. Ich habe jetzt schon lange genug gewartet. Ich will diese Prüfung machen!“, erwiderte Laura. „Du meinst, du willst die Dämonenform haben um Benni retten zu können.“, berichtigte Ariane sie belustigt. „Genau. Also auf jetzt.“ Auffordernd schaute Laura Carsten an, der von ihrem Enthusiasmus etwas überfordert schien. Anne lachte auf. „Irgendwie mag ich diese Laura. Du kannst gerne so bleiben.“ „Ich weiß nicht… Ich finde das unheimlich.“, stellte Carsten fest, wirkte aber leicht amüsiert. „Ich hätte nicht gedacht, dass in dir auch so eine Seite steckt.“ Öznur grinste. „Benni wird Laura gar nicht mehr wiedererkennen, wenn wir ihn endlich wieder bei uns haben.“ „Los jetzt! Ich will nach Yami!“ Drängend schob Laura Carsten Richtung Eingangstor der Coeur-Academy. „Ja, ja, ist ja gut.“ Carsten lachte. „Dann bis nachher.“ Er winkte den anderen noch zum Abschied zu und gemeinsam mit Eagle und Ariane verließen Laura und Carsten die Akademie um sich außerhalb der Magiesperre zum Schrein des Schwarzen Löwen teleportieren zu können. Ariane wollte unbedingt mitkommen, um Laura anzufeuern. Und Eagle hatten sie sicherheitshalber noch mitgenommen, falls doch irgendetwas passierte. Natürlich hoffte jeder, dass alles reibungslos ablief. Aber sie wollten trotzdem lieber auf Nummer sicher gehen. In Yami angekommen mussten sie noch etwa einen Kilometer zu dem Schrein laufen. Er lag zwar außerhalb Zukiyonakas, jedoch umgab ihn eine ziemlich mächtige Magiesperre. Bei dem japanischen Tempel angelangt, fühlte sich Laura direkt unwohl. Das letzte Mal als sie hier war hatte sie sich dem Schwarzen Löwen gegenüber ziemlich respektlos verhalten. Auch wenn er ihr das anscheinend nicht krumm nahm, war es Laura dennoch unangenehm. Aber andererseits war der Schwarze Löwe zu ihr ja auch nicht sehr nett gewesen. Wer jemandem zwölf Jahre lang weismacht, dass er sich noch entscheiden würde ob er die Person verlässt oder nicht und deren Leben auch noch davon abhängt, ist garantiert nicht nett. Außerdem kam beim Anblick des Tempels noch eine Erinnerung in Laura hoch. Jene Erinnerung an Benni, welcher zeitgleich zu ihrer komischen Aktion beim Schwarzen Löwen bei dem Brand in Obakemori fast ums Leben gekommen wäre. Fröstelnd rieb sich Laura die Arme. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Carsten besorgt. „Bekommst du jetzt doch Muffensausen?“ Belustigt musterte Eagle sie. Laura schüttelte den Kopf. „Ich musste daran denken, dass wir ja auch hier waren, als Benni vor vier Monaten…“ Laura konnte nicht anders. Automatisch kamen ihr die Tränen, als sie an Bennis schrecklichen Zustand zurückdachte in welchem er sich nach dem Angriff von Mars befand. Eagle seufzte. „Und ich habe mich immer darüber lustig gemacht, welche Angst er vor Mars anscheinend hat…“ Ariane nickte. „Für meinen Geschmack ist sein Instinkt etwas zu gut. Bisher haben sich alle seine Vermutungen bewahrheitet und selbst diese Angst vor Mars war im Endeffekt gerechtfertigt.“ Langsam gingen sie auf den Schrein zu und stiegen die steinernen Treppen zu dem Tempel hinauf, als Ariane die Nase rümpfte. „Ihr hattet gemeint, durch meine Dämonenform habe sich mein Geruchsinn verbessert, oder?“ Carsten nickte. „Dann würde ich mich an eurer Stelle mal bereit machen… Hier stimmt etwas nicht.“ Der kritische Blick mit dem Ariane den Tempel musterte versetzte Laura sofort in eine gewisse Anspannung. Was stimmt hier nicht? Immer noch angespannt öffnete Laura die schwarz lackierte Holztür und trat ein. Der Rest folgte ihr. Da schoss auf einmal ein Messer an Laura vorbei und verschwand in der Dunkelheit. An der Stelle, an der das Messer verschwunden war hörte sie ein Lachen. „Nicht schlecht, Sommersprösschen. Fast hättest du mich erwischt.“ Der Besitzer dieser sarkastischen Stimme trat aus dem Schatten und sofort brachten sich auch Carsten, Eagle und Laura in Angriffsposition. Jack. Natürlich. „Du hast sie für meinen Geschmack etwas zu gut trainiert.“, meinte Jack und wandte sich an die zweite Person, die nun hervortrat. Laura stockte der Atem. „Benni…“ Sie konnte ihn nur noch mit entsetzt geweiteten Augen anstarren. Er sah fast so aus wie sie ihn in Erinnerung hatte. Aber nur fast. Er trug zwar die für ihn typische schwarze Kleidung, jedoch verdeckten seine platinblonden Haare das rechte Auge nicht mehr. Benni erwiderte ihren Blick mit seiner ausdruckslosen Mimik. Und zwar gänzlich ausdruckslos. Egal wie sehr sich Laura anstrengte, sie konnte nicht den leisesten Hauch einer Gefühlsregung in seinen Augen erkennen. Es war fast so, als habe er seine Gefühle vollständig ausgeschaltet. Wie vor einem halben Jahr, als er der eiskalte Engel war. Ohne es zu wollen kamen Laura die Tränen. Zum einen war sie so glücklich, Benni endlich wieder zu sehen. Doch zum anderen… Dieser gefühllose Blick, diese eiskalte Aura… Das war nicht Benni. Nicht mehr. Nicht der Benni, der ihr vor zwei Wochen noch gesagt hatte, dass er sie liebte! „Benni, du…“, setzte Carsten an, brach schließlich jedoch ab. Aus den Augenwinkeln bemerkte Laura wie er die Augen zusammenkniff und den Kopf senkte. „Was wollt ihr hier?“, durchbrach Eagles tiefe bedrohliche Stimme die Stille. Jack zuckte mit den Schultern. „Ist das nicht offensichtlich?“ Daraufhin reagierte Carsten nun. Er streckte den Arm aus und aus dem Nichts tauchte ein großer Zauberstab aus massivem verschnörkeltem Holz auf, an dessen Ende sich ein weißer Edelstein befand. Laura erkannte ihn wieder, es handelte sich um jene Dämonenwaffe, die Sakura ihm einst gestohlen und die er erst bei ihrem Besuch in Indigo im Februar wiederbekommen hatte. Jack runzelte die Stirn. „Bist du immer noch so angepisst?“ „Denk nicht, dass du mich auf die leichte Schulter nehmen kannst.“ Carstens Stimme klang schon nahezu genauso bedrohlich wie Eagles und Laura bekam unverzüglich eine Gänsehaut. Sie wusste zwar nicht, was Jack mit ‚immer noch so angepisst‘ gemeint hatte, aber darum machte sie sich gerade keine Gedanken. Darum konnte sie sich gerade auch überhaupt keine Gedanken machen. Ariane ging einen Schritt vor und stellte sich vor Laura, als wolle sie diese vor einem möglichen Angriff von Jack oder Benni beschützen. Aber Benni würde sie doch niemals angreifen. Oder? Oder?!? Auch Jack ging nun in Angriffsposition und hob die Fäuste, als im gesamten Tempel auf einmal eine ohrenbetäubend laute und tiefe Stimme zu hören war. „Nicht in diesem Schrein. Tragt von mir aus eure Konflikte außerhalb aus, aber wehe ihr macht hier was kaputt.“ Auf einmal standen sie nicht mehr innerhalb des Tempels, sondern in einem kleinen Waldstück nebenan. Ariane hielt sich immer noch die Ohren zu. „Was war das denn?“ „Bilde ich mir das nur ein oder hat der Schwarze Löwe uns gerade im Prinzip rausgeworfen?“ Jack lachte auf. Kurz darauf wurde er jedoch wieder ernst und wandte sich an Benni. „Ich kann gerne die Ablenkung spielen, aber die Prinzessin musst du schon übernehmen. Immerhin hat Mars dir die Mission aufgetragen, nicht mir.“, meinte er nur nüchtern und Laura überkam sofort ein Schaudern. Was meinte Jack damit? Was für eine Mission?!? „Halt dich von Laura fern!“, schrie Ariane, die immer noch zwischen ihr und Benni stand. Doch da startete Jack bereits den Angriff. Fast so wie als habe er sich teleportiert stand er auf einmal direkt vor Ariane und schlug zu, aber diese war als schnellste der Mädchen problemlos dazu in der Lage den Angriff zu blocken. Ariane zog einen Dolch aus ihrem Gürtel und griff Jack damit an, doch dies wehrte wiederum er ab und hielt Arianes Arm fest. Ariane duckte sich unter seinem nächsten Schlag weg und wollte ihm mit einem Tritt die Beine vom Boden fegen. Als hätte er schon damit gerechnet verstärkte Jack seinen Griff mit dem er Arianes Arm immer noch festhielt und schleuderte sie in Richtung von einem der Bäume. Bevor Ariane gegen einen Stamm knallen konnte tauchte eine farbig leuchtende Barriere auf, die sie sanft auffing. Laura blieb gar nicht die Zeit über Arianes Rettung erleichtert zu sein, als sie schon beobachten musste, wie mehrere Magieblitze auf Jack zuschossen, die er nur noch mit einer Steinwand abwehren konnte. Da tauchte hinter ihm Eagle auf und holte mit seinem Schwert zum Schlag aus. Gerade rechtzeitig wehrte Jack den Schlag mit seiner Armschiene noch ab. Er knirschte mit den Zähnen. „Gegen beide Brüder gleichzeitig zu kämpfen hat mir gerade noch gefehlt. Benedict! Jetzt mach schon!“ Laura blieb wie erstarrt stehen, als Benni langsam auf sie zu kam. Sie wusste, dass sie nun eigentlich gegen ihn kämpfen sollte, aber… Zitternd wich sie einen Schritt zurück. Und noch einen. Und einen weiteren. Und all die Zeit kämpfte sie mit den Tränen. Sie hatte Angst. Sie hatte unsagbare Angst. Das ist nicht Benni! Er kann nichts dafür! Er will mich gar nicht angreifen! Immer wieder versuchte sich Laura dies in den Kopf zu rufen, doch diese bedrohliche Ausstrahlung, dieser eiskalte Blick, … Er ist ein guter Schauspieler! Das ist alles nur geschauspielert!!! Erst als Benni sein Schwert zog, fiel Laura auf, dass er es überhaupt dabei hatte. Sie wich noch einen Schritt zurück, stolperte dabei über eine Wurzel und fiel auf das Gras. Lauras Herz setzte aus. Sie konnte nicht mehr denken. Dieser emotionslose Blick, diese eiskalten Augen… Es war wie als würden sie ihr Gehirn einfrieren. Laura schlotterte am ganzen Körper, während sie wie gebannt in Bennis Augen starrte. Das schwarze, so kalt und hoffnungslos wie eine sternlose Nacht, das rote heiß und gefährlich wie loderndes Feuer. „Hör auf, bitte! Hör auf!!!“, schrie sie verzweifelt und voller Angst. Laura konnte nicht mehr anders. Als Benni zum Schlag ausholte kniff sie die Augen zusammen und wartete auf den tödlichen Schmerz. Doch das Klirren von Metall auf Metall brachte sie dazu, vorsichtig ihre Augen wieder zu öffnen. Vor ihr stand Ariane, die offensichtlich alle Mühe hatte Bennis Schwert mit ihrem Dolch zu blocken ohne dabei in die Knie zu gehen. „Tust du wirklich nur so herzlos oder hast du schon wieder alle Gefühle die du einst hattest weggesperrt?“, brachte sie zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. „Denn so wie du Laura gerade seelisch folterst bezweifle ich, dass dir überhaupt noch was an ihr liegt!“ Mit einer knappen Handbewegung entwaffnete Benni Ariane und griff sie mit einem Fausthieb an. Endlich arbeitete Lauras Verstand wieder. So schnell sie konnte hievte sie sich auf die Beine und erreichte Ariane und Benni gerade rechtzeitig, um seine Faust mit ihrer bloßen Hand abzufangen. Dank ihrer Finsternis-Energie hatte sie den gesamten Schlag absorbiert. Zeitgleich griff Ariane Benni an, welcher ihr jedoch mit einer nur minimalen Bewegung auswich. „Ich mach das, Nane.“ Ariane runzelte die Stirn. „Bist du dir da sicher?“ Laura atmete tief durch und nickte. „Ich habe viel öfter gegen Benni in Trainingskämpfen gekämpft als du. Ich kann seinen Kampfstil besser einschätzen.“ Zögernd ging Ariane ein paar Schritte zurück. „Dein Argument ist hinfällig, wenn man bedenkt, dass ich dir alles beigebracht habe.“, kommentierte Benni lediglich. „Nicht alles.“, widersprach Laura. Sie hüllte ihre Hand in Finsternis-Energie und schlug mit der Handfläche zu, doch natürlich wich Benni ihrem Schlag aus. Eine Weile setzte Laura ihre Angriffsserie fort, jedoch machte Benni nichts anderes, als ihren Schlägen auszuweichen und sich dabei so wenig wie möglich zu bewegen. Es ist fast schon so wie in unseren Trainingskämpfen!, schoss es Laura durch den Kopf. Als würde er schauen, was für Angriffe ich so draufhabe. Laura konnte nicht anders und musste lächeln. Okay, wenn du sehen möchtest, was ich in diesen zwei Wochen gelernt habe, bitte. Sie ballte die immer noch in Finsternis gehüllte Hand zur Faust und schlug zu. Benni, der inzwischen mit dem Rücken zu einem schmalen Baum stand wich dem Schlag duckend aus, sodass Laura stattdessen den Baum erwischte und dieser krachend umfiel. Benni betrachtete den zerborstenen Überrest des Stammes, der so wirkte als habe man seine obere Hälfte wie einen Stock abgebrochen. „Nicht schlecht.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Eagle, Carsten und Jack den Kampf unterbrochen hatten und stattdessen ebenso wie Ariane gebannt Laura und Benni beobachteten. „Nicht ablenken lassen.“, meinte Benni nur und lediglich durch diese Warnung hatte Laura sein Schwert mit ihrer Finsternis-Energie noch anhalten können. Mist, das ist echt wie einer unserer Trainingskämpfe!, stellte Laura fest. Nicht nur das, Benni hatte seine Geschwindigkeit auch noch an Lauras angepasst. Er will gar nicht ernsthaft gegen mich kämpfen. Er will mich gar nicht verletzen! Obwohl nun Laura damit beschäftigt war Bennis Angriffen auszuweichen -wie ein üblicher Trainingsverlauf, den sie während ihrer Spaziergänge häufiger hatten- musste sie lächeln. Also hatte er seine Gefühle nicht vollständig unterdrückt. Also war er immer noch der Benni, den sie kannte und liebte. Aber verdammt noch mal war er ein guter Schauspieler. Wüsste Laura nicht, dass das einer ihrer gewöhnlichen Trainingsabläufe war, hätte sie ihm das alles sofort abgekauft. Doch so fiel es ihr nun leichter, gegen Benni zu kämpfen. Sie holte ihren Fächer aus einer Halterung an ihrem Gürtel und blockte die nächsten Angriffe mit ihm. Kurz darauf klappte sie ihn auf in der Hoffnung, Benni mit einer plötzlichen Attacke zu überraschen. Die für ihn natürlich nicht überraschend war. Benni packte Lauras Arm und drehte ihn so hinter ihren Rücken, dass sie den Fächer unbeabsichtigt fallen ließ. Dennoch tat sein Griff kein bisschen weh. „Den Umgang mit dem Tessen musst du aber noch üben.“, kommentierte er trocken. „Du warst ja nicht da um mir zu zeigen wie ich das anstelle.“, erwiderte Laura. Erst jetzt fiel ihr auf, wie nah sie Benni auf einmal stand. Wäre das jetzt ein gewöhnlicher Trainingskampf hätte er einfach nur die Augen verdreht, ihr einen Kuss gegeben und sie aus seinem Griff wieder befreit. Aber das war kein gewöhnlicher Trainingskampf, wie Laura schweren Herzens wieder feststellen musste. Er würde weder amüsiert auf ihren Kommentar reagieren, noch würde er sie küssen. Vielleicht würde er sie noch nicht einmal mehr aus seinem Griff befreien. Und wieder schossen Tränen in Lauras Augen als sie sich daran erinnerte, dass Benni nun eigentlich ihr Feind war. Weinend kniff sie die Augen zusammen. Benni hatte immer noch diesen eiskalten und bedrohlichen Blick, der dafür sorgte, dass sich in Laura eine lähmende Kälte ausbreitete. Er ist ein guter Schauspieler. Das ist alles nur geschauspielert!, rief sich Laura erneut in Erinnerung. Und wieder fiel es ihr schwer das glauben zu können. Es wirkte zu echt, um geschauspielert zu sein. Sie hörte Jack aus dem Hintergrund genervt aufstöhnen. „Man Benedict, jetzt mach endlich mal ernst! Nachher ist noch ein Raid den ich unbedingt mitmachen möchte!“ „Du zockst?“, fragte Eagle irritiert. „Ja. Und?“ Das weiterführende Gespräch zwischen Eagle und Jack ignorierend schaute Laura immer noch weinend in Bennis emotionslose Augen. „Wie geht es dir?“ Benni antwortete nicht auf ihre Frage aber das hatte sie sich schon gedacht. Stattdessen stieß er sie mit dem Rücken gegen den nächstliegenden Baum. Den Aufprall hatte Laura überhaupt nicht gemerkt, aber dafür sah sie den Fächer, den Benni auf einmal geöffnet in der Hand hielt. Er holte aus, wie als wolle er mit einem Schnitt ihren Kopf von ihrem Körper entfernen, doch da bemerkte Laura hinter Benni, wie Eagle sein Schwert zog und einen plötzlichen Angriff startete. Der Rest ging so schnell, dass Laura erst im Nachhinein realisierte, was da geschehen war. Wie aus Reflex hatte sich Laura aus Bennis alles andere als festem Griff befreit, seitlich an ihm vorbei geduckt und wollte sich zwischen Eagle und Benni stellen. Doch Eagle war zu nah, um den Angriff noch abbrechen zu können. Das Schwert befand sich nur noch wenige Millimeter vor Lauras Kehle, als ein brennender Schmerz sich in ihrer linken Seite ausbreitete und sie mehrere Meter nach rechts stieß. Als sie sich keuchend aufrichtete brauchte sie einige Sekunden, um wirklich erfassen zu können, was sie da sah. Benni stand mit dem Rücken zu dem Baum, gegen den er zuvor noch Laura gestoßen hatte. Von seiner rechten Hand tropfte Blut, was daran lag, dass er damit die Klinge von Eagles Schwert gepackt hatte und diese offensichtlich tiefe Schnitte in seiner Handfläche hinterlassen hatte. Doch nicht nur seine Hand blutete. Lauras Augen weiteten sich vor Entsetzen. Schwindel und Übelkeit stieg in ihr auf. Unterhalb der Rippen auf der linken Seite floss ebenfalls dunkles Blut aus einer Wunde und tropfte auf die grüne Wiese. Das Schwert hatte Benni an dieser Stelle komplett durchstochen und steckte auf der anderen Seite im Baum fest. „N-nein… Das kann nicht… Das sollte nicht…“ Laura schwankte. Taumelnd wollte sie zu Benni gehen, doch ihre zitternden Knie ließen sie wieder auf den Boden sacken. Der Schwindel wurde stärker während Laura beobachtete, wie Benni das Schwert aus seinem Körper herauszog und die Wunde mithilfe seiner Feuer-Energie vorerst ‚verschloss‘. Bei dem widerlichen Geruch verbrannter Haut musste sie gegen einen Brechreiz ankämpfen. „Benni!“, hörte Laura Carsten rufen, welcher auf Benni und Eagle zueilte. Derweil kam Ariane zu Laura und legte einen Arm um ihre Schultern. In Lauras Kopf schwirrten all ihre Gedanken wirr umher. Das kann nicht sein. Wie konnte das passieren?! Warum ausgerechnet Benni?!?!? So ein Angriff hätte ihn doch nie verletzen können!!!!! Bevor Carsten Benni und Eagle erreichen konnte, stand auf einmal Jack neben Benni. Er musterte die durch das Blut rot glänzende Klinge des Schwertes. Anschließend fiel sein Blick auf Laura, die immer noch auf dem Boden kniete, gegen Schwindel und Übelkeit ankämpfte und sich wünschte, Eagles Schwert hätte sie durchstochen und nicht Benni. Schließlich zuckte Jack mit den Schultern. „Das ist auch eine Idee, wie sie die Prüfung nicht machen kann, ohne dass sie dabei groß verletzt wird. Gar nicht mal so blöd, Benedict.“ „Was… wie…“ Laura zitterte am ganzen Körper und erneut kamen ihr die Tränen. Jack schaute Benni auffordernd an. „Wir sind fertig hier. Lass uns verschwinden.“ „Warte!“, rief Carsten. „Benni ist verletzt, er muss-“ „Er muss gar nichts.“ Jacks kritischer Blick wirkte leicht bedrohlich. „Ist dein Helferdrang wirklich immer noch so groß, dass du selbst deinen Feind heilen möchtest? Ich dachte, du hättest aus letztem Mal was dazugelernt.“ „Benni ist nicht der Feind!“, widersprach Carsten störrisch. „Nicht?“ Jack zeigte auf Laura, die allmählich gegen die Bewusstlosigkeit ankämpfen musste und das Gespräch nur noch gedämpft hören konnte. „Ich an deiner Stelle würde mir erstmal um meine ‚Freunde‘ Gedanken machen.“ Jack erschuf ein orange-schwarz loderndes Portal. „Bis zum nächsten Mal.“ Er winkte ihnen zu und verschwand. Nur schemenhaft erkannte Laura, wie Benni ihren Blick erwiderte. Noch während auch er im Portal verschwand, wurde der Schwindel so stark, dass er Laura in die Besinnungslosigkeit riss. Bedrückt prüfte Carsten Lauras Temperatur in der Sorge sie habe Fieber. Aber zum Glück schien sie einfach nur der Schock in die Ohnmacht gerissen zu haben. Inzwischen waren sie wieder in der Coeur-Academy und hatten sich alle in Lauras und Arianes Zimmer versammelt. Während Carsten Laura mithilfe einer Art Magie-Scan auf Verletzungen überprüfte, erzählte Ariane dem Rest was vorgefallen war. Carsten hörte nur mit halbem Ohr zu. So langsam hatte er sich daran gewöhnen können, dass Benni nicht mehr bei ihnen sein durfte. Doch nun war die Wunde erneut aufgerissen. Bedrückt beendete Carsten seine Untersuchung und ließ sich auf den Boden neben das Bett sinken, in dem Laura schlief. Während des Kampfes gegen Jack hatte er sich noch zusammenreißen können, doch nun fiel die Selbstbeherrschung von Sekunde zu Sekunde schwerer und jedes Wort aus Arianes Erzählung machte es nur noch schlimmer. Ließ sein Herz immer schwerer werden. Verbissen wischte sich Carsten eine Träne aus dem Auge, als sich plötzlich Eagle neben ihn setzte. Zwar wich er Carstens Blick aus, legte aber nach einigem Zögern schließlich seine Hand auf Carstens Schulter. Ariane schien derweil mit ihrem Bericht geendet zu haben, wie Carsten an dem betroffenen Schweigen deutete. Öznur seufzte. „Dem zufolge was Nane erzählt hat klingt es irgendwie so, als wäre Benni nun endgültig auf die böse Seite gewechselt.“ Überrascht hob Carsten den Kopf. „Was? Wie meinst du das?“ „Na ja, er schien ja ziemlich kaltherzig gewesen zu sein, wie er da gegen Laura gekämpft hat…“, meinte Janine zögernd und senkte den Kopf. Anne nickte. „Geschieht ihm Recht, dass er von Eagle aufgespießt wurde, als er Laura bei ihrem Fluchtversuch auch noch so weggeschleudert hat.“ „Wobei das seltsam ist… Benni müsste doch eigentlich viel stärker sein. Also warum hat er den Angriff von Eagle nicht kommen sehen? Und warum hat Laura so lange gegen ihn Stand halten können?“, sinnierte Susanne. „Der hat wahrscheinlich die Zeit über nur mit Laura gespielt.“ Anne zuckte missbilligend mit den Schultern. „Und was den Angriff betrifft…“ Darauf schien sie keine Antwort zu finden. Während des Gesprächs der Mädchen hatten sich Carstens Augen vor Überraschung und Verwunderung geweitet. „So hat Benni also auf dich gewirkt, Nane?“ „Auf mich gewirkt?! Ich sage dir, wie er auf mich gewirkt hat: Als wäre ihm Lauras Glück inzwischen gänzlich egal. Ich weiß nicht, was Mars mit ihm angestellt hat. Vielleicht einer Gehirnwäsche unterzogen? Jedenfalls war das nicht mehr der Benni, der er kurz vor seinem Verschwinden noch gewesen ist.“ „Was?!“ Carsten war aufgesprungen. „Wie kannst du das einfach so behaupten?!“ „Hey, beruhige dich.“ Eagle stellte sich ebenfalls hin und klopfte Carsten auf die Schulter. „Um ehrlich zu sein hatte er auch auf mich die ganze Zeit so gewirkt. Außer am Ende.“ Geräuschvoll atmete Eagle aus. „Eins muss man ihm lassen, er ist ein verflucht guter Schauspieler.“ Öznur runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ „Na ja, außer Laura und Carsten hätte es wahrscheinlich niemals jemand von uns geblickt, dass diese Kälte und Herzlosigkeit einfach nur aufgesetzt war.“ Janine legte den Kopf schief. „Ich verstehe worauf du hinauswillst, aber wie kannst du dir da so sicher sein?“ Eagle wies mit dem Kopf auf Laura. „Als er sie am Ende mit dem Tessen angreifen wollte, habe ich wirklich erst gedacht er würde sie umbringen. Deshalb habe ich auch sofort reagiert und ihn angegriffen. Erinnert ihr euch noch, was ich euch letztens über die gefährliche Verwundbarkeit, wenn man zögert, erzählt habe?“ Die Mädchen nickten. „Die einzige von uns dreien die nicht gezögert hatte war Laura. Obwohl Benni meinen Angriff definitiv hat kommen sehen, hat er nicht auf mich reagiert. Außerdem hat er auch für einen kurzen Moment innegehalten, als er Laura angreifen ‚wollte‘, fast so als wolle er mir die Möglichkeit geben, sie zu retten…“ Er seufzte. „Dieses Zögern habe wiederum ich bemerkt, weshalb ich selbst gezögert habe. Das hat Laura genug Zeit verschafft, um sich zwischen uns zu stellen.“ „Und Bennis Angriff auf Laura am Ende war also…“ Ariane stockte. „Wahrscheinlich eine instinktive Reaktion von ihm, um sie so schnell es geht aus der Schusslinie zu bekommen. Auf dich mag es vielleicht so gewirkt haben, als wolle Benni Laura an der Flucht hindern, aber ich bin mir ziemlich sicher er wusste genau was Sache war.“ Ariane schluckte schwer und ließ sich auf das Bett sinken. „Es ist alles so logisch und trotzdem… Wahnsinn, wie er uns hinters Licht führen konnte.“ Eagle reagierte daraufhin nur mit einem Nicken. „Und was ist mit dem restlichen Kampf zwischen Laura und dem eiskalten Engel?“ Anne schien noch nicht überzeugt. „Er hat sie zum Beispiel immer noch gegen den Baum gestoßen!“ „Bis auf die Prellung an ihrer linken Seite ist Laura komplett unverletzt…“, meldete sich nun auch Carsten zu Wort, der inzwischen kraftlos auf der Bettkante saß. „Und wie du schon bemerkt hast, hat Benni sonst seine Kraft drastisch heruntergeschraubt. Vielleicht hat es wirklich so gewirkt, als hätte er nur mit ihr ‚gespielt‘. Aber ich glaube eher, dass er das absichtlich gemacht hat, damit Laura eine Chance gegen ihn hat.“ Ariane überlegte. „Denkt ihr, Benni hat auch gezögert, als er mich angegriffen hat?“ „Gute Frage… Ich weiß es nicht.“ Verwundert betrachtete Carsten Laura. „Sie hat auf einmal so schnell reagiert, dass ich in dem Moment plötzlich den Eindruck hatte, sie könnte Benni wirklich ebenbürtig in einem Kampf gegenüberstehen…“ Atemlos lachte Anne auf. „Ich glaube, du warst zu sehr mit Jack abgelenkt.“ Eagle schüttelte den Kopf. „Um ehrlich zu sein hab ich auch gedacht, dass sie es in dem Moment mit Benni aufnehmen könnte.“ „Das bildet ihr euch nur ein. Es ist Laura!“ „Die dich vor einigen Wochen noch ziemlich alt hat aussehen lassen.“ Herausfordernd grinste Öznur sie an. Anne warf ihr einen feindseligen Blick zu. „Das war Glück, nichts weiter. Sie war im Vorteil, weil ich sie unterschätzt hatte.“ Der Rest konnte nicht anders als auf ihren Kommentar hin lauthals loszulachen. „Ja, ja, klar. Wenn du dich damit besser fühlst…“ Schnaubend verschränkte Anne die Arme vor der Brust. Lächelnd betrachtete Carsten Laura. Er hatte den Eindruck, dass sie tatsächlich noch zu einigen Überraschungen fähig war. Wobei er sich auch Sorgen um sie machte. Sie schien genauso wie Carsten und Eagle gewusst zu haben, dass Benni nur verletzt worden war, weil sie versucht hatte ihn abzuschirmen. Benni… Seufzend senkte Carsten den Kopf. Wie konnte das alles nur passieren? „Eine Sache wundert mich noch…“ Nachdenklich stützte Susanne den Kopf auf ihren Händen ab. „Woher wussten Benni und Jack, dass ihr ausgerechnet heute zum Schrein wolltet?“ Eagle runzelte die Stirn. „An sich wissen sie immer viel zu gut über unsere Schritte Bescheid. Damals in Indigo, als man Benedict vergiftet hatte wussten sie offensichtlich auch, dass ihr dort ward.“ Öznur nickte. „Und Jack scheint insgesamt immer bestens über uns informiert zu sein.“ „Das klingt stark danach, als gäbe es hier irgendeinen Spion, der für Mars arbeitet.“, äußerte Anne und schaute den Rest kritisch an. „Aber von uns wird es wohl keiner sein.“ „…Die Direktoren?“, vermutete Janine nach einer Weile zögernd. „Natürlich kann ich es mir überhaupt nicht vorstellen, aber wir weihen sie immer in alles ein. Sie sind wissen von allen immer noch am besten Bescheid.“ Bestimmt schüttelte Carsten den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich habe von dem Direktor erfahren, dass Benni ihm… Na ja, ihr wisst schon… Also jedenfalls hat er sich ihm anvertraut bevor er gehen musste. Ihr wisst inzwischen alle, wie unfehlbar sein Instinkt ist. Würde einer der Direktoren wirklich für Mars arbeiten, hätte Benni ihnen nicht so vertraut. Und außerdem habe ich letztens erfahren, dass Jack und der Direktor sich kennen.“ „Wie meinst du das?“, fragte Susanne irritiert. „Das macht ihn gerade eigentlich noch verdächtiger.“, äußerte sich Anne kritisch. „Nein, so meinte ich das nicht. Es wirkte eher so, als haben sie sich vor langer Zeit mal getroffen. Und noch dazu hat man deutlich sehen können, wie unwohl sich Jack dabei gefühlt hat, dem Direktor gegenüber zu stehen. Fast so als habe er bei der Konfrontation mit Herr Bôss ein schlechtes Gewissen bekommen, dass er für Mars arbeitet.“, widersprach Carsten. „Aber wo wollen die sich getroffen haben?“ „Im FESJ?“, vermutete er, auch wenn es ihm schwerfiel, dieses Wort überhaupt auszusprechen. „Herr Bôss scheint dort regelmäßig vorbeizukommen, als würde er überprüfen, ob noch alles in Ordnung ist. Nur so habe ich ihn auch kennenlernen können. Wäre er nicht gewesen, wäre ich immer noch…“ Mehr brachte Carsten nicht über die Lippen, aber der Rest verstand, worauf er hinauswollte. Ihm entging es nicht, dass Eagle bei seinem Kommentar verbissen den Blick abgewandt hatte. Hatte sein großer Bruder immer noch ein schlechtes Gewissen deswegen? Irgendwie freute sich Carsten darüber. Dass Eagle seine Taten anscheinend immer noch so bereute weckte in ihm nur noch mehr den Eindruck, dass er Carsten endlich als seinen kleinen Bruder akzeptiert hatte. Susanne schien verwirrt. „Ich dachte, du hättest es verlassen können, da du bei dieser einen Prüfung die Bestleistung erzielt hast.“ „Im Prinzip schon. Aber es gab eine kleine Auseinandersetzung mit 9510, ähm ich meine Max, weshalb der Direktor des FESJ mich beinahe nicht hätte gehen lassen. Ich bin nur hier, weil Herr Bôss zufälligerweise Vorort war und ein Machtwort gesprochen hat.“ Anne grinste. „Das freut mich zwar für dich, da diese Schule echt scheiße zu sein scheint. Aber es interessiert mich auch, was du eigentlich so alles angestellt hast. Eine ‚Auseinandersetzung‘? Hieß das, du hattest dich mit ihm geprügelt?“ Nun musste sie loslachen. Carsten seufzte. „Er hat mich angegriffen. Ich habe mich nur verteidigt.“ „Na gut, aber wenn die Direktoren nicht die Spione von Mars sind, wer könnte es dann sein?“, fragte Ariane in die Runde. Eine Weile lang brach Schweigen aus, während jeder nach einer Antwort suchte. Aber niemand kam auf eine wirkliche Idee. Öznur seufzte. „Keine Chance. Es könnte jeder sein. Schüler oder Lehrer, die trotz der Ferien noch hier sind, andere Angestellte wie Hausmeister, …“ „Wir sollten uns ab sofort am besten einfach bewusst sein, dass hier irgendwo ein Spion rumlungert und die Augen offenhalten.“, meinte Eagle nachdenklich. Die Mädchen nickten und erneut brach Schweigen aus. Schließlich war es Janine, die zögernd fragte: „Und- Und was machen wir jetzt?“ „Na ja, Laura wird für einige Zeit sehr wahrscheinlich nicht mehr in der Lage sein, ihre Prüfung zu machen.“, sinnierte Carsten bedrückt und beobachtete Laura, wie sie in ihrem Bett schlief und leise wimmerte, als würde sie schlecht träumen. Verbissen nahm er ihre Hand und strich mit dem Daumen über ihren Handrücken. Ariane nickte betrübt. „Der Vorfall mit Benni wird sie ziemlich mitnehmen. Selbst wenn sich Laura bisher überraschend zusammengerissen hat, irgendwann ist es einfach zu viel.“ Carsten hörte ein Maunzen vor der Tür und als Janine zu dieser ging und sie öffnete, stand Raven vor ihr. Raven maunzte erneut und trottete an Janine vorbei zu Lauras Bett. Dort hüpfte sie hoch und kugelte sich neben Laura zu einem schwarzen Flauschball zusammen. Carsten musterte die schwarze Katze und obwohl ihm gerade eigentlich zum Heulen zumute war musste er lächeln. Was für eine tröstende Wirkung Tiere doch haben konnten. Plötzlich schlug Öznur mit der Hand auf die Matratze von Arianes Bett. „Wir müssen einen Weg finden, Mars aufzuhalten!“ Anne schnaubte. „Dann such mal schön, Hohlbirne. Vielleicht findest du in deiner Matheprüfung morgen einen Weg.“ „Was hat das denn jetzt damit zu tun?!“, rief Öznur aufgebracht. „Fängst du ausgerechnet jetzt ernsthaft schon wieder-“ „Hey, Özi.“ Eagles tiefe ruhige Stimme brachte Öznur tatsächlich zum Schweigen. „Ignorier sie, sie ist es nicht wert.“ „Wie bitte?!“, donnerte Anne los. Carsten seufzte. „Anne, du auch. Wir hatten das doch schon mal durchgekaut.“ Janine wandte sich an Öznur. „Aber ich würde auch gerne wissen, wie wir das anstellen sollen. Mars ist ein göttlicher Dämon, der den magischen Krieg angezettelt hat, ohne dass es irgendjemand auch nur richtig mitbekommen hat.“ Carsten überlegte. „Bennis Vater müsste als Dämonenforscher noch am ehesten wissen, wie wir gegen ihn vorgehen könnten.“ Da schnippte Ariane mit den Fingern. „Das ist es! Erinnert ihr euch noch an Coeurs Tagebücher? In denen wir nach einer Möglichkeit gesucht haben Carsten nach Jacks Angriff zu heilen?“ „Ja, was ist damit?“ Kritisch musterte Eagle sie. „Der magische Krieg wurde darin auch beschrieben. Vielleicht hat sie ja aufgeschrieben, wie sie, Leonhard und Eufelia damals Mars hatten bannen können?“ „Das ist gut möglich. Wir sollten uns wirklich sobald es geht an Herrn Yoru wenden.“, stimmte Susanne ihr zu. Nervös zwirbelte Janine eine ihrer blonden Strähnen „Wissen Bennis Eltern eigentlich was passiert ist?“ „Ich glaube nicht…“ Carsten seufzte. Er wandte sich Raven zu und strich ihr über das schwarze weiche Fell, woraufhin die Katze zu schnurren anfing. Tatsächlich half es etwas gegen seine tristen Gedanken. Nun musste er lächeln. „Warum hat Benni dich eigentlich ‚Rabe‘ getauft? Nur, weil du so rabenschwarz bist?“ Natürlich antwortete Raven nicht darauf, sie schnurrte lediglich weiter und ließ sich von Carsten den kleinen Kopf kraulen. Derweil fragte er sich, ob Chip und Wolf bei Benni waren, da er sie seit jenem Tag auch nicht mehr gesehen hatte. Kapitel 57: Der Wert von Freundschaft ------------------------------------- Der Wert von Freundschaft Seufzend verließ Jack die Dusche und betrachtete den Schnitt über seiner Brust im Badspiegel, während er sich mit einem Handtuch die Haare abtrocknete. Er hatte richtig Schwein gehabt, dass Eagle und Carsten durch den Kampf von Benedict und Laura zu abgelenkt waren, um weiterhin gegen ihn kämpfen zu wollen. Ansonsten hätte er sehr schnell Schwarz gesehen, selbst wenn er ernsthaft gegen sie gekämpft hätte. Doch so war dieser Schnitt die einzige Verletzung, die er aus dem Kampf davongetragen hatte und er sah inzwischen auch nur noch wie ein leichter Kratzer aus. Seinen Regenerationsfähigkeiten als Dämonenbesitzer sei Dank fiel er unter den ganzen Narben auf seinem Oberkörper kaum mehr auf. Noch bevor sich Jack gänzlich hatte abtrocknen können klopfte es gegen seine Zimmertür. „Wo bleibst du? Mars möchte dich sehen.“, tönte von außen Max‘ Stimme. Jack verdrehte die Augen. „Ich komm gleich, muss mir nur noch was anziehen.“ „Du weißt, er wartet nicht gerne.“ „Wenn er mich nackt empfangen will, bitte.“, erwiderte Jack. Er hörte, wie Max daraufhin wieder verschwand. Seufzend kramte Jack Kleidung aus seinem Schrank, schlüpfte in diese hinein und verließ sein Zimmer. Sie befanden sich in der Unterwelt in einer Art unterirdischen Schlosses. Die steinernen Wände wurden lediglich von an der Wand befestigten Kerzen erhellt und Jack wollte nicht wissen, welches arme Schwein dafür verantwortlich war sich um diese Kerzen zu kümmern. Immerhin die Zimmer wirkten normal und es gab sogar Strom. Was zwar erstaunlich war, aber auch bitter nötig. Jack hatte eine große Vorliebe fürs Zocken und das wäre in einem Reich ohne Strom leider nicht wirklich möglich. Jack ging die langen schmalen Gänge entlang, bog an mehreren Ecken ab und stand schließlich vor einer Tür, welche opulent mit einem purpurnen Phönix verziert war. Wahrscheinlich, damit auch der letzte Volldepp kapierte, dass sich dahinter die Räumlichkeiten des Purpurnen Phönix befanden, welche man ohne Erlaubnis besser nicht betreten sollte. Doch Jack konnte kommen und gehen wie es ihm beliebte. Dennoch klopfte er gegen die Tür bevor er sie öffnete. Der Zwischenraum den er danach betrat war mit seinen Säulen, dem Stuck an der Decke und den Gemälden an den Wänden viel herrschaftlicher, als der Rest dieses Untergrundschlosses. Er wirkte viel schlossiger. Die nächste Tür durch die Jack trat war ebenso nobler und die nächste und die nächste… Jack fühlte sich wie in Chihiros Reise ins Zauberland, wo Chihiro auf dem Weg zu Yubabas Arbeitszimmer war. Ob der Purpurne Phönix sich davon hatte inspirieren lassen, als er dieses Schloss errichten ließ? Immerhin zog ihn keine unsichtbare Macht durch diese Türen. Das wäre dann doch zu viel des Guten. Endlich war er bei der letzten Tür angelangt und kam in einen herrschaftlichen Salon, welcher mit Gold und anderem Herrschaftsgedöns möbliert und verziert war. Mars thronte in seiner Menschengestalt auf einem Kanapee als sei er ein römischer Kaiser. Zum Glück trug er keine Toga, sondern lediglich ein edles weißes Hemd und schwarze Hosen. Über der teils sichtbaren Brust hing der Anhänger einer Kette, welche Mars um den Hals trug. Der Anhänger symbolisierte Mars‘ Zeichen. Es war ein Schwert, dessen Griff eine Art Dreizack darstellte. „Da bist du ja endlich.“, kommentierte Mars Jacks Verspätung mit seiner tiefen von Macht durchtränkten Stimme. Wahrscheinlich würde jeder nun das große Zittern bekommen, vor ihm in die Knie gehen und demütigst um Verzeihung bitten. Doch Jack war das schon gewöhnt. Ungerührt schaute er in Mars‘ dämonische Augen, die rot zu leuchten schienen. Der Augapfel war ein düsteres Purpur, was seinen Blick, seine gesamte Ausstrahlung umso gefahrvoller wirken ließ. Mars fuhr sich durch die langen purpurnen Haare, welche ihm bis zu den Schulterblättern reichten. „Du weißt doch, ich brenne vor Neugier. Und? Wie ist die Mission verlaufen?“ Monoton lieferte Jack einen detaillierten Bericht der Mission ab. Als er geendet hatte, grinste Mars lediglich. „Hauptsache er hat die Prinzessin davon abgehalten die Dämonenform zu erlangen.“ „Du tadelst ihm nicht, dass er davor nur gespielt hat? Oder dass er sie vor dem Indigoner beschützt hat?“ Natürlich hatte Jack bemerkt, dass Benedicts letzter ‚Angriff‘ auf Laura nur zu deren Schutz diente. „Weshalb sollte ich?“ Mars zuckte mit den Schultern. „Er hat niemandem etwas über uns erzählt und seine Mission erfolgreich abgeschlossen. Mehr habe ich nicht verlangt.“ Jacks Lippen verzogen sich zu einem sarkastischen Lächeln. „Dass dir so viel daran liegt, dass die Kleine bloß nicht ihre Dämonenform bekommt. Du scheinst ja ganz schön Angst vor ihr zu haben. Ist sie denn so gefährlich? Bisher hat sie auf mich immer erbärmlich schwach gewirkt.“ Mahnend hob Mars einen Zeigefinger. „Unterschätz sie lieber nicht. Leo ist ein sehr anspruchsvoller Typ. Die Kleine muss irgendwelche verborgenen Talente haben, ansonsten hätte er sie niemals als seine Dämonenbesitzerin auserkoren. Und dem zufolge was du berichtet hast, hat sie innerhalb der letzten Monate eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht.“ „Und?“ „Wir müssen vorsichtig sein, was sie betrifft. Ich bin mir sicher, hätte sie ihre Dämonenform würdest selbst du dir mit ihr schwertun.“ Kritisch runzelte Jack die Stirn. Die Kleine? Wirklich? Nach einigem Nachdenken erwiderte er schließlich: „Stimmt schon, sie hat sich gar nicht mal so schlecht geschlagen. Obwohl Benedict ganz offensichtlich nicht alles gegeben hat. Aber wenn wir schon dabei sind: Die Besitzerin des Weißen Hais scheint auch nicht ohne.“ Mars nickte. „Bei ihr können wir von Glück reden, dass sie niemanden hat der ihr die Nutzung ihrer Licht-Energie beibringen kann. So wie Finsternis die Angriffe absorbieren kann ist Licht in der Lage diese zu reflektieren. Würdest du die Besitzerin des Weißen Hais mit einem gewöhnlichen Schlag angreifen und sie wehrt diesen mit der Licht- Energie ab, würde dein Arm den ganzen Impuls abbekommen.“ Jack verzog das Gesicht. Das klang ja sehr berauschend. „Also müssen wir darauf achten, dass Laura und Ariane in Schach gehalten werden und nicht ihr volles Potenzial ausleben dürfen.“ Wieder nickte Mars. „Wie kommst du ansonsten mit Benedict klar?“, erkundigte er sich schließlich. „Immerhin ist er grob in deinem Alter und nicht so neben der Spur wie Max.“ Jack schüttelte den Kopf. „Max ist nur wegen dir so neben der Spur.“ Schulterzuckend fügte er hinzu: „Keinen Plan, was mit Benedict ist. Er hat in diesen zwei Wochen kein Wort zu mir gesagt. Ich bin es leid der Dumme zu sein, der ignoriert wird. Wenn Benedict keinen Bock auf mich hat ist mir das Recht so. Hauptsache ich hab meine Ruhe.“ Tatsächlich hatte Jack zu Beginn hin und wieder noch versucht gehabt ein Gespräch zu starten. Immerhin schien Benedict so mit der einzige hier zu sein, mit dem man sich endlich mal halbwegs gescheit unterhalten konnte. Dachte Jack zumindest. Jedoch hatte er ständig das Gefühl gehabt bei Benedict gegen eine Wand zu reden. Jack war nie der gesprächigste gewesen, aber das hieß nicht, dass er Kommunikation gegenüber gänzlich abgeneigt wäre. Jedoch wirkte Benedicts Wortkargheit schon nahezu krank. Mars kicherte auf Jacks Kommentar hin lediglich. „Vielleicht werdet ihr ja noch warm miteinander. Ich dachte, du hättest dir schon so lange Freunde gewünscht.“ Jack schnaubte. „Weshalb sollte ich das? Ich brauche keine Freunde, sie behindern mich nur unnötig. Hat man doch heute wieder gesehen, wo sich Benedict für das kleine Prinzesschen hat aufspießen lassen. Er ist ja auch an sich nur unfreiwillig zu uns gekommen, weil er seine ach so tollen ‚Freunde‘ beschützen möchte. Freundschaft ist nichts als eine Schwäche.“ Mars schien zufrieden mit seiner Reaktion, denn er reagierte daraufhin mit einem wohlwollenden Nicken. „Recht hast du. Nun denn, ich möchte dich nicht weiter von deinen Freizeitaktivitäten abhalten. Wenn der nächste Auftrag ansteht werde ich dich rufen lassen.“ Jack deutete eine kleine Verbeugung an und verließ Mars‘ Gemächer wieder. Mars war ein komischer Vogel. Auch wenn die Angst vor ihm mit der Zeit abgestumpft war, wollte sich Jack den Dämon lieber nicht zum Feind machen. Da war er eigentlich ganz froh, auf der Seite der ‚Bösen‘ zu sein. Aus irgendeinem Grund bog Jack beim Entlanggehen der mit Kerzen bestückten Gänge nicht in Richtung seines Zimmers ab, sondern folgte dem Gang einige Abzweigungen weiter zu Benedicts Zimmer. Er wusste nicht, wieso. Eigentlich hatte er keinen Bock auf ihn. Er hatte keinen Nerv dazu wieder einfach nur wie Luft behandelt zu werden. Und dennoch… Irgendwie machte dieser Junge ihn neugierig. Jack hatte für gewöhnlich eine recht gute Menschenkenntnis, doch was in Benedicts Kopf vorging konnte er nicht entschlüsseln. Er war für ihn wie ein Rätsel. Noch während er sich dem Zimmer näherte vernahm er eine Melodie, welche von einem Piano gespielt wurde. Etwas irritiert stellte Jack fest, dass diese Melodie aus Benedicts Zimmer kam. Über gewisse Quellen wusste er zwar über dessen Musiktalent Bescheid, dennoch war es etwas anderes, das auch wirklich erleben zu dürfen. Benedict spielte wirklich sehr gut Klavier. Irgendwie lag in der Musik ziemlich viel Gefühl, obwohl er niemals einen so emotionalen Eindruck auf Jack gemacht hatte. Die Melodie war wunderschön und auch ein bisschen traurig, aber zugleich auch sehr kraftvoll. Und… Jack kannte sie. Nachdem sie geendet hatte klopfte Jack zögernd an und trat ein. Tatsächlich saß Benedict an einem Piano, welches er wahrscheinlich irgendwie von Mars bekommen hatte. Er warf Jack wie immer seinen gänzlich ausdruckslosen Blick zu. Jack wies auf das Piano. „War das aus Prinzessin Mononoke?“ Tatsächlich konnte er eine Reaktion von Benedict hervorbringen. Ein Nicken! Wow. Es gab doch noch Zeichen und Wunder. Ohne überhaupt um Erlaubnis zu bitten setzte sich Jack auf Benedicts Schreibtischstuhl. „Könntest du das Lied nochmal spielen? Ich mag’s und du spielst richtig gut.“ „Was willst du?“ Ach, so klingt seine Stimme also., bemerkte Jack. Wobei er noch nie so etwas Gefühl- und Tonloses gehört hatte. Aber hey, er hatte was gesagt. Er hatte Jack endlich mal nicht wie Luft behandelt. Das war doch schon mal ein Anfang. Vielleicht würde er ihn nach diesen zwei Wochen absoluten Schweigens endlich mal so langsam aus der Reserve locken können. „Ich will nur das Lied nochmal hören.“ Benedict gab sich wirklich geschlagen und spielte das Lied erneut. Jack nutzte die Gelegenheit, um ihn derweil zu beobachten. So viel Gefühl in dem Lied lag, so wenig konnte man seiner Mimik oder Gestik ansehen. Es wirkte beinahe so, als lägen alle von Benedicts Gefühlen in dieser Musik und nicht in ihm selbst. Als das Lied fertig war, musste Jack lächeln. Ob er darüber seine Gefühle zum Ausdruck brachte? Er wollte es herausfinden. Verdammt, warum war Jack nur so neugierig? Das war für gewöhnlich überhaupt nicht seine Art. „Du spielst echt richtig gut. Ich wette, wir würden mit dir mehr Kohle verdienen, wenn wir dich als Pianisten in einen Konzertsaal stecken.“ Darauf erwiderte Benedict nun wieder nichts. Jack versuchte es über einen anderen Weg. „Magst du die Filme von Hayao Miyazaki?“ Ein Nicken. Wow, das wirkte ja schon beinahe wie ein normales Gespräch im Vergleich zu sonst! „Und sonstige Animes?“, hakte Jack nach. Nach einer Weile überwand sich Benedict tatsächlich zu einer Antwort. „Ich bevorzuge Manga.“ Jack lachte auf. „Wirklich? Cool! Welche zum Beispiel?“ Benedict schien zu überlegen. „Meitantei Konan. Oder auch Death Note.“ Jack konnte seinen Ohren kaum trauen. Er brachte Benedict tatsächlich über das Thema Mangas und Animes zum Reden? Irgendwie war das doch gerade ein schlechter Witz, oder? „Die sind wirklich gut, auch wenn mir Detektiv Conan viel zu lang geht. Der Mangaka soll endlich mal zum Schluss kommen. Aber Death Note ist der Hammer, das kann nur schwer übertroffen werden. Wobei ich lieber die Animes sehe. Natürlich auf Japanisch mit Untertitel. Die anderen Synchros sind schrecklich. Was hältst du von Naruto?“ „Der Protagonist ist mir etwas zu sorglos. Aber ansonsten auch sehr gut.“ Grinsend stellte Jack fest, dass er es endlich gepackt hatte. Er hatte endlich ein Gespräch mit Benedict anfangen können. Wer in aller Welt hätte gedacht, dass das über Animes und Mangas funktioniert? „Den Charakter selbst find ich auch schrecklich, wobei mich sein Starrsinn irgendwie auch beeindruckt. Ich glaube, Kakashi ist so der beste von allen.“ Wieder nickte Benedict. Jack überlegte einen Moment. „One Piece?“ „Nicht schlecht, jedoch stören die unrealistischen Proportionen.“ Jack konnte nicht anders, als loslachen zu müssen. „Genau meine Meinung.“ Er seufzte. „Du sprichst Japanisch, oder? Das heißt du kannst alles in Originalsprache schauen ohne Untertitel benutzen zu müssen. Das ist echt beneidenswert.“ „Warum lernst du es nicht?“ Jack hielt einen Moment lang inne. „Eigentlich keine so blöde Idee. Aber ich bin nicht gerade ein Autodidakt und wer soll mir das bitteschön beibringen? Lukas? Brr, Gnade.“ Benedict seufzte und schaute ihn wieder mit diesem ausdruckslosen Blick an. „Wirklich: Was willst du?“ Auch Jack musste seufzen. So ganz hatte er ihn also doch nicht aus der Reserve locken können. Aber immerhin reagiert er inzwischen schon auf ihn. „Um ehrlich zu sein bin ich einfach neugierig.“, antwortete Jack wahrheitsgetreu. „Warum bist du hier, obwohl du dich hier offensichtlich nicht wohl fühlst? Warum nimmst du das für die zwei auf dich? Ich verstehe es nicht.“ „Weil die Alternative schlimmer wäre.“ „Du meinst, wenn die beiden getötet würden?“ Benedict nickte. „Aber warum würde man soweit für ein oder zwei Menschenleben gehen?“ „Hattest du je Freunde?“, stellte Benedict eine Gegenfrage. „Autsch.“ Jack verzog spöttisch das Gesicht. „Nicht wirklich, nein. Im Kindergarten gab’s ein zwei bis drei Jahre jüngeres Mädchen, mit dem ich mich ziemlich gut verstanden habe, falls das zählt. Aber sehr lange hielt diese ‚Freundschaft‘ nicht an, denn kurz darauf wurde ich von dem was sich mein Vater schimpfte auf die Höllenanstalt geschickt.“ „Das FESJ?“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Und Jacks Gedanken setzten aus. Im Bruchteil einer Sekunde stieg blinder Hass in ihm hoch und ohne zu realisieren was er tat fuhr er die Klauen aus seiner Armschiene aus und griff Benedict an. Kurz bevor er ihn treffen konnte wich dieser seinem Angriff jedoch aus, packte Jacks Arm und hielt ihn in einem schmerzhaften Polizeigriff fest. Dieser Schmerz brachte Jack schließlich zur Besinnung. „Du wirst wirklich zum Berserker, wenn man lediglich dieses Wort erwähnt.“, stellte Benedict nüchtern fest. Er befreite Jack aus diesem Griff, der ihm beinahe den Arm gebrochen hatte. Schwer atmend ging Jack einige Schritte rückwärts und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken, während er seinen pochenden Arm hielt. „Das war mies.“ Benedict nahm ebenfalls wieder auf seinem Klavierhocker platz und beobachtete ihn mit seiner typischen Mimik. Jack atmete tief durch. „Um zum ursprünglichen Thema zurückzukommen: Nein, ich hatte noch nie Freunde. Ich brauche auch gar keine.“ Er widerholte die Worte, die er zuvor schon zu Mars gesagt hatte. „Freundschaft ist nichts als eine Schwäche. Eigentlich sind Gefühle im Allgemeinen eine Schwäche. Ich wünschte, ich könnte sie einfach abschalten.“ Benedict schien ihn nun etwas genauer zu betrachten. Irgendwie fühlte sich Jack unwohl unter diesem ruhigen und doch kritischen Blick. Viel unwohler, als wenn Mars ihn mit seinen dämonischen Augen musterte. Mars wollte damit nur einschüchtern. Doch bei Benedict hatte Jack das Gefühl, er könne ihm direkt ins Herz schauen. Könne direkt seine Gedanken lesen. „Was?“ Benedict zuckte mit den Schultern. „Herr Bôss hat recht. So unähnlich sind wir uns tatsächlich nicht.“ Nun war Jack verwirrt. „Wie meinst du das?“ „Ich habe den Großteil meines Lebens meine Gefühle unterdrückt, da ich sie ebenfalls für eine Schwäche hielt. Doch das ist nicht immer der Fall.“ Jack lachte auf. „Jetzt brauch ich einen Beweis.“ „Laura.“ Nun musste Jack umso mehr lachen. „Was?!? Laura?!? Sorry, aber das ist jetzt doch zu weit hergeholt! Als du vorhin auf sie zu bist konnte sie sich vor Angst gar nicht mehr bewegen! Wäre die Kleine mit den Sommersprossen nicht gewesen, hättest du sie ohne Probleme angreifen können. Das Mädchen ist der lebende Beweis dafür, wie sehr Gefühle einen schwächen können.“ Benedict nickte. „Es stimmt, das ist eine gravierende Schwäche die Laura hat. Doch wann hatte sie wieder klar denken und kämpfen können? Als ich dabei war Ariane anzugreifen.“ „Na und?“ Jack tat diese Begründung mit einem Schulterzucken ab. „Laura ist definitiv ein Gefühlsmensch. Das ist häufig ihre Schwäche, doch gleichzeitig auch ihre größte Stärke.“ „Worauf willst du hinaus?“ „Wenn Laura für sich selbst kämpft bekommt sie nichts auf die Reihe. Aufgrund ihres furchtbaren Selbstbildes ist ihr eigenes Leben ihr nicht wertvoll genug, um es unbedingt beschützen zu wollen. Doch gerät ein Freund in Gefahr kann sie ungeheure Fähigkeiten entwickeln. Wegen ihrer so starken Gefühle für ihre Freunde hat sie einen fast schon unnatürlichen Beschützerinstinkt.“ Jack war zwar echt froh, endlich mal ein richtiges Gespräch mit Benedict zu führen, aber diese Aussagen verwirrten ihn nur noch mehr. „Aber bis auf heute hat sie doch noch nicht einmal etwas zustande bringen können, als einer ihrer ach so wichtigen Freunde in Gefahr geraten ist.“ Tatsächlich lieferte Benedict ihm daraufhin eine noch ausführlichere Erklärung: „Lauras fehlendes Kampftalent und ihr schreckliches Selbstbewusstsein hat sie immer daran gehindert einzugreifen. Eufelia-Sensei hat sich häufig darüber aufgeregt, da Laura eigentlich so ein ungeheures Potenzial hat. Doch seit einigen Monaten kann Laura endlich anfangen diese Fähigkeiten in sich zu entdecken und ihr fehlendes Kampftalent wird von ihrer Begabung im Kontrollieren ihrer Energie wieder ausgeglichen.“ Nachdenklich nickte Jack. „Ich glaube ich verstehe was du meinst.“ Er lachte auf. „Also im Prinzip ist sie dieses typische Bild einer Löwin, die ungeheuer gefährlich werden kann, wenn jemand ihren Kindern schaden möchte.“ Benedict zuckte daraufhin nur mit den Schultern, doch Jack musste grinsen. „Jetzt weiß ich endlich, was du an ihr so toll findest. Außer, dass sie eine ganz Süße ist, versteht sich.“ Er hielt einen Moment inne. „Aber warum erzählst du mir das überhaupt? Gestern noch hast du mich noch nicht mal mit dem Arsch angesehen und jetzt vertraust du mir so wichtige Informationen über deine Liebste an, die ich eventuell gegen sie verwenden könnte?“ „Würdest du nicht.“, erwiderte Benedict, als sei er sich einhundert prozentig sicher. „Und woher willst du das so genau wissen?“ „Da wir uns ähnlich sind.“ Irgendwie musste Jack auf Benedicts Kommentar hin grinsen. „Was den Anime- /Manga- Geschmack betrifft vielleicht.“ Doch Benedict revidierte seine Aussage mit einem Kopfschütteln. „Du wirst Gefühle auch noch zu schätzen wissen.“ „Haaaai, Sensei. Wakarimashita.“, erwiderte er spöttisch und richtete sich auf. „Ich hab dich immer für einen komischen Typen gehalten, da du nie was gesagt hast, aber eigentlich bist du ziemlich cool drauf.“ Er ging zur Zimmertür und musterte Benedict noch einmal. „Irgendwie mag ich dich. Machen wir einen Deal: Ich nutze die Informationen die ich über Laura erhalten habe nicht gegen sie und behalte sie für mich und dafür bringst du mir Japanisch bei.“ Benedict verdrehte die Augen, ging aber immerhin mit einem Nicken auf den Deal ein. Grinsend verließ Jack das Zimmer. Tatsächlich hätte er nie vorgehabt, diese Informationen irgendwie gegen Laura zu verwenden. Er wollte einfach nur beobachten. Schauen, wie sich die Sache entwickelte. Ob das Mädchen wirklich ein so ungeheures Potenzial hatte, wie Benedict behauptete. Aber noch dazu Japanisch zu lernen gefiel ihm noch besser. Die Tage vergingen und so langsam schien Benedict tatsächlich mit Jack warm zu werden. Er war zwar insgesamt immer noch sehr schweigsam, aber immerhin konnten sie schon halbwegs normale Gespräche führen. Und er fing wirklich an Jack etwas Japanisch beizubringen. Jack versuchte Benedict derweil in die Welt der Computer- und Konsolenspiele einzuführen, aber irgendwie lag ihm das Zocken nicht so. Er stellte sich mit technischen Geräten einfach viel zu ungeschickt an. Jack war am Ende schon beeindruckt, dass Benedict immerhin ein Telefon bedienen konnte. Aber keine Smartphones, nur herkömmliche Handys. Etwa eine Woche später bekamen sie eine ziemlich nervige Mission. Mars ließ Benedict immer noch nicht alleine Aufträge erledigen, sondern schickte immer Jack als eine Art Aufpasser mit. Aber ihm war das recht. Es war zwar irgendwie seltsam, dass Benedict ihn Japanisch-Vokabeln abfragte, während sie ein Attentat auf irgendeine Person verüben sollten die Mars im Weg stand, aber in einem Anime würde das genau Jacks Humor treffen. Also… Ja, er fand es lustig Vokabeln zu lernen, während er Leute tötete. Man konnte ihn getrost für verrückt halten. Aber ehrlich, wer wäre nach acht Jahren Höllenanstalt nicht verrückt? Jack seufzte, während er sein Auto durch die Hauptstadt Lumiéres steuerte. „Wie lästig. Warum müssen gerade wir die Detektivarbeit übernehmen? Ich hab schon öfter nach Hinweisen gesucht und nichts gefunden. Mars soll sich abschminken noch irgendetwas über den herauszufinden. Er ist weg und da wird dieser eine Kontaktmann hier in Light auch nichts bringen.“ „Wer?“, fragte Benedict, der bisher schweigsam aus dem Fenster geschaut hatte. „Ein gewisser ‚Herr Zote‘. Er hat im Rathaus von Terrarium gearbeitet und ist am 21. Februar plötzlich spurlos verschwunden. Ironischer Weise direkt nachdem er mich angerufen hat und behauptete er habe wichtige Informationen.“ Jack zuckte mit den Schultern. „War wahrscheinlich ein blöder Klingelstreich. Der Typ war nie sehr vertrauenserweckend.“ Doch Benedict schüttelte den Kopf. „Er ist tot.“ Kritisch runzelte Jack die Stirn. „Woher willst du das wissen?“ Er hatte schon eine Ahnung. „Ich habe ihn umgebracht.“, war tatsächlich Benedicts Antwort. Jack lachte auf. „Das erklärt so einiges. Ich wusste nur von der Angestellten, dass er an diesem Tag mehrere Besucher hatte. Darunter ziemlich adlige, aber wirklich mehr konnte sie auch nicht sagen. Die war die Inkompetenz in Person. Wusste weder aus welcher Region diese Adligen kamen, noch wusste sie wie viele Besucher es insgesamt waren. Nur, dass alle ziemlich jung waren. Ich hab mir im Nachhinein zwar gedacht, dass ihr das gewesen sein könntet, hätte aber nicht erwartet, dass jemand von euch ihn ermordet hat.“ Jack warf Benedict einen amüsierten Seitenblick zu. „Aber so im Nachhinein ist es eigentlich offensichtlich. Wahrscheinlich wollte er mir verraten, wer alles ein Dämonenbesitzer ist.“ Benedict nickte. „Schon ironisch, dass ich das in dem Moment eigentlich schon wusste dank unserem Treffen in Spirit.“ „Er hätte die Informationen auch noch an andere weitergeben können.“, erwiderte Benedict. Jack seufzte. „Stimmt. Gerade für das Mädchen aus Mur hätte es gefährlich enden können. Janine, oder?“ Wieder nickte Benedict. Bei dem Gedanken an Janine musste Jack lächeln. „Ich hab ihre Handynummer immer noch.“ „Was du getan hast war ziemlich ehrlos.“, kommentierte Benedict den Vorfall vor etwa zwei Monaten. Jack wurde sofort unwohl in seiner Haut. „Das brauchst du mir nicht auch noch zu sagen, ich mach mir selbst schon genug Vorwürfe.“, meinte er nur zerknirscht. Jack wusste immer noch nicht warum er das damals getan hatte. Ob etwas in dem Punsch gewesen war? Oder hatte der Kampf gegen Eagle irgendeinen momentanen Schaden in seinem Gehirn verursacht gehabt? Er wusste es wirklich nicht. Warum hatte er der Kleinen auch ausgerechnet mit einer Vergewaltigung gedroht?!? Jack verstärkte seinen Griff um das Lenkrad, bis die Knöchel weiß hervorstachen. Er war das Letzte. Er war genauso schlimm wie die Leute im FESJ. Ein ehrloses Stück Scheiße. Jack atmete tief durch und versuchte sich wieder auf die Straße zu konzentrieren. „Ich frag mich schon die ganze Zeit, ob ich das wiedergutmachen kann…“ Doch Benedict schwieg. Wahrscheinlich wusste auch er keine Antwort darauf. „Na ja… So und was machen wir jetzt mit unserer Freizeit? Wie wär’s mit etwas Shopping!“ Herausfordernd grinste Jack ihn an. „Jeden Tag schwarzes T-Shirt und schwarze Hose muss doch mit der Zeit langweilig werden.“ „Du trägst doch auch nichts anderes.“ „So ganz stimmt das nicht! Ich trage immerhin schwarze T-Shirts die einen Aufdruck haben.“ Benedict verdrehte auf Jacks Kommentar hin die Augen, während Jack lachend das Auto wendete um sie zurück zu dem geheimen Unterschlupf zu fahren, von wo aus sie wieder in die Unterwelt kamen. Jedoch lag dieser weiter entfernt von Light auf dem Land und eine längere Autobahnfahrt stand noch bevor. Warum hatte Benedict ihm nicht früher gesagt, was mit diesem Alten passiert war?!? So durften sie den ganzen Weg wieder zurückfahren. Er konnte nur an speziellen Stellen aus der Unterwelt nach Damon und ihr Unterschlupf hier in Lumiére war eine davon. Ein Portal zurück konnte er zwar an jedem Ort erschaffen, aber das Auto wollte wieder in die Garage und ein ganzes Auto zu teleportieren war zu viel des Guten. Jack drehte die Musik wieder etwas lauter, die er während der Fahrt durch Light auf leise gestellt hatte. Er war ein großer Fan von Disturbed und ihr neues Album war der Hammer. „Bitte nicht wieder singen.“, kommentierte Benedict Jacks Vorhaben. Dieser lachte auf. „Wieso? Sing ich so schlecht?“ „Du triffst keinen einzigen Ton.“ „Du bist schmerzhaft direkt.“, erwiderte Jack sarkastisch. „Wenn ich die Klappe halten soll, dann sing du. Ein Cover von Sound of Silence gibt’s hier übrigens auch.“ „Und?“ „Du hast die Melodie davon doch letztens auf dem Klavier gespielt, oder?“ „Das bedeutet aber nicht, dass ich den Text beherrsche.“ „Irgendwie glaube ich aber du tust das.“ Herausfordernd schaute Jack Benedict an. „Also?“ Er antwortete nicht darauf. Daraufhin fragte Jack: „Magst du Musik eigentlich? Immerhin spielst du jeden Abend Klavier und das auch noch richtig gut.“ „Eigentlich kann ich mit Musik nichts anfangen.“, antwortete er. „Doch irgendwie…“ „Irgendwie hast du sie seit neustem zu schätzen gelernt?“ Benedict nickte. Jack wies auf das Autoradio. „Dann sing. Ich hab mal von Max gehört, dass du angeblich verdammt gut singen kannst. Wenn du mir schon vorwirfst ich treffe keinen einzigen Ton will ich jedenfalls wissen, ob du es tatsächlich besser hinbekommst. Oder bist du einfach nur zu schüchtern?“ Benedict schaute lediglich aus dem Fenster. Jack grinste belustigt und grölte kurz darauf bei The Vengeful One mit. Es störte ihn nicht, dass er nicht singen konnte. Er mochte Musik einfach, insbesondere Metal und Alternative. Und Disturbed war so ziemlich seine Lieblingsband. Nach etwa einer halben Stunde Fahrt fing es plötzlich an zu regnen und je weiter sie fuhren, desto stärker wurde es. Missbilligend schaltete Jack die Scheibenwischer auf volle Geschwindigkeit und drehte die Lautstärke etwas runter um sich besser auf die Straße konzentrieren zu können. „Was für ein Wetterumschwung. Wir haben August und nicht April.“ Als sie auf eine Brücke zufuhren sahen sie schemenhaft eine kleine Gestalt oben stehen. Und sie sprang. „Fuck!“, rief Jack erschrocken auf und trat reflexartig auf die Bremse. Doch es half nichts. Wer auch immer da gesprungen war er würde mit dem Auto zusammenstoßen. Kurz vor dem Aufprall breitete sich schlagartig eine schwarze Atmosphäre aus und sowohl das Auto als auch die Person hielten an. Jack atmete auf. „Danke. Das hätte böse enden können.“ Benedict verließ allerdings bereits den Wagen und hob die kleine Gestalt von der Motorhaube, auf welcher sie gelandet war. Jack nutzte die Gelegenheit und fuhr das Auto auf den Standstreifen. Was sie jetzt erst recht nicht vertragen konnten war auf der Autobahn zu Brei gefahren zu werden. Wobei bei einem antiken Begabten der auch noch ein Dämonenverbundener war schon mehr dazugehörte als ein mit 120km/h fahrendes Auto. Dafür waren ihre Reflexe zu gut. Zum Glück war auf der Autobahn aus irgendeinem sonderbaren Grund gar nichts los. Na ja, soweit auf dem Land wie sie waren wollte vermutlich kaum jemand hin. Nachdem er das Auto abgestellt und den Warnblinker angemacht hatte verließ Jack es ebenfalls um in dem strömenden Regen zu Benedict zu gehen, der diese selbstmordgefährdete Person inzwischen gegen die Leitplanke gelehnt hatte. Sie schien bewusstlos zu sein. „Ein Kind?“ Kritisch musterte Jack die Person. Es handelte sich um ein Mädchen, vielleicht so um die zwölf Jahre alt mit blonden langen Haaren. Auf den ersten Blick hatte sie eine leichte Ähnlichkeit mit Janine. „Warum sollte ein Kind von der Brücke springen?“ „Was genau sind Mars‘ Pläne?“, fragte Benedict in einem unheimlich unterkühlten Ton. „Kennst du sie?“ „Das ist Arianes kleine Schwester.“ „Was?“ Jack seufzte. „Arianes Familie ist zurzeit nicht gerade sehr harmonisch dank ihrer Stiefmutter. Vielleicht war es zu viel für sie? Jetzt, da auch noch die große Schwester nicht mehr da ist.“ Benedict schüttelte den Kopf. „Wenn Johanna auch nur annährend Ariane ähnelt würde sie das nicht machen.“ Er warf Jack einen kritischen und ziemlich unheimlichen Blick zu. Er wirkte beinahe verärgert. „Sag. Was hat Mars vor?“ Jack zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nichts davon, dass irgendwie ein Plan besteht die Geschwister der anderen Dämonenbesitzer zu ermorden. Aber ich würde es Mars schon zutrauen. Er hat erst letztens angemerkt, dass Ariane und Laura für uns mit die größte Gefahr darstellen, da ihre Dämonen über die Ursprungskräfte herrschen. Vielleicht wollte er die Besitzerin des Weißen Hais einschüchtern, indem er ihre kleine Schwester sterben lässt? Angeblich hat ihr Vorgänger durch sowas seinen Willen zu Kämpfen verloren gehabt.“ „Aber sie ist von selbst gesprungen.“ „Das könnte an dem Fluchmal liegen.“ Benedict warf Jack einen fragenden Blick zu. Dieser deutete auf eine Stelle mittig über seiner Brust. „Das Fluchmal ist Mars‘ Zeichen. In ihm liegt eine gewisse Macht inne, mit der er seinen Opfern seinen Willen aufdrängen kann. Meistens handelt es sich um einen Befehl und wenn dieser erfolgreich ausgeführt wurde verschwindet das Mal auch wieder. Aber es gibt auch Befehle die für einen langen Zeitraum, wenn nicht gar für eine Ewigkeit aktiv sein können.“ Jack wies auf Benedict. „Zum Beispiel bei Max oder deinen anderen beiden Freunden.“ „Mars kontrolliert sie also.“ Jack nickte. „Bei so einem Befehl kann die Person auf einmal ganz anders sein als früher. Bei den zwei anderen bringt es zwar nichts mehr, da sie sich wegen dir immer noch im Koma befinden, aber bei Max… Na ja, du siehst ja was für ein Psycho er ist.“ „Und Johanna wird solange von ihm kontrolliert bis sie sich umgebracht hat.“ „Wahrscheinlich.“ „Wie kann man es aufheben?“ Jack lachte auf. „Willst du dich wirklich Mars‘ Willen widersetzen? Ich dachte du machst das alles hier nur für Laura und Carsten.“ „Es lässt sich doch sicher ein Kompromiss finden.“ Kritisch betrachtete er Benedict. „Warum willst du sie retten? Hätte sie direkt was mit Laura oder Carsten zu tun okay. Aber die kleine Schwester von jemandem, dem du nicht so nahe stehst…“ „Sie hat niemandem etwas getan und nichts mit alldem hier zu tun, außer dass ihre große Schwester eine Dämonenbesitzerin ist.“ „Na und?“ Gleichgültig zuckte Jack mit den Schultern. „Sie ist ein Opfer, das gebracht werden muss.“ „Hast du das bei meinem Großvater auch gedacht?“ Jack biss die Zähne zusammen. Irgendwie schaffte Benedict es damit ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Warum eigentlich? Na ja, er fand ihn inzwischen ja wirklich ganz okay. „Befehl ist Befehl. Ich habe nur das gemacht, was Mars mir aufgetragen hat.“, rechtfertigte Jack sich, fühlte sich aber dennoch unwohl. Das war wohl das erste Mal, dass er nach einem Mord Reue verspürte. Seufzend gab er sich geschlagen. „Das Fluchmal kann nur von Mars persönlich aufgehoben werden.“ Benedict stand auf und trug das Mädchen zum Auto, wo er sie auf der Rückbank absetzte und anschnallte. „Dann bitte ich ihn darum.“ „Denkst du wirklich, das würde was bringen?“ „Ich kann es versuchen.“ Seufzend stieg Jack auch wieder ins Auto und war immer noch froh, dass die Autobahn so spärlich befahren war. So kamen nur ganz vereinzelt Autos an ihnen vorbeigeschossen. Wer weiß? Vielleicht konnte Benedict ihn wirklich überzeugen? Irgendwie hatte Mars einen Narren an ihm gefressen. „Die Kleine hat echt Schwein gehabt, dass sie ausgerechnet mit uns fast zusammengestoßen wäre.“ Benedict schaute wieder nur schweigend aus dem Fenster, während der Regen immer noch auf die Scheiben prasselte. Um die bedrückende Atmosphäre zu perfektionieren musste natürlich auch noch ausgerechnet jetzt Sound of Silence starten. Jack parkte seinen Wagen im Unterschlupf und erschuf ein Portal um sich und Benedict, welcher das immer noch bewusstlose Mädchen trug, in die Unterwelt in Mars‘ Schloss zu bringen. „Ich verstehe dich trotzdem immer noch nicht.“, meinte Jack nur. „Hast du Geschwister?“ „Nein. Du auch nicht, oder? Immerhin darf man in deiner Familie angeblich nur ein Kind haben, Prinz Yoru.“ Spöttisch erwiderte Jack Benedicts ruhigen Blick. „Deswegen wundert es mich umso mehr, dass du dem Mädchen helfen möchtest.“ „Ich habe einmal mitangesehen wie es für jemanden war seine Geschwister zu verlieren. Irgendwie wünsche ich das keinem.“ „Du meinst Laura?“, fragte Jack nach und Benedict nickte. Seufzend gab Jack es auf das Gespräch fortzuführen. Er hatte inzwischen zwar nicht mehr das Gefühl gegen eine Wand zu reden, aber trotzdem wurde er aus Benedict nicht schlau. Er war ihm immer noch ein Rätsel. Natürlich verstand er, dass es wahrscheinlich sehr schrecklich war seine kleine Schwester zu verlieren. Immerhin ging es ihm nach der Ermordung seiner Mutter auch nicht sonderlich gut. Und mit seinen Großeltern hätte er auch gerne noch etwas mehr Zeit verbracht. Aber warum wollte ausgerechnet Benedict jemandem helfen mit dem er kaum was zu tun hatte? Vor Mars‘ Gemächern angelangt klopfte Jack gegen die übertrieben hergemachte Tür und ging gemeinsam mit Benedict durch die Räume die ihn immer noch an Chihiros Reise ins Zauberland erinnerten. „Na sieh einer an, ihr seid bereits zurück.“, kommentierte Mars das Eintreten der beiden und stellte sein halb geleertes Rotweinglas auf einen kleinen Goldtisch neben dem Kanapee, auf welchem er wie sonst auch thronte. „Was habt ihr herausgefunden?“ „Er hatte Herr Zote umgebracht.“ Jack deutete auf Benedict. Mars lachte auf. „Irgendwie hätte ich mir das denken können.“ Natürlich nahm der Dämon es Benedict nicht krumm. Warum stand er so in Mars‘ Gunst? Mars wies auf die immer noch bewusstlose kleine Schwester von Ariane. „Wie ich sehe habt ihr einen Gast mitgebracht.“ „Sie wäre beinahe auf unser Auto geflogen.“ Mars lächelte. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass ihr jetzt schon zurückkehren würdet. Lasst mich raten: Ich soll das Fluchmal entfernen.“ Benedict nickte. „Und was hätte ich davon?“ Obwohl Mars in seiner Menschengestalt war hatte er immer noch diese einschüchternde dämonische Ausstrahlung. Er wirkte so als würde er jedem seinen Willen brechen können und die ganze Welt wäre ihm hilflos ausgeliefert. War sie ja eigentlich auch, würde der Bann Mars nicht an diesem Ort festhalten. „Muss sie wirklich direkt getötet werden?“, erkundigte sich Benedict, nicht wirklich eingeschüchtert von Mars‘ Ausstrahlung. „Bei dir hat sich das als sehr wirkungsvoll gezeigt.“ Der Herrscher der Zerstörung warf Benedict ein wissendes und nicht zuletzt abgrundtief böses Lächeln zu. „Aber weißt du was? Wenn du mich ganz lieb darum bittest, würde ich vielleicht wirklich einen Kompromiss eingehen wollen.“ Jack verzog das Gesicht. Er hatte Mars‘ Andeutung verstanden. Irgendwie hatte der Dämon einen Minderwertigkeits-Komplex oder so. Er fühlte sich toll, wenn man ihn wie den allmächtigen Gott behandelte. Vielleicht war das ja auch einfach seine Version des ‚böse seins‘? Viele Bösewichte hatten seltsame Ticks. Und Mars mochte es nun mal wie ein Kaiser behandelt zu werden. Wie man an der übertriebenen Einrichtung auch schon deutlich sehen konnte. Benedict setzte Johanna auf dem Boden ab und lehnte sie gegen die Wand, bevor er einige Schritte auf Mars zuging. „Sag, was willst du?“ Mars Lächeln wurde breiter. Bösartiger. „Wie wäre es mit ein bisschen mehr Demut?“ Irgendwie gefiel Jack diese eiskalte geladene Atmosphäre zwischen den beiden nicht. Zum Glück hielt sie nicht allzu lange an. Jack konnte seinen Augen kaum trauen, als Benedict tatsächlich vor Mars auf die Knie ging. „Ich bitte dich, lass sie am Leben.“ Jack hielt den Atem an. Er wusste nicht, wieso. Doch ihm gefiel dieses Bild kein bisschen. Es passte nicht, dass Benedict vor irgendjemandem niederkniete. Das passte nicht im Entferntesten zu ihm. Mars lachte auf und die boshafte Atmosphäre wurde immer gewaltiger. Immer erdrückender. „Ein Yoru geht vor mir auf die Knie! Dass ich das noch erleben darf.“ Der Herrscher der Zerstörung stand von seinem Kanapee auf, ging zu Benedict, legte den Zeigefinger an sein Kinn und hob sein Gesicht. „Deine Familie scheint jeglichen Stolz verloren zu haben, den sie einst hatte.“ Er verpasste Benedict einen schmerzhaft aussehenden Tritt in die linke Seite. Jack verzog das Gesicht, während er beobachtete, wie sich Benedict schweigend wieder auf die Knie mühte und etwas Blut ausspuckte. Es war genau die Stelle, die Eagle vor einer Woche durchbohrt hatte. Jack hoffte für ihn, dass seine Regenerationsfähigkeiten gut genug waren, sodass die Wunde inzwischen wieder verheilt war. Schließlich wandte sich Mars an Jack. „Bring das Mädchen in eine der Zellen in den Kerker und positioniere zwei Wachen. Statte anschließend ihrer großen Schwester einen Besuch ab und richte ihr aus, dass sie sich keine Sorgen machen muss. Wir werden die Kleine wie einen gebührenden Gast behandeln. Wahrscheinlich ist die Besitzerin des Weißen Hais inzwischen sogar bei sich zuhause in Lumiére? Immerhin hat sie doch heute Geburtstag.“ Jack nickte nur, brauchte aber einen Moment, um sich wieder bewegen zu können. Es gefiel ihm nicht, Benedict bei Mars zu lassen. Dieser Dämon konnte ein ziemlich ernstes Aggressionsproblem haben. Das wusste Jack zwar nicht aus eigener Erfahrung, er hatte jedoch oft genug miterlebt, wie jemand von Mars‘ Untergebenen dessen Räumlichkeiten verlassen hatte und über und über mit Verletzungen übersäht war. Jack riss sich zusammen, nahm Arianes kleine Schwester und verließ mit ihr das Zimmer. Noch während sich die Tür von selbst schloss konnte Jack aus den Augenwinkeln beobachten wie Mars Benedict ins Gesicht schlug. Verstimmt lieferte Jack Johanna in den Zellen des Schlosses ab und widmete sich Mars zweitem Befehl. Warum musste er eigentlich gerade heute so häufig nach Lumiére? Jack erschuf ein Portal in die Region und tauchte bei jenem Unterschlupf auf, wo er das Auto geparkt hatte. Von hier aus war es nicht weit bis nach Crèmefruite. Dennoch hatte sich das Wetter innerhalb dieser kurzen Zeit deutlich gebessert und Jack nutzte die Gelegenheit um jedenfalls eine kleine Rundfahrt mit seinem Motorrad machen zu können. Autofahren war für Jack nur Mittel zum Zweck. Das machte ihm nur Spaß, weil er derweil Musik hören konnte. Aber das einzig wahre Fortbewegungsmittel für ihn war das Motorrad. Eigentlich dürfte Jack dem Gesetz zufolge noch gar nicht die richtig großen Brummer fahren, doch das war ihm gleich. Wobei er sich heute nicht für seine Rennmaschine, sondern seine geliebte Harley entschied. Der Vorteil an den ganzen Missionen von Mars: Jack hatte echt Kohle verdienen können und konnte sich deshalb das Beste vom Besten leisten. Wie dieses Schmuckstück. Also fuhr er über die Landstraße in Arianes Heimatdorf. Er wusste genau wo sie wohnte. Natürlich. Er wusste über jeden der Dämonenbesitzer Bescheid. Und dank Mars‘ Aufträgen kam er auch entsprechend in Damon herum. Dadurch kannte er sich in vielen der Regionen ziemlich gut aus. Nur diese Mission stank bis zum Himmel. Jack wusste immer noch nicht, was genau ihm da so gegen den Strich ging. Es passte ihm einfach überhaupt nicht, Benedict bei Mars zurückzulassen mit dem Wissen, dass er sich für irgendein Kind von dem Dämon zusammenschlagen ließ. Jack betrat das Grundstück von Arianes Familie und klingelte an der Haustür. Kurz darauf öffnete Arianes Stiefmutter die Tür. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung und Entsetzen. „A-ach, noch ein Gast! Ich bin Corinna, Arianes Mutter. Es freut mich.“ Sie reichte Jack die verschwitzte Hand. „Meine Tochter ist mit ihren Freunden im Esszimmer. Komm- kommen Sie doch rein.“ Jack verdrehte die Augen. Corinna hatte sich kein bisschen verändert. Und sie war immer noch eine grottige Schauspielerin. Er folgte ihr ins Esszimmer, wo nahezu die gesamte Gruppe versammelt war. Die entsprechend feindselig auf Jacks Eintreten reagierte. „Was willst du hier?!“, fragte Ariane und er merkte, wie sie ihren Griff um die Kuchengabel verstärkte. „Darf man heutzutage nicht mehr einfach so dem Geburtstagskind einen Besuch abstatten und ‚Alles Gute‘ wünschen? Ne Whatsapp Nachricht hätte ich dir natürlich auch schicken können. Aber das ist doch so unpersönlich.“, erwiderte Jack sarkastisch. „K-kann ich Ihnen irgendetwas anbieten? Einen Kuchen? Kaffee?“ Corinna verhielt sich schon fast so wie ein reudiger Köter. Dieses Verhalten schien den Rest zu verwirren, da sie Arianes Stiefmutter immerhin bisher nur als Schreckschraube kennengelernt haben dürften. Jack überlegte einen Moment. „Ein Kaffee wär nett, danke.“ „N-natürlich.“ „Das macht die Situation nur noch seltsamer.“, kommentierte Eagle, während Jack sich auf einen freien Stuhl setzte. Ironischer weise neben Janine, die scheu und versucht unbemerkt von ihm weg wich. Natürlich entging Jack nicht, dass er die angespannte Atmosphäre dadurch nur noch mehr auflud. Man konnte schon beinahe die feindseligen Blicke spüren, die der Rest ihm zuwarf. „Heute alleine unterwegs?“, fragte Öznur und sowohl Laura als auch Carsten senkten den Blick. Jack stellte fest, dass beide besorgniserregend mager geworden sind. Das Aufeinandertreffen mit Benedict vor einer Woche schien ihnen tatsächlich den Rest gegeben zu haben. Nun gut, es war auch das erste Mal gewesen, dass er ihnen als Feind gegenüberstehen musste. „Ich soll nur eine Nachricht überbringen.“, meinte Jack und trank einen Schluck von dem heißen schwarzen Kaffee. „Der ist gut.“ „Was willst du?“ Arianes Stimme klang ungewohnt unterkühlt und düster, was gar nicht zu ihrer sonst so Licht-Artigen Ausstrahlung passte. Jack seufzte. „Ich soll dir ausrichten, dass du dir keine Sorgen um deine Schwester machen musst. Wir werden sie wie einen gebührenden Gast behandeln.“ „Was?“ Nun machte die Kälte in ihrer Stimme sogar so langsam der von Benedict Konkurrenz. „Sag, dass das ein Scherz ist.“ „Ihr habt Johanna entführt?“ Auch Carsten schien ihm nicht wirklich glauben zu können. „Na ja… In gewisser Weise.“ Eigentlich hatten sie sie ja vor dem sicheren Tod gerettet. Aber Jack hielt es für keine gute Idee jetzt in der sowieso schon aufgeladenen Atmosphäre auch noch zu erwähnen, dass Mars Johanna ursprünglich töten wollte. „Sag, dass du lügst!“ Neben der Kälte schwang nun auch ein Hauch Aggressivität in Arianes Stimme mit. Jack schüttelte den Kopf. „Sie befindet sich gerade im Kerker in Mars‘ Schloss.“ „Du lügst!!!“ Ariane war aufgesprungen. „Nane…“ Vorsichtig berührte Laura Arianes Arm, als wolle sie sie beruhigen. „Wir müssen sie da rausholen!!!“, rief Ariane plötzlich und wandte sich speziell Jack zu. „Bring mich in Mars‘ Versteck! Sofort!!!“ „Was?“ Irritiert runzelte Jack die Stirn, als Ariane ihn an den Schultern packte und rüttelte. „Bring mich zu ihr!!!“ „Nane, beruhige dich erstmal.“, sprach Carsten in einem sanften Ton auf sie ein. „Es bringt nichts, jetzt etwas zu überstürzen.“ „Überstürzen?!? Meine Schwester wird von diesen Leuten hier gefangen gehalten und ich soll nichts überstürzen?!?!?“ Bei ihrer lauten Stimme bekam Jack beinahe schon Kopfschmerzen. „Carsten hat recht.“, redete auch Eagle beruhigend auf sie ein. „Wir werden deine Schwester retten. Doch da wir Mars gerade nicht einschätzen können wäre es lebensmüde-“ „Ach halt doch deine Fresse!!!“ Ariane schaute Jack mit einem fast schon unheimlichen Glühen in ihren Augen an und er erkannte eine weiß wabernde Aura um sie. „Bring mich endlich zu ihr!!!!!“ Laura packte Ariane am Arm. „Nane, bitte! Beruhige dich!!!“ „Ich kann mich nicht beruhigen!!!“, brüllte sie und riss sich von Laura los. „Ich lasse sie nicht in Mars Fängen!!!“ Ariane warf den Stuhl zur Seite und schaute den Rest beinahe feindselig an. „Wenn ihr mir nicht helfen wollt, bitte! Dann geh ich halt allein!!!“ Sie packte Jack am Kragen seines T-Shirts. „Bring mich zu ihr!!! Bring mich endlich zu meiner Schwester!!!!!“ Grob befreite sich Jack aus ihrem überraschend starken Griff. „Das ist nicht mein Auftrag. Wenn du schon zu Mars in die Unterwelt willst, musst du einen anderen Weg finden.“ „Dann finde ich halt einen anderen Weg!!!“ Carsten war ebenfalls aufgestanden und stand bei Laura, die weiterhin erfolglos versuchte Ariane zu beruhigen. „Nane, es wird alles wieder gut. Wir werden sie retten.“ „Aber warum macht ihr dann nichts?!?“ Ihr schossen die Tränen in die Augen und sie brach auf dem Boden zusammen. „Warum unternimmt niemand etwas?!?“ „Nane…“ Laura legte ihre Hand auf Arianes zitternde Schulter. „Lieber sterbe ich beim Versuch sie zu retten, als nichts zu machen!!!!“, schrie sie unter Tränen. „Oder ich biete mich als Tausch für sie an!!! Ist mir alles Recht!!! Hauptsache sie ist in Sicherheit!!!“ „Nane, es wird alles gut! Wir retten sie, versprochen!“ Laura schien sichtlich überfordert. „Warum gerade sie?!?“ Schluchzend klammerte sich Ariane an Laura. Seufzend trank Jack seinen Kaffee aus und stand auf. „Das war alles was ich euch mitzuteilen hatte. Ich mache mich mal wieder.“ Er wandte sich zum Gehen. „Jack!“, rief Carsten ihm hinterher, der inzwischen auch bei Ariane kniete. „Behandelt sie bitte gut.“ Jack verdrehte die Augen. „Dass du ausgerechnet mich um so was bittest. Ich kann nichts versprechen.“ „Ach so, und… Und Benni bitte auch…“ Bedrückt wandte Jack den Blick ab und erinnerte sich ungewollt an den Moment, in dem Mars den vor ihm knienden Benedict in die Seite getreten hatte. „Da kann ich erst recht keine Versprechungen machen…“ Ohne den Rest noch einmal anzusehen verließ er das Haus und fuhr mit seiner Harley zurück. Wieder in der Unterwelt angekommen war seine erste Station Benedicts Zimmer. Zögernd klopfte er an und trat ein. „Wie geht es dir?“ Benedict saß im Schneidersitz vor dem Bett und war damit beschäftigt eine ziemlich tiefe Schnittwunde an seinem linken Oberarm zu nähen. „Hätte schlimmer sein können.“ Jack konnte nicht anders, er musste bei seinem Kommentar einfach auflachen. „Du gibst ein ziemlich erbärmliches Bild ab, weißt du das? Und da sagst du es hätte schlimmer sein können?“ Benedict zuckte lediglich mit den Schultern. Jack verdrehte die Augen und ging zu ihm rüber. „Du musst nicht den Starken markieren, das weißt du hoffentlich. Komm her, ich mach das.“ Wortlos reichte Benedict Jack die Nadel. Nachdem Jack den Rest der Wunde zugenäht hatte betrachtete er Benedict genauer. Sein linkes Auge war bläulich und leicht geschwollen, schien aber gut zu verheilen. Auch der sonstige Großteil seiner Wunden wirkte nicht mehr so schlimm. Aber Jack vermutete stark, dass Benedict das seiner guten Regenerationsfähigkeiten und nicht Mars‘ Gnade zu verdanken hatte. „Hast du ihnen was gesagt?“, war das erste was Benedict fragte, um das Schweigen zu durchbrechen. Seufzend stand Jack auf und ging zum Schreibtisch, um das darauf stehende Foto zu begutachten. „Nein. Nur das, was Mars mir aufgetragen hat. Ich dachte mir schon, dass es dir lieber wäre, wenn sie nichts wüssten.“ Er meinte, Benedict leise aufatmen zu hören. „Es geht dir doch nur darum, dass sich Laura und Carsten nicht noch mehr Sorgen um dich machen müssen, oder?“, bemerkte Jack nüchtern und schaute das Foto weiterhin an, auf dem Benedict mit Laura und Carsten zu Kinderzeiten zu sehen war. „Sie müssen genug erdulden.“ Jacks Lippen formten sich zu einem schiefen Lächeln. „Ihr seid mir einfach alle zu aufopferungsvoll für meinen Geschmack.“ „Ariane wollte sie direkt retten.“, stellte Benedict auf seine Aussage hin fest. „Natürlich.“ Jack lachte. „Lieber würde sie bei einem Rettungsversuch sterben, als nichts zu machen. Sie hätte sich auch mit Freuden gegen ihre Schwester eingetauscht. Eigentlich wäre das sogar eine nette Idee. Dann hättest du immerhin noch jemand von eurer Clique hier.“ Grinsend ergänzte Jack: „Auch wenn dir Laura oder Carsten wahrscheinlich lieber wären.“ Nach einer Weile fragte Benedict: „Warum gerade jetzt?“ „Was?“ „Warum tritt Mars gerade jetzt in Aktion? Warum nicht vor einem halben Jahr, als die Mädchen noch keine Bedrohung für ihn dargestellt hatten?“ „Ach so, ganz einfach aus dem Grund: Eufelia war noch am Leben. Dadurch war die Barriere zu stark, als dass er irgendetwas direkt hätte machen können. Und es hatte angeblich eine Ewigkeit gedauert, die nötige Kraft für diesen Angriff auf sie zu sammeln. Immerhin hatte er dafür kurzzeitig sogar die Barriere verlassen müssen, wie du sicherlich mitbekommen hast.“, erklärte Jack. „Es war also einfach nur Zufall, dass ihr uns zuvorgekommen seid mit den Dämonenprüfungen. Mars hat schon viele Vorbereitungen getroffen, die gerade die Dämonenbesitzerinnen in Schach halten sollten. Corinna bei Ariane zum Beispiel. Oder… Ah, das war krass gewesen. Amon bei Anne. Da ist Mars selbst für meinen Geschmack zu weit gegangen.“ „Ihr Vater?“, vermutete Benedict. Jack nickte. „Der Kerl hatte erstaunliche Willensstärke gezeigt und sich ganz schön gegen den Einfluss des Fluchmals gewehrt. Wobei dafür andere junge Frauen darunter hatten leiden müssen, also auch keine bessere Alternative. Na ja, am Ende hat Mars‘ Befehl dennoch gesiegt.“ Benedict seufzte und begann ein Eichhörnchen zu streicheln, was auf seinem Bett schlief. „Und jetzt da Eufelia-Sensei tot ist leitet er alles in die Wege um den ohnehin schwachen Bann endgültig zu brechen.“ Jack betrachtete ihn und war erstaunt, dass fast alle Wunden bereits nur noch wie kleine Kratzer wirkten. Das blaue Auge war sogar vollständig verheilt. „Wow, deine Regenerationsfähigkeit ist ja noch besser als die eines Dämonenbesitzers.“ „Wahrscheinlich liegt es an dem Vampirblut…“, erwiderte Benedict, schien mit den Gedanken aber woanders. „Vampirblut?“ „Laut Carsten habe ich einen erstaunlich hohen Anteil davon in mir, da mein Urahn ein Vampir war.“ Jack grinste. „Der Herrscher der Nacht?“ Benedict nickte. „Warum war Mars hinter mir her?“ „Was fragst du mich das? Weil du der Erbe des Yoru-Clans bist. Warum auch immer das was Besonderes in Mars‘ Augen ist. Er scheint einen ziemlichen Hass auf deine Familie zu haben, wenn man an vorhin denkt. Eigentlich nicht verwunderlich, wenn sie es war, die ihn einst gebannt hat.“ Benedict runzelte die Stirn. „Ob er mich irgendwie zum Brechen des Bannes benötigt?“ „Wie gesagt, ich hab keinen Plan.“, meinte Jack schulterzuckend. „Deine Ahnen haben ihn errichtet, es klingt also tatsächlich logisch. Aber so genau weiß ich über Mars‘ Pläne auch nicht Bescheid.“ „Und trotzdem folgst du ihm blind.“ Erneut zuckte Jack mit den Schultern. „Er hat mich gerettet. Also klar.“ Benedict musterte Jack mit diesem ruhigen alles durchdringenden Blick, bei dem Jack beinahe das Gefühl hatte er könne damit seine Gedanken lesen. Schließlich entschied er sich jedoch dazu nicht weiter darauf einzugehen. Wofür Jack auch sehr dankbar war, denn es war ein Thema, worüber er eigentlich gar nicht reden wollte. Was ihn häufig immer noch bis in seine Albträume verfolgte. Weshalb er am liebsten seine Gefühle würde abschalten können. Seufzend richtete sich Jack auf und streckte sich. „Nun denn, ich geh noch etwas Zocken. Was hast du so vor? Klavier spielen?“ Benedict schüttelte den Kopf. „Ich konnte mein Training für heute noch nicht abschließen.“ Jack lachte auf. „Du trainierst noch täglich? Ausgerechnet du?!? Das hättest du doch gar nicht nötig.“ „Na und?“ Auch Benedict stand auf und Jack bemerkte beeindruckt, dass bis auf diesen genähten Schnitt alle anderen Wunden bereits verheilt waren. „Ich hätte auch gern was von diesem Vampirblut.“, kommentierte Jack. Benedict erwiderte daraufhin nur ein Schulterzucken und verließ sein Zimmer. Amüsiert schüttelte Jack den Kopf. Was für ein komischer Heinz. Kapitel 58: Ein alter Zauber ----------------------------  Ein alter Zauber       Betreten beobachtete Carsten Ariane, wie sie immer noch auf dem Boden kauerte, sich an Laura klammerte und leise schluchzte. Sie so zu sehen tat im Herzen weh. Derweil strich Laura sanft über Arianes Schulter, in der Hoffnung ihr damit auch nur irgendwie Trost spenden zu können. Doch es war eindeutig, dass Laura mit dieser Situation völlig überfordert war. Immerhin war sonst immer sie es, die getröstet werden musste. Und Ariane war es, die getröstet hatte. Nicht umgekehrt. „Wir können das doch nicht so einfach auf uns sitzen lassen!“, rief Öznur plötzlich aufgebracht. „Ich meine, Nanes kleine Schwester wurde entführt! Meiner Meinung nach ist Mars jetzt endgültig zu weit gegangen!“ Lissi seufzte bedrückt. „Aber was sollen wir denn machen, Özi-dösi? Ich würde auch am liebsten direkt mit Nane-Sahne in die Unterwelt einmarschieren und sie da rausholen, aber wir hätten nicht den leisesten Hauch einer Chance!“ Eagle schaute Carsten fragend an. „Hast du inzwischen eigentlich was von Jacob gehört?“ „Leider nein. Als ich ihn vor einer Woche anrief meinte er nur, er sammelt alle Informationen die er finden kann und gibt uns Bescheid, wenn er alles hat. Ich habe ihm zwar meine Hilfe angeboten, doch anscheinend sind viele der Informationen verschlüsselt, sodass nicht jeder X-beliebige herausfinden kann, wie Mars gebannt wurde. Jacob kennt sich mit den Werken seiner Ahnin am besten aus, also überlassen wir dies lieber komplett ihm.“ Daraufhin nickte Eagle nur. Es dauerte noch einige Zeit, bis sich Ariane nach Jacks Besuch wieder so halbwegs beruhigen konnte. Carstens Gedanken überschlugen sich. Es war nachvollziehbar, warum Mars Johanna hatte entführen lassen. Aber ihm war schleierhaft, warum der Dämon sie ‚nur‘ entführen ließ. Natürlich war Carsten froh darüber, dass Arianes kleiner Schwester nichts Schlimmeres passiert war. Doch wenn er daran dachte, was Mars alles getan hatte um Bennis Psyche zu schwächen… Bedrückt seufzte er. Jacks Aussage am Ende hatte ihn ziemlich stutzig gemacht und zugleich auch besorgt. Anscheinend ging es Benni bei Mars wirklich nicht so gut. Aber es beruhigte ihn, dass er und Jack anscheinend ziemlich gut miteinander klar kamen. Trotz der gegenwärtigen Situation musste Carsten lächeln. Sie waren sich nun mal ziemlich ähnlich. Auch, wenn Jack doch noch mal fieser und sarkastischer war als Benni. Sein klingelndes Handy riss ihn aus seinen Gedanken. Schnell hob Carsten ab, als er erkannte, dass es sich dabei um Jacob handelte. „Hallo?“ „Carsten? Ich bin’s. Ich habe alles was ich finden konnte zusammengeschrieben. Ihr könnt also jederzeit vorbeikommen und es euch anschauen.“, meldete sich Jacob vom anderen Ende der Leitung. Carsten atmete auf. „Das ist sehr gut. Wir müssen so schnell es geht herausfinden, was wir gegen Mars unternehmen können.“ „Definitiv. Könnt ihr heute noch vorbeikommen?“ Carsten warf einen Seitenblick auf Ariane, die immer noch leise schluchzend und zitternd an Laura geklammert auf dem Boden lag. „Ja, jedoch in einer kleineren Gruppe.“ Er wollte Ariane im Moment nicht noch mehr zumuten müssen. Jacob schien zu nicken. „Dann bis später.“ „Bis nachher.“ Carsten legte auf und wandte sich an den Rest. „Das war Jacob, er hat alles zusammengesucht. Nachher schauen Eagle und ich mal bei ihm vorbei.“ „Warum nur ihr zwei?“, fragte Anne kritisch, doch ein Seitenblick auf Ariane ließ sie verstehen. „Sie sollte sich erstmal wieder etwas beruhigen und es ist besser, wenn ihr bei ihr bleibt. Aber wir dürfen trotzdem keine Zeit verlieren.“, erklärte Carsten und atmete bedrückt aus. „Dasselbe scheint sich Jacob auch gedacht zu haben.“, bemerkte Susanne. „Wenn man bedenkt wie viele Bücher das waren, als wir für dich nach dem Gegenmittel gesucht hatten… Und all das hat er alleine innerhalb einer Woche durchgearbeitet?“ Janine lächelte traurig. „Wahrscheinlich möchte er seinem Sohn auch einfach so schnell es geht helfen.“ „Und jetzt werden auch noch unsere Familien mit hineingezogen.“ Geräuschvoll schnaubte Öznur. „Wir dürfen wirklich keine Zeit mehr verlieren.“ Carsten nickte. „Deshalb machen Eagle und ich uns am besten gleich auf den Weg. Ach so… Susanne? Denkst du, du könntest mithilfe der Direktoren Kontakt zu Johannes aufnehmen?“ „Ich vermute das geht. Mars könnte ihn in naher Zukunft wieder entführen wollen, nicht wahr?“ „Er hat sein Ziel den Erben des Yoru-Clans in die Finger zu bekommen erreicht. Allem Anschein nach hat er nun wieder die Dämonenbesitzer im Visier.“ „Na prima.“, kommentierte Anne alles andere als begeistert. „Ich will mitkommen…“ Mühsam setzte sich Ariane auf und rieb sich einige Tränen von der Wange. Carsten musste sich ganz schön zusammenreißen, sie nicht sofort in seine Arme zu schließen. Es war schmerzhaft, Ariane so leiden zu sehen. Gerade da sie für gewöhnlich eine immer gut gelaunte, optimistische Person war. Er kniete sich vor Ariane und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du musst dich jetzt nicht zu noch mehr zwingen. Eagle und ich bekommen das schon hin.“ „Aber…“ Ariane schluchzte. „Nane, wir wären Carsten doch sowieso nur im Weg.“ Laura lächelte sie aufmunternd an. „Als würden wir ihm eine Hilfe sein können, wenn es im Prinzip um einen Zauber geht. Da schauen wir lieber, dass Johannes in Sicherheit ist.“ Es war eindeutig, dass Ariane nur widerwillig nachgab. Schließlich hielt Carsten ihrem traurigen Blick nicht mehr stand. Vorsichtig nahm er sie in die Arme. „Das wird schon, wir retten deine Schwester. Versprochen. Und davon abgesehen: Benni ist doch auch noch da. Ich weiß nicht wieviel Freiraum er bei Mars hat, doch ich bin mir sicher, dass er auf Johanna aufpasst.“ Schluchzend vergrub Ariane ihr Gesicht in Carstens Brust. „Und er passt auch ja auf, dass es ihr dort gut geht?“ „Ganz sicher.“ Sanft strich Carsten Ariane übers Haar. Nach einer Weile löste er die Umarmung und wandte sich an den Rest. „Vielleicht wäre es sinnvoll irgendeine Ausrede für Arianes Vater parat zu haben, wenn dieser von der Arbeit kommt. Wir können ihm schlecht sagen, dass seine Tochter entführt wurde.“ „Überlass das uns, Cärstchen. Kümmer du dich einfach um diesen Bann.“ Lissi warf ihm einen Luftkuss zu. Carsten nickte und ging zu Eagle. „Machen wir uns?“ Kurz darauf teleportierte er sich und seinen großen Bruder an die Grenze von Zukiyonaka in die Nähe vom Haus der Yorus. Bei Bennis Eltern angekommen wurde ihnen wie vor einigen Monaten die Hintertür geöffnet, zu der man über den Garten gelangte. Jacob wartete in der Bibliothek auf sie. Auch wenn Carsten ihn beim Eintreten nicht hatte sehen können, sondern erst als Bennis Vater hinter dem mit Büchertürmen vollgestellten Schreibtisch hervortrat. „Das ging fix.“, meinte er zur Begrüßung. „Dasselbe könnten wir auch zu dir sagen.“, erwiderte Eagle. „Hast du die alle ernsthaft durchgelesen?“ „Zum Teil gelesen, zum Teil überflogen.“ Jacobs Lippen formten sich zu einem warmen freundlichen Lächeln und Carsten fragte sich automatisch ob er dieses Lächeln auch an Benni weitervererbt hatte. „Gibt es einen Grund, warum ihr nur zu zweit hier seid?“, erkundigte sich Bennis Vater. Den Scharfsinn hatte Benni eindeutig von ihm. Carsten seufzte. „Die kleine Schwester einer Freundin wurde von Mars entführt. Wir haben erst vor wenigen Stunden davon erfahren.“ Jacob nickte daraufhin lediglich und wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu. „Das hier ist alles, was ich über den Bann herausfinden konnte.“ Er reichte Carsten mehrere mit sauberer Handschrift beschriebene Papierbögen. Interessiert las Carsten sie durch. Jacobs Notizen zufolge war es Leonhard Yoru, der den Bann mithilfe der Magie und dem Wissen der Dryaden entwickelt hatte. Er war es auch, der den Zauber gesprochen hatte. Eagle runzelte die Stirn. „Dieses Monster-Ding soll der Zauberspruch sein? Wer will sich das ganze denn merken können?“ Carsten zuckte mit den Schultern. „Eine Seite? So schwer ist das nicht.“ „Du bist ja auch nicht normal.“ „Dieser Punkt irritiert mich eher.“ Carsten zeigte auf eine bestimmte Zeile. „Was bedeutet das, dass Eufelia-Sensei einen ‚Blutzoll‘ gezahlt hat da sie Kampfkünstlerin ist? Sie war doch sowohl Kampfkünstlerin als auch Magierin.“ „So wie ich das verstanden habe lässt sich der Bann aufteilen in einen Magier der den Zauber spricht und einen Kampfkünstler, der mit ein paar Tropfen von seinem Blut den nötigen Preis für einen so mächtigen Zauber zahlt.“, meinte Jacob. „Jedoch bin ich kein Magier, ich weiß nicht, was genau dieser Blutzoll bei euch bedeutet.“ „Eigentlich fällt das in den Bereich der schwarzen Magie.“ Nachdenklich musterte Carsten die beschriebenen Bögen. „So was gibt es wirklich?“, fragte Eagle irritiert. Carsten nickte. „Schwarze Magie fordert im Gegensatz zu der gängigen Magie immer einen Tribut. Meistens in Form von Blut, manchmal müssen sogar Leben geopfert werden. Deshalb ist solche Magie heutzutage auch verboten.“ Er seufzte. „Das bedeutet aber auch, dass wir diesen Zauber niemals in den geläufigen Büchern gefunden hätten.“ „Kannst du ihn trotzdem anwenden?“ Fragend schaute Jacob Carsten an. Carsten schüttelte den Kopf. „Den Spruch kann ich mir zwar merken und ihn für das Verständnis aus dem Dryadischen zu übersetzen ist auch überhaupt kein Problem. Aber gerade bei so einem machtvollen Zauber muss man genau wissen, wie er zusammengesetzt wurde. Also zum Beispiel warum musste Eufelia diesen Blutzoll zahlen? Ansonsten kann ich ihn nicht entsprechend für uns umändern.“ „Du wirst ihn ändern müssen?“ Eagle runzelte die Stirn. „Sieht doch alles okay aus damit.“ „Fast.“ Carsten zeigte auf die dritte Seite. „So wie ich das sehe hat Coeur als Besitzerin des Silbernen Pegasus die Energie ihres Dämons verwendet, um Mars zu bannen. Das hat deshalb funktioniert, da sowohl der Silberne Pegasus als auch der Purpurne Phönix Gottesdämonen sind und ihre Macht deshalb gleichwertig ist. Aber wir haben aller höchstens die Herrscher über die Ursprungskräfte. Ich werde den Bann so umändern müssen, dass die Macht der Dämonen der von Mars gleichkommt.“ „Jetzt ergibt es jedenfalls einen Sinn, warum wir dafür alle Dämonenbesitzer brauchen.“, stellte Eagle fest. Carsten nickte. Sein großer Bruder stöhnte genervt auf und ließ sich auf das Sofa fallen. „Prima, und zwei fehlen uns noch. Der Besitzer des Orangenen Skorpions ist sowieso auf der bösen Seite und würde uns niemals helfen Mars zu bannen. Und wer auch immer Eufelias Nachfolger ist, den müssen wir sogar noch finden.“ „Stimmt schon… Gerade was den aktuellen Besitzer des Farblosen Drachen betrifft haben wir überhaupt keine Anhaltspunkte.“ Bedrückt setzte sich auch Carsten auf das Sofa. „Normalerweise sind die Dämonen immer für eine spezielle Region zuständig, doch die des Farblosen Drachen ist ausgerechnet Obakemori.“ „Aber das ist doch nur ein Wald.“, bemerkte Eagle. „Außer Eufelia und Benedict hat niemand dort gelebt.“ „Der Wald ist sehr groß.“, warf Jacob ein. „Es ist gut möglich, dass irgendwo noch Leute leben. Aber es ist ein Ding der Unmöglichkeit sie zu finden.“ „Einmal drüber fliegen und nachschauen bringt bei einem Wald leider auch nichts…“, überlegte Eagle. „Ansonsten hätte ich das machen können.“ „Jetzt wäre Bennis Fähigkeit mit Tieren zu kommunizieren praktisch…“ Deprimiert senkte Carsten den Kopf. Eagle verpasste ihm einen leichten Schlag auf den Hinterkopf. „Trübsal blasen wird den Besitzer des Farblosen Drachen jedenfalls nicht zu uns bringen. Abgesehen davon haben wir noch andere Probleme. Jack zum Beispiel.“ Freudlos lachte Carsten auf. „Ich glaube, Jack ist noch unser geringstes Problem. Ich frage mich eher, wie ich an Informationen über die schwarze Magie kommen soll, wenn eigentlich nichts mehr darüber existieren dürfte.“ „Hat Eufelia dir das nicht beigebracht? Den Notizen nach klingt es jedenfalls so, als hätte sie schwarze Magie beherrscht.“, fragte Eagle irritiert. „Leider nein. Sie wurde früher von den Dryaden persönlich unterrichtet, da ist es logisch, dass sie schwarze Magie beherrscht. Aber da es verboten ist, hat sie es mir nie beigebracht.“ Carsten seufzte. „Aber Eufelia wusste doch, dass der Bann immer schwächer wurde.“, überlegte Jacob und schien eher mit sich selbst zu sprechen. „Immerhin hat sie Benni ja auch ausgebildet mit dem Hintergedanken, dass er eines Tages auf Mars treffen würde.“ Bedrückt wandte Eagle den Blick ab. „Vielleicht hätte sie es dir sogar noch beigebracht, hätte ich nicht dafür gesorgt, dass du…“ Carsten warf seinem großen Bruder ein aufmunterndes Lächeln zu. „Unsinn. Hätte Eufelia-Sensei mir schwarze Magie beibringen wollen hätte sie damit recht früh angefangen. Da bin ich mir ziemlich sicher.“ „Vielleicht hat sie gedacht du würdest es dir selbst beibringen, wenn die Zeit reif ist.“, meinte Jacob. Carsten nickte. „Das könnte sein. Aber wie soll ich an die nötigen Unterlagen kommen? Eufelia-Sensei hatte garantiert Bücher über schwarze Magie bei sich, aber bei dem Angriff von Mars vor vier Monaten wurde alles zerstört…“ „Und sonst? Der Direktor ist doch auch ein mächtiger Zauberer. An der Coeur-Academy findet sich doch garantiert etwas.“ Carsten lachte auf. „Du meinst in der ‚verbotenen Abteilung‘?“ Eagle zuckte mit den Schultern. „Zum Beispiel?“ „So was gibt es an der Coeur-Academy nicht. Alle Werke sind den Schülern zugänglich.“ „Vielleicht gibt es ja eine ‚geheime Abteilung‘.“, erwiderte Eagle spöttisch. Doch Carsten schüttelte lachend den Kopf. „Meines Wissens existiert bei den Menschen über schwarze Magie seit dem magischen Krieg rein gar nichts mehr.“ Er überlegte für einen Moment. „Vielleicht könnte ich bei den Nachfahren der Dryaden schauen… Elben sind sehr Magie-affin und auch sehr traditionell. Es ist gut möglich, dass sie noch alte Schriften haben.“ „Wenn dem so ist, könntest du dich auch als erstes an Koja wenden.“, schlug Eagle vor. „Sie ist eine ziemlich mächtige Hexe und wir Indigoner stammen immerhin auch von den Dryaden ab.“ Carsten nickte nachdenklich. „Das könnte erfolgsversprechend sein.“ Er überflog die letzte Seite, bei der es um die Schwachstellen von dem Bann ging. Zitternd senkte Carsten das Blatt. „Jacob… Wusstest du über diese Schwäche Bescheid?“, fragte Carsten mit bedrückter Stimme. Bennis Vater schüttelte den Kopf. „Auch erst seit neustem.“ „Schwäche?“ Kritisch nahm Eagle Carsten das Blatt aus der Hand und las es durch. Anschließend kniff er die Augen zusammen und rieb sich die Schläfen. „Wir haben ein riesen Problem, oder?“ Bedrückt nickte Carsten. „Kein Wunder, dass Mars hinter Benni her war…“ „Aber woher will er wissen, dass er mithilfe von Benni den Bann brechen kann?“ Eagle schaute Jacob fragend an. „Nun ja, ich hatte doch schon erwähnt, dass Mars Leonhard vor Beendigung des Zaubers hatte schnappen können und ihn daraufhin mit sich in die Tiefen gezogen hat. Niemand weiß, was danach mit ihm passiert ist. Es würde mich nicht wundern, wenn Mars ihn so lange gefoltert hätte, bis er schließlich keine Kraft mehr hatte und diese Schwachstelle verriet.“ Eagle schnaubte. „Scheiße. Also haben wir ihm direkt in die Hände gespielt. Nehmt’s mir nicht krumm, aber ich hätte gerade den herzlosen eiskalten Engel lieber, der seine Gefühle nicht versteht und den man deshalb nicht hätte erpressen können.“ „Niemals!“, widersprach Carsten energisch und stand auf. „Wir müssen Mars einfach zuvorkommen! Ich werde den Zauber schon rechtzeitig für uns abgeändert bekommen. “ Er würde nicht zulassen, dass Mars mithilfe von Benni die tiefste Schlucht der Unterwelt würde verlassen können. Amüsiert lächelte Jacob, als es gegen die Tür klopfte und Samira eintrat. „Oh, hallo ihr zwei.“, grüßte sie die Brüder erfreut. Carsten und Eagle erwiderten den Gruß. Jacob warf seiner Frau ein liebevolles aber auch leicht besorgtes Lächeln zu. „Wie geht es dir?“ „Es ist alles in bester Ordnung.“ Auch Samira lächelte und als Carsten bemerkte, wie sie die Hände über ihren Bauch gelegt hatte wusste er, was das bedeutete. „Du bist schwanger?“ Samira nickte lachend. „Im zweiten Monat.“ „Herzlichen Glückwunsch.“ Eagle grinste. „Aber ich dachte, im Yoru-Clan wäre es verboten mehr als ein Kind zu zeugen…“ Jacob winkte ab. „Das war noch damals als meine Familie über Rutoké geherrscht hatte und ein Streit über die Thronfolge vermieden werden sollte. So langsam sollten wir uns von den Dekreten lösen können. Besonders da wir noch nicht mal mehr regieren.“ Samira lachte auf. „Hört, hört, wie überzeugt er es inzwischen wiedergeben kann.“ Herausfordernd schaute sie ihren Mann an und erklärte anschließend: „Ich habe ihm schon seit Jahren damit in den Ohren gelegen, dass dieses Regelwerk längst veraltet ist. Aber ein gewisser jemand hat sich trotzdem nie getraut, sich darüber hinwegzusetzen, obwohl er auch gerne noch ein zweites Kind hätte. Doch als ich ihm nun letztlich gedroht habe, dass meine biologische Uhr so langsam zu ticken beginnt, ist er doch eingeknickt.“ Während Jacob die Augen verdrehte mussten Carsten und Eagle loslachen. Eagle runzelte die Stirn. „Wenn ich fragen darf, wie alt bist du eigentlich?“ „Klar darfst du.“ Samira grinste. „38.“ „Dann bist du aber wirklich früh Mutter geworden.“, bemerkte Carsten beeindruckt. Immerhin war Benni 17. Bei dem Gedanken an Benni musste Carsten lächeln. Wie er wohl damit umgehen würde wenn er erfährt, dass er großer Bruder wird? Carsten ballte die Hand zur Faust. Der Drang Benni vor Mars zu retten wurde umso größer. Er musste diesen Zauber für sie abändern. Er musste! Ihm blieb einfach keine andere Wahl! Nicht nur, um die Welt vor Chaos und Zerstörung zu bewahren. Nicht nur, um seinen besten Freund zu retten. Und auch nicht nur, um Laura ihre große Liebe zurückzubringen. Sondern auch diesem Familienglück zuliebe. Jacob seufze belustigt. „Den Drang zu rebellieren und den Sturkopf hat Benni definitiv von dir.“ „Wie bitte?!“ Samira stemmte die Fäuste in die Hüften. „Meinen Sturkopf?! Nie im Leben, das grenzt schon beinahe an eine Beleidigung! Bei seiner Freundin knickt er trotzdem immer ein. Das würde mir bei dir nie passieren.“ Nun mussten Carsten und Eagle noch mehr loslachen. Besonders, da Samira recht hatte. So stur Benni auch war, Laura war nochmal eine Nummer dickköpfiger. Bei ihr würde er sich nie wirklich durchsetzen können. Jacob verschränkte die Arme vor der Brust. „Irgendwie ist das ein Fluch, der an meiner Familie haftet. Nach außen hin waren die Männer immer die mächtigen Herrscher aber in Wahrheit hatten die Frauen die Hosen an. Und irgendwie ist das in so ziemlich jeder Generation der Fall.“ Dieser Kommentar sorgte dafür, dass Carsten und Eagle nun schon vor Lachen Bauchschmerzen bekamen. Samira betrachtet die beiden amüsiert. „Und ihr habt beide Sisikas Lachen.“ Mit einem Schlag wurde Eagle leicht rötlich im Gesicht. „Unsinn, ich seh meiner Mutter kein bisschen ähnlich.“ „Nicht so extrem wie Carsten, das stimmt. Aber den stürmischen Charakter hast du auf jeden Fall von ihr.“, bemerkte Samira belustigt. Jacob verdrehte die Augen. „Oh ja, das stimmt…“ Daraufhin musste nun Carsten wieder loslachen. Er wusste nicht, wie seine leibliche Mutter zu Lebzeiten war. Er hatte sie leider nie kennenlernen können. Aber die Vorstellung, dass Eagle vom Charakter her eher nach ihr als nach seinem Vater kam war einfach zu gut. Eagle warf Carsten einen kritischen Blick zu. „Ich weiß nicht, ob mich das beruhigt.“ Samira lächelte. „Euch so zu sehen wäre das, was sie sich immer gewünscht hätte.“ „Wäre es das?“ Carsten grinste zu Eagle rüber, welcher sich schnaubend und offensichtlich leicht verlegen abwandte. Daraufhin mussten nun Samira und Jacob loslachen. Obwohl sie nur vorbeigekommen waren, um von Jacob die Informationen über den Bannzauber zu erhalten, blieben Eagle und Carsten noch eine Weile bei ihnen. Samira und Jacob erzählten Geschichten über ihre Mutter und es war lustig zu hören, was das Freundinnengespann Samira, Saya und Sisika früher so alles ausgefressen hatte. Carsten war erleichtert, dass es Bennis Eltern offensichtlich doch noch recht gut ging, obwohl sie inzwischen wussten, dass Mars Benni in seiner Gewalt hatte. Anscheinend hatten sie so viel Vertrauen in ihren Sohn, dass sie sich keine allzu großen Sorgen um ihn machen mussten. Und es war auch sehr schön und lustig von ihnen zu erfahren, dass sie Laura als Bennis Freundin vollauf akzeptierten. Genaugenommen akzeptierten sie sie schon so sehr, dass Samira Laura bereits als zukünftige Schwiegertochter bezeichnete. Belustigt stellte sich Carsten vor, wie Laura wohl reagieren würde, wenn sie davon erführe. Erst gegen neun Uhr abends kehrten sie zurück in die Coeur-Academy, wo sich viele der Mädchen anscheinend schon Sorgen um sie gemacht hatten. „Oh Allah, da seid ihr ja endlich!“, rief Öznur, fiel Eagle um den Hals und gab ihm einen ausgiebigen Kuss. „Hast du dir Sorgen gemacht?“, fragte Eagle leicht spöttisch. Janine seufzte. „Nach allem was die letzte Zeit passiert ist… Wie könnten wir uns da keine Sorgen machen?“ „Ihr hättet ja jedenfalls Bescheid sagen können, dass es später wird!“, erzürnte sich Öznur. Amüsiert verdrehte Carsten die Augen, sagte aber nichts zu ihrer Verteidigung. Die Mädchen hatten schon recht, es war in letzter Zeit einfach zu viel passiert. Kritisch verschränkte Anne die Arme vor der Brust. „Warum habt ihr eigentlich so gute Laune?“ „Geht es Bennis Eltern zumindest gut?“, erkundigte sich Laura, ebenfalls besorgt. Carsten nickte grinsend. „Ihnen geht es blendend. Sie sind der Meinung Benni hat schon genug durchstehen müssen. Damit würde er auch schon fertig werden.“ Erleichtert atmete Laura auf. „Es ist schön, dass sie so viel Vertrauen in ihn haben.“ Carsten nickte. Dass sie Laura eigentlich schon als Schwiegertochter betrachteten verschwieg er ihr aber lieber noch. Das würde ihr absolut verschüchtertes Herz nicht verkraften können. Stattdessen… „Übrigens sieht es ganz danach aus, dass Benni großer Bruder wird.“ Lissi quietschte sofort los. „Aaaah, wie süß!!! Samira ist schwanger?!?“ „Wirklich?“ Überrascht schaute Laura auf. Eagle nickte. „Im zweiten Monat.“ Die nächsten Minuten verbrachten Carsten und Eagle damit belustigt zu beobachten, wie sich insbesondere Lissi und Öznur merklich über diese Nachricht freuten, während Janine und Susanne das eher im Stillen taten. Laura kicherte. „Irgendwie glaube ich, Benni wird ein toller großer Bruder.“ „Denkst du nicht, dass er etwas unbeholfen dabei wäre?“ Kritisch hob Anne eine Augenbraue. „Im ersten Moment auf jeden Fall!“ Carsten bemerkte, wie Laura Tränen zu lachen begann. Wahrscheinlich, weil sie sich Benni als leicht überforderten großen Bruder vorstellte. Was er definitiv sein würde. Susanne lächelte zu den Jungs rüber. „Jetzt verstehe ich, warum ihr so lange geblieben seid. Ich glaube, diese Auszeit tat gerade dir gut, Carsten.“ Carsten lachte schwach auf. „Ja, es tat wirklich gut mit ihnen zu reden.“ „Du hast dich jedenfalls gut amüsiert hatte ich den Eindruck.“, bemerkte Eagle nüchtern. „Du doch auch.“ Grinsend betrachtete Öznur die beiden. „Irgendwie mag ich euch so als Brüder-Gespann. So könnt ihr von mir aus gerne bleiben.“ Wie schon zuvor bei Samira und Jacob wandte Eagle schnaubend den Blick ab. Was die Mädchen wieder zum Lachen brachte. „Wie geht es eigentlich Ariane?“, erkundigte sich Carsten besorgt bei Laura. Diese seufzte. „Etwas besser inzwischen. Aber auch leider nur etwas. Sie erzählte mir, dass sie in ihrer Dämonenprüfung eigentlich sogar schon auf sowas vorbereitet wurde. Aber diese Erfahrung real zu erleben…“ Bedrückt senkte Carsten den Blick. Lissi stieß ihm mit den Ellbogen leicht in die Rippen. „Wie wär’s, wenn du dich mal etwas um sie kümmerst, Cärstchen?“ Carsten wurde rot. Natürlich hatte er verstanden, was Lissi damit andeuten wollte. Schließlich seufzte er. „Laura ist wohl eher dazu geeignet für sie da zu sein.“ Öznur zuckte mit den Schultern. „Na ja, du bist doch in sie verliebt, oder?“ „Bist du?“ Anne warf ihm einen kritischen Blick zu. Anscheinend hatte sie als einzige der Mädchen seine Gefühle für Ariane noch nicht erkennen können. Selbst Laura lächelte ihn mitleidig an. Verbissen richtete Carsten den Blick auf den Boden und versuchte die Hitze auf seinen Wangen zu ignorieren. „Bin ich. Und ihr wisst genauso gut wie ich, dass Ariane meine Gefühle offensichtlich nicht erwidert. Glaubt mir, ich würde ihr gerne irgendwie irgendetwas von dem Leid abnehmen können. Aber ich bin dafür der Falsche.“ Anne runzelte die Stirn. „Wieso solltest du dafür der Falsche sein? Du bist für jeden von uns da, wenn er Kummer hat und schaffst es sogar irgendwie meistens, diesen jemand zu beruhigen. Also warum wäre gerade Ariane eine Ausnahme davon, wenn du sogar in sie verliebt bist?“ „Ooooh Banani, solche lieben Worte hört man selten von dir.“, stachelte Lissi sie an. „Ach, halt die Klappe.“, zischte Anne gereizt und wandte sich wieder Carsten zu, da sie noch eine Antwort erwartete. Bedrückt seufzte Carsten. „Gerade weil ich in sie verliebt bin ist Ariane die Ausnahme. Ich könnte sie nicht trösten ohne ständig im Hinterkopf zu haben, dass…“ „… dass?“ Öznur schaute ihn auffordernd an. „Ich weiß nicht… Ich habe halt die Sorge, dass ich dann im Hinterkopf hätte ihr ‚Retter in der Not‘ zu sein und dadurch Arianes Gefühle für mich gewinnen könnte. Aber über so einen Weg will ich das nicht!“ Lissi seufzte. „Du bist so süß, Cärstchen. Weißt du das?“ „Das hilft leider rein gar nicht.“, erwiderte Carsten verbissen. Sanft nahm Laura seine Hand. „Falls es dich irgendwie tröstet: Nane möchte sowieso von niemandem aufgeheitert werden. Ich habe sie vorhin gefragt, ob sie etwas braucht und sie meinte nur sie wolle erstmal etwas Zeit und Ruhe zum Nachdenken haben. Daraufhin ist sie rausgegangen mit den Worten sie mache einen Spaziergang.“ „Das klingt für mich eher nach Benni und weniger nach Nane.“, bemerkte Janine überrascht. „Aber gut, vielleicht gehen beide ähnlich mit bedrückenden Situationen um.“ „Ach so und was ist mit Johannes?“, erkundigte sich Carsten weiter. Susanne seufzte. „Die Direktoren hatten tatsächlich seine Kontaktdaten vor einer Weile von Benni bekommen, aber wir konnten niemanden aus der Familie erreichen. Vor Ort haben wir dann die Nachbarn gefragt, die meinten sie seien im Urlaub.“ Geräuschvoll atmete Eagle aus. „Mist. Und wahrscheinlich wissen sie auch nicht, wohin.“ „Ich befürchte nicht. Jedoch geht übernächste Woche die Schule wieder los. Es ist also gut möglich, dass sie im Laufe der kommenden Woche wiederkommen.“ Öznur schnaubte. „Wie können wir nach allem jetzt noch an die Schule denken?!?“ „Apropos, hast du inzwischen eigentlich schon dein Mathe-Ergebnis?“, fragte Carsten sie. „Jaaaaa, ich hab vor drei Stunden die Note bekommen! Ich habe bestanden!!!“, rief sie begeistert. Anne verdrehte die Augen. „Und kurz davor hieß es noch ‚Wie können wir nach allem jetzt noch an die Schule denken?!?‘“ „Na und?!? Ich kann mich ja trotzdem darüber freuen Mathe bestanden zu haben!“ Öznur funkelte Anne wütend an. Diese zischte. „Hättest du dich vor der eigentlichen Prüfung nicht so bescheuert benommen, hättest du sie direkt bestehen können.“ „Fängst du ernsthaft schon wieder an?!?“, donnerte Öznur. Eagle stöhnte entnervt auf, packte seine Freundin und schob sie weg von Anne. „Ich hab keine Lust auf schon wieder Zickenkrieg.“ Janine kicherte. „Nachvollziehbar.“ „Wir wünschen euch zwei Hotties viel Spaß!“, trällerte Lissi ihnen hinterher. Eagle hob zum Abschied die Hand. „Werden wir haben.“ Lächelnd betrachtete Janine die beiden und schaute dann zu Laura rüber. „Irgendwie lustig, wie sie so ganz anders mit Lissis Andeutungen umgehen.“ Auf diese Andeutung hin wurde Laura natürlich rot, was den Rest zum Lachen brachte. Susanne wandte sich Anne zu. „Musst du wirklich so nachtragend sein?“ Anne biss die Zähne zusammen und wich ihrem Blick aus. „Ich kann irgendwie nicht anders. So Kommentare rutschen einfach aus mir heraus, ich will das gar nicht. …Jedenfalls nicht direkt.“ Susanne warf ihr ein aufheiterndes Lächeln zu. „Wir wissen, dass dich Öznurs Kommentar damals sehr schwer getroffen hat. Aber bitte, versuche dich zu zurückzuhalten. Gerade jetzt, wo Mars ganz eindeutig gegen uns vorgeht können wir uns solche Streitereien nicht erlauben.“ Anne atmete tief durch. „Ich versuch’s. Wirklich.“ Susanne wandte sich an Carsten. „Was habt ihr von Jacob über den Bann erfahren?“ „Der Zauber wird mithilfe schwarzer Magie ausgeführt.“ Susanne schauderte. „Wirklich?“ „Ich wollte morgen zu meiner Großmutter und sie fragen, ob sie etwas über schwarze Magie weiß.“ „Können wir… irgendwie helfen?“, erkundigte sich Laura vorsichtig. Carsten schüttelte den Kopf. „Leider nein, verzeiht. Schwarze Magie wurde ursprünglich von den Dryaden ausgeübt, also müsstet ihr schon einmal die Sprache gut genug beherrschen, sollte ich tatsächlich an alte Bücher darüber kommen. Um ehrlich zu sein wäre es mir lieb, wenn ihr euch gänzlich auf euer Training konzentriert. Ich werde mich an Konrad und Florian wenden, also keine Sorge, ich mache das nicht gänzlich allein. Gerade Florian als Elb könnte noch Zugriff auf Informationen über schwarze Magie haben. Und wer weiß? Vielleicht kennt sich Konrad als über 200 Jahre alter Vampir sogar etwas damit aus?“ Daran, dass Konrad ihm eventuell helfen könnte hatte Carsten noch gar nicht gedacht. Aber jemand, der zur Zeit des Magischen Krieges bereits gelebt hatte -wenn auch in der Unterwelt- dürfte am ehesten noch schwarze Magie beherrschen. Susanne gab ihm mit einem Nicken recht. „Ich bin sicher, Konrad und Florian helfen gerne. Dann überlassen wir das mit dem Zauber euch und wir konzentrieren uns darauf stärker zu werden.“ „Apropos stärker werden…“ Anne deutete auf Laura. „Wann willst du eigentlich nun deine Prüfung machen? Vor einer Woche warst du doch noch so scharf drauf.“ Carsten merkte, wie Laura bei diesen Worten unverzüglich verspannte. Der Vorfall mit Benni beim Schrein des Schwarzen Löwen belastete sie offensichtlich immer noch. Während des Trainings schaffte sie es zwar beeindruckender Weise sich zusammenzureißen, doch Carsten war sich ziemlich sicher, dass sie ansonsten ihren Gefühlen unterlag. Es war einfach zu viel für sie. „Gib ihr noch etwas Zeit das von vor einer Woche zu verkraften.“, nahm Carsten seine beste Freundin in Schutz. „Laura fängt sich schneller, als du erwartest. Ganz sicher.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Ich dachte halt die Zeit liefe uns davon.“ Innerlich seufzte Carsten. Wenn sie wüsste… Er wischte den Gedanken an Mars‘ Pläne mit Benni mit einem Kopfschütteln beiseite und holte sein Handy aus der Hosentasche. „Wenn ihr mich entschuldigt, ich werde mich direkt an Konrad wenden und danach mal mit Florian telefonieren. Wie du schon sagtest: Die Zeit läuft uns davon.“ Während er die Nummer des Vampirs eintippte entfernte sich Carsten von der Mädchengruppe. Er war sich noch nicht sicher, ob er ihnen von der Schwachstelle des Bannes erzählen sollte. Gerade Laura wollte er damit nicht beunruhigen. Andererseits könnte es aber auch gerade für sie ein Motivationsschub sein… Ach, Carsten wusste es einfach nicht. Er hoffte einfach, dass sie es noch rechtzeitig schafften, bevor es zu spät war für Benni, für ihre Gruppe, für Damon und für die ganze Welt. Aus dem Telefonat mit Konrad erfuhr Carsten, dass der Vampir tatsächlich etwas schwarze Magie beherrschte. Aber es war nicht direkt die Version der Dryaden, sondern eine besondere schwarze Magie der Vampire, die aber auch mit Opfergaben wie Blut beherrscht wurde. Florian hatte zwar wie Carsten schon von schwarzer Magie gehört, konnte aber sonst nichts damit anfangen. Er versprach Carsten jedoch alte Elben-Zauberer um Hilfe zu bitten.   Am nächsten Tag, während die anderen ihr Training fortsetzten, teleportierte sich Carsten nach Indigo, um seine Großmutter mütterlicherseits zu besuchen und befragen. Trotz ihrer 72 Jahre war sie eigentlich noch sehr fit im Kopf, jedoch machte ihr Herz ihr bereits immense Schwierigkeiten. Als Kind hatte Carsten immer ein bisschen Angst vor dieser Frau gehabt, vergleichbar mit Lauras Angst vor Eufelia-Sensei. Doch inzwischen sah er sie als alte, weise Frau. Sie kannte sich zwar nicht ganz so gut im Bereich der Magie aus wie Eufelia-Sensei einst, aber dennoch sollte man sie nicht unterschätzen. Immerhin war sie es, die die Magiebarriere über Karibera aufrecht erhielt. Und so ein Können war nur den besten Hexen und Zauberern vorbehalten. Carsten fand Koja in ihrem Tipi irgendein altertümliches Ritual mit Räucherstäbchen und einem Samtbeutel durchführend, die sie hin und her wedelte. In dem Beutel klackerte etwas. Eigentlich wollte er warten, bis sie mit ihrem Ritual geendet hatte, doch mit einer Handbewegung wies sie Carsten an, in das stickige Zelt zu kommen. Carsten nahm einen halben Meter vor ihr im Schneidersitz platz und beobachtete durch den Rauch weiterhin, wie sie auf Dryadisch sang und schließlich den Beutel ausleerte. Hühnerknochen. Also wollte sie seine Zukunft vorhersagen. In diesem Bereich kannte sich Carsten von aller Magie am wenigsten aus. Er war nie wirklich daran interessiert gewesen zu sehen, was seine Zukunft brachte. Daher konnte er auch nicht erkennen, was die Lage der Knochen auf dem Seidentuch zwischen ihm und Koja nun zu bedeuten hatte. Kojas Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. „Du bist verliebt?“, stellte sie auf Indigonisch fest. Sie sprach kaum Damisch, sondern nur Indigonisch, Latein und Dryadisch. Carsten seufzte. „Bitte, ich möchte darüber nichts wissen.“ Eigentlich hatte er nur Angst davor, was Koja ihm sagen würde. Denn er machte sich sowieso keine Hoffnungen was eine Beziehung mit Ariane betraf. Koja warf ihm ein wissendes Lächeln zu, was Carstens Unbehagen nur verstärkte. Ihre Haut hatte einen dunklen, ledrigen Ton und ihre Augen ein blasses Lila. Mit diesen blass-lila Augen betrachtete sie die restlichen Knochen. „Ich sehe hier ein Wiedersehen. Du wirst eine besondere Person wiedertreffen dürfen.“, deutete sie weiter. Das machte Carsten immerhin Hoffnung, was Benni betraf. „Doch ich sehe auch viel Dunkelheit und Schmerz, die sich dir und deinen Freunden nähern. Und viel Trauer und Verzweiflung.“ Sie runzelte die Stirn. „Das sieht mir beinahe nach einem Krieg aus.“ Das zerstörte Carstens eben erhaltene Hoffnung wieder. Also würde er es doch nicht rechtzeitig schaffen den Zauber umzuwandeln? Würde er doch zu spät kommen?!? Koja seufzte. „Du wirst einen harten Weg vor dir haben, mein Kind. Doch wenn du es schaffst standhaft zu bleiben und niemals aufzugeben, wirst du zum Licht finden.“ Immerhin machte sie ihm am Ende noch einmal etwas Hoffnung… Auch wenn seine Zukunft nicht gerade berauschend klang. „Weißt du etwas Genaueres über einen Freund?“, erkundigte sich Carsten. „Irgendjemand, der in der Dunkelheit gefangen ist und auch wieder zum Licht findet?“ Koja runzelte die Stirn. „Hier sind viele Seelen in der Dunkelheit gefangen. Einige finden zum Licht, einige irren weiterhin in ihr umher.“ Also konnte sie keine genauere Aussage über Benni machen. Carsten atmete tief durch. „Koja, ich wollte dich um etwas bitten…“ „Du möchtest schwarze Magie erlernen.“, bemerkte seine Großmutter alles andere als überrascht. Carsten nickte. „Ich weiß, dass es eigentlich verboten ist. Jedoch-“ Koja hob die Hand und brachte Carsten dadurch zum Schweigen. „Moralvorstellungen, das was erlaubt und was verboten ist, ist abhängig von der Zeit in der wir leben, Crow. Eben noch sagen die Menschen schwarze Magie gehöre verboten, da sie Blutopfer fordere. Doch im Krieg sagen sie plötzlich das Ausüben schwarzer Magie sei vollkommen legitim, da sie lediglich zur Selbstverteidigung diene. In unserer Welt gibt es zwei Arten von schwarzer Magie, wie es auch zwei Arten von Magie gibt. Zum einen die Zaubersprüche, wie sie die Dryaden immer verwendet haben. Zum anderen die Zeichen, die die Vampire benutzen. Ein guter Magier versteht es, Zaubersprüche und Zeichen zu vereinen und seine Magie dadurch nur noch mächtiger werden zu lassen. Ähnlich ist es bei der schwarzen Magie. Doch das Ausüben ihrer gleicht eher einem Ritual, in welchem bestimmte Regeln befolgt werden müssen.“ Carsten runzelte die Stirn. „Aber bei der normalen Magie gibt es solche Rituale doch auch.“ Koja verwarf diese Aussage mit einer Handbewegung. „Dieses bisschen kannst du nicht als Ritual bezeichnen, Crow.“ Ihre blass-lila Augen musterten Carsten. „Ich werde dich die Grundtechniken der schwarzen Magie lehren. Doch zu mehr bin ich leider auch nicht fähig. An unser Volk wurde weniger die schwarze Magie, sondern mehr die Metamorph Magie weitergegeben.“ Carsten schaute sie irritiert an. „Gestaltwandeln?“ Koja nickte. „Fähigkeiten, die über ein Ritual mithilfe der schwarzen Magie erweckt werden können. Doch leider sind das längst vergessene Bräuche und Sitten und selbst der Stamm der Sae hat dieses Wissen verloren.“ „Der Stamm der Sae?“ „Die Sippe, aus der auch deine selige Mutter einst stammte.“, erklärte Koja. Carsten seufzte. Also war Sae der Mädchenname seiner Mutter? Er wusste wirklich nichts über sie… „Koja… Was denkst du wie lange werde ich brauchen, um die Grundlagen der schwarzen Magie zu beherrschen?“ Seine Großmutter überlegte einen Moment. „Du bist ein sehr intelligenter Junge, Crow. Ich schätze, Ende August wärst du in der Lage sie zu perfektionieren, insofern du dich entsprechend bemühst.“ Bedrückt atmete Carsten aus. Er hatte sich nicht viel erhoffen können. Immerhin musste er die Grundlagen perfektionieren, um den Zauber oder eher dieses Ritual abändern zu können. Aber bis Ende August war immer noch mehr als ein halber Monat. Durfte er sich diese Zeit wirklich nehmen? Oder wäre es schlauer einen erfahrenen Meister zu bitten den Zauber zu sprechen? Koja schaute ihn mit warnenden Augen an. „Ich weiß, was du denkst, Crow. Leider gibt es keinen kürzeren Weg.“ Also hieß das bis Ende August schwarze Magie lernen. Auch wenn sich Carsten fragte, warum seine Großmutter so gut Bescheid zu wissen schien. Kapitel 59: Der Schwarzmagier ----------------------------- Der Schwarzmagier Der August ging schneller rum als gedacht. Die Mädchen verbrachten den Großteil ihrer Zeit mit Trainieren und als schließlich auch noch die Ferien zu Ende waren hatten sie neben Schule und Training eigentlich kein Leben mehr. Leider konnte Eagle ihnen dann auch nicht mehr groß helfen, da zur selben Zeit auch in Indigo die Schule wieder losging. Ja, Eagle ging noch zur Schule. Es war eine besondere Eliteschule in Indigo, in welcher neben der typischen schulischen Ausbildung auch eine Kampfausbildung stattfand. Vergleichbar mit der Coeur-Academy, nur speziell für Indigoner. Obwohl Eagle ähnlich wie Benedict die Kampfausbildung gar nicht mehr nötig hätte. Er tat es nur, da er es machen musste. Immerhin würde er eines Tages den Titel seines Vaters übernehmen. Ein Stammesführer ohne Schulabschluss kam für gewöhnlich nicht so gut an. Aber zum Glück machte Eagle in einem halben Jahr schon seinen Abschluss, dann hatte er endlich Ruhe. Schule war nie seine große Leidenschaft gewesen. Stundenlang in einem Raum eingesperrt zu sein und komische Sachen zu büffeln, die er später zum Großteil noch nicht einmal benötigen würde… Ätzend. Manchmal kam noch Öznur zu Besuch und sie verbrachten die Zeit gemeinsam. Aber trotzdem kannte seine Freundin den Teleportzauber immer noch nicht auswendig. Was für ein Kurzzeitgedächtnis. Na ja, Eagle war es gleich. Die Zeit mit Öznur war angenehm und er genoss sie in vollen Zügen. Zwar verbrachte Carsten seine Zeit ebenfalls in Indigo um von Koja schwarze Magie zu erlernen, doch Eagle bekam ihn fast nie zu Gesicht. Es war eine Seltenheit, ihm am Esstisch zu begegnen und meistens brannte noch bis spät in die Nacht in seinem Zimmer Licht. Eagle wollte überhaupt nicht wissen, wie übermüdet und abgemagert er inzwischen sein musste. Am ersten September -einem Sonntag- kam Carsten doch tatsächlich ins Speisezimmer und setzte sich zum Rest der Familie an den Frühstückstisch. „Crow, was für eine Ehre, dass du dich mal dazu herablässt uns einen Besuch abzustatten.“, spottete Sakura und fuhr sich durchs schwarze Haar. Carsten grüßte die Anwesenden lediglich mit einem schwachen „Guten Morgen.“ und nahm sich eine große Portion Rührei. Er war wirklich so übermüdet und abgemagert, wie Eagle vermutet hatte. Saya lächelte. „Dass wir alle gemeinsam gefrühstückt haben hatten wir schon lange nicht mehr.“ Ihr Kommentar löste in ihm Unbehagen aus. Das letzte Mal das sie gemeinsam gefrühstückt hatten war vor über sechseinhalb Jahren gewesen… Und zwar aus dem Grund, da Carsten für sechs Jahre das FESJ besucht hatte. Wofür Eagle verantwortlich war. Warum hatte er seinen kleinen Bruder die ganze Zeit nur so gehasst?!? Warum hatte er sich so strikt dagegen gewehrt ihn zu akzeptieren?!? Warum hatte er sich all die Zeit nur wie ein Arschloch ihm gegenüber benommen?!? „Eagle? Kannst du mir bitte die Kaffeekanne geben?“, riss Carstens Bitte ihn aus seinen Selbstvorwürfen. „Du trinkst Kaffee?“ Trotzdem reichte Eagle ihm die noch halb gefüllte Kanne. Ein Blick in sein übermüdetes Gesicht verriet Eagle, dass sein kleiner Bruder den Kaffee zumindest dringend brauchte um nicht direkt über seinem Frühstück einzuschlafen. Sakura legte den Kopf schief. „Du bist komisch, Bruderherz. Früher hättest du den Kaffee über ihn geschüttet.“ Verärgert funkelte Eagle seine kleine Halbschwester an, entschied sich aber dazu nichts darauf zu erwidern. Stattdessen wandte er sich Carsten zu. „Wie weit bist du?“ „Fertig, hoffe ich. Nachher möchte Koja mit mir noch ein Prüfungsritual durchführen und wenn das einwandfrei funktioniert bin ich immerhin kein Novize mehr.“ „So wie du aussiehst wirkt es eher so, als würdest du kurz vor einer Prüfung zum Erzmagier stehen.“, kommentierte Eagle den miserablen Anblick seines Bruders. Carsten lachte auf. „Schön wär’s.“ „Wie lange dauert so eine Ausbildung eigentlich?“, erkundigte sich Saya. „Koja meinte eine normale Ausbildung zum Schwarzmagier dauert etwa sechs Jahre. Wenn man sich wirklich ranhält könnte man es sogar in drei schaffen.“, antwortete Carsten. Eagle runzelte die Stirn. „Und du hast nicht mal einen Monat dafür gebraucht… Du bist echt nicht normal.“ „Du doch auch nicht.“, erwiderte sein kleiner Bruder mit einem leichten Hauch Sarkasmus. Eagle hatte den Eindruck etwas Kommunikation tat Carsten ganz gut. Immerhin hatte er die letzten drei Wochen nur gebüffelt um das zu lernen, was andere in mindestens drei Jahren packten. Der Junge war echt zu übertrieben intelligent und fleißig. „Weißt du was von den Mädchen aus der Akademie?“, fragte Carsten nach. Eagle zuckte mit den Schultern. „Alles wie gehabt. Von Benedict oder Jack haben wir seit jenem Vorfall auch nichts mehr gehört, jedoch…“ Eagles Schweigen schien Carsten zu verunsichern. „Jedoch was?“ Er seufzte. „Johannes scheint sich bereits in Mars‘ Fängen zu befinden.“ „Was?!?“ Carsten war aufgesprungen und das Geschirr klapperte. „Susanne ist täglich zu deren Haus gegangen um die Familie zu erreichen, sobald diese aus dem Urlaub zurückgekehrt ist. Leider ist uns Mars zuvorgekommen. Wie auch immer er von ihrem Aufenthaltsort erfahren hat… Jedenfalls hat er Johannes anscheinend während dieser Urlaubszeit schon entführt.“ „Verdammt!“ Carsten schlug auf den Tisch. „Crow, beruhige dich wieder.“, mahnte sein Vater mit strenger Stimme. Verbissen nahm Carsten wieder Platz, die Hand immer noch zur Faust geballt. „Als wäre es nicht schon schlimm genug.“ Eagle schnaubte. „Oh, es wird noch besser.“ Auf Carstens fragenden und alles andere als hoffnungsvollen Blick hin erklärte dieses Mal Chief: „Die letzten drei Wochen über sind viele wichtige Persönlichkeiten verschwunden, was die Herrscher über die anderen Regionen stark in Aufruhr versetzt hat. Anscheinend merken nun auch sie, dass etwas nicht stimmt. Jedenfalls wurde eine Krisenbesprechung einberufen. Sie findet heute Nachmittag statt.“ Carstens Augen weiteten sich vor Entsetzen. „So weit ist Mars inzwischen schon?“ Eagle nickte. „Er scheint sich die Köpfe der Regionen vorzunehmen, um diese dadurch aus ihrem Gleichgewicht zu bringen. Konrad spioniert ziemlich häufig in der Unterwelt. Das letzte was wir von ihm gehört haben war, dass Mars anscheinend eine recht große Streitmacht aus Unterweltlern aufbaut.“ Carsten schauderte. „Also hatte Koja recht, was den Krieg betrifft…“ „Hat sie deine Zukunft vorhergesagt?“, fragte Saya nach. Er nickte. „Sie sieht viel Schmerz und Leid kommen…“ Seufzend lehnte Eagle sich in seinem Stuhl zurück. „Klingt irgendwie nicht so, als könnte ich meinen Abschluss dieses Jahr noch in Ruhe machen… Falls ich ihn überhaupt je machen werde.“ Chief schaute seinen Sohn vorwurfsvoll an. „Solchen Pessimismus verbitte ich mir. Nicht umsonst werden wir heute Nachmittag auf diese Krisenbesprechung gehen. Die anderen Regionen müssen von dem Purpurnen Phönix erfahren, sodass wir gemeinsam einen Schlachtplan erstellen können.“ „Aber können wir ihnen überhaupt vertrauen?“, fragte Eagle kritisch. „Immerhin wird Mur insgeheim bereits von Mars regiert und in Terra scheint sein Einfluss auch groß. Wir können dank Lukas noch nicht einmal Yami trauen! Die einzige Region der ich gerade noch vertrauen könnte wäre Ivory!“ Warum eigentlich ausgerechnet die Schnulz-Region?!? Vielleicht, gerade weil sie so schwul war? Nein, Unsinn. Elben und Indigoner waren beide Nachfahren der Dryaden, welche im magischen Krieg ausgerottet wurden. Und diesen Krieg hatte Mars angezettelt. Also konnten die Elben wahrscheinlich genauso wenig was mit dem Dämon anfangen wie die Indigoner. Noch nicht einmal Spirit konnte Eagle vertrauen. Immerhin kamen die Vampire dort einst aus der Unterwelt, wo Mars zurzeit lebte. „Das ist mir durchaus bewusst.“, erwiderte sein Vater verbissen. „Doch wenn wir jetzt nichts unternehmen wird der Purpurne Phönix jede Region nach und nach an sich reißen. Selbst Ivory und Indigo.“ Eagle stöhnte auf. „Wie lästig.“ Nach dem Frühstück begleitete Eagle Carsten zu Koja. Er war neugierig, was sein kleiner Bruder in diesen drei Wochen so gelernt haben soll. Während Carsten alle möglichen Sachen für das Ritual vorbereitete, setzte sich Eagle zu Koja und beobachtete ihn dabei. Als alles an seinem Platz zu sein schien fragte seine Großmutter: „Für welchen Zauber entscheidest du dich?“ „Eine Art Observationszauber.“, antwortete Carsten. „Ich möchte ähnlich wie Eufelia-Sensei einst eine Wasseroberfläche benutzen, um damit jemand anderen zu beobachten.“ Eagle lächelte in sich hinein. Carsten wollte also wissen, was Benedict gerade so trieb. Nun ja, es war ja auch eine ziemlich krasse und gleichzeitig auch gefährliche Situation in welcher er sich befand. Da war schon klar, dass Carsten gerne wissen würde, ob es seinem besten Freund noch gut ging. Insbesondere, da er ihn seit einem Monat nicht mehr gesehen hatte. Eagle betrachtete die verzierte Tonschüssel in welcher sich klares Wasser befand. Sie stand auf einem Tisch vor ihm und auf der anderen Seite saß Carsten und zündete zwei Kerzen links und rechts von der Schüssel mit seiner Magie an. „Ich fang jetzt an.“, meinte er nur und begann einen Zauber zu sprechen. Es klang fast so wie ein Gebet, doch Eagle konnte keines der dryadischen Worte verstehen. Während er sprach hob Carsten seine linke Hand und schnitt mit einem kleinen Messer einen recht tiefen Schnitt in die Handfläche. Eagle verzog das Gesicht. Tolle Magie, in welcher man sich selbst verletzen musste. Immer noch diese Art Gebet-Zauber sprechend ließ Carsten sein Blut in die Schüssel tropfen. Das Wasser und das Blut vermischte sich automatisch und als es sich schließlich gänzlich im Wasser gelöst hatte klärte sich auf einmal das Bild. Neugierig beugte sich Eagle etwas vor, um es genauer betrachten zu können. Er sah einen Zelltrakt, in welchem sich vier Personen befanden. Ein Junge und ein Mädchen mit blonden Haaren saßen in den Zellen, während zwei erwachsene oder fast erwachsene Männer davor saßen. Eagle schaute etwas genauer hin. Bei den Kindern handelte es sich um Arianes kleine Schwester und Johannes und die zwei Typen waren Benedict und Jack. Und sie… spielten Karten? Jedenfalls legte Johannes just in diesem Moment die letzte Karte ab die er auf der Hand hatte und jubelte: „Juhuuu, gewonnen!“ „Schon wieder? Das ist schon das vierte Mal in Folge!“, empörte sich Jack und legte kurz darauf auch seine letzte Karte aus der Hand. Seufzend wandte er sich an Benedict. „Was ist das hier eigentlich? Du bist im Prinzip Mars‘ Sklave, weil du nicht möchtest, dass er deinen besten Freund und deine Geliebte tötet. Und diese zwei hier sind eigentlich Gefangene. Und trotzdem sitze ich hier mit euch und spiele Karten?!?“ „Du musst nicht, wenn du nicht möchtest.“, erwiderte dieser. Während nun auch Arianes kleine Schwester ihre letzte Karte ablegte, lachte Jack auf. „Aber irgendwie macht es Spaß euch zu beobachten. Du bist ziemlich unbeholfen im Umgang mit Kindern und trotzdem lieben sie dich.“ Benedict legte die letzten drei Karten die er noch in der Hand hatte auf den Boden. „Dafür kannst du erstaunlich gut mit Kindern umgehen.“ „Findest du? Blödsinn.“ Da tippte Johanna Benedict an. „Du, warum bist du eigentlich immer so ernst?“ „Da ich Mars‘ Sklave bin, um Laura und Carsten vor ihm zu schützen.“, antwortete er. Eagle verkniff sich bei dem leichten Hauch Sarkasmus ein Lachen, um das Ritual bloß nicht zu unterbrechen. Jack wiederum machte sich gar nicht erst die Mühe sein Lachen zu verbergen. „Ach was, du ziehst doch immer so ein Gesicht.“ „…Tu ich?“ „Nie bemerkt?“ Amüsiert boxte Jack ihm gegen den linken Arm, doch von Benedict kam keine Reaktion. Dafür verzog Jack das Gesicht. „Ich hab die Wunde getroffen, oder?“ „Hast du.“ „Darf ich sehen?“ Auf Jacks Bitte hin krempelte Benedict den Ärmel seines T-Shirts hoch. Eagle erkannte eine längliche Schnittwunde am Oberarm, die anscheinend so tief war, dass sie sogar genäht worden ist. Jack runzelte die Stirn. „Krass, dass die selbst nach drei Wochen noch nicht verheilt ist. Der Rest war nach drei Stunden völlig verschwunden.“ „Sie ist durch Zerstörungs-Energie entstanden.“, entgegnete Benedict. „Oha, du scheinst Mars ja ganz schön auf die Palme gebracht zu haben, wenn er dich sogar mit Zerstörungs-Energie angegriffen hat.“ „Was?!?“, rief Carsten erschrocken. Eagle schaute auf und beobachtete, wie sein kleiner Bruder voller Sorge und Angst ganz bleich geworden war und in die Schüssel blickte. Derweil schaute Benedict plötzlich mit einem kritischen Blick nach oben. Es war genau die Richtung, aus der sie die Gruppe durch den Wasserspiegel beobachteten. „Ist was?“, fragte Jack irritiert. „Ich dachte da wäre was.“ „Unsinn. Wirst du langsam schizophren?“ Jack lachte. Während Benedict den Kopf schüttelte wurde das Bild immer unklarer und der Zauber löste sich auf. Selbst die Kerzen löschten sich wie von selbst und hinterließen den Raum in einem dämmrigen Licht. Carsten fuhr sich mit der rechten Hand über die drei Narben auf seinem Gesicht und schien seine Gedanken zu sortieren. „Also ist Johannes wirklich bereits gefangen.“, bemerkte Eagle. Musste aber belustigt lächeln, als er daran dachte, dass die beiden Gefangenen mit Benedict und Jack Karten spielten. So schlimm schien es ihnen also nicht zu ergehen. „Aber warum ist Benni verletzt?“, fragte Carsten eher sich selbst. „Warum hat Mars ihn sogar mit der Zerstörungs-Energie verwundet? Das ergibt keinen Sinn, immerhin braucht Mars Benni allem Anschein nach lebend und bei guter Gesundheit.“ Eagle zuckte mit den Schultern. „So übel zugerichtet sah er doch gar nicht aus.“ „Aber Jack hat so etwas in der Art angedeutet gehabt!“, widersprach Carsten und die Sorge in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Hey, Benni ist hart im Nehmen. Dieser Kratzer mit Zerstörungs-Energie ist nichts, wenn man ihn mit den Brandwunden von Mars‘ Angriff vor fünf Monaten vergleicht.“, versuchte Eagle seinen kleinen Bruder zu beruhigen. Carsten seufzte bedrückt. „Du hast ja recht, aber trotzdem… Warum wurde Benni von Mars verletzt?“ „Mars ist ein teuflischer Dämon. Er braucht wahrscheinlich noch nicht einmal einen Grund.“, vermutete Eagle, beruhigte Carsten damit allerdings kein bisschen. Dennoch atmete er durch und versuchte, den Gedanken beiseite zu schieben. „Immerhin kommen Benni und Jack anscheinend gut miteinander klar.“ Eagle nickte. „Gerade für seine Verhältnisse geht er sehr offen mit jemandem um, den er erst seit ein bis zwei Monaten kennt.“ Daraufhin musste Carsten tatsächlich lächeln. „Sie sind sich nun mal sehr ähnlich…“ Schließlich schaute er seine Großmutter fragend an. „Habe ich bestanden? Immerhin habe ich am Ende versehentlich das Ritual unterbrochen.“ Koja machte eine wegscheuchende Geste. „Du hättest den Zauber ohnehin nicht mehr lange aufrecht erhalten können. Der Junge hat einen sehr guten Instinkt. Nur wenige bemerken solch einen Observationszauber.“ Eagle legte den Kopf schief. „Wie meinst du das?“ „Ein Observationszauber verliert seine Wirkung, wenn derjenige der beobachtet wird das irgendwie bemerkt.“, erklärte Carsten. „Es ist gut möglich, dass Benni bereits Verdacht geschöpft hat. Immerhin hatte Eufelia-Sensei früher auch hin und wieder so einen Zauber auf ihn gewirkt, er kennt also dieses Gefühl beobachtet zu werden, ohne dass irgendjemand in der Nähe ist.“ „Warum haben wir das nicht öfter zum Ausspionieren verwendet?“, fragte sich Eagle. „Du musst dafür die Person die du beobachten möchtest persönlich kennen. Je besser du sie kennst, desto besser funktioniert der Zauber. Daher wäre es schwierig, Jack oder Lukas zu beobachten. Oder gar Mars, den wir noch nie zuvor gesehen haben.“ „Wobei einen Dämon zu observieren eigentlich unmöglich ist.“, warf Koja ein. Irritiert musterte Eagle sie. „Woher weißt du eigentlich von allem?“ Koja schaute ihn mit einem wissenden Oma-Lächeln an. „Mein lieber Junge. Ich habe in diesem Jahr drei Mal die Magiesperre aufheben müssen. Zweimal weil mein Enkel, und einmal weil dessen bester Freund in Lebensgefahr schwebte. All die Jahre zuvor habe ich so etwas nie machen müssen. Denkst du wirklich, da hinterfrage ich nicht, was hier vor sich geht? Chief und Saya haben mir alles erklärt.“ Eagle lachte auf und betrachtete seine Großmutter genauer. Die dunkle ledrige Haut, die dunkelgrauen etwas längeren Haare, die blass-lila Augen, … Erst jetzt fiel Eagle auf, dass ihre Augenfarbe etwa in dieselbe Farbrichtung ging, wie Carstens. Warum hatte er diese Ähnlichkeit nicht früher bemerkt gehabt? „Woher kommt eigentlich eure Augenfarbe? Deine, Carstens und die von unserer Mutter?“ Immerhin hatten sie allesamt lila Augen. Auch in einer Welt mit Magiern und Kampfkünstlern war lila eigentlich keine geläufige Augenfarbe. Jedenfalls unter den Menschen und Indigonern nicht. Wie es bei den Elben war wusste Eagle nicht. Koja lächelte. „Das Lila bezeugt, dass wir aus einer sehr alten und machtvollen Familie stammen. Der Stamm der Sae hat schon seit Generationen viele der mächtigsten Magier hervorgebracht. Die lila Augenfarbe kennzeichnet die Magier.“ „Also war unsere Mutter auch eine Magierin?“, bemerkte Carsten überrascht. Auch Eagle hatte das bisher noch nicht gewusst. Koja nickte und wirkte leicht bedrückt. „Doch leider hielt sich ihre Macht stark in Grenzen. Wer weiß? Wäre sie stärker gewesen hätte sie dem Karystma vielleicht nicht unterliegen müssen.“ Mit einer Handbewegung brachte sie schließlich die Kerzen wieder zum Leuchten. „Crow, die Prüfung ist abgeschlossen. Du beherrschst nun offiziell die Grundlagen der schwarzen Magie.“ Sie zeigte auf seine linke Schulter. „Krempel den Ärmel hoch.“ Carsten tat wie geheißen. Eagle beobachtete, wie Koja die Hände wie zum Gebet faltete und auf Dryadisch irgendetwas zu singen begann. Er fragte sich, ob Carsten später auch solche Zauber würde singen müssen. Irgendwie stellte er sich das lustig vor. Auf einmal begannen die Kerzenflammen ungewöhnlich groß zu werden und zu flackern, sodass Eagle schon die Sorge hatte das Zelt würde abgefackelt werden. Doch seltsamer Weise passierte das nicht. Auf Kojas Handfläche tauchte ein Leuchten auf, als sie diese seitlich auf Carstens Schulter presste. Eagles kleiner Bruder verzog kurz das Gesicht und als Koja die Hand entfernte erkannte Eagle ein seltsam verziertes Pentagramm auf der Schulter eingebrannt. Doch die Brandwunde verheilte erstaunlich schnell und eine verhältnismäßig helle Narbe in Form dieses Pentagramms war alles, was davon übrigblieb. Als das Ritual offensichtlich beendet war meinte Eagle lediglich: „Ihr seid mir ein wirklich seltsames Völkchen. Kein Wunder, dass schwarze Magie heutzutage verboten ist.“ Carsten betrachtete das Zeichen auf seiner Schulter und seufzte schließlich. „Was man nicht alles macht um Mars besiegen zu können.“ Eagle lachte auf. „Ach was, es steht dir eigentlich ganz gut.“ Daraufhin verdrehte sein kleiner Bruder lediglich die Augen. „Jedenfalls steht mir das Zeichen, was bezeugt, dass ich etwas Verbotenes beherrsche. Juhu.“ „Ich hätte nie gedacht, dass du so ironisch und sarkastisch sein kannst.“, bemerkte Eagle amüsiert. Koja deutete auf das Zeichen. „Dadurch wirst du von anderen Schwarzmagiern als solcher anerkannt. Es wird sich also als hilfreich erweisen, wenn du nach Unterstützung für den Zauber suchst, der den Purpurnen Phönix bannen soll.“ „Du weißt ja echt über alles bescheid.“, bemerkte Eagle. Seine Großmutter war gruselig. Diese grinste ihn lediglich wieder mit ihrem Oma-Lächeln an. Nach diesem seltsamen Prüfungsritual-Ding widmete sich Eagle seinem Training und am Nachmittag ging er mit Carsten und Chief zu dieser komischen Krisenbesprechung. Sie fand recht zentral von Damon in Lumiére statt und die höchsten Tiere der Regionen waren anwesend. Außer von Mur und Terra, wie Eagle amüsiert feststellte. Anscheinend vertraute man ihnen bereits so wenig, dass man sie nicht auf dieses Treffen eingeladen hatte. Falls sie überhaupt davon wussten, was sogar zu bezweifeln war. Die meisten Vertreter der Regionen kannte Eagle überwiegend nur vom Sehen durch die Abendgesellschaften. Immerhin Sultana kannte er persönlich, welche gemeinsam mit ihrer Tochter Anne gekommen war. Auch Leon Lenz war mit Frau und Tochter da, aber von Lukas fehlte jede Spur. Offensichtlich hatte Laura Carsten diese drei Wochen ziemlich vermisst gehabt, denn kaum erblickte sie ihn, kam sie auch schon angerannt und fiel ihrem besten Freund um den Hals. Carsten, immer noch ziemlich erschöpft, taumelte etwas zurück, als er Laura auffing. „Nicht so stürmisch.“, meinte er nur belustigt. Doch an seiner Stimme konnte man deutlich hören, wie fertig er war. Besorgt musterte Laura ihn. „Du siehst gar nicht gut aus…“ Carsten seufzte. „Ich fühle mich auch nicht gut. Ich möchte einfach nur noch schlafen.“ „Du hättest wirklich nicht mitkommen müssen.“, meinte Eagle und betrachtete seinen kleinen Bruder. Als hätte er sich nach seiner Prüfung noch mal schlafen gelegt. Schön wär’s gewesen. Stattdessen hatte er sich direkt mit Konrad und Florian abgesprochen und einen Plan geschmiedet, wie sie nun den Bannzauber am besten umschreiben könnten. Auch Anne war inzwischen bei ihnen. „Hat dieses ganze Unterfangen jedenfalls was gebracht?“ „Ich will es hoffen.“, erwiderte Carsten. „Nach dem Treffen setze ich mich mit Konrad und Florian zusammen. Wir wollten uns gemeinsam einen ersten Eindruck von dem Zauber verschaffen. Vielleicht kommen wir direkt auf eine Idee ihn zu ändern, ohne einen Erzmagier fragen zu müssen.“ „Muss das noch heute sein? Du gehörst ins Bett. Und zwar dringen.“, merkte Eagle besorgt an, doch Carsten schüttelte den Kopf. „Mars hat nun auch schon Johannes in seiner Gewalt. Wir haben keine Zeit mehr.“ Eagle seufzte. Seinem kleinen Bruder war einfach nicht zu helfen. Nach und nach kamen auch die restlichen Repräsentanten der verschiedenen Regionen an. Der König von Ivory war ebenfalls wie Leon Lenz gemeinsam mit seiner Frau und Tochter da, doch auch Florian begleitete sie. Der Senatsvorstand der Vampire war gemeinsam mit Konrad gekommen. Selbst Jacob und Samira Yoru waren da. Eagle war überrascht, wie viel Ansehen die Yorus anscheinend immer noch hatten, obwohl sie seit bald 180 Jahren schon nicht mehr regierten. Als alle die erwartet wurden angekommen waren, setzten sie sich an einen gigantischen runden Tisch. Die Vertreterin des Volkes von Lumiére ergriff als erste das Wort. „Ich danke Ihnen, dass Sie alle die Zeit finden konnten sich heute hier einzutreffen. Hiermit übertrage ich den Vorsitz offiziell an Herrn Yoru.“ Eagle runzelte die Stirn. Echt? Der Yoru-Clan war immer noch so angesehen, dass Jacob den Vorsitz über dieses Krisentreffen übernahm? Nun gut, seine Familie hatte früher zusammen mit den Dryaden über den ganzen Kontinent geherrscht und sie war es auch, die Mars beim Magischen Krieg aufgehalten hatte. Aber gerade von zweitem dürfte eigentlich kaum jemand etwas wissen. Und trotzdem schien man ihn sehr zu achten. Jacob stand auf und deutete eine knappe Verneigung an. „Dann wollen wir direkt zu dem Grund der heutigen Versammlung kommen: Die Ursache für das Verschwinden wichtiger Volksvertreter. Da noch nicht jeder einen vollständigen Überblick über die aktuelle Situation hat, erlaubt mir bitte die genaueren Umstände zu schildern.“ Jacob lieferte eine ziemlich ausführliche Erklärung über Mars ab und Eagle fragte sich direkt wieder, ob sie allen Anwesenden hier vertrauen konnten. Andererseits fehlten ja die üblichen Verdächtigen bereits, also schien man sich davor schon Gedanken über mögliche Verräter gemacht zu haben. Wer auch immer diese Versammlung eigentlich einberufen hatte. Nachdem Jacob geendet hatte wusste jeder über den wahren Verursacher des Magischen Krieges Bescheid und dass der Bann welcher ihn in der tiefsten Schlucht der Unterwelt gefangen hielt inzwischen besorgniserregend schwach war. Die Einzelheiten über die Dämonenverbundenen oder auch die große Schwäche des Bannes ließ er allerdings aus. Nachdenklich legte Leon Lenz die Fingerspitzen aufeinander. „Sie wollen uns also sagen ein Dämon, der auch noch über die Zerstörung herrscht, droht damit unsere ganze Welt zu vernichten?“ „So ist es.“, entgegnete Jacob und nahm wieder auf seinem Stuhl platz. „Verzeihen Sie, aber es fällt mir schwer dies zu glauben.“, meldete sich der Vertreter von Eau zu Wort. „Haben Sie denn Beweise?“ „Sie können sich gerne die Tagebücher von Coeur durchlesen.“, antwortete er und wies auf Konrad. „Oder Sie vertrauen auf Zeugenaussagen.“ „Warum sollten wir einem Vampir, der gleichzeitig auch noch mit den Dämonen zu schaffen hat trauen?“ Die Vertreterin von Lumiére schien nicht so gut auf Vampire oder Dämonenverbundene zu sprechen zu sein. Der König von Ivory ergriff das Wort. „Der junge Mann hat bereits sehr viel für uns über den Purpurnen Phönix in Erfahrung gebracht und in diesem Unterfangen sich selbst in große Gefahren begeben. Ansonsten hätten wir dieses Treffen heute nicht organisieren können, da wir in Gefahr gelaufen wären mögliche Verräter einzuweihen.“ Das war immerhin eine Antwort auf Eagles Sorge, dass sich unter ihnen Spitzel von Mars befinden könnten. Konrad schien ziemlich häufig in der Unterwelt spioniert zu haben, wenn er sogar so genau wusste, wer ihnen alles hätte gefährlich werden können. Nicht schlecht. „Also soll ich diesem Vampir glauben, dass mein Neffe zu besagten Verrätern gehört?“ Es war nicht übersehbar, dass Leon Lenz diese Information über Lukas deutlich missfiel. „Er ist mit einer der aktivsten von Mars‘ Untergebenen.“, erwiderte Konrad und deutete auf Laura. „Wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann vielleicht eher ihrer Tochter.“ Leon schaute seine Tochter mit einem nahezu unheimlichen Blick an. „Woher soll sie davon wissen?“ Eingeschüchtert von diesem Blick schwieg Laura. „Wir haben schon öfter gegen Lukas kämpfen müssen.“, ergriff Eagle für sie das Wort. „Wenn Sie uns immer noch nicht glauben, können Sie auch gerne Anne, Florian oder Crow fragen.“ Es war seltsam plötzlich Carstens offiziellen Namen zu verwenden. Aber bei einem Treffen unter den höchsten Tieren Damons gehörte das zum guten Ton dazu. Leon beäugte die genannten Personen kritisch. „Ich kann Ihnen wirklich immer noch nicht glauben. Aber vertagen wir dies lieber vorerst. Ich werde entsprechend der Forderungen meinen Neffen nicht einweihen.“ Der Senatsvorstand der Vampire nickte. „Ich danke Ihnen vielmals für Ihr Verständnis. Die Geheimhaltung der Informationen in dieser Zusammenkunft hat höchste Priorität. Daher bitte ich Sie alle, niemanden der heute nicht hier anwesend war darüber zu unterrichten.“ Die restlichen Anwesenden nickten lediglich. Nachdenklich stützte Annes Mutter Sultana ihr Kinn auf den Händen ab. „Ich stelle die Richtigkeit dieser Informationen in keinster Weise infrage, doch warum sollte der Purpurne Phönix ausgerechnet jetzt eine Gefahr für uns darstellen? Er ist nun schon seit über 179 Jahren in dieser tiefsten Schlucht gebannt und obwohl der Bann geschwächt ist, scheint er dennoch intakt zu sein.“ Herr Yoru nickte. „Das stimmt, jedoch hat der Bann eine gravierende Schwachstelle.“ Laura runzelte die Stirn. „Eine Schwachstelle?“ Eagle beugte sich zu Carsten rüber. „Du hast es ihnen nicht gesagt?“ „Du doch auch nicht.“, flüsterte Carsten zurück. „Ja, da ich dachte du machst das.“ Carsten seufzte. „Ich wollte, aber irgendwie habe ich es nicht übers Herz bringen können. Ich weiß nicht, wieso. Und danach war ich sowieso mit Lernen beschäftigt, da hatte ich es ganz vergessen, dass der Rest noch nicht Bescheid weiß.“ Erst jetzt fiel den Brüdern auf, dass die restlichen Gespräche im Raum aufgehört hatten. Jacob wies auf Carsten. „Würdest du ihnen bitte von der Schwachstelle erzählen?“ „N-natürlich.“ Carstens Wangen färbten sich bei der plötzlichen Aufmerksamkeit rötlich. Eagle lachte in sich hinein. Er war immer noch so schüchtern wie früher. Dennoch konnte Carsten seine Gedanken beisammenhalten und begann zu erklären: „Das Problem bei dem Bann war, dass er von drei Leuten errichtet wurde, die alle irgendwie miteinander ‚verwandt‘ waren. Leonhard und Coeur waren zwar nicht offiziell liiert, hatten jedoch trotzdem ein gemeinsames Kind. Und da Eufelia Coeurs kleine Schwester war, hatte dieses Kind im Prinzip auch etwas von ihrer DNA. Mithilfe des Erben des Yoru-Clans wird Mars also in der Lage sein, den Bann brechen zu können.“ „Was?!?“, rief Laura erschrocken auf und schaute Carsten schockiert an. Sie hatte es wirklich noch nicht gewusst. „Das ist ein Witz, oder?“, äußerte sich Anne und klang alles andere als begeistert. „Aber selbst wenn, warum gerade jetzt?“, fragte Sultana. „Er hätte sich jede Generation aussuchen können.“ Jacob schüttelte den Kopf. „Für das Brechen des Bannes ist es notwendig, dass die entsprechende Person eine antike Begabung besitzt. Doch bis inklusive meiner Generation gab es keinen Erben des Yoru-Clans mehr, der antik begabt war.“ Der Vertreter von Eau seufzte. „Dann sollten Sie beide also keine Nachkommen zeugen, so hart es auch klingen mag.“ Leon Lenz gab ihm mit einem Kopfnicken recht. „Das wäre am besten für ganz Damon. Verzeihen Sie, Frau Yoru. Ich weiß, dass sie bereits schwanger sind. Aber dieses Kind könnte eine Gefahr für die ganze Welt darstellen.“ „Ihr seid schwanger?“, erkundigte sich die Vertreterin von Lumiére und atmete bedrückt aus. „Dann ergibt es Sinn, dass der Purpurne Phönix jetzt aktiv wird. Mit der Geburt des Kindes könnte er, insofern es eine antike Begabung besitzt, tatsächlich den Bann brechen.“ Eagle runzelte die Stirn. Wovon zum Henker redeten die denn da? Ach so, außer ihrer Gruppe wusste ja kaum jemand, dass Benedict Samiras und Jacobs Sohn war. Natürlich dachte der Rest dann, dass das Kind mit dem Samira eben schwanger war auch gleichzeitig das Erstgeborene sein würde. Jacob schüttelte den Kopf und legte beruhigend eine Hand auf die Schulter seiner Frau, die bei den Worten der anderen Vertreter der Regionen einen leicht verärgerten Blick bekommen hatte. „Dieses Kind ist nicht der Erbe des Yoru-Clans.“, meinte Jacob nur. „Wie meinen Sie das?“, fragte Sultana kritisch. „Wir haben bereits einen 17-jährigen Sohn.“, erklärte Samira. „Er ist nur nicht bei uns aufgewachsen, da man uns bereits sagte, dass der Purpurne Phönix es auf ihn abgesehen haben könnte. Jedoch wussten wir damals nichts davon, dass sich der Bann mit ihm brechen ließe.“ „Sie haben bereits einen Sohn?“ Auch Leon Lenz schien noch nichts über Benedict zu wissen. Eigentlich machte es inzwischen keinen Unterschied mehr, ob jeder wusste, dass er der Erbe des Yoru-Clans war oder nicht. Mars hatte ihn ja ohnehin schon in seiner Gewalt. Dasselbe schien sich auch Jacob zu denken, der auf Leons Frage hin antwortete: „Ja, haben wir. Einige von Ihnen dürften ihn sogar persönlich kennen, allerdings unter dem Namen Benedict Ryū no chi.“ Leons Augen weiteten sich vor Überraschung. „Wie bitte?“ Eagle bemerkte, wie Laura ein Kichern zu unterdrücken versuchte. Und auch er selbst und Carsten mussten über Leon Lenz‘ Verwunderung lächeln. Immerhin hatte er Benedict ziemlich häufig ziemlich schlecht behandelt, da er ihn für einen ‚Waldläufer ohne Identität‘ gehalten hatte und einfach nicht leiden konnte. Sultana schaute ihre Tochter fragend an. „Benedict ist der Erbe des Yoru-Clans? Wirklich?“ Anne nickte. „Und er besitzt eine antike Begabung für das Physische.“, ergänzte der Senatsvorstand der Vampire. Leon Lenz atmete geräuschvoll aus. „Er ist der Erbe des Yoru-Clans… Unglaublich.“ Er schaute seine Tochter fragend an. „Wusstest Du davon?“ Laura nickte. „Seit April. Davor wusste es noch nicht einmal er selbst.“ „Das stimmt.“, gab Samira ihr recht. „Um zu vermeiden, dass man ihn als unseren Sohn enttarnt mussten wir leider jeglichen Kontakt zu ihm vermeiden.“ „Unfassbar…“ Frau Lenz hatte die Hände über dem Herzen gefaltet. „Aber das bedeutet doch, dass wir verhindern müssen, dass er dem Purpurnen Phönix in die Hände fällt.“, stellte Sultana fest. „So wie ich gehört habe ist er ein sehr guter Kämpfer. Das dürfte sich also als nicht sehr problematisch darstellen.“ Konrad seufzte. „Leider sind uns in dem Punkt die Hände gebunden. Mars hat Benni bereits in seiner Gewalt.“ „Wie bitte?!“, rief der König von Ivory geschockt und ein angeregtes Raunen ging durch die Gesellschaft. Eagle hörte häufiger ein ‚Das kann nicht sein.‘ oder ‚Wie konnte das passieren?‘ heraus. Nach einer Weile rief Jacob plötzlich mit kraftvoller Stimme: „Ich bitte um Ruhe.“ Sofort wurde es still. Beeindruckt musterte Eagle ihn. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass diese autoritäre, charismatische Ausstrahlung innerhalb des Yoru-Clans weitervererbt wurde. Nur wenige konnten in so einer Situation sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden gewinnen. Kein Wunder, dass er den Vorsitz übernehmen sollte. Jacob schaute Carsten auffordernd an. „Ich denke es ist besser, sie wissen Bescheid.“ Dieser nickte nur bedrückt. „Der Purpurne Phönix hat Benni nicht direkt mit Gewalt entführt, vielmehr hat er ihn erpresst.“ Leon musterte ihn kritisch. „Womit sollte man ihn bitteschön erpressen können?“ Carsten atmete tief durch. „Mit Lauras und meinem Tod.“ Nachdem eine geraume Zeit absolutes Schweigen geherrscht hatte, meinte Leon Lenz schließlich: „Das ist absurd. Benedict hat nie in seinem Leben Gefühle gezeigt. Warum sollte er sich also damit erpressen lassen?“ „Er hat sich geändert.“, widersprach Laura ihrem Vater. „Und als Kind hatte er sehr wohl Gefühle gezeigt.“ Carsten legte seiner besten Freundin die Hand auf den angespannten Arm. „Es ist vollkommen gleich, ob sich Benni hat erpressen lassen und warum das überhaupt möglich ist. Der Punkt ist, dass er sich gezwungener maßen bei Mars befindet und uns von dort aus nur indirekt unterstützen kann, indem er irgendwie versucht Zeit zu schinden.“ „Zeit für was?“, fragte der Vertreter von Cor. „Einen neuen Bannzauber.“, antwortete Carsten. „Die Grundlagen dafür haben wir bereits, wir brauchen nur noch etwas Zeit, um ihn entsprechend formulieren zu können.“ „Und das sollen wir einem Kind anvertrauen?“, fragte der Vertreter von Eau kritisch. „Ich bin eher darüber überrascht, dass gerade die hier anwesenden Kinder anscheinend bereits sehr in dieser Situation verstrickt sind.“, merkte die Vertreterin von Lumiére an und musterte insbesondere Laura und Carsten. „Warum habt ihr euch nicht sofort an die Erwachsenen gewandt?“ Florian lächelte amüsiert. „Bisher kommen sie eigentlich sehr gut mit der Situation klar, obwohl sie noch nicht volljährig sind.“ „Das merkt man, wenn man bedenkt, dass der Purpurne Phönix offensichtlich schon die Person in seiner Gewalt hat, die er benötigt um den Bann zu brechen.“, spottete Leon Lenz. Nun ergriff Eagles Vater das Wort. „Denken Sie, Sie oder irgendeiner der anderen Anwesenden hätte dies verhindern können?“ „Wir hätten uns zumindest untereinander beraten können.“, erwiderte der Vertreter von Eau und wirkte leicht gereizt. „Oh ja, beraten. Reden könnt ihr gut.“, murmelte ausgerechnet Laura leise vor sich hin. „Wie bitte?!“ Leon Lenz schaute seine Tochter mit einem warnenden Blick an, der sagte, dass sie jetzt besser nichts Falsches antworten solle. Laura schien vergessen zu haben, dass sie eigentlich viel zu schüchtern für solche Aktionen war. Stattdessen ballte sie die Hand zur Faust und stand auf. „Ich möchte ehrlich mit Ihnen allen hier sein: Was hätten Sie denn anderes machen können als sich zu beraten? Benni ist sehr schlau und handelt immer mit viel Bedacht. Noch dazu wurde tatsächlich eine erwachsene Person von ihm eingeweiht, nämlich Herr Bôss, welcher auch keine bessere Alternative hatte vorschlagen können. Glauben Sie ernsthaft, Sie wären auf eine gute Idee gekommen?“ „Junge Dame, ich verstehe Ihre Beweggründe diesen jungen Mann in Schutz zu nehmen.“, erwiderte die Vertreterin von Monde, die bisher geschwiegen hatte. „Und es ehrt Sie, so ehrlich zu uns zu sein und klar und deutlich Ihre Meinung zu sagen. Jedoch, so herzlos es nun auch klingen mag, die Alternative Sie und Crow sterben zu lassen wäre für das Wohl der Welt die bessere gewesen.“ Nun sprang auch Carsten auf. „Zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht einmal etwas von dieser Schwachstelle!“, rief er aufgebracht. Jacob hob beruhigend die Hände. „Es ist alles gut ihr zwei. Setzt euch erstmal wieder.“ Widerwillig nahmen Laura und Carsten wieder platz, dafür stand Florian auf. „Darf ich?“ Jacob nickte. Florian wandte sich an den Rest. „Um eins klar zu stellen: Innerhalb weniger Monate sind bereits zwei Leute die Benni sehr nahestanden vor seinen Augen verstorben, genauer ermordet worden. Denken Sie wirklich, da würde er den Tod der beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben verkraften?“ „Sie hätten sich für das Wohl der Welt geopfert.“, widersprach die Vertreterin von Lumiére und so langsam wollte Eagle ihr eine reinhauen. „Und danach?“, warf Konrad ein. „Glauben Sie wirklich, dass der Purpurne Phönix bei Lauras und Carstens Tod aufgehört hätte? Viel mehr wären es dann doch Herr und Frau Yoru oder Rina und ich, die er als nächstes ins Visier genommen hätte. Irgendwann knickt jeder ein.“ „Sie dürften doch eigentlich genug Erfahrungen damit gemacht haben.“, ergänzte Florian und klang unheimlich gereizt und verärgert. „Wer hatte es bitteschön veranlasst, die kleine Schwester des ehemaligen Besitzers des Weißen Hais zu töten? Wer hatte den fünf Jahre alten Sohn des ehemaligen Besitzers des Schwarzen Löwen entführen lassen, damit dieser sich für dessen Leben opferte? Welche Region hatte es auf ein noch nicht mal fünf Jahre altes Mädchen abgesehen, nur weil diese die Besitzerin des Roten Fuchses war?“ Eagle meinte, etwas Energie zu spüren, die von Florians Körper ausging und erkannte tatsächlich eine leicht türkisfarbene Aura um den Elben. Okay, er war nicht nur gereizt und verärgert, er schien ziemlich angepisst zu sein. Eagle erinnerte sich, dass Florian bei der Verfolgung der Dämonenbesitzer ziemlich unangenehm darin verstrickt gewesen war. Hatte man ihn nicht gefangen genommen, da er den Köder gespielt hatte um diese kleine ehemalige Besitzerin des Roten Fuchses zu retten? „Was wollen Sie damit sagen?“, fragte die Vertreterin von Lumiére und klang alles andere als erfreut. „Bevor Sie Benni wegen seiner Entscheidung verurteilen und sagen, die zwei hätten sich zum Wohle der Welt opfern sollen, sollten Sie erst einmal vor ihrer eigenen Haustür kehren. Sie haben die ehemaligen Dämonenbesitzer in den Tod getrieben und zwar mit Taten, die nicht gerade besser waren als das, was der Purpurne Phönix Benni angetan hat.“ „Du willst also damit sagen, dass wir nicht besser sind, als der Purpurne Phönix?!“, donnerte Leon Lenz und vergaß sogar seine guten Manieren. Auch viele der restlichen Politiker äußerten sich empört über diese Anschuldigungen. Insbesondere die, deren Regionen indirekt angeklagt wurden. Irgendwie mochte Eagle es, wie hier auf einmal die Post abging. Er hatte schon befürchtet, dass dieses komische Krisentreffen nur in langweiligem Blabla enden würde. Doch so, wie die sich hier gegenseitig anzickten… Belustigt beobachtete er, wie Florian ruhig und bedrohlich darauf erwiderte: „Genau das will ich damit sagen.“ „Hey, Flo.“ Konrad, der neben Florian saß, zog ihn auf den Stuhl zurück und stand selbst auf. „Bitte vergessen Sie diese Unterbrechung. Sie wissen sicher noch, dass Florian vor zwölf Jahren keine allzu guten Erfahrungen mit den damaligen Herrschern über die Regionen und den Verfolgern der Dämonenbesitzer machen durfte. Dieser Schmerz aus der Vergangenheit hat ihn eingeholt und nicht mehr klar denken lassen.“ Tatsächlich beruhigten Konrads Worte die verärgerten Politiker. Schade. Eagle hätte gerne noch etwas mehr Unterhaltung gehabt. „Aber das ist auch eine gute Überleitung zu dem Punkt, den wir noch bei Ihnen ansprechen wollten.“, ergänzte Konrad. „Die aktuellen Dämonenbesitzer benötigen freie Hand zum Handeln. Es geht nicht, dass sie insgeheim immer noch so gefürchtet werden.“ „Wie meinen Sie das?“, fragte der Vertreter von Cor. Konrad schaute Carsten an. „Dieser junge Mann entwickelt gerade einen Zauber, der Mars erneut bannen soll. Dafür werden allerdings die Kräfte der Dämonenbesitzer benötigt. Aller Dämonenbesitzer. Es wäre uns eine große Hilfe, wenn Sie es in die Wege leiten könnten, den aktuellen Besitzern mehr Freiraum zu lassen. Noch lebt der Großteil von ihnen im Verborgenen, in der Sorge, dass ihnen dasselbe wie ihren Vorgängern passiert. Aber gerade jetzt, wo der Purpurne Phönix in Aktion tritt, werden die Regionen mehr und mehr auf sie angewiesen sein.“ Der Vertreter von Eau schaute Konrad fragend an. „Kennen Sie die aktuellen Dämonenbesitzer denn?“ „Fast alle.“, antwortete er. Die Vertreterin von Lumiére seufzte. „Es stimmt schon, gegen einen Dämon werden wohl nur die Dämonen etwas ausrichten können.“ „Wenn ich fragen darf: Wer sind denn die Besitzer der restlichen Dämonen?“, erkundigte sich die Vertreterin von Monde. „Sie dürfen fragen, ich antworte allerdings nicht.“, erwiderte Konrad. „Bitte verzeihen Sie meine Vorsicht, doch nach dem was vor über zwölf Jahren passiert ist, möchte ich gerade im Sinne der anderen Dämonenbesitzer noch auf Nummer sicher gehen. Es reicht, wenn Sie wissen, dass Florian und ich vorerst als Vermittler dienen.“ Der Vertreter von Cor nickte. „Das ist durchaus nachvollziehbar. Wenn Sie irgendetwas benötigen, wenden Sie sich an uns.“ „Vielen Dank.“ Die Versammlung zog sich noch mehrere Stunden in die Länge und Eagle hätte sich am liebsten einfach nur schlafen gelegt. Verdammt, war das langweilig. Er fragte sich, wie Carsten mit dem wenigen Schlaf, den er in diesen drei Wochen gehabt hatte, jetzt noch wach bleiben und zuhören konnte. Am Abend war die Versammlung endlich fertig und da es sowieso schon dunkel war, beschlossen Florian, Eagle und auch Konrad den Rest unbemerkt in die Coeur-Academy zu begleiten. Dort angekommen wurden sie erfreut von den übrigen Mädchen empfangen. „Eagle!“, rief Öznur begeistert und überfiel ihn mit einem stürmischen Kuss. Amüsiert erwiderte Eagle den Kuss. Er mochte es, wie sich Öznur immer so zu freuen schien ihn zu sehen. Anschließend grüßte er den Rest der Mädchen. „Wie war die Versammlung?“, erkundigte sich Susanne. Anne schnaubte. „Wie erwartet: Todlangweilig. Und so wirklich gebracht hat sie auch nichts. Diese Politiker können nichts anderes, als reden.“ Sie versammelten sich im Dreierzimmer von Lissi, Susanne und Öznur, da dort am meisten Platz war und erzählten etwas von der Versammlung. „Und eigentlich sollten wir doch niemand Außenstehenden einweihen.“, bemerkte Florian belustigt. Konrad schüttelte lachend den Kopf. „Damit hatte der Senatsvorstand nur die restlichen Leute gemeint gehabt. Ich hatte davor sogar die offizielle Erlaubnis bekommen, euch im Nachhinein von allem zu erzählen.“ Eagle seufzte. „Dann hätte ich ja doch schwänzen können.“ „Schande über dich als zukünftiger Häuptling.“, spottete Anne. „Laura und ich waren immerhin auch da. Der einzige, der das Recht gehabt hätte zu schwänzen wäre Carsten, da er nur der Zweitgeborene ist.“ „Wie sieht es eigentlich aus mit der schwarzen Magie?“, erkundigte sich Susanne. Lissi grinste. „Bist du nun der mysteriöse, sexy Schwarzmagier?“ Carsten verdrehte die Augen und krempelte den linken Ärmel seines kurzärmligen Hemdes hoch. „Jedenfalls bin ich ein offizieller Schwarzmagier.“ Laura betrachtete das Pentagramm kritisch. „Wurde dir das eingebrannt?“ Carsten nickte. „Angeblich werde ich dadurch von anderen Schwarzmagiern anerkannt.“ „Wirst du. Herzlichen Glückwunsch.“ Konrad lächelte ihn aufmunternd an. „Hast du so was eigentlich auch?“, fragte Öznur. Der Vampir nickte. „Ja, damals wurde das in der Unterwelt noch offiziell von Privatlehrern beigebracht. Aber ich benutze schwarze Magie kaum und inzwischen ist mein Wissen darüber ein bisschen eingerostet.“ Florian runzelte die Stirn. „Von wegen eingerostet. Damals im Krieg hast du doch mit deiner Energie andauernd das Blut von Elben absorbiert gehabt und damit dann schwarze Magie gewirkt. Das war echt unfair von dir, weißt du das?“ Konrad grinste daraufhin lediglich. „Ach, das wollten wir euch schon seit einer Weile fragen.“, merkte Susanne an. „Könnt ihr uns von dem Krieg zwischen den Elben und Vampiren erzählen?“ „Ihr wisst davon?“, fragte Konrad irritiert. Laura nickte. „Damals bei dem Fest in Ivory hatte uns Florians kleine Schwester davon erzählt.“ Florian fuhr sich durch die etwas längeren blonden Haare. „Was wollt ihr denn wissen?“ „Wie habt ihr ihn beenden können?“, fragte Janine. „Flora meinte damals, dass ihr nicht ganz untätig bei dem Ende des Krieges gewesen wärt.“ Daraufhin mussten sowohl Konrad als auch Florian plötzlich lauthals loslachen und brauchten einige Minuten, um sich wieder einzukriegen. Verwirrt aber irgendwie auch belustigt beobachteten Eagle und die anderen die zwei, die sich an gute alte Zeiten zu erinnern schienen. Schließlich erbarmte Konrad sich dazu, ihnen davon zu erzählen. Er wischte sich eine Träne aus den Augen und meinte: „Es war jedenfalls kein: ‚Oh, du bist ein Dämonenbesitzer genauso wie ich? Prima, lass beste Freunde werden!‘ Falls ihr euch das erhofft habt.“ „Was war es dann?“, fragte Eagle und war inzwischen auch neugierig geworden. Florian zuckte amüsiert mit den Schultern. „Es war eher ein: ‚Okay, du bist ein Dämonenbesitzer genauso wie ich. Endlich mal ein Gegner, der auf meinem Level kämpft.‘“ Konrad nickte. „Man könnte sagen wir waren beide für dieses Schlachtfeld etwas zu ‚überpowert‘. Ich glaube, einige Elben hassen mich immer noch dafür, dass ich viele aus ihren Reihen getötet habe. Aber Florians Ansehen bei den Vampiren ist nicht gerade besser.“ „Ihr habt euch wirklich bekriegt?“, fragte Janine und war leicht schockiert. Florian nickte. „Niemand von uns hatte diesen Krieg hinterfragt. Jeder hat die andere Seite als ‚die Bösen‘ angesehen. Obwohl im Endeffekt niemand wirklich gut oder böse war, wir haben einfach alle Mist gebaut gehabt.“ Anne runzelte die Stirn. „Irgendwie kann ich mir euch beide nicht wirklich aktiv kämpfend in einem Krieg vorstellen.“ „Ich auch nicht.“, gab Eagle ihr Recht. Okay, bei Konrad ging es noch. Er konnte sich schon vorstellen, dass der Vampir ziemlich gefährlich werden konnte. Aber Florian? Klar, er hatte einiges auf dem Kasten und konnte auch sehr bedrohlich sein, wenn er wollte. Das hatte Eagle sogar am eigenen Leib mal zu spüren bekommen. Aber in einem Krieg? „Und ihr habt euch wirklich bis aufs äußerste bekämpft?“, fragte Carsten. Konrad nickte belustigt. „Ich hätte Flo damals fast umgebracht.“ „Umgebracht? Mich?“ Empört verschränkte Florian die Arme vor der Brust. „In wenigen Minuten hätte dich die Sonne verbrutzelt und durch meine Ranken konntest du dich nicht mehr bewegen.“ „Pah, bis dahin wärst du doch schon längst verblutet.“ Herausfordernd grinste Konrad ihn an und zeigte dadurch seine spitzen Vampireckzähne. Eagle konnte nicht anders, als bei dem Schlagabtausch der beiden loslachen zu müssen. Es hatte also in einem Unentschieden geendet. Anne hob eine Augenbraue. „Und in dem Moment habt ihr bemerkt, dass der Krieg eine blöde Idee war?“ Konrad zuckte mit den Schultern. „So kurz auf der Schwelle vor dem Tod merkt man so einiges.“ „Aber ich muss gestehen, der Kampf gegen dich hat echt Spaß gemacht. Außer der Tatsache, dass wir fast gestorben wären.“ Florian lachte. „Und dann seid ihr auf einmal beste Freunde fürs Leben geworden?“, fragte Öznur ebenfalls lachend. „Fast.“, meinte Konrad. „Wir haben schon im Kampf gemerkt, dass wir uns eigentlich nicht wirklich hassen. Aber er war ein Elb und ich war ein Vampir. Wir waren Feinde. So einfach ist das manchmal. Aber als wir in dieser Pattsituation waren hatten wir diesen blöden Krieg endlich infrage gestellt.“ Florian grinste. „Du hattest damals nur gefragt ‚Was machen wir hier eigentlich?‘ und daraufhin total den Lachanfall bekommen.“ „Es war halt auch eine einfach bescheuerte Situation.“, erwiderte Konrad amüsiert. Carsten lachte auf. „Das so Freundschaften entstehen können…“ „Unterschätz das mal nicht.“, meinte Florian und wies auf Eagle. „Manche Feinde können sich als ziemlich gute und zuverlässige Verbündete entpuppen.“ „Was soll das den heißen?!“ Eagle funkelte den Elb wütend an. Natürlich hatte er Florians Andeutung verstanden. Lachend boxte Öznur ihm in die Seite. „Das weißt du ganz genau.“ „Wie könnt ihr das lustig finden?“, fragte plötzlich Ariane, die bisher nur geschwiegen hatte. Besorgt stellte Eagle fest, dass sie seit jenem Vorfall mit ihrer kleinen Schwester ziemlich ruhig geworden ist. Viel zu ruhig. Konrad schüttelte den Kopf. „Wir finden das kein bisschen lustig, glaub mir.“ Auch Florian wurde wieder ernst. „Das stimmt. Im Krieg sieht und erlebt man Dinge, die man sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht hätte vorstellen können.“ Er seufzte. „Es ist nicht so, dass wir ihn ins Lächerliche ziehen wollen. Kein Stück.“ „Man könnte sagen wir lachen, da wir einfach nicht wissen, wie wir sonst damit umgehen sollen.“, ergänzte der Vampir bedrückt. Schaudernd rieb sich Janine die Arme. „Ist ein Krieg wirklich so schlimm?“ Konrad senkte den Blick. „Die Todesschreie von Freund und Feind, der Gestank verwesender und verbrannter Körper, das düstere Schlachtfeld, was nur von Feuern erhellt wird…“ Ein betrübtes Schweigen brach aus, bis Carsten schließlich hoffnungslos meinte: „Und sowas kommt auf uns zu…“ „Wie meinst du das?“, fragte Laura verängstig. „Koja hat Carstens Zukunft vorhergesagt.“, erklärte Eagle. „Angeblich hat sie einen Krieg kommen sehen.“ „Wirklich?“ Öznur fing tatsächlich an etwas zu zittern, wie er aus den Augenwinkeln feststellte. Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie näher an sich. Laura schaute derweil Carsten fragend an. „Diese Schwachstelle des Bannes… Wie genau kann Mars den Zauber mit Bennis Hilfe brechen?“ Carsten seufzte. „In Bennis Adern fließt im Prinzip das Blut von Leonhard, Coeur und Eufelia, also allen, die diesen Bann errichtet haben.“ „Das heißt, Mars wird Benni opfern?!“, schrie Laura beängstigt auf. „Nicht direkt.“, meinte Carsten kopfschüttelnd. „Dann hätte es auch jeder andere Erbe des Yoru-Clans sein können. Nein, es musste ein antiker Begabter sein. So wie ich das verstanden habe, kann Mars den Bereich des Bannes verlassen, wenn er sich in dem Körper dieses Erben des Yoru-Clans befindet.“ Susanne runzelte die Stirn. „Im Körper? Du meinst also…“ „Genau. Mars wird Benni zu seinem Dämonenbesitzer machen wollen.“ Kapitel 60: Nichts als Sorgen ----------------------------- Nichts als Sorgen „Was?!?“ Atemlos schaute Laura Carsten an, während sie alle Mühe hatte, seinen Worten glauben zu können. Mars würde Benni zu seinem Dämonenbesitzer machen und dadurch die tiefste Schlucht der Unterwelt verlassen können?!? Das war ein Witz! Das konnte doch nur ein Witz sein!!! „Sag, dass das nicht wahr ist!“, flehte sie unter Tränen. „Ich würde es gerne…“ Deprimiert senkte Carsten den Kopf. Anne runzelte die Stirn. „Ist doch nichts groß dabei. Wenn Mars in Bennis Körper ist, ist er halt dort gefangen.“ „Gefangen?“ Florian schaute sie kritisch an. „Du verstehst da was falsch. Die Dämonen sind nicht in unseren Körpern ‚gefangen‘. Eher ist es eine Symbiose. Wir helfen ihnen und sie helfen uns. Aber das muss nicht zwingend der Fall sein. Das konnte man doch bei Laura vor einigen Monaten noch beobachten.“ „Aber er hat doch nur ihre Energie manipuliert und Laura hatte das anscheinend ziemlich gut unter Kontrolle halten können.“, widersprach Janine und wirkte leicht verzweifelt, da sie bereits ahnte, was Laura daraufhin sagen würde. „Das hat er nur gemacht, um mich zu trainieren.“, erwiderte sie wie erwartet. „Ich glaube, wenn er gewollt hätte, hätte er meinen Körper komplett übernehmen können.“ „Das könnte jeder Dämon.“, ergänzte Konrad. „Der Grund, warum sie nicht mit unseren Körpern Amok laufen ist alleine der, weil sie es so entschieden haben. Wir wären unseren Dämonen hilflos ausgeliefert, wenn sie unseren Körper wirklich übernehmen wöllten.“ „Wir müssen Benni warnen!“, rief Öznur aufgebracht und auch leicht panisch. „Auf keinen Fall!!!“, schrie plötzlich Carsten und Laura zuckte bei dem verzweifelten Tonfall zusammen. „Warum nicht?“, fragte Anne kritisch. „Wie will er Mars denn aufhalten seinen Körper zu übernehmen?“ Konrad klang ziemlich hoffnungslos, was in Laura nur noch mehr Unbehagen auslöste. „Er kann nicht einfach gehen, das würde Laura und Carsten töten und Mars würde ihn irgendwie wieder in seine Finger bekommen. Benni wird nicht sein Leben lang auf der Flucht vor ihm sein können ohne irgendwann dabei seinen Verstand zu verlieren.“ Florian ballte die Hand zur Faust. „Die einzige Alternative die er hätte wäre, sich das Leben zu nehmen. Damit würde er für Mars unerreichbar werden.“ „Aber das würde er doch niemals machen!“, widersprach Öznur besorgt. „Doch, würde er…“ Susannes Stimme war nur ganz schwach und eine Träne lief über ihre Wange, als sie zu ihrem Schreibtisch ging und ein kleines geschnitztes Holzeichhörnchen davon nahm um es dem Rest zu zeigen. „Damals bei meiner Dämonenprüfung hatte mich Naoki angefleht, ihn zu töten. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass die ganze Welt zerstört würde…“ Irgendetwas schnürte Laura die Kehle zu, während sie realisieren musste, dass Susanne Recht hatte. Würden sie Benni davon erzählen, dass Mars den Bannbereich verlassen könnte, indem er ihn zu seinem Dämonenbesitzer machte, würde Benni ebenfalls keinen anderen Ausweg finden als… „Nein! Das kann nicht sein!!! Das ist eine Lüge!!!“, schrei sie unter Tränen und hatte das Gefühl ihr Herz könnte jeden Moment in kleine Teile zerspringen. Sie spürte, wie Carsten sie in die Arme nahm und fest drückte. „Deshalb dürfen wir Benni unter keinen Umständen etwas davon erzählen. Er würde sich ohne zu zögern opfern, wenn er davon wüsste.“ „Niemals!!! So darf es nicht enden!!!“, krisch Laura weinend und klammerte sich an Carsten. Sie hatte unsagbare Angst. Sie hatte Angst, Benni zu verlieren. Das würde sie nicht verkraften können. Niemals! Carsten verstärkte seinen Griff. „Das darf es auf keinen Fall.“ Er wandte sich an Konrad und Florian. „Und deshalb müssen wir so schnell es geht den Bannzauber umändern.“ „Unbedingt.“, gab Konrad ihm recht. „Hast du ihn dabei?“ Carsten nickte und löste die Umarmung wieder, um mehrere gefaltete Blätter aus seiner Hosentasche zu holen. „Das sind Jacobs Notizen.“ Er stand auf, um sie Konrad zu reichen, doch da schien ihn ein starker Schwindel zu überkommen und er begann zu taumeln. Kraftlos sank er auf die Knie. „Geht es dir gut?“, erkundigte sich Susanne besorgt, während Laura Carsten an den Schultern hielt. Sie befürchtete schon, dass er sonst ganz umkippen würde. Jedenfalls war er auf einmal beängstigend blass. „Ich sagte doch, du mutest dir zu viel zu.“, meinte Eagle nur. Susanne betrachtete Carsten. „Wie viel hast du die letzten Wochen gegessen?“ „Sieh ihn dir doch an. Ich glaube um ehrlich zu sein, dass er fast gar nichts gegessen hat. Und geschlafen hat er auch nicht viel mehr.“, erwiderte Eagle und schüttelte missbilligend den Kopf. Voller Sorge musterte Laura ihren besten Freund. Sie hatte schon bei der Krisensitzung gedacht, dass er total fertig war, aber jetzt sah er richtig elend aus. Was sie nicht wunderte, wenn er die letzten drei Wochen fast nichts gegessen und kaum geschlafen hatte. Konrad seufzte. „Wir müssen nicht direkt heute Abend noch schauen, wie wir den Bann ändern können.“ „Aber…“, setzte Carsten an, hatte inzwischen allerdings kaum mehr Kraft zu reden. „Ruh dich aus. So übermüdet wie du gerade bist wirst du uns ohnehin keine große Hilfe sein können.“, riet Florian ihm fürsorglich. „Und außerdem ist sowieso schon Sperrstunde und wir sollten eigentlich nicht mehr hier sein.“, ergänzte Eagle. Kurz darauf verließen Konrad, Florian und Eagle die Gruppe auch schon und übergaben den viel zu erschöpften Carsten in die Obhut der Mädchen. Susanne stand von ihrem Bett auf. „Komm Carsten, wir bringen dich ins Krankenzimmer. Dort dürfen die Sanitäter auch nach der Sperrstunde noch hin.“ „Es geht schon. Ich schaffe es noch ins Jungenwohnheim, keine Sorge.“, widersprach Carsten und schien sich wieder etwas gefangen zu haben. Trotzdem klang seine Stimme sehr matt und kraftlos. „So überarbeitet wie du wirkst kann ich dir das irgendwie nicht glauben.“, meinte Laura, doch Carsten richtete sich mit einem schwachen Lächeln auf. „Mein Kreislauf hat nur ein bisschen verrückt gespielt. Es ist wirklich alles in Ordnung.“ Misstrauisch musterte Laura ihn. Sie glaubte ihm kein Wort. Aber anscheinend wollte er sich vor den Mädchen nicht die Blöße geben und zugeben, dass er alles andere als in Ordnung war. Carsten ging zur Tür, wandte sich aber dann doch noch mal an die Gruppe. „Ach Nane, ich weiß, es ist nur ein schwacher Trost. Aber ich wollte dir noch sagen, dass es deiner Schwester anscheinend gut geht.“ Ariane schaute überrascht und verwirrt, aber auch leicht hoffnungsvoll auf. „Woher weißt du das?“ „Bei meiner Prüfung zum Schwarzmagier habe ich Benni mit einem Observationszauber beobachtet.“ Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen. „Er scheint wirklich ein bisschen auf Johanna und Johannes aufzupassen und sich um sie zu kümmern. Jedenfalls hatte er in diesem Moment zusammen mit Jack mit ihnen Karten gespielt gehabt.“ Einige Mädchen mussten bei Carstens Worten auflachen und auch Laura lächelte bei der Vorstellung wie Benni mit den dreien Karten spielte. Sie wettete, dass er verloren hatte. Benni war bei Karten- oder Gesellschaftsspielen meistens ein riesen Pechvogel, nie gewann er gegen Laura oder Carsten. Außer ironischer Weise bei japanischen Spielen. Wenn man gegen ihn Koikoi oder gar Shogi spielte hatte man unter Garantie verloren. Insbesondere in Shogi, dem japanischen Schach, war er richtig gut. Auch Ariane entlockte Carstens Geschichte ein leichtes Lächeln. „Es ist wirklich nur ein schwacher Trost, aber trotzdem danke. Es beruhigt ungemein zu wissen, dass sie nicht ganz alleine ist und jemanden hat, der sich um sie kümmert.“ Laura zog Ariane in eine Umarmung. „Du weißt, dass Benni niemals zulassen würde, dass ihr etwas passiert, oder?“ Nane nickte schwach, löste sich aus der Umarmung und richtete sich auf. „Ich begleite Carsten bis zum Jungenwohnheim und pass auf, dass er zumindest auf dem Weg dorthin nicht umkippt.“ Carsten schien leicht verlegen. „Das brauchst du wirklich nicht, Nane. Ich komme schon zurecht.“ „Das sagen sie alle.“, erwiderte sie und ging ebenfalls zur Tür. Carsten gab eine weitere Diskussion auf und verließ gemeinsam mit ihr das Zimmer. Amüsiert schaute Lissi auf die wieder geschlossene Tür. „Am liebsten würde ich jetzt in Lauchs und Nane-Sahnes Zimmer und schauen, was noch so passiert.“ „Untersteh dich.“, mahnte ihre Zwillingsschwester. „Abgesehen davon, dass Nane wirklich nicht an ihm interessiert zu sein scheint.“, bemerkte Öznur seufzend. Janine senkte bedrückt den Kopf „Sie hat zurzeit ganz andere Sorgen. Als würde sie sich da Gedanken über eine Beziehung machen können.“ „Ich glaube eher, dass sie gerade einfach nur ihre Ruhe will…“, überlegte Laura. Eigentlich verhielt sich Nane im Unterricht noch relativ normal, aber sie war insgesamt unheimlich ernst geworden. Auffällig war auch, dass sie inzwischen häufiger die Einsamkeit suchte als sonst. So machte sie nach dem abendlichen Training meistens noch einen Spaziergang, um einfach alleine zu sein. Laura ballte die Hand zur Faust, sodass sich ihre etwas längeren Nägel ins Fleisch schnitten. Benni, Johanna, Johannes, … Sie hatte den unguten Eindruck, dass Mars gerade erst angefangen hatte. Und wenn sie nicht schnell genug handeln würden, würde er Bennis Körper übernehmen und dann wäre ohnehin alles verloren. Verbissen nahm sich Laura insgeheim vor, morgen nach dem Unterricht nach Yami zu gehen und ihre Dämonenprüfung endlich zu absolvieren. Sie musste Benni retten, koste es was es wolle! Doch natürlich musste es anders kommen. Als Laura nach der Reitstunde in ihrem Zimmer auf ihr Handy schaute entdeckte sie eine SMS von einer unterdrückten Nummer. Ich habe wichtige Informationen über Benedict für dich. Sei um 19:00 Uhr bei der Rosenbrücke im Park von Jatusa. Aber komme alleine, sonst kann ich sie dir nicht verraten. Kritisch runzelte Laura die Stirn. Das war doch eine Falle. Definitiv. Ob Mars nach Johannes nun auch sie gefangen nehmen wollte? Sie wusste, dass sie besser nicht zu diesem komischen Treffen gehen sollte. Aber dummerweise gewann ihre Neugierde gegen das Misstrauen. Wer hatte ihr diese Nachricht geschickt? Wusste er wirklich etwas Wichtiges über Benni? Vielleicht sogar eine Möglichkeit ihn zu retten? Sie hatte einfach keine Wahl, sie musste diese Gelegenheit ergreifen! Selbst wenn es eine Falle war, würde sie vielleicht etwas Nützliches in Erfahrung bringen können. Gerade jetzt, wo sie auch noch von dieser furchtbaren Schwachstelle des Bannes erfahren hatte! Dennoch legte sie das Handy demonstrativ auf den Schreibtisch und hinterließ den anderen eine Nachricht. Vielleicht würden sie ihr ja zumindest unbemerkt folgen können? Ihnen jetzt sofort von der SMS zu erzählen hielt Laura für keine gute Idee. Sie würden es ihr nur ausreden wollen, dahin zu gehen. Aber irgendetwas in Laura drängte sie dazu. Irgendetwas brachte sie dazu jede Gelegenheit zu ergreifen, die sich ihr bot, um Benni retten zu können. Sie packte den Fächer ein, den Benni ihr zum Geburtstag geschenkt hatte und nahm den nächstbesten Bus in die Stadt. Dort angekommen wanderte sie durch den Park und kam an jenem Teich vorbei, wo Mars schon am Valentinstag versucht hatte Johannes zu entführen. Damals hatte Benni ihn allerdings noch retten können… Geistesabwesend spielte Laura mit der Halskette herum, die Benni ihr an diesem Tag geschenkt hatte. Da sie sowieso etwas zu früh war setzte sie sich auf die Wiese und beobachtete das Blau des Wassers, während sie ihren Gedanken nachging. Sie waren auch kurz vor ihrem Geburtstag nochmal hier gewesen. Damals hatte Benni sie noch darum gebeten ihm einfach zu glauben, dass der Schwarze Löwe sie nicht verlassen würde. Und er hatte recht behalten. Ein trauriges Lächeln zeichnete sich auf Lauras Lippen ab. Sie hatte es ihm ziemlich schwer gemacht, sie aufzuheitern. Weiß Gott, wie viele Tränen sie hier an diesem Teich in Bennis Gegenwart schon vergossen hatte. Und trotzdem hatte er immer wieder versucht sie zu beruhigen und aufzuheitern. Er war immer für sie da gewesen… Schließlich setzte sie ihren Weg zu dieser Rosenbrücke fort, war aber trotzdem noch fünf Minuten zu früh. Sie war bei einem Spaziergang mit Benni durch den Park schon einmal hier vorbeigekommen, aber damals war die Brücke aus irgendeinem Grund gesperrt gewesen, was Laura ziemlich traurig gestimmt hatte. Denn die Rosenbrücke sah mit den am Geländer entlangschlängelnden Rosen richtig schön aus. Auf ihre Frage, warum sie wohl gesperrt war, hatte Benni vermutet, da das Geländer viel zu niedrig war und man leicht von der Brücke ins Wasser fallen konnte. Aber es schien ja alles in Ordnung damit zu sein, wenn man die Sperrung inzwischen entfernt hatte. Welcher Dummkopf würde sich auch so dicht an den Rand der Brücke stellen, sodass er ins Wasser fallen würde? Laura ging in die Mitte der Brücke und beobachtete den Fluss, der unter ihr gemächlich entlangrauschte. Seltsamerweise war keine Menschenseele hier, obwohl dieser Ort eigentlich so schön war. Laura musste sich berichtigen, eine Person war da. Ein Mann in edel aussehender Kleidung und einem langen Mantel kam von der anderen Seite der Brücke auf sie zu. Doch das Gesicht wurde von einer Kapuze verdeckt, weshalb Laura ihn nicht erkennen konnte. Automatisch spannte sich ihr ganzer Körper an und sie tastete nach dem Fächer, den sie versteckt an einem Gürtel trug. „Du bist tatsächlich gekommen.“, meinte der Mann und als Laura die ekelhaft schleimige Stimme erkannte zog sie ihren Fächer aus dem Gürtel, klappte ihn auf und begab sich sofort in Abwehrhaltung. Lukas. Gut, sie hatte sich ja schon gedacht, dass es eine Falle war. „Was willst du von mir?“, fragte sie ihren Cousin kritisch und beobachtete, wie Lukas die Kapuze vom Kopf zog. Zum Vorschein kamen die blau gefärbten Haare und das leicht vernarbte Gesicht. Laura stellte fest, dass neben der Narbe an seiner linken Schläfe, die er schon seit längerer Zeit hatte, nun auch eine über dem linken Auge selbst hinzugekommen war. Wahrscheinlich von Bennis Angriff auf ihn damals in Spirit. Die Verletzung war anscheinend so schlimm, dass er das linke Auge nun nicht mehr zum Sehen verwenden konnte. Geschah ihm recht. „Darf ich mich nicht einfach mit meiner lieben kleinen Cousine treffen?“, erwiderte Lukas spöttisch. Laura erwiderte nichts darauf, sondern spannte sich nur noch mehr an und verstärkte ihren Griff um den Fächer. „Weißt du wirklich was über Benni, oder willst du mich nur genauso wie Johannes entführen?“ Lukas‘ sardonisches Lächeln wurde nur noch breiter. „Du bist so naiv, mein kleines Cousinchen.“ Also war es tatsächlich einfach nur eine Falle gewesen. Es wäre auch zu schön um wahr zu sein, wenn sie wirklich einen Weg gefunden hätte, Benni zu retten. „Ich will dich nicht entführen, ich will dich töten.“, ergänzte Lukas plötzlich. „Was?!“ Lauras Gedanken überschlugen sich. Er will mich töten? Warum?! Sollte er mich töten befreit das doch nur den Schwarzen Löwen! Und der würde aus Lukas Hackfleisch machen! Noch während Laura versuchte Lukas‘ Worte nachzuvollziehen, startete dieser bereits einen Angriff auf sie. Nur in letzter Sekunde gelang es ihr, diesen mithilfe ihrer Finsternis-Energie abzuwehren. Lukas war zwar ein relativ guter Kampfkünstler, aber er sollte Laura besser nicht unterschätzen. Immerhin war sie dank der Finsternis-Energie inzwischen auch besser geworden. Gut genug, um alle seine folgenden Angriffe abwehren zu können. So stark und schnell Lukas auch war, Benni war stärker und schneller. Selbst in den Trainingskämpfen war er ein gefährlicherer Gegner gewesen als Lukas eben. Amüsiert stellte Laura fest, dass sie inzwischen vielleicht sogar dazu in der Lage wäre Lukas zu besiegen. Klar, würde sie ohne Energie kämpfen hätte sich wohl kaum eine Chance. Aber mit der Finsternis-Energie… Zu dieser Einsicht schien auch Lukas gekommen zu sein, der nach mehreren erfolglosen Angriffen schließlich etwas Abstand zwischen sie brachte. „Das kann nicht sein, das ist unmöglich!!!“, schrie er aufgebracht. Er schien nicht damit gerechnet zu haben, gegen Laura solche Probleme zu bekommen. Dennoch stürmte er erneut auf sie zu. Er hat den Verstand verloren., schoss es Laura durch den Kopf. Lukas ist verrückt geworden. Anders konnte sie sich sein Verhalten nicht erklären. Laura steckte ihren Fächer in den Gürtel und fing die nächsten beiden Fausthiebe von Lukas mit bloßen Händen und ihrer Finsternis-Energie ab. Sie schickte etwas dieser entkräftenden Energie in Lukas‘ Körper, um ihn in einem Polizeigriff festhalten zu können. „Sag schon, weißt du etwas über Benni?! Was genau hat Mars mit ihm vor?!“, fragte sie. Trotz allem wollte Laura zumindest versuchen etwas in Erfahrung bringen zu können. Falls Lukas überhaupt wusste, was Mars‘ Pläne waren. Immerhin schien der Dämon ihrem Cousin nicht wirklich zu vertrauen. Das hatte Lissi bereits bei der Abendgesellschaft herausfinden dürfen. Lukas lachte daraufhin nur hysterisch. „Benni hier, Benni da! Was willst du überhaupt noch von dem?! Dich hat er doch schon längst vergessen! Er schert sich nicht einen Dreck um dich!!!“ „So ein Unsinn!!!“, schrei Laura und versuchte den schmerzhaften Stich durch ihr Herz zu ignorieren. Benni hat mich nicht vergessen! Ich bin ihm nicht egal! Lukas will mich nur verunsichern!, dachte sie sich und stieß ihn in Richtung des Brückengeländers. „Woher willst du bitteschön wissen, was Benni über mich denkt?!“, fragte Laura ihn verärgert. Lukas wollte ihr mangelndes Selbstvertrauen ausnutzen und sie verunsichern. Garantiert. Doch das würde ihm nicht gelingen. Nicht mehr! Nicht mehr, seit Benni ihr gesagt hatte, dass er sie liebte!!! Laura ballte die Hände zu Fäusten. „Ich glaube dir kein Wort.“ Erneut lachte Lukas hysterisch auf, doch Laura ließ ihn nicht zu einem weiteren Angriff kommen. Dieses Mal war sie es, die die Initiative ergriff. Sie stürmte auf ihren Cousin zu, hüllte ihre Faust in Finsternis und holte zum Schlag aus. Ein Schlag, der Lukas mitten in die Magengrube traf. Dieser keuchte entkräftet auf und taumelte einige Schritte zurück. Einige wenige Schritte, die ihn zuvor von dem niedrigen Geländer getrennt hatten. Er stolperte über das Geländer und fiel. Zu spät merkte Laura, dass Lukas ihren Arm gepackt hatte und sie mit sich von der Brücke zog. Als sie in das eisige Wasser eintauchte durchzuckte sie eine unsagbare Panik. Verzweifelt versuchte sie nach Luft zu schnappen, atmete aber nur das kalte Wasser ein. Sie wusste nicht, was sie machen sollte. Sie wusste noch nicht einmal, was sie jetzt überhaupt machen konnte. Voller Angst versuchte Laura die Oberfläche zu erreichen, entfernte sich aber immer weiter von ihr, während sich ihre Lungen mehr und mehr mit Wasser füllten. Da spürte sie einen harten Schlag in den Nacken, der sie das verzweifelte Atmen vergessen ließ. Das blaue Wasser wurde dunkler und dunkler, bis alles um sie herum gänzlich in Schwärze gehüllt war. Carsten saß auf der Wiese an das metallische Geländer des Trainingsplatzes gelehnt und beobachtete die Magierinnen bei deren Übungen, während er Jacobs Notizen in seinem Kopf wiederholte. Inzwischen kannte er sie auswendig. Tatsächlich hatte er nach dem Studium der schwarzen Magie eine grobe Idee, wie dieses Ritual ablaufen musste und wie er die ganzen Dämonenbesitzer einbeziehen konnte. Aber das war nun mal lediglich eine grobe Idee. Der Zauber musste bis ins kleinste Detail geplant sein. Immerhin die Grundlage dieses Zaubers hatte Carsten erkannt. Es handelte sich vollständig um Dämonenverbundene. Die Dämonenbesitzer lieferten die Energie. Ein Zauberer, welcher irgendwie mit den Dämonen verbunden war musste das Ritual durchführen und ein Kampfkünstler, welcher ebenfalls mit den Dämonen verbunden sein musste, musste den Blutzoll zahlen. Da Coeurs Dämon so wie Mars ein Gottesdämon war, hatte man nur sie benötigt, um die erforderliche Energie zu liefern. Leonhard war ein Magier und zugleich auch sekundärer Dämonengesegneter gewesen, wie Carsten von Jacob erfahren hatte. Also war er dafür verantwortlich den Zauber zu sprechen. Und Eufelia, welche bereits damals die Besitzerin des Farblosen Drachen war, musste folglich den Blutzoll zahlen. Immerhin war sie sowohl Magierin, als auch Kampfkünstlerin. Nun musste Carsten nur noch den Zauberspruch etwas umformulieren und eine Art Standposition für die ganzen Dämonenbesitzer festlegen. Diesbezüglich hatte er bereits Hilfe versprochen bekommen. Nachher wollte er sich zu Konrad teleportieren um einen Überblick über die schwarze Magie der Vampire zu bekommen, welche sehr stark mit Symbolen arbeitete. Mit ihrer Hilfe dürfte er eine Idee bekommen, wie man die Dämonenbesitzer am besten aufstellen sollte, damit der Zauber seine volle Wirkung entfalten konnte. Wenn das geschafft wäre, würde Florian seine Kontakte spielen lassen und Carsten mit einem sehr alten und weisen Magier der Elben bekannt machen. Dieser sollte ihm dann hoffentlich bei dem Zauberspruch helfen können. Das letzte große Hindernis wäre dann, dass vier der für das Ritual benötigten Personen noch fehlten. Johannes, Jack und der aktuelle Besitzer des Farblosen Drachen, welchen sie noch nicht einmal kannten. Und Benni. Immerhin würde Benni als Kampfkünstler und primärer Dämonengesegneter noch am ehesten für das Zahlen des Blutzolls infrage kommen. Carsten seufzte bedrückt. Sie hatten noch einen langen Weg vor sich, bis sie Benni vor Mars würden retten können. Und bis sie Damon und den Rest der Welt vor der Zerstörung würden bewahren können. „Carsten!!!“ Als Ariane verzweifelt seinen Namen rief, schreckte er aus seinen Gedanken hoch. Sie kam mit der beeindruckenden Geschwindigkeit einer Kampfkünstlerin auf ihn zu gerannt und drückte ihm ein Handy und einen Zettel in die Hand. „Ich hatte mich schon gefragt, warum Laura nicht beim Abendessen war, aber ich dachte, sie würde hier einfach nur trainieren. Aber- aber als ich dann eben ins Zimmer bin, da war, also- also-“ „Ganz ruhig, Nane. Komm erst einmal wieder zu Atem.“, versuchte Carsten sie zu beruhigen und schaute derweil, was da auf dem Zettel stand. Den elegant geschwungenen Buchstaben nach zu urteilen war es Lauras Handschrift. Es tut mir leid, dass ich euch nichts gesagt habe. Aber ich muss herausfinden, ob ich Benni irgendwie helfen kann!!! Helfen? Irritiert schaute Carsten auf das Handy und las die SMS durch, die sofort auftauchte, als er das Display anschaltete. „Bist du verrückt?!?“, entfuhr es Carsten. Wie konnte Laura in so eine offensichtliche Falle tappen?! Er atmete tief durch. Nein, Laura war zwar ziemlich naiv, aber selbst sie würde erkennen, dass es sich dabei um eine Falle handelte. Wahrscheinlich wollte sie einfach jede Gelegenheit ergreifen die sich ergab, um Benni zu helfen. Aber trotzdem, es ist doch mehr als nur eindeutig, dass das nichts weiter als eine Falle ist!!! Carsten warf einen Blick auf die Uhr. Viertel nach sieben. Laura hatte sich also schon vor fünfzehn Minuten mit diesem anonymen Absender getroffen. Inzwischen waren auch die Magierinnen bei ihnen. „Was ist passiert?“, erkundigte sich Janine besorgt. Verbissen erklärte Carsten kurz die Situation und fragte schließlich: „War jemand von euch schon einmal bei dieser Rosenbrücke im Park von Jatusa?“ Die Mädchen warfen sich gegenseitig ratlose Blicke zu. Öznur seufzte. „Sorry, für Spaziergänge durch den Park waren wenn dann Laura und Benni zuständig…“ Carsten nickte. „Ich war bisher auch nur bei dem Teich, wo Johannes damals entführt worden ist…“ „Ist doch egal, das muss ausreichen!“, rief Ariane aufgebracht. „Von dort aus werden wir schon irgendwie diese Brücke finden!“ Sie zog Carsten auf die Beine und schien es ziemlich eilig zu haben, nach Jatusa zu kommen. Wer konnte es ihr verübeln? Immerhin könnte einer von Mars Untergebenen just in diesem Moment versuchen Laura zu entführen. Selbst wenn sie inzwischen stärker war… Würde sie gegen jemanden wie Jack kämpfen müssen hätte sie trotzdem keine Chance. „Vielleicht ist das ja nur eine heimliche Botschaft von Benni, der sie treffen will?“, vermutete Öznur versucht optimistisch. „Schön wäre es, aber Benni und SMS schreiben? Niemals.“ Traurig lachte Carsten auf. Das einzige, was Benni mit einem Handy machen konnte war telefonieren. Doch das wusste Laura genauso gut wie er. Sie erwartete also gar nicht Benni zu treffen. „Ariane und ich gehen in den Park und schauen, was es mit Lauras Nachricht auf sich hat.“, meinte Carsten und wandte sich an Susanne. „Wir versuchen euch auf dem Laufenden zu halten. Aber wenn ihr trotzdem in fünf Minuten nichts von uns hört, kommst du am besten zusammen mit Öznur und Anne nach.“ Susanne nickte, doch Öznur war nicht sehr erfreut von der Idee. „Warum ausgerechnet Anne?“ Carsten seufzte. Anscheinend waren sie immer noch nicht allzu gut aufeinander zu sprechen. „Anne ist eine gute Kämpferin. Wir wissen nicht, wer da auf uns warten könnte. Du warst definitiv schon mal an dem Teich, also musst du dir den Ort vorstellen. Und je nachdem, wie schlimm es um jemanden von uns steht, muss Susanne als Heilerin zur Verfügung stehen.“ Carsten entging es nicht, dass Susanne bei seinem letzten Satz bedrückt den Blick abgewandt hatte. Aber sie hatten keine Zeit, das auszudiskutieren. Deswegen blieb ihm keine andere Wahl als darauf zu vertrauen, dass die Mädchen machen würden was er sagte. Gemeinsam mit Ariane verließ er den Campus, um sie von dort aus zu jenem Teich zu teleportieren. Ein Glück, dass über Jatusa keine Magiebarriere lag. Bei dem Teich angekommen, konnte Ariane sie beide dank ihres guten Geruchsinns sofort in die Richtung lotsen, in der sich Laura befand. Bis sie schließlich bei einer Brücke angelangt waren, welche ihrem Aussehen nach zu urteilen ganz eindeutig die Rosenbrücke war. Kritisch schaute sich Carsten um. Auf den ersten Blick konnte er keine Zeichen eines Kampfes erkennen, aber er war leider nicht gerade der beste im Fährtenlesen, obwohl er Indigoner war. Doch auch von Laura fehlte jede Spur. Zusammen mit Ariane ging er bis zur Mitte der Brücke und schaute auf den Fluss. Carsten schluckte schwer. „Ich hoffe, sie ist nicht ins Wasser gefallen… Und dass niemand sie entführt hat.“ So langsam bekam er tatsächlich Panik, dass Laura irgendetwas Ernstes zugestoßen sein könnte. „Da!“, rief Ariane plötzlich auf. „Was? Wo?“ Noch während sich Carsten verwirrt umschaute zog Ariane ihn auf die andere Seite der Brücke zu mehreren Bäumen. „Laura!“ Erschrocken rannte Carsten auf einen der Bäume zu, als er sie endlich entdeckt hatte und kniete sich neben seine beste Freundin, die am Fuß des Baums im Gras auf der Seite lag und die Augen geschlossen hatte. Ariane runzelte die Stirn. „Schläft sie?“ „Ich weiß nicht…“ Carsten konnte tatsächlich nicht erkennen, was passiert war. Laura war gänzlich unverletzt und atmete ruhig. Wüsste er nicht, dass sie wegen dieser ominösen SMS hierher gekommen war, hätte er glatt vermutet, dass sie sich einfach nur etwas entspannen wollte. Aber als er den Tessen an ihrem Gürtel sah wusste er, dass Laura nicht zum Entspannen da war. Sie hatte schon erwartet, dass es eventuell zu einem Kampf kommen würde. Aber wo waren die Kampfspuren?! „Kannst du Susanne Bescheid sagen, dass wir sie gefunden haben?“ Ariane nickte und holte ihr Handy aus der Hose um Susanne anzurufen. Noch während sie telefonierte schaute sich Carsten weiter um. Er hätte nicht gedacht, dass er sich je so darüber ärgern würde kein Fährtenleser zu sein. Wo waren Eagle, Florian oder Benni, wenn man sie brauchte? Seufzend gab Carsten es auf noch irgendeinen Hinweis zu finden. „Bringen wir Laura erst einmal zur Akademie zurück. Wenn sie aufwacht wird sie uns schon erzählen, was passiert ist.“ Ariane nickte und ging zu Carsten rüber, damit er sie alle zurück teleportieren konnte. Immerhin verkraftete Lauras Körper inzwischen die Teleportationen. Damit blieben ihnen bereits einige Schwierigkeiten erspart, die sie vor einigen Monaten noch gehabt hätten. In der Coeur-Academy brachte Carsten Laura trotzdem sicherheitshalber ins Krankenzimmer. Es konnte doch nicht sein, dass sie anscheinend unverletzt aus einem Kampf davongekommen war und sich danach unter einem Baum schlafen gelegt hatte. Das wäre definitiv zu seltsam und passte auch kein bisschen zu ihr. Der Rest von ihnen hatte sich nach einer kurzen Unterbrechung wieder dem Training gewidmet. Die Mädchen waren der Meinung es reiche, wenn Carsten und Ariane bei Laura wären, sollte diese alsbald wieder aufwachen. Doch Carsten wurde den Gedanken nicht los, dass sie ihm auch etwas Zeit mit Ariane verschaffen wollten. Dabei wussten sie genauso gut wie er, dass Ariane kein Interesse an einer Beziehung hatte. Weder mit ihm, noch mit irgendjemand anderem. Carsten beobachtete, wie Ariane auf einem Stuhl neben Lauras Bett saß und sich mit einem ihrer orange lackierten Fingernägel beschäftigte. Er wollte ein Gespräch starten, traute sich letztlich allerdings nicht. Worüber sollte er zurzeit mit ihr auch reden? Sollte er sie fragen wie es ihr ging? Er sah es doch. Er sah doch, dass es ihr überhaupt nicht gut ging. Bedrückt seufzte Carsten. Er würde ihr so gerne helfen… Aber wie? Das einzige, was sie zurzeit glücklich machen könnte wäre das Wissen, dass ihre Schwester in Sicherheit war. „So langsam verstehe ich Laura…“, meinte Ariane plötzlich. Carsten schreckte hoch. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie auf einmal ein Gespräch starten würde. „Wie meinst du das?“ „Wie hat sie das damals nur verkraften können? Vor zwölf Jahren, als ihre Geschwister gestorben sind?“ „Nane… Deiner Schwester geht es gut. Ich habe sie doch erst gestern gesehen. Du musst dir keine Sorgen machen.“, versuchte Carsten ihr Trost zuzusprechen. „Ich weiß…“ Ariane atmete tief durch. „Aber sich keine Sorgen zu machen ist leichter gesagt als getan. Benni passt ganz sicher auf, dass Mars oder sonst wer ihr nichts antun wird. Ich vertrau ihm da. Vollkommen. Und trotzdem… Ich habe einfach Angst um sie.“ Carsten senkte den Blick. Was sollte er darauf antworten? Ihre Gefühle waren voll und ganz nachvollziehbar, aber es muss doch irgendetwas geben, wie er ihr zumindest einen Teil der Angst nehmen könnte. Irgendetwas! Es konnte doch nicht sein, dass ihm ausgerechnet jetzt die richtigen Worte fehlten! Dass er ausgerechnet in so einer Situation nicht wusste, wie er reagieren sollte! „Dieser Zauber von dem du gestern erzählt hast, was war das für einer?“, fragte Ariane. „Der Observationszauber? Mithilfe schwarzer Magie habe ich Benni und seine nächste Umgebung in einem Wasserspiegel beobachten können.“, erklärte Carsten. „Denkst du… Denkst du, dass du das auch bei Gotsch machen könntest?“ Der zögernd bittende und trotzdem immer noch traurige Blick mit dem Ariane ihn anschaute ließ Carstens Herz schwer werden. Und auch, wie sie den Kosenamen ihrer Schwester aussprach. Sie bedeutete Ariane so viel, war ihr so wichtig. Natürlich war sie da krank vor Sorge! „Nur, wenn es dich nicht zu viel Kraft kostet!“, warf Ariane schnell ein. „Ich weiß, dass du alle Hände voll mit dem Bannzauber zu tun hast. Ich will dir keine Umstände bereiten.“ Ihr Kommentar löste bei Carsten automatisch ein Lächeln aus. „Das sind keine Umstände.“ „Wirklich?“ „Wirklich. Der Zauber ist nicht sonderlich schwer. Jedoch kenne ich deine Schwester leider nicht gut genug…“ „Ach so…“ Ariane senkte den Kopf. Und Carsten fühlte sich direkt unwohl. „Also, ich kann den Zauber schon sprechen!“, meinte er hastig. „Es ist nur… Ich kann den Blutzoll nicht zahlen. Man muss sich die Person die man beobachten möchte so gut es geht vorstellen und dann mit etwas Blut im Prinzip den Preis dafür zahlen um den Zauber zu aktivieren.“ „Und das müsste ich dann machen? Also diesen Blutzoll zahlen?“ Carsten nickte. „Du kennst deine Schwester am besten. Wenn du den Blutzoll zahlst, dürfte der Zauber ohne Probleme funktionieren.“ „Was muss ich machen?“ Ariane richtete sich vom Stuhl auf. „Ich soll den Zauber also wirken?“ „Bitte!“ Plötzlich kam sie zu Carsten rüber und nahm seine Hände. „Wenn ich sie jedenfalls einmal sehen kann! Wenn ich sehen kann, dass es ihr gut geht! Das reicht mir schon!!!“ Verlegen wich Carsten ihrem Blick aus, während sich sein Herzschlag bei ihrer Berührung sofort beschleunigt hatte. „Wenn ich auch nur irgendwie helfen kann, dass du dich besser fühlst, dann… Natürlich helfe ich…“, druckste er und kam sich wie der letzte Vollidiot vor. Oder eher wie ein gutmütiger Trottel. Warum musste ausgerechnet der Spitzname den Benni ihm gegeben hatte so passend sein? Doch schon alleine die Hoffnung, die in Arianes Augen aufleuchtete reichte aus, um sich zusammenzureißen. Er würde alles tun, damit sie sich besser fühlte. „Ich- ich suche die Sachen zusammen, die ich für das Ritual benötige…“ Er dunkelte einen Teil des Krankensaales ab und stellte die nötigen Utensilien auf einem Tisch bereit. Eine Schüssel mit Wasser, vier Kerzen, … Es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren, während er spürte, wie Arianes neugieriger Blick auf ihm ruhte. Doch er zwang sich dazu, die Gedanken beisammen zu halten. Jetzt hatte er ihr schon solche Hoffnungen gemacht, er durfte diese nicht zerstören, nur weil ihre Anwesenheit ihn so durcheinander brachte. Er holte sein Taschenmesser aus der Hosentasche und reichte es Ariane. „Wenn ich dir Bescheid gebe, musst du dir in die linke Handfläche schneiden und das Blut in die Schüssel tropfen lassen. Keine Sorge, das Messer ist gereinigt.“ „Also einfach ein Schnitt in die Hand? Muss der tief sein?“ „Tief genug, dass Blut fließt.“, erwiderte Carsten. Ariane verzog nicht sehr begeistert das Gesicht, atmete jedoch schließlich tief durch und nickte. „Okay, kein Problem.“ Carsten zündete die Kerzen an und begann den Zauber zu sprechen, jedoch in leicht abgewandelter Form im Vergleich zu dem, den er bei seiner Prüfung aufgesagt hatte. Dieses Mal war es immerhin nicht er selbst der den Blutzoll zahlte, sondern Ariane. Als er an der Stelle angelangt war, in welcher dieser gefordert wurde, nickte er Ariane zu. Erneut atmete Ariane tief durch und hob das Messer an die Handfläche, wobei sie dabei ziemlich stark zitterte. Nach einem Moment des Zögerns drückte sie Carsten plötzlich das Taschenmesser in die Hand. „Mach du.“ „Was?!“ Vor Schreck hätte Carsten fast das Messer fallengelassen. „Ich trau mich nicht. Schneid du mir in die Hand.“ „Nane, das kann ich nicht!“, widersprach er leicht panisch. Warum sollte jetzt ausgerechnet er Ariane in die Hand schneiden?! Das würde er doch niemals übers Herz bringen können!!! „Bitte, Carsten!“, flehte sie und schaute ihn schon wieder mit diesem traurigen und auch leicht verzweifelten Blick an. Carsten biss die Zähne zusammen. Warum er? Warum ausgerechnet er?! Er war doch der gutmütige Trottel!!! Die Hand mit welcher Carsten das Messer hielt verspannte sich. „Du verlangst Unmögliches. Ich kann dich nicht verletzen.“ „Du kannst mich doch danach direkt heilen! Und außerdem ist die Angst um meine kleine Schwester noch viel verletzender!!!“ War Ariane schon immer so dickköpfig oder fiel es ihm gerade nur besonders auf? Dennoch knickte er bei ihrem trostlosen Tonfall ein. Solange sie danach nicht mehr so hoffnungslos aussah, würde er ihrer Bitte nachgeben. „Du schuldest mir was…“, meinte Carsten nur verbissen und nahm ihre linke Hand. Seine eigene war durch die Anspannung ziemlich verschwitzt, was ihm sofort furchtbar unangenehm war. Warum er? Nein, so durfte er nicht denken. Er half Ariane, ihre kleine Schwester zu sehen. Sie hatte Recht. Die Verletzung die er ihr zufügen würde war nichts im Vergleich zu diesem lähmenden Schmerz im Herzen. Die Angst um eine wichtige Person war viel quälender. Carsten versuchte so gut es ging seine Gedanken zu sammeln und den Zauber weiter zu sprechen, während er für Ariane einen möglichst harmlosen Schnitt in der Hand machte. Dennoch entging ihm nicht, wie sie kurz das Gesicht verzog und sofort fühlte er sich wie ein herzloses Monster. Wie konnte er ihr so etwas nur antun?!? Vorsichtig hielt er Arianes Hand über die Schüssel und ließ ihr Blut hinein tropfen, während er so gut es ging zu ignorieren versuchte, dass das ihr Blut war. Als er sich gestern selbst in die Hand schneiden musste war das überhaupt kein Problem gewesen. Irgendwie packte er es trotzdem den Spruch bis zum Ende aufzusagen und während er Arianes Hand losließ vermischte sich das Blut mit dem Wasser, bis sich genauso wie gestern das Bild klärte. Erneut war der Zelltrakt zu sehen, doch dieses Mal waren nur Johanna und Johannes dort. Johannes hatte einen Nintendo DS in der Hand und schien sich mit Johanna über das Spiel zu beraten, was sie gerade spielten. Johannes stöhnte auf. „Das Rätsel ist komisch! Ich hab keine Ahnung, wie man diese Pfannkuchen so stapeln und verschieben soll, dass die auf den hinteren Teller kommen!“ „Jetzt bin ich auch durcheinander… Fangen wir lieber noch einmal von vorne an.“, meinte Johanna und runzelte die Stirn. Aus den Augenwinkeln merkte Carsten, wie Ariane sofort mit den Tränen kämpfen musste, kaum dass sie ihre Schwester überhaupt gesehen hatte. Johanna und Johannes grübelten noch eine Weile über dem Rätsel und schienen ziemlich daran zu verzweifeln, als man von weiter hinten eine schwere Tür in die Angeln fallen hörte und sich Schritte den beiden näherten. Johannes sprang auf. „Onkel! Da bist du ja endlich!!!“, rief er begeistert. Belustigt beobachtete Carsten, wie Benni auf der Bildfläche erschien und sich gegenüber von Johannes und Johanna setzte. „Du bist später als sonst.“, merkte Arianes kleine Schwester an. „Ist etwas passiert?“ „So mehr oder weniger.“, erwiderte Benni und deutete auf die Spielkonsole. „Was ist das?“ „Waaaaas?!? Du weißt nicht was das ist?!“, rief Johannes empört auf. „Onkel, das ist ein Nintendo!!! Hast du noch nie einen Nintendo gesehen?!“ Benni schüttelte den Kopf. Sehr zu Johannes‘ Schrecken, wie Carsten amüsiert feststellte. „Hat Jack ihn euch geliehen?“, erkundigte sich Benni. Johanna nickte. „Der Akku war all und er musste ihn erst einmal wieder aufladen. Nach dem Essen hat er ihn wieder vorbeigebracht.“ Johannes tippte Benni am Arm an. „Duuuu Onkeeeel, kannst du uns bei diesem Rätsel helfen?“ „Das ist doch im Prinzip der Turm von Hanoi.“, stellte Benni nach einem Blick auf dem Bildschirm fest. „Wir bekommen es einfach nicht hin.“, meinte Johanna und seufzte. „Irgendwann sind wir nur noch total durcheinander. Bitte hilf uns, Onkel.“ „Der kleinste muss in die Mitte.“, meinte Benni. Carsten musste sich sehr stark zurückhalten, nicht lauthals loszulachen während er beobachtete, wie Benni den beiden nach und nach bei der Lösung des Rätsels half. Dieses Szenario war einfach nur total süß. Und super lustig. Besonders, wie sehr sich Johannes und Johanna letztlich freuten, als sie das Rätsel endlich gelöst hatten. Carsten und Ariane beobachteten die Truppe noch eine ganze Weile. Johannes erklärte Benni, dass es sich bei dem Spiel um Professor Layton handelte und sie erzählten ihm von der Geschichte. Schließlich wurde das Bild allmählich unscharf, sodass Carsten den Zauber auflösen musste. „Entschuldige, für mehr fehlt mir die Kraft…“, meinte er verlegen an Ariane gewandt und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er sogar ein bisschen geschwitzt war. „Ist schon gut. Ich kann sie ja nicht ewig so ausspionieren.“ Ariane rieb sich über die Augen und wischte einige Tränen weg. „Geht es dir gut?“, erkundigte sich Carsten besorgt. Ariane nickte. „Viel besser. Ich bin so froh…“ Sie überforderte Carsten vollkommen, als sie ihn in eine Umarmung zog. Zögernd legte er seine Arme um ihre zitternden Schultern, während Ariane ihr Gesicht in seiner Brust vergrub und leise schluchzte. „Es geht ihr wirklich gut… So ein Glück.“ Carsten verstärkte seinen Griff und wartete, bis sich Ariane wieder halbwegs beruhigt hatte. Als sie schließlich die Umarmung löste wischte sie sich einige Tränen aus den Augen und lächelte ihn an. „Danke, vielen Dank.“ Dieser dankbare und zugleich auch hoffnungsvolle Blick ließ Carsten sofort erröten. „Habe ich doch gerne gemacht…“ Nach einer Weile meinte er zögernd: „Wie geht es deiner Hand?“ Ariane betrachtete sie. „Ein bisschen brennt es noch, aber ich glaube, dass es schnell heilen wird. Du musst also nichts zaubern, es ist schon okay.“ Dennoch machte sich Carsten direkt wieder Vorwürfe, als er den Schnitt in der Handfläche sah. „Wirklich nicht?“ „Wirklich nicht. Komm schon, Benni hat sich vor einem Monat von Eagles Schwert durchstechen lassen und die Wunde dann auch noch mit Feuer-Energie zu gebrannt, oder wie auch immer das funktioniert. Oder die Verbrennungen durch Mars, die er mal hatte, oder deine Verletzungen durch Jack… Da sollte ich mich bei diesem Schnitt wirklich nicht so anstellen.“ Carsten seufzte. „Dann lass ihn mich wenigstens desinfizieren und eine Salbe darauf machen.“ Neugierig musterte Nane ihn. „Hast du deshalb wirklich ein so schlechtes Gewissen?“ Beschämt wich er ihrem Blick aus. „Und wie.“ Sein Kommentar ließ Ariane lächeln. „Du bist einfach viel zu lieb. Wie kannst du eigentlich Arzt werden, wenn du direkt ein schlechtes Gewissen bekommst, wenn du Leute anschneidest?“ Bei ihrer Frage färbten sich Carstens Wangen unter Garantie knallrot. „Eine Operation ist etwas Anderes…“ Klar mochte er es nicht, Leute grundlos verletzen zu müssen. Dafür war er viel zu pazifistisch. Aber noch schlimmer war es, Ariane verletzen zu müssen! Selbst wenn es nur ein kleiner Schnitt war. Doch das konnte er ihr niemals so sagen. „Und bei Fremden ist es sowieso noch einmal anders, da macht es mir nichts aus.“, ergänzte er deshalb. „Und wenn du plötzlich einen Freund operieren musst?“, hakte sie nach. Oh verdammt, er redete sich da in eine echt dumme Situation rein. Er konnte Ariane doch nicht sagen, dass er ihr nicht in die Hand schneiden konnte, da er in sie verliebt war!!! „…Wie gesagt, eine Operation ist etwas Anderes. Wenn ich jemandem das Leben retten kann, indem ich ihn im Prinzip verletze ist das okay. Ich mag es nur nicht, grundlos Leute verletzen zu müssen.“ „Du hast mich doch gar nicht grundlos verletzt.“, widersprach Ariane. Oh Gott, diese komische Diskussion könnte noch ewig so weitergehen, befürchtete Carsten. Hektisch stand er vom Stuhl auf. „Ich hole mal Desinfektionsmittel.“, meinte er nur und floh regelrecht in das Nebenzimmer, in welchem alle möglichen Utensilien für die Sanitäter aufbewahrt wurden. Dort angekommen lehnte er sich erst einmal gegen die Wand und hoffte, dass sich sein Herzschlag alsbald wieder beruhigen würde. Er war für so etwas einfach nicht gemacht. Er holte das Desinfektionsmittel und eine Wundheilsalbe aus dem Schrank und hatte sich zum Glück wieder halbwegs fangen können, als er zu Ariane zurückging. Diese beobachtete ihn nur amüsiert, während er sich um den Schnitt in ihrer Hand kümmerte. Carsten war so vertieft darin, dass er bei Lauras „Was macht ihr da?“ vor Schreck die Salbe fallen ließ. „Du bist endlich aufgewacht.“ Erleichtert musterte Ariane Laura, während Carsten beschämt die Salbe aufhob. Er benahm sich gerade wie der schlimmste Trottel. Während Ariane Laura von dem Zauber berichtete, begann Carsten, das Taschenmesser zu reinigen. Laura kicherte. „Johanna und Johannes fragen Benni bei einem Rätsel in Professor Layton um Rat? Wie süß.“ Carsten musterte sie kritisch. „Du bist mir etwas zu munter für deine seltsame Aktion vor ein paar Stunden.“ „Stimmt, was ist denn nun eigentlich passiert?“, fragte Ariane besorgt. Mit leichtem Entsetzen hörten Carsten und Ariane Lauras Bericht von ihrer Begegnung mit Lukas zu und wie sie doch am Ende des Kampfes tatsächlich mit ihm von der Brücke in das tiefe Wasser gefallen war. „Er wollte dich wirklich töten?!“, rief Ariane auf, die Sorge war nicht überhörbar. „Aber wie bist du wieder aus dem Wasser rausgekommen? Besonders, nachdem Lukas dich anscheinend auch noch außer Gefecht gesetzt hat.“, erkundigte sich Carsten. Laura seufzte. „Ich weiß es nicht. Das nächste woran ich mich erinnern kann ist, dass ich hier aufgewacht bin.“ Bedrückt ließ sie sich auf das nächstgelegene Bett sinken. „Aber dir geht es gut?“, fragte Nane nach. Laura nickte. „Meine Lunge tut nur ein bisschen weh, als hätte ich tatsächlich etwas Wasser eingeatmet, aber sonst ist alles bestens.“ Misstrauisch musterte Carsten sie und ballte die Hand zur Faust. „Wie konntest du überhaupt zu diesem Treffen gehen? Es war doch eindeutig, dass das eine Falle war!“ Gegen Ende wurde seine Stimme schroffer und vorwurfsvoller als beabsichtigt, was Laura etwas einzuschüchtern schien. Dennoch erwiderte sie: „Ich weiß. Aber das war mir egal! Ich will Benni helfen!“ „Du hättest sterben können!!!“, rief Carsten aufgebracht. „Oder Mars hätte dich gefangen nehmen können! Weißt du eigentlich, was für eine Angst wir um dich hatten?!?“ Betroffen zuckte Laura zusammen. „Du hättest doch in meiner Situation dasselbe getan.“ Carsten wusste nicht, ob er nun verzweifelt oder verärgert war. Er war nicht sauer auf Laura, in keinster Weise. Es frustrierte ihn nur ungemein, dass irgendjemand Laura einfach hätte entführen oder gar ermorden können, während sie eigentlich bei ihnen in Sicherheit sein sollte. Während Benni sie in Carstens Obhut gegeben hatte! Er hatte Carsten doch darum gebeten, für ihn auf Laura aufzupassen! Und da startete sie so ein waghalsiges Manöver, was sie hätte umbringen können!!! Carsten fuhr sich übers Gesicht. „Was denkst du, wie hätte ich Benni erklären sollen, wenn du dich auf einmal bei Johanna und Johannes in Mars‘ Kerker befunden hättest?! Wie hätte ich ihm sagen können, dass jemand dich ermordet hat?!? Obwohl ich ihm versprochen habe auf dich aufzupassen!!!“ „Aber es geht mir doch gut!!!“, widersprach Laura verzweifelt. „Ich bin weder in Mars‘ Kerker, noch hat jemand mich getötet!!!“ „Weil du riesiges Glück hattest, dass zufälliger Weise irgendjemand Vorort war und dich aus dem Wasser geholt hatte!!! Ariane und ich wären niemals rechtzeitig gekommen! Du wärst tot!!!“, schrie Carsten verzweifelt. „Bin ich aber nicht!!!“, schrie Laura zurück. Bevor er etwas darauf erwidern konnte, legte Ariane ihre Hand auf seinen Arm. „Beruhige dich erst einmal wieder. Was auch immer Laura für Schutzengel gehabt haben mag, die Hauptsache ist doch, dass es ihr gut geht.“ Erschöpft lehnte sich Carsten zurück und betrachtete die wolkenweiße Decke. Er war sowieso noch nicht wirklich erholt von diesen drei Wochen, da war der Zauber umso entkräftender gewesen. Und nun schrie er in seiner Verzweiflung auch noch Laura an… Was war nur los mit ihm? „Entschuldige…“, meinte er nur matt. Aufmunternd lächelte Laura ihn an. „Ach was, ich kann es ja verstehen.“ Dennoch merkte Carsten, dass sie leicht verspannt war. Was ihn nicht wunderte. Auch, wenn sie sich inzwischen viel besser zusammenreißen konnte als früher und nicht mehr sofort in Tränen ausbrach… Niemand wurde gerne von seinem besten Freund angebrüllt. Carsten mühte sich auf die Beine und ging zu Laura rüber, um sie sanft in die Arme zu nehmen. „Warum musst du mir nur andauernd solche Sorgen bereiten?“ Laura erwiderte nichts darauf, erwiderte jedoch die Umarmung und Carsten merkte, dass sie tatsächlich etwas zitterte. War sein Gefühlsaubruch so schlimm für sie gewesen? Oder war sie sich bewusst, wie knapp sie mit dem Leben davon gekommen war? Sofort nagte das schlechte Gewissen an ihm. Laura hatte selbst wahrscheinlich schon genug Angst gehabt, da hätte er es nicht auch noch schlimmer machen müssen. Ariane seufzte. „Aber wirklich Laura, du hast einen ziemlich abnormalen Schutzengel, wenn du sogar so etwas überlebst.“ Ihre Aussage machte Carsten stutzig. Er fragte sich sowieso schon die ganze Zeit, ob Benni etwas mit Lauras Rettung zu tun hatte. Immerhin hatte er bei Johanna und Johannes erwähnt, es sei ‚so mehr oder weniger‘ etwas passiert. Aber wie wollte er davon erfahren haben, dass Lukas Laura aufgesucht hatte um sie zu töten? Oder gar den Ort und die Zeit? Und hätte Mars ihn überhaupt in Lauras Nähe gelassen? Carsten konnte sich nicht erklären, wie Benni Laura in dieser Situation gerettet haben könnte. Aber wer sollte es sonst gewesen sein? Kapitel 61: Mut zum Beschützen ------------------------------ Mut zum Beschützen Den darauffolgenden Samstag fing Laura Carsten nach dem Mittagessen ab und zog ihn einige Meter von der restlichen Gruppe weg, die sich auf den Weg zu ihrem Sondertraining machte. „Was ist denn?“, fragte Carsten irritiert. „Kannst du mich kurz nach Yami teleportieren?“, erkundigte sich Laura. Verwirrt runzelte Carsten die Stirn. „So plötzlich?“ Vorsichtig schaute sich Laura um. „Angeblich werden wir doch irgendwie beobachtet. Ich will so schnell und unbemerkt wie möglich zum Schrein, damit nicht nochmal sowas passiert wie vor etwa einem Monat.“ Carsten schien zu verstehen worauf sie hinauswollte und nickte. „Aber möchtest du da wirklich ganz alleine hin?“ „Je mehr gehen würden, desto auffälliger wird es doch, nicht wahr?“ Ein schwaches Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Gutes Argument.“ Carsten schien ganz kurz Susanne in ihre Pläne einzuweihen und auf Höhe der Trainingsplätze trennten sie sich von den Mädchen, die noch nicht einmal mehr die Gelegenheit bekamen, Laura viel Glück zu wünschen. Bloß nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen. Gemeinsam verließen Laura und Carsten den Campus der Akademie über den Westwald. Automatisch fühlte sich Laura an ihre Spaziergänge mit Benni erinnert und sofort wurde ihr wieder schwer ums Herz. Dass sie ihn das letzte Mal gesehen hatte lag nun auch über einen Monat zurück. Und damals wurde er von Eagle auch noch mit dessen Schwert durchbohrt, weil er Laura hatte beschützen müssen… Laura seufzte. Der Kampf gegen ihn, Bennis eiskalter Blick, die Verletzung, die er von Eagle hatte, der Geruch nach Blut und verbrannter Haut, … Ausgerechnet das waren ihre letzten Erinnerungen an ihn. Natürlich wusste sie von Carsten und dessen Observationszauber, dass es Benni anscheinend gut ging. Aber so sehr beruhigen konnte sie das auch nun wieder nicht. Benni war immer noch in den Klauen von Mars. Und dieser hatte auch noch irgendwie vor, ihn zu seinem Dämonenbesitzer zu machen, um so dem Bann zu entkommen! Sie mussten so schnell es ging etwas unternehmen. Irgendetwas, um genau das zu verhindern! Und dafür brauchte Laura ihre Dämonenform. Inzwischen hatten sie den Bereich der Magiebarriere verlassen und Carsten teleportierte sich und Laura nach Yami. An denselben Ort, wie auch schon vor über einem Monat. Schweigend liefen sie nebeneinander her auf den Tempel zu. Natürlich hatte Laura Angst, dass wieder irgendwas passierte. Es passierte irgendwie immer etwas, wenn sie die Prüfung für ihre Dämonenform absolvieren wollte! Erst das grauenhafte Feuer in Obakemori, bei dem Eufelia-Sensei ums Leben gekommen war und Benni schwer verletzt wurde. Danach der Angriff von Benni und Jack, um zu verhindern, dass Laura ihre Prüfung machte. Ehrlich, Laura erwartete inzwischen eigentlich schon, dass wieder etwas vorfallen würde. Carsten anscheinend auch, denn er bestand darauf, Laura zumindest bis vor die Tempeltür zu begleiten. Nicht, dass sie schon wieder in einen Hinterhalt geraten würde. Und nachdem Laura letzten Montag so mehr oder weniger freiwillig in Lukas Falle getappt war, schien Carsten sie ohnehin nicht mehr aus den Augen lassen zu wollen. Natürlich verstand Laura, warum er so besorgt um sie war. Schließlich hatte er Benni versprochen auf sie aufzupassen und Laura hatte bekanntlich das nicht sehr schöne Talent sich ständig in Schwierigkeiten zu bringen. Aber trotzdem… Musste Laura nun so gut wie jeden Moment ihrer Zeit in irgendjemandes Begleitung sein? Sie fühlte sich schon so wie damals als Kind, als man sie nicht einmal alleine aus dem Haus gelassen hatte. Laura war unwohl zumute, als sie die schwere dunkle Holztür zum Schrein öffnete und eintrat. Zögerlich drehte sie sich zu Carsten um, der immer noch auf der Türschwelle stand. „Kommst du nicht mit?“, fragte sie ihren besten Freund verunsichert. Ein trauriges Lächeln breitete sich auf Carstens Lippen aus. „Ich kann nicht. Der Schwarze Löwe verbietet mir den Eintritt.“ Laura schluckte schwer und Carsten sprach das aus, was sie dachte. „Deine Prüfung scheint wohl tatsächlich stattzufinden.“ Sie mühte sich zu einem Lächeln. „Es hat ja auch lange genug gedauert.“ „Viel Erfolg. Du packst das.“, sprach er ihr Mut zu und entfernte sich einige Schritte von dem Tor, das kurz darauf laut krachend in die Angeln fiel. Laura atmete tief durch und wandte sich dem Inneren des Tempels zu. Es war also endlich so weit. Er sah anders aus, als bei ihrem ersten Besuch. Anstelle der japanischen Einrichtung mit den Tatamimatten und Papierwänden war dieses Mal extrem viel aus dunklem Holz. Der Boden und die Wände, die schmale Treppe, die in ein oberes Stockwerk führte, … Nur wenige Kerzen verhalfen zu einer deutlicheren Sicht und an den Wänden waren schemenhaft lauter gestapelte Bücher zu erkennen, die nicht mehr in die mit Büchern überfüllten Regale passten. Laura stutzte. Dieser Ort kam ihr sehr vertraut vor. Zu vertraut. Auch, wenn sie ihn seit etwa einem halben Jahr nicht mehr gesehen hatte. Und nicht erwartet hätte, ihn je wieder sehen zu können. In der Mitte des Raumes war ein sternenförmiger, kleiner Teich, auf dessen Insel in der Mitte sie automatisch eine alte Frau mit silberweißen Haaren erwartete. Laura schluckte schwer. Doch natürlich saß da niemand, erstrecht nicht die Person, die sie vermutet hatte. Schließlich war Eufelia-Sensei tot… Bedrückt schaute sie sich um. Es war haargenau so, wie sie das Haus in Erinnerung hatte, in dem Eufelia-Sensei und Benni einst gelebt hatten. Unbewusst wischte sie sich über die Augen, in denen sich automatisch Tränen gesammelt hatten. Zu viele Erinnerungen waren mit diesem Ort verbunden. „Sensei?!“, drang auf einmal von außen eine Stimme in das Innere der Hütte. Es war die helle, klare Stimme eines Kindes und kurz darauf wurde dieselbe Tür geöffnet, durch die auch Laura zuvor eingetreten war. Ihr stockte der Atem. Das helle Haar des Kindes war, man konnte es nicht anders sagen, weiß. Das linke Auge so schwarz wie die Nacht. Und Laura wusste, dass das rechte Auge blutrot war, auch wenn es momentan von einer weißen Augenbinde verdeckt wurde. „Benni?“ Der kleine Junge legte den Kopf schief und musterte Laura verwirrt. „Der bin ich. Und Sie? Sind Sie eine Freundin von Eufelia-Sensei?“ „Ah-ähm… Genau! Sowas… in der Art. Aber ähm… bitte… sprich mich doch nicht so höflich an!“ Laura war restlos überfordert mit dieser Situation. Sie stand nun hier, in einem Haus, was eigentlich vollständig abgebrannt sein müsste und unterhielt sich mit einer fünfjährigen Version von Benni?! Dieser schaute sich im Raum um und meinte schließlich: „Sensei scheint momentan außer Haus zu sein. Möchten Sie… ich meine… möchtest du hier warten, bis sie zurückkehrt?“ Laura brachte lediglich ein Nicken zustande und kniete sich auf den Holzboden, um dem kleinen Benni besser in die Augen schauen zu können. Zögernd ging er einige Schritte auf Laura zu und fragte sie schließlich: „Wer sind Sie… bist du überhaupt?“ Diese Frage bohrte sich wie ein Pfeil durch Lauras Herz. Du weißt doch, wer ich bin!, schrie es in ihrem Kopf. Laura versuchte das beklemmende Gefühl zu ignorieren und rief sich in Erinnerung, dass dieser Benni nur ihre zwölf Jahre jüngere Version kennen konnte. Moment. Zwölf Jahre? Laura betrachtete Benni genauer, welcher schweigend auf ihre Antwort wartete. Tatsache. Er sah genauso aus wie vor zwölf Jahren. „Ach so, ähm… Ich bin Laura.“, antwortete sie als ihr auffiel, dass sie sich immer noch nicht vorgestellt hatte. „Laura?“ Benni schien leicht irritiert. Was auch nachvollziehbar war. Immerhin hieß sie genauso wie das vierjährige Mädchen, auf das er momentan aufpasste. Laura fragte sich, ob sie in dieser Prüfung auch auf eine junge Version von Carsten oder gar sich selbst treffen würde. Derweil war Benni wieder einige Schritte näher gekommen und musterte sie mit dem für ihn typischen neutralen Blick. Wobei… Laura musste sich berichtigen. So ganz neutral war er nicht. Benni wirkte immer noch verwirrt und neugierig. Und auch ein bisschen traurig. Jedoch wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab und ging zurück zur Tür. „Warte! Wo… wo gehst du hin?“, hielt Laura ihn vom Rausgehen ab. „Zum Anwesen der Familie Lenz.“, antwortete Benni lediglich, den Blick immer noch abgewandt. „Ich… ähm… ich würde gerne mitkommen, wenn das okay ist.“ Zögernd stand Laura auf. Benni zuckte lediglich mit den Schultern. „Wenn du magst…“ Gemeinsam verließen sie die Hütte von Eufelia-Sensei und bei einem Blick über die Schulter stellte sie fest, dass sie sich tatsächlich auf jener Lichtung befand, die ihr seit ihrer Kindheit so vertraut war. Auch der Pfad durch den Wald war genau derselbe, den sie früher so häufig mit Benni entlang gegangen war. Und ebenso hatte Benni die für ihn charakteristische Schweigsamkeit. Es war ein seltsames Gefühl, neben dem kleinen Benni zu laufen. Laura wusste immer noch nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Immerhin kannte er sie ja in gewisser Weise nicht, während sie inzwischen alles über ihn wusste. Sie versuchte, so unwissend wie möglich zu klingen, als sie einen Smalltalk mit Benni startete. „Wie alt bist du denn?“ „Fünf.“ „Also gehst du noch in den Kindergarten?“ Der kleine Benni nickte. Laura seufzte. Jap, genauso schweigsam wie sonst. Bei ihrer nächsten Frage fühlte sie sich zwar alles andere als wohl, aber sie war die naheliegendste für so ein Gespräch. „… Magst du es dort?“ Benni hielt einen Moment inne und Laura merkte, wie er die kleinen Hände zu Fäusten ballte. „Nein.“ Bedrückt senkte Laura den Blick. „Sind… die anderen Kinder etwa gemein zu dir?“ Sie machte es nicht gerade besser. „So in der Art…“ Bei dem bedrückten Klang seiner Stimme hätte Laura ihn am liebsten sofort in die Arme genommen. Früher als Kind war ihr das nie aufgefallen, da sie immer zu ihm aufgeschaut hatte und ihn für unbesiegbar hielt. Aber nun… Er wirkte so einsam. So verloren. Und so zerbrechlich. „Das ist schade…“ Laura blieb stehen und ging neben Benni in die Knie, um etwa auf seiner Augenhöhe zu sein. Dieses matte schwarze Auge, was jetzt schon deutlich zeigte, wie viel Leid und Verzweiflung er bereits in diesen jungen Jahren mit sich rumtrug. Und das rote Auge, was er vor der ganzen Welt verstecken musste. Lauras Herz zog sich schmerzhaft zusammen, während sie Bennis süßes Kinder-Gesicht betrachtete und sich partout nicht vorstellen konnte, wie man auf die Idee kam so jemand goldiges als Monster zu bezeichnen. Zwar erwiderte Benni ganz ruhig ihren Blick, doch Laura erkannte trotzdem, dass er traurig war. Aber sie wollte ihn nicht so sehen müssen! In seiner Kindheit litt Benni unter der Gesellschaft, jetzt leidet er unter Mars, … Warum konnte Benni nicht einfach ein normales, glückliches Leben führen?! Laura atmete tief durch und lächelte Benni aufmunternd zu. „Du scheinst es nicht leicht zu haben… Aber lass dich von diesen Idioten nicht unterkriegen. Ich weiß, dass du das packst. Du bist stark, sehr stark. Auch, wenn du dir dessen vielleicht noch nicht bewusst bist. Und egal was die anderen sagen… So lieb wie du bist, verdienst du es, glücklich zu sein.“ Bennis Wangen färbten sich leicht rötlich. „Ich bin nicht lieb.“, widersprach er. Laura kicherte und tippte ihm mit den Fingern gegen die Stirn. „Oh doch, bist du. Und noch dazu richtig süß.“ „Gar nicht wahr.“ Schnell wandte er sich ab und ging weiter zu dem Anwesen. Belustigt folgte Laura ihm. Auch das Anwesen war so, wie es schon immer war und sein würde. Die hohe Steinmauer mit den schwarzen Ziegeln, die japanischen Bäume und Sträucher, die Laternen und Kirschbäume, die den Weg zierten, … Noch während sie auf die Villa zugingen öffnete sich die Eingangstür und ein Junge kam herausgestürmt. Die schwarzen längeren Haare, die dunkle Indigonerhautfarbe und die magischen lila Augen waren unverkennbar. Amüsiert stellte Laura fest, dass der vierjährige Carsten kaum anders war als der sechzehnjährige, der sie vor kurzem noch zum Schrein begleitet hatte. Okay, natürlich war der Carsten, der nun vor ihr stand viel kleiner und hatte noch viel kindlichere Gesichtszüge. Aber das Lachen, mit dem er Benni begrüßte, war dasselbe. Überrascht bemerkte Laura, dass die drei Narben über seiner Nase fehlten. Also war er wohl noch kein Dämonengezeichneter. „Da bist du ja endlich!“, rief vom Eingang aus eine Mädchenstimme. Laura beobachtete, wie ihr vierjähriges Selbst die Stufen des Anwesens hinabstieg und ebenfalls auf sie und Benni zuging. Sie trug einen grünen Kimono mit hellen Blumen und einem roten Obi. Die honigfarbenen Haare waren zu einer Hochsteckfrisur gebunden und… Laura hielt inne. Als Kind hatte sie immer kurze Haare gehabt und deshalb nie Hochsteckfrisuren tragen können. Das war immer… „Du bist später als erwartet.“, hörte sie eine weitere Stimme aus dem Eingang. Der Junge, der auf sie zu kam, war etwa genauso alt wie Laura eben und hatte dunkle, rötliche Haare und schokobraune Augen. Lauras Herz setzte aus, ihr Atem stockte. Sie konnte nur wie gelähmt beobachten, wie sich Benni verneigte und auf Japanisch für die Verspätung entschuldigte. Das Mädchen schüttelte verstimmt den Kopf und der abwertende Blick, mit welchem der Junge Benni betrachtete, war nicht zu übersehen. Dennoch nahm Benni keine Notiz davon. Er schien sich bereits daran gewöhnt zu haben. Stattdessen wandte er sich Laura zu. „Das sind Lucia und Luciano Lenz, die Kinder des Oberhaupts des Siebenerrates, Leon Lenz.“ „Ich weiß…“ Ihre Stimme war zu schwach, als dass sie mehr als nur ein Flüstern hätte zustande bringen können. Immer noch paralysiert beobachtete sie, wie sich ihre Geschwister höflich verneigten. „Ähm und ich… ich bin Carsten.“, stellte sich der kleine Carsten vor. Zwar höflich, aber dennoch schüchtern und distanziert, so wie er sich etwas hinter Benni versteckte. Luciano schaute Laura kritisch an. „Und du bist?“ Laura merkte gar nicht, dass diese Frage an sie gerichtet war. Sie stand immer noch nur da, wie als wäre sie zu Stein erstarrt. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was geht hier vor sich? Benni hat doch schon die Augenbinde, also müssten wir zeitlich nach dem Angriff des Schwarzen Löwen sein! Lucia und Luciano müssten… „Sie meinte, ihr Name sei… Laura.“, übernahm Benni die Vorstellung für sie, als Laura immer noch nicht geantwortet hatte. Lucia und Luciano schauten erst Benni, dann Laura selbst kritisch an. „Wirklich?“ Zögernd nickte sie. Ein trauriges Lächeln zeichnete sich auf Lucias Lippen ab. „Was für ein Zufall… Du heißt genauso wie meine Schwester.“ Auch Luciano lächelte sie bedrückt an. „Du siehst ihr sogar ziemlich ähnlich.“ Laura versuchte, den metallischen Geschmack herunterzuschlucken. „W-was… was ist denn mit eurer… Schwester?“ Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen. Sie wollte gar nicht hören, was die anderen ihr wahrscheinlich gleich antworten würden. Lauras angespannter Körper begann zu zittern, während sie beobachtete, wie Lucia und Luciano betrübt den Kopf senkten. Der kleine Carsten hatte ebenso bedrückt eine Hand auf Bennis Schulter gelegt, welcher den Kopf abgewandt und die Augen zusammengekniffen hatte, als würde er verzweifelt um Selbstbeherrschung ringen. Schließlich rang sich Luciano zu einer Antwort durch. „Leider ist sie vor wenigen Wochen verstorben. Sie… hatte Karystma.“ Gepresst versuchte Laura Luft zu holen. Sämtliche Kraft entwich ihrem Körper und nur mit Mühe konnte sie verhindern, auf den Boden zu sacken. Sie war… tot? Luciano musterte sie besorgt. „Alles in Ordnung? Du bist so blass.“ „J-ja…“ Trotz des Schwindels der sie überkam, versuchte Laura nicht zu taumeln. „Das… das muss schrecklich für euch sein… Mein Beileid…“ Luciano nickte leicht. „Danke…“ Lucia hatte sich derweil an das Hosenbein ihres großen Bruders gekrallt, welcher ihr sanft über den Scheitel strich. „Es ist schrecklich.“, meinte er schließlich und erwiderte Lauras Blick, welche immer noch gegen den Schock ankämpfte. „Die beiden waren Zwillinge.“ „Verstehe…“, erwiderte Laura schwach. Darum bemüht, nicht umzukippen. Was ging hier vor sich? Warum waren Lucia und Luciano noch am Leben? Und warum war Laura selbst… War das hier nicht einfach nur die Vergangenheit? Luciano wies auf das Anwesen. „Möchtest du für einen Moment mit rein kommen?“ Laura nickte langsam und atmete tief durch, um ihren Geschwistern ins Innere des Hauses folgen zu können. Dennoch schwankte sie etwas. Luciano betrachtete sie kritisch. „Ist wirklich alles in Ordnung?“ „J-ja, mir… ist nur etwas… schwindelig.“ Ihr großer Bruder lächelte sie melancholisch an und hielt ihr seine Hand hin, um sie zu stützen. „Es ist süß, wie dich der Tod unserer Schwester so mitzunehmen scheint. Danke, für dieses aufrichtige Beileid.“ Laura wich seinem Blick aus. Weil ich diese Schwester bin… Nur mit viel Mühe konnte Laura die Tränen zurückhalten, während Luciano sie ins Haus geleitete und ihr im Speisezimmer half, sich hinzusetzen. Mit einem Schlag kamen sämtliche Erinnerungen an ihren großen Bruder zurück. Damals hatte er sie häufig gestützt oder getragen, wenn Lauras Körper keine Kraft mehr hatte. Lucia setzte sich zögernd neben Laura und Luciano bat die Magd, ihnen Teewasser aufzusetzen. Noch bevor sich auch Benni setzen konnte, meinte Lucia auf einmal: „Wolltest du nicht eigentlich nur Carsten für euer Training abholen?“ Obwohl Laura immer noch neben der Spur war, war es ihr unmöglich zu überhören, wie aufgesetzt Lucias Freundlichkeit gegenüber Benni klang. Dieser nickte lediglich und zupfte Laura am Saum ihres T-Shirts. „Carsten und ich gehen schon mal vor. Kennst du den Weg zurück zu Eufelia-Sensei?“ Besorgt merkte sie, wie Benni es konsequent vermied, ihr in die Augen zu schauen. Laura fragte sich, wie es ihm wohl mit… ihrem Tod ging. Bedrückt erinnerte sie sich daran, wie Benni vor etwa zwei Monaten vor dem Grab seines Opas zusammengebrochen war. Und da hatte man ihm ‚nur‘ damit gedroht, sie und Carsten umzubringen. Am liebsten hätte Laura den kleinen Benni genommen und fest an sich gedrückt. Und irgendwie hatte sie den Eindruck, dass er eine Umarmung auch gut gebrauchen könnte. „Ähm, ja… Den Weg kenne ich. Vielen Dank.“, meinte sie als ihr auffiel, dass Benni noch ihre Antwort erwartete. Dieser nickte lediglich und verneigte sich noch einmal vor Lauras Geschwistern, ehe er das Zimmer wieder verließ. Carsten folgte ihm eilig, um anscheinend bloß nicht alleine hier zu bleiben. Luciano wies auf die wieder geschlossene Tür. „Der Junge eben ist der zweitgeborene Sohn des Häuptlings von Indigo. Er ist zwar extrem schüchtern, aber eigentlich ganz lieb. Und noch dazu ein ziemlich talentierter Magier.“ Nun wies er auf Lucia. „Er bringt ihr bereits jetzt schon einige Tricks bei.“ Ach, so war das also. Hier war es nicht Benni, der Laura das Kämpfen beibrachte, sondern Carsten, der Lucia im Zaubern unterrichtete. Laura warf einen Seitenblick auf ihre eigentlich ältere Zwillingsschwester und fragte sich, ob O-Too-Sama nun vorhatte, sie mit Carsten zu verheiraten. Er war ja anscheinend immer sehr daran interessiert gewesen, die Beziehungen zwischen Yami und Indigo mit einer Hochzeit zu verstärken. „Den anderen Jungen, Benedict, scheinst du ja bereits zu kennen.“, fuhr Luciano fort und klang auf einmal nicht mehr so wohlwollend. „Er war eigentlich mit dem Schutz unserer kleinen Schwester beauftragt aber nun ja…“ Laura schluckte den Kloß im Hals herunter und versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass sie in dieser Welt bereits jetzt schon nicht mehr am Leben war. Das ist alles nur eine Projektion des Schwarzen Löwen, rief sie sich in Erinnerung. Und doch half es nicht, dieses beklemmende Gefühl in ihrem Herzen abzuschwächen. Traurig und auch missbilligend schüttelte Luciano den Kopf. „Der Junge ist… schwierig.“ Erneut spannte sich Lauras Körper an. Egal was passiert war, die Meinung ihrer Geschwister über Benni schien sich offensichtlich nicht geändert zu haben. „Wie meinst du das?“ Laura bemühte sich, so unwissend und neutral wie möglich zu wirken. „Auf mich macht er einen sehr vernünftigen Eindruck. Er ist absolut lieb, zuvorkommend und höflich. Na gut, vielleicht ist er etwas zu still und verschlossen für sein Alter… Aber wenn er sich anscheinend… ähm… um… eure Schwester gekümmert hat… Also…“ „Es stimmt, gut erzogen ist er im Prinzip. Keine Frage. Aber das bringt nicht viel, wenn er ständig am Rebellieren ist und immer seinen eigenen Kopf durchsetzen muss.“ Lucia schnaubte. „Egal wo er hinkommt, immer macht er Ärger.“ Laura runzelte die Stirn. Bennis rebellischer Charakter konnte doch nicht ernsthaft der Grund sein, warum ihre Geschwister ihn so abwertend behandelten. Weshalb sie ihn regelrecht hassten! „Aber wenn er doch ansonsten seine Pflichten erfüllt hat…“, versuchte sie Benni in Schutz zu nehmen, während die Magd ihnen den Tee brachte. „Etwas zu gut, will ich meinen.“ Luciano ballte die Hand zur Faust. „Er sollte einfach nur auf unsere kleine Schwester aufpassen und sich nicht direkt in sie verlieben.“ Laura verschluckte sich an dem zu heißen Tee. Was hatte Luciano da gesagt?! „V-verlieben?“, brachte sie hustend hervor. Luciano zuckte verärgert mit den Schultern. „Im Prinzip schon. Wobei ich keine Ahnung habe, wie ‚romantisch‘ solche Gefühle in dem Alter sein können.“ Wenn Laura schon den Eindruck hatte, beim Gespräch mit dem kleinen Benni überfordert gewesen zu sein, dann hatte sie sich gewaltig geirrt. Das hier war überfordernd. Hatte ihr großer Bruder eben ernsthaft behauptet, Benni habe schon damals Gefühle für Laura gehabt? Bis vor wenigen Monaten noch hatte sie nicht den blassesten Schimmer, was Benni für sie empfunden hatte. Manchmal hatte sie sogar daran gezweifelt, ob er ihr überhaupt auch nur annähernd freundschaftlich zugeneigt war. Und Benni selbst wusste seine Gefühle ja ohnehin so gut wie nie zu deuten. Hatte sie den Großteil seines Lebens gar versucht gänzlich auszublenden. Und nun sagte Luciano auf einmal, er sei jetzt schon in sie verliebt? „Das kann ich mir gar nicht vorstellen…“, brachte Laura lediglich zustande und merkte gar nicht, dass sie sich am heißen Tee die Zunge verbrannt hatte. Luciano zuckte mit den Schultern. „Es ist tatsächlich schwer vorstellbar. Der Junge wirkt auch einfach ständig so kalt und unnahbar. Unser Vater spricht ihm genaugenommen auch sämtliche Emotionen ab, erstrecht solche wie Liebe und Freundschaft.“ Er warf Laura ein trauriges Lächeln zu. „Sagen wir einfach, das ist der Instinkt eines großen Bruders.“ Lucia blies die Backen auf. „Ich wollte immer, dass er sich von meiner Schwester fern hält. Ich hatte Angst, dass sein Hang zu Schwierigkeiten irgendwann auch Laura in Gefahr bringen könnte.“ Überrascht bemerkte Laura, dass Lucias Sorge gar nicht mal so unbegründet war, wenn sie an ihre jetzige Situation mit Mars dachte, der Bennis Gefühle gewissenlos ausnutzte um ihn zu erpressen. Luciano seufzte. „Das stimmt. Nur mir wäre diese Sorge lieber, als… die jetzige Situation.“ Traurig nickte Lucia und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. „Zumindest Laura hatte ihn immer sehr gemocht… Und dann war er noch nicht einmal da, als sie- als sie…!“ Sie schluchzte auf. „Entschuldigt mich…“ Eilig sprang Lucia von ihrem Stuhl runter, als wolle sie das Zimmer verlassen. Als wolle sie vor den Augen einer Fremden nicht weinen. Aber Laura war keine Fremde! Instinktiv schnappte sie nach Lucias Hand. „Ist schon okay…“ Als Lauras eigentlich ältere Zwillingsschwester nun endgültig in Tränen ausbrach und sich bitter schluchzend an Lauras Rock klammerte, musste sich Laura selbst noch mehr zusammenreißen. Und es fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer. Sie vermisste ihre verstorbenen Geschwister immer mehr. Genauso wie Benni, der wohl, egal in welcher Zeit, einfach immer mit irgendwelchen Schicksalsschlägen zu kämpfen hatte. Vorsichtig hob Laura die immer noch zitternde und weinende Lucia zu sich hoch auf den Schoß, wo sie ihr Gesicht in Lauras T-Shirt vergrub. Luciano beobachtete seine kleine Schwester und schien selbst gegen seine Gefühle anzukämpfen. „Entschuldige…“. Er lächelte Laura traurig zu. Diese musste sich auch mehr als nur zusammenreißen, um halbwegs normal reden zu können. „Ist schon okay…“ Es war irgendwie auch schön zu sehen, dass ihre Geschwister genauso sehr um Laura trauerten, wie sie um ihre Geschwister. Aber trotzdem wollte sie sie nicht so verzweifelt sehen müssen… Laura bemühte sich, irgendwie das Gespräch fortführen zu können. „Was meinte Lucia damit, dass er nicht da war, als…“ Luciano seufzte. „Den Zwischenfall mit dem Schwarzen Löwen hast du doch sicherlich mitbekommen, oder?“ Laura brachte lediglich ein Nicken zustande. Immerhin wären an dem Tag eigentlich ihre Geschwister… „Als der Dämon irgendwann verschwunden war, ist Benedict auf einmal zusammengebrochen und Blut kam aus seinem rechten Auge. Danach war er etwa zwei Wochen lang nicht bei Bewusstsein. Innerhalb dieser Zeit… Na ja, du kannst es dir denken. Der Angriff des Schwarzen Löwen hatte sie einfach zu sehr geschwächt…“ Lucias Schluchzen wurde stärker. „Kurz bevor sie- sie hatte ständig nach ihm gefragt! Hatte andauernd geweint, weil er sie auf einmal alleine ließ! Wenn er jedenfalls dann bei ihr gewesen wäre! Dieses eine Mal!!!“ Laura verlor den Kampf gegen ihre Tränen. Sie wusste, dass Lucia Recht hatte. Wie häufig hatte sie die Monate vor ihrem sechzehnten Geburtstag schon in der Angst gelebt, dass Benni sie am Ende alleine lassen würde? Dieses erdrückende Gefühl, dass es ihm gänzlich egal war, wenn sie starb. Und selbst, nachdem sie wusste, dass es ihm nicht egal war… Wie häufig hatte sie sich trotzdem davor gefürchtet, von ihm alleine gelassen zu werden? Die lähmende Angst vor dem Tod kehrte zurück. Zitternd verstärkte Laura ihren Griff um Lucias Schultern. Bedrückt stand Luciano auf, ging um den Tisch herum und reichte sowohl Laura als auch Lucia ein Taschentuch. „Verzeih, dass wir dir so viel zumuten.“, meinte er nur, an Laura gewandt. Laura schüttelte lediglich den Kopf und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ist schon okay…“ Luciano lehnte sich gegen den Tisch. „Ich weiß auch nicht, warum wir dir das alles erzählen… Vermutlich einfach, weil du ihr so ähnlich bist.“ Freudlos lachte er auf. „Aber es ist wohl kaum möglich, dass unsere Schwester als zwölf Jahre älteres Mädchen auf einmal wieder unter den Lebenden weilt.“ Am liebsten hätte Laura ihm entgegen gebrüllt, dass das sehr wohl möglich war. Ich bin eure Schwester!, schrie es in ihren Kopf. Doch bevor sie diesen Gedanken wirklich herausschreien konnte, fuhr ein stechender Schmerz durch ihr Herz. Erschrocken schaute sie sich um. Irgendetwas war passiert. Sie wusste nicht, wieso sie das wusste. Aber sie wusste es. Luciano betrachtete sie besorgt. „Alles in Ordnung?“ Eilig stand Laura auf, Lucia immer noch in den Armen haltend. „Etwas stimmt nicht.“ Er runzelte die Stirn. „Wie meinst du das denn?“ „K-keine Ahnung. Es ist irgend so ein Gefühl!“ Und dieses Gefühl sagte ihr, dass sie sich beeilen sollte. Ansonsten würde sie es bitter bereuen. Diese ganze Welle an Ereignissen und Eindrücken ließ Laura taumeln. Ihr Körper zeigte ihr ganz deutlich, dass er durch diese Gefühlsflut keine Kraft mehr hatte. Und trotzdem… Lauras Instinkt befahl ihr sich zu bewegen. Etwas zu unternehmen. Zu verhindern, dass etwas ganz Schlimmes passierte. Sie gab Lucias immer noch zitternden Körper an ihren großen Bruder. „Es tut mir furchtbar leid, aber ich muss los!“ Und schon stürmte sie aus dem Esszimmer. Hielt sich schwankend an der Eingangstür fest, während sie irgendwie in ihre Schuhe stolperte. Schwer atmend rannte sie über das Grundstück ihrer Familie auf das Eingangstor zu. „Laura, warte! Was ist denn plötzlich los?!“, rief Luciano ihr hinterher. Laura antwortete nicht und rannte stattdessen in den Wald hinaus. Sie wusste nicht, wohin sie rannte. Aber ihren Beinen war das egal. „Ist etwas passiert?!“, fragte Luciano, der sie auf einmal eingeholt hatte und immer noch Lucia auf dem Arm trug, die sie ebenso verwirrt betrachtete. Stimmt ja, Luciano war ein Kampfkünstler. Er hat wohl kaum ein Problem, mit mir Schritt halten zu können., erinnerte sie sich. „Ja, aber keine Ahnung, was!“, rief Laura, während sie erkannte, welchen Weg ihre Beine da entlang rannten. Lauras Herzschlag beschleunigte sich. Die Erschöpfung wich der Angst und das Adrenalin brachte ihr wieder Kraft. Schließlich kam die Lichtung in ihr Blickfeld. Laura konnte mehrere großgewachsene, dunkle Gestalten erkennen, die zwei kleine Jungs eingekreist hatten. Sie hielt den Atem an und konnte nur aus der Entfernung beobachten, wie einer von ihnen einen Dolch zog und sich auf die zwei Kinder stürzte. Carsten schrie auf und stolperte zurück. Benni sprang dazwischen und wehrte den Angriff gerade noch rechtzeitig ab, während der Dolch einen tiefen Schnitt in seinem Unterarm hinterließ. Anstatt zurückzuweichen, griff der Kampfkünstler erneut an, dieses Mal zusammen mit seinen Komplizen. Einen Hieb gegen die Seite und einen Tritt konnte Benni blocken. Doch den Dolchstoß konnte er nicht mehr abwehren. Taumelnd wich Benni einige Schritte zurück und hielt sich die blutende Schulter, als ihn ein Schnitt ins Schienbein in die Knie zwang. Laura hatte in dieser Zeit gerade mal die Lichtung erreichen können, als der erste Angreifer den kleinen Benni an der Kehle packte und hochhob. Erneut schossen Erinnerungen durch ihren Kopf. Wie gelähmt beobachtete Laura, wie Bennis Augenbinde durchgeschnitten wurde und somit das rote Auge nicht mehr verdecken konnte. „Aufhören!!!“, hörte sie sich schreien und rannte zu den Typen. Sie musste verhindern, was gleich passierte. Musste rechtzeitig diese letzten Meter überwinden. Der Mann beachtete sie jedoch gar nicht. Mit ungeheurer Kraft stieß er Bennis kleinen Körper von sich fort. Auf einen Baum zu. Es waren immer noch zu viele Meter. „Nicht!!!“ Laura streckte die Hand nach Benni aus. Als würde sie irgendwie so die letzten Meter überwinden können. Aber sie musste! Sie durfte nicht zulassen, dass Benni verletzt wurde! Instinktiv sandte sie ihre Finsternis-Energie aus. Hüllte Bennis Körper in sie ein. Betete, dass sie ihn irgendwie etwas abbremsen würde. Er darf nicht verletzt werden. Er darf nicht verletzt werden! Und tatsächlich, die Finsternis-Energie schwächte die Wucht des Angriffs etwas ab. Verlangsamte ihn zumindest ein bisschen. Noch bevor Benni gegen den Baum prallen konnte, hatte Laura ihn eingeholt. Sie sprang zwischen ihn und den Baum und fing Benni auf. Und absorbierte auch die restliche Energie mit der Finsternis. Erschöpft lehnte sich Laura gegen den Baumstamm. Den kleinen Benni hielt sie immer noch fest. Sie traute sich gar nicht ihn loszulassen. Benni atmete schwer und Laura spürte, wie sein kleiner Körper zitterte. „Es ist alles gut.“, redete sie beruhigend auf ihn ein. „Dir wird nichts mehr passieren. Ich passe auf dich auf.“ Luciano und Lucia hatten sie inzwischen auch erreicht. „Was geht hier vor sich?!“, rief Lauras großer Bruder zu den Kampfkünstlern rüber. „Nanu? Was für ein Zufall. Was macht ihr beide denn hier?“ Laura zuckte bei der Stimme zusammen. Sie war ihr besser bekannt, als ihr lieb war. Luciano runzelte die Stirn. „O-Nii-Sama?“ Lukas lächelte seinen ein Jahr jüngeren Cousin lediglich an. Laura verstärkte ihren Griff um den kleinen Benni. Es war ja klar, dass Lukas dahinter steckte. Sie betrachtete ihren Cousin genauer. Er sah tatsächlich jünger aus und Narben hatte er auch noch keine. Aber die Haare waren bereits blau gefärbt und das widerliche Grinsen hatte sich auch in keiner Weise verändert. Der Schrei einer Jungenstimme durchbrach die angespannte Atmosphäre und erschrocken bemerkte Laura, wie einer der dunkel-gekleideten Kampfkünstler Carsten am Handgelenk gepackt hatte. Lukas warf einen kurzen Blick auf ihn. „Lass den Kleinen gehen. Chief wäre es zwar wahrscheinlich egal, was aus ihm wird, aber wir sind nicht wegen ihm hier.“ Daraufhin ließ der Typ Carsten tatsächlich los, welcher zu ihnen rüber rannte und sich verängstigt an Lauras Arm klammerte. „Und weshalb seid ihr hier?“, rief Luciano fragend zu ihm rüber. Lukas und seine Männer kamen bedrohlich auf sie zu. Ohne es zu merken verlagerte Laura ihr Gewicht, um sich notfalls verteidigen zu können. Trotzdem hielt sie Benni immer noch mit einem Arm fest und schirmte mit dem anderen Carsten vor den Typen ab. Wie erwartet wies Lukas auf Benni. „Ich wäre ganz froh, wenn du meinen Auftrag nicht weiter hinterfragen würdest.“ Während Laura nach dem Fächer an ihrem Gürtel tastete, gingen Lucia und Luciano auf einmal einige Schritte zurück. „Carsten, Laura, es ist besser, wir gehen jetzt.“, wies Lauras großer Bruder sie an. Schockiert starrte sie ihn an. „Was?!“ Luciano hielt ihr die Hand hin. „Lukas wird seine Berechtigung haben. Es ist besser, wenn wir nicht hierbleiben.“ Laura biss die Zähne zusammen. Lukas wollte ein fünfjähriges Kind töten und Luciano schöpfte keinerlei Verdacht? Vertraute er seinem Cousin etwa so blind? „Das lasse ich nicht zu.“ Wütend funkelte Laura Lukas an. „Ich lasse nicht zu, dass du Benni etwas antust.“ Irritiert runzelte Lukas die Stirn. „Und du bist?“ Luciano packte Laura am Arm. „Komm, du kannst ihm nicht helfen.“ „Nein!“ Laura riss sich von ihm los. „Wie kannst du das einfach zulassen wollen?!?“ Nun zog Lucia an ihrem Arm. „Bitte, Nee-Chan! Lukas weiß schon, was er tut.“ Lauras Herz setzte aus. Ihr wurde schwindelig als sie erkannte, wie sehr Lukas die beiden in seiner Gewalt hatte. Ihr Blick fiel auf ihren Cousin. „Was hast du mit ihnen gemacht?“ Dieser schien verwirrt. „Wie bitte?“ „Tu nicht so dumm. Hast du sie irgendeiner Gehirnwäsche unterzogen?“ Während Laura vorsichtig Benni absetzte und Carsten seinen besten Freund etwas stützte, zog sie ihren Fächer aus dem Gürtel. „Laura, es reicht!“, wies Luciano sie auf einmal lautstark zurecht. Automatisch zuckte Laura bei dem wütenden Ton ihres großen Bruders zusammen. „Lukas hat nichts mit uns gemacht!“ „Er will ein Kind töten und du nimmst ihn auch noch in Schutz?!“, schrie sie ihn an. Auch wenn sie das nicht schaffte, ohne dass sich Tränen in ihren Augen sammelten. Luciano packte sie erneut am Arm. „Wie gesagt, er hat sicherlich seine Gründe. Und jetzt komm lieber, ich möchte dir nicht wehtun müssen.“ „Sehr gut, denn ich möchte dich auch nicht verletzen!“ Nun stellte sich Laura komplett zwischen Lukas und Benni, der immer noch von Carsten gestützt wurde. „Aber genauso wenig möchte ich, dass Benni verletzt wird! Also lass mich endlich los!“ Lukas schnaubte gereizt. „Ihr stellt meine Geduld ganz schön auf die Probe.“ Er gab seinen Männern das Zeichen zum Angriff. „Laura!“, brüllte Luciano. Laura kniff die Augen zusammen. „Bitte! Zwing mich nicht, mich zwischen meinen Geschwistern und Benni entscheiden zu müssen!!!“ Luciano ließ sie los. Und nur so hatte Laura genug Zeit, um den Angriff mit ihrem Tessen abfangen zu können. Den ersten Schlag stieß sie nach links weg, den zweiten nach rechts. Als ein Dolch auf sie zugeschossen kam wollte Laura erst zur Seite ausweichen, doch dann fiel ihr auf, dass hinter ihr Carsten und Benni standen, die sie vor den Angriffen beschützen musste. In letzter Sekunde bremste Laura den Dolch mit ihrer Finsternis-Energie ab, der nur wenige Zentimeter vor ihrer Kehle zum Stillstand kam. Sie schlug die Hand, die den Dolch hielt zur Seite und trat dem Besitzer dieser Hand in die Brust. Noch während der Typ aufkeuchte, musste Laura zwei weiteren Angriffen seines Komplizen ausweichen. Sie leitete die Finsternis-Energie in ihre Handfläche und schlug mit dieser zu, kaum dass sich eine Öffnung zeigte. Laura blieb gar nicht die Zeit sich zu vergewissern, dass der Komplize wirklich bewusstlos auf den Boden fiel, als der Dritte sie attackierte. Gerade, als sie einen Konter ausführen wollte, hörte sie hinter sich plötzlich jemanden ihren Namen schreien. Erschrocken drehte sich Laura nach der Ursache um. Der erste Angreifer hatte sich von ihrem Schlag bereits erholt und griff nun mit seinem Dolch den immer noch verwundeten Benni an und Carsten, der ihr einen hilfesuchenden Blick zuwarf. Natürlich ließ sich Laura davon zu lange ablenken und so war sie kaum dazu in der Lage, auf den Schlag auf ihre Schläfe zu reagieren. So schnell es ihr Körper zuließ sprang sie nach vorne, schaffte es irgendwie gleichzeitig den Angriff mit ihrer Finsternis-Energie zu stoppen und schlug demjenigen, der Benni und Carsten attackierte mit ihrem Ellenbogen in die Seite. Zumindest reichte das aus, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Doch nun musste sie gegen zwei Gegner gleichzeitig kämpfen, was viel komplizierter war. Kaum blockte sie den einen Angriff, war der zweite schon zur Stelle und nutzte ihre Deckungslosigkeit aus. Ein Schlag gegen den Kopf ließ Laura taumeln und so konnte sie auf den Schlag in die Magengrube gar nicht reagieren. Sie versuchte, mit ihrem Fächer zu kontern, doch dieser wurde ihr aus der Hand getreten. Noch während Laura von dem pochenden Gefühl in ihren Fingern abgelenkt war, zischte der Dolch auf ihr Gesicht zu. Sie spürte ein leichtes Brennen in ihrer Wange, als sie dem Dolch seitlich auswich. Dafür konnte sie nun dem Besitzer dieses Dolches die Handfläche in die Rippen rammen und verstärkte ihren Schlag mit ihrer Energie. Da sie schon ahnte, dass der andere sie von hinten angreifen würde, sammelte Laura ihre Energie sofort danach im Ellenbogen, kniff die Augen zusammen und schlug blind zurück. Erst als sie zweimal das dumpfe Geräusch eines Aufpralls hörte, traute sich Laura, ihre Augen wieder zu öffnen. Schwer atmend richtete sie sich auf und schaute sich um. Die drei in schwarz gekleideten Angreifer lagen allesamt bewusstlos auf dem Boden. Wenige Meter von ihnen entfernt saßen Benni und Carsten, die Laura mit großen Augen anschauten. Nicht weniger überrascht war der Blick von Lucia und Luciano oder gar Lukas. Laura rieb sich die schmerzende Hand und spürte, wie etwas Blut aus der leicht brennenden Wunde an ihrer Wange sickerte. Immer noch nicht ganz bei Atmen und etwas unsicher auf den Beinen ging Laura zu ihrem Tessen und hob diesen vom Boden auf. Steckte ihn allerdings noch nicht weg. Lukas war schließlich auch noch da. „Wer bist du?“, fragte dieser sie mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme. Hinter sich hörte Laura einige Schritte und sie spürte, wie eine Kinderhand vorsichtig ihre schmerzenden Finger berührte. Auch ohne hinzusehen merkte sie, wie Benni ihr etwas von seiner Finsternis-Energie gab und dadurch einen Teil ihrer Verletzungen heilte. Der Griff um ihre Hand verstärkte sich. „Du bist wirklich Laura, nicht wahr?“, fragte Benni und Laura fiel auf, wie er immer noch leicht zitterte. „Also… Ich meine…“ Nun wagte sie es doch, Lukas aus den Augen zu lassen und einen Seitenblick auf Benni zu werfen. Dieser klammerte sich immer noch an ihre Hand und schaute mit seinen großen Kinderaugen zu ihr hoch, in denen sich Tränen sammelten. Bedrückt lächelte Laura. Das war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie Benni weinen sah. Vorsichtig befreite sie ihre Hand aus seiner und wuschelte ihm durch die hellen Haare. „Ich weiß, was du meinst.“ Hastig fuhr sich Benni mit dem Arm über die Augen. Dass er selbst immer noch verletzt war, schien er nicht zu merken. Inzwischen waren auch Luciano und Lucia ihnen näher gekommen. „Also bist du wirklich…“, setzte ihr großer Bruder an, konnte den Gedanken allerdings nicht aussprechen. Laura nickte und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Lukas. Sie war sich ziemlich sicher, dass es noch nicht zu Ende war. „Ich bin Laura Lenz, das dritte Kind von Leon und Yuki Lenz und derzeitige Besitzerin des Schwarzen Löwen.“ „Wie ist das möglich?“, hörte sie Luciano fragen. Überraschung und Trauer, aber auch Hoffnung schwang in seiner Stimme mit. „Sagen wir einfach, ich komme aus einer anderen Zeit.“, antwortete Laura. Sie hatte keine Ahnung, ob der Schwarze Löwe damit ein Problem hatte, dass sie nun ihre wahre Identität verriet. Aber eigentlich war ihr das auch egal. Lukas runzelte die Stirn. „Die derzeitige Besitzerin des Schwarzen Löwen? Nun, dass ist ein glücklicher Zufall. Luciano!“, rief er zu Lauras großem Bruder hinüber, „Das Mädchen stellt eine Bedrohung für ganz Yami, nein, für die ganze Welt dar! Wir müssen sie gefangen nehmen!“ „Aber-“, setzte Luciano an, schaffte es allerdings nicht, ihm zu widersprechen. Zerknirscht verlagerte Laura ihr Gewicht und ging in eine Angriffsposition. Lukas schien ihn wirklich irgendwie kontrollieren zu können. Noch bevor Lukas die Gelegenheit bekam, ihren großen Bruder irgendwie überzeugen zu können, sie unschädlich zu machen, griff Laura an. Sie öffnete ihren Fächer und zielte auf Lukas Brust. Doch natürlich war er schnell genug ihr auszuweichen und den Angriff zu kontern. Trotzdem war er immer noch viel langsamer und schwächer als Benni bei ihren Trainingskämpfen. Und somit hatte Laura überhaupt kein Problem damit, die nächsten Fausthiebe zu blocken und als seine Deckung komplett fiel, verpasste sie ihm einen Schnitt über seinem rechten Auge. Lukas taumelte zurück. „Luciano! Wenn du schon nicht sie angreifen möchtest, dann knöpf dir zumindest den Kleinen vor!“ „Untersteh dich!“, brüllte Laura zu ihrem Bruder rüber, während sie ihre Angriffserie auf Lukas fortsetzte. Sie bekam nur am Rande mit, wie ihr Bruder anscheinend alle Probleme hatte, sich zwischen den Fronten entscheiden zu können. Erst bei einem erstickten Schrei, fuhr Laura erschrocken um. Luciano war auf den Boden gesackt, das Gesicht schmerzverzerrt, und seine Hand krallte sich in sein Hemd über der Brust. „Luciano, was-“ Ein Tritt in die Seite raubte Laura den Atem. Sie spürte ein ekliges Knacken bei ihren Rippen und vor ihrem inneren Auge tanzten Sternchen. Hustend stützte sie sich mit den Armen auf dem Boden ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Benommen beobachtete sie, wie Lucianos zitternde Hand von seiner Brust abließ und ganz langsam nach einem versteckten Dolch an seinem Gürtel griff. „Nicht!“, schrie sie mit heiserer Stimme zu ihrem Bruder rüber. Jemand stieß sie zur Seite und Laura schlug mit dem Kopf auf der Wiese auf, die sich irgendwie alles andere als weich anfühlte. Obwohl sich alles um sie herum drehte und der Schmerz sie keinen klaren Gedanken fassen ließ, war Laura ihre eigene Situation völlig egal. Viel wichtiger war, dass sie Benni retten musste. Bei seinen Verletzungen würde er keine Chance gegen Luciano haben! Aber in ihrer jetzigen Lage wäre es zu gefährlich, den Fächer irgendwie zu werfen. Bei ihrem Talent würde sie garantiert Benni oder Carsten treffen. Ein Fuß trat auf ihre gebrochenen Rippen und ließ Laura erneut aufschreien. Zeitgleich verlor Luciano seinen inneren Kampf und stürmte mit gezogener Waffe auf die beiden Jungs zu. Laura hatte keine Ahnung, wieso sich ihr Körper noch bewegen ließ. Doch sie schaffte es, sich auf den Rücken zu drehen und mit dem Fächer einen Schnitt in Lukas Bein zu hinterlassen, sodass dieser das Gleichgewicht verlor. Noch während sie sich aufrichtete, schlug sie Lukas mit ihrer Finsternis-Energie in den Bauch. Als dieser taumelnd zu Boden sackte, stand Laura schwankend auf und hastete zu Benni und Carsten. Ich muss sie beschützen, koste es, was es wolle! Zeitgleich mit Laura war auch Luciano bei ihnen angekommen und holte zum Angriff aus. „Hör auf!“, schrie sie und stellte sich dazwischen, um den Angriff abzufangen. Durch den immer noch brennenden Schmerz in ihren Rippen war ihr Blick verschwommen. Sie spürte lediglich, wie sich etwas durch ihre linke Hand bohrte und bremste es instinktiv mit ihrer Finsternis-Energie ab. „Ich flehe dich an Laura, geh zur Seite.“, hörte sie Lucianos verzweifelte Stimme direkt vor sich. Schemenhaft erkannte sie sein Gesicht, umrahmt von den dunkelroten Haaren. Immer wieder wurde ihr ganz kurz schwarz vor Augen. Der Schmerz und der Schwindel wollte sie in die Besinnungslosigkeit reißen. Doch Laura durfte das Bewusstsein nicht verlieren! Sie durfte nicht zulassen, dass jemand Benni oder Carsten verletzen würde! „Lass sie… in Ruhe.“, keuchte Laura. Zu dem betäubenden Gefühl in ihren Rippen kam nun auch das in ihrer Hand dazu. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, sich gegen Lucianos Körper zu stemmen. Ihn irgendwie weg von Benni und Carsten zu schieben. Aber ihr fehlte die Kraft. Auf einmal merkte sie, wie Finsternis-Energie eingesetzt wurde und gleichzeitig der Widerstand von Lucianos Körper nachließ. Gleichzeitig sackten Luciano und Laura auf den Boden. „O-Nii-Sama!“, hörte sie Lucia schreien und schnelle Schritte näherten sich ihnen. Schwer atmend versuchte sich Laura aufzurichten, in der Angst, sie müsse nun auch noch irgendwie gegen ihre Zwillingsschwester kämpfen. Doch die Erschöpfung gewann die Oberhand. Noch während sie in die Tiefe der Finsternis gezogen wurde spürte sie, wie jemand sie stützte. „Geht’s?“, erkundigte sich eine Stimme. Doch es war weder die von Benni noch von Carsten. Es war eine männliche Stimme, in der so viel Macht lag, dass Laura den Eindruck hatte, alleine der Klang ließe sie neue Kraft schöpfen. Gleichzeitig spürte sie, wie Finsternis-Energie in ihren Körper strömte und der grauenhafte Schmerz in ihren Rippen und ihrer Hand verschwand. Immer noch benommen nickte Laura und öffnete vorsichtig ihre Augen. Was keinen großen Unterschied machte, wie sie feststellen musste. Es war immer noch alles pechschwarz. Ebenso die Augen der Person, oder eher des Wesens, dass ihr von seiner Finsternis-Energie gegeben hatte. „Leo?“ Die Lippen des Schwarzen Löwen formten sich zu einem Lächeln. „Genau der.“ Zwar waren Lauras Verletzungen vollständig verheilt, doch als sie nun das Adrenalin verließ, wäre sie trotzdem vor Erschöpfung wieder zusammengebrochen, hätte Leo sie nicht immer noch gestützt. „Wow, Vorsicht.“ Er lächelte sie schief an. „Das war wohl etwas zu viel auf einmal?“ „Etwas ist gut…“, erwiderte Laura lediglich. „Sorry. Ich wollte, dass du emotional etwas aufgewühlt bist, damit dir der Kampf selbst nicht ganz so leicht fällt.“ „Das hast du gut hinbekommen…“ Zitternd atmete Laura aus und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. „Wurden Lucia und Luciano wirklich von Lukas irgendwie kontrolliert? Hattest du sie deshalb… getötet?“ Leo half Laura, sich auf den nicht existenten Boden zu setzen und setzte sich im Schneidersitz ihr gegenüber. „Sowas in der Art.“ Laura schluckte schwer. „Gab es keine andere Möglichkeit, sie zu retten?“ Sie brauchte Leos Kopfschütteln gar nicht zu sehen, um die Antwort bereits zu wissen. Eine Zeit lang schwiegen beide, bis Leo plötzlich meinte: „Du machst mir keinen Vorwurf, dass ich dich habe gegen Luciano kämpfen lassen?“ Laura strich sich einige Strähnen aus dem Gesicht und ließ den Blick gesenkt. „Keine Ahnung… Ich weiß gar nicht, was ich überhaupt denken soll.“ „Und ansonsten hast du doch immer so viele Fragen an mich.“, merkte Leo leicht belustigt an. „Die hab ich immer noch.“, meinte sie matt. Leo verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete sie immer noch amüsiert. „Darf ich raten? ‚Hat Benni mich wirklich schon all die Zeit geliebt?‘“ Selbstverständlich färbten sich Lauras Wangen bei dem Thema rot. Dennoch nickte sie. Leo zuckte mit den Schultern. „Von dem was ich so mitbekommen habe: Ja. Bei ihm selbst wirst du dich aber wohl kaum vergewissern können. Immerhin wurde er sich seiner Gefühle für dich erst in letzter Zeit so richtig bewusst. Schon witzig, dass sein bester Freund ihn besser kennt, als er sich selbst.“ „Carsten wusste es?“ Leo lachte. „Natürlich. Noch mehr Fragen?“ „Ja.“ Endlich schaffte es Laura, den Blick zu heben und ihm in die pechschwarzen Augen zu schauen. „Was wolltest du mich in dieser Prüfung prüfen? Es war doch klar, dass ich Benni und Carsten beschützen würde.“ Der Schwarze Löwe nickte. „Das stimmt. Ich habe auch nicht im Geringsten daran gezweifelt. Gerade deshalb wollte ich es dir auch etwas erschweren, indem deine Geschwister darin verwickelt waren.“ Er erwiderte ihren Blick und klang auf einmal ganz ernst, als er meinte: „Diese Augen die sagten: ‚Es ist mir egal, was du bist und wie mächtig du sein magst. Wenn du jemandem etwas antust, der mir viel bedeutet, mache ich dir die Hölle heiß.‘ Das war das erste, was mir damals bei dir aufgefallen ist.“ Freudlos lachte Laura auf. „Ich wünschte, dem wäre so.“ „Dem ist so. Wenn du es wissen möchtest: Deshalb habe ich damals beschlossen, dich zu meiner Dämonenbesitzerin zu machen.“ Erneut färbten sich Lauras Wangen rötlich. „Nur, weil ich jemanden am liebsten zu Brei verarbeiten würde, wenn er jemand mir wichtiges etwas antut?“ „Wegen deines starken Beschützerinstinktes.“, korrigierte er sie. „Ich hatte den Eindruck, da steckt mehr dahinter als einfach nur der Wunsch sie ‚zu Brei zu verarbeiten‘. Ich hatte den Eindruck, wenn du die Fähigkeiten dazu hattest, würdest du diesen Wunsch auch in die Tat umsetzen können.“ „Das macht doch jeder, wenn er die Kraft dazu hat.“, widersprach Laura ihm. Leo seufzte. „Mensch, bist du wenig von dir überzeugt, Mädchen. Du lagst eben bereits besiegt am Boden und hast trotzdem noch die Energie aufgebracht, Lukas außer Gefecht zu setzen und Luciano aufzuhalten. Das war nicht einfach nur die Finsternis-Energie, das war deine Willensstärke, die dich hat weiterkämpfen lassen.“ Nervös kaute Laura auf ihrer Unterlippe. Sie war ja schon überglücklich gewesen, als Benni einst meinte sie würde ihre Finsternis-Energie extrem gut beherrschen können. Immerhin gab ihr das zum ersten Mal den Eindruck, dass sie tatsächlich zu etwas zu gebrauchen war. Dass sie kein Klotz am Bein sein würde. Und jetzt wurde sie von Leo, dem Schwarzen Löwen, für ihre Willensstärke gelobt?! Leo lächelte sie schief an, richtete sich auf und ging direkt vor ihr in die Hocke. „Im Prinzip ist es als einfach nur dein Beschützerinstinkt gepaart mit diesem ausgesprochen beharrlichen Dickkopf, der dich hat die Prüfung bestehen lassen. Und mit dem du wahrscheinlich auch noch viele Prüfungen in Zukunft bestehen wirst.“ Mit diesen Worten gab Leo ihr einen Kuss auf die Nasenspitze und Laura spürte, wie eine gewaltige Menge an Energie in sie strömte. Kapitel 62: Der stärkste Kämpfer Damons --------------------------------------- Der stärkste Kämpfer Damons Es war ein schöner, sonniger Samstag Anfang September. Ein perfekter Tag, um sich einfach nur in seinem Zimmer zu verkriechen und zu zocken. Doch natürlich wurden Jacks Pläne von Mars durchkreuzt. Missmutig lehnte er an einem Baum am Rande Kariberas und blickte hinauf in die fröhlich strahlende Sonne. Ne Rundfahrt mit seinem Motorrad wäre auch ganz nett. Genau, erst ein kleiner Motorradausflug und danach zocken. Und am Abend dann selbstgemachte Burger. Das wäre was. Aber neeein, sie mussten ja jetzt Eagles und Carstens kleine Halbschwester entführen. Kritisch schaute Jack zu Benedict hinauf, der auf dem niedrigsten Ast des Baumes saß und sich schweigend seinen Schnitzarbeiten widmete. Interessantes Hobby. Er fragte sich, ob sich Benedict wieder von Mars grün und blau schlagen lassen würde, nur um zu verhindern, dass Sakura umgebracht wurde. Eigentlich war sich Jack sogar ziemlich sicher, dass er so handeln würde. Das war nun mal sein Weg, Carsten, Laura und den anderen irgendwie helfen zu können. Verbissen wandte Jack den Blick ab und stierte hinaus in die Ferne. Sakura hatte dieses Opfer nicht verdient. Sie war ein launisches, kleines Biest, dass sich ständig über Carsten lustig gemacht hatte. Der einzige Dämonenverbundene, der unter ihrem Tod wirklich leiden würde, wäre Eagle. Und für den empfand Jack noch weniger Sympathie als für Sakura. „Schon ironisch, dass sie Nachhilfe nimmt, während ihr großer Bruder so ein Genie ist und ihr locker alles erklären könnte.“, startete Jack ein Gespräch, erwartete aber gar nicht, dass Benedict darauf einging. „Worauf willst du hinaus?“ Oh hups, doch eine Antwort., bemerkte Jack überrascht. Inzwischen war es nicht mal mehr so schwer, Benedict zum Reden zu bringen. „Hast du ernsthaft vor, auch für sie den Kopf hinzuhalten, wie du es schon bei Johanna gemacht hast?“, fasste er seine vorherigen Gedanken in Worte. „Wieso sollte ich nicht?“ Jack zuckte mit den Schultern. „Ach, ich weiß nicht. Vielleicht, weil sie ein kleines Miststück ist?“ „Sehr freundlich.“, erwiderte Benedict seine Ironie. „Hey, es hat mich schon genug Mühe gekostet, sie nicht als Schlampe zu bezeichnen.“ „Kennst du sie überhaupt?“ Benedict hatte seine Schnitzutensilien anscheinend weggepackt und landete lautlos neben Jack auf der Wiese. Er zuckte mit den Schultern. „Carsten hatte mir früher von seinen ach so reizenden Geschwistern erzählt. Mehr muss ich nicht wissen.“ „Im FESJ?“ Jack ballte die Hand zur Faust. Doch Benedict war so schnell, dass er es sich gar nicht erst überlegen konnte, ob er ihm eine reinhauen oder es lieber lassen sollte. Schmerzverzerrt befreite sich Jack aus dem Polizeigriff. „Verdammte Scheiße, kannst du endlich mal damit aufhören?“ „Womit?“ „Vielleicht damit, mir jedes Mal fast den Arm zu brechen oder die Schulter auszukugeln, wenn du den Namen dieser Höllenanstalt nennst?“ Benedict zuckte mit den Schultern. „Du wolltest mich doch angreifen.“ Jack rieb sich den schmerzenden Arm. „Und du weißt genau, wieso. Also warum forderst du es trotzdem ständig heraus?“ Benedict erwiderte nichts darauf, sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf ein Gebäude, was nicht allzu weit von ihrem jetzigen Aufenthaltsort entfernt war. „Ist die Nahhilfestunde fertig?“, erkundigte sich Jack, immer noch den Arm haltend. „Bald.“ Benedicts Stimme klang ungewöhnlich angespannt. „…Wir sollten das verschieben.“ Jack runzelte die Stirn. „Muffensausen? Kannste vergessen. Mars‘ Befehl ist Gesetz. Wenn du dich ständig seinem Aggressionsproblem unterwerfen möchtest, bitteschön. Aber ich steh kein bisschen auf sowas.“ „Chief scheint einen Moment Zeit zu haben und wollte seine Tochter überraschen, indem er sie von der Nachhilfe abholt.“, erklärte Benedict die Situation, die er wohl aufgrund seines Gehörsinns mitbekam. Carstens Vater? Jack knirschte mit den Zähnen. Noch eine Person, für die er noch weniger Sympathie empfand als für Sakura. Und selbst Eagle konnte er besser leiden als Chief. „Oh wie lieb. Daddy holt sein kleines Prinzesschen von der Nachhilfe ab. Einen besseren Vater gibt’s nicht.“ Gleichgültig zuckte er mit den Schultern. „Dann entführen wir ihn doch direkt mit. Nichts würde eine gesamte Region mehr aus dem Gleichgewicht bringen. Und Mars würde uns für die Aktion glatt ne Woche Urlaub geben.“ Benedict warf ihm einen Seitenblick zu. „Unterschätze ihn besser nicht.“ „Tu ich doch gar nicht. Aber hey, der stärkste Kämpfer Damons ist gezwungener maßen auf meiner Seite. Was soll mir da schon passieren?“ Belustigt erwiderte er Benedicts Blick. Dieser seufzte. „Weißt du überhaupt, was es mit diesem Titel auf sich hat?“ „Dass du selbst ohne die Dämonenkräfte der stärkste Kämpfer Damons bist?“, erwiderte Jack schulterzuckend. Benedict lehnte sich gegen den Baumstamm und schaute in die Ferne, wie Jack es zuvor getan hatte. „Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Titel zu erhalten. Entweder, man besiegt den amtierenden stärksten Kämpfer Damons…“ „Logisch. Und deshalb versucht Eagle auch ständig, gegen dich zu gewinnen.“, ergänzte Jack. Benedict nickte. „…Und die zweite Möglichkeit?“ „Die ist Generationsübergreifend.“, erklärte er weiter. „Sie ist vergleichbar mit der Ämterübergabe der Schülervertretung in der Coeur-Academy. Der amtierende ‚stärkste Kämpfer Damons‘ kann den Titel an jemanden aus der folgenden Generation übertragen.“ Jack runzelte die Stirn. „Und du?“ „Ich bin der ‚stärkste Kämpfer Damons‘ in unserer Generation. Und dreimal darfst du raten, wer mir diesen Titel angedreht hat.“ Allmählich wurde auch Jack unwohl in seiner Haut. „Chief? Aber warum weiß dann so gut wie jeder über dich Bescheid, aber nicht, wer dein ‚Vorgänger‘ war?“ Erneut erwiderte Benedict seinen Blick. „Jeder weiß das.“ „Also ich nicht.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Wahrscheinlich, weil es inzwischen als bekannt vorausgesetzt wird und man kaum mehr darüber spricht. Seit der Gründung Damons war der stärkste Kämpfer immer der amtierende oder zukünftige Häuptling Indigos.“ Jack musste aufpassen, dass ihm bei dieser Information nicht die Kinnlade herunterklappte. „Ernsthaft?“ Benedict nickte lediglich. „Das heißt, du bist die erste Person, die der stärkste Kämpfer Damons ist und nicht Häuptling von Indigo wird?“ Ein weiteres Nicken. Jack beobachtete eine Hornisse, die mit ihrem tiefen Brummen zwischen den leicht gelblichen Blättern des Baumes herumsummte. „Krass. Und das heißt, Eagle ist der erste angehende Häuptling, der nicht diesen Titel trägt.“ Amüsiert verschränkte er die Arme hinter dem Kopf. „Das erklärt auch, warum er ständig versucht dich zu besiegen. Shit, das muss ziemlich erniedrigend sein. Der Arme tut mir ja fast schon leid.“ „Bist du nun immer noch auf eine Konfrontation mit dem Häuptling aus?“ Jack betrachtete weiterhin die Hornisse. Er fand diese Viecher immer beeindruckend. Wespen waren einfach nur nervige, aggressive Dinger. Aber Hornissen? Alleine deren Erscheinung hatte schon was Einschüchterndes, Bedrohliches. Die wollte man gar nicht erst provozieren. „Was bleibt uns groß für eine Wahl? Außerdem können wir uns dank der Dämonenkräfte trotzdem noch einen Vorteil verschaffen, wenn’s hart auf hart kommt.“ Benedict schien die Diskussion aufgegeben zu haben. „Wenn du meinst… Dann sollten wir jetzt los.“ Gemeinsam verließen sie ihren Platz am Baum und Jack warf noch einen letzten Blick auf die Hornisse, wie sie im Himmel verschwand. Eine Wahl hatten sie wirklich nicht. Wie gesagt, Mars‘ Befehle waren Gesetz. Und gerade nach Benedicts letzter Begegnung mit Mars vor einem Monat wollte er die Gunst des Dämons nicht überstrapazieren. Eigentlich konnte Jack sich glücklich schätzen. Wahrscheinlich war er der einzige von Mars‘ Gefolgsleuten, der sein Aggressionsproblem noch nicht zu spüren bekommen hatte. Die wenigen Meter zu Sakura und Chief verliefen ungewöhnlich angespannt. Benedict fragte Jack noch nicht einmal die neuen Japanisch-Vokabeln ab. Interessiert schaute Jack sich um. In Indigo war er nur ganz selten gewesen und er dachte eigentlich, dass Karibera lediglich aus Indigonerzelten bestand. Aber die Stadt war größer und moderner als erwartet. Zumindest schienen nicht alle Indigoner in Tipis zu leben, den Holzhäusern nach zu urteilen. Was im Winter auch echt bescheuert wäre, wenn man so darüber nachdachte. Und wie war das in den Zelten bitteschön mit Strom und fließend Wasser? Gab es da überhaupt getrennte Räume? Jack nahm sich vor, Benedict bei der nächstbesten Gelegenheit mal einige Fragen über diese seltsame Region zu stellen. Doch nun hatten sie andere Sorgen. Gerade, als sie das Holzhaus erreicht hatten, ging die Tür auf und Chief trat mit seiner Tochter ins Freie. Sakura erblickte die beiden Jungs als erste und… rannte sofort begeistert auf Benedict zu. Jack hätte am liebsten losgelacht. Das Mädchen war ja noch naiver als Laura! „Benni! Ewig nicht mehr gesehen!“, rief sie erfreut, als plötzlich von hinten Chiefs gebieterische Stimme ertönte. „Sakura! Halt dich fern von ihnen!“ Carstens kleine Halbschwester zuckte betroffen zusammen, blieb aber zumindest stehen. Mit großen Schritten ging Chief zu seiner Tochter und betrachtete Benedict und Jack kritisch. „Was wollt ihr hier?“ Bei dem autoritären Klang in seiner Stimme verspannte sich Jack automatisch. Die langen, schwarzen Haare, die bereits einige gräuliche Strähnen hatten waren zu einem straffen Zopf zurückgebunden. In den bernsteinfarbenen Augen lag derselbe einschüchternde Blick, den auch Eagle besaß. Und trotz seines Alters konnte man den durchtrainierten Körperbau unter dem Hemd und der Stoffhose erahnen. Okay, nun verstand Jack, warum Benedict ihre Aktion lieber verschoben hätte. Der Typ wirkte alles andere als im Ruhestand. „Hör mal, wir wollen es nicht zu unnötigem Blutvergießen kommen lassen.“, erklärte Jack trocken. „Wir wollten einfach nur Sakura abholen.“ Ja, Chief schüchterte ihn tatsächlich ein bisschen ein. Dieser überhörte Jacks Aussage und richtete seine Aufmerksamkeit auf Benedict. „Es wäre besser, ihr geht jetzt.“ „Sie wissen, dass wir das nicht können.“, entgegnete dieser. „Also zwingt man dich wirklich zu absolutem Gehorsam.“ Chief begab sich in Kampfhaltung. „Ich bedauere diese Situation zutiefst.“ Oh glaub mir, wir auch., dachte sich Jack, während auch er sich kampfbereit machte. Die Person, die sich jedoch als erste bewegte, war Sakura. „Abeoji, hör auf!“, schrie sie und klammerte sich an die Hand ihres Vaters. „Du kannst nicht beide gleichzeitig besiegen!“ „Sakura, geh und bring dich in Sicherheit.“, forderte Chief sie auf, ohne den Blick von Jack oder Benedict abzuwenden. Tränen sammelten sich in Sakuras Augen. „Aber-“ „Jetzt geh schon!“ Sie schien noch etwas erwidern zu wollen, merkte aber, dass es nichts bringen würde. Schluchzend schlang sie für einen Moment die Arme um den Bauch ihres Vaters. „Ich hab dich lieb.“ Chief strich ihr über die Haare. „Ich dich auch, mein Engel.“ Jack hätte am liebsten gekotzt. Zum selben Zeitpunkt als Sakura wegrannte, sprintete Chief auf sie zu. Scheiße, war der Typ schnell. Jack hätte sofort den ersten Schlag abbekommen, wenn Benedict ihn nicht an seiner Stelle abgewehrt hätte. Eine Zeit lang konnte er nur den Kampf zwischen den beiden stärksten Kämpfern Damons beobachten. Sie schenkten sich nichts. Zeigten keine Gnade. Chiefs Angriffe hatten dieselbe Kraft und Geschwindigkeit wie Eagle, waren aber viel unvorhersehbarer. Und dadurch viel gefährlicher. Benedicts Defensive war gut genug, um nicht getroffen zu werden. Doch ob er ohne seine Energien den Kampf gewinnen könnte wusste Jack nicht. Einen nicht sonderlich angenehmen Schlag gegen die Schläfe konnte Benedict nicht mehr rechtzeitig abwehren. Jack verzog das Gesicht. Er beobachtete, wie Benedict sein Gewicht verlagerte und eine tiefere Kampfhaltung einnahm. Er blockte weitere Schläge von Chief, bis er es schaffte einen Arm zur Seite zu stoßen und dem Häuptling seine Faust in den Solarplexus zu rammen. Chief wich einige Meter zurück. „Nicht schlecht. Du bist besser geworden.“ Wie jetzt, das war nur ‚nicht schlecht‘? Endlich schaffte es Jack, den Blick von Benedict und dem Häuptling loszureißen und wandte sich stattdessen Sakura zu, die bereits in Richtung ihres Hauses rannte. Wenn sie es jetzt schaffte Eagle zu erreichen und Hilfe zu holen, konnten sie das ganze direkt vergessen. Aber wenn Jack seine Erd-Energie einsetzte, konnte Eagle bei der Entfernung seine Anwesenheit wahrnehmen und würde direkt Verdacht schöpfen. Weshalb Benedict es wahrscheinlich auch vermied, auf seine eigenen Energien zurückzugreifen. Also blieb Jack keine andere Wahl als ihr zu folgen. Doch jemand hatte seine Absichten früher erkannt, als ihm lieb war. Jack sprang zur Seite und wich in letzter Sekunde Chiefs Faustschlag aus. Er atmete tief durch und blickte in die verärgerten Augen des Häuptlings. „Du rührst sie nicht an!“, brüllte dieser. Jack wich zwei weiteren Hieben von Chief aus, doch der Tritt in die Magengrube kam zu schnell und unerwartet, um ihn blocken zu können. Keuchend richtete er sich auf und schmeckte etwas Blut. Verdammt. Ohne seine Energie hatte er keine Chance. „Abeoji!“, Sakuras panischer Schrei bewahrte ihn vor dem nächsten Angriff. Erschrocken wandte sich Chief seiner Tochter zu. Benedict schien den Moment der Ablenkung genutzt zu haben und hatte Sakura inzwischen eingeholt und am Arm gepackt. Diese schaute mit vor Angst geweiteten Augen zu ihrem Vater rüber. „Lass sie gehen!“, brüllte Chief zu Benedict. Jack bekam langsam die Sorge, dass die Anwohner etwas davon mitbekommen könnten. Es war zwar ein weitläufiges Gebiet, aber wenn jemand zufällig sein Fenster geöffnet hatte, konnte er trotzdem hören, dass da etwas nicht stimmte. Sie mussten sich beeilen. Jack nutzte für sich aus, dass der Häuptling abgelenkt war. Er verpasste ihm von hinten einen gezielten Schlag, der ihn zumindest etwas außer Gefecht setzen sollte. Anschließend rammte er ihm noch das Knie seitlich in die Rippen. Nur um auf Nummer Sicher zu gehen. Überrascht und nach Luft schnappend sackte Chief auf den Boden. „Hör auf!“, schrie Sakura verzweifelt. „Wenn ihr ihn in Ruhe lasst, werde ich mich auch nicht wehren! Versprochen!“ Du hast doch ohnehin keine Chance gegen uns., dachte sich Jack genervt. Er atmete noch einmal tief durch und stellte sich zwischen Chief und seine Tochter. Ohne den Häuptling aus den Augen zu lassen meinte er zu Benedict: „Mars hat dir inzwischen doch auch einen Portal-Ring gegeben, oder? Geh schon mal vor. Ich regel das hier.“ Benedict schien zu zögern. „Bist du dir sicher?“ Jack verzog das Gesicht und spuckte etwas Blut aus. „Ich komm schon klar. Aber wenn der holde Ritter zu meiner Rettung eilen möchte, kann ich auch gerne einen auf Jungfrau in Nöten machen.“ Benedict schien noch irgendetwas erwidern zu wollen. Doch das vertraute Zischen und Lodern des Portals zur Unterwelt kurz darauf verriet Jack, dass er wohl tatsächlich alleine mit Chief fertig werden durfte. Mühsam richtete sich dieser auf. „Ihr verdammten…“ „Interessant.“ Jack knackste mit den Fingern. „Als damals dein Sohn in Gefahr schwebte hast du mit keiner Wimper gezuckt.“ „Eagle ist stark. Du hattest nicht den Hauch einer Chance gegen ihn.“, erwiderte Chief verbissen und fokussierte Jack wieder mit diesem bedrohlichen Blick. Jack ballte die Hände zu Fäusten. Er spürte, wie sie vor Wut zu zittern begannen. „Ich meinte nicht Eagle. Schon vergessen, dass ich Carsten damals fast umgebracht hatte?“ Erneut begab sich Chief in Angriffsposition. „Er ist aber nicht gestorben. Und nun lasst Sakura wieder frei!“ Erneut wurde Jack angegriffen. Und erneut schaffte er es nur, die ersten paar Hiebe abzuwehren. Dieses Mal war es ein Schlag ins Gesicht, der Jack in die Knie zwang. Ein widerlich pochendes Gefühl breitete sich bei seinem linken Auge aus. Einen Moment lang verlor er die Orientierung. Den nächsten Moment wurde er von Chief auf die harte Erde gedrückt. Der starke Griff des Häuptlings quetschte ihm die Kehle zu. „Ihr solltet eure Pläne lieber noch einmal überdenken.“, drohte er. Röchelnd versuchte Jack zu Atem zu kommen. Er musste seine Energie benutzen. Ansonsten würde er gleich wortwörtlich nur noch Schwarz sehen. Er hatte keine Wahl. Er musste ernst machen. Jack sammelte seine Gedanken, soweit das unter diesem erwürgenden Griff möglich war. Zwei spitze Steine schossen aus dem Boden hervor. Chief reagierte rechtzeitig genug und ließ Jack los, um ihnen auszuweichen. Zu mehr kam es nicht. Jack erschuf eine große Erdkuppel, die sie beide in völlige Dunkelheit hüllte. „Was hast du vor?!“, rief der Häuptling in die Finsternis. „Das würde ich dir ja gerne erzählen, aber leider läuft uns die Zeit davon.“ Lautlos ging Jack am Rand der Kuppel im Kreis. Trotz der Finsternis waren seine Schritte sicher. Er wusste genau, wo er sich befand. Er wusste genau, wo Chief sich befand. Die Position jedes noch so kleinen Steins oder Insekts, was auf der Erde fleuchte, kannte er. Während sich bei anderen Dämonenbesitzern meist das Gehör oder der Geruchsinn durch die Dämonenform verbessert hatte, war es bei ihm im Prinzip der Tastsinn. Dank der Erde war es egal, ob er sich am helllichten Tag, oder in tiefster Dunkelheit befand. Während jeder andere orientierungslos in der Finsternis umhertastete, war es ihm ein leichtes, sich in ihr zurechtzufinden. Die perfekte Fähigkeit für einen Assassinen. Und zu nichts Geringerem hatte Mars ihn ausbilden lassen. Jack ließ die Metallklauen aus seiner Armschiene hervorschießen. „Eigentlich wollte ich dich auch nur entführen, aber irgendwie wird das schwerer als gedacht.“ Chief schnaubte. „Und da denkst du, mich in eine Erdkuppel einzusperren reicht aus?“ „Ja.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und wanderte in die andere Richtung, immer noch im Kreis um Chief. Ließ diesen allerdings immer kleiner werden. „Ich hab mal ne Frage: Du redest all die Zeit nur über Eagle und Sakura. Was ist mit Carsten?“ „Was soll mit ihm sein?“ Jack spürte, wie sich Eagle ihnen näherte. Er hatte also tatsächlich die Erd-Energie bemerkt. Shit, ihm blieb keine Zeit mehr. Jack ballte die Hände zu Fäusten. Er atmete tief durch und schaute in die Richtung, in der Chief sich befand. „Bereust du es, Carsten auf das FESJ geschickt zu haben?“ „Nein.“ Eine eisige Kälte breitete sich in Jack bei diesen Worten aus. Blinde Wut schäumte in ihm hoch. Erinnerungen brachen über ihn herein. „Als mein Sohn sollte er stark genug sein, an einer solchen Schule zurecht zu kommen.“ „Du hast ja keine Ahnung.“, zischte Jack mit zusammengebissenen Zähnen. Er ging nun direkt auf Chief zu. Obwohl er seine Position eigentlich nur spüren konnte war ihm, als würde er dort auch jemanden sehen können. Diese Person drehte sich zu Jack um. Ein Mann mittleren Alters. Dunkle braune Haare, helle blaue Augen. Sein Vater. „Du Dreckskerl hast ja keine Ahnung!“, schrie Jack und holte mit der Faust zum Schlag aus. Sein Vater fiel auf die Finte herein. Er versuchte noch auszuweichen, doch in der Dunkelheit konnte er sich nicht orientieren. Im Gegensatz zu Jack. Mit einer knappen Bewegung rammte er ihm die Klauen in die Brust. Das Licht aus den hellblauen Augen seines Vaters erlosch. Eine warme Flüssigkeit lief über Jacks Hand und der Körper durch den er die Klauen gerammt hatte fühlte sich auf einmal ganz schwer an. Keuchend zog Jack die Klauen zurück und ließ die Erdkuppel verschwinden. Das plötzliche Licht blendete ihn. Er hielt sich die Hand vor die Augen, während er benommen einige Schritte zurücktaumelte. Das Adrenalin ließ nach und der Schmerz von Chiefs Angriffen kehrte zurück. Obwohl er durch das blendende Licht nichts sehen konnte, spürte er den Körper vor sich auf dem Boden liegen. Und einige Meter dahinter… „Scheiße, was ist hier passiert?!“, hörte er Eagle lautstark fluchen. Allmählich gewöhnten sich Jacks Augen wieder an das Licht. Er sah das frische Blut auf seiner Hand. Und wenige Meter vor sich sah er Chief liegen, mit leeren bernsteinbraunen Augen in den Himmel blickend. „Du Arschloch, was hast du gemacht?!“ Jack war sich nicht sicher, ob es nur ein Windstoß war oder doch eher eine Wand, die ihn mit voller Wucht traf und mehrere Meter nach hinten schleuderte. Auch nach dem Aufprall flimmerten noch kleine Lichter vor seinen Augen. Noch bevor er sich aufrichten konnte trat Eagle ihm auf die Brust. Hustend stemmte sich Jack gegen Eagles Gewicht und befreite sich irgendwie davon. Mit Steinwänden blockte er weitere Windstöße ab. Doch es fiel ihm schwer die Konzentration aufrecht zu erhalten. „Sag schon, was soll das hier?!“, brüllte Eagle über den tosenden Wind hinweg. Jack bekam zum ersten Mal die Gelegenheit, ihm richtig in die Augen schauen zu können. Die Pupillen hatten sich zu katzenartigen Schlitzen verengt und die bernsteinfarbene Iris schien von sich aus zu leuchten. Die Äderchen in seinen Augen und um diese herum hatten eine gräuliche Färbung bekommen und pulsierten, als würde Energie und kein Blut durch sie hindurch fließen. Jack hielt sich die schmerzenden Rippen, von denen mit Sicherheit einige gebrochen waren. Erst jetzt bemerkte er, wie sich der Himmel mit Wolken zuzog. Ein Wind zerrte mit ungeheurer Kraft an ihm. Nahestehende Bäume beugten sich unter dem Sturm und größere Zweige brachen ab. Unter dem lauten Tosen hörte Jack ein weiteres Rauschen. Ein Rauschen, was ihn erleichtert aufatmen ließ. Er wandte sich dem schwarz-lodernden Portal zu. „Hey holder Ritter, die Jungfrau in Nöten würde gerne gerettet werden.“ Natürlich brauchte Benedict nur einen kurzen Moment, um die Lage zu erfassen. Und der Blick, den er Jack zuwarf, war eiskalt. Sonderlich mehr bekam Jack nicht mehr mit, da Eagle ihm mit ganzer Kraft in den Bauch boxte. Wieder hatte Jack das Gefühl, von einer Wand erschlagen zu werden. Er schlitterte mehrere Meter zurück und stieß mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. Krachend fiel ein Ast neben ihm zu Boden. Der Sturm wurde immer stärker. Jack war immer noch zu benommen von den vorherigen Angriffen, um Eagle ausweichen zu können. Er konnte weder auf den zweiten Schlag in die Magengrube, noch auf den ins Gesicht reagieren. Bei einem Versuch Eagle mit spitzen Felsen anzugreifen, wurden diese vom Wind in kleine Stücke zerborsten. Jack wehrte einen Schlag ab, wurde aber kurz darauf an der Kehle gepackt und mit dem Kopf gegen den Baumstamm gestoßen. Benommen sah er das orangene Lodern in Eagles Augen. Welch Ironie. Orange war doch eigentlich seine Farbe. „Dafür wirst du bezahlen!“, schrie Eagle und eine mächtige zweite Stimme hallte wie der tosende Sturm über das gesamte Gebiet. Verschwommen nahm er wahr, wie Eagle die Faust zu einem weiteren Angriff ausholte. Doch da löste sich abrupt der erwürgende Griff um Jacks Kehle. Hustend tastete er nach den Druckspuren an seinem Hals und sah gleichzeitig, wie Benedict Eagle zurückstieß. „Halt dich da raus!“, wies Eagle Benedict an und schneidende Windsicheln schossen auf ihn zu. Benedict hielt die Arme vor den Körper und eine schwarz lodernde Aura absorbierte den Wind. Eagle stürmte wieder auf Jack zu, doch eine flammende Feuerfront versperrte ihm kurzfristig den Weg. Verärgert richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Benedict. Griff nun ihn an. Doch Benedict wehrte die Angriffe mit Leichtigkeit ab. Und schlug ihm die in Finsternis-Energie gehüllte Handfläche gegen die Brust. Überrascht schnappte Eagle nach Luft und sackte auf die Knie. Der Sturm wurde immer schwächer, während Eagle auf die Seite kippte und das Bewusstsein verlor. Wenig später sank auch Jack erschöpft auf den Boden. Er wischte sich etwas Blut aus dem Gesicht, während Benedict zu ihm rüberkam. „Wir müssen gehen.“, meinte er mit einem eisigen Ton in seiner Stimme. Jack richtete sich taumelnd wieder auf und sah, wie der schwarze Stein des Ringes an Benedicts linkem Mittelfinger aufleuchtete und kurz darauf wieder das schwarze, lodernde Portal entstand. Er warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Sah, wie Eagle bewusstlos auf dem Boden lag. Und wie Chiefs tote Augen in den inzwischen wieder sonnigen Himmel schauten. Schweigend lief Jack neben Benedict durch die Gänge des Unterweltschlosses, ehe sie vor der übertrieben großen Tür mit dem übertrieben großen Phönix anhielten. „Mars wollte zuerst mit dir sprechen.“, meinte Benedict lediglich. Seine Stimme war immer noch eiskalt. Jack nickte nur und betrat Mars‘ Gemächer. Eigentlich wollte er einfach nur schlafen. Chiefs Angriffe waren schon nicht ohne gewesen, aber Eagles geballte Wut abzubekommen war nochmal krasser. Ihm war immer noch schwindelig und so langsam bekam er den Eindruck, eine leichte Gehirnerschütterung zu haben. Und diese dämlichen tausenden Zwischenräume konnte er jetzt noch weniger gebrauchen. Und ein Gespräch mit Mars schon gar nicht. Endlich war er vor der letzten Tür angekommen und betrat das übertrieben herrschaftlich hergerichtete Zimmer. „Willkommen zurück.“, ertönte Mars Stimme direkt, als sich die Tür wieder schloss. Wie immer thronte er auf seinem Kanapee. Hatte der Kerl nichts Besseres zu tun als rumliegen und sich wie ein Kaiser aufzuführen? Jack erwiderte nichts darauf, sondern lehnte sich gegen die Wand und ließ sich auf den Boden sinken, wie zuvor schon in Indigo. Erschöpft schloss er die Augen. Schlafen… Er wollte einfach nur schlafen. Mars fuhr derweil unbeirrt fort. „Ich habe bereits gehört, dass es wohl einen unvorhergesehenen Zwischenfall gab. Ich hoffe, Benedict konnte schlimmeres verhindern?“ „Zumindest wurde ich dadurch nicht von Eagle in Stücke gerissen.“, antwortete Jack matt. „Das sind doch erfreuliche Neuigkeiten. Und der Häuptling?“ „War der Grund, warum Eagle mich in Stücke reißen wollte.“ Jack hielt seine Hand hoch, an der immer noch Chiefs Blut klebte. Plötzlich begann Mars loszulachen. Na ja, so fand zumindest einer diese Situation lustig. „Ich fasse es nicht. Du hast den stärksten Kämpfer Damons ermordet?“ Jack öffnete die Augen wieder und betrachtete Mars. Den Dämon schien das tatsächlich köstlich zu amüsieren. Er stand von seinem Kanapee auf und kam zu Jack rüber. „Ich hatte zwar gemeint, dass ihr eure Hindernisse notfalls ausschalten sollt, aber das“, er machte eine ausschweifende Geste zu Jacks blutverschmierter Hand, „das hätte ich nun wirklich nicht erwartet.“ „Glaub mir, ich auch nicht.“, erwiderte Jack lediglich. Immer noch belustigt ging Mars vor Jack in die Hocke. „Benedict scheint nicht sehr erfreut darüber zu sein.“ „Ne, ihm war nicht so zum Lachen zumute.“ „Nachvollziehbar.“ Kichernd richtete sich Mars wieder auf. „Wie schade. Und ich hatte doch so gehofft, dass du es endlich mal schaffst, Freundschaften zu schließen.“ Jack zuckte mit den Schultern und mühte sich auf die Beine. „Ich bin für sowas wohl nicht gemacht.“ Der Dämon wies auf die Tür. „Schick Benedict zu mir und ruh dich etwas aus. Mit diesen Verletzungen bist du zu noch weniger in der Lage als nach deiner ersten Konfrontation mit Eagle.“ Wem sagst du das., dachte sich Jack, während er Mars‘ Gemächer mit den tausenden Räumen wieder verließ. Endlich bei der äußersten Tür angekommen, deutete Jack Benedict an, dass nun er an der Reihe war. Trotz des Schwindels schaffte er es, ihn etwas genauer zu betrachten. Benedict schien noch unverletzt, also hatte Mars seinen Aggressionsabbau wohl auf nachher, also jetzt, verschoben. Immer noch nicht ganz sicher auf den Beinen schleppte sich Jack in sein Zimmer und ließ sich direkt ins weiche Bett fallen. Alles um ihn herum drehte sich und eine leichte Übelkeit stieg auf, doch bevor er sich darüber Gedanken machen konnte, war er bereits weggedöst. Doch der Schlaf war ruhelos, und seine Träume waren wirr. Er sah Blut, hörte Peitschenhiebe. Spürte sie sogar. Eine Tür fiel krachend in die Angeln. Er war gefangen in der Dunkelheit. Etwas zerrte an ihm, stieß ihn zu Boden. Schreie einer Frau gellten durch die Finsternis. Alles wurde rot, blutrot. Jack fiel, in ein Meer aus Blut. Jemand packte ihn an der Kehle. Ein Mann mit dunkelbraunen Haaren und hellblauen Augen. Jack wollte sich befreien, doch er hatte keine Kraft. Er war machtlos. Der Mann tauchte ihn unter. Blut füllte Jacks Lungen. Er verschluckte sich daran, ertrank darin… Keuchend schreckte Jack hoch. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Kopf und er ließ sich direkt zurück in die Kissen fallen, während er sich schwer atmend den Schweiß von der Stirn wischte. Mühsam tastete er nach seinem Handy auf dem Nachttisch, um einen Blick auf die Uhr werfen zu können. Es war nur knapp eine halbe Stunde vergangen. Und dem dröhnenden Schmerz in seinem Kopf und seinen Rippen nach zu urteilen, hatte dieses bisschen Schlaf nicht wirklich was gebracht. Er blieb noch eine Weile liegen, bis er es schaffte, sich aufzurichten und ins Bad zu gehen. Bei einem Blick in den Spiegel stellte er fest, dass er genauso erbärmlich aussah, wie er sich auch fühlte. Die linke Gesichtshälfte war blau und leicht geschwollen, während an der rechten das Blut von einer Platzwunde über dem rechten Auge klebte. Von den ganzen anderen Blutergüssen ganz zu schweigen. An seinem Hals waren immer noch deutliche Druckspuren zu erkennen und wie sein Oberkörper unter dem T-Shirt aussah wollte er gar nicht erst wissen. Jack verbrachte einige Zeit damit, sich das zum Teil getrocknete Blut von den Händen und aus dem Gesicht zu waschen. Danach sah er zwar nur minimal vorzeigbarer aus, fühlte sich aber zumindest etwas besser. Während er in die Küche ging und diese nach etwas Essbarem absuchte, schweifte er mit den Gedanken nach Indigo ab und fragte sich, wer wohl Eagle und die Leiche des Häuptlings entdecken durfte. War es Sakuras Nachhilfelehrer? Irgendein armes Schwein, was zufällig vorbeikam? Oder gar Eagles und Carstens Stiefmutter, die sich allmählich fragte, wo der Rest abgeblieben war? Während Jack beschloss, Benedicts noch nicht geöffnete Schokokekspackung zu entführen -er würde ihm bei Gelegenheit neue kaufen- drifteten seine Gedanken weiter zu Carsten und schließlich zu Benedict selbst. Ob sich Mars inzwischen abreagiert hatte? Er verließ die Küche und schloss die Augen, um sich besser auf seine Umgebung konzentrieren zu können. Tatsächlich schien Mars inzwischen genug zu haben. Zumindest spürte er, wie Benedict just in diesem Moment in sein Zimmer zurückkehrte. Jack beschloss, ihm einen Besuch abzustatten und ging auf einem Keks herumkauend ebenfalls zu seinem Zimmer. Dort angekommen klopfte er zwar an, wartete aber gar nicht erst auf eine Antwort, um die Tür zu öffnen. „Was möchtest du?“, fragte Benedict, der mit einem geöffneten Buch auf dem Bett lag. Jack hielt ihm einen Keks hin. „Willst du einen?“ „Sind das meine?“ „Nö, wieso?“ Benedict verdrehte die Augen, hielt aber die Hand auf. Jack warf ihm einen Keks zu und wandte sich anschließend an den imposanten Wolfshund, der wenige Meter vor dem Bett lag. „Hi Wolf. Dich kann ich nicht mit Keksen begeistern, oder?“ Noch bevor Jack ihm den Kopf kraulen konnte, knurrte Wolf. Eine deutliche Aufforderung, ihn in Ruhe zu lassen. Seufzend brachte Jack etwas Abstand zwischen sich und das Monstrum, was ihm normal stehend locker bis zu den Hüften reichte. Jack hatte Wolf mal auf den Hinterbeinen stehen sehen, als dieser Benedict das Gesicht abgeschleckt hatte. Und in dem Moment waren beide gleichgroß gewesen. Da war Jack das kleine, leicht dickliche Eichhörnchen auf Benedicts Schulter lieber. „Du bist auch kein großer Keks-Fan, oder?“, fragte er Chip, dessen Name offensichtlich von seiner Leibspeise, Chips, inspiriert war. Chip reagierte nicht auf ihn, doch daran war Jack gewohnt. Benedicts tierische Begleiter waren ihm gegenüber immer noch sehr zurückweisend. Bei Jacks erstem Versuch Wolf zu kraulen hätte dieser ihm fast die Hand abgebissen. Aber dieses grau-weiße Fell wirkte einfach so flauschig. Jack setzte sich auf den Schreibtischstuhl und betrachtete Benedict genauer, welcher das Buch wieder zuklappte und vom Keks abbiss. Er war sich nicht sicher, wer von ihnen schlimmer zugerichtet aussah. „Sakura ist bei Johanna und Johannes?“ Benedict nickte. Jack seufzte. „Das kann ja was werden. Ich wette, sie kommt gar nicht mit den beiden klar.“ „Warum hast du ihn getötet?“, fragte Benedict. Wieder dieser kalte Unterton in seiner Stimme. „Weil ich nur die Wahl zwischen ganz oder gar nicht hatte.“, antwortete Jack und fragte sich, warum Benedict so verärgert schien. So dicke war er mit Chief auch nun wieder nicht gewesen. Besonders wenn man bedachte, dass dieser Carsten für gewöhnlich nicht eines Blickes gewürdigt hatte. Dennoch hatte er das Gefühl, sich vor Benedict rechtfertigen zu müssen. „Ich habe schon bei den Trainingskämpfen gegen dich immer den Eindruck, komplett machtlos zu sein. Aber bei dem… Halbe Sachen konnte ich mir da nicht erlauben. Ansonsten hätte er mich dem Erdboden gleichgemacht.“ „Du hättest fliehen können.“ Jack erinnerte sich an das erdrückende Gefühl, als Chief in der Dunkelheit der Erdkuppel seine Frage beantwortet hatte. „Das konnte ich nicht.“ Benedict betrachtete ihn kritisch und wischte sich etwas Blut von der aufgeplatzten Lippe. Jack wurde unwohl zumute. „Hey, hör auf mich so anzuschauen als hätte ich gerade eine wichtige Person umgebracht.“ „Hast du aber.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ja, irgendwie schon. Aber nicht so jemanden wie Eagle oder gar Carsten selbst.“ Seufzend hielt Benedict die Hand auf, damit Jack ihm einen weiteren Keks rüber werfen konnte. „Du wirfst grauenhaft.“, meinte er nur, als er sich strecken musste, um ihn noch zu erwischen. Jack grinste. „Der Grund, warum man mir bedauerlicher weise niemals ne Knarre in die Hand drücken sollte. Ich bin und bleibe reiner Nahkämpfer. Aber ernsthaft, warum bist du so angepisst?“ „Abgesehen davon, dass er der Häuptling ist? Du hast Eagles und Carstens Vater ermordet.“, antwortete Benedict und schaute ihn tatsächlich leicht verärgert an. „Ach, so läuft der Hase.“ Jack seufzte und holte sich selbst einen weiteren Keks aus der Packung. Sie waren lecker, die Marke musste er sich merken. „Okay, mal ehrlich: Der Typ bereut es nicht im geringsten, Carsten auf die Höllenanstalt geschickt zu haben. Willst du so jemandem nicht auch einfach den Hals umdrehen?“ Nach einem Zögern fügte er hinzu: „…Es ist mir egal, ob er glaubt Carsten käme damit klar oder nicht. Jeder, der auch nur halbwegs eine Ahnung davon hat, was da vor sich geht, sollte sein Kind nicht dahin schicken wollen.“ Eine Zeit lang herrschte Schweigen. In Gedanken versunken schaute Benedict auf den Buchdeckel, ohne ihn wirklich zu betrachten. „Es stimmt schon. Selbst Lauras Vater hatte es damals bevorzugt, mich für eine Zeit lang aus Yami zu verbannen, anstatt mich ins FESJ zu stecken. Was eigentlich die naheliegendere Konsequenz gewesen wäre.“ „Kannst du endlich mal damit aufhören, den Namen dieser Höllenanstalt zu nennen?!“ Jack ballte die Hand zur Faust, blieb aber sitzen. „Du greifst mich nicht an?“ Freudlos lachte Jack auf. „Nein danke, mir geht’s schon beschissen genug. Und wenn du bei dieser blutigen Lippe noch Kekse essen kannst, will ich nicht wissen, wozu du sonst noch trotz deines erbärmlichen Erscheinungsbildes im Stande bist.“ Wie als hätte er ihn daran erinnert, streckte Benedict die Hand aus, damit Jack ihm einen weiteren Keks zuwerfen konnte. Der Wurf war sogar gar nicht mal so grottig. „Also hättest du mir früher beinahe Gesellschaft geleistet, nachdem du diese Kampfkünstler ermordet hattest?“, kehrte Jack zum eigentlichen Thema zurück. Benedict nickte. Jack atmete auf. „Da hattest du ja nochmal Glück gehabt.“ Benedict erwiderte nichts darauf. Doch irgendwie hatte Jack den Eindruck, dass er Fragen hatte. Fragen, die er aus irgendeinem Grund nicht aussprechen wollte. „Hat Carsten dir nichts von der Höllenanstalt erzählt?“, erkundigte sich Jack vorsichtig. „Nicht viel.“ Benedict legte das Buch zur Seite. „Genau genommen musste ich mir den Großteil selbst zusammenbasteln. Und die Leute sagen immer ich sei verschlossen.“ Jacks Herz zog sich zusammen. Er hatte schon immer den Eindruck gehabt, dass Carsten eher der Verdrängungs-Typ war. Dass er krampfhaft versuchte, der liebe, fröhliche Sonnenschein zu sein. Der alles Negative, Belastende einfach vergessen wollte, anstatt sich damit auseinanderzusetzen. Jack konnte es ihm nicht verübeln, er versuchte selbst häufig genug zu verdrängen. Aber Carsten war noch krasser. Carsten fraß einfach alles in sich hinein. Und vertraute sich offensichtlich noch nicht einmal seinem besten Freund an. Jack warf einen Blick auf Benedict. Auch ihn schien es zu belasten, dass sein bester Freund so sehr darunter litt und noch nicht einmal in ihm einen Gesprächspartner fand. Jack betrachtete das Kinderfoto von Benedict, Carsten und Laura auf dem Schreibtisch. „Du kennst ihn besser als ich. Denkst du wirklich, dass Carsten nach all dem noch um seinen Vater trauern wird?“ Benedict schwieg, doch beide kannten die Antwort. Nach einer Weile meinte Benedict schließlich: „Wusstest du, dass Carsten ein Dorn in Mars‘ Augen ist?“ Jack zuckte mit den Schultern und betrachtete das Foto weiterhin. „Überrascht wäre ich zumindest nicht. Eine Quelle hat mir berichtet, dass er anscheinend innerhalb weniger Wochen eine Schwarzmagier-Ausbildung abgeschlossen hat. Das ist einfach krank. Ich an Mars Stelle hätte auch Angst vor ihm.“ Jack erinnerte sich an Carstens Wutausbruch damals, als er Benedict hatte abholen sollen. Wäre Herr Bôss nicht gewesen, wäre von ihm nur noch ein Häuflein Asche übriggeblieben. Und Jack war sich nicht sicher, ob er sich dort auch mit seinen Dämonenkräften hätte retten können, wie bei Chief vorhin. „Denkst du, Mars würde versuchen ihn… zu beseitigen?“, hakte Benedict nach. Geräuschvoll atmete Jack aus. „Na ja, eigentlich ist er ja ein Druckmittel, um dich hier zu behalten. Aber andererseits… Laura alleine müsste dafür ja schon ausreichend genug sein.“, antwortete er wahrheitsgetreu. „Das dachte ich mir auch.“ Benedict richtete sich etwas auf und griff nach dem Samurai-Schwert, das in der Nähe des Bettes lag. „Und deshalb sagte ich Mars ich würde mir das Leben nehmen, sollte jemandem von meinen Freunde oder meiner Familie auch nur irgendetwas zustoßen.“ Jack verzog das Gesicht. „Du bluffst.“ Doch bei dem entschlossenen Blick, mit welchem Benedict das Schwert betrachtete, wusste er, dass das nicht einfach nur so daher gesagt war. Benedict meinte das ernst. Todernst. Und Jack traute ihm auch zu, auf seine Worte Taten folgen zu lassen. Er lehnte sich im Stuhl zurück. Irgendwie machte ihm dieser Gedanke Angst. „Deshalb ist Mars vor wenigen Tagen auch so ausgerastet und hat uns losgeschickt, als Lukas auf eigene Faust deine Liebste angegriffen hatte…“, stellte er fest. Und verdammt nochmal war das knapp gewesen. Sie waren gerade noch rechtzeitig genug angekommen, damit Benedict Laura aus dem Wasser fischen und reanimieren konnte. In diesen zwei Monaten hatte Jack nur sehr selten Emotionen bei ihm beobachten können. Am ehesten noch seinen Ärger damals, als Mars Arianes kleine Schwester hatte umbringen wollen. Aber in dem Moment… Die Angst und Sorge um Laura waren deutlich sichtbar gewesen. Es war fast schon so als sei Benedict ein normaler Mensch, mit normalen Gefühlen. Jack schaute auf und versuchte, einen Teil dieser Gefühle in Benedict wieder entdecken zu können. Und tatsächlich war da dieser sanfte und auch leicht sehnsüchtige Blick in die Ferne, den er immer hatte, wenn er an Laura dachte. Jack lachte in sich hinein. In Wahrheit war der ‚stärkste Kämpfer Damons‘ doch auch nur ein verliebter Softie. „Aber zumindest wird Mars so seine Finger von Carsten lassen.“, stellte Jack fest. „Und du kommst auf die grandiose Idee seinen Vater zu ermorden.“, ergänzte Benedict. „Oh stimmt, das ist jetzt natürlich ne blöde Situation für dich.“, bemerkte er und holte noch einen Keks aus der Packung. Jack hielt vor dem Abbeißen inne. „Aber du willst dich doch nicht ernsthaft ausgerechnet wegen Chief umbringen, oder?“ „Ich weiß es nicht…“ Jack wurde unwohl zumute und irgendwie wollte er den Keks nun auch nicht mehr essen. „Jetzt hör mal, ich wusste bis eben noch nicht einmal, dass du überhaupt auf die Idee kamst Mars zu drohen. Und ich weiß zwar nicht, wie ausschweifend dein Freundschaftsbegriff ist, aber Chief zählt wohl kaum dazu. Also leg endlich dieses scheiß Schwert weg.“ Doch Benedict legte das Schwert nicht zur Seite und Jack wurde immer unruhiger. Der würde doch jetzt nicht ernsthaft seine Drohung wahr machen?! Wieder breitete sich Schweigen in dem Raum aus und Jacks Anspannung wuchs. Er überlegte, ob er in seiner momentanen Verfassung überhaupt dazu in der Lage war, Benedict an einem Selbstmord zu hindern. Wahrscheinlich eher nicht… „Das erschreckende ist eher, dass Mars mich allem Anschein nach wirklich lebend braucht.“, meinte er plötzlich. Jack stöhnte auf. „Du denkst zu viel nach.“ „Und du zu wenig.“, entgegnete Benedict. Jack hievte sich auf die Beine und ging zu dem Bett rüber, mit dem Vorwand das Buch zu betrachten, was Benedict eigentlich lesen wollte. Doch in Wahrheit wollte er nur bessere Chancen haben, ihn notfalls an einem Suizid zu hindern. Auch, wenn sich Jack damit wahrscheinlich eher sein eigenes Grab schaufelte. „Du meintest er braucht mich, da ich der Erbe des Yoru-Clans bin.“, fuhr Benedict mit seinen Gedanken fort. Jack nickte und betrachtete das Cover. Eine maskierte Frau mit einem blutigen Dolch in der Hand und schattenartigen Flügeln. Das Buch schien ziemlich düster zu sein. „Aber warum konnte es nicht jemand aus den vorherigen Generationen sein?“, überlegte er weiter. „Ernsthaft, hör auf zu denken. Das tut dir nicht gut.“, warf Jack ein und begann, den Text auf der Rückseite zu lesen. Eine Racheaktion? Das klang cool. Er musste sich das Buch unbedingt mal ausleihen. Natürlich hörte Benedict nicht mit dem Nachdenken auf. „Könnte es sein, weil ich der erste antike Begabte seit Leonhard bin?“ Jack klappte das Buch auf und betrachtete die Karte auf der ersten Seite. „Und was soll der Grund dafür sein?“ Als nach einer längeren Zeit immer noch keine Antwort von Benedict kam, schaute Jack schließlich doch vom Buch auf. Besorgt musterte er ihn. „Alles okay?“ Benedict sah richtig blass aus. Okay, er war an sich schon ein heller Hauttyp, aber jetzt war er so richtig blass. Von den blutigen Verletzungen abgesehen war jegliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen. „Meine Eltern hatten mich damals aussetzen müssen, da ich der erste war, der wieder eine antike Begabung besaß.“, sagte er mit schwacher Stimme, eher zu sich selbst. Vorsichtig setzte Jack sich neben Benedict auf das Bett. „Na und? Dann bist du halt ein Kampfkünstler. Warum sollte Mars so unbedingt einen antik begabten Yoru gebrauchen?“ „Um den Bann zu brechen…“ Die Hand mit der Benedict das Schwert hielt begann zu zittern. Mit der anderen fuhr er sich durchs helle Haar. „Von der Kampf- beziehungsweise Magiefähigkeit abgesehen gibt es noch eine Sache, die nur antike Begabte können.“ Jack nickte. „Ja, klar. Nur antike Begabte können Dämonenverbundene werden, da ‚normale‘ Wesen diese geballte Menge an Energie nicht überleben würden. Ernsthaft, worauf willst du hinaus?“ Immer noch leichenblass erwiderte Benedict endlich Jacks Blick. „Mars braucht mich als seinen Dämonenbesitzer.“ „Das ist doch Schwachsinn.“, erwiderte Jack stirnrunzelnd. Plötzlich richtete sich Benedict auf und Chip purzelte erschrocken quietschend in das Kopfkissen. „Ist es nicht. Du sagtest selbst meine Ahnen haben den Bann errichtet.“ „Na und?“, versuchte Jack ihm zu widersprechen. Es war ein seltsames Bild, Benedict unruhig im Zimmer auf und ab gehen zu sehen. Und noch weniger gefiel ihm daran, dass er immer noch das Schwert in der Hand hielt. „Keine einzige Verletzung von Mars schränkt mich ernsthaft oder auf Dauer ein. Wenn er wirklich so einen Hass auf meine Familie hat, warum achtet er dann trotz dieser unkontrolliert scheinenden Wutausbrüche immer noch penibel darauf, dass ich nicht ernsthaft verwundet bin?“ Tatsache, trotz der ganzen Blessuren, Blutergüsse, Platzwunden und so weiter war Benedict nicht großartig eingeschränkt in seinen Handlungen. Er hatte keine Knochenbrüche und seine Sinne funktionierten einwandfrei. Ebenso sein Kopf, der für Jacks Geschmack etwas zu gut arbeitete. Denn das was Benedict da von sich gab war zu logisch, um falsch zu sein. „Ein antiker Begabter, der in gewissem Maße von allen Personen abstammt, die ihn damals gebannt haben. Es gibt keine alternative Erklärung, außer, dass ich Mars‘ Dämonenbesitzer werden soll.“ Jack biss die Zähne zusammen. „Und selbst wenn das wirklich der Fall ist. Was hast du vor?“ Benedicts Blick fiel auf das Schwert und ein eisiger Schauder überkam Jack. Er wagte es doch nicht ernsthaft. „Lass das.“, wies er ihn verbissen zurecht. „Es gibt keinen anderen Weg…“ „Ich meine es ernst, untersteh dich!“ Nun war auch Jack vom Bett aufgesprungen. Benedict erwiderte seinen Blick. In ihm lag pure Verzweiflung. „Ich will nicht die Schuld daran tragen, dass wegen mir eine ganze Welt zerstört wird!“ „Verdammt, scheiß auf die Welt!“ Jack wollte ihm das Schwert aus der Hand reißen, doch Benedicts Griff war zu fest. Verärgert funkelte Jack ihn an. „Ich lasse nicht zu, dass du dich hier vor meinen Augen umbringst.“ „Natürlich nicht, das würde schließlich Mars‘ Pläne durchkreuzen.“, erwiderte Benedict mit seinem typischen kalten Unterton. „Es geht mir nicht um Mars und seine verfluchten Pläne! Was ist mit Laura und Carsten?!“ Benedict schien etwas erwidern zu wollen, brachte letztlich aber nichts über die Lippen. Jack sah den inneren Kampf und ging weiter darauf ein. „Ich dachte, sie sind gerade dabei einen Weg zu finden um Mars aufzuhalten. Was ist, wenn sie es schaffen? Und du hast ernsthaft vor, dich umzubringen und dafür zu sorgen, dass all ihre Mühen umsonst waren?!“ Die Hand um das Schwert verspannte sich, doch Jack ließ nicht locker. „Du weißt genauso gut wie ich, dass Carsten daran zerbrechen würde. Weißt du eigentlich, wie oft er damals von dir erzählt hat?! Du hast ihm die Kraft gegeben die Zeit im FESJ zu überstehen! Und mit Laura will ich gar nicht erst anfangen müssen. Du kannst dir besser als jeder andere vorstellen, wie es ihr gehen würde. Wie sehr sie leiden würde!“ Benedict wich einen Schritt zurück und kniff die Augen zusammen. Doch das Schwert ließ er immer noch nicht los. Jack packte ihn am Kragen seines T-Shirts. „Du empathieloser Sturkopf! Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie du vor zwei Monaten zusammengebrochen bist? Alleine durch die Angst die beiden zu verlieren?! Denkst du ernsthaft, ihnen würde es da anders ergehen?!“ Benedicts Griff lockerte sich. Sofort riss Jack ihm das Schwert aus der Hand und ließ ihn los. Schwer atmend beobachtete er, wie Benedict auf die Knie sackte. Die Anspannung und Verzweiflung schienen ihm einiges an Kraft gekostet zu haben. Wolf richtete sich auf und kam zu Benedict rüber, um ihm mit einem leisen Winseln über die Wange zu schlecken. Mitleidig beobachtete Jack, wie sich Benedict mit Wolfs Hilfe auf den Boden setzte und dem Wolfshund anschließend durch das weiche Fell strich. Auch Chip sprang zu ihm rüber, auf seine Schulter und schmiegte seinen Kopf gegen Benedicts Hals. „Ich soll also einfach nur warten und hoffen?“, fragte er mit schwacher Stimme. „Zumindest sollst du dich nicht direkt umbringen.“, erwiderte Jack und setzte sich ihm gegenüber in den Schneidersitz. Auch er war erschöpft. Der Kampf gegen Chief und Eagle hatte immer noch deutlichere Spuren hinterlassen, als ihm lieb war. „Abgesehen davon hast du keine Garantie, dass die Blutlinie der Yorus auch tatsächlich mit dir aufhört.“, fügte er hinzu. Benedict schaute ihn verwirrt und nicht zuletzt immer noch erschöpft und verzweifelt an. Verdammt, der Junge war völlig fertig. „Du weißt doch, dass wir so einige Informanten haben. Na ja, zumindest geht überall das Gerücht um, dass Samira Yoru ein Kind erwartet.“ Wolf bellte und wedelte mit dem Schwanz, als wolle er Jacks Worte bestätigen. „Was?“ Die Verwunderung in Benedicts Stimme war nicht zu überhören. Und trotzdem schien er ihnen nicht wirklich glauben zu können. Jack lächelte. „Schon ironisch. Wir hatten erst letztens noch über Geschwister geredet und jetzt bekommst du einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester.“ Nach einem Moment fügte er hinzu: „Ich wollte früher immer nen kleinen Bruder haben. Was wäre dir lieber?“ Benedict antwortete nichts darauf. Er schien immer noch zu überfordert mit dieser Neuigkeit. Chip kletterte quietschend auf Wolfs Kopf, um mit seiner Nase gegen Benedicts zu stupsen. Sanft kraulte er das kleine Eichhörnchen hinter den Ohren. Eine Reaktion auf Jacks Frage kam trotzdem nicht. Benedict war immer noch viel zu überfordert oder verzweifelt oder erschöpft oder auch einfach alles zusammen. Jack nutzte das Schweigen, um das Samurai-Schwert, was er immer noch in der Hand hielt, genauer unter die Lupe zu nehmen. Es war eindeutig eine Dämonenwaffe. Eine verdammt stylische. Er hatte so Schwerter schon immer cool gefunden. Natürlich. Bei den ganzen Mangas und Animes… Nach einer Weile des Schweigens fragte Jack schließlich: „Hast du so wenig Vertrauen in Carsten und die anderen?“ „Wie sollen sie ihr Ziel erreichen, wenn ihnen drei der Dämonenbesitzer fehlen?“, entgegnete Benedict, immer noch kraftlos. Jack stützte die Ellenbogen auf den Knien ab. „Der Besitzer des Farblosen Drachen, Johannes und ich, nicht wahr?“ Benedict nickte. Jack drehte die Schwertscheide in der Hand und betrachtete die farbigen Tiere auf schwarzem Hintergrund. Irgendwann entdeckte er den Orangenen Skorpion. Das Bild wirkte sogar ein bisschen so, wie das Skorpion-Tattoo auf seiner linken Schulter. Jack atmete tief ein und aus. Seine Hände wurden schweißnass. „Hör mal, ich mach dir ein Angebot. Lass diese scheiß Selbstmordgedanken und wenn es hart auf hart kommt, kannst du mit meiner Hilfe rechnen.“ Überrascht blickte Benedict auf. „Du würdest Mars verraten?“ „Ich habe eigentlich keinen Nerv auf seiner Abschussliste zu stehen. Aber was will so ein Gottesdämon ohnehin mit mir anfangen, wenn er letztlich sein Ziel erreicht hat? Mars müsste schon richtig gute Laune haben, um mich zu verschonen während er den ganzen Rest der Welt dem Erdboden gleichmacht.“ Jack zuckte mit den Schultern. „Ich habe nie damit gerechnet hier lebend rauszukommen.“ „Und trotzdem bist du hier…“ „Ich habe genug durchgemacht, um mich damit zufrieden geben zu können. Ich glaube nicht an Happy Ends, sowas gibt es nur in Büchern.“, erwiderte Jack verbissen und richtete sich auf, um zum Schreibtisch zu gehen. „Willst du einen Keks?“ Benedict reagierte nicht darauf. Er schien immer noch zu sehr in seinen hoffnungslosen Gedanken versunken. Erneut betrachtete Jack das Kinderfoto. Es war wohl unmöglich, sich ein normales, friedliches Leben wünschen zu dürfen. Schließlich mühte sich auch Benedict auf die Beine und ging zu seinem Bett rüber, wo er eine silbern glänzende Pistole unter dem Kopfkissen hervorholte. Sofort verspannte sich Jack wieder. Doch Benedict entsicherte sie nicht. Stattdessen reichte er sie Jack. Ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. „Habe ich nicht vorhin erst gesagt, dass man mir besser keine Knarre in die Hand drücken sollte?“ „Verwahre sie für mich auf, bevor ich es mir anders überlege.“ Was auch immer Jack die Kehle zugeschnürt hatte, es war wieder verschwunden. Erleichtert atmete er auf. „Verdammt Benedict, du bist viel zu aufopferungsvoll.“ Benedict nahm sich selbst einen Keks aus der Packung. „Benni reicht.“ „Ist das sowas wie eine Freundschaftsanfrage?“, stellte Jack grinsend fest. „Du hängst zu häufig im Internet rum.“ Jack lachte auf. „Dann hol ich mir halt ein Freundebuch. Du darfst sogar auf die erste Seite.“ Benedict -quatsch, Benni- reagierte auf seinen Kommentar nur mit einem Verdrehen der Augen. Belustigt musterte Jack ihn. Irgendwie fühlte er selbst sich nun viel erleichterter, obwohl ihre Zukunft nicht sonderlich rosig aussah. Aber seine Worte bereute Jack trotzdem nicht. Die Vorstellung an der Seite eines Freundes zu kämpfen und wenn alles schief lief auch zu sterben, gefiel ihm irgendwie weitaus besser als irgendwo alleine zugrunde zu gehen. Kapitel 63: Minuten des Schweigens ---------------------------------- Minuten des Schweigens Frustriert warf Öznur einen Blick auf Janine, die den neuen Zauber direkt anwenden konnte, den Carsten den Magierinnen vor kurzem erst beigebracht hatte. Und sie selbst konnte sich noch nicht einmal den Teleport-Zauber merken. Janine war momentan dabei, gegen Carsten einen Trainingskampf auszutragen und stellte sich überraschend gut an, dafür, dass sie eigentlich so ein kleiner, süßer Engel war. Die leuchtenden Magiekugeln und -blitze die auf dem Sportplatz herumzischten und aufeinander krachten hatten schon was Beeindruckendes. Und die Elementarmagie konnte sich auch sehen lassen. „Du bist zu offensiv, achte mehr auf deine Verteidigung!“, wies Carsten Janine an und blockte ihre Luftschnitte mit einer imposanten Steinwand ab, die er, als sie in kleine Teile zersprengt wurde, auf Janine feuern ließ. Als sie Janine erreicht hatten, sahen sie schon fast wie Meteoriten aus. Gerade rechtzeitig schützte Janine sich mit einem Magieschild, doch nach wenigen Treffern zerbrach er. Die restlichen Steinmeteoriten verschwanden, bevor sie sie verletzen konnten. Erschöpft sank Janine auf die Wiese, während Carsten zu ihr rüber kam um ihr noch einige Tipps zu geben. Dafür, dass das sein dritter Trainingskampf war, war er noch viel zu fit. Zerknirscht fragte sich Öznur, ob sie, Susanne und Janine es überhaupt geschafft hatten, ihn auch nur ein bisschen ins Schwitzen zu bringen. Dass Benni mega stark war, war ja allseits bekannt. Aber erst bei den Trainingskämpfen hatten die Mädchen feststellen dürfen, was Carsten eigentlich so alles draufhatte. Auf einmal klingelte ein Telefon in seiner rot-blau karierten Tasche. „Carsten, dein Handy klingelt!“, rief Öznur zu ihm rüber. Carsten half Janine auf die Beine und gemeinsam kamen sie zu Öznur und Susanne, wo Öznur bereits das Handy aus der Tasche geholt hatte und ihm in die Hand drückte. Stirnrunzelnd hob Carsten ab. „Hallo?“ Zwar hätte Öznur durch ihr inzwischen verbessertes Gehör das Gespräch mitverfolgen können, wollte aber nicht zu sehr in die Privatsphäre anderer eindringen. Dennoch war auch für normale Ohren nicht zu überhören, dass die Person am anderen Ende der Leitung ziemlich aufgewühlt schien. Carsten behielt seinen kritischen Blick, doch auch ein Hauch Sorge huschte über seine Gesichtszüge. „Saya, beruhige dich erstmal. Was ist denn passiert?“ Erschrocken beobachtete Öznur, wie Carsten auf einmal ganz blass wurde und sich auf die Wiese setzte. „Was? Und… und was ist mit Eagle?“ Bei seiner schwachen, leicht zitternden Stimme bekam Öznur sofort Panik. War was passiert?! Schweigend hörte Carsten dem zu, was Saya zu sagen hatte und meinte schließlich: „Ja… ja, ich komme sofort.“ Sein alles andere als ruhiger Blick fiel auf Öznur. „Ja, ich bring sie mit. … In Ordnung, bis gleich.“ Noch während Carsten auflegte fragte Öznur ihn mit schriller Stimme: „Ist was passiert?!“ Er legte das Handy zur Seite und fuhr sich mit der Hand über die drei Narben auf seinem Nasenrücken. Vorsichtig legte Janine eine Hand auf seine Schulter. „…Carsten?“ „Chief ist tot…“ Öznurs Herzschlag setzte aus. Was hatte Carsten da gesagt? „Was… wie… Das kann nicht…“, stammelte sie benommen. „Wie konnte das passieren?“, fragte Susanne schwach. „…Er wurde ermordet.“, antwortete Carsten zögernd. „Ich glaube, von Jack.“ Ungläubig starrte Öznur ihn an. „Das ist unmöglich… Wie… wie kann das sein?“ Carsten zuckte mit den Schultern und kniff die Augen zusammen. „Keine Ahnung. Eagle schien Erd-Energie in der Nähe gespürt zu haben und ist dort hin. Als sich nach einer Weile niemand gemeldet hat, ist Saya selbst auf die Suche nach ihnen gegangen.“ Zitternd schlang Öznur die Arme um sich. Ihr war eiskalt. „Und… und Eagle?“ Schon alleine die Frage zu stellen machte ihr Angst. „Er war anscheinend in einen Kampf verwickelt und hat das Bewusstsein verloren. Aber ansonsten ist er unverletzt.“ Zwar war die Situation immer noch grauenhaft, doch als sie hörte, dass es zumindest Eagle halbwegs gut ging kamen Öznur vor Erleichterung die Tränen. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht hinter den Händen. Sie hörte, wie sich Carsten wieder auf die Beine mühte. „Von Sakura fehlt allerdings jede Spur… Höchst wahrscheinlich hat Mars sie entführen lassen, wie Johanna damals.“ Er seufzte. „Saya bat mich, so schnell es geht mit dir nach Indigo zu kommen.“ Öznur nickte nur und versuchte aufzustehen, hätte es ohne Carstens Hilfe allerdings nicht geschafft. Ihre Beine zitterten und waren so schwach, als wären sie weichgekochte Nudeln. Carsten hob sein Handy auf und reichte es Susanne. „Kann jemand von euch Laura abholen, sobald sie fertig ist?“ Susanne nickte lediglich und nahm das Handy entgegen. „Sollen… wir nachkommen?“ Carsten warf einen Seitenblick auf Öznur, die er immer noch stützen musste, damit sie nicht wieder sofort auf den Boden sackte. „Ich weiß nicht… Dort ist wahrscheinlich ohnehin ein ziemliches Chaos.“ „Das kann ich mir vorstellen…“, merkte Janine bedrückt an. „Dann sehen wir uns… irgendwann später.“ Zu zweit verließen sie den Campus über den westlichen Wald, wo Carsten vor ein bis zwei Stunden erst mit Laura verschwunden war. Außerhalb der Magiebarriere angekommen teleportierte er sie an den Rand Kariberas. Immer noch zitternd, wurde Öznur von Carsten durch ein Gebiet der Hauptstatt Indigos geführt, das sie bisher noch nicht kannte. Hier waren Holzhäuser anstelle der Indigonerzelte aufgebaut, an die häufig noch ein Feld oder eine Obstplantage angrenzte. Karibera war alles andere als eine typische Großstadt. Irgendwann kamen sie bei einem Feld an, auf dem sich viele Personen befanden. Zu viele Personen. Und die meisten trugen schwarze Polizeiuniformen oder waren ganz in weiß gekleidet. Umzäunt wurde das Feld von mehreren Polizeiautos und zwei Krankenwagen, die allesamt das Blaulicht angeschaltet hatten. Öznur spannte sich immer weiter an. Sie wollte da nicht hin. Sie hatte zu große Angst. Als sie den Platz schließlich doch erreicht hatten, kam ihnen ein Polizist entgegen und schien sie wegschicken zu wollen. Doch als er erkannte, dass es sich offensichtlich um Angehörige handelte, wies er auf einen der Krankenwägen und sagte einige Sätze auf Indigonisch. Carsten erwiderte irgendetwas und ging mit Öznur auf diesen Krankenwagen zu. Sie erkannte, wie Saya daneben stand und verstört Fragen zu beantworten schien. Als sie Carsten und Öznur erblickte, kam sie direkt auf die beiden zugeeilt. „Danke, dass ihr gekommen seid.“, brachte sie mit schwacher Stimme hervor und drückte Carsten an sich. Zögernd erwiderte er ihre Umarmung. Nachdem Saya sich etwas beruhigt hatte, schloss sie auch Öznur für einen Moment in die Arme. „…Was ist mit Eagle?“, erkundigte sich Öznur sofort. Zwar meinte Carsten, er habe keine schwerwiegenden Verletzungen, aber trotzdem war sie krank vor Sorge. Saya wies auf den Krankenwagen hinter sich. „Sie wollen ihn gleich ins Krankenhaus bringen. Zwar scheint er unverletzt, aber aufgewacht ist er bisher trotzdem noch nicht.“ Öznur schluckte schwer und versuchte die Tränen zurückzuhalten. ‚Noch nicht aufgewacht‘ klang kein bisschen nach unverletzt. „Und… unser Vater?“, fragte Carsten vorsichtig. Saya wies mit dem Kopf zu der Stelle, wo die meisten Polizisten standen. Vermied es aber, selbst da hin zu schauen. Carsten atmete aus und legte kurz die Hand auf die Schulter seiner Stiefmutter. „Ich komme gleich wieder.“ Überrascht beobachtete Öznur, wie er genau auf die Stelle zuging, zu der Saya gezeigt hatte. Sie schaute etwas planlos zwischen dem Krankenwagen und Carsten hin und her. Derweil band dieser seine etwas längeren schwarzen Haare zu einem Zopf und wechselte einige Worte mit einer Polizistin. Erst jetzt fiel Öznur bewusst auf, dass Carsten für gewöhnlich immer ein Haargummi am Handgelenk hatte, mit dem er sich die Haare zurückband, sobald er irgendwas arzt-mäßiges machte. Die Polizistin reichte ihm ein paar Handschuhe oder sowas in der Art und machte ihm den Weg frei. Und erst jetzt bemerkte Öznur, dass da jemand auf dem Boden lag. Sie unterdrückte einen Würgereiz und wandte sich schnell ab. Wie konnte Carsten da einfach so hingehen?! Sanft berührte Saya Öznurs Arm und wies sie an, mit ihr zum Krankenwagen zu gehen. „Carsten meinte, Sakura sei verschwunden…“, brachte Öznur mit gedrückter Stimme hervor. Saya presste die Lippen zusammen und nickte. Ihr schien der Kampf gegen die Tränen noch schwerer zu fallen als Öznur. „Chief wollte sie eigentlich von der Nachhilfe abholen…“, erklärte sie beklommen. „Und der Lehrer meinte, sie hätten zu zweit das Haus verlassen…“ Nach einigen Schritten bemerkte Öznur, dass Saya stehen geblieben war und sich mit der Hand über die Augen wischte. Wie musste es sich nur anfühlen, wenn an einem einzigen Tag der Ehemann ermordet und die Tochter entführt wurde? Und noch dazu war der eine Stiefsohn momentan nicht bei Bewusstsein… Öznur warf einen Blick auf Carsten, der immer noch bei den Polizisten stand. Er war eben gerade der einzige von Sayas Familie, dem es noch gut ging. Kein Wunder, dass sie ihn so dringend hier haben wollte… Sie suchte nach irgendeinem Weg, wie sie Saya helfen konnte. „Soll ich… Samira benachrichtigen?“ Ein schwaches Lächeln breitete sich auf Sayas Lippen aus und sie schien sich wieder ein bisschen zu fangen. „Sie ist mit Jacob schon unterwegs.“ Öznur nickte nur, war aber tatsächlich etwas erleichtert. Es war schön, wenn man sich so auf seine Freunde verlassen konnte. Ohne es zu wollen schweifte sie mit den Gedanken zu Anne ab. Zu ihrem Streit während der Prüfungsphase. Und bekam direkt ein schlechtes Gewissen. Carsten hatte damals schon Recht gehabt. Es war alles ihre Schuld. Und es war gut möglich, dass sie ihre Freundschaft damit für immer ruiniert hatte. Öznur biss sich auf die Unterlippe und kam erst auf andere Gedanken, als sie mit Saya in den hinteren Teil vom Krankenwagen stieg. Was aber nicht wirklich besser war. Vorsichtig näherte sie sich der Trage, in der Eagle lag und zu schlafen schien. Er wirkte tatsächlich unverletzt. Doch nach dem, was da anscheinend passiert war, konnte Öznur das immer noch nicht glauben. Zitternd nahm sie seine Hand und streichelte mit dem Daumen über den Handrücken. Seine Indigonerhaut wirkte nicht ganz so dunkel, wie sonst. Als sie Eagle mit der anderen Hand über die Wange strich, fielen ihr die Äderchen um seine Augen auf, die sich etwas von der Haut abzuheben schienen und leicht bläulich wirkten. Kurz darauf betrat Carsten den Krankenwagen und betrachtete seinen großen Bruder ebenfalls. „…Und?“, fragte Öznur zögernd und konnte immer noch nicht glauben, wie er es geschafft hatte sich Chiefs Leiche anzusehen ohne dabei direkt in Ohnmacht zu fallen. „Der Verletzung nach zu urteilen war es wirklich Jack…“ Bedrückt lehnte er sich gegen eine freie Stelle der Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum sollte er sowas tun?“ Öznur biss die Zähne zusammen und drückte Eagles Hand noch fester. „Das fragst du noch? Selbst, wenn das bei dir damals irgendwie ein Unfall war… Schon vergessen, dass er auch für den Tod von Bennis Opa verantwortlich ist?“ Darauf wusste Carsten wohl nichts zu erwidern. Einer der Sanitäter informierte sie, dass sie nun losfahren würden und die Tür schloss sich. Öznur setzte sich auf den naheliegendsten Klappstuhl und schnallte sich an. Eine Weile sagte niemand etwas, während der Wagen durch Karibera zum Krankenhaus fuhr. Auch die Leiterin dieses Krankenhauses selbst war wohl in ihren traurigen Gedanken versunken. Mitleidig beobachtete Öznur, wie sie sich gegen ihren Stiefsohn gelehnt und den Kopf auf seine Schulter gelegt hatte. Carsten blickte geistesabwesend in die Ferne und strich seiner Stiefmutter mit dem Daumen über den Handrücken, wie Öznur vorhin erst bei Eagle. Beim Krankenhaus angekommen wurden sie bereits von Bennis Eltern erwartet. Sofort nahm Samira ihre beste Freundin in die Arme. Nun schien Saya endgültig ihren Gefühlen zu unterlegen und krallte sich leise schluchzend an den Ärmeln von Samiras Jacke fest. Während die Sanitäter Eagle in das Krankenhaus brachten, wandte sich Jacob an Carsten und legte ihm schweigend die Hand auf die Schulter. Carsten startete ein Gespräch auf Japanisch, aber Öznur war sich ziemlich sicher, Jacks und Bennis Namen dabei heraus zu hören. Mit ruhiger Stimme erwiderte Jacob etwas, während auch sie das Krankenhaus betraten. Irritiert blinzelte Öznur. Für einen Augenblick hatte sie den Eindruck, Carsten würde mit Benni und nicht mit dessen Vater sprechen. Je länger sie nun wusste, dass Jacob und Benni Vater und Sohn waren, desto mehr Ähnlichkeiten fielen ihr auf. Nicht nur das Aussehen, auch die Gesichtszüge, Gestiken und sogar die Art zu reden war ähnlich. Und das, obwohl sich Benni nie an seinem Vater hatte orientieren können. Obwohl er ihn kaum kannte. Öznur war froh, sich zumindest etwas ablenken zu können. Aber lange funktionierte das leider nicht. Sie gingen direkt in das Zimmer, in das auch Eagle gebracht wurde. Auf dem Weg dorthin wurden sie, insbesondere Saya, von einem Haufen Beileidsbekundungen überschüttet. Erst hatte sich Öznur noch gefragt, wie aufgesetzt das alles wohl war. Aber sehr bald erkannte sie, dass diese Neuigkeit wirklich jeden schwer getroffen hatte. Verbissen rief sie sich in Erinnerung, dass Eagles und Carstens Vater immerhin Indigos Häuptling war. Die Region hatte vor kurzem im Prinzip seinen König verloren. Eine Welle an Angst überschwemmte Öznur. Hieß das, dass Eagle jetzt den Platz seines Vaters einnehmen musste? Jetzt schon?!? Obwohl er in etwa zwei Wochen überhaupt erst volljährig wurde?! Was dachten die Indigoner darüber? Würden sie jemanden, der noch nicht einmal ganz mit der Schule fertig war überhaupt akzeptieren?! Würde Eagle diesem Druck standhalten können?! Panik stieg in Öznur auf. Was würde dann aus ihnen werden? Hätte Eagle noch die Zeit für eine Freundin? Oder würde sie nur noch mitansehen können, wie er unter dem Druck zusammenbrach? Während sich Öznur auf den Rand des Bettes setzte, fragte sie sich verzweifelt, wann er endlich wieder aufwachen würde. Ihr Blick fiel auf Carsten, der schweigend neben Jacob am Fenster lehnte und hinaus in den naheliegenden Wald schaute. „Denkst du… denkst du Eagle schafft es?“, fragte sie ihn mit zitternder Stimme. Offensichtlich aus den Gedanken gerissen drehte sich Carsten zu ihr um. „Er wacht schon wieder auf, keine Angst.“, meinte er beschwichtigend. „Das-das mein ich nicht…“ Schluchzend wischte sich Öznur eine Träne von der Wange. „Denkst du, er kommt damit klar? Mit allem, was passiert ist? Und… was noch passieren wird?“ Carsten wandte den Blick ab und ballte die Hand zur Faust. Garantiert hatte er sich das schon selbst gefragt. „Er schafft das.“, meinte er schließlich. „Er muss es schaffen.“ Doch Öznur fiel auf, dass er nicht so überzeugt klang wie sonst. Dass auch er seine Zweifel hatte. „Das ist einfach zu früh…“, schluchzte sie. Die Angst wurde größer. „Eagle kann nicht jetzt schon Häuptling werden!“ „Was bleibt ihm groß für eine Wahl?“, fragte Carsten verbittert. „Habt ihr nicht Regeln für sowas?! Irgendeine Übergangsregierung! Oder irgendwas, was ihm den Einstieg erleichtern kann!“ „Nicht, dass ich wüsste. Indigos Regierung ist so ähnlich aufgebaut wie Yamis. Parallel zum Siebenerrat haben wir die Stammesoberhäupter. Und den Vorsitz bei uns übernimmt im Prinzip der Häuptling.“ „Aber das heißt, dass zumindest die Stammesoberhäupter ihn unterstützen werden, nicht wahr?“ Schluchzend nahm Öznur Eagles Hand und klammerte sich daran. Carsten warf einen Blick auf seinen großen Bruder. „Hoffen wir es…“ Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und die restlichen Mädchen von der Coeur-Academy kamen hereingestürmt. Ganz an der Spitze war Laura, die Carsten sofort um den Hals fiel. „Warum muss ich ständig irgendwie in ein Krankenhaus kommen, nachdem ich beim Schwarzen Löwen war?!“, schluchzte sie verzweifelt. Sanft strich Carsten ihr übers Haar. „Wie… wie geht’s dir?“, erkundigte sie sich vorsichtig. Er seufzte. „Keine Ahnung… Ich weiß nicht, was ich denken soll.“ Laura verstärkte ihren Griff. „…Und Eagle?“ Erneut schaute Carsten zu seinem großen Bruder rüber, senkte aber schließlich bedrückt den Blick. „Ich hoffe, du hast bessere Neuigkeiten.“ Nun war auch Öznur neugierig. Hatte sie endlich ihre Prüfung bestanden? Laura löste sich aus der Umarmung. Einen Moment lang war sie in eine schwarze Aura der Finsternis gehüllt. Als diese verschwand hatte Laura Katzenohren in derselben Farbe wie ihre Haare und unter ihrem Minirock lugte ein ebenso rötlicher Katzenschwanz hervor. Ein schwaches Lächeln breitete sich auf Carstens Lippen aus. „Ich dachte dein Dämon sei ein Löwe.“ Laura legte den Kopf schief und ihre Öhrchen zuckten. „Wie meinst du das?“ Lissi lachte auf. „Findest du nicht auch, dass Lauch einfach unglaublich knuffig ist, Cärstchen?“ Laura drehte sich zu den übrigen Mädchen um und schien leicht verärgert. „Und wie meinst du das?“ Trotz der furchtbaren Situation musste auch Öznur lachen. Während jeder andere von ihnen dank seiner Dämonenform eher eine erotische, verführerische Ausstrahlung bekommen hatte, war Laura einfach nochmal viel süßer geworden. Okay, so ganz stimmte das nicht. Sie hatte schon diese typische Aura, die jeder von ihnen besaß. Und konnte mit Sicherheit auch verführerisch sein. Aber so, wie sie gerade einfach nur verärgert die Backen aufblies und die Katzenohren anlegte, war sie einfach nur unglaublich goldig. Immer noch lächelnd streichelte Carsten Laura über den Kopf. „Immerhin hat dieser Tag zumindest ein positives Ereignis.“ Lauras Wangen färbten sich rötlich. „Hör auf, mich wie eine Katze zu behandeln.“ Belustigt fing Carsten an, sie am Kopf zu kraulen. Als ein ungewolltes Schnurren aus Lauras Kehle drang, lachten auch alle anderen Anwesenden los. Mit hochrotem Kopf verbarg Laura ihr Gesicht in Carstens T-Shirt. Schmunzelnd drückte Carsten sie an sich und legte seinen Kopf auf ihren. „Das hilft wirklich… Danke.“ Öznur beobachtete, wie sich Lauras Katzenohren und der Schwanz etwas senkten, während sie die Umarmung erwiderte. Nach einer Weile fiel Carstens Blick auf Eagle. „Laura, kannst du mit deiner Energie mal schauen, ob dir bei Eagle irgendetwas auffällt?“ „Hä?“ „Ich habe eine Vermutung, bin mir aber nicht ganz sicher. Ich will nur wissen, ob du irgendwie Energie bei ihm spüren kannst.“ „Klar wird sie Energie bei ihm spüren können. Selbst von hier aus merkt man, dass von seinem Körper die Wind-Energie ausgeht.“, meinte Anne, während Laura zu dem Bett rüber ging, in dem Eagle immer noch schlief. Wie als könnte sie sich so besser konzentrieren, schloss Laura die Augen und streckte ihre rechte Hand aus. Irritiert runzelte sie die Stirn. „Das ist komisch… Ich spüre ganz eindeutig ein bisschen Finsternis-Energie.“ Carsten nickte und schaute wieder aus dem Fenster. „Also doch.“ „Also hat Benni Eagle… außer Gefecht gesetzt?“, sprach Susanne seine Gedanken aus. Zögernd nickte er. „Eine andere Erklärung gibt es nicht. Es ist eindeutig, dass Jack für Chiefs Tod verantwortlich ist… Seht ihr diese Aderspuren um Eagles Augen? Ich vermute, er hat die Kontrolle über sich verloren, als er unseren Vater gefunden hat. Das Feld sah ziemlich verwüstet aus, beinahe so als habe dort ein Sturm getobt. Wahrscheinlich kam es zu einem Kampf zwischen ihm und Jack. Und Benni wollte die Sache so schnell und schmerzlos wie möglich beenden.“ Öznur schluckte schwer. Deswegen war Eagle also anscheinend unverletzt und trotzdem nicht bei Bewusstsein. „Wie… schmerzlos ist es?“, fragte sie besorgt. „Es kommt darauf an, wie plötzlich und wie viel Energie benutzt wird.“, erklärte Laura. „Wenn man ganz vorsichtig ist, fühlt es sich einfach nur so an, als wäre man müde und schläft ein.“ „Bei mehr Energie fühlt man sich auf einmal ganz kraftlos.“, ergänzte plötzlich Anne. „Schön ist es nicht. Aber auch nicht schmerzhaft.“ Überrascht schaute Öznur sie an, wandte aber schließlich den Blick ab. Erst vorhin hatte sie noch an ihren Streit gedacht… Und schon wieder nagte das schlechte Gewissen an ihr. Wie lange war das schon her? Über zwei Monate definitiv. Und so wirklich ausgesprochen hatten sie sich seitdem auch nicht… Anne kam zu ihnen rüber und betrachtete Eagle. „Im Prinzip wird einem doch einfach nur die Energie aus dem Körper gezogen, nicht wahr? Und nun ist Eagle nicht bei Bewusstsein, weil sie sich erst einmal regenerieren muss. Wie als Laura damals durch die Teleportationen zusammengebrochen war. Stimmt doch soweit, oder?“ Laura nickte. „Glaube schon.“ „Also wenn Benni Laura damals mit der Finsternis-Energie wieder auf die Beine bringen konnte, müsste doch nur jemand von uns etwas von seiner Energie an Eagle weiter geben. Carsten kann die Energien umwandeln. Es ist somit egal, dass niemand von uns Eagles Wind-Energie besitzt.“ „Stimmt, wie bei mir damals in Spirit. Damit dürfte Eagle sehr bald wieder aufwachen.“, gab Ariane ihr recht. Zitternd ballte Öznur die Hand zur Faust. „Wie kommst ausgerechnet du auf diese Idee?“, fragte sie Anne. Die Anspannung in Annes Stimme war nicht zu überhören. „Weil es damals meine Energie war, die Carsten an Ariane weitergeleitet hatte. Und ich genau weiß, wie es sich anfühlt, wenn die Finsternis-Energie einen außer Gefecht setzt.“ Mit einem Zischen schaute sie zu Laura rüber, die inzwischen wieder bei Carsten auf der Fensterbank saß. „Ich glaube eher Öznur meinte, wie es dazu kommt, dass ausgerechnet du einen Vorschlag bringst wie wir Eagle helfen können.“ Ariane schaute sie fragend an. „Er kann momentan wahrscheinlich jede Hilfe gebrauchen, die er kriegen kann. Zumindest will ich nicht in seiner Haut stecken müssen.“, antwortete sie schulterzuckend. Lissi gab ein anerkennendes Pfeifen von sich. „Krass Banani, so empathisch bist du selten. Besonders, wenn es um einen Jungen geht.“ Anne warf ihr einen warnenden Blick zu. „Jetzt hör mal, mir wird schon alleine bei der Vorstellung es hätte auch genauso gut meine Mutter sein können kotzübel.“ Öznur und die meisten anderen Mädchen senkten betroffen den Blick. „Wird er jetzt wirklich… Häuptling?“, fragte Janine zögernd. Carsten nickte betrübt. „Wahrscheinlich. Auch wenn ich nicht weiß, wie es jetzt weitergehen soll.“ Öznur drückte Eagles Hand gegen ihre Wange. „Erst einmal sollten wir ihm helfen, damit er wieder aufwacht… Du kannst gerne meine Energie dafür nehmen, Carsten.“ Bedrückt seufzte Laura. „Ich frage mich, ob er überhaupt aufwachen will…“ Carsten nickte deprimiert und schaute zu den Mädchen rüber. „Wäre es okay für euch, wenn ihr rausgeht? Ich habe keine Ahnung, wie Eagle reagieren wird, wenn er aufwacht. Aber ich glaube es ist besser, wenn er… nicht den Eindruck hat dauerhaft Stärke zeigen zu müssen.“ „Aber das muss er doch gar nicht!“, widersprach Laura. Carsten lächelte sie traurig an. „Natürlich nicht. Aber du weißt doch, wie verdammt stolz er ist.“ Verbissen senkte Laura den Blick und legte ihre Katzenohren an. Carsten strich ihr über eines der Öhrchen. „Ich verstehe ja, dass du richtig froh bist, endlich auch deine Dämonenform zu besitzen. Aber es ist wahrscheinlich besser, wenn du sie wieder verbirgst.“ Wieder breitete sich ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen aus. „Das Kraulbedürfnis ist einfach zu groß.“ Sofort wurden Lauras Wangen leicht rötlich und amüsiert beobachtete der Rest, wie sie mit einem schwarzen Auflodern ihre Dämonenform verbarg und schließlich wieder normal aussah. Lissi kicherte. „Ich glaube, Bennlèy wird sie in ihrer Dämonenform gar nicht mehr loslassen wollen. Er liebt Tiere und er liebt Lauch. Und jetzt hat Lauch auch noch Katzenöhrchen und schnurrt, wenn man sie kuschelt.“ Auch der Rest musste bei dieser Vorstellung schmunzeln. Außer Laura natürlich, deren Gesicht sich wieder hochrot färbte. Amüsiert legte Jacob eine Hand auf Lauras Schulter und warf Carsten einen Blick zu. „Bitte holt ihn bald da raus, das möchte ich unbedingt sehen.“ Carsten lachte auf. „Nicht nur du.“ Aber leider wurde die Stimmung sofort wieder ernst, als Jacob zur Tür ging. „Ich schaue mal, wie es Saya geht.“ Bedrückt nickten die Mädchen und folgten ihm aus dem Zimmer raus, bis nur noch Öznur und Carsten zurückblieben. Sie strich Eagle über die Wange. „Zumindest haben wir dank Laura noch einen kleinen Hoffnungsschimmer.“ Carsten nickte und setzte sich auf die andere Seite des Bettes. Fragend schaute Öznur ihn an. „Wie geht es eigentlich mit dem Zauber voran?“ „Langsamer als mir lieb ist.“, antwortete er verbissen. Traurig lachte Öznur auf. „Und wahrscheinlich bist du trotzdem viel schneller als alle anderen Magier zusammen.“ Seufzend richtete sie ihren Blick wieder auf Eagle. „Wann denkst du, würde er eigentlich aufwachen?“ „Wer weiß… Ich kann mir schon vorstellen, dass er einen Tag durchschlafen würde.“ „Wollen wir… ihm wirklich die Energie geben? Also ich meine… Weil…“, stammelte sie, „Ich will ja auch, dass er aufwacht. Unbedingt! Aber…“ „Ich verstehe, was du meinst. Aber es macht keinen Unterschied ob er jetzt oder irgendwann später er aufwacht. Die Realität bleibt dieselbe…“ Beeindruckt aber auch verwirrt und mitleidig musterte sie Carsten. Er wirkte für die gegenwärtige Situation immer noch erstaunlich beherrscht. Warum? War auch er zu ‚stolz‘, um ihnen gegenüber seine wahren Gefühle zeigen zu können? Oder versuchte er sie zu verdrängen, um vollauf für den Rest seiner Familie da zu sein? Carsten erwiderte ihren Blick und hielt ihr die linke Hand hin. Zitternd legte Öznur ihre Hand in seine, während sie mit der anderen immer noch Eagles hielt. Carsten atmete tief durch. „In Ordnung. Leite deine Energie einfach in mich.“ Öznur nickte und konzentrierte sich darauf, ihre Feuer-Energie über ihre Hand in Carstens zu schicken. Gleichzeitig beobachtete sie fasziniert, wie eine rote Aura um ihre Hände loderte. Die andere Hand hielt Carsten über Eagles Brust. Die Energie leuchtete grau und schien zu wehen, wie als hätte jemand den Wind sichtbar gemacht. Ein schwacher Sturm fuhr durch ihre Haare. Als er sich legte, verzog Eagle für einen Moment das Gesicht und Öznur fiel ein Stein vom Herzen, als er langsam die Augen öffnete. Mit schwacher Stimme sagte er irgendetwas auf Indigonisch. Carsten antwortete ihm. Wahrscheinlich war er immer noch so erschöpft und durcheinander, dass er instinktiv seine Muttersprache benutzte. Zögernd strich Öznur ihm wieder mit dem Daumen über den Handrücken, traute sich aber nicht, etwas zu sagen. Carsten schien eine Frage zu stellen, auf die Eagle mit einem schwachen Kopfschütteln reagierte. Anschließend fiel sein Blick endlich auf Öznur. „Wie geht es dir?“, fragte sie vorsichtig. Zitternd atmete Eagle aus und richtete sich im Bett auf. Mit der Hand, die Öznur nicht hielt, fuhr er sich durch die langen, etwas verstrubbelten Haare. „Ist er wirklich…“ „…Ja.“, antwortete Carsten. Eagle biss die Zähne zusammen und die Hand in Öznurs verspannte sich. Die andere ballte er zur Faust. „Und Jack?“ Öznur hatte noch nie so viel Hass und Zorn in einer Stimme hören können. Sie konnte es regelrecht spüren. Diese bodenlose, unbändige Wut. Ein kalter Wind streifte ihre Wangen. „Wahrscheinlich wieder bei Mars. Und… Sakura auch.“ „Was?!?“ Ein plötzlicher Windstoß zerrte an ihnen und warf die Blumenvase auf dem Nachttisch mit lautem Klirren zu Boden. Schützend hielt sich Öznur die Hand vors Gesicht. Mit einem Fluch versuchte Eagle aufzustehen, doch Carsten hielt ihn zurück. „Lass mich los.“, forderte Eagle seinen kleinen Bruder mit bedrohlicher Stimme auf. „Leg dich wieder hin.“, erwiderte dieser. „Als würde ich einfach so liegen bleiben können! Dieses Arschloch hat unseren Vater ermordet! Und Sakura entführt!“, brüllte Eagle und riss sich von Carsten los. „Dafür wird er bezahlen!“ „Wir hatten doch schon damals bei Johanna ausdiskutiert, dass ein übereilter Angriff reiner Selbstmord wäre.“, argumentierte Carsten ruhig. „Selbst, wenn Konrad uns noch mehr Informationen liefern könnte wissen wir immer noch nicht, wie wir überhaupt gegen einen Gottesdämon kämpfen sollen, sollten wir ihm zufällig begegnen.“ „Dann begegnen wir ihm halt einfach nicht!“, widersprach Eagle stur und richtete sich auf. War allerdings noch so geschwächt, dass er direkt wieder aufs Bett sackte. Schweren Herzens beobachtete Öznur, wie er sich erneut durch die Haare strich. Durch die Erschöpfung schien auch der Zorn wie weggeblasen und Eagle wirkte einfach nur noch müde und verzweifelt. Vorsichtig rückte sie etwas näher an ihn und zog ihn in eine sanfte Umarmung. Eine Zeit lang schien er noch gegen diese trostspendende Geste anzukämpfen. Doch irgendwann gab er nach und lehnte seinen Kopf gegen Öznurs Schulter. Schweigen breitete sich im Raum aus. Eagle sagte nichts und machte nichts, sondern lehnte einfach nur an Öznur. Als schien er immer noch nicht ganz realisiert zu haben, was da passiert war. Als würde noch irgendetwas in ihm gegen diese Wahrheit ankämpfen. Auch am Tag darauf war die Stimmung bedrückt und kaum jemand sagte ein Wort. Etwas widerwillig waren die meisten Mädchen zur Coeur-Academy zurückgekehrt, da sie ohnehin nichts würden ausrichten können. Nur Öznur war in Indigo geblieben und hatte bei Eagle übernachtet. Obwohl er das Krankenhaus noch am selben Tag hatte verlassen können, wirkte er extrem neben der Spur. Häufig hörte er ihnen nicht zu und wenn er sich doch irgendwie am Gespräch beteiligen wollte, vergaß er kurz darauf schon, was die anderen gesagt hatten. Öznur konnte nichts anderes machen als ihm einfach Gesellschaft zu leisten. Auf keinen Fall wollte sie ihn jetzt alleine lassen müssen. Auch Carsten war bei seiner Familie geblieben, was Saya besonders half. Er schaffte es irgendwie, der ruhige Pol zu sein, bei dem man sich einfach geborgen fühlte. Und gleichzeitig schien er auch das ganze Organisatorische zu übernehmen. Schon am ersten Tag nach Chiefs Tod quellte der Briefkasten über von Kondolenzbriefen. Und das war ein Sonntag. Die Medien berichteten nur noch davon. Am Samstagabend wollten sie einfach nur gemeinsam einen Film im Fernsehen schauen, aber nichts lief. Es wurde nur noch von dem grauenhaften Mord am Häuptling gesprochen. Zum Glück hatte Carsten den Fernseher ausgeschaltet, bevor Eagle auf die Idee gekommen war, ihn mit seiner Wind-Energie kurz und klein zu schneiden. An sich schwankten Eagles Stimmungen eigentlich nur zwischen besorgniserregend ruhig und beängstigend aggressiv. Das erste Opfer war sein Computer gewesen, als er sich mit Zocken ablenken wollte und selbst im Onlinespiel nur noch darüber geredet wurde. Aber zumindest ließ er seinen Frust nur an Gegenständen aus. Als Carsten ihn mal indirekt zu einem Trainingskampf herausgefordert hatte, damit er endlich mal wirklich Aggressionen abbauen konnte, hatte Eagle einfach nur mit dem Kopf geschüttelt und fiel kurz darauf wieder in eine schweigsame Phase. Bedrückt starrte Öznur auf ihre Tasse mit dem dampfenden Kaffee. Es war Nachmittag und sie war mit Saya alleine zuhause. Carsten war zu seiner Oma gegangen, da diese wohl am ehesten eine Ahnung hatte, wie es jetzt weitergehen sollte. Eagle war am Trainieren, in der Hoffnung, dadurch etwas Ablenkung zu bekommen. Und Öznur und Saya saßen schweigend am Tisch und tranken Kaffee. Eagles und Carstens Stiefmutter seufzte bedrückt. „Carsten ist ein Engel. Ich würde das alles gar nicht schaffen, erst recht nicht alleine.“ „Das ist einfach unglaublich… Wie kann er jetzt noch die Nerven behalten und sich um so etwas kümmern wie… eine Beerdigung. Oder… eine Krönung…“ Zitternd verstärkte Öznur ihren Griff um die Kaffeetasse. Den Gedanken, dass Eagle nun Häuptling werden müsste verdrängten sie alle so gut es ging. Der Betroffene selbst am meisten. Er hatte kein einziges Mal bisher gefragt, wie so eine Zeremonie ablief und was er dafür tun musste. Zumindest hatte er solche Fragen nie ausgesprochen. Was er dachte wusste Öznur nicht. Sie wusste momentan gar nichts. Nur, dass das alles furchtbar war. Und dass sie Angst hatte. Angst um Eagle. Aber auch Angst um Carsten. „Er ist zu ruhig.“, äußerte Öznur ihre Sorgen verbissen. „Du denkst es also auch…“ Bedrückt rührte Saya mit dem Löffel in ihrer Tasse herum. Öznur nickte. „Natürlich reißt er sich mit aller Kraft zusammen, um so gut es geht helfen zu können. Aber…“ „Es wirkt so, als würde er alles in sich hineinfressen.“ Verzweifelt schaute Öznur Carstens Stiefmutter an. „Kannst du da nichts machen?“ Saya senkte den Blick. „Was sollte ich schon ausrichten können? Carstens Bezugsperson ist schon immer Benni gewesen. Und danach Laura.“ Verbissen ballte Öznur die Hand zur Faust. Sie erinnerte sich daran, dass Carsten häufiger Benni als großen Bruder oder Laura als kleine Schwester bezeichnet hatte. Im Prinzip die Geschwister, die er eigentlich durch Eagle und Sakura hätte haben sollen. „Ja, aber… Du bist doch seine Mutter! Vielleicht nicht vom Blut her, aber…“ „Ich weiß nicht, ob er das auch so sieht.“ „Wieso sollte er das nicht so sehen?“, fragte Öznur schockiert. „Eagle und Carsten nennen mich beide konsequent nur bei meinem Vornamen. Und zumindest bei Eagle weiß ich, dass er Chief immer mit dem indigonischen Wort für Vater angesprochen hat.“ „Na und? Man kann auch jemanden als seine Mutter betrachten, wenn man sie nur bei seinem Vornamen nennt! Benni hat Samira und Jacob auch immer nur beim Namen genannt und ich habe selbst miterlebt, wie er sie mal als seine Eltern bezeichnet hat. Und das, obwohl er sie kaum kennt.“, widersprach Öznur betroffen. Saya seufzte. „Bei Benni ist das etwas Anderes. Sie sind schließlich wirklich seine Eltern und mussten unter besonderen Bedingungen voneinander getrennt werden.“ „Aber du betrachtest Carsten und Eagle doch auch als deine Kinder, obwohl ihr nicht blutsverwandt seid. Oder?“ „Natürlich.“ Öznur zuckte mit den Schultern. „Also warum sollte es bei ihnen anders sein? Gerade Carsten ist jemand, der Leute zu seiner Familie zählt, obwohl er nicht mit ihnen verwandt ist. Und Eagle und Sakura scheinen auch ein richtiges Bruder-Schwester-Verhältnis zu haben, obwohl sie ‚nur‘ Halbgeschwister sind.“ Als Sakuras Name fiel kniff Saya verzweifelt die Augen zusammen. Öznur senkte den Blick und hoffte, dass es ihr genauso gut ging wie Johanna und Johannes. Sie fragte sich, ob Carsten mit seiner Schwarzmagie schon nach ihr geschaut hatte. Eigentlich wäre das so mit eines der ersten Dinge gewesen, die Öznur gemacht hätte, wäre jemand ihrer Schwestern entführt worden. …Wenn sie Schwarzmagie beherrschen und sich den Zauber merken könnte. Aber so übertrieben Ritual- und auswendiglern-lastig wie das alles schien würde sie ohnehin nie Schwarzmagie lernen können. Nach einer Weile meinte Saya schließlich: „Du weißt, wie schwer es unsere Familie häufig hatte…“ Zögernd nickte Öznur. „Aber trotzdem… Gerade du warst doch diejenige, die diese Familie irgendwie zusammengehalten hat. Du hast Carsten damals sogar das Leben gerettet, indem du ihn an Sisikas Stelle ausgetragen hast! Du wurdest die Mutter, die Carsten und Eagle ansonsten nicht hätten! Und die ihnen eine kleine Schwester gegeben hat!“ Traurig lächelte Saya. „Das sind schöne Worte… So habe ich nie darüber nachgedacht.“ „Was dachtest du denn?“, fragte Öznur irritiert und trank einen Schluck von dem Kaffee, der inzwischen etwas zu kalt für ihren Geschmack war. „Es ist schwierig zu beschreiben… Man könnte sagen, ich habe mich immer wie ein Eindringling in dieser Familie gefühlt. Ein Ersatz für Sisika, der seiner Aufgabe nie gerecht werden könnte. Chief und ich haben versucht, nach Sisikas Tod wieder eine normale Familie aufzubauen. Eine Zeit lang ging auch alles gut. Es war den Umständen entsprechend harmonisch, und wir mochten uns auch sehr. Sakura wurde geboren…“ Traurig lächelte Saya. „Chief hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Sie war von Anfang an sein kleiner Engel. Aber… Er konnte Sisikas Tod einfach nicht verkraften. Musste eine lange Zeit gegen Depressionen kämpfen. Und mehr als eine gute Freundschaft konnte sich zwischen uns auch nie entwickeln.“ Öznur schluckte schwer und musste gegen die Tränen ankämpfen. „… Bereust du es?“ Saya schüttelte den Kopf. Zwar immer noch unsagbar traurig, aber auch überzeugt. „Kein bisschen. Ich war ohnehin nie die Romantikerin, die auf die Liebe ihres Lebens gewartet hat. Ich wollte schon immer den Leuten helfen und das konnte ich auch. Ich konnte meinen Berufswunsch verwirklichen und habe einer meiner besten Freundinnen in der schwersten Zeit ihres Lebens noch Hoffnung geben können. Konnte dafür sorgen, dass sie… mit reinem Gewissen diese Welt verlassen konnte.“ Öznur wischte sich eine Träne aus den Augen. „Aber… Das ist doch richtig schön! Wie kannst du da noch Zweifel haben?!“ „Es… fiel mir schwer, mich als Teil dieser Familie sehen zu können. Wie gesagt, Chief und ich waren nach allem immer noch nur gute Freunde. Und Eagle und Carsten… Na ja, ich habe ja schon gesagt, dass ich nicht weiß, ob sie mich als ihre Mutter betrachten. Deswegen habe ich mich bei Chiefs Entscheidungen auch nie einmischen können. Ich hatte nicht den Eindruck… das Recht dazu zu haben.“ „…Deshalb hast du nichts gemacht, als Chief Carsten auf das FESJ geschickt hat?“ Saya nickte betrübt. „Ich habe schon auf ihn eingeredet und ihm deutlich meine Meinung dazu gesagt. Aber Chief verharrte auf seiner Entscheidung.“ Sie strich sich durch die braunen Haare. „Ich habe bis heute nicht verstanden, warum er ihn nicht einfach zu Eufelia geschickt hat. Warum es ausgerechnet das FESJ sein musste.“ Öznurs Kehle schnürte sich zu. „Denkst du… er hasste Carsten so sehr?“ „Nein. Er hat ihn genauso wie seine anderen Kinder geliebt. Nur die Erinnerung an Sisika brach ihm immer wieder das Herz, wenn er Carsten angeschaut hat. Aber deshalb verstehe ich auch nicht, was er damit bezwecken wollte. Und… jetzt werden wir es auch nie mehr von ihm erfahren können…“ Zitternd verschränkte Öznur die Arme vor der Brust. Ja, sie würden es nie mehr von ihm erfahren können. Weil er tot war… Ermordet… „Glaubst du… Carsten weiß, dass sein Vater ihn geliebt hat?“, fragte sie nach einer Weile. „Ich weiß es nicht… Aber irgendwie kann ich mir das schwer vorstellen.“ Bedrückt seufzte Saya. „Vielleicht hilft ihm das Wissen, um damit fertig zu werden.“, überlegte Öznur. „Vielleicht weiß er gerade gar nicht, was er fühlen soll. Weil er denkt, dass sein Vater ihn schon immer gehasst hat.“ Saya nickte nachdenklich. „Vielleicht…“ Ihr Gespräch setzte sich noch eine ganze Weile fort. Saya erzählte von Chief, Sisika, Kindergeschichten über Eagle, Carsten und Sakura, einfach alles Mögliche. Einfach, um irgendwie zu sprechen und das verkraften zu können. Irgendwann wurde die Haustür aufgerissen und dem energischen Stampfen nach zu urteilen war Eagle zurückgekommen. „Scheiße, warum können mich die Leute nicht einfach mal in Ruhe lassen?!“, donnerte er wütend, als er in die Küche kam. „Egal wo, immer kommt jemand auf einen zu und will reden! Ich kann dieses ganze „Mein Beileid“ und „Das muss furchtbar sein“ nicht mehr hören!“ Ein Windstoß fuhr durch Öznurs und Sayas Haare und das Geschirr klapperte. Öznur schluckte schwer und rief sich in Erinnerung, dass Eagle sie nie verletzen würde. Auch, wenn er momentan häufig kurz davor war, die Kontrolle über seine Energie zu verlieren. Sie stand vom Küchentisch auf und ging zu ihm rüber. Sanft nahm sie sein Gesicht zwischen die Hände. „Nimm es ihnen nicht übel, sie wollen nur helfen.“ „Das hilft kein bisschen.“ Eagle wandte verärgert den Blick ab und wollte sich aus Öznurs Griff befreien, ließ es dann aber doch bleiben. Vorsichtig küsste Öznur ihn auf den Mund. „Dann trainiere doch einfach hier in der Nähe des Hauses. Die Indigoner und Journalisten scheinen ja zumindest genug Anstand zu besitzen, euch etwas Privatsphäre zu lassen.“ Eagle atmete geräuschvoll aus und setzte sich auf einen freien Stuhl. „Willst du einen Kaffee?“, bot Saya ihm an. „Was Stärkeres wär mir lieber.“ Saya ging zur Kaffeemaschine, stellte eine Tasse drunter und schaltete sie an. Überrascht beobachtete Öznur, wie sie anschließend zum Schnapsregal ging und tatsächlich ein kleines bisschen aus einer Flasche in den schwarzen Kaffee schüttete. „Sowas?“ Sie stellte die Tasse vor Eagle auf den Tisch und wuschelte ihm sanft durchs Haar. Beeindruckt bemerkte Öznur, wie Eagle sich daraufhin tatsächlich etwas beruhigte. „Ich dachte, du wärst Ärztin.“, meinte er nur. „Gerade deshalb.“, erwiderte Saya und zwang sich zu einem aufheiternden Lächeln. Tatsächlich brachte ihr Kommentar ein schwaches Lachen über Eagles Lippen. Es tat weh, ihn so sehen zu müssen. Dieser ständige Kampf gegen die Gefühle. Und immer noch schien er diese ganze Situation nicht wahrhaben zu wollen. Schweren Herzens stellte sich Öznur hinter Eagle und legte ihm die Arme um die breiten Schultern. Wieder schien er sich erst gegen diese Geste wehren zu wollen. Und wieder gab er schließlich doch nach, lehnte den Kopf zurück, gegen Öznur, und schloss die Augen. Kapitel 64: Minuten des Zorns ----------------------------- Minuten des Zorns Bedrückt verließ Carsten das Zelt seiner Großmutter und machte sich auf den Heimweg. Koja hatte ihm tatsächlich alles Mögliche über die Organisation der Trauerfeier und Krönungszeremonie erzählen können. Am Ende meinte sie, dass Carsten mal in Sisikas Sachen suchen sollte. Anscheinend war sie es damals gewesen, die die Zeremonie für Chiefs Amtsantritt geplant hatte und schien alles Erforderliche in einem Notizbuch festgehalten zu haben. Ob sie dieses Notizbuch schon mit dem Hintergedanken angefertigt hatte, dass ihr Sohn eines Tages Häuptling werden würde? Hatte sie gehofft, Eagle damit zu helfen? Ihm in dieser schweren Situation beistehen zu können, obwohl sie nicht mehr am Leben war? Immerhin war die Dauer des Kampfes gegen das Karystma von Person zu Person verschieden. Sisika hatte bis in ihre Zwanziger durchgehalten. Laura wiederum hätte sehr wahrscheinlich nicht lange zu leben gehabt, wäre der Schwarze Löwe nicht gewesen. Carsten bezweifelte, dass sie überhaupt ihren fünften Geburtstag noch erlebt hätte… Schaudernd verschränkte er die Arme vor der Brust. Er wollte sich eine Welt ohne sie gar nicht erst vorstellen. „Hey, du bist doch Crow, nicht wahr?“, rief jemand hinter ihm auf Indigonisch. Irritiert drehte sich Carsten um. Drei Indigoner, etwa in seinem Alter, kamen auf ihn zu. Bereits auf den ersten Blick erkannte Carsten, dass sie allesamt Kampfkünstler waren. Was nicht verwunderlich war. Etwa zweidrittel von Indigos Bevölkerung hatte eine antike Begabung für das Physische. Derjenige, der ihn angesprochen hatte, begann ein Gespräch. „In den Medien wird überall erwähnt, dass der Häuptling von einem jungen Mann ermordet wurde, der bereits polizeibekannt ist und davor schon einige Jahre im FESJ war.“ Carsten verspannte sich. Derweil fuhr einer seiner Freunde fort: „Die Besserungsanstalt scheint wohl nichts bei dem gebracht zu haben. Wie konnte man den überhaupt auf freien Fuß setzen? Da sieht man’s mal wieder, ein Verbrecher bleibt ein Verbrecher.“ „Was wollt ihr?“ „Du warst doch auch dort, nicht wahr?“, fragte der dritte von ihnen. „Na und?“ Carsten musterte die Typen kritisch. Drei mit Testosteron vollgepumpte Halbstarke, die allem Anschein nach irgendeinen Sündenbock brauchten, um ihre gerade erst neu gelernten Kampftechniken ausprobieren zu können. Der zweite von ihnen zuckte mit den Schultern. „Na ja, wir haben uns gefragt, ob du den Kerl nicht vielleicht dort kennengelernt hast. Ob ihr vielleicht sogar gemeinsame Sache macht.“ Zitternd ballte Carsten die Hand zur Faust. Sein Puls beschleunigte sich. „Wollt ihr etwa behaupten, ich sei verantwortlich für den Tod meines Vaters?!“ „Ach, du gibst es also zu?“ „Warum sollte ich so etwas wollen?!“ Verärgert funkelte er die Typen an. Erst gab man ihm die Schuld am Tod seiner Mutter und nun auch noch an dem seines Vaters?! Zitternd schluckte Carsten die angestauten Aggressionen runter. Nein, die waren es nicht wert. Er musste sich um wichtigeres kümmern. „Ich habe nichts mit dem Tod meines Vaters zu tun.“, äußerte er so ruhig wie möglich. „Und nun entschuldigt mich, ich bin beschäftigt.“ Carsten wandte sich zum Gehen. „Jetzt ist Eagle dran, nicht wahr?! Jetzt willst du dich auch an ihm rächen!“, brüllten sie ihm hinterher. Carsten versuchte ihre Stimmen auszublenden. Er war ohnehin schon etwas gereizt, da er nicht sonderlich gut geschlafen hatte. „Gib’s zu, du willst der nächste Häuptling werden!“ Nicht hinhören. Einfach weitergehen. Carsten hörte Schritte hinter sich, die sich ihm schnell näherten. „Du Hurensohn willst jetzt auch ihn umbringen!!!“, schrie der Typ so laut, dass es in seinen Ohren dröhnte. Carsten atmete geräuschvoll aus. Drehte sich um. Eine Faust raste auf sein Gesicht zu, doch ehe sie treffen konnte, fing Carsten sie ab. Hielt sie fest. Verärgert erwiderte er den Blick des Indigoners. „Noch ein Wort und du wirst diesen Arm für eine Weile nicht mehr benutzen können.“ Ohne es zu beabsichtigen, zuckten bereits lila Magieblitze um Carstens Finger, die die Faust gefangen hielten. Diese reichten allerdings schon aus, dass sich der Indigoner grob befreite und hastig ein paar Schritte zurückstolperte. „Du Arschloch! Damit wirst du nicht davon kommen.“, schrie ein anderer und griff ihn an. Carsten sagte ein Wort auf Dryadisch und die Faust des Angreifers traf auf eine lila schimmernde Magiebarriere. Fluchend hielt er sich die Hand. Der dritte wagte es gar nicht mehr einen Angriff zu starten. „War das alles?“, fragte Carsten immer noch leicht gereizt. Als keine Antwort kam meinte er schließlich. „Sehr schön, dann kann ich ja endlich gehen.“ Nach einigen Schritten blieb er allerdings nochmal stehen und schaute über die Schulter. „Ich weiß nicht, wie ihr auf so eine absurde Idee gekommen seid. Aber ich bin weder für den Tod meines Vaters verantwortlich, noch möchte ich Eagle irgendetwas antun. Ich will ihm einfach nur helfen.“ Auch als Carsten daheim angekommen war und den Schlüssel im Schloss herumdrehte, zitterten seine Finger noch. Er war es ja gewohnt, von den anderen Indigonern ignoriert zu werden. Und gelegentlich gab es früher auch Anfeindungen, gerade aus Eagles Freundeskreis. Aber solche Beschuldigungen? Er betrat das Haus. Den Stimmen nach zu urteilen war der Rest in der Küche. Doch Carsten stieg direkt die Treppe hoch. Ging zu der Stelle, wo sich eine verschlossene Luke in der Decke befand. Mit seiner Magie öffnete Carsten diese Luke und ließ die Leiter herunter. Eigentlich war er inzwischen groß genug, um ohne seine Magie auf den Dachboden zu kommen. Doch er tat es aus Gewohnheit. Der Dachboden war staubig und dunkel. Wieder aus Gewohnheit schloss Carsten die Luke und zauberte sich einige warme Lichter in den Raum. Inzwischen musste er sich bücken, um den Dachbalken und den Spinnenweben auszuweichen. Früher war das noch nicht so ein Problem gewesen. Früher war ihm der Dachboden auch viel größer vorgekommen. In Erinnerungen verloren öffnete er einen der Pappkartons und holte eines der vielen sich darin befindenden Bücher heraus. Als Kind war er häufig hier oben gewesen. Sehr häufig. Gerade, wenn Eagle ihm gegenüber Gewalt anwenden wollte, hatte sich Carsten hier oben versteckt und mit seiner Magie die Luke verschlossen, damit niemand ihm folgen konnte. Und dann hatte er gelesen. Stundenlang. Schöne Bücher, lustige Bücher, traurige Bücher, spannende Bücher, Bücher über Medizin, Biologie, Chemie oder Physik, Bücher über Magie und Alchemie, … Einfach alles. Manchmal hatte er sogar die Essens- oder Schlafenszeit vergessen, wenn er am Lesen war. Am Anfang hatte Saya ihn dann immer verzweifelt gesucht, bis sie irgendwann sein Versteck gefunden hatte. Dann hatte sie ihm ein kleines Sofa und ein paar Decken hochschaffen lassen, damit er nicht auf dem kalten Holzboden sitzen musste. Mit einem traurigen Lächeln betrachtete Carsten das Buch in seiner Hand und legte es schließlich zurück zu den anderen. Eigentlich waren sie allesamt viel zu schade, um sich hier auf dem Dachboden zu befinden. Sie gehörten schön aufgereiht in ein Bücherregal. Aber andererseits war das hier auch wie eine Schatzkiste. Carstens Schatzkiste, von der nur sehr wenige wussten. Genau genommen gerade mal zwei Leute. Und deswegen würde sie ihm auch niemand stehlen können. Carsten verschloss den Karton wieder und machte sich auf die Suche nach demjenigen, in welchem Besitztümer seiner leiblichen Mutter sein könnten. Es war ihm etwas unangenehm, die Sachen anderer Leute zu durchsuchen. Einen Karton mit Sakuras alten Puppen schloss er direkt wieder. Auch den mit Eagles Spielsachen, überwiegend Modellautos und -flugzeuge, betrachtete er nur ganz kurz. Da waren noch alte Schulsachen, eine Kiste voller Klamotten, … Carstens Blick fiel auf die Kiste, die ganz in der Ecke stand und von allen am schwersten erreichbar war. Warum hatte er sich überhaupt die Mühe gemacht? Es war doch eindeutig. Er schob weitere Kartons zur Seite, bis er endlich jene Kiste erreicht hatte. Staub stieg ihm in die Nase und zwang Carsten zu einem Niesen als er sie öffnete. Das erste was er herausholte war eine etwas größere Holztruhe, die mit wunderschönen indigonischen Mustern verziert war. Darunter befanden sich diverse kleinere Kästchen und auch einige Bücher. Ein in dickeres Leder gehülltes Buch erregte sofort Carstens Aufmerksamkeit. Er holte es aus dem Karton und betrachtete den Einband. Auch in dieses waren indigonische Muster eingraviert. Carsten schlug es auf. Zum Vorschein kamen viele, mit unsauberer Handschrift beschriebene Seiten. Alles komplett auf Indigonisch. Carsten blätterte zurück zur ersten Seite und ließ eine der Lichtkugeln zu sich kommen, um besser lesen zu können. Diese Schrift war ja grauenhaft unordentlich. ‚18. August 161 n.KE Heute in den frühen Morgenstunden ist mein Schwiegervater Amar verstorben. Auch, wenn er in letzter Zeit sehr kraftlos wirkte, hätten wir trotzdem nicht mit einem so plötzlichen Tod gerechnet. Chief am allerwenigsten. Nachdem der erste Schock überstanden war stellte sich die Frage: Was machen wir jetzt? Zum Glück hatte meine Mutter damals bereits bei Amars Amtseintritt mitgewirkt und kannte auch noch viele Leute, die uns helfen konnten. Leider gibt es nirgends ein Buch, was alles übersichtlich zusammenfasst. Und alle Formalitäten aus allen möglichen Regelwerken zusammenzutragen, die hier gerade vor mir stehen, ist freundlich gesagt der absolute Scheiß. (Entschuldigung, das hat niemand gelesen.) Aus diesem Grund werde ich versuchen, alles so übersichtlich wie möglich auf den folgenden Seiten zusammenzufassen. So bleibt dir, mein Kind, eines Tages zumindest diese anmaßende Arbeit erspart, wenn du in diese erdrückende Situation kommst und ich nicht mehr da sein sollte, um helfen zu können. Da du das wahrscheinlich gerade liest, weil du dich in genau dieser Situation befindest, möchte ich jetzt schon mal vorwegsagen: Ich habe dich lieb, mein Schatz. Bleib stark. Du schaffst das! Sisika‘ Carsten wischte sich eine Träne von der Wange. Er wusste noch nicht einmal, wieso ihm auf einmal zum Weinen zumute war. Eigentlich waren diese Worte ja ganz eindeutig an Eagle gerichtet, mit dem Sisika dem Datum nach zu urteilen bereits schwanger war. Aber trotzdem… Das war das erste, was er jemals von seiner Mutter in die Hand bekommen hatte. Im Prinzip waren es die ersten Worte, die er von ihr je gehört hatte. Oder eher gelesen… Und selbst wenn sie an Eagle gerichtet waren, Carsten fühlte sich automatisch auch davon angesprochen. Zitternd atmete er mehrmals durch, bis er den Eindruck hatte sich wieder beruhigt zu haben. Er legte das Buch zur Seite und wollte die Holztruhe wieder in den Karton räumen. Doch sie rutschte ihm aus den Händen und fiel mit einem Krachen auf den hölzernen Boden. Der offensichtlich unverschlossene Deckel öffnete sich und mehrere kleine Zettel fielen heraus. Carsten unterdrückte einen Fluch und nahm die etwas festeren Zettel, um sie wieder einzuräumen. Da fiel ihm auf, dass es sich um Fotos handelte. Nun doch neugierig geworden, scharrte er die Fotos zusammen und betrachtete sie. Auf dem ersten war direkt eine junge Frau mit einem wenige Monate alten Baby im Arm, dessen Hand sie so hob, als winke es in die Kamera. Ein trauriges Lächeln breitete sich auf Carstens Lippen aus. Die Frau sah ihm ungewöhnlich ähnlich. Besonders die lilafarbenen Augen waren eindeutig. Inzwischen hatte er dank Samira und Jacob bereits einige Geschichten von ihr gehört, doch das war das erste Mal, dass er seine Mutter auch sah. Er wusste zwar, dass er vom Aussehen her anscheinend nach ihr gekommen war, aber er hatte sich trotzdem nie ein Gesicht vorstellen können. Das Kind in ihren Armen war allem Anschein nach- „Carsten?! Alles okay?!“, drang Eagles tiefe Stimme zu ihm nach oben. Carsten schreckte auf. „Ja- ja, alles in Ordnung! Ich komme, Moment.“ Hastig legte er die Fotos zurück in die Holztruhe. Doch als er sie in den Karton stellen wollte, hielt er inne. Er stellte die Truhe neben das Notizbuch und verschloss den Karton. Anschließend kehrte er zurück zur Luke und öffnete sie. Unten stand Eagle, der kritisch zu ihm hochblickte. „Was war das denn für ein Poltern?“ „Mir ist was aus der Hand gerutscht.“, meinte Carsten nur und reichte ihm die Truhe runter. „Hältst du mal?“ Stirnrunzelnd nahm Eagle sie entgegen, während Carsten die Leiter herunterkletterte und die Luke zum Dachboden wieder verschloss. Sisikas Notizbuch teleportierte er in sein Zimmer, bevor sein Bruder es bemerken konnte. Schließlich war der Inhalt dessen etwas, mit dem Eagle sich momentan am allerwenigsten befassen wollte. „Was ist das?“, fragte Eagle auf die Truhe blickend. „Sieh es dir selbst an.“, erwiderte Carsten und lächelte seinem großen Bruder aufmunternd zu. Eagle öffnete den Deckel und holte eines der Fotos heraus. Eine Weile schaute er einfach nur schweigend das Bild an. Irgendwann holte er das zweite Foto heraus. „…Da waren sie also die ganze Zeit…“, murmelte er, eher zu sich selbst. Carsten beobachtete, wie sich Eagle auf den Boden setzte und gegen die Wand lehnte, nur um im Anschluss weitere Fotos aus der Truhe zu holen und sie sich anzuschauen. „Hey, ich habe sie selbst noch nicht alle gesehen.“, beschwerte sich Carsten und setzte sich neben Eagle aufs Parkett. Eagle reichte ihm die bereits angeschauten Fotos und holte sich selbst neue aus der Truhe. Ein schiefes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. „Das dürfte dir gefallen.“ Er gab das Foto an Carsten weiter, welcher es neugierig betrachtete. Und kurz darauf auflachte. „Tatsache.“ Auf dem Foto war das ‚Teufels-Trio‘, wie Jacob Samira, Saya und Sisika gerne nannte. Eagle, keine drei Monate alt, saß auf Samiras Schoß und hatte fasziniert die Hand auf ihren dicken Bauch gelegt. Eagle schnaubte. „Wer hätte gedacht, dass das Ding, was da drinnen heranwächst, mich später mal in allem übertrumpfen wird.“ Carsten war sich nicht sicher, wie ironisch Eagle seine Aussage gemeint hatte. Ein Hauch Frust lag definitiv in seiner Stimme. Aber er schien auch etwas amüsiert. Hoffentlich. „Nicht in allem.“, berichtigte Carsten ihn. „Ach, und was kann ich bitteschön besser als er?“ Carsten zuckte mit den Schultern. „Essen?“ „Eine schmeichelhaftere Antwort ist dir wohl nicht eingefallen.“ „Saufen?“ „Carsten, ich warne dich.“ „Schlafen?“ Eagle stöhnte auf. „Ist das dein Ernst?“ „Größe?“ Er warf ihm einen kritischen Blick zu. „Kommst du jetzt ernsthaft mit sowas an?“ Verwirrt musterte Carsten ihn. „Wie meinst du das? Du bist doch wirklich zehn Zentimeter größer als Benni.“ Plötzlich lachte Eagle los. Was Carsten umso mehr irritierte. „Was ist daran so lustig?“ Sein großer Bruder schaute ihn amüsiert an und schüttelte den Kopf. „Du bist so unschuldig, dass es fast schon weh tut.“ Carsten wollte erneut nachfragen. Doch dann erkannte er, was Eagle wohl verstanden haben musste. Er verdrehte die Augen. „War ja klar, dass du das so interpretierst.“ Eagle warf ihm einen herausfordernden Blick zu. „Stimmt das denn auch?“ „Keine Ahnung. Und darüber will ich mir auch keine Gedanken machen müssen.“ „Alles in Ordnung?“, fragte Öznur verwundert, die am Ende der Treppe stand. Eagle betrachtete seinen kleinen Bruder schmunzelnd. „Ja, Carsten ist nur so wie immer.“ Öznur warf Carsten einen erleichterten Blick zu. Was auch immer die Ursache war, sie war wohl einfach froh, dass er es geschafft hatte Eagle zum Lachen zu bringen. „Ich sollte euch eigentlich nur von Saya ausrichten, dass das Abendessen fertig ist.“, meinte sie schließlich. „Wir kommen gleich.“, erwiderte Eagle und begann, die Fotos wieder einzuräumen. Öznur nickte und ging die Treppe wieder runter, um Saya beim Tischdecken zu helfen. Momentan waren keine Angestellten im Haus, da sie einfach alle ihre Ruhe haben wollten. Und Carsten war sowieso noch nie ein Fan von Bediensteten gewesen. Er kümmerte sich lieber selbst um alles. Erneut schaute Eagle Carsten kritisch an und schloss den Deckel der Truhe. „Aber im Ernst: Kann ich überhaupt was besser als Benni?“ Carsten verdrehte die Augen. „Ich hätte nicht gedacht, dass diese Frage wirklich ernst gemeint war. Im Kampf bist du eigentlich viel stärker und schneller als Benni. Er hat nur so ein leichtes Spiel mit dir, da du ständig auf Frontalangriffe aus bist und deine Bewegungen dadurch total berechenbar sind.“ Eagle schien überrascht. „Wirklich?“ „Ich dachte eigentlich, du würdest mehr über deine Stärken und Schwächen nachdenken.“ Schnaubend stand Eagle auf und wollte die Truhe hochheben. Hielt kurz darauf allerdings für einen Moment inne. „Kann… ich sie behalten?“ „Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Warum fragst du mich das?“ „Keine Ahnung.“ Er seufzte und Carsten musste feststellen, dass sein großer Bruder wieder in dieses bedrückte Schweigen fiel. Aber er war froh, die Fotos mitgenommen und Eagle dadurch zumindest ein bisschen aufgeheitert zu haben. Carsten hatte ursprünglich die Sorge gehabt, es damit nur noch schlimmer zu machen. Trotzdem erzählte er ihm lieber noch nichts von dem Notizbuch. Irgendwie hatte er den Eindruck Eagle würde komplett ausrasten, würde man das Wort ‚Häuptling‘ auch nur in den Mund nehmen. Auch das Abendessen verlief bedrückend schweigsam. Zumindest, bis Öznur fragte was es mit dieser Truhe vorhin auf sich habe. Als Eagle und Carsten daraufhin von den Fotos erzählten, besserte sich die Stimmung wieder etwas. Besonders, da dies Saya die Gelegenheit bot über ihre, Samiras und Sisikas ‚Jugendsünden‘ zu erzählen. Und ja, man nannte die drei zurecht das Teufels-Trio. Saya war wohl schon immer der ruhige Pol gewesen, der die rebellische Samira und temperamentvolle Sisika irgendwie im Zaum halten musste. Was ihr nicht immer gelang, beziehungsweise manchmal auch nur ein halbherziger Versuch war. Erst, als Samira Jacob und Sisika Chief kennengelernt hatten, wurden sie etwas zahmer. Aber auch nur etwas. Im Anschluss an das Abendessen ging Eagle in eine Kneipe, wo er sich allem Anschein nach mit Freunden verabredet hatte. Wahrscheinlich zum Saufen. Ja, das konnte er wirklich besser als Benni. Viel besser. Öznur begleitete ihn natürlich und auch Carsten kam widerwillig mit, nachdem Saya ihn dazu überredet hatte ein Auge auf seinen großen Bruder zu werfen. Zumindest war Eagles Freundeskreis Carsten nicht mehr so feindlich gesinnt wie früher. Oder wie die drei Kerle vorhin… Carsten versuchte diese Erinnerung auszublenden und schaute auf das Bier, was er sich natürlich hatte andrehen lassen müssen. Aber zumindest drängte ihn keiner zu den härteren Sachen, die der Rest in sich hineinschüttete. Inzwischen war es schon recht spät geworden und Öznur war zur Coeur-Academy zurückgekehrt. Auch, wenn sie den Unterricht morgen am liebsten geschwänzt hätte. Carsten und Eagle waren beide von der Schule freigestellt. Eigentlich hätte sich Carsten lieber mit Unterricht und der Biologie Klausur beschäftigt, um etwas Ablenkung und Alltag zu haben. Aber er würde wahrscheinlich auch so genug zu tun haben. Bedrückt dachte er an den Bann, den er so schnell es ging entwickeln musste. Sie hatten sowieso schon kaum mehr Zeit. Und jetzt stand auch noch die Planung von Eagles Amtsantritt an… Carsten warf seinem großen Bruder einen Blick zu, der sich bei einem Trinkspiel den wer weiß wievielten Shot in die Kehle stürzte. Das war nicht der gesündeste Weg, um einen Verlust zu verarbeiten… Aber er hatte schon befürchtet, dass Eagle früher oder später zum Alkohol greifen würde. Bedrückt spielte Carsten mit dem Haargummi an seinem Handgelenk und fragte sich, wann er endlich aus dieser Situation erlöst wurde. „Was hast du hier zu suchen?“, ertönte plötzliche eine männliche Stimme. Sie war Carsten nicht sonderlich vertraut, und trotzdem hatte er sie den ganzen Abend nicht aus dem Kopf bekommen können. Frustriert schaute er auf, in die Augen des Indigoners, dessen Angriff er heute Nachmittag als erstes abgefangen hatte. Das war nicht die Erlösung, die sich Carsten gewünscht hatte. „Hallo, Elan.“, grüßte Eagle ihn. „Ihr kennt euch?“, fragte Carsten irritiert. Bevor Eagle antworten konnte, meinte besagter Elan: „Schleimst dich wohl bei deinem Bruder ein, hm?“ „Ich dachte, das hätten wir bereits geklärt.“ Carsten biss die Zähne zusammen. Was war nur los mit dem? „Was geklärt?“, Eagle schien verwirrt. „Halt dich besser fern von dem.“, riet Elan ihm. „Ehe du dich versiehst rammt der dir ein Messer in den Rücken.“ „Ich sagte doch schon, ich würde so etwas nie machen!“, rief Carsten verzweifelt und ballte die Hand zur Faust. Elan packte Carsten am Kragen seines Hemdes. „Klar behauptest du das jetzt. Gib’s doch endlich zu, du willst deinen Bruder genauso abstechen wie den Häuptling!“ Das Schnapsglas in Eagles Hand zerbrach. „Was sagst du da?“ „Das Arschloch will sich doch nur an dir und deinem Vater rächen!“ „Nein!“, schrie Carsten verärgert und wollte sich losreißen, als Eagle die Hand auf seine Schulter legte. Mit grobem Griff nahm er Elans Arm, sodass dieser gezwungen war Carsten endlich loszulassen. „Fordere dein Glück nicht zu sehr heraus.“, drohte Eagle mit seiner tiefen Stimme und das Echo, was in ihr mitschwang, ließ einen Wind zwischen den beiden zischen. „Ey Eagle, komm endlich zur Vernunft!“, rief Elan wütend. „Ihr habt den doch damals nicht ohne Grund aufs FESJ geschickt!“ Eagles Griff wurde fester. Der Wind wurde stärker. „Noch ein Wort…“ „Der will sich doch nur selbst die Federkrone aufsetzen! Ich wette, der plant schon hinter deinem Rücken, wie er deinen Amtsantritt zum Häuptling manipulieren kann!“ „Halt endlich deine Fresse!“, brüllte Eagle. Mit einer Sturmböe stieß er Elan zurück, der gegen den nächstbesten Holztisch krachte. Von einem Tornado umgeben, ging Eagle auf Elan zu. Er schien kurz davor zu sein die Kontrolle über seine Energie zu verlieren. Bevor Carsten nachdenken konnte, war er bereits aufgesprungen und stellte sich zwischen die beiden. „Eagle, beruhige dich!“, rief er über den tosenden Wind hinweg, der an seinen Haaren und seiner Kleidung zerrte. „Nein! Immer sagen mir alle ich soll mich beruhigen! Es reicht!!! Ich hab die Schnauze voll!!!“ Zwei schneidende Sturmsicheln wollten an Carsten vorbeirauschen. Er hielt sie mit seiner Magie auf und suchte nach irgendwelchen Argumenten Eagle zu beruhigen. „Du bist betrunken! Komm wieder zur Vernunft, bevor du noch jemand Unschuldigen verletzt!“ „Jemand Unschuldigen?! Niemand ist hier unschuldig!!! Ihr könnt mich alle mal!!!“ Der Sturm wurde stärker. Immer stärker. Es kostete Carsten viel Kraft, ihn mit seiner Magie zumindest halbwegs in Schach zu halten. Zu viel Kraft. Verzweifelt stellte er fest, dass er keine Chance hatte Eagle Einhalt zu gebieten. Und bei der Gefahr, die momentan von Eagle ausging, wäre es für jeden anderen hier lebensgefährlich etwas unternehmen zu wollen. „Geh aus dem Weg!!!“, brüllte Eagle über den tosenden Sturm hinweg. Carstens Magieschild wurde schwächer. Einige Windsicheln durchbrachen es und schnitten sich in seine Arme. „Das willst du nicht…“, brachte Carsten mühsam hervor. „Hör auf, bevor du es später noch bereust.“ Eagle nahm keine Notiz von ihm. Er war ihm egal. Momentan war ihm einfach alles egal. Alles, außer die angestauten Aggressionen. Der angestaute Frust und die Verzweiflung, die sein Vater zurückgelassen hatte. All der angestaute Zorn, den er nicht mehr hatte an Jack auslassen können. Carsten sammelte seine Gedanken. Er musste irgendwie verhindern, dass Eagle etwas tat, was er im Nachhinein bereuen würde. Trotz allem, was passiert war und passieren würde, lag Eagle immer noch das Wohl seines Volkes am Herzen. Wenn jetzt jemand wegen dieses Wutausbruches zu Schaden kam, würde er sich das nicht verzeihen können. Carsten atmete tief durch und holte sein Messer aus der Hosentasche, dass er seit seiner Schwarzmagierprüfung immer dabei hatte. Verboten hin oder her, das war die einzige Magie, die mächtig genug war um zumindest halbwegs etwas ausrichten zu können. Carsten begann, den Spruch des ersten Rituals aufzusagen, das ihm für diese Situation in den Kopf kam. Eine lilafarbene Aura umgab seinen Körper mit einem Sturm, ähnlich zu Eagles Wind-Energie. Je weiter der Zauber fortschritt, desto dunkler wurde sie. Die beiden Tornados trafen aufeinander. Zitternd hob Carsten die linke Hand. Und fuhr mit dem Messer über die gesamte Handfläche. Sofort sickerte das Blut aus der Wunde. Es wurde von dem Wind ergriffen und in den Tornado gezogen. Das dunkle Lila wurde tiefrot. Und schließlich pechschwarz. Sturmböen in Form von schwarzen Krähen lösten sich aus dem Tornado und flogen kreischend in Eagles. Verschwanden darin. Färbten das strahlende grau ebenfalls schwarz, als wollten sie die Kontrolle darüber übernehmen. Doch das war unmöglich. Niemand hatte eine größere Kontrolle über den Wind als der Herrscher des Windes selbst. Carsten konnte ihn nur etwas schwächen. Doch das alleine reichte schon aus, um zu Eagle in das Auge des Sturms gelangen zu können. „Hör auf, bitte!“, schrie Carsten verzweifelt und packte seinen großen Bruder am Arm. Die Sturmkrähen kreischten über ihren Köpfen, als würden auch sie Eagle zu rufen er solle sich beruhigen. Und irgendwann hörte er auf sie. Das Leuchten in seinen Augen verschwand, die Energie, die durch seine Adern pulsierte, wurde wieder zu Blut, und der Sturm wurde allmählich schwächer. Bis er schließlich ganz verschwand. Kraftlos sackte Carsten auf die Knie. Der Blutzoll für dieses Ritual war viel größer, als der für den Observationszauber. Und entsprechend war auch der gesamte Zauber viel erschöpfender. Carsten wusste nicht, ob es in dem Raum tatsächlich niemand wagte etwas zu sagen, oder ob er durch das Rauschen in seinen Ohren nur nicht dazu im Stande war etwas hören zu können. Der Boden schien zu schwanken und mit aller Kraft versuchte er die Übelkeit zurückzuhalten, während er gleichzeitig um Gleichgewicht kämpfte. Er war sich nicht sicher, ob auch Eagle wankte oder ob es nur sein eigener Schwindel war. „…Carsten?“, hörte er seinen großen Bruder gedämpft fragen. „Sch…Schon… in…“, versuchte Carsten zu antworten. Von weiter entfernt meinte er zu hören, wie einer von Eagles Freunden jemanden aufforderte Wasser zu holen. Nur benommen nahm er wahr, wie er vorsichtig auf den Boden gelegt wurde. Den Rest bekam er gar nicht wirklich mit, bis auf Eagles „Komm wieder zu dir.“ Carsten war sich nicht sicher, wann der Schwindel abnahm und seine Sinne zurückkehrten. Die Erschöpfung war zwar immer noch da, aber er schaffte es zumindest, sich aufzurichten. Jemand reichte ihm ein Glas Wasser, was Carsten mit zitternden Händen entgegennahm. Da fiel ihm der brennende Schmerz in seiner linken Handfläche auf. Ohne darüber nachdenken zu müssen, schaffte er es, den tiefen Schnitt zu desinfizieren und zu verbinden. Mal wieder war er froh, immer einen mit Magie verkleinerten Erste-Hilfe-Kasten in der Hosentasche dabei zu haben. „Alles okay?“, fragte Eagle vorsichtig. Immer noch benommen nickte Carsten und hielt die Hand etwas nach oben, um nicht zu viel Blut zu verlieren. Einer von Eagles Freunden atmete auf. „Krass, da kommt kein Actionfilm gegen an.“ „Ernsthaft, ich will keinen von euch beiden je wieder provozieren.“, meinte ein zweiter. Eine ältere Indigonerin, der diese Kneipe hier gehörte, kam auf sie zu und kniete sich neben Carsten auf den Boden. „Geht’s, Junge?“ Erneut nickte Carsten benommen. Wieder schaltete sich jemand von Eagles Freunden ein. „Haben wir jetzt Hausverbot?“ Sie schüttelte den Kopf. „Dank dem jungen Magier hier ist ja nichts passiert.“ Sie warf Eagle einen warnenden Blick zu. „Ich mag dich, Eagle. Und ich verstehe, dass das gerade eine harte Zeit für dich ist. Aber solltest du nochmal versuchen mein Lokal auseinander zu nehmen, werde ich nicht mehr so nachsichtig sein.“ Eagle nickte lediglich und senkte den Blick. „Entschuldige, Ituha…“ Sie klopfte ihm auf die Schulter und richtete sich auf, um Carsten auf die Beine zu helfen. Bei ihrer Kraft erkannte Carsten sofort, dass es sich um eine Kampfkünstlerin handelte. Er betrachtete die Frau mittleren Alters etwas genauer, soweit das in seiner derzeitigen Verfassung möglich war. Sie war etwa genauso groß gewachsen wie Carsten und hatte lange Rasterlocken, die zu einem straffen Zopf zurückgebunden waren. Ihr durchtrainierter Körperbau ließ vermuten, dass es in ihrer Bar normalerweise zu keinen Reibereien zwischen betrunkenen Indigonern kam. Niemand würde es auch nur wagen, sie zu provozieren. Wenn sich Carsten recht entsann, war Ituha eine alte Freundin von Chief. Er hatte die beiden früher häufig zusammen trainieren gesehen. Mit diesem Wissen wollte man sie erst recht nicht provozieren. Das dachte sich wohl auch Elan, der als nächstes von Ituha warnend angeschaut wurde. „Und dir muss ich wohl nicht sagen, dass du dich auf ganz dünnem Eis befindest, Jungchen.“ „V-verzeihen Sie…“ Ituha wies auf die Tür neben den Tresen. „Vielleicht wirst du beim Toilettenputzen ja wieder nüchtern. Wo die Putzsachen stehen, muss ich dir inzwischen wohl nicht mehr erklären.“ Als Elan sich nicht bewegte, meinte sie mit lauterer, strengerer Stimme: „Muss ich mich wiederholen?“ „N-nein!“ Eilig hastete er in Richtung der Toiletten davon. Ituha schüttelte verstimmt den Kopf. „Die Eltern sind viel zu nachsichtig.“ Ihr strenger Blick fiel auf Eagle. „Ich hoffe, du bist inzwischen nüchtern genug, um Crow heimbringen zu können.“ Eagle nickte nur, doch so wie er wankte hatte er eindeutig zu viel getrunken. Seufzend kehrte sie zum Tresen zurück und holte ihre Autoschlüssel. „Das kommt auf die Rechnung.“, meinte sie nur und wies die Jungs an, das Lokal zu verlassen. „Du hast das Sagen.“, beorderte sie einer jungen Kellnerin und wandte sich an den Rest: „Und ihr benehmt euch gefälligst, während ich weg bin.“ Carsten und Eagle ließen sich von Ituha in ihrem Geländewagen zurück nach Hause fahren. Sie sagte nichts weiter, sondern achtete nur darauf, dass die beiden Brüder es zumindest ins Haus schafften. So lautlos wie möglich schlichen sie die Treppe hoch, um Saya nicht zu wecken. Es war bereits drei Uhr morgens. „Kommst du zurecht?“, erkundigte sich Carsten im Flüsterton. Eagle erwiderte seinen Blick und wirkte einfach nur noch müde. Anschließend schaute er auf den Verband an Carstens Hand und die Kratzer, unter dem inzwischen etwas zerschlissenen Hemd. Ohne ein weiteres Wort verschwand Eagle in seinem Zimmer. Seufzend betrat Carsten sein eigenes und erinnerte sich an das Notizbuch, was er erst vorhin auf das Bett teleportiert hatte. Ohne sich auszuziehen nahm er das Buch und legte sich aufs Bett. Noch einmal las er die erste Seite durch und musste bei ‚der absolute Scheiß‘ schmunzeln. Ja, seine Mutter schien in Wahrheit ziemlich aufbrausend gewesen zu sein. Irgendwann setzte sich jedoch die Erschöpfung durch und Carsten schlief ein. Noch mehrmals in der Nacht wachte er schweißgebadet auf, nur, um kurz darauf einzuschlafen und dann doch wieder aus einem Albtraum gerissen zu werden. Als er zum ersten Mal nach Sonnenaufgang aufwachte, fühlte er sich wie gerädert und beschloss, noch für eine Weile liegen zu bleiben und weiter zu dösen. Aber da das auch nicht sonderlich half, mühte Carsten sich irgendwann doch aus dem Bett und schlurfte ins Bad. Es war bereits elf Uhr, so lange hatte er schon seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen. Falls man das überhaupt schlafen nennen konnte. Dieser Nebeneffekt war ihm bereits bei den Observationszaubern aufgefallen. Schwarzmagie verlangte nicht nur einen Blutzoll, sondern zehrte auch mental an ihm. Sobald er an einem Tag schwarze Magie angewandt hatte, fand er in der Nacht kaum Schlaf und wurde häufig von Albträumen heimgesucht. Mühselig befreite sich Carsten von seiner Kleidung vom Vortag und hoffte, eine kalte Dusche half ihm beim Aufwachen. Obwohl er vorsichtig war, begannen die Kratzer an seinen Armen und insbesondere der Schnitt in der Handfläche sofort zu brennen, sobald sie mit dem Wasser in Berührungen kamen. Vor einem Jahr noch, war das ein Gefühl gewesen, was ihn nahezu jeden Morgen begleitet hatte… Bilder aus der Zeit vom FESJ zuckten durch seinen Kopf und für einen Moment bekam Carsten keine Luft. Zitternd stützte er sich an der Duschwand ab und kniff die Augen zusammen. Es ist vorbei. Vergiss es einfach. Es ist vorbei!, wies er sich zurecht. In Gedanken wiederholte er den Text auf der ersten Seite von Sisikas Notizbuch, um sich so gut es ging abzulenken. Das half tatsächlich etwas. Beim Verlassen der Dusche zauberte er sich direkt trocken und begann sich anzuziehen. Gerade, als er seine Jeans zuknöpfen wollte, wurde die Tür aufgerissen und Eagle kam herein. Als er sein blasses Gesicht und die Augenringe sah, schluckte Carsten den Kommentar er könne zumindest anklopfen runter. Schweigend wandte er den Blick ab, als Eagle sich über der Toilette übergab. Es war ja auch nicht wenig gewesen, was er da gestern in sich hineingekippt hatte. Nach einer Weile fragte Carsten zögernd: „Brauchst du etwas?“ „Ne Kopfschmerztablette?“, erwiderte Eagle mit schwacher, rauer Stimme. Seufzend ging Carsten zu dem Medizinschrank und öffnete die Tür. Früher war er immer abgeschlossen, erinnerte er sich. Zwar war der Schrank sehr weit oben und ein normales Kind würde niemals darankommen können. Aber bei zwei antik begabten Kindern, von denen das eine dank seiner Dämonenform auch noch Flügel hatte, half das herzlichst wenig. Carsten hatte häufiger mal Tabletten daraus gestohlen, sie zermahlen und mit Hustensaft gemischt, da er Arzt gespielt hatte. Im Nachhinein war das eigentlich ein ziemlich gefährliches Unterfangen gewesen. Aber zum Glück war nie jemand zu Schaden gekommen. Denn ihn als Magier hatte natürlich auch eine verschlossene Tür nicht aufhalten können. Wenn er so darüber nachdachte, hatte er es Saya in seiner frühen Kindheit ziemlich schwer gemacht. An dem Medizinschrank hatte Eagle als Kind nie Interesse gehabt. Dafür war er laut Saya mal zu dem Schnapsregal geflogen und hatte einige Schlucke aus der Wodkaflasche getrunken. Zum Glück kam er damals nur mit einer roten Nase und einem langen Ausnüchterungsschlaf davon. …Im Gegensatz zu heute. Carsten warf seinem großen Bruder einen mitleidigen Blick zu und zauberte aus der Küche ein Glas, um es mit Wasser zu füllen. Das Wasserglas und eine Tablette gab er an Eagle weiter, der sie sofort runterschluckte. Carsten hatte selten jemanden mit Hangover gesehen. Am ehesten Öznur am Tag der Matheprüfung. Aber im Vergleich zu Eagle ging es ihr damals sogar noch halbwegs akzeptabel. „… Sonst noch etwas?“, fragte Carsten schließlich. Eagle schüttelte den Kopf. „Ruhe. Einfach nur Ruhe.“ Er hievte sich auf die Beine und verließ das Bad. An der Tür blieb er kurz stehen. „Zieh dir was an, sonst erkältest du dich noch.“ Erst jetzt bemerkte Carsten, dass er immer noch nur seine Jeans trug. Eine Weile las Carsten in seinem Zimmer Sisikas Notizen über den Amtsantritt durch. Offensichtlich hatten sie nicht mehr allzu viel Zeit. Man gab dem angehenden Häuptling eine Woche um zu trauern und dann musste die Zeremonie stattfinden. Bis dahin galt immer der Ausnahmezustand. Eine Verzögerung kam anscheinend ganz schlecht bei den Stammesoberhäuptern an und Eagle würde es aufgrund seines Alters schon schwer genug haben, von ihnen respektiert zu werden. Also durften sie sich bei der Zeremonie keinen Fehler erlauben. Es hatte immer wieder eine aufheiternde Wirkung, Sisikas Kommentare über diese oder jene Regel zu lesen. Zu der Zeitspanne von einer Woche schrieb sie: ‚Diese Leute haben doch nicht alle Tassen im Schrank. Eine Woche zum Trauern?! Das ich nicht lache! Würde ich nicht die Organisation übernehmen, hätte Chief keine Sekunde zum Trauern! Diese W… Nein, das schreibe ich jetzt besser nicht aus.‘ Im Allgemeinen war der Amtsantritt wohl einer der wichtigsten öffentlichen Auftritte, die ein Häuptling hatte. Was auch nachvollziehbar war, denn es war der erste. Wie hieß es so schön: Der erste Eindruck zählt. Seufzend starrte Carsten auf die Wand hinter seinem Schreibtisch. Dahinter befand sich Eagles Zimmer, wo besagte Person wahrscheinlich noch den Rausch ausschlief. Er erinnerte sich an das Bild, wie sich Eagle über die Toilette gebeugt übergab. Würde er es schaffen, sich bis kommenden Samstag zusammenzureißen? Irgendwann wies Carstens grummelnder Magen ihn an, endlich etwas zu essen. Da Saya auf der Arbeit war und die Bediensteten im Prinzip Urlaub hatten, hatte Carsten die gesamte Küche für sich. Das besserte seine Laune wieder etwas und er schaute, was sie so alles für Zutaten dahatten. Mit dem Hintergedanken, dass Eagle auch irgendwann Hunger bekommen könnte, machte Carsten direkt eine größere Portion. Und tatsächlich, während die Kartoffeln mit dem Fett in der Pfanne brutzelten, kam Eagle hereingeschlurft. „Was wird das?“, fragte er matt und ließ sich auf einen Stuhl sinken. So viel besser schien es ihm nicht zu gehen. „Bratkartoffeln.“, antwortete Carsten und schaltete den Herd aus. „Zum Frühstück?“ Bei einem Blick auf die Uhr stellte Carsten fest, dass es ohnehin schon Mittagszeit war. Er stellte Eagle einen gefüllten Teller auf den Tisch und lud sich selbst auf. Eagle verzog das Gesicht. „Benni oder Laura sind noch nicht mal da, also warum machst du trotzdem was Vegetarisches?“ „Iss einfach.“, forderte Carsten seinen großen Bruder auf und begann selbst zu essen. Wie als könnte es vergiftet sein, schnupperte Eagle daran, um anschließend eine kleine Portion zu probieren. „…Ist sogar essbar.“ Carsten verdrehte die Augen. „Was hast du denn gedacht?“ Aber das war wohl das größte Kompliment, was er für ein fleischloses Gericht von seinem großen Bruder bekommen würde. Nach dem Essen fühlte sich Carsten wieder etwas gestärkter und auch Eagle schien es endlich besser zu gehen. Gemeinsam gingen sie wieder hoch. Als sie an Sakuras Zimmer vorbeikamen, blieb Eagle plötzlich stehen und öffnete die Tür. Zögernd betrat er das Zimmer und setzte sich auf Sakuras Bett. Nach einer Weile des Schweigens fragte er schließlich: „Hast du eine Ahnung, wie es ihr geht?“ Unsicher, ob er wirklich dieses Zimmer betreten durfte, setzte sich Carsten schließlich doch neben seinen Bruder. „…Nein.“ Eagle musterte ihn kritisch. „Hast du nicht mit diesem selbstverstümmelnden Zauber von deiner Prüfung nach ihr geschaut?“ Bedrückt seufzte Carsten. „Ich habe es versucht, aber in dem Moment war Benni gerade am Trainieren…“ „Warum hast du nicht direkt nach ihr geschaut?“ Ein leicht vorwurfsvoller Ton schwang in Eagles Stimme mit. Betrübt schaute Carsten auf seine bandagierte linke Hand. Neben dem tiefen Schnitt von letzter Nacht befanden sich unter dem Verband zwei weitere. „Das… konnte ich nicht.“ Ihm entging nicht, wie sich Eagle verspannte. „Meinst du, sie ist-“ „Nein, nein!“, widersprach Carsten ihm hastig. „Wäre sie verstorben, würde sich das Wasser pechschwarz färben. Aber es ist nichts passiert… Es ist… Ich… kenne sie nicht gut genug…“ „Wie meinst du das?“, fragte Eagle irritiert. Carsten griff nach dem Foto auf Sakuras Nachttisch und betrachtete es. Es schien recht aktuell, wahrscheinlich war es von ihrem Geburtstag im November letzten Jahres, und zeigte Sakura, Eagle, Chief und Saya. Carsten versuchte den Kloß im Hals herunterzuschlucken. Doch das brachte nichts. „Ich hatte doch erwähnt, dass man die Person, die man beobachten möchte, gut genug kennen muss. Ansonsten schlägt der Zauber fehl.“ Nun betrachtete auch Eagle das Foto. „Du meinst…“ Carsten senkte den Blick. „Mag sein, dass sie meine Halbschwester ist. Aber trotzdem weiß ich so gut wie nichts von ihr…“ Eine unangenehme Stille füllte den Raum. Weder Carsten noch Eagle wussten, was sie darauf noch sagen konnten. Schließlich kannten sie beide den Grund, warum Carsten Sakura kaum kannte. Weshalb dieser Zauber nicht hatte gelingen können. „… Und wenn du mein Blut nimmst?“, erkundigte sich Eagle zögernd. Carsten nickte. „Das dürfte funktionieren. So hatte auch Ariane Johanna sehen können.“ „Willst du… sie überhaupt sehen?“ Carsten schaute Eagle an. „Ich hasse sie nicht, falls du das jetzt denkst. Ich hasse keinen von euch.“ Eagle wandte den Blick ab und nickte lediglich. Sonderlich überzeugt schien er trotzdem nicht. Carsten blendete den Gedanken an die Albträume, die ihn wieder erwarten würden, aus und richtete sich auf. „Ich hole mal eine Schüssel. Du kannst dich ja auf die Suche nach ein paar längeren Kerzen machen.“ Kurz darauf hatte Carsten in Sakuras abgedunkeltem Zimmer alles für das Ritual bereitgestellt. Wie bei Ariane vor einer Woche, begann Carsten den Zauber in abgewandelter Form zu rezitieren und dieses Mal gab es zumindest keine Diskussion, als sich Eagle in die Hand schneiden sollte. Während Carsten den Zauber zu Ende sprach beobachtete er, wie sich das Blut mit dem Wasser vermischte und ihnen schließlich ein klares Bild bot. Es war wieder der Zelltrakt, doch dieses Mal standen nicht Johanna und Johannes im Fokus, sondern Carstens und Eagles kleine Halbschwester in der Zelle nebenan. Sie versuchte an den Metallstangen zu reißen und schrie Jack außerhalb der Zelle mit tränenüberströmtem Gesicht an. Als Eagle den Verursacher des ganzen Leids sah, wehte direkt wieder ein eisiger Wind durch den Raum. Carsten legte seine Hand auf Eagles Arm und hoffte, dass er es schaffte sich zusammenzureißen. Ansonsten würde er den Zauber wahrscheinlich nicht lange aufrechterhalten können. „Lass mich endlich hier raus!!! Ich will nach Hause! Ich will zu Mama und meinem Bruder!!!“, kreischte Sakura verzweifelt. „Du weißt, dass das nicht geht.“, erwiderte Jack, erstaunlich ruhig dafür, dass er gerade von einer Dreizehnjährigen angeschrien wurde. „Du verdammter Wichser, hol mich hier raus!!!“ „Hey, du bist noch viel zu jung für solche Beleidigungen.“ „Lass mich raus!!!“ Schluchzend sackte Sakura auf die Knie, immer noch an die Gitterstäbe geklammert. „Ich will nicht hier sein! Nicht bei demjenigen, der meinen Papa getötet hat!“ Schweigend, die Hände in den Hosentaschen, betrachtete Jack sie. „Ich hab Hunger… Ich will was essen.“ Jack verdrehte die Augen. „Ich hab euch vor einer Stunde erst was gebracht und da wolltest du nichts.“ „Mir egal, gib mir was zu Essen! Und gib mir meinen Papa zurück!!!“ „Das kann ich nicht, Sakura. Er ist tot.“ „Weil du ihn getötet hast!!! Du scheiß Mörder hast ihn umgebracht!!!“ Johanna hielt ihr aus der anderen Zelle eine angebrochene Schokoladenpackung durch die Gitterstäbe. „… Möchtest du?“ „Nein!!! Lass mich in Ruhe!“ Sakura schlug ihr die Schokolade aus der Hand. Erschrocken zuckte Johanna zusammen. „Sakura, lass sie in Ruhe. Sie hat nichts damit zu tun und wollte nur freundlich sein.“ „Ach was, die dumme Kuh hat doch keine Ahnung!“, schrie Sakura. Jacks Ton wurde etwas verärgerter. „Ich sagte, lass sie in Ruhe.“ „Es interessiert mich einen Scheiß, was du sagst!!! Ich höre auf keinen Mörder! Ich will zurück nach Hause!!! Ich will wieder in mein Bett!!! Was leckeres essen!!! Und eine warme Dusche!!!“ „Das. Geht. Nicht. Ende der Diskussion.“ „Fick dich!!!“, schrie Sakura. „Hör auf, solche Kraftausdrücke gegenüber anderen Kindern zu verwenden.“ „Ich mache das, was ich will!!! Und ich will endlich heim!!!“ Geräuschvoll atmete Jack aus. Seine Geduld schien stark auf die Probe gestellt zu werden. „Jetzt hör mal zu, du kannst von Glück reden, dass du überhaupt noch am Leben bist. Statt dich hier wie eine kleine Diva aufzuführen solltest du lieber dafür dankbar sein, dass Benni für dich den Kopf hinhält, damit du überhaupt noch atmen darfst.“ Für einen Moment lang hatte Carsten dein Eindruck, sein Herz höre auf zu schlagen. Wie hatte Jack das gemeint? Inwiefern ‚hielt Benni seinen Kopf hin‘? „Was ist mit Onkel?“, fragte Johannes, den die Aussage genauso schaudern ließ. Jack erwiderte seinen Blick und kniete sich vor seine Zelle, um ihm durch das strohblonde Haar zu wuscheln. „Nichts, keine Sorge. Er passt einfach auf, dass euch nichts passiert.“ Sein warnender Blick fiel auf Sakura. „Und das betrifft zu meinem Bedauern auch gewisse Prinzesschen.“ „A-aber…“ Schluchzend wischte sie sich einige Tränen aus dem Gesicht. Ihre Aggression schien wie weggeflogen. „Aber Papa…“ Schweren Herzens beobachteten Eagle und Carsten ihre weinende Schwester und auch in Jacks Blick schien etwas Mitgefühl zu liegen. Carsten fielen mehrere Blutergüsse in Jacks Gesicht auf, die noch nicht ganz verheilt waren. Und über dem rechten Auge hatte er sogar eine genähte Platzwunde. Eagle schien ihm tatsächlich übel zugesetzt zu haben. „Möchtest du immer noch was essen?“, fragte Jack nach einer Weile. Sakura schüttelte den Kopf, woraufhin Jack die Augen verdrehte. „A-aber ich… Ich muss… aufs Klo.“ Jack seufzte. „Toilettenpause hattet ihr doch auch erst vor kurzem. Halte deine Blase mal etwas mehr im Zaum.“ „Warum muss uns überhaupt jemand von euch ständig zu den Toiletten begleiten?! Das ist total pervers!“, rief Sakura aufgebracht. „Warum können wir nicht einfach gehen, wenn wir müssen?!“ „Nichts ist daran pervers. Wir passen nur auf, dass ihr auf dem Hin- und Rückweg nicht von irgendwelchen Vampiren ausgesaugt werdet. Kinderblut schmeckt angeblich besonders gut. Oder willst du lieber von einem Werwolf aufgefressen werden? Oder einem Zombie? Also ich hätte keinen Bock darauf, dass jemand plötzlich Appetit auf meine Organe bekommt.“ „Würden die das wirklich machen?“, fragte Johannes ungläubig. Jack zuckte mit den Schultern. „Wir haben keine Garantie, dass sie es nicht machen würden. Hier drinnen seid ihr sicher. Aber ansonsten solltet ihr nicht alleine irgendwo in der Unterwelt herumwandern.“ Schaudernd verschränkte Johanna die Arme vor der Brust. „Ich will nicht aufgefressen werden.“ „Das will keiner. Und deswegen solltet ihr auch schön brav hierbleiben, wenn Benni und ich nicht da sind.“ „Trotzdem… Ich muss aufs Klo…“, murmelte Sakura und wurde langsam unruhig. Jack verdrehte die Augen. „Wie im Kindergarten.“ „Verdammt, du unsensibles Arschloch! Wie kann man so wenig Verständnis für die Bedürfnisse einer Frau haben?!?“ Carsten war etwas verwirrt von dieser Aussage und auch Jack runzelte irritiert die Stirn. Schließlich schien er verstanden zu haben, worauf sie hinauswollte. Er stöhnte auf. „Nicht dein Ernst. Wie alt bist du nochmal?“ Beschämt wich sie seinem Blick aus. „… Dreizehn…“ Seufzend schüttelte Jack den Kopf. „Hätte nie gedacht, dass ich mal so froh darüber bin ein Mann zu sein.“, murmelte er eher zu sich selbst. „…Ist es sehr dringend?“ „…Geht…“ „Dann warte nochmal kurz…“ Jack richtete seine Aufmerksamkeit auf den Eingang zu dem Zelltrakt. Eine Minute später öffnete sich die Tür. „Gutes Timing.“, meinte Jack an Benni gewandt. Betroffen stellte Carsten fest, dass auch Benni mehrere Verletzungen im Gesicht und an den Armen hatte, was ihn an Jacks Kommentar vor kurzem erinnerte. Inwiefern hält Benni den Kopf für sie hin?!, fragte er sich zitternd. Derweil fuhr Jack fort: „Du bist doch hier derjenige mit einer Freundin. Also müsstest du dich doch so halbwegs mit gewissen monatlich wiederkehrenden Frauenproblemen auskennen und was die so dafür brauchen, oder?“ Für einen kurzen Moment fiel Bennis Blick auf Sakura, die ihm mit geröteten Wangen auswich. Diese Situation musste unsagbar unangenehm für sie sein. Schließlich seufzte Benni. „Ich gehe schon. Brauchst du auch Schmerztabletten oder ähnliches?“ Sakura schüttelte mit immer noch geröteten Wangen den Kopf. „Aber vielleicht… Eis?“ Benni nickte nur und wollte gehen, als Jack ihm hinterher rief: „Bringst du mir Kekse mit?“ „Du hast doch den ganzen Rest aufgegessen.“, erwiderte Benni. „Die waren lecker.“ „Das waren meine.“ Carsten unterdrückte ein Kichern, als ihm auf einmal etwas schwummrig wurde. Er versuchte, sich zusammenzureißen und beobachtete, wie Sakura die Schokolade aufhob, die sie vorhin noch Johanna aus der Hand geschlagen hatte. Sie schien sich wieder etwas beruhigt zu haben und begann ein Gespräch mit den beiden. Doch Carsten hörte es nur noch gedämpft. „Alles okay?“, erkundigte sich Eagle. Carsten löste den Zauber auf und fuhr sich über die schweißnasse Stirn. „Ja, ich bin nur etwas erschöpft. Entschuldige…“ „Schon gut…“ Seufzend lehnte sich Eagle zurück und starrte in die Ferne. Nach einer Weile meinte er: „…Zumindest kümmern sie sich so halbwegs um sie.“ Auch Carsten lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Erschöpfung des Zaubers, um Eagle zu beruhigen, nagte immer noch an ihm. Und die gefühlt schlaflose Nacht zehrte ebenso an seinen Kräften. „Trotzdem…“ Ein Hauch von Zorn lag in Eagles Stimme. „Zu sehen, dass dieser Arsch sich überhaupt in ihrer Nähe aufhält…“ Carsten seufzte. Er hatte schon befürchtet, dass es Eagle nicht ganz so beruhigen würde wie Ariane, wenn er sah, dass sich Benni und insbesondere Jack um ihre Geschwister kümmerten. Während Eagle sich wahrscheinlich vorstellte, wie er Jack in kleine Stücke zerteilte, schweifte Carsten mit seinen Gedanken zu Benni ab. Jacks Aussage ließ nur eine Interpretation zu, wenn man an die Verletzungen dachte, die Benni hatte. Besonders, wenn er an Jacks Kommentar von damals dachte, als er ihnen in Lumiére mitgeteilt hatte, dass sich Johanna nun bei Mars befand. Jack hatte ihm nicht versprechen können, dass Benni gut behandelt wurde… Benni hielt für die Kinder den Kopf hin… Diese Verletzungen… Zitternd atmete er aus und dachte an den unfertigen Zauber. Er musste sich beeilen. Unbedingt! Er konnte doch nicht zulassen, dass Benni noch mehr verletzt wurde! Carsten warf einen Blick auf Eagle. Und jetzt kam auch noch dieser Amtsantritt dazu… Kapitel 65: Minuten der Tränen ------------------------------ Minuten der Tränen Seufzend starrte Carsten auf Sisikas Notizen, deren Lesbarkeit sich mit steigender Seitenzahl eher verschlechterte als verbesserte. Es war gut, dass er sich so früh wie möglich darum gekümmert hatte. Neben Programmpunkten während der eigentlichen Zeremonie musste auch noch ein festliches Abendessen organisiert werden. Und ‚je mehr hohe Tiere eingeladen sind und kommen, desto besser‘, schrieb seine Mutter. Um die Einladungskarten hatte sich Carsten sehr bald nach dem Observationszauber gekümmert. Und er konnte von Glück reden, dass er Magier war und sich dadurch die Arbeit immens erleichtern konnte. Denn alle Karten sollten Handgeschrieben sein. Von wem, war allem Anschein nach egal. Aber wichtig war, dass der angehende Häuptling seine Unterschrift darunter setzte. Carsten fragte sich, ob das eigentlich Urkundenfälschung war, die er da betrieben hatte. Denn er hatte Eagle eigentlich nur um eine Unterschrift auf einem leeren Blatt gebeten und anschließend einen Stift so verzaubert, dass er diese auf alle Karten schrieb. Natürlich hatte Eagle sofort gespottet, Carsten wolle wohl ein Autogramm von ihm haben. Aber gefragt, wofür er diese Unterschrift eigentlich bräuchte, hatte er trotzdem nicht. Carsten fragte sich, ob sein Bruder wohl schon eine Ahnung hatte, was da auf ihn zu kam. Er wusste, dass er Eagle irgendwie in die Planung einweihen musste. Direkt nach dem Observationszauber hatte er auch trotz seiner Erschöpfung einen Versuch gestartet. Doch wie erwartet reagierte Eagle sofort mit Verärgerung und hatte alsbald auf Durchzug geschaltet. Carsten seufzte. Er machte die Sache damit nicht gerade einfacher… Aber dafür waren Sisikas Notizen eine große Hilfe. Anscheinend hatte seine leibliche Mutter an einigen Stellen auch mit Magie getrickst, um sich die Arbeit zu erleichtern. Denn ‚als würde ich jede dieser verdammten Dinger selbst schreiben. Pah, nicht mal im Traum käme mir das in den Sinn.‘ Schmunzelnd las Carsten diesen Satz ein zweites Mal durch und musterte anschließend den Einladungskarten-Berg, der sich vor ihm auftürmte. Ja, nicht mal im Traum würde er das ganze selbst schreiben. Öznur war sofort nach der Schule wieder nach Indigo gekommen und hatte Carsten direkt darum beneidet, dass er die Biologieklausur hatte ausfallen lassen können. Beim Abendessen hatten Carsten und Eagle Öznur und Saya von dem Observationszauber erzählt. Gerade seiner Stiefmutter schien das Wissen, dass es Sakura den Umständen entsprechend gut ging, immens zu helfen. Öznur wiederum war schwer beeindruckt, wie tolerant Jack und Benni gegenüber den ‚monatlich wiederkehrenden Frauenproblemen‘ waren. Auch, wenn es immer noch keine gute Idee war Jacks Namen in Eagles Gegenwart zu erwähnen. Nach dem Abendessen hatte sich Carsten wieder an seinen Schreibtisch gesetzt, während Eagle und Öznur in Eagles Zimmer verschwunden waren. Seufzend blickte er auf Sisikas Programmliste und verglich sie mit der auf seinem Zettel. Auf dem bisher nur ‚Programm‘ stand. Noch eine Weile starrte er die Blätter an und hoffte insgeheim, dass sich die Tabelle auf magische Weise von selbst schreiben würde. Aber natürlich geschah nichts. Plötzlich nahm er Geräusche wahr, die aus dem Nebenzimmer zu kommen schienen. Schlagartig schoss ihm das Blut in den Kopf, als er ein Stöhnen hörte und erkannte, was oder eher wer die Ursache dieser Geräusche war. Hastig kramte er nach seinem Mp3-Player und den Kopfhörern und erhöhte die Lautstärke sofort auf das Maximum. Verbissen funkelte er den Mp3-Player an, als ausgerechnet Chopins Trauermarsch startete. Carsten versuchte sich weiter auf die Planung zu konzentrieren. Doch natürlich war das unmöglich. Alleine bei dem Wissen, was sie da im Nebenzimmer gerade machten, breitete sich vor Scham ein flaues Gefühl in seinem Magen aus. Mit schweißnassen Händen schloss er das Notizbuch, verließ mit schnellen Schritten sein Zimmer und eilte die Treppe hinunter. Noch bevor er die Haustür öffnen konnte, hörte er Saya seinen Namen rufen. Seufzend ging er ins Wohnzimmer, wo er seine Stiefmutter lesend auf der Couch fand. Halbwegs erleichtert stellte Carsten fest, dass man zumindest hier nichts aus dem oberen Stockwerk hören konnte. Alleine bei dem Gedanken daran fühlte er sich sofort wieder unwohl und beschämt. „Entschuldige, ich hoffe, ich störe nicht.“, meinte Saya. „N-nein, ganz und gar nicht…“, stotterte Carsten und dachte bei ‚stören‘ direkt wieder an Eagle und Öznur. Saya wies auf einen Sessel. „Falls du Zeit hast… Ich würde gerne mal mit dir reden.“ Carsten schluckte. ‚Ich will mit dir reden‘ war nie die Einleitung für ein angenehmes Gespräch. Er wusste zwar nicht, was er falsch gemacht haben könnte, aber trotzdem fühlte er sich wie ein kleines Kind, das gleich von seiner Mutter zurechtgewiesen wurde. Zögernd setzte er sich auf den Sessel und zwirbelte das Kabel der Kopfhörer um seinen Finger. Der Blick, den Saya ihm zuwarf, war allerdings alles andere als vorwurfsvoll. Er war eher besorgt. „Wie geht es dir?“ „W-wie meinst du das? Mir… mir geht es gut.“, stammelte Carsten und ignorierte das unwohle Gefühl in seinem Bauch. Traurig musterte Saya ihn. Und seufzte schließlich. „Carsten, du weißt, dass ich dir sehr dankbar bin, dass du so viel machst, in dieser… schweren Zeit.“ Langsam nickte Carsten. Worauf wollte sie hinaus? „Und ich hoffe du weißt auch, dass du das nicht alleine machen musst.“, fügte sie hinzu. „Falls du Hilfe brauchst, egal was… Du kannst jeder Zeit kommen und darum bitten.“ „Es geht schon, wirklich. Ich habe ja gerade erst mit der Planung für… halt dafür angefangen. Und Koja hat auch schon versprochen, ihre Kontakte spielen zu lassen.“ Saya seufzte. „Ich meinte nicht nur die Planung für die Zeremonie.“ Sie warf Carsten einen mitfühlenden Blick zu. „Du kannst darüber reden, wenn du magst.“ Die Bauchschmerzen wurden stärker als Carsten verstand, worauf Saya hinauswollte. Er senkte den Blick. „Ich komme schon zurecht.“ „Wirklich?“, hakte seine Stiefmutter vorsichtig nach. „Ja, wirklich…“ Seine Hände begannen zu schwitzen und er fühlte sich unter ihrem Blick immer unwohler. Saya legte das Buch zur Seite und kam zu Carsten rüber. Sanft legte sie ihre Hand auf seine zitternde. „Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich dir das wirklich erzählen soll…“, setzte sie an, „Ich weiß nicht, ob es dir hilft. Aber ich möchte, dass du weißt… Chief hat dich immer geliebt.“ Überrascht schaute Carsten auf. Die Bauchschmerzen waren so stark, dass ihm inzwischen etwas übel wurde. Sanft strich Saya ihm über die Wange. „Ich weiß nicht, ob du ihn nach allem noch lieben kannst, oder ob du ihn inzwischen hasst. Aber-“ Ruckartig stand Carsten auf. „Ich komme zurecht …wirklich.“ Sayas trauriger Blick machte die Sache nur noch schlimmer. „Lass sie raus, Carsten. Lass deine Gefühle endlich raus. Egal welche, friss sie nicht in dich hinein.“ Sie wollte seinen Arm nehmen, doch Carsten wich von ihr weg. Die Übelkeit wurde immer stärker. Er hatte den Eindruck, sein Magen drehe sich um. Ihn überkam sogar ein leichter Schwindel. „Ich sagte doch schon ich komme klar!“ Sein Tonfall war schroffer als beabsichtigt. Saya wollte ja eigentlich nur helfen. Aber dieses stechende Gefühl im Herzen, diese Übelkeit… Und dann auch noch Sayas trauriger Blick… „Ich… Ich geh mal ein bisschen frische Luft schnappen.“ Schnell wandte sich Carsten ab und stolperte zur Haustür. Er wusste nicht, ob Saya noch einmal nach ihm rief. Er wusste auch nicht, wie er ohne hinzufallen die Treppen vor der Tür herunterrennen konnte. Schwer atmend erreichte er den naheliegenden Waldrand, als ihm durch die Übelkeit das Abendessen wieder hochkam. Keuchend stützte er sich an einem Baumstamm ab. Hoffte, dass der Schwindel bald nachließ. Irgendwann schaffte er es, sich hustend und taumelnd aufzurichten. Mit schleppenden Schritten spazierte er am Waldrand entlang und schaute in den leicht bewölkten Himmel. Der kalte Abendwind ließ ihn schaudern. Irgendwann lehnte er sich gegen einen Baumstamm und sank auf den Boden. So ganz war die Übelkeit noch nicht verschwunden. Und nun kam auch die Erschöpfung durch. Carsten spürte, wie der Schlafmangel der letzten Tage an ihm zu nagen begann. Und trotz der wirren Gedanken die in seinem Kopf kreisten, trotz der Kälte die ihn zittern ließ, wurden seine Augen immer schwerer. Eagle legte sich neben Öznur ins Bett und schloss die Augen, sog den Duft ihres Parfüms ein, während sich Öznur mit ihrem warmen Körper gegen ihn kuschelte und ihren Kopf auf seine Brust legte. Er hätte nicht gedacht, wie beruhigend alleine die Anwesenheit einer Person sein könnte. Wie nur kleine Gesten wie eine Umarmung bereits so viel bewirken konnten. Öznur spielte mit einer Strähne seines schwarzen Haares, während Eagle allmählich begann, wegzudösen. Die letzte Nacht hatte ihn wohl doch mehr erschöpft als gedacht. Und dieses beruhigende Gefühl, wie Öznur in seinen Armen lag, nahm ihm auch die restliche Anspannung. Eine Anspannung, die er schon gar nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte. Er war wohl tatsächlich ein bisschen eingenickt. Zumindest kam das Klopfen gegen die Zimmertür so unerwartet, dass er sich sogar etwas erschrak. „Eagle, hast du einen Moment?“, kam Sayas Stimme aus dem Flur und wirkte ziemlich aufgebracht. Ein Hauch Sorge überkam ihn. Was war denn los? „Warte kurz.“, rief er zur Tür und richtete sich auf, um seine Boxershorts anzuziehen. Öznur gab sich anscheinend damit zufrieden, den Großteil ihres verführerischen Körpers mit der Bettdecke zu verbergen. Eagle ging zur Tür rüber und drehte den Schlüssel um. Seit Sakura mal zu einem ungünstigen Zeitpunkt hineingeplatzt war, hatte er es sich zur Gewohnheit werden lassen das Zimmer sicherheitshalber abzuschließen. Er war zwar alles andere als verklemmt, aber irgendwo lag auch bei ihm eine Schmerzensgrenze. Als er die Tür öffnete sah er, dass Saya genauso aufgelöst war wie sie klang. Sie schien sogar etwas geweint zu haben… Automatisch wurde Eagle unwohl zumute. „Was ist denn los?“, fragte er vorsichtig und ließ seine Stiefmutter ins Zimmer. „Ich… Es ist… Carsten…“, druckste sie. Eagle spürte, wie eine leichte Panik in ihm aufstieg. Was war mit Carsten, dass Saya sogar gegen Tränen ankämpfen musste? Selbst bei seinen schlimmen Verletzungen damals hatte sie sich mehr zusammenreißen können! Direkt schossen Eagle Erinnerungen an seinen Vater in den Kopf. Wie er da auf dem Boden lag. Dieser leere Blick. Das ganze Blut. Öznurs Stimme riss ihn aus diesen Erinnerungen heraus. „Setz dich doch erstmal…“, riet sie Saya vorsichtig. Immer noch aufgewühlt setzte sich Saya auf Eagles Schreibtischstuhl. „Ich… ich hätte nicht mit ihm reden dürfen. Dass… Er…“ Als sie nicht weitersprach, fragte er: „Worüber hast du mit ihm geredet?“ Saya senkte den Blick. „Über… euren Vater…“ Sofort verspannte sich Eagle wieder. „Ich…“ Sie seufzte. „Ich hatte Sorge, dass er versucht das alles zu verdrängen und alle Gefühle in sich hineinzufressen. Ich wollte ihm irgendwie helfen, sich mit… mit Chiefs Tod… auseinanderzusetzen. Aber…“ „Aber das ist doch gut.“, widersprach Öznur ihr. „Ich hab heute erst mit den anderen Mädels darüber geredet und auch sie hatten gemeint, dass es ganz gut wäre, wenn Carsten mal jemanden zum Reden hat. Da Benni ja… nicht da sein kann.“ Betrübt schüttelte Saya den Kopf. „Ich glaube nicht, dass das geholfen hat… Ich weiß nicht… Vielleicht habe ich die falschen Worte verwendet. Bin es falsch angegangen. Ich weiß es einfach nicht!“ Eagle runzelte die Stirn. „Aber was ist denn jetzt passiert?“ „Carsten meinte die ganze Zeit nur stur er käme zurecht, obwohl es ihm deutlich anzusehen war, dass er nicht damit zurechtkommt. Irgendwann ist er aus dem Haus gestürmt und seitdem… auch nicht mehr wieder gekommen…“ Tatsächlich wischte sich Saya eine Träne aus den Augen. „Wann war das?“, hakte Öznur nach. „Vor bald einer Stunde. Ich weiß, ich sollte mir keine Sorgen machen. Wahrscheinlich braucht er jetzt einfach etwas Zeit für sich. Besonders nach… sowas. Aber… aber seit Chief…“ Saya schluchzte. Vorsichtig ging Eagle vor ihr in die Hocke und legte ihr eine Hand auf den Arm. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus und ohne es zu wollen, ging etwas von Sayas Angst auch auf ihn über. Auch ihm gefiel es gar nicht, dass Carsten so lange alleine irgendwo draußen verschwunden war. Verdammt, eigentlich sollte er sich keine Sorgen machen! Carsten war scheiß stark! Das hatte er erst letzte Nacht unter Beweis gestellt. Und trotzdem… Eagle biss die Zähne zusammen. Er hatte gesehen, wie fertig Carsten die letzten Tage wirkte. Gerade heute… Die Verletzungen von Eagles Wutausbruch… Die tiefen Augenringe, die Bände über eine schlaflose Nacht schrieben… Wie platt er nach dem Observationszauber war… Eagle hatte all das gesehen, und doch nicht wirklich wahrgenommen. War all die Zeit nur mit sich selbst beschäftigt. Obwohl er genau wusste, was Carsten alles momentan für ihn tat! Und Eagle wollte sein Bruder sein?! Öznur richtete sich etwas im Bett auf. „Keine Angst, es wird schon nichts passiert sein.“ „Wir suchen gleich nach ihm.“, ergänzte er, doch so beruhigend er wirken wollte, so unruhig fühlte er sich. Auch ihm ging die Sache mit Chief und Sakura nicht aus dem Kopf. Selbst, wenn Eagle nirgends den Einsatz von Energie spürte, befürchtete er automatisch, dass Carsten in einen Kampf verwickelt war. Und dass Eagle auch dieses Mal zu spät kommen würde. Dass er ihn nicht würde retten können… Ruckartig stand Eagle auf und schlüpfte in seine Jeans. Saya nickte, immer noch ganz durcheinander. „Danke. Ich weiß nicht, ob ich… die richtige wäre momentan.“ Öznur schüttelte den Kopf. „Du solltest keine Schuldgefühle haben. Klar ist das gerade schrecklich, aber… aber ich glaube, dass du ihm damit geholfen hast. Auch, wenn es vielleicht nicht so wirkt… Schon alleine an Carstens Reaktion hat man doch gemerkt, dass er seine Gefühle wirklich in sich hineingefressen hat! Jetzt wurde er zumindest dazu gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen!“ Bedrückt atmete Saya aus. „Ich hoffe, du hast Recht…“ Sie verließ das Zimmer, damit sich Öznur und Eagle in Ruhe anziehen konnten. Eagle selbst wurde immer ungeduldiger. Er versuchte sich die ganze Zeit einzureden, dass es unnötig war sich Sorgen zu machen. Aber es half nichts. Kurz darauf standen sie vor der Haustür und schauten in die Nacht. Inzwischen war die Sonne untergegangen, was die Suche nicht gerade erleichterte. Das dachte sich auch Öznur. „Toll, und wo fangen wir an?“, fragte sie seufzend. „Kannst du mir etwas Licht machen?“, erkundigte sich Eagle. Öznur ließ eine kleine Flamme über ihrer Hand tanzen, die ihnen auch direkt etwas Wärme spendete. So langsam schien sich der Sommer zu verabschieden. Eagle untersuchte die Wiese vor dem Haus und entdeckte an einer Stelle abgebrochene Grashalme. „Da lang.“, meinte er und folgte den Fußspuren Richtung Wald. „Krass, wie machst du das?!“, fragte Öznur beeindruckt, als er sie über ein Feld lotste. „Fährtenlesen? Sowas lernt man schon im Kindergarten.“ Eagle suchte den Waldrand ab und war froh, dass der Mond trotz der Wolken noch für etwas Licht sorgen konnte. So tat die gute Sehfähigkeit, die er dank seiner Dämonenform hatte, ihr übriges. Tatsächlich erkannte er aus der Ferne, wie Carsten gegen einen Baumstamm lehnte. Zwar war er unverletzt und schien zu schlafen, aber trotzdem überkam Eagle direkt wieder etwas Panik. Sofort beschleunigte er seine Schritte und Öznur musste schon rennen, um mithalten zu können. „H-hast du ihn gefunden?“, fragte sie keuchend. Schließlich hatten sie den Waldrand erreicht. Carsten schien wirklich nur zu schlafen, was Eagle wieder etwas aufatmen ließ. Aber so wie sein kleiner Bruder das Gesicht verzog, war es kein schöner Traum. Er murmelte irgendwas im Schlaf, doch Eagle verstand kein Wort. Das war weder Indigonisch noch Damisch. „Was sagt er?“, fragte er Öznur irritiert. Diese zuckte mit den Schultern, wirkte aber auch besorgt. „Keine Ahnung… Es könnte Deutsch sein.“ Eagle hob eine Augenbraue. „Deutsch? Das ist doch-“ … Terras Regionssprache. Auch Öznur schien das zu denken. Das nächste, was Carsten sagte wirkte panischer, verzweifelter. Und Eagle war sich sicher, dass es keine Einbildung war. Es liefen tatsächlich ein paar Tränen über Carstens Wangen. Wie gelähmt konnte Eagle nichts anderes machen als zuschauen. Er wollte ihm irgendwie helfen, schaffte es aber nicht einmal ein Wort über die Lippen zu bekommen. Wenn sein kleiner Bruder schon im Schlaf was auf Deutsch von sich gab, war es eigentlich eindeutig, wovon er träumte. Was ihn da unterbewusst immer noch belastete. Und es war auch eindeutig, wer die Schuld daran trug… Öznur nahm Eagles Hand und riss ihn damit aus den verzweifelten Gedanken. „Du solltest ihn wecken…“ „…Ich?“ Öznur nickte. „Ich mach mich zurück zur Academy. Carsten braucht dich gerade, Eagle. Er braucht seinen großen Bruder. Ich würde da nur im Weg sein.“ „Aber-“ Sie nahm sein Gesicht zwischen die Hände und lächelte ihm mutmachend zu. „Du kriegst das hin.“ Eagle wich ihrem Blick aus. Kämpfte weiterhin gegen das schlechte Gewissen an, im Prinzip für diesen Albtraum verantwortlich zu sein. „Ich bin der falsche dafür…“ „Nein, gerade du bist der richtige.“, widersprach Öznur ihm bestimmt. „Und jetzt hör auf, deinen kleinen Bruder noch länger warten und leiden zu lassen. Das ist ja kaum auszuhalten, wie du dich gerade anstellst! Jetzt hab gefälligst Eier in der Hose und sprich mit ihm! Du suchst doch schon die ganze Zeit nach einem Weg, deine damaligen Aktionen wieder gut zu machen. Was wäre da besser, als wenn du ihm hilfst das endlich zu verarbeiten?!“ Am Ende wurde ihr Ton wirklich extrem schroff und auch ein bisschen vorwurfsvoll. Aber das und ihr stoischer Blick half tatsächlich, wieder rationaler denken zu können. Eagle gab sich geschlagen und nickte schwach. Trotzdem fühlte er sich nicht sonderlich besser. Öznur warf ihm ein aufheiterndes Lächeln zu und küsste ihn. „Ich komm morgen wieder nach der Schule vorbei. Und dann bringe ich auch mal Laura mit. Sie hat mir schon vorhin eine wütende Nachricht geschickt, wie ich es wagen konnte sie nicht mitzunehmen.“ Sie küsste ihn erneut und kramte anschließend den Zettel mit dem Teleport-Zauber aus ihrer Hosentasche. „Und mach jetzt ja keinen Rückzieher.“, wies sie Eagle an, bevor sie den Zauber sprach und in einer roten Flamme verschwand. Geräuschvoll atmete Eagle aus. Er fühlte sich kein Stück wohl dabei. Er war nie gut in irgendwelchen Gesprächen dieser Art gewesen. Und dem zufolge, was Saya erzählt hatte, wusste er auch gar nicht, ob Carsten überhaupt reden wollte… Als Carsten leise wimmerte beschloss Eagle, ihn zumindest von diesem Albtraum zu erlösen. Vorsichtig kniete er sich vor seinen kleinen Bruder und rüttelte ihn an der Schulter. „Carsten, wach auf.“ Carsten kniff die Augen zusammen, warf den Kopf zur Seite und schrie etwas. Das unwohle Gefühl wurde stärker. Das schlechte Gewissen wuchs. Eagle packte ihn an beiden Schultern. „Wach auf!“ Mit einem Keuchen schreckte Carsten hoch. Eagle spürte ihn unter seinem Griff zittern, während er sich schwer atmend umschaute, als müsste er erst realisieren wo er war. Immer noch durcheinander wischte sich Carsten mit der Hand über die Augen. „Eagle?“, fragte er mit schwacher Stimme, die wie der Rest seines Körpers zu zittern schien, „Was…“ „Saya hat total den Aufriss gemacht, dass du verschwunden bist.“, erklärte Eagle. Carsten senkte den Blick, erwiderte aber nichts. Schweigend setzte sich Eagle neben ihn und wartete, bis Carsten von alleine beginnen würde zu reden. Doch er schwieg und Eagle wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger, ungeduldiger. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und begann selbst ein Gespräch. „Es sah so aus, als hattest du einen Albtraum.“ „Kann sein…“, meinte Carsten nur. Eagle seufzte. Er wollte also nicht darüber reden. Eigentlich war das auch klar gewesen. Erneut breitete sich Schweigen aus. Eagle hasste diese Ruhe. Er war sowieso nicht der geduldige Typ. Aber jetzt, wo das schlechte Gewissen an ihm nagte, war es noch unerträglicher. Und die richtigen Worte zu finden, um dieses grauenhafte Schweigen endlich zu brechen, schien unmöglich. Eagle gab es auf. Er würde es nie schaffen das FESJ anzusprechen. Jetzt noch weniger, seit er wusste wie sehr Carsten immer noch darunter litt. Er senkte den Blick. „Wie kann es eigentlich sein, dass du mich nach all dem immer noch nicht hasst?“ „Keine Ahnung…“ Fröstelnd verschränkte Carsten die Arme vor der Brust. „Du bist mein Bruder, ich kann dich einfach nicht hassen…“ Das half in keiner Weise, das schlechte Gewissen zu lindern. „… Und… unseren Vater?“ Keine Antwort. Mal wieder. Carsten war ja schon fast so wortkarg wie Benni damals. Eagle lehnte sich gegen den Baumstamm und betrachtete den Mond. Das Licht wirkte irgendwie kalt. Verspannt atmete er durch und versuchte, über einen anderen Weg Carsten zum Reden zu bringen. Mit einem Thema, was er selbst lieber verdrängen würde. „Du hattest vorhin irgendwas über Einladungskarten gesagt…“ „Sie sind schon fertig. Du musst dir keine Gedanken darüber machen, wenn du nicht magst.“, erwiderte Carsten. Die Anspannung wuchs. „…Wann…“ „… Kommenden Samstag.“ Eagle wusste nicht, ob es die Kälte dieser Septembernacht war, die ihn schaudern ließ. Irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu. „Schon?“, fragte er schwach. „Tut mir leid… Das ist der späteste mögliche Termin…“ Eagle ballte die zitternden Hände zu Fäusten. Diese Nachricht traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. „Vater hatte mir mal erzählt, dass man nicht viel Zeit hat… Aber ich dachte…“ „Entschuldige… Ich… ich wollte dir früher Bescheid sagen, aber…“ Eagle rückte etwas vom Baumstamm weg, um sich auf den Boden zu legen. Sein Herz raste und ihm war scheiß schwindelig. „Schon gut, ich wollte es ja gar nicht wissen.“ Geräuschvoll atmete er aus. „Ich hatte schon immer Angst davor gehabt, dass dieser Tag kommen würde. Ich hab den Extraunterricht früher immer gehasst deshalb. Ständig trug ich diesen Gedanken mit mir rum, dass ich den Scheiß deshalb lerne, weil Vater eines Tages sterben wird.“ Er lächelte bedrückt. „In meiner rebellischsten Phase hab ich mich dem Unterricht ganz verweigert. Keine Etikette, keine Politik, nichts. Das gab ziemlichen Stress daheim, bis sie endlich gecheckt hatten, warum ich das Ganze nicht lernen wollte. Und weißt du, was Vater daraufhin gesagt hat?“ Eagle bekam Carstens Kopfschütteln gar nicht mit. Stattdessen lachte er verbittert. „Er meinte, er hätte nie geplant, dass ich erst nach seinem Tod Häuptling werden sollte. Er wollte nicht, dass ich dasselbe erleben muss wie er damals mit seinem Vater. Er hatte vor, mich nach meinem Schulabschluss nach und nach einzuarbeiten und dann, wenn er den Eindruck hat, dass ich es auch alleine hinbekomme, zurückzutreten und mir die Krone zu überlassen. Das Arschloch meinte, er wolle der erste Häuptling sein, der vor seinem Tod das Amt niederlegt! Und was macht er?! Genau das Gegenteil! Lässt sich einfach so von jemandem umbringen!!!“, schrie Eagle. Er biss die Zähne zusammen, um nicht zu schluchzen. Kniff die Augen zu, um die Tränen zurückzuhalten. Er spürte, wie Carsten eine Hand auf seine Schulter legte. Doch es half nicht, um sich zusammenzureißen. Erleichterte nicht den Kampf gegen die Tränen. Im Gegenteil. „Reicht es nicht schon, dass die Stammesoberhäupter ständig spotten, ich schaffe es nicht mal den Titel des stärksten Kämpfers zu bekommen?! Dass sie sich andauernd darüber lustig machen, wie impulsiv und unkontrollierbar ich sei?! Schwärmen stattdessen, dass es noch nie einen besseren Häuptling als Chief gab?!“ Der ganze Kampf um Selbstbeherrschung brachte nichts. Eagle spürte, wie sich trotzdem Tränen aus den Augen stahlen. Frustriert schlug er auf den Boden. „Und statt irgendwie zu helfen, macht er es noch schlimmer! Dieser verdammte-“ Sein eigenes Schluchzen unterbrach ihn. Eagle hatte keine Ahnung, wann er das letzte Mal so seinen Gefühlen unterlegen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, seit dem Tod seiner Mutter je geweint zu haben. Wann er das letzte Mal so wütend, traurig und verzweifelt gleichzeitig war. Carsten schwieg weiterhin. Er hatte immer noch einfach nur die Hand auf Eagles Schulter gelegt. Wartete, bis sich Eagle wieder beruhigte. Was gar nicht so einfach war, wie gehofft. Jetzt, da er wusste, dass in nicht mal mehr einer Woche sein Amtsantritt war, wurde Eagle erst so richtig bewusst, dass sein Vater nicht mehr da war. Dass er nie mehr wiederkommen würde. Dass er ihn alleine gelassen hatte. Genauso wie seine Mutter… Wie als habe er seine Gedanken gelesen, meinte Carsten plötzlich: „Du bist nicht alleine.“ Eagle wandte den Kopf und sah, dass Carsten ihn mit einem traurigen Lächeln anschaute. Es war dasselbe Lächeln wie das von seiner Mutter, deren Fotos er sich innerhalb des letzten Tages so häufig angeschaut hatte. Eagle wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und schaute hinauf in den bewölkten Nachthimmel. Nach einer Weile beruhigte er sich tatsächlich wieder etwas. Auch, wenn dieses beklemmende Gefühl in seinem Herzen nicht verschwinden wollte. Schließlich schaffte er es, sich Carsten zuzuwenden. „Und du auch nicht … Also rede doch endlich mal mit jemandem über das, was dir zu schaffen macht.“ Carsten wich seinem Blick aus. Er schien immer noch nicht reden zu wollen. Eagle richtete sich wieder auf. „Jetzt hör mal, ich hab dir hier gerade mein Herz ausgeschüttet. Jetzt erwarte ich, dass du zumindest auch mal in Tränen ausbrichst, damit ich mich wieder halbwegs männlich fühlen kann.“ Aber obwohl das erdrückende Gefühl immer noch da war, hatte Eagle tatsächlich den Eindruck eine Last wäre von seinen Schultern genommen worden. Als hätte es wirklich geholfen, sich mal bei jemandem auszusprechen. Und vielleicht hatte es auch geholfen, mal nicht der Starke sein zu müssen… Was trotzdem ein bisschen erniedrigend und peinlich war. Aber Carsten schwieg trotzdem. Eagle runzelte die Stirn. So langsam verstand er, warum Saya versucht hatte mit ihm zu reden. Das wirkte ja nahezu krankhaft. Allmählich fragte sich Eagle, ob es nicht besser war jemand professionelles einzustellen. Carsten hatte wieder frierend die Arme verschränkt, als er schließlich meinte: „Du, Saya, Öznur, Laura, … Jeder fragt mich ständig, wie es mir geht. Was… wollt ihr denn von mir hören? Was soll ich euch erzählen?“ Eagle war verwirrt. „Irgendwas. Einfach alles, was dir durch den Kopf geht.“ „Das tu ich doch!“, schrie Carsten verzweifelt. „Ich kümmere mich doch schon um alles, was wir für Samstag brauchen!“ „Es geht nicht um Samstag!“, widersprach Eagle ihm und versuchte ruhig zu bleiben und vorerst zu verdrängen, was am Samstag auf ihn lauerte. „Es geht um unseren Vater! Sein Tod wird dir wohl kaum am Arsch vorbei gegangen sein, du musst doch irgendwas fühlen!“ Carsten zuckte bei Eagles Worten zusammen. Und schien seine Tränen endlich nicht mehr zurückhalten zu können. Doch aus einem anderen Grund, als Eagle vermutete. „…Das kann ich nicht…“, schluchzte Carsten leise. „Wie meinst du das?“ Eagle wollte ihm eine Hand auf die Schulter legen, doch Carsten stand ruckartig auf und wich zurück. „Damit meinte ich, dass ich das nicht kann!“ Verzweifelt schaute er Eagle an. Sein Körper zitterte, als stünde er kurz davor unter einer tonnenschweren Last zusammenzubrechen. „Jeder erwartet von mir, dass ich in Tränen ausbreche und Chiefs Tod betrauere, aber… das kann ich nicht!“ Eagle senkte den Blick. Eigentlich hätte er es sich ja schon denken können… „Du hasst ihn also wirklich…“ „Nein! Ich hasse ihn nicht!“, schrie Carsten und die Verzweiflung wuchs. „Aber… ich kann ihn auch nicht lieben, es ist… er…“ Er schien dem unsichtbaren Druck nicht mehr standhalten zu können. Carsten sackte auf die Knie und krallte die Finger in den erdigen Boden. „Er… ist mir egal…“ Eagle war endgültig verwirrt. „Was?“ „Ich empfinde nichts für ihn! Wie soll ich zu jemandem Gefühle aufbauen können, bei dem ich an einer Hand abzählen kann wie häufig er sich in meinem ganzen Leben mit mir unterhalten hat?! Ich kann mich noch nicht einmal daran erinnern, dass er mir jemals in die Augen geschaut hat!!!“ Schweren Herzens sah Eagle, wie sich Carsten schluchzend und zitternd krümmte. Und wieder konnte er nur wie gelähmt zuschauen. Wusste nicht, was er tun oder gar sagen sollte. „Aber… Es belastet dich doch!“, widersprach er seinem kleinen Bruder schließlich. Er ging zu ihm rüber und packte Carsten an den Schultern, sodass er dazu gezwungen war ihn anzuschauen. „Du brichst doch hier nicht gerade grundlos in Tränen aus!“ „Was mich belastet?! Was mich belastet ist, dass ich als sein Sohn nicht so fühlen dürfte! Dass ich um ihn trauern sollte und dass jeder auch genau das von mir erwartet! Aber ich kann es nicht!!! Sosehr ich es auch versuche, ich kann es verdammt nochmal nicht!!!“ Mit bebenden Händen klammerte er sich an Eagles Armen fest. „Ich finde Chiefs Tod ja schlimm. Aber was mich daran so fertig macht ist, dass er so furchtbare Auswirkungen auf dich hat. Dass du so darunter leiden musst! Und Saya! Aber… ich schaffe es einfach nicht, als Chiefs Sohn zu trauern…“ Betroffen hörte Eagle diese Worte und wusste nichts darauf zu erwidern. Hatte keine Ahnung, wie er Carsten diese Schuldgefühle nehmen sollte. Er hatte Recht, jeder hatte von ihm irgendeine Reaktion bezüglich ihres Vaters erwartet. Hatte gedacht, wenn er ihn nicht lieben kann, dann müsste er ihn wohl hassen. Eagle wusste nicht, was ihn mehr traf. Dass Carsten rein gar nichts für ihren Vater empfand, oder, dass er sosehr unter diesen Schuldgefühlen litt. Carstens schluchzte immer noch verbittert und zitterte am ganzen Körper. Vorsichtig zog Eagle ihn in eine Umarmung. Hoffte, dass diese Geste wirklich so beruhigend war wie sie normalerweise sein sollte. Er spürte, wie sich Carsten an sein T-Shirt krallte und den Tränen leise schluchzend freien Lauf ließ. Es brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich Carsten endlich wieder halbwegs beruhigen konnte. Eagle fühlte sich selbst schuldig, nicht früher erkannt zu haben, was da so in ihm vorging. Wie sehr Carsten insgeheim litt. Und noch schlimmer war, dass Eagle genauso wie jeder andere unwissend diese Schuldgefühle in ihm verstärkt hatte. Er machte sich wahrscheinlich schon selbst mehr als genug Vorwürfe, nicht so zu fühlen, wie er eigentlich sollte. Und dann kamen Eagle, Saya und alle anderen an, und verlangten regelrecht von ihm, dass er gefälligst zu trauern hatte. Irgendwann schaffte es Eagle, Carsten dazu zu überreden wieder nach Hause zurückzukehren, bevor Saya vor Sorge noch einen Herzstillstand bekam. Welche sofort auf sie zugestürmt kam, kaum dass sich die Haustür geöffnet hatte. Eagle beobachtete, wie Carsten immer noch niedergeschlagen den Blick abwandte und mit schwacher Stimme eine Entschuldigung murmelte. Doch Saya nahm davon überhaupt keine Notiz. Stattdessen packte sie Carsten einfach nur erleichtert und drückte ihn fest an sich. Zögernd erwiderte Carsten die Umarmung. Nach einer Weile lockerte Saya den Griff, um auch Eagle zu sich zu ziehen. „Bleibt ja bei mir, hört ihr? Ich könnte es nicht verkraften, würde auch noch jemandem von euch etwas zustoßen…“, wies sie die Brüder mit zitternder Stimme zurecht. Mit einem schwachen Lächeln legte Eagle einen Arm um die Schultern seiner Stiefmutter, die circa einen Kopf kleiner als er war. „Dasselbe gilt für dich. Es reicht mir schon eine Mutter verloren zu haben.“ Aus irgendeinem Grund schluchzte Saya bei seinen Worten und verstärkte ihren Griff um die beiden Brüder. „Ihr zwei… Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viel ihr mir bedeutet…“ Eagle drückte Saya fester an sich. Sonderlich überrascht war er von ihren Worten nicht. Aber trotzdem freute er sich darüber. Leise lachte er auf. „Ich glaube, du hast noch viel weniger Ahnung davon, wie sehr wir dich brauchen.“ Aus den Augenwinkeln bekam Eagle mit, wie Carsten zwar nichts darauf erwiderte, aber immer noch mit Tränen in den Augen nickte und sich zitternd an Sayas Pulli und Eagles T-Shirt krallte. Jetzt, da Eagle wusste, wie er wirklich fühlte, konnte Carsten seinem großen Bruder kaum mehr in die Augen schauen. Er hätte selbst nicht von sich gedacht, so wenig, oder eher gar nichts, für seinen Vater zu empfinden. Erst, als der Anruf von Saya kam hatte er es realisieren müssen. Sein erster Gedanke hätte eigentlich ‚Mein Vater ist gestorben‘ sein sollen. Doch er dachte direkt ‚Eagle wird jetzt schon seinen Platz einnehmen müssen‘. Er hatte sich sofort gefragt, wie es Eagle ging und wie er diesem Druck würde standhalten können. Dann dachte er an Saya, wie schrecklich es ihr nun gehen müsste. Dann kam die Sorge um Sakura dazu. Aber kein einziges Mal verspürte er auch nur einen Funken Trauer über den Tod seines Vaters. Obwohl er sein Sohn war. Obwohl er eigentlich hätte losweinen sollen! Zitternd verschränkte Carsten die Arme vor der Brust. Er fühlte sich wie ein Monster. Ein herzloses Monster. Plötzlich kitzelte es in seiner Nase und er musste niesen. Schniefend holte Carsten ein Taschentuch aus der Hosentasche. Eagle seufzte und stellte eine Tasse Kaffee vor ihm ab. „Das kommt davon, wenn du nachts bei diesen Temperaturen im T-Shirt herumwanderst. Wehe du kommst jetzt auf die Idee krank zu werden.“ „Es geht schon.“, murmelte Carsten und wich erneut dem Blick seines großen Bruders aus. Wobei auch er selbst den Eindruck hatte, sich durch gestern Nacht eine leichte Erkältung eingefangen zu haben. Inzwischen war Mittwochnachmittag, also nur noch drei Tage bis zu Eagles Amtsantritt. Die Einladungskarten hatte Carsten zwar heute Vormittag per Magie verschickt, doch ein Programm hatte er immer noch nicht auf die Beine stellen können. Koja war zu Besuch gekommen und wies nun Eagle an, sich endlich hinzusetzen. Dieser verzog das Gesicht. „Muss das sein?“, fragte er auf Indigonisch. „Du kennst die Tradition.“ Seufzend gab Eagle sich geschlagen und nahm auf dem Stuhl Platz. Während Carsten den Kaffee trank beobachtete er, wie seine Großmutter auf Dryadisch sang und Eagles Haare zu einem langen Zopf flocht, welchen sie mit zwei gewobenen Bändern befestigte. Immer noch singend nahm sie ein Messer und schnitt den Zopf oberhalb des ersten Bandes ab. Während Saya Eagles wirren Haare zu einer richtigen Frisur zurechtschnitt, legte Koja den abgeschnittenen Zopf in eine mit Samt ausstaffierte Holztruhe. Als Saya die Haarschneidemaschine rausholte, bekam Carsten plötzliches Herzrasen. Schwer atmend wandte er den Blick ab und versuchte, das summende Geräusch zu ignorieren. Er fokussierte seinen Blick auf den Kaffee, der durch seinen zitternden Griff in der Tasse hin und her schwappte. „Crow, geht es dir nicht gut?“, erkundigte sich seine Großmutter auf Indigonisch. „N-nein, alles in Ordnung…“, stammelte Carsten, während Koja seine Temperatur prüfte. „Wenn wir hier fertig sind gehst du sofort ins Bett und ruhst dich aus.“, meinte sie daraufhin. „Ernsthaft, wehe du wirst krank.“, kommentierte Eagle. Kaum war das Geräusch verklungen und der Haartrimmer aus seinem Blickfeld verschwunden stellte Carsten fest, dass es ihm sofort etwas besser ging. So schaffte er es nun auch Eagles neue Frisur zu betrachten. Es war ungewohnt, ihn mit so kurzen Haaren zu sehen. Oben waren sie ein bisschen länger als an den Seiten, wie es Carsten bei vielen Jungs von der Coeur-Academy kannte. Eigentlich stand Eagle diese Frisur ganz gut, aber es wirkte irgendwie trotzdem falsch. So kurze Haare passten einfach nicht zu einem Indigoner. Eagle verzog das Gesicht und fuhr sich durch den Haaransatz am Hinterkopf. „Das fühlt sich komisch an.“ „Du gewöhnst dich schon daran, keine Sorge.“ Saya strich ihm einige lose Strähnen von den Schultern. Auch sie hatte kürzere Haare, die ihr bis zum Kinn reichten. „Ich hasse diese Tradition.“ Eagle seufzte. Derweil hatte Koja wieder mit ihrem dryadischen Lied begonnen und flocht nun Carstens Haare zu einem Zopf. Wobei sie bei ihm nicht so lange brauchte wie bei Eagle, immerhin gingen Carstens Haare nur bis zur Mitte der Schulterblätter. Gingen. Auch diesen Zopf befestigte sie mit zwei gewobenen Bändern und schnitt ihn ab, um ihn neben Eagles und Sayas in die Truhe zu legen. Der plötzliche Luftzug in seinem Nacken fühlte sich direkt seltsam an. Und genauso unangenehm. Verwundbar. Fast so wie damals im- Als Saya mit der Haarschneidemaschine auf ihn zu kam wich Carsten erschrocken zurück und stieß dabei die Kaffeetasse um. Das Herzrasen war wieder da. Panik stieg in ihm auf. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Saya besorgt und wollte auf ihn zu gehen. Carsten stolperte zurück. Stieß mit dem Rücken gegen den Küchenschrank. Das Herzrasen wurde stärker, Schwindel überfiel ihn. Er spürte die Kälte in seinem Nacken. Die Verwundbarkeit. Sah den Haarschneider in Sayas Händen. Hatte die grauen Wände vor Augen. Grau, wie in einem Gefängnis. Ohne Hoffnung. Ohne Gerechtigkeit. Nur Gewalt. Leid. Verzweiflung. Hoffnungslosigkeit. Er hörte das Knarzen eines Stuhls und spürte, wie jemand ihn an den Armen packte. „Reiß dich zusammen!“, brüllte Eagle in sein Ohr. Gepresst versuchte Carsten langsam und regelmäßig zu atmen. Suchte mit zitternden Händen nach etwas, wo er sich abstützen konnte. Vorsichtig half Eagle ihm, sich auf den Boden zu setzen und wartete, bis sich Carstens Herzschlag wieder beruhigte, bis sein Keuchen zu einem normalen Atmen wurde. „Was ist denn los mit dir?“, fragte Eagle, die Sorge in seiner Stimme war nicht zu überhören. Auch Saya kam zu ihm rüber und legte die Hand auf Carstens geschwitzte Stirn, um wie Koja die Temperatur zu überprüfen. Anschließend strich sie ihm über die Wange. „Carsten?“ „Es… es geht schon…“, brachte er mühsam hervor. „Kann ich… mir die Haare nicht einfach selbst schneiden?“ Eagle wandte sich um und betrachtete die Maschine, die Saya auf dem Tisch abgelegt hatte. „Du hast doch nicht ernsthaft wegen diesem Ding ne Panikattacke bekommen, oder?“ Zitternd kniff Carsten die Augen zusammen, nachdem auch er zum Tisch rüber geschaut hatte. Er merkte wie Saya und Eagle einen Blick austauschten. Eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich setzte Eagle zögernd an: „Damals im FESJ-“ Unwillkürlich zuckte Carsten zusammen als habe man ihn geschlagen. Sein großer Bruder stockte. „Also… hatten sie dir dort…“ „Eine HT-3S987… Fragt mich nicht, wieso ich das noch weiß…“, meinte Carsten mit bebender Stimme. Bedrückt atmete Saya aus. „Auch noch haargenau dasselbe Modell.“ Eagles Griff um Carstens Arme verstärkte sich. „Carsten, das ist nur eine Maschine zum Haareschneiden.“ „Ich weiß! Aber… aber…“ Lautstark fluchend stand Eagle auf und ging zum Küchentisch, um den Haartrimmer zu betrachten. „Saya, so geht das nicht. Carsten muss zu ‘nem Psychiater.“ „N-nein! Ich… es geht schon! Ich komme klar!“, widersprach Carsten hastig. „Einen Scheiß kommst du!“, brüllte Eagle. „Du bekommst Panik, wenn du eine Maschine siehst! Zuckst schon zusammen, wenn man nur den Namen dieser Anstalt nennt! Und sag mir nicht, dass dein Albtraum gestern reiner Zufall war!“ Die Wut und Verzweiflung in Eagles Stimme war nicht zu überhören und Carsten fragte sich automatisch, ob sein großer Bruder sich immer noch Vorwürfe machte es veranlasst zu haben, ihn auf diese Schule zu schicken. „Carsten, stimmt das?“, fragte Saya besorgt. „I-ich…“, stammelte Carsten, wusste aber nichts darauf zu erwidern. Er zitterte immer noch am ganzen Körper und der Schwindel wurde wieder stärker. „Ich will nicht zu einem… Psychiater…“ Was sollte ihm eine Therapie auch helfen? Würde er nicht dort über alles reden müssen? Über alles?!? Alles, was dort vorgefallen war?!? „Ich will das nicht!“, schrie Carsten panisch. Sanft nahm Saya ihn in die Arme und strich ihm über die inzwischen kürzeren Haare. „Schon gut, du musst nicht, wenn du nicht magst.“ „Aber-“, setzte Eagle an, wurde allerdings von Saya angewiesen still zu sein. Zitternd klammerte sich Carsten an seine Stiefmutter. Was war nur los mit ihm? Nach einer Weile ließ das Zittern endlich nach und auch der Schwindel ging zurück. „Ich kann dir die Haare auch einfach mit einer Schere schneiden.“, schlug Saya ihm fürsorglich vor. Carsten nickte schwach. „Aber… bitte nicht zu kurz… Nur so… wie bei dir.“ „Kein Problem.“, erwiderte Saya. Sie küsste ihn auf die Stirn und half ihm hoch, um sich wieder auf den Stuhl zu setzen. Das Schweigen während Saya ihm die Haare schnitt war unerträglich. Nur das Geräusch der Schere füllte den Raum. Als das auch schließlich verstummt war, wuschelte Saya ihm über den Kopf und fragte: „Ist das so in Ordnung?“ Carsten betrachtete sich im Spiegel, den seine Stiefmutter ihm hinhielt. Tatsächlich war die Frisur nur etwa genauso kurz wie Annes. Und trotzdem… Dieses erdrückende Gefühl der Verwundbarkeit hörte einfach nicht auf. „J-ja… Das ist okay…“, meinte Carsten nur. Schließlich schaltete sich Koja ein. „Crow, bist du dir sicher? Du weißt, was die Leute denken werden.“ Carsten senkte den Blick. Ja, bei der Länge würden sie das denken, was er auch wirklich fühlte. Dass ihm sein Vater in Wahrheit egal war. Aber wollte er wirklich so kurze Haare wie Eagle haben? Nur, um den Schein des trauernden Sohnes aufrecht erhalten zu können? Alleine die Vorstellung daran ließ Carsten zittern. Wieder kam die Angst. Die Verwundbarkeit. Und gleichzeitig brachen erneut Schuldgefühle über ihn herein. „Sollen sie doch denken was sie wollen…“, erwiderte Carsten schwach. Er merkte, wie Eagle bedrückt die Arme vor der Brust verschränkt hatte und fragte sich, ob sein großer Bruder Wort halten und das gestrige Gespräch vor dem Rest verschweigen würde. Doch ihm in die Augen schauen konnte er immer noch nicht. Saya strich ihm über die Wange. „Hauptsache, du fühlst dich wohl damit.“ Während sie die auf dem Boden herumliegenden Haare zusammenkehrte, zauberte Koja die Kaffeeflecken von der Tischdecke. Carsten und Eagle saßen schweigend am Tisch, jeder seinen eigenen hoffnungslosen Gedanken nachgehend. Plötzlich klingelte es an der Tür. Eagle blickte auf. „Das müssen Öznur und Laura sein. Die werden gleich den Schock ihres Lebens bekommen.“ „Ich mache auf, ich wollte ohnehin gleich wieder gehen.“ Koja nahm die Holztruhe und wuschelte Carsten noch einmal durch die kurzen Haare. „Und du legst dich gleich ins Bett, Crow. Und lass dir von deinem faulen großen Bruder einen Kräutertee machen.“ „Hey!“, äußerte Eagle empört, doch Koja kniff ihm nur schmunzelnd in die Wange. Sie verließ das Zimmer und kurz darauf hörten sie, wie Koja in gebrochenem Damisch Laura und Öznur mitteilte, sie seien in der Küche. Die Reaktion der Mädchen war genau wie erwartet, als sie den Raum betraten. „Was ist denn hier passiert?!“, fragte Öznur erschrocken. Eagle seufzte. „Sieht man das nicht?“ „Doch, sehr gut sogar.“, erwiderte Laura und ging zu Carsten, um ihn zur Begrüßung zu umarmen. Carsten war erleichtert, dass Laura ihn nicht nach seinem Wohlergehen fragte. Tatsächlich half alleine ihre Anwesenheit, ihn wieder zu beruhigen und das Geschehnis vor wenigen Minuten wich weiter weg in die Ferne. Laura betrachtete mit ihren großen Augen seine neue Frisur, während Öznur immer noch schockiert schien. „Ernsthaft, wieso? Und noch dazu ihr alle?!“, fragte sie entgeistert und fuhr Eagle durch den kurzen Schopf. „In Indigo ist das eine Tradition.“, begann Saya zu erklären, „Bei einem Todesfall schneiden sich die engsten Angehörigen die Haare ab, welche dann bei der Feuerbestattung zusammen mit dem Leichnam verbrannt werden. Im Glauben der Indigoner gibt man so einen Teil von sich dem Toten mit, in der Hoffnung, so eine Verbindung zu ihm zu haben und ihn eines Tages wieder zu sehen.“ Öznur runzelte die Stirn und fuhr immer noch durch Eagles Haare, während sie inzwischen auf seinem Schoß saß. „Haben Indigoner deshalb normalerweise immer lange Haare?“ „Ja, im Prinzip schon.“, gab Saya ihr Recht. „Bekommt man bei kurzen Haaren dann auch so Beerdigungs-Kommentare, wie wenn ich nur schwarz trage?“, vergewisserte sich Laura. Eagle nickte. „Wobei kurze Haare hier insgesamt ein Ausdruck der Trauer sind und nichts mit irgendwelchen Stilrichtungen zu tun haben. Jeder Indigoner denkt sofort, dass du eine wichtige Person verloren hast, wenn deine Haare nicht mindestens schulterlang sind. Dass jemand aus Prinzip kurze Haare trägt gibt es zwar auch hin und wieder, aber nur sehr selten. Die meisten tragen dann eher lange Haare mit Side- oder Undercut. Das war damals ein richtiger Kulturschock, als ich gesehen habe, dass in allen anderen Regionen kurze Haare gang und gäbe sind.“ Öznur schauderte. „Das glaube ich, wenn sie bei euch eine so krasse Bedeutung haben.“ „Aber irgendwie ist das auch eine schöne Geste…“, ergänzte Laura nachdenklich. Bedrückt senkte Carsten den Blick. Ja, die Geste an sich fand er auch schön. Aber so aufgesetzt, wie das alles bei ihm war… Erneut brach das schlechte Gewissen über ihn her. Plötzlich kitzelte es in seiner Nase und er musste wieder niesen, was alle Aufmerksamkeit auf ihn richtete. Eagle seufzte. „Du hast dich wirklich erkältet, oder?“ „Es geht schon…“, erwiderte Carsten und putzte sich die Nase. Sein großer Bruder warf ihm einen warnenden Blick zu und richtete sich auf, um den Wasserkocher anzuschalten. „Nichts geht bei dir momentan. Du machst jetzt das, was Koja gesagt hat, und legst dich ins Bett.“ Laura nickte. „Besser ist das, du siehst richtig fertig aus.“ Seufzend gab Carsten sich geschlagen und ging hoch in sein Zimmer. Als er am Flurspiegel vorbeikam, hielt er kurz inne und betrachtete sein Spiegelbild. Laura hatte Recht, er sah wirklich fertig aus. Mindestens genauso fertig, wie er sich auch fühlte. Schaudernd wandte er den Blick von seinen kürzeren Haaren ab. Eine Frisur, die man von ihm erwartete. Da er ein Sohn sein sollte, der um seinen Vater trauerte. Eine Verkleidung, nichts weiter. Eine Maske, die er den anderen zuliebe aufsetzen musste. Zitternd legte sich Carsten in sein Bett. Ohne es zu wollen schweifte er mit den Gedanken zu jenem Tag ab, als er in dem Internat ankam. Dort hatte man seine Haare nicht sanft zu einem Zopf geflochten, wie Koja es getan hatte. Dort hatte man ihn grob gepackt und so viel es ging abgeschnitten, obwohl Carsten sie weinend darum gefleht hatte aufzuhören. Und das war ihnen nicht kurz genug. Sie nahmen die Maschine und schnitten immer mehr ab. Immer mehr und mehr, bis nur noch kurze Stoppeln übrig waren und darunter blutige Kratzer von der unsanften Behandlung. Wenn man es so sah, waren seine kurzen Haare damals auch ein Ausdruck der Trauer gewesen. Nur, dass es sich um keinen Verwandten oder guten Freund gehandelt hatte, der verstorben war. Eher hatte Carsten den Eindruck es selbst gewesen zu sein. Es war sein eigener Tod. Zitternd drehte sich Carsten auf die Seite und versuchte, diese Erinnerungen auszublenden. Erinnerte sich stattdessen verzweifelt an das befreiende Gefühl, als er neben Herr Bôss das Eingangsportal der Coeur-Academy passiert hatte. Klammerte sich an die vielen Farben, die er nach all den Jahren endlich wiedersehen durfte. Erinnerte sich daran, zum ersten Mal Laura und Benni wieder getroffen zu haben, die sich irgendwie verändert hatten und gleichzeitig doch immer noch dieselben waren. Lauras sanfte Berührung, ihre Freude und Erleichterung, trotz des Leids, was sie damals noch hatte mit sich herumtragen müssen. Bennis fester, stützender Griff und die ruhige Stimme, die eine lange Zeit sein einziger Lichtfunken in der grauen Ödnis war. Die Erinnerungen daran halfen Carsten, wieder zu Verstand zu kommen. Klar denken zu können. Mühsam richtete er sich auf, unterdrückte ein weiteres Niesen und setzte sich wieder an den Schreibtisch. An dem leeren Blatt von gestern hatte sich nicht viel geändert. Wobei, zumindest die indigonischen Traditionen hatte er bereits eintragen können. Die Trommler, die musikalische Untermalung für die Feuerbestattung, die Krönungszeremonie und der darauffolgende Federtanz, … Ein Klopfen lies Carsten hochschrecken. Vorsichtig trat Laura mit einer dampfenden Tasse Tee ein und schaute Carsten empört an. „Du bist genauso schlimm wie Benni.“, meinte sie nur und stellte den Tee neben Carsten ab. Gedankenverloren drehte Carsten den Stift auf seinem Daumen, während er wieder die Programmliste betrachtete. Neugierig schaute Laura ihm über die Schulter. „Federtanz?“ „Einer unserer traditionellen Tänze. Beim Amtsantritt des Häuptlings wird er immer von drei jungen Frauen getanzt. Jedes Mädchen lernt ihn bereits in der Grundschule.“, erklärte Carsten. „Das klingt nach einem schönen Tanz.“, kommentierte Laura und kicherte. „Müssen du oder Eagle auch tanzen?“ Lächelnd schüttelte Carsten den Kopf. „Ich bin für die Tätigkeiten des Stammesmagiers zuständig. Koja meinte vorhin, sie müsse als älteste Magierin Kariberas die Position der Stammesältesten übernehmen und außer mir gibt es keinen weiteren Magier.“ „Was musst du dann machen?“ Carsten hielt für einen Moment inne, der Stift rutschte ihm aus der Hand. „… Chiefs Leiche anzünden… Ohne Magie wäre der Gestank nicht zumutbar…“ Zögernd legte Laura eine Hand auf seine Schulter. Nach einer Weile fragte sie stockend, um das Gespräch irgendwie aufrecht zu erhalten: „Und… Eagle?“ „Überwiegend rumsitzen und ehrfurchtsvoll aussehen. Wichtig ist der Eid bei der Krönung und die Antrittsrede vor dem Festmahl…“ Carsten seufzte. „Der Eid ist einfach nur die Sätze der Stammesältesten nachsprechen. Aber bei der Rede…“ Laura nickte betrübt. „Er wird sich was Gutes einfallen lassen müssen…“ „Ich glaube immer noch nicht, dass er sich darum überhaupt kümmern möchte.“ Ein weiteres Seufzen. „Wahrscheinlich sollte ich ihm sicherheitshalber etwas schreiben, was er dann einfach nur auswendig lernen muss…“ Laura verstärkte ihren Griff um seine Schulter. „Du packst das, wie alles andere bisher auch. Und dafür, dass du dich beklagst nichts für das Programm zu haben, ist das doch schon richtig viel.“ Verbissen packte Carsten den Stift. „Nein, es ist zu wenig. Viel zu wenig. Ich habe die Pflichtpunkte für die indigonischen Traditionen. Aber das ist auch alles.“ „Hä? Was fehlt denn noch?“ „Der Beitrag von den anderen Regionen.“ Verbittert atmete Carsten aus. „Die Einladungskarten dürften heute Vormittag bei den entsprechenden Persönlichkeiten angekommen sein, aber bis auf Yami und Dessert habe ich bisher noch keine Zusagen erhalten. Und selbst von den beiden kam noch kein Angebot, etwas zu dem Programm beitragen zu wollen.“ Carsten hielt das in Leder gebundene Notizbuch hoch. „Sisika schreibt hier, dass Leon Lenz damals bei Chief sofort einen Programmpunkt hinzugesteuert hat… Genauso wie viele andere Regionsvertreter.“ „Denkst du… Denkst du sie nehmen Eagle nicht ernst genug?“ Die Betroffenheit in Lauras Stimme war nicht zu überhören. „Ich befürchte es.“ Frustriert lehnte sich Carsten im Stuhl zurück und würde den Stift am liebsten gegen die Wand feuern. „Er ist weder volljährig, noch hat er bisher einen Schulabschluss. Du hast doch selbst bei dem Krisentreffen damals gesehen, wie wenig diese Leute von uns ‚Kindern‘ halten.“ „Aber das tut jetzt doch nichts zur Sache!“, rief Laura verärgert, „Gerade, weil er noch so jung ist sollten sie ihn doch mit aller Kraft unterstützen wollen!!!“ „Wem sagst du das…“ „Das ist so unfair…“, schluchzte sie. Bedrückt wandte sich Carsten seiner besten Freundin zu und sah, dass sich Tränen in ihren Augen gesammelt hatten. Wobei es wohl eher Wuttränen waren, ihrem Blick nach zu urteilen. Grob wischte sie sich über die Augen und atmete tief durch. „Was hat denn O-Too-Sama damals als Programmpunkt beigetragen?“ „Deine Mutter scheint irgendetwas auf der Koto gespielt zu haben.“ „Das passt zu ihr…“ Nervös zwirbelte Laura eine ihrer langen Haarsträhnen. Schließlich atmete sie erneut tief durch und schaute Carsten mit festem Blick an. „Wenn das der Fall ist, dann trag doch einfach mich ein.“ „Was?!“ Laura trat von einem Fuß auf den anderen. „Schau mich nicht so überrascht an, ich will nur irgendwie helfen…“ „N-nein, ich… Also…“ Carsten wusste nichts darauf zu erwidern. Ihr Vorschlag machte ihn so sprachlos, dass er sie einfach nur ungläubig anstarren konnte. „W-was… was möchtest du denn machen? Flöte spielen?“ Beschämt lachte sie auf. „Niemals. Darin bin ich nicht gut genug, um auch nur halbwegs irgendjemanden mit beeindrucken zu können.“ „So schlecht bist du nicht…“, widersprach Carsten, immer noch komplett aus der Bahn geworfen. „Aber nicht gut genug.“ Kopfschüttelnd deutete sie auf den Federtanz. „Auch in Yami gibt es traditionelle Tänze und natürlich hat mich O-Too-Sama von klein auf in eine Buyō-Schule geschickt.“ Carsten erinnerte sich. „Stimmt, du hattest damals häufig Tänze mit dem Fächer geübt… Deshalb wusste Benni auch sofort, welche Waffe am besten zu dir passt.“ „… Darüber hatte ich nie nachgedacht…“ Amüsiert bemerkte er, wie sich Lauras Wangen leicht rötlich färbten. Er war froh, dass sie heute mit Öznur vorbeigekommen war. Schon alleine die für Laura typischen Reaktionen halfen, in dieser bedrückenden Situation zumindest etwas Normalität zu haben. Und jetzt unterstützte sie ihn unerwarteter Weise auch noch bei dem Programm… Zitternd legte Carsten den Stift zur Seite. Laura betrachtete ihn besorgt. „Ist alles in Ordnung?“ Erschrocken quietschte sie auf, als Carsten sie plötzlich in eine Umarmung zog und fest an sich drückte. „Danke…“, brachte er mit schwacher Stimme über die Lippen. Er spürte, wie Laura die Umarmung erwiderte. „Ich bin froh, wenn ich irgendwie helfen kann. Selbst wenn es nur sowas ist…“ „Nur sowas?“ Carsten verstärkte seinen zitternden Griff. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr das gerade hilft…“ „Ja, aber…“ Vorsichtig befreite sich Laura wieder aus der Umarmung und schaute ihn irritiert an. „Das ist doch selbstverständlich. Warum hast du nicht einfach mal gefragt, ob wir dir helfen können?“ „Es… Ich…“ Empört stemmte sie die Hände in die Hüften. „Mensch, Carsten! Ist das jetzt die Erkältung, wegen der so durch den Wind bist oder traust du uns wirklich so wenig zu?! Es gibt wohl keinen Indigoner, der bessere Kontakte in die hohen Kreise anderer Regionen hat als dich! Und noch nicht einmal das nutzt du?! Kamst du überhaupt mal auf die Idee jemanden von uns zu fragen? Mich? Anne? Florian? Vielleicht sogar Konrad oder Bennis Eltern?“ Tatsächlich musste Carsten einsehen, dass Laura Recht hatte. Und er war überrascht von sich selbst, dass er bisher noch nicht daran gedacht hatte, einfach direkt in seinem Bekanntenkreis zu fragen. Carsten atmete aus und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Irgendwie war ihm unnatürlich warm und kalt zur selben Zeit. „Nein, du hast Recht… Ich… Ich weiß einfach nicht… was zurzeit mit mir los ist…“ Bedrückt seufzte Laura und zog ihn wieder in eine Umarmung. „Wie viel hast du letzte Nacht geschlafen?“ Carsten schaffte es nicht, zu antworten. „Und die Nacht davor?“, hakte sie nach. Carsten holte Luft, brachte aber wieder keine Antwort über die Lippen. „Dachte ich’s mir doch. Darf ich raten: Den Tag über kümmerst du dich um die Planung für Eagles Amtsantritt, während du nachts noch irgendwie versuchst am Zauber weiter zu arbeiten. Genauso wie all die letzten Wochen bevor dein Vater… bevor das passiert ist. Immer arbeitest du bis spät nachts und gönnst dir keine Sekunde Pause.“ Für einen Moment verstärkte sie ihren Griff und dann ließ sie Carsten abrupt los und schnappte sich den Zettel mit dem Programm. „Laura!“ Carsten sprang auf und wollte den Zettel wieder an sich nehmen, doch Laura wich ihm aus. „Nichts da, du hast genug gemacht. Ich gehe damit jetzt zu Saya und wir kümmern uns um den Rest. Und du legst dich gefälligst hin und ruhst dich aus. Und zwing mich nicht, dir auch noch die Notizen für den Zauber wegnehmen zu müssen.“ Als Carsten den dickköpfigen Blick in ihren Augen sah, musste er sich eingestehen keine Chance gegen Laura zu haben. Und ebenso musste er einsehen, dass sie Recht hatte. Er hatte es übertrieben mit seinem Arbeits- und Helferdrang. Die ganzen letzten Wochen schon. Da war es eigentlich klar, dass sein Körper es ihm irgendwann heimzahlen würde. Bedrückt lachte er auf und setzte sich auf die Bettkante. „Alles klar, du hast gewonnen. Ich versuche zumindest mich auszuruhen, bis die Erkältung überstanden ist.“ Laura atmete auf und stellte ihm die Teetasse auf den Nachttisch. „Na endlich. Es kann doch nicht sein, dass ich ausgerechnet einen angehenden Arzt darüber zurechtweisen muss, wie man mit seiner Gesundheit umzugehen hat.“ Mit einem schwachen Lächeln trank er einen Schluck von dem Tee und legte sich anschließend hin. Er schien noch erschöpfter als gedacht, denn er bekam nicht einmal mehr mit wie Laura das Zimmer verließ. Kapitel 66: Nur ein kleiner Schritt ----------------------------------- Nur ein kleiner Schritt Die letzten Wochen Durcharbeiten schienen nun wirklich ihren Tribut einzufordern. Noch am selben Abend bekam Carsten leichtes Fieber, was auch den gesamten Donnerstag über nicht sinken wollte. Saya hatte sich für den Rest der Woche Urlaub genommen und übernahm nun gemeinsam mit Laura die restliche Planung, wie diese es bereits angekündigt hatte. Carsten versuchte zwar, zumindest ein bisschen zu helfen und am Zauber weiter zu arbeiten, musste aber sehr bald einsehen, dass dieses Unterfangen sinnfrei war. Im Endeffekt würde er ansonsten noch irgendetwas Falsches einbauen, weshalb alles scheitern könnte. Erst am Freitag ging es ihm wieder gut genug, um das Bett verlassen zu können. Aber trotzdem war er noch zu angeschlagen, um irgendwie hilfreich zu sein. Schweigend schaute Carsten auf sein kaum angerührtes Mittagessen. Sonderlich viel Appetit hatte er auch noch nicht. Plötzlich klingelte es an der Tür. Da Eagle dies zufrieden mit „Na also“ kommentierte und vom Tisch aufstand, um aufzumachen, musste es wohl Öznur sein. Doch Carsten irrte sich. „Krankenbesuch!“ Carsten verschluckte sich an seinem Tee, als Ariane die Küche betrat. Dicht gefolgt von Eagle, der schelmisch grinste als sei er an dieser Situation nicht ganz unbeteiligt. „Nane?! W-was… was machst du denn hier?“, fragte Carsten hustend. Ariane setzte sich auf einen freien Platz neben ihn und schaute Carsten mit einem mitfühlenden Lächeln an, das trotz allem strahlte wie alle Sonnen des Universums zusammen. „Na ja, ich habe freitags nachmittags sowieso nur Freistunden. Und als ich dann noch erfahren habe, dass Sport ausfällt dachte ich mir, dass ich einfach mal vorbeikommen und nach dir schauen könnte. Carsten spürte die Röte auf seinen Wangen. „Das musst du doch nicht…“ „Ich wollte aber.“, widersprach Ariane bestimmt. „Wir haben dich jetzt seit bald einer Woche nicht mehr zu Gesicht bekommen und als Öznur gestern Abend auch noch erzählt hatte, dass du den ganzen Tag krank im Bett lagst, hab ich mir einfach Sorgen gemacht.“ Verlegen wich Carsten ihrem Blick aus, während Eagle Ariane auf die Schulter klopfte. „Ich find das richtig nett von dir. Vielleicht schaffst du es mal, Carsten auf andere Gedanken zu bringen. Er klagt die ganze Zeit nur, dass niemand ihn was machen lässt.“ „Du musstest mir ja unbedingt die Sachen für den Zauber wegnehmen.“ Empört funkelte Carsten seinen großen Bruder an. Das war eigentlich der Hauptgrund, weshalb er nicht hatte an ihm weiterarbeiten können. „Und du weißt genau, wieso.“, erwiderte Eagle und verdrehte die Augen. Ariane schüttelte amüsiert den Kopf. „Das passt zu dir. Komm, iss auf und dann machen wir einen kleinen Spaziergang. Es ist noch mal richtig schön warm geworden, das gute Wetter sollten wir nutzen. Und ich glaube, es tut dir auch ganz gut, mal rauszukommen.“ Während Carsten irgendwie versuchte sein Essen herunterzuwürgen, unterhielt sich Ariane mit Eagle über dessen neue Frisur. Ariane seufzte. „Ich kenne das immer nur von den Mädchen, die sich die Haare schneiden, wenn sie von ihrem Freund verlassen wurden. So ‚Neues-Ich-Mäßig‘, wovon ich eigentlich nicht viel halte. Aber es ist interessant, dass das bei euch so fest in der Kultur verankert ist.“ Sie betrachtete Eagle kritisch. „Trotzdem finde ich das komisch. Die langen Haare passen einfach viel besser zu dir.“ Eagle zuckte mit den Schultern und fuhr sich durch die kurzen schwarzen Haare. „Wem sagst du das. Ich fühl mich selbst immer noch nicht wohl mit dieser Frisur. Aber zumindest ist man nach dem Duschen viel schneller fertig…“ „Das stimmt, ich bekomme auch immer bei Laura mit, wie ewig es dauert bis ihre Haare trocken sind.“, gab Ariane ihm recht. „Kurze Haare sind einfach praktischer.“ Da fiel Carsten auf, dass Arianes Haare nur noch bis zu den Schultern reichten. Das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, waren sie noch um einiges länger gewesen. „Hast du sie dir auch schneiden lassen?“ Ariane nickte. „Dienstag erst. Wie gesagt, ich finde kürzere Haare einfach praktischer.“ Carsten lächelte schwach. „Haben die Mädchen bei dir auch so ein Drama gemacht, wie bei Susanne damals?“ „Ne, zum Glück nicht.“ Nun betrachtete sie Carsten. „Aber dir steht diese Länge richtig gut.“ Während seine Wangen wieder einen rötlichen Ton annahmen, musste Eagle grinsen. „Das stimmt, du wirkst mit den kürzeren Haaren zumindest etwas männlicher.“ „Was soll das denn heißen?“ Beschämt stand Carsten auf und stellte den noch nicht ganz geleerten Teller in den Kühlschrank. „Alles okay?“, fragte Eagle besorgt. „Ja, ich habe nur immer noch kaum Appetit. Ich esse den Rest nachher.“ „Wenn du meinst… Dann geh ich mal zum Training. Viel Spaß euch.“, verabschiedete sich Eagle, erhob sich vom Stuhl und verließ das Zimmer. Auch Ariane stand auf. „Dann lass uns auch mal gehen.“ Immer noch verunsichert nickte Carsten und folgte ihr nach außen. Gemeinsam spazierten sich durch Kariberas alten Stadtkern an den Tipis vorbei. „Wie kommt es eigentlich, dass ihr sowohl in Zelten als auch normalen Häusern lebt?“, erkundigte sich Ariane neugierig. „Die Indigoner waren früher ein Nomandenvolk und hielten sich selten lange an einem Ort auf. Da wären richtige Häuser einfach unpraktisch gewesen. Aber seitdem durch die Gründung Damons Indigo existiert, ist das nicht mehr der Fall.“, erklärte Carsten. „Die Tipis sind nur noch für diejenigen, die ein bisschen an dieser Tradition festhalten wollen oder, um den Kindern zu zeigen, wie es früher war. Sie werden durchaus genutzt und gepflegt, aber kaum jemand wohnt wirklich regelmäßig in einem Zelt, bis auf ältere Indigoner wie Koja.“ „Irgendwie finde ich das schön, wie sehr Indigo versucht seine Traditionen zu pflegen.“, kommentierte Ariane beeindruckt. Seufzend fuhr sich Carsten durch die kürzeren Haare. „Für meinen Geschmack etwas zu sehr…“ Ariane wollte etwas erwidern, hielt aber stockend inne, als sie den freien Platz erreichten, in dessen Mitte der Marterpfahl thronte. Zu seinen Füßen war ein hölzernes Podest aufgebaut, auf welchem Chiefs Leichnam lag. Die Hände waren über seine Brust gekreuzt und auf seinem Haupt trug er eine Federkrone. Um ihn herum lagen Unmengen an Blumen- und Federkränzen, welche meist mit Bändern geschmückt waren. Eine schimmernde Aura umgab den Leichnam. Eine Magie, welche ihn in gewisser Weise einfror und den Körper am Zerfall hinderte. Schaudernd griff Ariane nach Carstens Arm. „Liegt… er schon die ganze Zeit hier?“ „Ja, so soll auch das Volk die Möglichkeit haben sich von ihm zu verabschieden, bis er morgen… bestattet wird.“ Ein kalter Wind fuhr an Carstens Nacken vorbei und erneut brachen die Schuldgefühle über ihn herein. Noch nicht einmal der Anblick von Chiefs leblosen Körper löste eine emotionale Reaktion in ihm aus… Wie konnte Carsten nur so herzlos sein?! Er spürte, wie Ariane seine verspannte Hand nahm und direkt beschleunigte sich sein Herzschlag. Gleichzeitig bekam er die Angst, dass Ariane ihn fragen würde wie es ihm ging. Dass er auch ihr gegenüber diese Maske des trauernden Sohnes würde aufsetzen müssen. Obwohl er sie nicht anlügen wollte. Aber die Wahrheit konnte er noch weniger sagen… Er wollte einfach gar nichts sagen müssen! Er wollte gar nicht darüber reden! „Können… wir woanders hin?“, fragte Ariane zögernd. Carsten nickte und sie kehrten Chief und dem Zentralplatz den Rücken zu. Als er nach einigen Metern erkannte, dass Ariane ihn wohl nicht nach seinem Gefühlszustand fragen würde, atmete Carsten erleichtert auf. Doch sein Herzschlag konnte sich trotzdem nicht beruhigen, da Ariane immer noch seine Hand hielt. Sehr wahrscheinlich ohne überhaupt zu merken, was sie damit in Carsten auslöste. Wie durcheinander sie ihn alleine mit dieser Berührung machte. Während sie am Fluss am Rande Kariberas entlangspazierten, überlegte Carsten angestrengt, ob er es irgendwie schaffte einen Schritt zu machen, um ihr endlich näher zu kommen. Um nicht einfach nur tatenlos zu warten, bis sie vielleicht irgendwann mal zufällig Interesse an ihm bekundete. Was sehr unwahrscheinlich war. Doch seine Überlegungen blieben ohne Erfolg. Für alle direkten Wege war er viel zu schüchtern und für die indirekten fehlte ihm der notwendige Einfallsreichtum. Bis auf den Husten durch seine Erkältung brachte er nichts über die Lippen. Ariane betrachtete ihn besorgt. „Du siehst ziemlich platt aus. Wollen wir eine kleine Pause machen? Nicht, dass es zu viel wird.“ Verlegen wich Carsten ihrem Blick aus und nickte. Ariane holte eine kleine Decke aus ihrem Rucksack und breitete sie auf der Wiese aus, sodass sie sich nicht ins Gras setzen mussten. Irritiert musterte Carsten sie, als sie auch Servietten und eine Brotdose mit Kuchenstücken auspackte. „Hattest du das von Anfang an geplant?“ „Klar.“, erwiderte Ariane und reichte Carsten ein Kuchenstück. „Hier, den hab ich vorgestern in HL gemacht. Eigentlich sollte Laura ihn euch schon am Mittwoch mitbringen, aber natürlich hat sie es vergessen. Zum Glück kann Susanne diesen frischhalte-Zauber.“ Mit geröteten Wangen und einem gestotterten ‚Danke‘ nahm Carsten das Stück entgegen. Ariane hatte schon häufiger Kuchen nach dem Hauswirtschaftslehre-Unterricht an die anderen verteilt und jeder war sich einig, dass sie von allen am besten backen konnte. Und es schien ihr auch viel Spaß zu machen. Auch dieser Kuchen war wie immer sehr lecker. „Sag mal… Du backst gerne, oder?“, versuchte Carsten irgendwie ein Gespräch zu starten. „Ja, das stimmt. Einfach so zwischendurch eher weniger, aber wenn Geburtstage oder so anstehen, komme ich gerne mit einem Kuchen dazu. Oder Plätzchen in der Weihnachtszeit…“ Gedankenverloren schaute sie auf ihr Kuchenstück. „Ich habe gerne mit meiner Schwester zusammen gebacken. Wobei… eigentlich saß sie immer nur daneben und hat mit mir gequatscht, während ich alles gemacht habe.“ Traurig lachte sie auf. Betrübt senkte Carsten den Blick. Es war ja klar, dass sein Gesprächsthema wieder zu einer gedrückten Stimmung führen würde. Aber andererseits… Momentan konnte man wohl kaum von Ariane erwarten, über unbeschwerliche Themen zu reden. Nicht, wenn sich ihre Schwester in einer Zelle bei Mars befand… Und eigentlich sollte er selbst zurzeit auch nicht über unbeschwerliche Themen reden können… Wieder kam das schlechte Gewissen. Wieder kam der Gedanke, dass er sich nicht richtig verhielt. Dass er eigentlich traurig sein sollte. Schließlich führte Ariane das Gespräch fort: „Özi hatte erzählt, dass ihr Gotsch und Johannes mit eurer Schwester beim Observationszauber gesehen habt.“ Carsten nickte. „Ja… Sakura scheint momentan ziemlich… schwierig zu sein. Aber ich hoffe, dass sie mit ihnen klarkommt.“ Ariane seufzte. „Wundert mich nicht, wenn sie erfahren hat, dass ihr Vater ermordet wurde…“ Carsten schluckte ein noch nicht gekautes Kuchenstück ganz hinunter. „J-ja… Stimmt…“ Ariane überhörte zum Glück das schlechte Gewissen in seiner Stimme und meinte stattdessen: „Wenn wir schon beim Backen sind: Wie kommt es eigentlich, dass du so gerne und gut kochst?“ „Gut?“ „Richtig gut. Also mir hat es zumindest immer geschmeckt.“ Und wieder färbten sich seine Wangen rot. „Ä-ähm… Also… Im Prinzip hat mir Koja das Kochen früher ein bisschen beigebracht. Und ich habe dann immer gerne was für Benni und Laura gemacht, als wir im Grundschulalter waren. Besonders Laura hatte sich immer so sehr gefreut, wenn ich für sie gekocht habe… Dieses Gefühl, wenn jemand der sonst nur wenig isst sich immer und immer wieder noch etwas aus dem Topf nimmt… Ich kann gar nicht beschreiben, wie schön das ist.“ In Erinnerungen verloren lehnte sich Carsten zurück und schaute in die Ferne. Hatte die kleine Laura vor Augen, die hungrig den dritten Teller belud und anschließend verschlang. Ariane kicherte. „Ich kann es mir gut vorstellen. Laura erwähnt häufig genug in der Mensa, dass sie viel lieber etwas essen würde was du gemacht hast.“ Carsten lachte auf. „Ich kann ja nächstes Schuljahr neben dem Sanitätsdienst auch noch Küchendienst machen.“ „Das geht?!“, fragte Ariane ungläubig. „Klar geht das. Janine hat doch hin und wieder Küchendienst und fehlt deshalb beim Unterricht.“, erwiderte Carsten irritiert. „Echt?!“ Ariane klang noch überraschter. Verwirrt schaute Carsten sie an. „Wusstest du nichts davon?“ Nun gut, da Janine und Carsten nicht in Arianes Klasse waren bekam sie es vielleicht nicht so regelmäßig mit wie die Magier. Aber Carsten hätte schon gedacht, dass Janine den Mädchen davon erzählt hatte. Doch Ariane schüttelte den Kopf. „Gar nichts.“ „Vielleicht hatte sie Angst, dass ihr sie nach dem Grund fragt…“, überlegte Carsten. Auf Arianes fragenden Blick hin erklärte er: „Janine kann doch aufgrund der… speziellen Verhältnisse nicht genug Geld aufbringen, um die Schulgebühren zu bezahlen. Im Prinzip hat die Schule für solche Fälle ein spezielles Stipendium.“ „Hat sie?“, fragte Ariane und klang überrascht und fasziniert zur selben Zeit. „Das ist ja richtig cool! Ich hatte mich schon häufiger gefragt, wie Ninie auf die Coeur-Academy gehen kann, obwohl ihre Familie eigentlich so… so arm ist… Aber ich habe mich nie getraut zu fragen… Weißt du, wie es funktioniert?“ „Natürlich, ich bekomme es selbst.“, antwortete Carsten. „Echt jetzt?!“ Carsten lachte auf. Irgendwie war Ariane mit ihrem überraschten und gleichzeitig faszinierten und interessierten Blick einfach total süß. „Janine, Benni, ich, … Wir alle drei nutzen dieses Angebot. Im Prinzip brauchst du einen entsprechend guten Notenschnitt und musst dich ehrenamtlich irgendwie in der Schule beteiligen. Janine hilft beim Küchendienst, ich bin im Sanitätsdienst und Benni ist in der Schülervertretung und kümmert sich gleichzeitig in den Stallungen um die Einhörner. So bleiben einem die Kosten erspart und je besser dein Notenschnitt ist und je mehr du dich ehrenamtlich engagierst, desto mehr Taschengeld bekommst du auch.“ „Wahnsinn, davon wusste ich nichts.“ „Es wird auch nicht jedem angeboten, sondern nur denen, die nach Ansicht der Direktoren finanzielle Unterstützung brauchen.“ Ariane musterte Carsten irritiert. „Du und Benni?“ „Vergiss nicht, dass Benni bis April noch nicht einmal wusste, wer seine Eltern waren. Er hatte zwar nie hungern müssen, aber Eufelia verdiente nichts und folglich hat er bereits von klein auf gearbeitet. Ich weiß nicht, ob seine Eltern versucht haben ihn über Nicolaus finanziell zu unterstützen. Aber da es nicht zu auffällig sein durfte, werden es wenn, dann nur sehr kleine Beträge gewesen sein. Ohne das Stipendium hätte er niemals die Coeur-Academy besuchen können. Und da der Direktor mich ohnehin unter… besonderen Umständen kennengelernt hat, hat er mir das Stipendium sofort angeboten. Unabhängig davon, aus welcher Familie ich stamme. Ich glaube zwar, dass sie das Schulgeld bezahlt hätten, aber…“ Bedrückt senkte Carsten den Blick. „…Aber was?“, fragte Ariane vorsichtig nach. Er seufzte. „Ich… war irgendwie froh finanziell von ihnen unabhängig sein zu können…“ Auch Ariane seufzte bedrückt. „Irgendwie kann ich das sogar verstehen, wenn die letzte Schule, für die sie bezahlt haben das… ähm… halt diese Schule war…“ Irritiert fragte sich Carsten, warum es Ariane vermied den Namen seiner vorherigen Schule auszusprechen. Hatten Eagle oder Saya den Mädchen etwa irgendwas erzählt?!? Oder hatten sie sie gar in alles eingeweiht, was vorgestern geschehen war?! Zitternd verschränkte Carsten die Arme vor der Brust. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass sie davon wussten. Es war ihm schon unangenehm genug, dass inzwischen bereits Eagle und Saya es erfahren hatten. Dass sie miterleben mussten, was für Auswirkungen diese Zeit auf Carsten hatte… „…Wie lange warst du nochmal dort?“, fragte Ariane zögernd. „Sechs Jahre…“ Bedrückt atmete sie aus. „Das ist wirklich lang…“ Carsten senkte den Blick. Zitterte immer noch, obwohl es eigentlich angenehm mild war. Plötzlich klopfte Ariane ihm auf die Schulter. „Hey, du hast es überstanden! Ist das nicht die Hauptsache? Und über diesen Weg hast du es auch auf die Coeur-Academy geschafft. Wer weiß, vielleicht hätten wir uns ansonsten nie kennengelernt.“ Als Carsten bei Arianes optimistischem Ton aufschaute, stellte er fest, dass ihr Gesicht relativ nah an seinem eigenen war. Sofort schlug ihm das Herz bis zum Hals. Nun gut, wenn man es genau nahm, war schon noch recht viel Abstand zwischen ihnen. Aber nicht so viel wie sonst. Und das reichte schon aus, damit Carsten erneut die Röte in den Kopf stieg. Trotzdem musste er bei ihren Worten lächeln. „Ja, das hätte sein können…“ Eigentlich müsste er jetzt endlich den nächsten Schritt wagen. Alles in Carsten schrie, dass dies die perfekte Gelegenheit war. Er wollte sie ja nicht direkt küssen, das wäre viel zu unhöflich und würde Ariane nur überrumpeln. Nur eine Umarmung. Ein paar Worte. Das würde schon ausreichen! Doch Carsten brachte kein Wort über die Lippen. Schaffte es nicht, auch nur einen einzigen Muskel zu bewegen. Schließlich vergrößerte sich der Abstand zwischen ihnen wieder, als Ariane sich ein weiteres Kuchenstück aus der Brotbox holte. Bedrückt atmete Carsten aus. Er war so ein gutmütiger Trottel. „Aber ich finde es trotzdem richtig schön, dass die Schule so etwas anbietet.“, kehrte sie zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. „Besonders, da sie ja offensichtlich einigen damit helfen kann.“ Carsten schaffte es lediglich, daraufhin zu nicken. So ein verdammter gutmütiger Trottel. Während Ariane das nächste Stück aß, schaute sie auf den See hinaus. Carsten verfluchte sich derweil immer noch selbst, die Gelegenheit nicht ergriffen zu haben. Warum fiel ihm das so schwer?! „Warst du schon mal Eislaufen?“, fragte Ariane plötzlich. Überrascht blickte Carsten auf. „Ja, häufig. Wie kommst du denn darauf?“ Ariane seufzte und klang wieder bedrückter. „Ich musste gerade einfach daran denken. Bis zu meiner Einschulung in der Coeur-Academy war ich immer mit Gotsch Schlittschuhlaufen. Wir haben sogar gemeinsam einige Eiskunstlaufkurse besucht. Sie hatte mir damals die Hölle heiß gemacht, als das durch die Coeur-Academy nicht mehr ging… Jetzt bereue ich es, damit aufgehört zu haben…“ Bedrückt beobachtete Carsten, wie sich Ariane mit der Hand über die Augen wischte. „Jetzt würde die Saison wieder losgehen…“, meinte sie trostlos. „Und meine Schwester würde sich im Internet alle Wettkämpfe anschauen und von ihrem Lieblings-Eiskunstläufer schwärmen…“ Ariane schluchzte und wischte sich weitere Tränen aus dem Gesicht. Zögernd verringerte Carsten den Abstand zwischen ihnen. Mehr brauchte er nicht zu machen, denn Ariane lehnte sich sofort gegen ihn und klammerte sich an seine Jeansjacke. „Ich habe so eine Angst um sie…“ Mit einem stechenden Gefühl im Herzen legte Carsten die Arme um Arianes Schultern und fragte sich, wie häufig sie in letzter Zeit schon wegen ihrer Schwester geweint hatte. Plötzlich erinnerte er sich an Jacks Kommentar während des letzten Observationszaubers. Wenn Benni für Sakura ‚den Kopf hinhielt‘, damit man sie am Leben ließ… Galt dann auch dasselbe für Johanna?! Doch, das war definitiv der Fall. Carsten war sich hundertprozentig sicher. Johannes war als Dämonenbesitzer wahrscheinlich in Sicherheit, aber Johanna und Sakura waren nur am Leben, weil Benni sie vor Mars beschützte. Weil er für sie den Kopf hinhielt. Um zu verhindern, dass ihnen dasselbe widerfuhr, wie seinem Großvater… Zitternd verstärkte er den Griff um Ariane, die sich immer noch schluchzend an ihn klammerte. „Wir werden sie da rausholen.“, versuchte er irgendwie tröstend auf Ariane einzureden. „Johanna, Sakura, Johannes, … Benni… Wir werden alle da rausholen.“ Diese nickte weinend. „Wir müssen.“ Während Carsten Ariane weiter im Arm hielt kam er zu dem Entschluss, dass es besser wäre ihr zu verschweigen, wie gefährlich die Situation für Johanna eigentlich war. Sie musste jetzt schon genug durchstehen. Damit würde er es nur noch schlimmer machen. Carsten überlegte verzweifelt, wie er sie irgendwie aufheitern konnte. Wie er ihr einen kleinen Funken Hoffnung geben könnte… Doch momentan schien alles so hoffnungslos… „Hör mal…“, setzte Carsten stockend an, „Wenn… wenn Johanna wieder da ist, dann können wir doch alle gemeinsam Schlittschuhlaufen gehen.“ Was rede ich denn da für einen Mist?! „Selbst, wenn es noch nicht so kalt ist, ich… ich kann uns ja einfach einen See einfrieren.“ Verdammt, sei still! Ariane kicherte. „Das würdest du machen?“ Toll gemacht. Verdammter gutmütiger Trottel., fuhr sich Carsten in Gedanken an. Doch sein Mundwerk hörte trotzdem nicht auf seinen Kopf. „Natürlich!“, antwortete er prompt. Lächelnd löste sich Ariane aus der Umarmung und erwiderte seinen Blick. „Das ist echt süß von dir.“ Carsten brachte daraufhin nur ein verlegenes Lachen über die Lippen. Oh Gott, wieso musste er sich in ihrer Gegenwart immer nur so peinlich verhalten? Wieso konnte er sich nicht ein einziges Mal zusammenreißen?!? Ariane betrachtete Carsten einen Moment, was ihn noch verlegener machte. Schließlich meinte sie: „Ich find die Idee wirklich schön. Weißt du was, wenn alles vorbei ist sollten wir tatsächlich mal Eislaufen gehen.“ Verunsichert lächelte Carsten. „Wobei ich nicht weiß, ob wir Laura in Schlittschuhe bekommen können. Als Kind ist sie mal im Teich eingebrochen und traut sich seitdem nicht mehr aufs Eis.“ Belustigt zuckte Ariane mit den Schultern. „Irgendwie überrascht mich das nicht. Aber die anderen müssen ja nicht unbedingt mitkommen. Lissi und Anne nerven eh nur ständig rum und eigentlich wäre ein Tag ohne den ganzen Rest auch mal ganz schön.“ Carstens Herzschlag beschleunigte sich. Hatte er Ariane da richtig verstanden? Meinte sie damit, dass sie nur mit ihm Schlittschuhlaufen gehen wollte? Nur sie beide? Zu zweit?! „Ähm… gerne…“, druckste er überfordert. Ariane schien zwar immer noch bedrückt, doch trotzdem warf sie ihm ihr strahlendes Lächeln zu. „Aber erstmal solltest du wieder gesund werden. … Willst du noch ein Stück Kuchen?“ „G-gerne…“, widerholte Carsten sich stotternd, immer noch völlig aus der Bahn geworfen. Ariane wollte sich der Brotdose zu wenden, wich allerdings plötzlich zurück. Verwirrt schaute Carsten in die Richtung, in die auch Ariane blickte. Und begab sich instinktiv in Abwehrhaltung. Mit ruhigen Schritten kam Jack auf sie zu und blieb wenige Meter von ihnen entfernt stehen. „‘N Abend.“ „Was willst du?“, fragte Ariane. Der feindselige Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Sorry, ich wollte euer Date nicht unterbrechen.“, kommentierte Jack, woraufhin Carsten noch verlegener wurde. Doch Jack nahm keine Notiz davon und hielt stattdessen eine kleine Papiertüte hoch. „Ich sollte nur einen Botengang machen.“ Kritisch richtete sich Carsten auf, doch Ariane packte seinen Arm. „Carsten, halt dich fern von ihm!“ Immer noch mit pochendem Herzen legte Carsten seine Hand auf Arianes Schulter. „Es ist schon okay, ich-“ „Nichts ist okay! Carsten, der Typ hat deinen Vater-“ Stockend hielt sie inne. „Und… und dich hätte er damals auch schon fast…“ Sie verstärkte ihren Griff. Jack seufzte. „Glaub mir, ich hätte auch lieber Benni den Botenjungen spielen lassen. Aber wie ihr euch sicher vorstellen könnt, ist das keine gute Idee.“ Irritiert hielt Carsten inne. Hatte Jack Benni eigentlich schon immer bei dessen Spitznamen genannt? Letztens beim Observationszauber war das auch schon so gewesen, doch Carsten war sich ziemlich sicher, dass Jack am Anfang Bennis vollen Namen benutzt hatte. Vorsichtig befreite sich Carsten aus Arianes Griff und ging zu Jack rüber. Dennoch hielt er genug Abstand, um notfalls auf einen Angriff reagieren zu können. Carsten wusste einfach nicht, wie er von Jack denken sollte. Ariane hatte Recht, er hatte schon so viel Schaden angerichtet. Er war für den Tod von Nicolaus verantwortlich, hatte Carsten selbst bereits lebensgefährlich verwundet und nun musste Eagle viel zu früh in die Fußstapfen seines Vaters treten… Und dennoch… Nach alldem was passiert war, hatte Carsten trotzdem den Eindruck Jack vertrauen zu können. Vorsichtig streckte er die Hand aus und Jack reichte ihm die Tüte. Als Carsten ihren Inhalt herausnahm stellte er fest, dass es sich um schwarze, zu einem Zopf geflochtene Haare handelte. „Morgen ist es soweit, nicht wahr?“, vergewisserte sich Jack. Carsten nickte und betrachtete immer noch Sakuras Haare. „…Danke.“ „Nichts zu danken. Ich bin nur froh, dass sie dadurch zumindest etwas Ruhe gegeben hat.“ Inzwischen war auch Ariane zu ihnen rübergekommen und betrachtete Jack kritisch. „Wehe unseren Geschwistern stößt irgendetwas zu. Ansonsten-“ Jack seufzte. „Jaaa, jaaa, ich weiß schon. Spar dir deine Drohungen.“ Carstens Hand begann zu zittern und die Papiertüte knitterte unter seinem Griff. Erneut erinnerte er sich an Jacks Kommentar über Benni bei dem Observationszauber. Und nicht nur das… Ohne es zu wollen schoss ihm die Schwachstelle des Banns durch den Kopf. Dass Mars ihn brechen könnte, wenn er Benni zu seinem Dämonenbesitzer machen würde… Verbissen schaute Carsten Jack in die grasgrünen Augen und meinte schließlich mit zitternder Stimme: „Jack, bitte… Pass auf Benni auf…“ Kurz erwiderte Jack seinen Blick. „Mach ich.“ Anschließend drehte er sich um und ging. Benommen schaute Carsten ihm hinterher, bis er in dem orange-schwarz lodernden Portal verschwunden war. Anschließend setzte er sich wieder auf die Decke, nicht wissend, was er denken sollte. Ariane folgte ihm verwirrt. „Was ist? Was hat er gesagt?“ Erst jetzt bemerkte Carsten, dass Jacks letzten Worte auf Deutsch gewesen sind. Er betrachtete Sakuras Zopf, den er immer noch in der Hand hielt. „Es scheint doch nicht alles so hoffnungslos wie wir denken…“ Immer noch irritiert setzte sich Ariane neben ihn. „Wie meinst du das?“ Carsten blickte zu der Stelle, an der Jack vor kurzem verschwunden war. „Es könnte gut sein, dass wir einen unerwarteten Verbündeten bekommen haben.“ Erst als die Sonne beinahe hinterm Horizont verschwunden war, kehrten Carsten und Ariane zurück, wo sie bereits von Eagle, Öznur und Saya am Essenstisch empfangen wurden. Öznur grinste. „Ihr wart aber ganz schön lange unterwegs.“ Beschämt wich Carsten ihrem amüsierten Blick aus und setzte sich neben seinen großen Bruder auf den freien Stuhl, während Ariane ihm gegenüber Platz nahm. „Wo ist Laura? Ich dachte, sie kommt auch wieder, um zu helfen.“, erkundigte sich Carsten irritiert. Saya schüttelte den Kopf. „Sie übt für morgen.“ Ariane kicherte. „Sie war ja auch schon den ganzen Vormittag über total nervös.“ „Was habt ihr denn ansonsten noch geplant?“, erkundigte sich Carsten neugierig, doch Saya winkte ab. „Lass dich überraschen.“ Unauffällig deutete sie auf Eagle, der schweigend sein Essen betrachtete ohne überhaupt die Intention zu besitzen, es auch nur anzurühren. „…Bist du sehr nervös?“, fragte Ariane vorsichtig. Da Eagle nicht darauf reagierte, antwortete schließlich Saya: „Er verhält sich schon so, seit er von dem Training gekommen ist.“ Besorgt legte Öznur ihre Hand auf Eagles Arm. „Das wird schon mit morgen. Du schaffst das.“ Das Geschirr klapperte, als Eagle den Stuhl zurückschob und verärgert schnaubend aufstand. „Leckt mich doch am Arsch.“, meinte er nur und verließ die Küche. Kurz darauf fiel laut krachend die Haustür in die Angeln. Eine Weile lang herrschte Schweigen, bis Öznur bedrückt ausatmete. „Er ist noch gereizter als letztes Wochenende…“ „Wer kann es ihm verübeln…“, erwiderte Ariane und senkte den Blick. Saya schaute Carsten fragend an. „Denkst du, du könntest versuchen mit ihm zu reden? Weder mit mir noch mit Öznur hat er auch nur ein Wort wechseln wollen.“ Seufzend fuhr sich Carsten über die Narben auf seiner Nase. „Worüber soll er dann mit ausgerechnet mir noch reden? Es ist doch offensichtlich, dass er Angst vor morgen hat.“ „Trotzdem, vielleicht kannst du ihm ja irgendwie helfen!“ Flehend schaute Öznur ihn an. Die Sorge um ihren Freund war nicht übersehbar. Sich geschlagen gebend richtete Carsten sich auf. „Ich kann es zumindest versuchen…“ Noch während auch er die Küche verließ rief seine Stiefmutter ihm hinterher: „Zieh eine Jacke an, du bist immer noch erkältet.“ „Ja, mach ich.“ Carsten schloss die Haustür hinter sich und schlüpfte in eine etwas wärmere Sweatjacke, als der kalte Wind ihn frösteln ließ. Zögernd ging er die Stufen vor dem Haus hinunter und fragte sich, wo Eagle wohl hingegangen sein könnte. Carsten schaute in Richtung Wald, wohin er sich neulich erst selbst geflüchtet hatte. Doch schließlich folgte er dem entgegengesetzten Weg, auf den Stadtkern zu. Derselbe Weg, den er heute Mittag bereits mit Ariane entlangspaziert war. Die Erinnerung daran ließ Carstens Herz wieder schneller schlagen. Während er seinen Weg fortsetzte überlegte er, ob er Arianes Frage nach einer Verabredung vorhin tatsächlich richtig verstanden hatte. Ob sie wirklich nur mit ihm Schlittschuhlaufen gehen wollte. Nur sie beide. Zu zweit. Schließlich erreichte Carsten den zentralen Platz und das erste was ihm auffiel war, dass der Wind schlagartig aufhörte zu wehen. Es schien als würde kein einziges Lüftchen es auch nur wagen sich zu rühren. Carsten betrachtete den Ort, der beinahe wie leergefegt schien. In der Mitte stand immer noch der Marterpfahl und zu dessen Füßen befand sich immer noch das Podest mit Chiefs leblosem Körper und all den Blumen und Federn. Mehrere Meter davor saß Eagle im Schneidersitz und schaute ausdruckslos auf den grauen Adler, welcher an der Spitze des Pfahls thronte. Zögernd ging Carsten zu seinem großen Bruder rüber und setzte sich neben ihn. Nach einer Weile fragte Eagle plötzlich: „Du kennst dich nicht zufälligerweise mit Zeitreisen aus?“ Carsten schüttelte den Kopf. Eagle seufzte. „Es wäre auch zu schön gewesen.“ Wieder breitete sich ein gefühlt ewiges Schweigen aus. Und erneut war es Eagle, der dieses Schweigen brach. „Wusstest du, dass unser Großvater mein Vorgänger war?“ „Du meinst Chiefs Vater, Amar?“ Einen Moment lang hielt Eagle inne, doch schließlich nickte er. „Damals hatte der Graue Adler anscheinend schon angekündigt, dass ich der nächste Dämonenbesitzer werden sollte. Deshalb kam Mutter wohl auch auf die Idee mich Eagle zu nennen.“ „Woher weißt du das?“ „Saya hatte es mir neulich erzählt.“ Carsten betrachtete seinen großen Bruder nachdenklich. Es war immer noch ungewohnt, Eagle mit so kurzen Haaren zu sehen. Aber andererseits fand Carsten seine eigene Haarlänge auch nach wie vor unangenehm… Sie weckte ständig Erinnerungen. Grausame Erinnerungen an eine fürchterliche Zeit… Eagle erwiderte seinen Blick. „Was ist?“ „Hast… hast du den Mädchen irgendetwas erzählt? Von… neulich?“, fragte Carsten mit schwacher Stimme. Geräuschvoll atmete Eagle aus. „Ich hatte ja schon immer gedacht Benni sei verschlossen. Aber nach den letzten Tagen… Da glaube ich irgendwie, dass du sogar ihn übertriffst.“ Verunsichert senkte Carsten den Blick. Vor einiger Zeit hatte Benni mal etwas ganz Ähnliches zu ihm gesagt… „Als du diesen Albtraum hattest… Öznur hatte das auch mitbekommen.“, fuhr Eagle schließlich fort. „Vorgestern hat sie mich dann ausgefragt, ob ich mit dir darüber geredet habe und wie es dir geht. Falls du es genau wissen willst, ich habe nur gemeint, dass du wohl noch etwas Zeit brauchst um das zu verarbeiten. Und dass du alles andere als gerne darüber redest. Wahrscheinlich hat sie das dann auch dem Rest der Mädchen erzählt.“ Carsten atmete auf. Eagle schnaubte. „Ich bin immer noch der Meinung, du solltest dir Hilfe holen. Aber Saya meint, dass das rein gar nichts bringt, wenn du das nicht von dir aus möchtest.“ „Ich… ich komme schon zurecht.“ Nervös zupfte Carsten an seinem Haargummi, den er eigentlich gar nicht mehr brauchte und nur aus Gewohnheit noch am Handgelenk trug. „Wie du schon sagtest, ich brauche einfach noch etwas Zeit…“ Bedrückt atmete Eagle aus, erwiderte aber nichts mehr darauf. Stattdessen fragte er: „Hat zumindest dein Date mit Ariane dich auf bessere Gedanken bringen können?“ Sofort wurde Carstens Gesicht wieder tiefrot. „Das war kein Date.“ „Da wird dein restlicher Freundeskreis aber was ganz anderes behaupten.“, erwiderte Eagle und klang leicht amüsiert. „Und? Was war nun?“, fügte er hinzu und wirkte tatsächlich etwas neugierig. „Ähm… Also…“, stammelte Carsten und wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. „Sie… ähm… mag anscheinend Schlittschuhlaufen…“ „Klingt doch gar nicht mal schlecht, das hast du früher auch gerne gemacht, oder?“, kommentierte Eagle. „J-ja, schon… Aber… Ähm… Ich bin inzwischen sicherlich total aus der Übung und…“ Verwirrt musterte Eagle ihn. „Was druckst du denn so herum? Es ist ja nicht so, als hättet ihr direkt ein Date zum Schlittschuhlaufen ausgemacht, oder?“ Carsten schluckte schwer. Eagle hob eine Augenbraue. „Nicht dein Ernst.“ „Wenn… Wenn jemand meint es sei schön einen Tag ohne den ganzen Rest zu verbringen dann… ähm… ist das dann direkt ein Date?“ Eagle lachte leise auf und klopfte Carsten auf die Schulter. „Du bist wirklich schmerzhaft unschuldig. In dieser Formulierung klingt mir das definitiv danach.“ Carstens Wangen fühlten sich kochend heiß an. Also hatte Ariane das wirklich so gemeint?! „Hey, du kannst dich glücklich schätzen, dass zumindest sie endlich mal die Initiative ergreift. Von dir kann man ja offensichtlich nichts erwarten.“, meinte Eagle und verdrehte die Augen. „Du solltest dringend was gegen diese übertriebene Schüchternheit machen.“ Carsten wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Eagle hatte ja Recht, seine Schüchternheit brachte schon ihn selbst allmählich um den Verstand. Doch etwas dagegen machen? Das war leichter gesagt als getan. Wie sollte er das bitteschön anstellen? Wieder breitete sich das Schweigen aus, doch dieses Mal war es Carsten, der es brach: „Hast du… dir bereits überlegt, was du morgen sagen wirst?“ Er merkte, wie sich Eagle verspannte und ein kalter Wind durch seine kurzen Haare fuhr. „Ja, hab ich.“ „Hast du ein Problem damit, wenn ich es mir nachher mal durchlese?“ „Willst du dich in alles was ich mache einmischen?“, fragte Eagle schroff. „N-nein!“, widersprach Carsten hastig. „Es interessiert mich nur.“ Sein großer Bruder warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Halt dich doch einfach mal da raus. Abgesehen davon gibt es nichts zu lesen, ich hab mir nur über einige Punkte Gedanken gemacht. Und wehe ich soll dir jetzt davon erzählen.“ Für einen Moment betrachtete Carsten seinen großen Bruder. „Wieso bist du eigentlich hierher gekommen, wenn du offensichtlich nicht an morgen denken möchtest?“ „Aus ‘ner Kneipe hättet ihr mich doch sofort wieder rausgezerrt.“ „Trotzdem…“ Carsten schaute zu dem Podest mit dem Leichnam ihres Vaters. „Warum gerade dieser Ort?“ Bedrückt seufzte Eagle. „Keine Ahnung.“ Er stand auf und ging zu dem hölzernen Konstrukt. Zögernd folgte Carsten ihm und beobachtete, wie er seinen Vater betrachtete. Eagles Kiefermuskulatur verspannte sich und Carsten war sich nicht sicher, ob er vor Zorn oder Trauer die zitternden Hände zu Fäusten ballte. „Alle sagen, er sieht so aus als würde er nur schlafen.“ Der verbitterte Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Ich hab keine Ahnung, wie sie so etwas behaupten können. Auf mich wirkt das kein bisschen so. Er bewegt sich nicht, er atmet nicht… Er liegt einfach nur da wie eine Statue… Als… bestünde er aus totem Stein…“ Stockend streckte Eagle seinen Arm aus, als wolle er die Hand seines Vaters nehmen. Seine Finger bebten. Zitternd atmete Eagle aus und berührte vorsichtig Chiefs Handrücken. Erneut fiel Carsten auf, wie windstill es momentan war. Schaudernd verschränkte er die Arme. Trotz seiner Jacke fühlte es sich eisig an. „Er ist auch genauso kalt…“, meinte Eagle gedrückt und nahm die Hand seines Vaters schließlich ganz in die seine. Während Carsten weiterhin beobachtete, wie Eagle Chiefs Hand hielt, fragte er sich, was wohl momentan im Kopf seines großen Bruders vorging. War er traurig oder wütend? Verwirrt oder verzweifelt? Wollte er weiterkämpfen oder einfach aufgeben? Wahrscheinlich war es alles und nichts gleichzeitig. Zitternd atmete Eagle aus und drückte die Hand seines Vaters noch einmal kurz, bevor er sie losließ. Schließlich erwiderte er Carstens Blick. „Lass uns zurückgehen, bevor deine Erkältung wieder schlimmer wird.“ „Eagle-“, setzte Carsten an, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Stattdessen zwang ihn seine Erkältung zu einem Husten. Sein großer Bruder warf ihm ein schwaches, freudloses Lächeln zu. „Es ist schon okay. Und jetzt komm, du bist immer noch krank.“ Sie machten sich gemeinsam auf den Rückweg, doch Eagle warf trotzdem einen letzten Blick über die Schulter. Betrachtete ein letztes Mal seinen Vater. „Morgen also…“ Kapitel 67: Bewährungsprobe ---------------------------  Bewährungsprobe       Gedankenverloren schaute Carsten in den Sonnenuntergang. Er hatte den Herbst schon immer geliebt. Und nachdem er sechs Jahre lang nur von Grau umgeben war, war ihm so als würde er die Farbenpracht dieser Jahreszeit nun zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Die roten, gelben und teils auch grünen Blätter der Bäume wurden in das warme Orange der Sonne getaucht und warfen lange Schatten auf die braunen Felder und grünen Wiesen. Die Wolken schienen zu leuchten und das strahlende Blau des Himmels ging in einen sanften gelb-orange-Ton über. „Wunderschön, nicht wahr?“, hörte er Laura sagen, die sich neben ihn auf das hölzerne Podest setzte. Er nickte. „Auch, wenn es gar nicht zu der eigentlichen Atmosphäre passt…“, ergänzte sie und seufzte. Carsten warf einen Blick zur Seite und beobachtete, wie sich Laura eine Strähne aus dem Gesicht strich. Seine Lippen formten sich zu einem schwachen Lächeln. Nicht nur die Landschaft war wunderschön. Lauras langen Haare waren eindrucksvoll hochgesteckt und wirkten bei diesem Sonnenuntergang feurig rot. Sie bildeten einen starken Kontrast zu ihrem hellgrünen Kimono mit dem roten Obi. Insgesamt passte Laura perfekt in dieses herbstliche Szenario. „Es ist ungewohnt, dich mal nicht in schwarzer Kleidung zu sehen.“, meinte er. „Aber grün steht dir auch sehr gut.“ Lauras Wangen nahmen einen leicht rötlichen Ton an. „Ich finde es trotzdem seltsam…“ „Und nachher tanzt du auch noch…“ Nachdenklich und auch leicht amüsiert verschränkte Carsten die Arme vor der Brust. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass Benni die Krise bekommt, dich nur im Fernsehen und nicht aus der Nähe sehen zu können.“ Lauras Gesicht wurden noch roter. „Musstest du mich daran erinnern?“ „An was? Benni oder das Tanzen?“ „Mann, Carsten!“ Beschämt wich sie seinem Blick aus. „…Beides…“ „…Bist du sehr aufgeregt?“ Sie atmete tief durch und schaute ihm schließlich wieder in die Augen. „Du etwa nicht?“ „… Doch, natürlich.“ Carsten betrachtete seinen Vater, der immer noch auf dem hölzernen Podest mit all den Blumen und Federn lag. Allmählich senkte sich die untergehende Sonne zu ihm hinab und verlieh seinem Körper einen rötlichen Glanz. Und bald würde das rote Leuchten ein anderes sein… Das Lodern der Flammen. Carsten versuchte den Gedanken daran zu verdrängen, jedoch ohne Erfolg. „… Und Eagle?“, erkundigte sich Laura schließlich zögernd. „Er kann keine Sekunde stillhalten und ist immer noch extrem gereizt. Koja wird für seine Indigonerbemalung wahrscheinlich ewig brauchen.“ „Wenn sie so krass wie bei dir ist, dann definitiv.“, kommentierte Laura die unzähligen weißen Muster auf seiner linken Gesichts- und Körperhälfte. „Aber dafür steht dir diese typische Indigonertracht richtig gut. Nur die kurzen Haare sind immer noch seltsam…“ Freudlos lachte Carsten auf. „Ich habe mich selbst noch nicht daran gewöhnt… Und werde es wahrscheinlich auch nie.“ Er versuchte das verwundbare Gefühl zu ignorieren, als ein kalter Windstoß seinen freien Nacken streifte. Doch auch das gelang nicht. Carsten spürte Lauras warme Hand in der Nähe seines Halses, als sie über eine der zwei Federn strich die in seinem Haar befestigt waren. Derweil ließ er seinen Blick über den sich immer mehr füllenden Platz vor der Bühne streifen. Es schien als sei die gesamte Bevölkerung Kariberas gekommen und unzählige Indigoner von anderen Stämmen, die alleine für den heutigen Tag angereist waren. Sie alle wollten die Bestattung des alten Häuptlings sehen. … Und den Amtsantritt des neuen. Eagles Amtsantritt. Carsten schauderte und betrachtete die Stammesoberhäupter, die Chief am nächsten saßen und sich mit gedämpften Stimmen unterhielten. Er wollte die Gesprächsthemen gar nicht erst wissen. Mittig in den ersten Reihen befanden sich die geladenen Gäste aus den anderen Regionen. Unter ihnen Lauras und Bennis Eltern, sowie Anne mit ihrer Mutter Sultana. Auch Anne trug die für Dessert traditionelle Tracht und Carsten war überrascht, wie elegant sie wirken konnte, wenn sie sich entsprechend ihres Standes kleidete. Für einen Moment erwiderte sie Carstens Blick und warf ihm ein leicht spöttisches und gleichzeitig genervtes Lächeln zu. Offensichtlich fühlte sie sich in dieser Kluft nicht sonderlich wohl. Auch Florian und die Königsfamilie der Elben waren anwesend, sowie weitere Vertreter aus nahezu allen anderen Regionen in Ausnahme von Mur und Spirit. Mur war selbsterklärend. Und die Vampire hatten laut Sisikas Notizen noch nie bei einer Krönungszeremonie von Indigo beigewohnt. Carsten blickte in die untergehende Sonne. Verwundert war er nicht. Die Personen die sich Carsten am nächsten befanden waren Familienmitglieder und Freunde, die nicht zu den Stammesoberhäuptern oder Volksvertretern der anderen Regionen gehörten. Ganz vorne saß Saya, die Carsten bedrückt zulächelte. Außerdem noch Eagles Freundeskreis und die restlichen Mädchen aus der Coeur-Academy. Eine Zeit lang blieb Carstens Blick an Ariane haften. Obwohl die strahlende Atmosphäre, die sie sonst immer umgab, seit dem Vorfall mit ihrer Schwester stark gedämpft war, verblassten die Strahlen der Sonne neben ihr noch immer. Carsten fragte sich, wie viel dieses Lichtes von ihrer Energie und wie viel von ihrer Persönlichkeit kam. War es wirklich einfach nur ihr Lächeln, was in seinem Herzen diese Wärme auslöste? Hatte sie diese Wirkung auch auf andere oder nur auf ihn? Nervös wandte sich Carsten ab und versuchte sein pochendes Herz zu ignorieren. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass sie mit ihm Schlittschuhlaufen gehen wollte. Nur sie beide. Zu zweit. Eine… Verabredung. Carsten seufzte. So aus der Übung und aufgeregt wie er war, würde er wahrscheinlich direkt ausrutschen und auf die Nase fallen. Er würde sich sofort vor ihr blamieren. … Mal wieder. Lauras Kichern ließ ihn hochschrecken. „Was ist?“ Sie winkte ab. „Nichts, nichts. Es ist nur… Egal wie eindrucksvoll du in deiner Stammesmagier-Tracht auch wirken magst, du bist einfach super süß.“ „… Ist das deine Rache dafür, dass wir dich sonst immer gerne wegen Benni aufgezogen haben?“, fragte Carsten beschämt. „Unsinn, es ist einfach so.“ Sie warf einen Blick über die Schulter und ihr Ton wurde besorgniserregend ernst. „… Es geht los…“ Nun schaute auch Carsten hinter sich. Koja kam gemeinsam mit Eagle und Öznur auf sie zu. Eagles Gesicht und sein Oberkörper war mit weißen und dunkelroten Mustern verziert, die zwar sehr schlicht, aber dafür umso herrschaftlicher wirkten. Seine Mimik schien wie aus Stein gemeißelt. Carsten fragte sich, was gerade im Kopf seines großen Bruders vorging. Wie er sich wohl fühlen musste. Ein Blick auf die Hand, mit welcher er verkrampft die von Öznur hielt, zeigte wahrscheinlich nur einen kleinen Teil von Eagles Anspannung. Ließ nur ein bisschen erahnen, wie groß die Last war, die er auf seinen Schultern trug. Die ihn zu erdrücken drohte. Tiefe, regelmäßige Paukenschläge ertönten. Laura sprang vom Holzpodest herunter und drückte Carsten noch einmal kurz an sich. Sie flüsterte ihm auf Japanisch ‚Du schaffst das‘ zu, ehe sie zu ihrem Platz zwischen ihren und Bennis Eltern zurückkehrte. Zeitgleich hatte wohl auch Öznur Eagle viel Glück gewünscht und war nun bei Ariane und den anderen Mädchen der Coeur-Academy. Auch Carsten verließ seinen ursprünglichen Platz und setzte sich neben Saya. Allmählich ebbten die Gespräche der Gäste ab und alle Aufmerksamkeit richtete sich auf den angehenden Häuptling und die Stammesälteste, welche das Podest betraten, auf dessen Rand vor kurzem noch Carsten gesessen hatte. Nach und nach wurden die Paukenschläge schneller und ebenso beschleunigte sich Carstens Puls. Obwohl er sich wegen der Erkältung mit einem Wärmezauber ausgestattet hatte, begann sein Körper zu zittern. Und dabei war es sogar komplett windstill, wie er überrascht feststellte. Es wehte kein noch so kleines Lüftchen. Genauso wie gestern Abend… Nachdenklich betrachtete er Eagle, doch sein großer Bruder starrte einfach nur schweigend geradeaus auf Chiefs Leiche. In seinen Augen brannte eine einzige Frage: ‚Warum tust du mir das an?‘ Verbissen ballte Carsten die Hände zu Fäusten. Gab es denn nichts, was er machen konnte um Eagle diese Situation zu erleichtern? Gar nichts? Noch nicht einmal irgendeine Kleinigkeit? Er spürte, wie Saya ihre Hand auf seine legte. Auch sie hatte Angst. Auch ihre Anspannung konnte man fühlen. Carsten beobachtete wie Eagle im Schneidersitz platznahm, während Koja von der Empore auf die Hauptbühne trat. Nachdem der letzte Paukenschlag verklungen war, murmelte Carsten leise einige Sätze auf Dryadisch. Ein Zauber, der es jedem ermöglichte ihre Worte zu verstehen, selbst wenn man kein Indigonisch beherrschte. Und ein weiterer Zauber, der ein großes Ebenbild von Koja in die Luft hinter ihr projizierte, als befände sich dort eine gewaltige Leinwand. „Ich heiße euch alle herzlich willkommen.“, begann sie mit ruhiger und trotzdem von Macht erfüllter Stimme zu sprechen, welche selbst ohne Mikrofon problemlos über den gesamten Platz hallte. „Und möchte mich im Namen Indigos für euer zahlreiches Erscheinen bedanken.“ Schweigend hörte er Koja zu, wie sie begann die Situation zu schildern. Wie sie das erzählte, wovon die Medien bereits all die Zeit berichtet hatten. Chiefs gewaltsamer Tod, die Trauer und Bestürzung des gesamten Volkes und nicht zuletzt das Erbe, was der Häuptling nun seinem ältesten Sohn hinterließ. Anschließend verließ sie die Bühne mit einer höflichen Verneigung vor Chiefs Leichnam und überließ sie den fünf Stammesoberhäuptern der größten Städte Indigos, welche nacheinander die Bühne betraten und sich ebenfalls vor ihm verneigten. Nun begannen auch die Stammesoberhäupter zu erzählen. Überhäuften ihren ehemaligen Häuptling mit Lobpreisungen für seine Taten und seine Stärke. Carsten konnte regelrecht spüren, wie sich Eagle in seiner Nähe immer mehr und mehr verspannte. Wie der mentale Druck ihm das Atmen erschwerte. Mussten die Typen es ihm noch schwerer machen, als es ohnehin schon war?!? Natürlich gehörte es zum guten Ton, die Taten des ehemaligen Häuptlings zu lobpreisen. Doch sie verehrten ihn schon so sehr als sei er ein Heiliger. Beinahe als wollten sie Eagle wissen lassen, wie schwer er es ab sofort haben würde. Wie groß die Fußstapfen waren, in die er nun treten musste. Carsten biss die Zähne zusammen und überlegte erneut, ob er irgendetwas machen konnte. Doch wieder blieb er ohne Ideen. Hatte den Eindruck komplett machtlos zu sein. Ihm blieb nichts anderes übrig als stillschweigend zu hoffen, dass es bald vorbei sein würde. Nachdem die Reden der Stammesoberhäupter endlich geendet hatten, kam Koja wieder auf die Bühne und leitete den bedrückendsten Teil der Feierlichkeiten ein: „So lasst uns Abschied nehmen von unserem Häuptling. Möge er frei sein wie der Wind und den Weg zu seinen Vorvätern finden, auf das wir eines Tages wieder mit ihm vereint sein können.“ Sie warf Carsten einen Seitenblick zu, welcher sagte, dass nun er an der Reihe sei. Carsten atmete tief durch und richtete sich auf. Versuchte zu ignorieren, dass nun alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war. Er hasste es im Mittelpunkt zu stehen. Er hasste es, wenn alle ihn musterten und jede noch so bedeutungslose Kleinigkeit zu untersuchen schienen. Er fühlte sich dann wie ein Tier im Zirkus, von dem irgendwelche tollen Kunststücke erwartet wurden. Wie bereits Koja und die Stammesältesten, betrat Carsten die Bühne und verneigte sich vor dem Häuptling. Er hatte seine Leiche nun schon häufig genug gesehen. Und kein einziges Mal hatte ihn dies sonderlich aufgewühlt. Noch nicht einmal vor einer Woche, als er ihn auf dem Feld liegen sah, mit leeren Augen, das Hemd rot von seinem eigenen Blut… Und trotzdem… Keine Trauer. Weder positive noch negative Emotionen. Nichts. Bis auf die Sorge um den Rest seiner Familie… Nur dieses Mal schnürte der Anblick Carsten die Kehle zu. Gedrückt atmete er aus und schloss die Augen. Mit leiser Stimme begann er, das Verbrennungsritual aufzusagen. Ein dryadisches Gebet, welches dem Betroffenen einen friedlichen Tod wünschte. Es erbat den Wind um die Freiheit der Seele, hoffte vom Wasser auf die Vergebung der Sünden. Das Feuer möge ihm auch weiterhin Licht und Wärme spenden und die Erde solle ihn auf ewig mit seinen Liebsten verbinden. Noch während Carsten den Zauber sprach, spürte er ein Brennen auf seiner linken Körperhälfte. Mit jedem Wort wurde das Gefühl stärker und schmerzhafter. Carsten konzentrierte sich darauf, mit ruhiger Stimme das Ritual fortzusetzen, während die Qualen immer weiter zunahmen. Irgendetwas fraß sich in ihn als wolle es ihn verschlingen. Angestrengt hob Carsten seine linke Hand und öffnete die Augen. Die Zeichen auf seinem Körper loderten wie weiße Flammen und obwohl sie nur aufgemalt sein sollten, brannten sie sich in seine Haut ein. Noch während er mühevoll das Gebet fortsetzte, musste er beobachten, wie die weißen Flammen durch die Luft säuselten, bis sie Chief und das hölzerne Podest erreicht hatten. Sofort fing der Blumen- und Federschmuck Feuer. Rote Funken flackerten empor, züngelten das Podest nach oben. In dem Lichtermeer erkannte Carsten einen braunen und drei schwarze geflochtene Zöpfe, die allmählich zu Asche zerfielen, während das Feuer auch den Häuptling erreicht hatte. Carsten wollte die Augen schließen. Er wollte nicht sehen, wie er es war, der seinen eigenen Vater in Brand setzte. Doch er konnte den Blick nicht von ihm losreißen. Obwohl sich die Hitze in seine Augen brannte, schaffte er es nicht sich abzuwenden. Irgendetwas zwang ihn, den Schatten seines Vaters in der Feuerbrunst genau zu betrachten. Sich bewusst zu werden, wer dieser Mann eigentlich war. Entfernt hörte Carsten, wie ein Chor zu singen begann und das dryadische Gebet auf Indigonisch wiederholte. In seine Ohren drang jedoch nur das betäubende Knistern der Flammen. Zitternd senkte Carsten die Hand. Die Symbole brannten sich noch immer in seine Haut und seine Finger bebten als er einige Schritte zurückwich, weg von der sengenden Hitze. Was für eine Ironie., dachte sich Carsten verbissen, Die ganze Zeit schaffe ich es nicht als sein Sohn zu trauern und jetzt, wo man von mir die Rolle des Stammesmagiers erwartet… Genau dann… Schweren Herzens schloss er die Augen. Noch während er sich ein letztes Mal vor seinem Vater verneigte spürte er, wie sich eine Träne aus dem Augenwinkel stahl. Carsten stellte sich neben Koja an den hinteren Rand der Bühne und beobachtete die restlichen Gäste. Viele der Indigoner weinten, egal welchen Alters oder Geschlechts. Manche schluchzten laut und klammerten sich an ein Familienmitglied, andere hatten den Blick gesenkt und versuchten schweigend die Tränen zu verbergen. Auch einige Gäste aus den anderen Regionen nahm dieser Anblick stark mit. Carsten sah, wie sich Laura mit der Hand über die Augen fuhr und Janine schluchzend von Susanne in den Arm genommen wurde. Der einzige dem es nicht gestattet war zu weinen, war derjenige der Chief am nächsten stand. Carsten betrachtete seinen großen Bruder. Eagle saß immer noch im Schneidersitz auf der Empore und schaute in die Flammen. Sah einfach nur zu, wie die letzten Sonnenstrahlen hinter dem lodernden Feuer allmählich verschwanden. Wie sich die Silhouette seines Vaters langsam auflöste. Und trotzdem zeigte Eagles Gesicht keine Regung. Er rührte sich nicht. War wie eine Statue. Der Anblick wirkte auf Carsten unsagbar surreal. Als sei alles nur ein Traum und er würde bald aufwachen und sich verstört fragen, was sich sein Kopf da zusammengedacht hatte. Doch es war kein Traum, sosehr er auch hoffte aufzuwachen. Es war die bittere Realität. Erbarmungslos und ungerecht. Das anschließende Schweigen, welches nur vom Knistern des Feuers und dem Schluchzen der Gäste unterbrochen wurde, machte Carsten langsam unruhig. Er wusste, welcher Programmpunkt danach kam. Und das Warten darauf wurde immer unerträglicher. Schließlich war die Sonne vollständig untergegangen und der Himmel nahm eine violette Färbung an, die langsam in ein immer dunkleres Blau überging. Wie die Sonne war nun auch der Schatten seines Vaters nicht mehr sichtbar. So wie es das Ritual verlangte. Der ehemalige Häuptling war dem Westen zugewandt, also dem Sonnenuntergang. Als Symbol für das Ende einer Ära. Eagle saß im Osten, das Zeichen für den Anbruch eines neuen Tages. Als der Himmel ein tiefes Indigoblau angenommen hatte und nur noch das Feuer Licht bot, trat Carsten wieder vor. Er wandte sich seinem großen Bruder zu und mühte sich zu einem schwachen Lächeln. Eagle erwiderte seinen Blick schweigend, noch immer komplett regungslos. Wieder stieg das Gefühl der Hilflosigkeit in Carsten auf. Gab es wirklich nichts, womit er ihm helfen konnte? Abermals fand er keine Antwort auf diese Frage. Carsten streckte erneut die Hand aus, dieses Mal in Eagles Richtung. Er sprach einige Sätze auf dryadisch und um Eagle herum begannen mehrere kleine Flammen aufzuleuchten. Carsten unterdrückte ein Husten und versuchte zu ignorieren, dass er die Erkältung immer noch nicht ganz hatte auskurieren können. Allmählich begann die Erschöpfung an ihm zu nagen. Nein, nicht jetzt. Er musste sich zusammenreißen. Er ließ weitere Flammen an den Rändern der Bühne entstehen und ging wieder einige Schritte zurück. Zeitgleich trat Koja nach vorne und die Stammesoberhäupter betraten die Bühne, nachdem sie sich erneut vor dem Feuer verneigt hatten, an dessen Stelle zuvor noch Chief gelegen hatte. Schaudernd betrachtete Carsten die Federkrone, die einer der Stammesoberhäupter hielt. Sie wirkte so schwer, obwohl sie nur aus vielen großen, gräulichen Federn bestand, die an rot-braunen Lederbändern befestigt waren. Carsten fragte sich, ob der Ring zwischen den Bändern wohl aus echtem Gold gefertigt war. Derweil begann Koja zu sprechen: „Die Sonne ist untergegangen, der Tag ist vorüber. Die Nacht bricht über die Welt herein und bringt die Finsternis mit sich. Eine Finsternis, die uns orientierungs- und hoffnungslos umherwandeln lässt. In der Gefahren lauern, die wir nicht zu kennen vermögen und derer wir uns nicht zu verteidigen wissen. Unsere einzige Hoffnung ist das Aufgehen einer neuen Sonne, der Anbruch eines neuen Tages.“ Sie wandte sich Eagle zu und hielt ihm die Hand entgegen. „Kind der Lüfte mit den Flügeln der Freiheit. Komme zu uns und werde die neue Sonne, die uns auf unseren Wegen leiten möge.“ Mit stockendem Atem beobachtete Carsten, wie Eagle gezwungen war aus seiner Starre zu erwachen und sich zu erheben. Trotz der wenigen Meter dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis Eagle die Holzstufen hinunter auf die Hauptbühne trat und schließlich vor Koja stand. Diese wies ihn an sich hinzuknien. Da Carsten schräg hinter seiner Großmutter stand konnte er Eagle genau beobachten. Der verbissene Blick, die zu einer schmalen Linie gepressten Lippen, verspannte Schultern und zitternde Hände, … Die ganze Anspannung, die gesamte Angst. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Alle Erwartungen lasteten auf seinen Schultern. Alles drohte, ihn unter dem gewaltigen Druck zu begraben. Carstens Herzschlag beschleunigte sich, als Koja die Federkrone entgegennahm und sie in die Höhe hielt. „So sprich mir nach: Mein Blut gebe ich für euer Leben.“   „Mein Blut gebe ich für euer Leben.“, wiederholte Eagle ihre Worte. Obwohl seine Hände zitterten, klang seine Stimme klar und überzeugt.   „Meinen Freunden bringe ich die Heilung, meinen Feinden das Gift.“   „Meinen Freunden bringe ich die Heilung, meinen Feinden das Gift.“ Carsten merkte, wie Eagle eine Hand zur Faust ballte.   „Von der trockensten Wüste bis zum dichtesten Wald…“   „Von der trockensten Wüste bis zum dichtesten Wald…“   „Vom kältesten Frost bis zu den stärksten Gewittern…“   „Vom kältesten Frost bis zu den stärksten Gewittern…“   „Lasst mich sein der Wind, der euch die Freiheit gibt.“   „Lasst mich sein das Wasser, das euch Leben bringt.“   „Lasst mich sein das Feuer, das euch Wärme spendet.“   „Lasst mich sein die Erde, die euch Halt bietet.“   „Sowohl im gleißendsten Licht als auch in der tiefsten Finsternis… … möchte ich euch Hoffnung und Schutz geben.“   „Dafür wurde ich geboren, dafür lebe ich und dafür sterbe ich.“   Noch während er den letzten Satz wiederholte, ließ Koja ihre Arme sinken und setzte Eagle die Krone auf. Anschließend berührte sie sanft sein Kinn und hob seinen Kopf. „Kind der Lüfte mit den Flügeln der Freiheit. Wir befinden uns in einer harten Zeit und noch härtere Zeiten stehen uns bevor. Wirst du alles in deiner Macht stehende tun, um Indigo vor dem Unheil zu schützen? Wirst du kämpfen, selbst wenn es noch so aussichtslos ist?“ „Ich werde.“, antwortete Eagle und sein Blick zeigte dieselbe Entschlossenheit, die auch in seiner Stimme zu hören war. Carsten spürte, wie eine Welle der Erleichterung den Druck in seinem Herzen lockerte. Nach all dem würde Eagle trotzdem nicht aufgeben. Er hatte seinen Willen zum Kämpfen nicht verloren. Koja nickte und wandte sich an die anwesenden Gäste. „Die Sonne geht auf und ein neuer Tag bricht an. Wir bitten die Götter, dass dieser Tag lange andauern mag. Wir bitten die Ahnen um Hilfe und Beistand.“ Mit einer Geste deutete sie Eagle an sich zu erheben. Für einen Moment trafen seine Augen auf Carstens, doch dieser Moment reichte schon, um Eagles Blick deuten zu können. Obwohl er nicht aufgeben wollte, hatte er immer noch Angst. Angst vor den Erwartungen und Angst davor nicht akzeptiert zu werden. Doch Carsten war sich ziemlich sicher, dass Eagle sich am meisten davor fürchtete allein gelassen zu werden. Dass plötzlich keiner mehr da sein würde, so wie sein Vater es ihm schon angetan hatte. Carsten senkte leicht den Kopf und warf seinem großen Bruder ein möglichst unauffälliges Lächeln zu. Du bist nicht alleine. Dieser Moment dauerte höchstens eine Sekunde, bis Eagle schließlich durchatmete und sich aufrichtete. Koja ging einige Schritte zurück und verneigte sich vor Eagle. „Auf das unser Häuptling uns mit starker und weiser Hand leite.“ Noch während Eagle sich mit der Federkrone auf dem Haupt umdrehte, konnte Carsten beobachten wie die Indigoner von ihren Stühlen aufstanden und sich ebenfalls verneigten. Die Gäste taten es ihnen gleich und die Stammesoberhäupter auf der Bühne gingen sogar auf die Knie. Als Koja es ihnen gleichtat entschied Carsten, sich lieber auch hinzuknien. Wieder breitete sich absolute Stille aus und dieses Mal war es nur das Knistern der Feuer, die sie durchbrach. Erst, als sich die Stammesoberhäupter wieder erhoben, hoben auch die anderen ihre Köpfe und das Knistern wurde von einem lauten Applaus übertönt. Während Carsten selbst aufstand und seiner Großmutter wieder auf die Beine half beobachtete er, wie gerade seine eigene Generation jubelnde Rufe von sich gab. Die älteren Indigoner klatschten zwar auch, aber eher aus Höflichkeit und weniger als Ausdruck der Begeisterung. Für viele von ihnen war es schwer vorstellbar, dass ein noch nicht einmal volljähriger Teenager nun die Führung über ihre Region übernahm. Dennoch hielt der Applaus länger an als ein normaler Anstandsbeifall, was Carsten zumindest etwas optimistischer denken ließ. Als schließlich wieder Ruhe herrschte, kündigte Koja den Beginn des Programms an. Eagle kehrte zu seinem Platz auf der Empore zurück, wo inzwischen ein Fell und ein Umhang bereit lagen, damit er bei seiner dürftigen Bekleidung nicht erfror. Carsten räusperte sich unterdrückte damit einen weiteren Husten. Der Stoff seiner Tracht war auch nicht sonderlich dick und der Wärmezauber zehrte mehr und mehr an seinen Kräften. Als Eagle auf seinem Platz saß verließen zuerst die Stammesoberhäupter wieder die Bühne und dieses Mal war es Eagle vor dem sie sich verbeugten. Koja tat es ihnen gleich und auch Carsten verneigte sich vor ihm, bevor er mit zitternden Knien die Treppen herunter ging. Es war ein seltsames Gefühl sich vor seinem großen Bruder zu verbeugen. Aber Eagle war nun der Häuptling und es war Brauch vor dem Häuptling das Haupt zu senken. Carsten war froh, sich endlich wieder auf seinen Platz neben Saya setzen zu können, der sich Eagles Empore am nächsten befand. Erst jetzt bemerkte er den immer noch stechenden Schmerz in seiner linken Seite, der durch das Verbrennungsritual entstanden war. Vorsichtig fuhr sich Carsten über den linken Oberarm und zuckte bei der leichtesten Berührung zusammen. Koja hatte nichts von schwarzer Magie erwähnt und einen Blutzoll hatte es auch nicht gegeben. Aber bei diesem höllischen Gefühl konnte es sich um keine andere Magieform handeln. „Alles in Ordnung?“, fragte Saya leise. Carsten nickte schwach und versuchte die Schmerzen auszublenden. Stattdessen beobachtete er drei junge Frauen in langen Umhängen, die die Bühne betraten und sich ebenfalls vor ihrem neuen Häuptling verneigten. In der Mitte der Bühne angekommen startete eine rhythmische, indigonische Musik und die Mädchen begannen sich im Takt zu bewegen. Für Außenstehende wirkten indigonische Tänze meist sehr eigentümlich mit ihren seltsamen, zum Teil stark verrenkten Bewegungen. Doch wer selbst einmal einen solchen Tanz gelernt hatte verstand die Bedeutung dahinter. Und hatte umso mehr Respekt davor, wenn jemand einen solch energetischen und entkräftigenden Tanz aufführen konnte. Denn die traditionellen Tänze in Indigo waren zum Teil so wild, dass in den Übungsstunden regelmäßig einige Schüler vor Erschöpfung zusammenbrachen. Plötzlich ließen die drei jungen Frauen ihre Umhänge fallen und trugen nur noch ein knappes Federkleid. Ein extrem knappes Federkleid. Mit hochrotem Kopf senkte Carsten den Blick. Diese Federn bedeckten wirklich nur das nötigste. Geradeso. „Was ist das denn?!“, hörte er Ariane hinter sich überrascht und auch leicht geschockt fragen. „Das der Federtanz sein.“, erklärte Koja in ihrem gebrochenen Damisch. „Bei Krönung Tradition sein.“ „Ist das normal, dass die so… ähm… wenig tragen?“, fragte Ariane, immer noch entsetzt. Koja schüttelte den Kopf. „Das viel zu viel.“, erwiderte sie. „Als ich damals Federtanz getanzte, eine einzige Feder nur getrugen! Jugend von heute so verklemment!“ Carsten vergrub die Hände hinter dem Gesicht. Das waren viel zu viele Informationen über seine Oma, die er eigentlich gar nicht wissen wollte. „Wie groß war denn die Feder?“, erkundigte sich Lissi noch eine Reihe weiter hinten interessiert. „Ich glaube, ich will’s gar nicht wissen…“, erwiderte Ariane verstört. „Du bei Federtanz sicher gut aussehen würden.“, meinte Koja, an sie gewandt. „Oma, lass das.“, zischte Carsten auf Indigonisch zu der Reihe hinter sich. „Wieso, Crow? Dir doch sicher gefallen würden. Ein so hübsches Mädchen bei Federtanz tanzen.“ „Oma!“ War es überhaupt notwendig zu erwähnen, wie hochrot Carstens Gesicht daraufhin wurde? Denn natürlich blieb ihm keine andere Wahl als sich bei Kojas Andeutung Ariane beim Federtanz vorzustellen. Beschämt versuchte er diesen Gedanken wegzuscheuchen. Doch wie das so war mit Sachen, an die man partout nicht denken wollte: Man dachte erst recht daran. Lissi, Janine und Susanne versuchten erfolglos ihr Lachen zu unterdrücken und Carsten bemerkte, wie auch Saya und einige von Eagles Freundeskreis das Gespräch mitbekommen hatten und verstohlen kicherten. Auch Ariane schien amüsiert. Zumindest klopfte sie Carsten auf die Schulter und sagte: „Ich muss dich wohl enttäuschen. Meine Tanzfähigkeiten sind noch nicht einmal vorhanden, um schlecht sein zu können.“ Carstens Kopf färbte sich daraufhin noch roter. „Äh- D-das geht- ist kein- Problem…“ Der Rest versuchte weiterhin erfolglos das Lachen zu unterdrücken und ruhig zu bleiben. Alle, bis auf Öznur die wütend zu den drei Frauen hinaufblickte. „Ihr Indigoner seid extrem locker in so Sachen, oder?“ „Ach komm Özi-dösi. Nur, weil sie so leicht bekleidet vor Eagle-Beagles Nase herumtanzen?“, hörte Carsten Lissi sagen. Da schaltete sich einer von Eagles Freunden ein: „Übrigens, falls es dich interessiert: Die in der Mitte ist Ana, Eagles Ex. Die beiden waren glaub ich zehn Monate lang zusammen, aber Anfang dieses Jahres haben sie sich getrennt.“ „Ey Len, sowas erzählt man doch nicht.“, mahnte ihn ein anderer aus Eagles Freundeskreis. Besagter Len zuckte mit den Schultern. „Ist doch nichts dabei. Es war ohnehin Eagle, der Ana verlassen hatte. Und das nach einem ziemlich krassen Streit. Öznur hat da wohl kaum was zu befürchten.“ „Trotzdem.“ Tatsächlich hatte Lens Aussage Öznurs Laune in keiner Weise gebessert. Eher das Gegenteil war der Fall. „Toll. Jetzt wackelt seine Ex ihm also auch noch mit dem Arsch vor der Nase rum.“ Der andere von Eagles Freunden -wenn sich Carsten recht entsann hieß er Namid- schüttelte seufzend den Kopf. „Ich sag’s doch. Aber Öznur, du musst dir echt keine Sorgen machen. Eagle würde mit der nicht mal im Traum noch was zu tun haben wollen.“ Ariane runzelte die Stirn. „Wenn sie so ätzend war, warum hatten die beiden überhaupt was miteinander?“ „Eigentlich ist sie ziemlich nett… Kann aber auch eine ziemliche Schlampe sein. Ich weiß nicht, ob ich davon erzählen soll. Eagle redet nicht gerne drüber und will wahrscheinlich auch gar nicht, dass das die Runde macht.“, erwiderte Namid und wandte sich wieder der Bühne zu. „Trotzdem…“, murmelte Öznur verärgert. Lissi klopfte ihr auf die Schulter. „Dösi, beruhig dich wieder. Eagle-Beagle schaut noch nicht mal hin.“ Auch Carsten wandte sich wieder nach vorne und betrachtete seinen großen Bruder, wie er mit der Federkrone auf dem Kopf und dem Umhang um die Schultern auf der Empore saß und wieder schweigend in das immer noch lodernde Feuer blickte, in dem vor nicht allzu langer Zeit sein Vater zu Asche verbrannt war. Die Tänzerinnen schien er gar nicht wirklich bemerkt zu haben. Susanne seufzte bedrückt. „Das stimmt… Ihm scheint es überhaupt nicht gut zu gehen…“ Carsten senkte den Blick. Wie sollte es Eagle momentan auch gut gehen? Er war schon froh, dass sein großer Bruder den Eid mit so viel Überzeugung hatte aufsagen können. In dem Moment hatte Carsten wirklich den Eindruck gehabt, Eagle wäre bereit für die Rolle des Häuptlings. Er würde das schon stemmen können. Doch die Last war zu groß. Der Verlust war zu qualvoll. Es war einfach zu viel. Ein starker Husten überkam Carsten und ein stechender Schmerz breitete sich in seinen Lungen aus. Besorgt prüfte Saya seine Stirn. „Lass dir eine Decke holen und versuche dich etwas auszuruhen. Das anstrengendste hast du schon überstanden.“ Carsten nickte schwach und beobachtete, wie die jungen Frauen mit dem Federtanz endeten und unter Beifall die Bühne verließen, nachdem sie sich erneut vor dem neuen Häuptling verneigt hatten. Als nächstes trat Ituha auf die Bühne. Selbst die hoch gewachsene, muskulöse Barbesitzerin neigte vor Eagle respektvoll den Kopf, ehe sie sich den Gästen zuwandte, die sie höflich begrüßte. Als Ituha mit der Einleitung für die Beiträge der anderen Regionen begann, wuchs Carstens Neugier und er vergaß, dass der Wärmezauber immer mehr an seinen Kräften zehrte. Was hatten Saya und Laura in dieser kurzen Zeit auf die Beine stellen können? War es genug, die Stammesoberhäupter und das Volk von Indigo zu beeindrucken? Als erstes wurde der Beitrag von Cor angekündigt. Der Regionsvorsteher hielt eine Rede, ähnlich zu denen der Stammesoberhäupter. Doch zum Glück wurde Chief nicht zu extrem verherrlicht und der Vertreter von Cor schien überzeugt, dass Eagle trotz seines jungen Alters diese Situation meistern würde. Nachdem er geendet hatte verneigte er sich vor Eagle und verließ die Bühne. Irritiert bemerkte Carsten wie Lissi auf einmal unten vor dem Bühnenrand stand. Von ihrem blauen Kleid fehlte der Tüllrock und was sie jetzt nur noch trug, wirkte wie ein stark glitzernder, verzierter Turnanzug. In ihrer Hand hielt sie einen kleinen Stock an welchem ein blaues Band befestigt schien und die Haare waren zu einem straffen Dutt gebunden. Was hat sie vor?, fragte sich Carsten verwirrt. Da trat Ituha vor. „Als nächstes darf ich Ihnen den Beitrag von Eau präsentieren: Eine Kür von der Siegerin der letztjährigen Junior-Damonmeisterschaften in Rhythmischer Sportgymnastik. Von Larissa Alejandra Nora Tieges.“ Wie bitte was?!? Lissi war Junior-Damonmeisterin in Rhythmischer Sportgymnastik?! Völlig aus der Bahn geworfen beobachtete Carsten, wie Lissi die Bühne betrat und sich der Etikette entsprechend vor Eagle verneigte. Anschließend schwang sie ihr Band etwas herum und brachte sich in Position. Aus dem Hintergrund wurde eine rhythmische, kraftvolle Musik eingespielt und beeindruckt beobachtete Carsten, wie Lissi den Stab wegwarf und das Band selbst auffing. Anschließend schaffte sie es irgendwie während eines Rückwärtsbogenganges das Band mit dem Fuß wieder zu sich zu ziehen, sodass sie am Ende wieder den Stab selbst in der Hand hielt. Ihre gute Körperbeherrschung und Gelenkigkeit hatte Carsten schon häufiger beim Training gesehen, doch erst jetzt wurde ihm bewusst, wie gut sie ihren Körper beherrschen konnte und wie gelenkig sie in Wahrheit war. Lissis Bewegungen wirkten elegant und gleichzeitig voller Energie. Obwohl die Figuren unsagbar schwer sein mussten und garantiert unglaublich viel Arbeit dahinter steckte, sah bei Lissi alles so leicht und unbeschwert aus. Waren es nun die Bogengänge und Drehungen, nach denen sie direkt das hochgeworfene Band wieder auffing oder ihre Räder, während sie das Band irgendwie um sich schwang ohne sich darin zu verheddern. Fasziniert beobachtete Carsten, wie Lissi sich um ihre eigene Achse drehte, während sie einen Fuß mit der Hand über ihrem Kopf festhielt und das Band um ihren Körper rotieren ließ. Waren es nun die Wellen des Bandes oder ihre fließenden Bewegungen… Carsten musste automatisch an das Wasser denken. Und wie perfekt dieses Element zu Lissi passte. Nachdem Lissis Auftritt geendet hatte war nicht nur Carsten begeistert davon. Der tosende Applaus sprach Bände. Und ja, sie hatte es sogar geschafft ein schwaches, anerkennendes Lächeln aus Eagle hervorzulocken. Amüsiert beobachtete Carsten, wie Lissi Eagle zuzwinkerte, während sie sich vor ihm verneigte und die Bühne wieder verließ um sich wieder neben ihre Schwester zu setzen. „Das war ja der Wahnsinn!“, kommentierte Öznur ihren Auftritt direkt. „Ich sehe ja schon immer im Turnen wie übertrieben gut du bist, aber das… Das war einfach Hammer!!!“ „Und du bist sogar Junior-Meisterin geworden?!“, fragte Ariane fasziniert. „Ich habe immer nur gehört, dass es für physisch Antik-Begabte nahezu unmöglich ist, in solchen Meisterschaften gut abzuschneiden, da sie viel strenger bewertet werden als die ‚normalen‘ Teilnehmer!“ „Das stimmt auch.“, gab Susanne ihr Recht. „Lissi war die einzige der antik Begabten, die überhaupt in der Qualifikationsphase weitergekommen ist.“ „Wie kommt es, dass du uns ständig mit so unerwarteten Fähigkeiten vom Hocker haust?!“, fragte Öznur erstaunt. Lissi zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, weil ihr mir einfach nichts zutraut?“ „Jetzt übertreibst du aber.“, widersprach Ariane ihr. Doch insgeheim musste Carsten Lissi Recht geben. Leider. Er ertappte sich selbst häufig genug dabei, wie wenig er von ihr und ihren Fähigkeiten erwartete. Und das, obwohl sie diese inzwischen bereits des Öfteren unter Beweis gestellt hatte. Abgesehen von dieser beeindruckenden Körperbeherrschung und Beweglichkeit wusste Carsten, dass Lissi neben Damisch und Spanisch auch fließend Italienisch, Französisch und Englisch sprechen konnte. Selbst auf Deutsch hatte sie mal einige Worte mit ihm gewechselt. Doch am eindrucksvollsten war ihre ausgesprochen gute Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe bezüglich dessen. Kritisch musterte Carsten Lissi, die sich lachend mit den anderen Mädchen unterhielt. Sie hatte von allen als erste erkennen können, dass Benni der Sohn von Samira und Jacob war. In Spirit hatte sie direkt die Verhältnisse zwischen Rina, Konrad und Benni gesehen. Carsten war sich ziemlich sicher, dass Lissi noch mehr wusste. Mehr, als sie sich anmerken ließ. Schaudernd wandte er sich ab und hörte Ituha zu, die den nächsten Programmpunkt ankündigte. Tatsächlich hatte auch Dessert etwas zu dem Programm beigetragen und das Publikum durfte beeindruckt und mit angehaltenem Atem beobachten, wie eine Gruppe junger Männer unfassbar gefährlich wirkende akrobatische Kunststücke aufführte. Im Anschluss kündigte Ituha Lauras Auftritt an, welche sich nervös eine Strähne aus dem Gesicht strich, tief durchatmete und die Bühne betrat, wo auch sie sich vor Eagle nach japanischer Manier verbeugte. Anschließend ging sie zu Ituha, welche Laura problemlos um einen Kopf überragte, und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Was auch immer Laura gesagt hatte, hatte Ituha wohl sehr überrascht. Carsten konnte sehen, wie ihre Lippen die Worte ‚Ist das dein Ernst?‘ formten. Laura nickte. Nun war auch Carsten neugierig, als sich Ituha erneut dem Publikum zuwandte. „Verehrte Damen und Herren, ich habe Ihnen eine kleine Ergänzung zu dem kommenden Programmpunkt mitzuteilen. Der Auftritt von Prinzessin Laura Lenz wird musikalisch begleitet von Herrn Jacob Yoru und seiner Frau Samira.“ Was zum- Wie bitte?!? Mit vor Überraschung geweiteten Augen beobachtete Carsten, wie Bennis Eltern die Bühne betraten und sich ebenfalls vor Eagle verneigten. Und auch im Publikum brach ein verblüfftes Raunen aus. Wenn die Mitglieder der ehemaligen Herrscherfamilie etwas zu einer Krönung beitrugen, wollte das etwas heißen. Carsten warf Saya einen irritierten Seitenblick zu, die diesen mit einem schelmischen Lächeln erwiderte. Ja, sie und Laura hatten wirklich an allen Fäden gezogen. Hatten wirklich jeden Kontakt genutzt, der ihnen zur Verfügung stand. Wenn die Indigoner jetzt noch nicht überzeugt waren, dann war ohnehin alles verloren. Dieser Auftritt konnte unmöglich noch übertroffen werden. Vor Erleichterung sammelten sich Tränen in Carstens Augen, während er beobachtete wie sich Jacob an den Flügel setzte, der von Indigonern vorgeschoben wurde, und Samira eine Violine aus einem Koffer holte. Amüsiert bemerkte Carsten, dass es genau die Instrumente waren, die auch Benni zu spielen gelernt hatte. Laura stellte sich in die Mitte der Bühne, verneigte sich vor den Gästen und holte einen weißen, mit rosa Blüten verzierten Fächer aus dem Obi ihres Kimonos, während sie sich auf den Boden kniete. Als Jacob sah, dass sie bereit war, tauschte er ein kurzes Nicken mit seiner Frau aus und begann mit der Melodie eines japanischen Liedes. Carsten meinte es zu erkennen, es trug den Titel Senbonzakura. Zu Beginn war die Melodie langsam und Jacob und Samira ließen ihre Instrumente so gefühlvoll erklingen, dass Carsten automatisch wusste, woher Benni sein musikalisches Talent hatte. Laura schwang derweil ihren Fächer und richtete sich langsam in einer Drehung auf. Kurz darauf beschleunigte Jacob das Tempo und das eigentliche Stück begann. Auch Lauras Bewegungen wurden schneller, aber nicht hektisch, sondern trotzdem noch grazil und beherrscht. Von ihrer anfänglichen Nervosität war nichts mehr zu sehen, stattdessen hatte sie eine ruhige Ausstrahlung und wirkte absolut professionell. Ihr Blick war ernst und sanft zugleich, jede ihrer Bewegungen stimmte auf den Millimeter genau und die Eleganz mit der sie den Fächer schwang, um ihren Finger rotieren ließ und manchmal hochwarf und umgekehrt auffing zeigte, wie sicher sie im Umgang damit war. Ja, Benni hatte nicht grundlos sofort gewusst welche Waffe am besten zu ihr passte. Und noch während Carsten von ihrem Auftritt in den Bann gezogen war wünschte er sich, Benni würde hier neben ihm sitzen. Oder noch besser, er stünde bei Laura und seinen Eltern auf der Bühne und begleitete den Auftritt mit seinem Gesang. Carsten biss sich auf die Unterlippe und kämpfte gegen die Tränen an. Gerade in letzter Zeit hatte er sich so häufig gewünscht Benni solle wieder bei ihnen sein… Seine ruhige und geduldige Art fehlte Carsten. Alleine seine Anwesenheit hätte die gegenwärtige Situation um so vieles leichter wirken lassen. Dennoch waren Lauras Tanz und die Musik von Jacob und Samira so schön, dass Carsten nicht lange in seinen tristen Gedanken verweilen konnte. Das erlaubte diese beschwingte und gleichzeitig sanfte Melodie einfach nicht. Sie ließ Carsten keine andere Wahl, als die Hoffnung zu haben, dass alles wieder gut werden würde. Dass sie Mars besiegen können und Benni, Johanna, Johannes und Sakura aus seinen Fängen befreien würden. Und, dass selbst Jack ein Happy End bekommen könnte. Carsten spürte, wie Laura, Jacob und Samira sie mit dieser Darbietung dazu aufforderten, nicht aufzugeben. Dass sie alle weiterkämpfen mussten. Ähnliche Gefühle schienen sie auch im Rest der Zuschauer geweckt zu haben. Kaum waren Jacobs und Samiras letzten Töne verklungen brach tosender Applaus aus. Bennis Eltern gingen vor zu Laura und legten jeweils einen Arm um ihre Schultern. Gemeinsam verbeugten sie sich vor dem Publikum und wandten sich anschließend Eagle zu, vor dem sie sich ebenfalls verneigten. Genauso wie bei Lissi vorhin, formten sich seine Lippen zu einem schwachen Lächeln und er nickte Laura und Bennis Eltern leicht zu. Auch Eagle war sich bewusst, wie viel dieser Auftritt zu bedeuten hatte. Und auch auf ihn schien die Musik und Lauras Tanz diese hoffnungsschöpfende Wirkung zu haben. Belustigt bemerkte Carsten, wie Laura erleichtert aufatmete, kaum, dass sie die Bühne wieder verlassen hatte. Wenn es darauf ankam konnte sie sich wie eine vorbildliche Prinzessin verhalten. Doch in Wahrheit war sie einfach immer noch Laura, die furchtbar schüchtern war und die dieser Auftritt absolut nervös gemacht hatte. Für einen Moment erwiderte Laura Carstens Blick, der sie dankbar anlächelte. Er wusste selbst, wie furchtbar es war auf einer Bühne im Mittelpunkt stehen zu müssen. Es hatte Laura unter Garantie viel Überwindung gekostet ihre Hilfe anzubieten. Mit leicht geröteten Wangen erwiderte Laura sein Lächeln und setzte sich anschließend wieder auf ihren Platz. Derweil leitete Ituha den letzten Programmpunkt ein: „Zum Abschluss darf ich Ihnen eine weitere nie da gewesene Kombination vorstellen: Prinzessin Selen der Ivory Region wird gemeinsam mit den Geschwistern Celia und Dorian Norito aus Spirit auftreten!“ … Hatte Carsten nicht eben gerade noch gedacht es könne ihn nichts mehr überraschen? Nun, er hatte sich gewaltig getäuscht. Dass Ivory einen Beitrag leisten würde hatte er insgeheim schon erwartet, aber gemeinsam mit Spirit?! Ausgerechnet mit den Vampiren, mit denen sie vor zwanzig Jahren noch im Krieg waren?! Die Region, die nie zuvor einer Krönungszeremonie beigewohnt hatte?! Irritiert schaute Carsten sich um und tatsächlich, weiter hinten erkannte er jemanden mit dunkelroten, leicht abstehenden Haaren und blutroten Augen. Konrad schien seinen Blick bemerkt zu haben und zwinkerte Carsten zu. Neben ihm saß Rina und außerdem Herr Norito, der Geschichtslehrer aus der Coeur-Academy, welcher gleichzeitig Konrads Onkel war. Wie zuvor als der Auftritt der Yorus angekündigt wurde ging ein angeregtes Raunen durch die Menge. Derweil betrat eine wunderschöne Elbin die Bühne, mit dunklen, gelockten Haaren und einem grazilen Körperbau. Hinter ihr waren zwei junge Vampire, das Mädchen etwa in Carstens Alter und der Junge ungefähr so alt wie Johannes. Dennoch wirkten sie sehr erwachsen. Was nicht verwunderlich war, da beide als Vampire bereits über einhundert Jahre am Leben sein müssten. Celia Norito hatte golden glänzendes Haar, die für Vampire typischen blutroten Augen und war ebenso schlank wie Selen. Ihr jüngerer Bruder Dorian schien noch im Wachstum und reichte seiner großen Schwester bis zu den Schultern. Seine etwas längeren Haare waren dunkel und zu einem Zopf zurückgebunden, wie Carsten sie vor kurzem auch noch häufiger getragen hatte. Seufzend fuhr er sich durch die kurzen Haare und hoffte, dass sie schnell wieder länger wurden. Dieses verwundbare Gefühl im Nacken würde ihn ansonsten noch um den Verstand bringen. Auch Selen, Celia und Dorian verneigten sich vor Eagle und wandten sich anschließend dem Publikum zu. Aus dem Hintergrund ertönte die Melodie eines Liedes, was Carsten nicht kannte und Selen begann zu singen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, so klar wie eine wolkenlose Vollmondnacht. Jeder war sofort in ihrem Bann gefangen. Wenig später setzte Dorian ein. Auch seine Stimme war relativ hoch, hatte jedoch so viel Kraft, dass sie einerseits einen starken Kontrast zu Selens sanfter Stimme bildete und trotzdem mit ihr harmonierte. Als schließlich auch Celia mit leicht rauchiger Stimme dazukam, war das Trio perfekt. Carsten hatte noch nie einen solch harmonischen Gesang gehört und wenn noch irgendjemand an dem Frieden zwischen Spirit und Ivory gezweifelt hatte, wurde er nun eines Besseren belehrt. Das Lied war im Kontrast zum vorherigen Auftritt eher langsam, aber trotzdem nicht langweilig. Das harmonische Zusammenspiel der drei Stimmen rührte Carsten regelrecht zu Tränen und löste eine Art innere Ruhe in ihm aus. Es erinnerte ihn an die Wirkung, die ansonsten immer Bennis Anwesenheit auf ihn hatte. Eine friedlich plätschernde Quelle in einem sonnendurchfluteten Wald, umringt von den schönsten und farbenprächtigsten Blumen. Ein Ort, an dem man die Zeit vergessen konnte und alle Sorgen belanglos schienen. Erinnerungen kamen in Carsten hoch, wie er als Kind an einem schneebedeckten Wintertag gemeinsam mit Benni zu jener Quelle gegangen war. Nach dem Training waren sie auf dem gefrorenen Wasser Schlittschuhlaufen und hatten sich gleichzeitig mit Schneebällen abgeworfen. Sie hatten verschiedene Sprünge ausprobiert und sind dabei häufig hingefallen. Doch das war nicht weiter schlimm, sie standen einfach wieder auf und versuchten es noch einmal. An so Tagen hatte Carsten vergessen können, dass sein Vater ihn nie auch nur eines Blickes würdigte. Dass sein großer Bruder ihn abgrundtief gehasst hatte. Carsten hatte gar die Existenz dieses Begriffes, die Bedeutung von Hass vergessen. Das einzige was zählte war der innere Frieden und der Spaß, den er und Benni gehabt hatten. Carsten erinnerte sich an Bennis Lachen, einer der wenigen Momente wo er es noch hatte sehen können. An den starken, stützenden Griff als er Carsten nach einem Sturz wieder auf die Beine geholfen hatte. An seine aufmunternden Worte es einfach noch einmal zu versuchen. Bloß nicht aufzugeben. Weiterzukämpfen… Während das restliche Publikum nach Beendigung des Liedes jubelnd applaudierte, fuhr sich Carsten über die Augen und versuchte die Tränen wegzuwischen, von denen immer und immer wieder neue nachkamen. Es schien ihm unmöglich, sich zusammenreißen zu können. Er hörte wie Saya ihn besorgt fragte ob alles in Ordnung sei. Carsten brachte lediglich ein Nicken zustande, doch die Wahrheit war eine andere. Nichts war in Ordnung. Die Tage, wo er den Rest der Welt vergessen konnte waren vorbei. Benni befand sich in den Fängen von Mars, ebenso wie Sakura, Johanna und Johannes. Sein Vater ist von jemandem ermordet worden, der wahrscheinlich noch nie solch einen sorglosen Tag hatte erleben dürfen. Sein großer Bruder war gezwungen einem viel zu starken Druck standzuhalten zu müssen. Ein göttlicher Dämon wollte die Welt zerstören und es lag an ihnen, dies zu verhindern. Es schien alles so aussichtslos. So hoffnungslos. Und trotzdem spürte er Bennis stützenden Griff. Hörte seine ermutigenden Worte bloß nicht aufzugeben. Immer weiterzukämpfen. Carsten wischte sich erneut über die Augen und schaute in das Feuer, mit dem er seinen eigenen Vater eingeäschert hatte. Allmählich verloren die Flammen an Kraft und auch in Carsten kam die Erschöpfung wieder hoch. Er spürte einen stechenden Schmerz in seinen Lungen, als er den Husten versuchte zu unterdrücken. Ein leichter Schwindel überkam ihn. Gleichzeitig merkte er, wie eine Decke über seine Schultern gelegt wurde. „Wenn es gar nicht geht, kannst du das Festmahl auch ausfallen lassen und direkt ins Bett gehen.“, riet Saya ihm fürsorglich und strich ihm die viel zu kurzen Haare aus dem Gesicht. Carsten schüttelte den Kopf. „Ich darf Eagle nicht alleine lassen…“, murmelte er matt. Sanft zog seine Stiefmutter ihn in eine Umarmung. „Carsten, bitte übertreib es nicht.“, hörte er Arianes besorgte Stimme neben sich. „Du bist immer noch krank.“ Carsten befreite sich aus Sayas Umarmung, um Ariane ein versucht unbeschwertes Lächeln zuzuwerfen. „Ich komme schon zurecht.“ Arianes Blick zeigte, dass sie ihm seine Worte nicht abkaufte. Carsten glaubte sie ja selbst noch nicht einmal. Aber trotzdem… „Eagle braucht jeden von uns. Ich kann nicht einfach jetzt ins Bett gehen, während er noch seine Ansprache halten muss.“ „Ja schon, aber…“, versuchte Öznur ihm zu widersprechen. „Carsten, du bist am Ende deiner Kräfte!“, mischte sich nun auch Janine ein. „Schon seit August bist du pausenlos am Arbeiten. Und bereits davor ging es dir wegen der Sache mit Benni nicht gut. Irgendwann reicht es.“ Carsten schüttelte den Kopf. „Aber nicht ausgerechnet heute Abend.“ Geräuschvoll atmete Ariane aus. „Das macht schon Lauras Dickkopf Konkurrenz.“ Nachdem Ituha das Programm offiziell beendet hatte, standen die Gäste auf um sich für eine halbe Stunde die Beine zu vertreten. Innerhalb dieser Zeit wurde der Platz vollständig umdekoriert. Die Bühne mit der Empore verschwand und stattdessen wurden die Stühle an viele Tische gestellt. Carsten hatte sich bereit erklärt mit seiner Magie zu helfen und die Arbeit ließ ihn die Erschöpfungswelle von vorhin wieder vergessen. Da auch Susanne und Janine bei dem Umbau mit Magie assistierten, waren sie bereits nach zehn Minuten fertig. Die restliche Zeit verbrachte Carsten mit Eagle bei den Mädchen, die sich über die vorigen Programmpunkte unterhielten. Natürlich wurden insbesondere Lauras und Lissis Auftritte bewundert und selbst Eagle ließ durchscheinen, dass er sich über die Beiträge der beiden gefreut hatte. Dennoch war Carstens großer Bruder mit den Gedanken meist woanders. Wahrscheinlich entweder bei seinem Vater, oder bei der Amtsantrittsrede, die noch bevorstand. Die Rede war das einzige Hindernis, was sie noch nicht überwunden hatten. Und bisher lief alles so gut! Eagle hatte so gute Chancen tatsächlich von den Stammesoberhäuptern anerkannt und respektiert zu werden. Es hing alles nur noch von dieser einen Rede ab! Die schneller auf dem Plan stand als es Carsten und insbesondere Eagle lieb war. Kaum saßen alle Gäste an der gewaltigen, hufeisenförmigen Tafel, in deren Mitte sich weitere Tische befanden, erbat Koja links von Eagle um Ruhe. „Bevor wir nun mit dem Festmahl beginnen, lasst uns zuerst hören, was der neue Häuptling zu sagen hat.“ Mit pochendem Herzen beobachtete Carsten, wie sein großer Bruder alles andere als begeistert aufstand. Auch Eagle war sich der Tragweite dieser Rede bewusst. Sie musste einfach gut werden. Carstens Herzschlag wurde noch schneller und das Atmen fiel ihm immer schwerer, während Eagle für einen Moment in die vielen Augen blickte, die ihn anschauten. Schließlich begann er zu sprechen. „Was zeichnet einen guten Häuptling aus? Ist es das Wissen über alle Belange der Region, die er leitet? Muss er jeden Indigoner beim Namen nennen können? Muss er stark sein? Ein guter Kämpfer? Sollte er sich gescheit ausdrücken können? Oder ist es sein Charakter? Jemand, der es versteht in der entsprechenden Situation ernst, unterhaltsam oder auch einfühlsam zu sein. Ich weiß nicht, wie sich jeder einzelne von euch einen guten Häuptling vorstellt. Genaugenommen kenne ich nur meine eigenen Ansprüche. Doch wir sind uns vermutlich allesamt einig, dass mein Vater viele dieser Punkte erfüllt hat. Er war nicht perfekt, aber menschlich. Er hatte viele Schwächen, aber auch genauso viele Stärken. Doch was für ihn unbestreitbar an erster Stelle stand war das Wohl Indigos. Manchmal litten wir als seine Familie darunter, doch es ließ sich nicht ändern. Schließlich wollte er ein guter Häuptling sein. Jemand der gerecht war und dem jeder vertrauen kann. Hat er eurer Meinung nach dieses Ziel erreichen können?“ Gespannt lauschte Carsten seinem großen Bruder. Er war gut. Ziemlich gut. Er merkte, wie Eagle neben ihm eine Hand zur Faust ballte, während er fortfuhr: „Dies kann jeder nur für sich selbst beantworten. Doch was ich mit Sicherheit sagen kann ist: Mein Vater hat nie etwas getan, was er später bereuen könnte. Alle seine Taten waren wohlüberlegt, sodass er sich auch in Zukunft noch für denselben Weg entschieden hätte. Das ist eine beeindruckende Eigenschaft, nicht wahr? Viele von uns hätten garantiert gerne häufiger mal eine Handlung rückgängig gemacht. Hätten manche Worte am liebsten unausgesprochen gelassen.“ Betreten senkte Carsten den Blick. Erinnerte sich daran, wie er Benni einst als Monster bezeichnet hatte. Wie er Laura mit seinen Worten verletzt hatte… Wie gerne hätte er die Zeit zurückgedreht, um all das ungeschehen zu machen. Eagle atmete durch. „Auch ich habe eine lange Liste an Sachen, die ich im Nachhinein bereue. Dinge, wegen denen ich mich schäme und meinem früheren Ich am liebsten gehörig die Meinung sagen würde. Aber die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Wir können nur aus unseren Fehlern zu lernen und müssen versuchen, sie nicht noch einmal zu begehen. Wir müssen hoffen, dass man uns eine zweite Chance gewährt.“ Er biss die Zähne zusammen und Carsten merkte, wie ein kalter Wind über den Platz wehte. „Aber ich bitte euch um keine zweite Chance. Ich bitte euch um eine erste. Ich sehe hier in jedem Gesicht Zweifel und diese sind mit Sicherheit nicht unbegründet. Ja, ich werde erst in zehn Tagen volljährig. Und ja, eigentlich habe ich erst in drei bis vier Monaten meinen Schulabschluss. Ebenso wenig habe ich es geschafft, den Titel meines Vaters als stärkster Kämpfer Damons zu erben. Wenn ihr mich aufgrund dessen bereits abgeschrieben habt, dann tut mir das leid. Aber wisst ihr was? Dann ist mir das auch völlig egal. Wer keinen Nerv hat mit jemand Minderjährigem zu kooperieren, mit dem kann man die Zusammenarbeit ohnehin vergessen. Wer denkt einen Schüler nicht als Häuptling anzuerkennen, den kann ich auch nicht respektieren. Und wer denkt, dass nur der stärkste Kämpfer Damons Häuptling werden sollte, der kann ja versuchen den momentanen Titelinhaber dazu zu überzeugen. Wenn ihr diese Krone hier nicht auf meinem Kopf sehen möchtet, dann sagt das ruhig. Dann gebe ich sie mit Freuden an jemanden, der eurer Meinung nach besser für diesen Posten geeignet ist. Eine Region, in welcher das Volk nicht hinter seinem Herrscher steht, ist dem Untergang geweiht. Und lieber würde ich zurücktreten als all das, was mein Vater und seine Vorfahren hier aufgebaut haben, in die Apokalypse zu führen. Danke schön.“ Eagle setzte sich wieder, während ein aufgebrachtes Gemurmel an quoll. Carsten, der rechts von seinem großen Bruder saß, funkelte ihn entsetzt an. „Was sollte das denn?!“ „Was?“, fragte Eagle Carsten und klang leicht gereizt. „Du solltest sie für dich gewinnen und nicht provozieren!“ Geräuschvoll atmete Eagle aus. „Ernsthaft, hast du dir mal angehört worüber die Leute hier in Indigo so reden? Auf der Straße, im Internet, … Überall? Kein Schwein traut mir das zu. Und selbst eure ach so super organisierte Feier wird ihre Meinung nicht geändert haben können. Das ist alles ein Haufen egoistischer Schweine, der niemals auf das hören würde, was ein Teenager zu sagen hat.“ „Zumindest nicht, wenn sich dieser Teenager wie ein Kind in der Trotzphase aufführt.“, erwiderte Carsten verbissen. „Verdammt, Eagle! Du hättest sie fast für dich gewinnen können! Hast du nicht ihre Reaktionen nach dem Eid gesehen?!“ „Diese verächtlichen Blicke? Oh glaub mir, die hab ich gesehen. Sehr gut sogar.“, zischte Eagle zurück. „Das war keine Verachtung! Sie waren kritisch, natürlich! Aber mehr auch nicht! Und nach dem sie bei dem Programm gesehen haben, welche Nationen dich unterstützen… Ich meine, selbst Spirit hat einen Beitrag geleistet! Das war noch nie zuvor der Fall gewesen!“ „Mitleidsbonus, nichts weiter!“ Ein eisiger Wind zehrte an Carstens Haaren und seiner Kleidung. „Darf ich raten: Der Vertreter von Cor wurde von euren Direktoren überzeugt. Lissi ist selbsterklärend, genauso wie Lauras Auftritt mit Bennis Eltern und ebenso die Typen aus Dessert. Und für euer perfektes Finale habt ihr Konrads und Florians Bekanntenkreis genutzt.“ „Na und?!“ „Na und?!? Hältst du mich für so blöd?! Keiner von denen hätte etwas gemacht, wenn er nicht von euch bequatscht wurde!“ Verärgert erwiderte Carsten Eagles Blick. „Denkst du, Laura und Lissi mussten überzeugt werden? Verdammt noch mal, Eagle, ich kam erst gar nicht auf die Idee sie zu fragen! Laura hat diesen Auftritt von sich aus angeboten! Das hätte sie nicht getan, wenn sie nichts von dir halten würde. Und auf den Rest trifft das genauso zu.“ Eagle schnaubte verächtlich. „Du denkst also ernsthaft, diese Leute würden mich ernstnehmen wollen?“ „Natürlich! Du hast doch von der ersten und zweiten Chance geredet! Vielleicht solltest du dann auch mal deinem Volk diese Chance ermöglichen, damit sie dich kennen- und akzeptieren lernen!“ „Fein, wenn du meinst…“, erwiderte Eagle bissig und richtete sich auf. Ein kurzer Windstoß fuhr über das gesamte Gebiet und alle Aufmerksamkeit war wieder auf ihn gerichtet. „Entschuldigt die Unterbrechung eurer Gespräche, doch mein Bruder würde gerne noch einige Worte sagen.“ Carstens Herz setzte aus. Mit vor Entgeisterung geweiteten Augen starrte er seinen großen Bruder an. „Was?“, fragte er gequält. Mit einer Geste wies Eagle ihn an sich aufzurichten und setzte sich selbst wieder hin. ‚Du wolltest sie doch unbedingt überzeugen.‘, erwiderte er tonlos, sodass Carsten die Worte nur von seinen Lippen lesen konnte. Carstens Hände wurden schweißnass und sein gesamter Körper bebte, als er sich wankend auf die Beine mühte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Ihm wurde kochend heiß. Schwindel überkam ihn und Carsten musste sich am Tisch abstützen, um nicht wieder einzusacken. Jetzt zusammenzubrechen oder nichts zu machen würde alles nur noch verschlimmern. Sosehr er es auch wollte, er konnte nicht fliehen. Er durfte nicht fliehen. „Ähm ja, also…“, begann er gepresst mit zitternder Stimme. Kleine Lichter flackerten vor seinen Augen und ein hohes Pfeifen in seinen Ohren erschwerte es ihm, sich konzentrieren zu können. Ihm war kochend heiß. Und gleichzeitig zitterte er, als befände er sich in einem mit Eiswasser gefüllten Becken. „Ich- ich wollte… Die Worte, die mein Bru- der Häuptling eben gesagt hat: ‚Eine Region, in welcher das Volk nicht hinter seinem Herrscher steht, ist dem Untergang geweiht.‘ Sie haben mich nachdenklich gemacht. Sie erinnern sich doch sicherlich alle an die Geschichten über den magischen Krieg und welche Auswirkungen er auf unseren Kontinent hatte. Gerade wir in Indigo waren davon stark betroffen. Wie viele unserer Vorfahren mussten gemeinsam mit den Dryaden leiden? Wurden gejagt, gefoltert und ermordet? Und all das geschah nur, da ein Wesen es geschafft hat das Volk zu infiltrieren. Sein Vertrauen in die damalige Herrscherfamilie zu zerstören.“ Er warf einen vollkommen überforderten Blick zu Jacob. Bennis Vater nickte ihm lediglich zu, doch alleine diese Geste reichte schon aus, damit Carsten seine Gedanken sammeln konnte. „Es stimmt, dieses Reich ist untergegangen. Und das Leid und Elend im zerstörten Gebiet ist noch immer deutlich sichtbar. Wollen wir, dass uns dasselbe wiederfährt? Wohl kaum. Und deswegen müssen wir uns der Situation bewusstwerden, in welcher wir uns gerade befinden. Die Zeiten werden dunkler. Die Nachrichten berichten vom Verschwinden vieler wichtiger Persönlichkeiten. Genauso hat es schon einmal angefangen. Doch wir werden nicht zulassen, dass es auch genauso enden wird wie letztes Mal. Ich weiß nicht, was Sie über all das hier denken. Aber ich vertraue meinem großen Bruder. Ja, natürlich ist er nicht perfekt. Und viel Erfahrung konnte er auch noch nicht sammeln. Aber ist das so schlimm? Unser Leben lang lernen wir neue Dinge. Und nun muss Eagle halt einige Sachen früher und schneller lernen als es ursprünglich geplant war. Aber er ist nicht alleine in dieser Situation.“ Carsten warf einen Blick auf die Stammesoberhäupter, die ihn interessiert betrachten. „Seine Familie unterstützt ihn, wo es möglich ist. Und damit meine ich nicht nur diejenigen, mit denen der Häuptling blutsverwandt ist. Wir alle, Indigoner, Menschen, Elben und Vampire, wir sind alle Lebewesen desselben Planeten. In gewisser Hinsicht sind wir alle aufeinander angewiesen. Müssen zusammenhalten. In schweren Zeiten noch stärker als in guten. Und genau das sollte auch das Programm des heutigen Abends demonstrieren: Zusammenhalt. Eben diesen brauchen wir jetzt. Mehr denn je. Ich kann Sie nicht zwingen, meinen Bruder zu akzeptieren. Aber ich bitte Sie, genauso wie er es tat, ihm eine Chance zu geben um sich zu beweisen. Außerdem bitte ich Sie darum, ihn zu unterstützen. Ihn nicht alleine zu lassen, bei der Flut an neuen Aufgaben und Eindrücken. Eagle meinte, unser Vater habe keine Tat in seinem Leben bereut. Auch, wenn er nicht mehr bei uns sein kann… Lasst uns dafür sorgen, dass er selbst seinen Tod nicht bereuen muss. Lasst uns zusammenhalten und diese schwere Zeit gemeinsam überstehen.“ Nach einigen Sekunden erdrückender Stille meinte Carsten schließlich zögernd: „Das… das wollte ich Ihnen nur sagen… Vielen Dank…“ Schnell setzte er sich hin, ehe seine zitternden Beine unter ihm nachgaben. Kurz darauf begann ein erst zögerndes und dann allmählich immer weiter anschwellendes Klatschen. Doch Carsten nahm den ohrenbetäubenden Applaus gar nicht wahr. Sein Körper fühlte sich immer noch kochend heiß an, während das Zittern den kältesten Winter vermuten ließ. Er spürte, wie Saya ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Das war atemberaubend, Carsten.“ „…W-wirklich?“, fragte er matt. „Und wie! Das- das war einfach…“ Was Saya ansonsten sagte verstand er nicht. Der Applaus war zu laut. Das Pfeifen in seinen Ohren zu schrill. Der Schwindel zu stark. Den restlichen Verlauf des Abends lief Carstens Körper wie ferngesteuert. Er hatte keine Ahnung, an welchen Gespräche er beteiligt war und wusste nicht, was oder wie viel er überhaupt gegessen hatte. Das einzige was er wusste war, dass er sich hundeelend fühlte und einfach nur noch ins Bett wollte. Schließlich machten sie sich endlich auf den Rückweg. Florian, Konrad, Rina und die Mädchen aus der Coeur-Academy begleiteten sie, doch Carsten wollte mit keinem mehr reden. Er wollte einfach nur noch schlafen. Jedoch wurde er von Eagle am Fuße vor der Treppe zum Haus abgefangen. „Können wir reden?“ Carsten nickte matt. „Geht schon mal vor.“, meinte Eagle, an Öznur gewandt. Diese seufzte. „Mach aber schnell, Carsten sollte sich dringend ausruhen. Du siehst doch, wie blass er ist.“ „Ja, es ist nur ganz kurz.“ „Was ist?“, fragte Carsten erschöpft, nachdem die Tür in die Angeln gefallen war. „Deine Rede vorhin… Was wolltest du damit bezwecken?“ Er war sich nicht sicher, wie er den Tonfall seines großen Bruders deuten sollte. Dennoch versuchte er so ausführlich wie möglich zu antworten: „Na was wohl? Ich wollte das Volk davon überzeugen, dass sie dich akzeptieren oder zumindest dir eine Chance geben.“ „Kam aber nicht so rüber.“ „Wie meinst du das?“ Eagle wies auf die Federkrone, die er immer noch trug. „Hatte Elan Recht? Hast du es darauf abgesehen.“ Irritiert musterte Carsten ihn. „Was?! Warum sollte ich das?!“ Verletzt ballte er die Hände zu Fäusten. „Glaubst du wirklich das, was dir ein betrunkener Vollidiot erzählt?“ „Nein, ich glaube das was ich sehe. Du versuchst dich in alles einzumischen und allem deine eigene Note zu geben.“ „Ich versuche dir zu helfen!“, rief Carsten aufgebracht. Seine Stimme klang seltsam heiser. „Das ist keine Hilfe!“, erwiderte Eagle verärgert. „Falls es dir Genie noch nicht aufgefallen ist: Du gewinnst mit solchen Aktionen das Volk für dich, nicht für mich!“ „Warum musstest du bitteschön auch so eine provokative Rede halten?!“ „Das geht dich einen Scheißdreck an!!!“ Eagle packte Carsten am Stoff seines Gewandes. „Du erzählst da deine schönen Märchen über ‚zusammen packen wir das‘, während du mir gleichzeitig in den Rücken fällst?!“ Gekränkt biss Carsten die Zähne zusammen und versuchte sich einzureden, dass das nur am Alkohol lag, den Eagle während des Festmahls getrunken hatte. Eine Zeit lang erwiderte Carsten den zornigen Blick seines großen Bruders. Doch schließlich wandte er sich ab und befreite sich aus Eagles griff. „Glaubst du wirklich, ich würde so etwas machen wollen?“, fragte er mit gesenktem Kopf. Der Schwindel wurde stärker und die Hitze trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. „Ich weiß nicht, was ich glauben soll! Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich dir vertrauen kann.“, erwiderte Eagle, immer noch in Rage. Carsten kniff die Augen zusammen und versuchte, das erdrückende Gefühl in seinem Herzen zu ignorieren. Hatten sich so auch Benni und Laura nach seinen Worten damals gefühlt? War das nun die Retour für seine Dummheiten? „…Das habe ich wohl verdient…“, erwiderte Carsten schwach. Er versuchte sich am Treppengeländer abzustützen. Die Welt schien sich zu drehen. Es war heiß, viel zu heiß. Carsten bekam keine Luft mehr. Er wusste nicht einmal mehr, ob er das Treppengeländer noch hatte erreichen können. Er versank einfach nur in einer kochend heißen Finsternis. Kapitel 68: Die Listen des Bereuens ----------------------------------- Die Listen des Bereuens       Schweigend saß Öznur mit dem Rest der Mädchen sowie Florian, Konrad, Rina und Saya im Wohnzimmer. Selbst ohne ihre Dämonensinne konnten sie alle den Großteil des Streits hören. Wie konnte Eagle Carsten nur so etwas zutrauen? Ausgerechnet Carsten? Einer der hilfreichsten, selbstlosesten Personen die Öznur je kennengelernt hatte! War Eagle so verzweifelt? Oder so betrunken? Beides? Sie wusste es nicht. Nur, dass Carsten zu Unrecht so von seinem großen Bruder behandelt wurde. Das hatte er nicht verdient… Konrads Verlobte seufzte. „Er macht es euch momentan nicht leicht, oder?“ „Na ja… Es ist nun mal eine schwere Zeit für Eagle…“, versuchte Susanne ihn in Schutz zu nehmen. Florian verschränkte die Arme vor der Brust. „Dennoch… Es schien alles so gut zu laufen. Aber dann hat seine Impulsivität offensichtlich doch die Oberhand gewonnen.“ Verbissen ballte Laura die Hände zu Fäusten. „Aber er hat trotzdem nicht das Recht dazu, seinen Frust an Carsten auszulassen! Er wollte ihm doch nur helfen…“ Irritiert blickte Öznur auf, als plötzliche Stille herrschte. Die allerdings nicht lange andauerte. „Carsten?! Was hast du?!“, hörte sie Eagle plötzlich leicht panisch fragen. Kurz darauf wurde seine Stimme lauter und verzweifelter. „Saya!“ Man hätte glatt vermuten können Carstens und Eagles Stiefmutter wäre eine Kampfkünstlerin, als sie aufstand und zur Haustür eilte. Besorgt folgte der Rest ihr. „Ist was passiert?“, fragte Laura verängstigt. Bei der Haustür angekommen beobachtete Öznur mit angehaltenem Atem, wie Saya die Treppe runter zu Eagle ging, der seinen kleinen Bruder im Arm hielt und leicht aufgebracht meinte: „Er ist plötzlich zusammengebrochen und…“ Gerade im Vergleich zu seiner sonstigen Hautfarbe wirkte Carsten beängstigend blass und sein Atem ging schnell und stockend. Vorsichtig versuchte Saya die Temperatur auf Carstens Stirn zu prüfen, zog die Hand allerdings zurück ohne ihn überhaupt berührt zu haben. „Bring ihn sofort in sein Zimmer.“, wies sie Eagle an und wandte sich an Susanne. „Kannst du ein paar Tücher nass machen?“ Susanne nickte und verschwand im Haus, während Öznur beobachtete, wie Eagle Carsten vorsichtig hochhob und ihn am Rest vorbei die Treppen nach oben in sein Zimmer trug. „Hat er einen Rückfall von der Erkältung?“, fragte Ariane besorgt. Saya nickte ernst. „Ich hatte schon befürchtet, dass so etwas passiert…“ Betreten senkte Laura den Blick. „Es war zu viel…“ „Ist… ist es sehr schlimm?“, erkundigte sich Janine. Carstens und Eagles Stiefmutter zwang sich zu einem aufheiternden Lächeln. „Er schwebt nicht in Lebensgefahr, falls du das meinst.“ Natürlich war Öznur erleichtert bei Sayas Aussage. Aber so ganz harmlos klang diese Formulierung auch nicht. Betreten beobachtete sie, wie Saya die Decke des ordentlich gemachten Bettes zur Seite zog und Eagle seinen kleinen Bruder behutsam hinlegte und den Kopf vorsichtig aufs Kissen bettete. Carsten atmete schnell und gepresst, als würde er verzweifelt um Luft ringen. Bei dem Licht schien seine Haut umso blasser und Schweißtropfen rannen ihm über die Stirn. Öznur fragte sich, seit wann Carsten eigentlich schon so mager wirkte. Kurz darauf kam Susanne mit mehreren befeuchteten und trockenen Handtüchern vorbei, die sie an Saya gab. „Danke.“, meinte diese. „Kannst du vielleicht mal mit deiner Magie seine Temperatur messen? Das geht schneller.“ Susanne nickte lediglich. Sie schloss die Augen und hielt ihre Hand über Carstens Stirn. „41,7 Grad.“ Bedrückt atmete Saya aus und begann, die nassen Tücher fest um Carstens Waden zu wickeln. „Das ist ziemlich hoch…“, kommentierte Janine beunruhigt. „Ja… Ich sollte ihm besser ein Fieber-senkendes Mittel geben.“, überlegte Saya laut und wandte sich an Eagle. „Schau mal im Medizinschrank nach ob wir noch Paracetamol oder Ibuprofen haben.“ Ohne irgendetwas darauf zu erwidern verließ Eagle das Zimmer. Öznur schaute ihm hinterher und wusste nicht, was sie denken sollte. Selbst wenn Eagle wirklich so über Carstens eigentlich nur lieb gemeinte Aktion dachte… Hatte er ausgerechnet jetzt damit ankommen müssen?! Hatte er nicht sehen können, wie schlecht es Carsten schon die ganze Zeit über ging?!? Öznur biss die Zähne zusammen als Eagle mit einer Packung Paracetamol zurückkam, die er Saya gab. Aber sie schaffte es, sich ihre Kommentare zu verkneifen. Sie konnte ihm nicht hier und jetzt die Meinung sagen. Immerhin ging es auch Eagle momentan alles andere als gut. Und noch dazu brauchte Carsten Ruhe. Sanft strich Saya ihrem Stiefsohn einige Strähnen aus der verschwitzten Stirn. „Carsten, kannst du dich aufrichten?“ Als sie eine Stelle berührte, die mit den weißen indigonischen Mustern verziert war, kniff Carsten plötzlich die Augen zusammen und gab einen erstickten Schmerzenslaut von sich. „Carsten?“, fragte Laura besorgt. Kritisch runzelte Saya die Stirn und betrachtete die Muster eingehender. „Kann jemand von euch vielleicht die Bemalung mit Magie entfernen?“ „Denkst du, er ist verwundet?“, erkundigte sich Susanne betroffen. Saya nickte. „Er schien bereits vorhin Schmerzen gehabt zu haben.“ Vorsichtig sprach Susanne einen Zauber. Ihre Stimme zitterte so sehr als befürchtete sie, Carsten damit noch mehr Leid zuzufügen. Zwar verzog er leicht das Gesicht, aber es schien zum Glück nicht so schlimm und kurz darauf waren die Muster auch schon verschwunden. Dachte Öznur zumindest. Florian runzelte die Stirn. „Das sieht stark nach Verbrennungen aus.“ „Hä? Wieso denn das?“, fragte Laura irritiert und betrachtete Carstens linke Körperhälfte eingehender. Auch Öznur schaute genauer hin. Und tatsächlich, die Muster waren immer noch da. Nur dieses Mal waren sie rötlich und mit vielen kleinen Brandblasen versehen, von denen einige sich sogar geöffnet hatten. Öznur schauderte. „Aua…“ „Aber warum ist Carsten so verletzt? Das hat gar nicht wie schwarze Magie gewirkt…“, bemerkte Ariane und wandte betreten den Blick ab. „Es könnte eine abgewandelte Form unserer schwarzen Magie sein.“, vermutete Konrad nachdenklich. „Wir arbeiten sehr stark mit Zeichen und Symbolen und die Verletzungen wirken auf mich wie ein Blutzoll.“ Nachdenklich verschränkte Florian die Arme vor der Brust. „Indigoner verwenden also noch schwarze Magie in ihren Zeremonien, obwohl diese als verboten gilt? Ihr seid mir ein seltsames Volk.“ „Du hast gut reden, mit deiner Glitzer-Nation.“, erwiderte Eagle leicht bissig. Der Elb runzelte die Stirn und ein warnender Unterton lag in seiner Stimme. „Wie meinst du das?“ „Ich glaube, wir alle sollten uns lieber heim machen und ins Bett gehen.“, warf Konrad ein, bevor Eagle in seinem ohnehin schon gereizten Zustand noch einen weiteren Streit begann. „Carsten braucht unbedingt Ruhe und bei einer Ärztin als Mutter ist der Rest von uns ohnehin eher überflüssig.“ „Finde ich auch. Auf jetzt, lasst uns gehen.“, gab Anne ihm Recht und ging zur Zimmertür. „Werde schnell wieder gesund, okay?“ Vorsichtig nahm Laura Carstens rechte Hand und drückte sie sanft. Anschließend verließen sie sein Zimmer, auch, wenn sich niemand dabei sonderlich wohl fühlte. Im Flur gab es nur eine betrübte Verabschiedung und der Großteil machte sich auf den Heimweg. Als der Rest das Haus verlassen hatte funkelte Öznur Eagle wütend an. „Was?“, entgegnete dieser und klang immer noch ziemlich unfreundlich. „Du kannst ein richtiges Arschloch sein, weißt du das?“ „Das hast du schon öfter gemeint.“, erwiderte er schulterzuckend und ging zur Küche, um sich eine Flasche mit hochprozentigem Alkohol aus dem Regal zu holen. „Möchtest du auch?“ „Nein. Und du hast ohnehin schon genug getrunken, also lass es.“ Ihre Aussage ignorierend füllte sich Eagle ein Schnapsglas voller als notwendig und kippte es mit einem Schluck hinunter. Noch bevor er sich erneut einschenken konnte, riss Öznur ihm die Flasche aus der Hand. „Öznur, lass den Scheiß, sonst-“, fuhr Eagle sie verärgert an. „Sonst was? Denkst du nicht, dass du schon genug angestellt hast?!“ „Angestellt?! Warum denkt auf einmal jeder, dass man mich wie ein kleines Kind behandeln muss?!“, rief er noch wütender. Öznur hasste diesen Ton. Durch Eagles tiefe Stimme hatte er immer etwas Einschüchterndes und jagte ihr sogar ein bisschen Angst ein. Aber sie hatte nicht vor, sich davon verunsichern zu lassen. Und jetzt schon gar nicht. Doch bei einem Blick in seine Augen verblasste ihr Ärger ein bisschen. Eigentlich wirkte Eagle einfach nur müde und verzweifelt. Und so langsam bekam sie den Eindruck, dass seine Wut nicht gegen sie, sondern viel mehr gegen sich selbst gerichtet war. Bedrückt stellte sie die Flasche ab, ging auf Eagle zu und zog ihn sanft in eine Umarmung. „Lass uns einfach ins Bett gehen, damit dieser ätzende Tag endlich vorbei ist.“ Eagle erwiderte die Umarmung erst nur zögernd und vorsichtig. Aber schließlich verstärkte er seinen Griff. Kein Laut kam über seine Lippen. Doch so, wie er sich an sie klammerte, hatte Öznur schon eine Ahnung was momentan in ihm vorging. Er zitterte sogar noch stärker als auf dem Weg zu der Krönungszeremonie, wo er die ganze Zeit über verkrampft ihre Hand gehalten hatte. Während sich Öznur unsicher überlegte, ob sie etwas sagen sollte, wurden ihre Gedanken von einem vorsichtigen Klopfen gegen die Küchentür erlöst. Überrascht drehte sie sich um und sah, wie Saya am Türrahmen lehnte und die beiden bedrückt betrachtete. Aus den Augenwinkeln bemerkte Öznur, wie sich Eagle grob mit der Hand über ein Auge wischte. Es geht ihm richtig scheiße…, stellte sie schweren Herzens fest. „…Wie geht es Carsten?“, erkundigte sich Eagle zögernd. Er schien es wirklich zu bereuen, Carsten in seinem ohnehin angeschlagenen Zustand im Prinzip den Rest gegeben zu haben. „Ich habe es geschafft ihm die Medizin zu geben und jetzt schläft er. Morgen dürfte das Fieber niedriger sein, aber ich werde trotzdem nachts hin und wieder mal nach ihm schauen.“, antwortete sie. Eagle wandte den Blick ab. „Ich… Es…“ Er seufzte. „Es tut mir leid.“ Saya kam zu ihnen rüber und nahm Eagle die Federkrone ab, die er bisher noch getragen hatte. „Du musst dich nicht bei mir entschuldigen. Sag das lieber Carsten, wenn es ihm wieder besser geht.“ Eagle nickte daraufhin nur. Saya lächelte schwach und legte die Krone zur Seite. „Setzt dich. Wir befreien dich jetzt erst einmal von den ganzen Malereien.“ „Ich fühl mich immer mehr wie ein kleines Kind.“, erwiderte Eagle verbissen, klang aber nicht mehr wütend. Eher müde. Und verzweifelt. Und einfach total hoffnungslos. Während er sich hinsetzte, reichte Saya Öznur ein Abschminktuch und begann selbst, die weißen Streifen aus seinem Gesicht zu entfernen. „Dann sei ein kleines Kind, wenn es dir hilft.“ Freudlos lachte er auf. „Carsten zufolge hilft das kein bisschen. Nein… Es macht alles nur noch schlimmer. Ich mache alles nur noch schlimmer. Wegen mir ist Carsten jetzt…“ Überrascht blickte Öznur vom Abschminken auf. Er nahm sich das ja noch stärker zu Herzen als gedacht. „Eagle, du brauchst dir nicht die Schuld dafür zu geben, dass Carsten krank ist. Das hat er sich selbst zu verantworten. Sich, seiner Ruhelosigkeit und dem unaufhörlichen Helferdrang.“, redete Saya ruhig auf ihn ein. „Selbst wenn ihr euch nicht gestritten hättet, dann wäre er halt oben vor seinem Zimmer zusammengebrochen. Dieser Abend und insbesondere dieses… Ritual…“ Schaudernd widmete sie sich den dunkelroten Streifen auf Eagles Schulter. „Schwarze Magie wurde nicht grundlos verboten. Ehrlich gesagt… Es passt mir nicht, dass er das lernen musste.“ „Nicht nur dir…“ Eagle seufzte. „Ich hätte ihm trotzdem nicht solche Vorwürfe machen sollen. Das Schlimme ist, dass ich noch nicht einmal so denke! Keine Ahnung, warum sowas aus meinem Mund kam!“ Saya war fertig, und wuschelte Eagle durchs kurze schwarze Haar. „Eine weiterer Punkt auf deiner Liste an Sachen, die du im Nachhinein bereust?“ „Die war doch ohnehin schon lang genug…“, erwiderte er bedrückt. Öznur erinnerte sich, Saya spielte auf seine Amtsantrittsrede an. Bis auf den letzten Teil hatte sie die Rede richtig gut gefunden. Genaugenommen wären ihr fast die Tränen gekommen, als Eagle mit der Sache mit dem ‚Bereuen‘ angefangen hatte. Ja, auch sie hatte eine Liste, die länger war als ihr lieb war. Und ganz oben stand immer noch die Sache mit Anne… „…Aber Carsten wird wieder gesund?“, erkundigte sich Eagle erneut. Öznur runzelte irritiert die Stirn. „Natürlich wird er das! Er hat nur Fieber!“ „Ich weiß!“, erwiderte Eagle verbissen. „… Trotzdem…“ Öznur richtete sich wieder auf und legte die Arme um Eagles Schultern. „Ich find’s echt süß, dass du dir inzwischen solche Sorgen um deinen kleinen Bruder machst. Aber übertreib’s bitte trotzdem nicht. Carsten wird wohl kaum einen Helikopterbruder haben wollen.“ Während Saya amüsiert kicherte, schnaubte Eagle empört. „Ich bin kein Helikopterbruder. Ich mach mir nur Sorgen… Ich weiß nicht, irgendwie…“, stammelte er, nicht wissend, wie er seine Gefühle in Worte fassen sollte. Nachdenklich ging Saya zur Kaffeemaschine und machte sich einen Espresso. „Du hast Angst auch ihn zu verlieren, nicht wahr?“ Eagle nickte und lehnte sich gegen Öznur. „Ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht, weil er Mutter wirklich zu ähnlich sieht. Oder, weil inzwischen sogar sie und Vater nicht mehr da sind… Ich…“ Sanft strich Öznur Eagle über die Wange, während sie mit aller Kraft ihre Tränen zurückhalten musste. Er hatte Recht, Carsten war der einzige aus seinem ursprünglichen Familienkreis, der noch übrig war. Natürlich betrachtete Eagle auch Saya und Sakura als Familie. Aber die beiden hatten immer noch das ‚Stief‘ vor Mutter und das ‚Halb‘ vor Schwester. Dasselbe schien auch Saya zu denken, doch weder sie noch Öznur konnten etwas dazu sagen. „Ihr solltet schlafen gehen.“, meinte Saya schließlich. „Der Tag war lang genug.“ Öznur nickte und auch Eagle richtete sich auf. Nach einem kurzen „Gute Nacht“ verließen sie die Küche und gingen nach oben. Vor Carstens Zimmer hielt Eagle kurz inne und schien zu überlegen, ob er reingehen und nach seinem kleinen Bruder schauen sollte. Öznur zog ihn an der Hand in Richtung seiner Zimmertür. „Komm, bevor du ihn noch ausversehen weckst. Carsten braucht den Schlaf.“ Betrübt nickte Eagle und ging weiter, in sein eigenes Zimmer, wo er sich der Länge nach auf das große Bett fallen ließ. Öznur war immer fasziniert, wie verschieden Eagles und Carstens Zimmer wirkten. Carstens Zimmer war neben den wichtigsten Möbeln nur spärlich eingerichtet und alleine die vielen Bücher im Regal und auf dem Schreibtisch ließen vermuten, dass es bewohnt war. In Eagles Zimmer herrschte eine viel größere Unordnung, im Regal standen keine Bücher, sondern Computerspiele und freie Plätze auf Schränken oder an der Wand waren mit verschiedenen Waffen ausgestattet. Darunter ein Sportbogen und viele Schwerter. Am eindrucksvollsten war das Großschwert in einer Ecke des Raumes. Der restliche freie Platz war mit sonstigen Trainingsgeräten wie Hanteln und Gewichten zugestellt und Eagles Klamotten langen in alle Winde verstreut auf dem Boden herum. Darauf bedacht nicht über eine Kurzhantel zu stolpern, ging Öznur zu Eagle rüber ins Bett und legte sich neben ihn. Er reagierte nicht darauf. Wahrscheinlich war er mal wieder mit der Frage beschäftigt, warum all das passieren musste. Warum hatte sein Vater sterben müssen? Warum hatte er ausgerechnet jetzt schon zum Häuptling gekrönt werden müssen? Und warum lag nun auch noch Carsten im Zimmer nebenan mit Verbrennungen und hohem Fieber im Bett? Bedrückt legte sich Öznur auf die Seite, um Eagles Profil besser betrachten zu können. Die abstehenden kurzen, pechschwarzen Haare. Die hellen, regelrecht orange wirkenden Augen, die ausdruckslos auf die Decke schauten. Seine Nase, die durch einen unglücklichen Bruch vor einigen Jahren nicht mehr gerade, sondern leicht krumm war. Und die Lippen, die Öznur so gerne küsste. Gedankenverloren streichelte sie Eagle über die Wange mit den hohen Wangenknochen. Sie wollte ihn nicht mehr so betrübt und verloren sehen. So kurz vorm Zerbrechen. Sie wollte ihm irgendwie helfen… Vorsichtig richtete Öznur sich etwas auf und küsste Eagle sanft auf die Lippen. Für einen Moment erwiderte er ihren Blick, als wäre er sich nicht sicher was er nun machen sollte. Oder eher, was er machen wollte. Wollte er weiterhin schweigend in seinen tristen Gedanken versinken oder wollte er sich irgendwie ablenken? Mit Öznur eine Zeit lang einfach alles vergessen. Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Er packte Öznur und zog sie näher an sich. Öffnete seine Lippen, um ihre Zunge mit einem leidenschaftlichen Kuss zu empfangen. Der Alkoholgeschmack störte Öznur nicht, sie war einfach froh ihm tatsächlich helfen zu können. Mit einer Form der Nähe, die nur sie ihm geben konnte. [...]   Öznur hatte gar nicht wirklich mitbekommen, dass sie eingeschlafen war. Erst als sie verwirrt die Augen öffnete fiel ihr auf, dass das Zimmerlicht nicht mehr brannte. Fröstelnd zog sie die Decke weiter nach oben, richtete sich auf und schaute sich um. Der Grund für die eisige Kälte war das geöffnete Fenster, stellte sie fest als sie Eagle sah, der schweigend an der Fensterbank lehnte und hinaus in den Sonnenaufgang schaute. Die Sonne beleuchtete die dunklen Wolken mit einem feurigen Rot und auch Eagles Gesicht wurde in die flammenden Strahlen getaucht. Bedrückt stellte Öznur fest, dass er an einer Zigarette zog und ihren Rauch in die kalte Luft ausatmete. Seit etwa einem Monat hatte Eagle eigentlich versucht mit dem Rauchen aufzuhören, da sich Öznur so häufig über den Zigarettengestank beschwert hatte. Und es lief bisher auch ziemlich gut! Doch seit dem Vorfall mit seinem Vater vor einer Woche… Bedrückt betrachtete Öznur den frisch gekrönten Häuptling. Den tiefen Augenringen nach zu urteilen schien er nicht sonderlich gut geschlafen zu haben. Falls er überhaupt geschlafen hatte. „…Guten Morgen…“, grüßte sie ihn zögernd. Da Eagle nichts darauf erwiderte richtete sich Öznur auf und ging zu ihm rüber ans Fenster. Vorsichtig setzte sie etwas Feuer-Energie frei, um nicht allzu sehr zu frieren, und schlang anschließend die Arme um seinen nackten Oberkörper. „Wie geht es dir?“, erkundigte sie sich nach einer Weile. Eagle antwortete lediglich mit einem knappen Schulterzucken. Öznur seufzte. Gestern Nacht war trotz allem nur eine Ablenkung gewesen. An der Situation selbst konnte sie rein gar nichts ändern. Sanft berührte sie sein Kinn und drehte seinen Kopf zu sich, um ihn zu küssen. Doch bei dem Zigarettengestank hielt sie inne. Alkohol war überhaupt kein Problem, aber diesen Geruch mochte sein kein bisschen. „Was ist?“, fragte Eagle, obwohl er den Grund ihres Zögerns eigentlich kennen müsste. Öznur seufzte erneut und gab ihm stattdessen einen kurzen Kuss auf die Wange. „Lass uns runter einen Kaffee trinken gehen. Vielleicht ist Saya wach und kann uns sagen wie es Carsten geht.“ Ihre Idee schien Eagle zu gefallen, denn während sich Öznur anzog rauchte er seine Zigarette fertig und drückte sie im Aschenbecher auf der Fensterbank aus. Bei einem kurzen Blick fiel Öznur auf, dass da schon drei weitere Stummel lagen. Mist, er ist wohl extrem rückfällig geworden., bemerkte sie verbissen. Tatsächlich trafen sie in der Küche auf Saya, die wohl genauso wie Eagle kein Auge hatte zudrücken können. Doch zumindest erzählte sie, dass Carstens Fieber inzwischen um einen Grad gesunken war, was Eagle und Öznur erleichtert aufatmen ließ. Mit den dampfenden Kaffeetassen in der Hand kehrten sie allerdings sofort in sein Zimmer zurück. Er schien momentan wohl einfach seine Ruhe haben zu wollen. Wieder lehnte Eagle schweigend am Fenster und holte sich eine neue Zigarette aus der Packung, um sie sich anzuzünden. Doch sein Feuerzeug schien den Geist aufgegeben zu haben. Mit einem lauten indigonischen Fluch warf Eagle es in die entfernteste Ecke und hielt Öznur die Zigarette hin. „Kannst du mal?“ „Ich bin kein Feuerzeug.“ „Öznur, bitte.“ Doch sie schüttelte den Kopf. „Die wievielte ist das? Nummer fünf? Alleine heute? Nichts da, es reicht.“ „Wolltest du mich vorhin deshalb nicht küssen?“ „Du weißt, wie ich den Geruch hasse. Und den Geschmack erst recht.“, erwiderte Öznur und schluckte ihren Ärger hinunter. Eagle brauchte sie gerade. Dringender denn jäh. Seine Raucherei durfte nicht ausgerechnet jetzt zu einem Streit führen. Dieser schnaubte verärgert. „Stell dich nicht so an.“ „Ich mag es halt nicht! Und abgesehen davon ist das total ungesund, was du da machst.“ „Fängst du schon wieder an mich wie ein kleines Kind zu behandeln?!“ „Du verhältst dich ja auch andauernd wie eins!“ Verdammt, Öznur schaffte es nicht sich im Zaum zu halten. Sie hatte keine Kontrolle über das, was sie da von sich gab. Dass Eagle wieder mit dem Rauchen anfing frustrierte sie einfach zu sehr. „Und wie soll ich mich deiner Meinung nach sonst verhalten?!“ „Vielleicht so, wie es sich für einen Häuptling gehört?“ Diese Worte rutschten einfach so über ihre Lippen. Und Öznur bereute sie direkt. Nicht das. Nicht ausgerechnet das! Eagle schaute sie einen Moment einfach nur sprachlos an, als bräuchte er Zeit um ihre Worte zu verstehen. Doch sehr bald formten sich seine Lippen zu einer verärgerten schmalen Linie während er den Kiefer anspannte. Die bernsteinfarbenen Augen verengten sich zu wütenden Schlitzen. Schmale Furchen bildeten sich auf der Stirn. „Eagle, ich… So meinte ich das nicht…“, stammelte sie verzweifelt. „Ich wollte doch nur-“ „Spar dir deine Ausreden.“ Ein eisiger Wind zog durch den Raum. So eisig wie Eagles Stimme. „Es ging dir all die Zeit nur um meinen Stand, nicht wahr?“ „Hä?“ „Jetzt spiel hier nicht die Dumme!“, donnerte er und der Wind tobte immer stärker. „Du bist genauso wie die anderen Mädchen! Jede einzelne von euch!“ „Eagle, wovon redest du?!“, schrie Öznur verzweifelt. Der schneidende Wind fühlte sich genauso verletzend an wie seine Worte. Seine tiefe Stimme dröhnte so laut wie der tosendste Sturm. „Du weißt genau wovon ich rede! Und?! Bist du nun zufrieden?!“ Öznur stolperte einige Schritte zurück und kämpfte erfolglos gegen die Tränen an. „Nein! Kein bisschen!!! Dir geht es grauenhaft, Carsten ist krank und jetzt fängst du auch noch auf einmal damit an, mich anzuschreien! Wie soll ich da bitte schön zufrieden sein?!?“ „Als würdest du dich für meine Situation auch nur einen Dreck interessieren! Sag schon! Wie ist es so vom Häuptling gefickt zu werden?! War’s geil?! Kannst du damit jetzt vor den anderen angeben?!?“ Verzweifelt ballte Öznur die Hände zu Fäusten und kniff die Augen zusammen. Bei dem brennenden Schmerz in ihrem Herzen konnte sie auch die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Darum geht es mir doch gar nicht… Darum ging es mir nie!“, schluchzte sie laut und erwiderte Eagles Blick, der immer noch von Wut verzerrt war. „Glaub mir doch!!!“ Aber es half nichts. Eagle schüttelte den Kopf und wandte sich ab, dem Fenster zu. Der Wind wurde etwas schwächer, war aber immer noch eisig kalt. „Geh.“, meinte er plötzlich. „Was?“ Zitternd ging Öznur zu Eagle rüber. „Nein, ich kann dich nicht alleine lassen. Ich will dich nicht alleine lassen! Nicht ausgerechnet jetzt!“ Sie wollte seinen Arm nehmen, doch Eagle wehrte sie grob ab. „Verschwinde! Bevor ich noch mehr sage, was ich bereuen könnte!“ Schluchzend wischte sie sich die Tränen von der Wange. „Bevor du noch mehr sagst, was du bereuen könntest?! Was meinst du damit?! Willst du direkt Schluss machen, oder wie?!“ „Lass mich einfach in Ruhe!“ „Eagle, ich-“ „Hau ab!“ „Aber…“, stammelte Öznur. Sie wollte das nicht. Sie konnte ihn doch nicht hier und jetzt zurücklassen! Sie wollte ihm doch nur helfen! Verhindern, dass er unter dem ganzen Druck zusammenbrach! Doch Eagle ließ sie nicht. Zeigte ihr nur die kalte Schulter… Öznur senkte den Blick. „Wenn du mich unbedingt loswerden willst… Okay, von mir aus. Ich gehe! Aber… denk bloß nicht, dass ich dich so einfach aufgebe. Wenn… wenn du mich irgendwie brauchst…“ Mehr brachte sie nicht mehr über die Lippen. Schluchzend stolperte sie zur Tür und verließ sein Zimmer. Im Flur wäre sie fast in Saya gerannt, die ihr verheultes Gesicht natürlich unmöglich übersehen konnte. „Was ist passiert?“, fragte sie besorgt. Schluchzend krallte sich Öznur an Sayas Pulli, die sie sanft in die Arme nahm. „Pass… pass bitte auf Eagle auf…“, bat sie seine Stiefmutter mit zitternder Stimme. „Ich… Er… Wir…“ Saya schien nicht viel mehr Informationen zu brauchen. Vorsichtig befreite sie Öznur aus der Umarmung, um ihr in die Augen schauen zu können. „Gib ihm etwas Zeit für sich. Ich bin sicher, dass er bald merken wird, wie sehr er dich braucht.“ „G- glaubst du?“, fragte Öznur schluchzend und wischte sich über die Augen. Mit einem überzeugten Lächeln nickte Saya. „Ich passe in der Zeit auf, dass er keine Dummheiten macht.“ „O-okay… Danke…“ „Möchtest du etwas? Einen zweiten Kaffee? Was zu Essen?“, erkundigte sie sich fürsorglich. Öznur schüttelte den Kopf und konnte immer noch nicht glauben, was da gerade eigentlich passiert war. „Ich geh zurück zur Coeur-Academy…“ „In Ordnung… Ich hoffe, du kommst bald wieder.“ „Das hoffe ich auch…“ Bedrückt umarmte Öznur Saya noch einmal. Sie warf einen letzten Blick auf Eagles Zimmertür, ehe sie schweren Herzens die Treppe herunterstieg und das Haus verließ, während sie betete, dass Saya Recht behalten würde.   Der Weg über den Campus der Coeur-Academy fühlte sich genauso grauenhaft an, wie der Weg an die Stadtgrenze von Karibera zuvor. Öznur hatte kein Auge für die schönen, farbigen Blätter der Bäume. Es interessierte sie nicht, dass ihre Schule so herrliche Barockgebäude hatte. Das einzige, was sie überhaupt wahrnahm, war der mit Wolken verhangene Himmel. Sie wusste gar nicht, ob sie überhaupt Lust darauf hatte mit den Mädchen darüber zu reden. Denn natürlich würden sie sofort erkennen, dass etwas passiert war. Aber andererseits wollte sie jetzt auch nicht alleine sein… Immer noch schluchzend ging Öznur über das riesige Sportgelände und betrat schließlich den Fitnessraum, in der Hoffnung dort eins der Mädchen beim Training zu treffen. Natürlich war die einzige, die irritiert von der Hantelbank aufblickte, ausgerechnet Anne. Warum hatte sich Öznur auch genau für diesen Ort entschieden?! „Was ist denn mit dir passiert?“, kommentierte Anne ihr Erscheinungsbild, während sich Öznur zögernd neben den Aufbau mit den ganzen Gewichten setzte. Jetzt wieder verschwinden konnte sie auch nicht mehr. „Eagle und ich, wir… wir haben uns gestritten…“, erklärte sie und wieder brachen die Tränen über sie herein. Alleine die Erinnerung an Eagles Blick und seine Worte taten unglaublich weh. Rissen ihr Herz in tausende kleine Stücke. Anne richtete sich auf, aber nicht, um Öznur irgendwie Trost zu spenden, sondern nur, um weitere Gewichte an der Langhantel zu befestigen. Schließlich erwiderte sie aber doch etwas: „Erst mit Carsten und jetzt mit dir. Er scheint im Moment ziemlich auf Konfrontation aus zu sein.“ „Aber…“, schluchzte Öznur, wusste aber nicht, was sie sagen sollte. Immer noch teilnahmslos fuhr Anne mit ihrem Training fort. Nachdem sie die Gewichte mehrere Male hochgestemmt hatte und die Hantel wieder in die Halterung legte, betrachtete sie Öznur, deren Schluchzen sich kaum gebessert hatte. „Worüber habt ihr euch denn gestritten?“ „Ich… Keine Ahnung!“, schrie Öznur verzweifelt. „Eagle hat mir auf einmal vorgeworfen, dass ich genauso wie die anderen Mädchen bin und nur was von ihm will, weil er mal der Häuptling wird! …Also… Weil er inzwischen…“ Anne hielt beim Anbringen weiterer Gewichte inne. „… Hat er denn Recht?“ „Was?!? Nein! Niemals!!! Warum sollte er sowas von mir denken?!?“ „Ehrlich gesagt wäre ich gar nicht so überrascht.“, antwortete sie schulterzuckend. „Aber… Wieso…“ Entgeistert starrte Öznur Anne an, während immer mehr Tränen ihre Augen verließen und sich ihr Herz immer mehr zusammenzog. Traute sie ihr so etwas wirklich zu? Und noch schlimmer: Traute Eagle ihr so etwas wirklich zu?!? Anne erwiderte ihren Blick. „Du hast schon so häufig auf unseren Stand angespielt. Beneidest uns ständig darum, dass wir ‚reichen Schnösel‘ alles in den Arsch geschoben bekommen. Warum solltest du da nicht auf einen gutaussehenden Häuptlingssohn anspringen?“ „Ich bin nicht deshalb mit Eagle zusammen!“, rief Öznur empört und schluchzte erneut. „Ich liebe ihn! Deshalb!“ Anne betrachtete sie für einen Moment. Schließlich legte sie das Gewicht zur Seite und setzte sich auf die Hantelbank. „Und du hast wirklich keine Hintergedanken? Dass du dir aufgrund seines Standes Vorteile verschaffen könntest?“ „Niemals!“ Öznur ballte die Hände zu Fäusten. „Warum sollte ich sowas wollen?!“ Anne zuckte mit den Schultern. „Oh, es gibt mehr als genug Leute, die das wollen.“ Irritiert betrachtete Öznur sie und wischte sich erneut Tränen von der Wange. „So ein Unsinn…“ Anne hob eine Augenbraue. „Du hast wirklich keine Ahnung, oder?“ Sie seufzte. „Reich heiraten, sich hochschlafen, … Solche Formulierungen gibt es nicht ohne Grund. Noch nie darüber nachgedacht? Ich bin nicht grundlos so genervt von Beziehungen. Und das hat nichts mit meinem ‚Vaterkomplex‘ zu tun, bevor du mal wieder damit ankommst. Egal, was für ein Geschlecht: Immer, wenn jemand Interesse an mir geäußert hat, hab ich sehr bald erfahren dass das nichts mit mir selbst und meinem Charakter zu tun hat. Die Leute sind allesamt nur auf das Geld und den Einfluss den du hast aus. Ehrlich gesagt wäre ich verwundert, wenn Eagle solche Erfahrungen nicht gesammelt hätte.“ Wie eingefroren hielt Öznur inne. Was hatte Anne da gesagt? „Du… du meinst also…“, stammelte sie, „So ein Unsinn, warum sollte jemand so etwas machen wollen?“ „Dass du so naiv bist hätte ich auch nun wieder nicht gedacht.“, kommentierte Anne ihre Ungläubigkeit. „Nein, das nicht, aber… Aber trotzdem… Warum denkt Eagle dann, dass ich- dass ich auch so bin?!“ Erneut brachen die Tränen über Öznur herein. Zitternd und frierend schlang sie die Arme um sich. Natürlich fand sie die Vorstellung furchtbar, dass Eagle solche Erfahrungen gemacht haben könnte. Aber dass er sie für eins dieser Mädchen hielt war dadurch umso verletzender. Öznur kniff schluchzend die Augen zusammen. Und all das passierte ausgerechnet jetzt, wo es ihm doch ohnehin so schlecht ging. Hatte er nicht gestern Nacht erst gesagt, er wolle nicht, dass auch noch zwischen ihnen etwas passierte?! War das ‚Danke, dass du da bist‘ einfach so daher gesagt, weil es in die Situation passte? War all das bedeutungslos gewesen?! Ihre gesamte Beziehung?!? Ein Zeitvertreib?!?! Noch während Öznur in ihren verzweifelten Gedanken zu versinken drohte spürte sie, wie jemand eine Hand auf ihre Schulter legte. „Hey, der Typ hat auch Carsten gestern unterstellt er wolle seinen Platz als Häuptling einnehmen. Und das ist wohl das letzte, was man von diesem gutmütigen Trottel erwarten würde. Wahrscheinlich ist Eagle im Moment einfach viel zu durcheinander, um auch nur annähernd rational denken zu können.“ „Meinst du… meinst du wirklich?“ Zitternd setzte Öznur die Brille ab und wischte sich über die Augen. Sie versuchte, Anne durch den Tränenschleier anschauen zu können. Doch sie sah alles nur verschwommen. Anne atmete geräuschvoll aus und setzte sich vor ihr im Schneidersitz auf den Boden. „Ja, mein ich.“ „Also… denkst du, ich sollte nochmal mit ihm reden?“ Mit zitternden Händen tastete Öznur nach ihrem Smartphone, hielt aber inne als sie sah, wie Anne mit dem Kopf schüttelte. „Du erwartest doch nicht ernsthaft ausgerechnet von mir Beziehungstipps.“, meinte sie und klang leicht genervt. „Aber falls du zur Ausnahme mal wirklich Wert auf meine Meinung legst: Ich würde warten, bis er sich meldet. Lass ihn erst einmal in Ruhe, sodass er realisieren kann was für eine Scheiße er da gebaut hat. Und vielleicht will er ja auch selbst erstmal mit jemand anderem drüber reden. …Wenn er irgendwann mal wieder klar denken kann.“ Natürlich war Öznur alles andere als glücklich über Annes Meinung. Am liebsten würde sie diese Worte einfach ignorieren und Eagle anrufen. Sie wollte doch nur, dass wieder alles in Ordnung war. Dass er seine Worte bereits bereute, mit einer riesigen Entschuldigung ankam und alles war vergeben und vergessen. Aber dummerweise sagte ihr Kopf, dass Anne Recht hatte. Sie sollte ihm etwas Zeit geben… Besonders, wenn er wirklich schlechte Erfahrungen mit anderen Mädchen gemacht hatte. Öznur erinnerte sich, Eagle hatte mal erzählt, dass die meisten von seinen Beziehungen nicht sonderlich lange anhielten. Sie hatte eigentlich immer gedacht, dass die Richtige einfach nie dabei gewesen ist. Dass sie die Richtige für ihn war! Aber vielleicht steckte wirklich noch mehr dahinter… Bedrückt seufzte Öznur und steckte ihr Handy zurück in die Hosentasche. Anne hob daraufhin eine Augenbraue als hätte sie nicht erwartet, dass Öznur ihren Rat tatsächlich befolgen würde. Verdammt noch mal, das alles war doch garantiert nur wegen dieses einen Streites damals während der Prüfungsphase! Nur deswegen hatte sich Öznur so unwohl dabei gefühlt, sich ausgerechnet Anne anzuvertrauen. Und nur deswegen war Anne auch immer noch so distanziert! Nur, weil Öznur ihr bescheuertes Mundwerk nicht hatte kontrollieren können! Weil sie sich wie die Zicke des Jahrhunderts hatte benehmen müssen! Weil sie Anne an das schlimmste erinnert hatte, was ihr je widerfahren ist. Verlegen wich Öznur ihrem Blick aus. „Dafür, dass du eigentlich noch überhaupt keine Erfahrungen in Beziehungen hast, kannst du ziemlich gute Ratschläge geben…“ „Das hat nichts mit Erfahrung zu tun, sondern nur mit logischem Denken. Solltest du auch mal ausprobieren. Funktioniert ganz gut.“, erwiderte Anne sarkastisch. Die Kälte in Öznur breitete sich immer weiter aus. „Ich glaub nicht, dass ich das kann… Du weißt doch, was für eine Niete ich in Mathe bin…“ „Ja, das hab ich mitbekommen.“ Anne schien sich wieder aufrichten zu wollen, doch Öznur hielt sie hastig zurück. „Warte! Moment! Ähm…“ Obwohl es Öznur noch immer nicht schaffte ihr in die Augen zu schauen, spürte sie Annes Blick auf sich ruhen. „Was denn noch?“ „Ich…“ Öznur hatte keine Ahnung, wie sie das in Worte fassen konnte. War es überhaupt möglich, so etwas auszusprechen? „Ich… ähm… Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich… ne ziemlich dumme Gans bin.“ „Das weiß ich schon längst.“, meinte Anne daraufhin nur. So eine Antwort passte zu ihr. Öznur atmete tief durch und schaffte es endlich ihren Blick zu erwidern. Anne hatte die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete sie kritisch. „Sonst noch was? Ansonsten würde ich nämlich ganz gerne weiter trainieren.“ Musste sie es ihr noch schwerer machen als es ohnehin schon war?! Trotzdem nickte Öznur verunsichert. „Ja… Also… Ich wollte…“ Sie seufzte. „Es tut mir leid, dass ich so eine dumme Gans war. …bin…“ Eine Zeit lang herrschte Schweigen und Öznur fühlte sich unter Annes Blick immer unwohler. Sie konnte einfach nicht herausfinden, was er zu bedeuten hatte. Was dachte sie? War diese Entschuldigung ausreichend? Oder war sie in Wahrheit kurz vorm Ausrasten? Öznur merkte, wie Anne die Hände anspannte als sie sagte: „Ja, du bist wirklich eine dumme Gans. … Das hatte ganz schön lang gedauert.“ Für einen kurzen Moment war Öznur verwirrt. Anne war nicht wütend? Hatte nicht vor, ihr eine rein zu hauen?! Irgendetwas stimmte da doch nicht… „Ich… es… es tut mir leid…“, stammelte Öznur. Sie hatte den Eindruck, sich gar nicht oft genug entschuldigen zu können. „Wirklich, es tut mir so leid! Also-“ „Ja, ja, ist schon gut! Ich hab’s kapiert.“, unterbrach Anne sie und verdrehte die Augen. Wieder brach Öznur in Tränen aus. Doch dieses Mal war es nicht wegen Eagle. „Glaub mir doch, ich will das irgendwie wieder gut machen!“ Anne stöhnte auf und klang leicht genervt. „Dann hör auf zu heulen. Du bist ja schon genauso schlimm wie Laura!“ „Aber…“ Verzweifelt versuchte sich Öznur zusammenzureißen. Doch es brachte nichts. Diese ganze Situation war ohnehin schon schlimm genug. Und dann kam noch ihr blöder Streit mit Anne dazu. Als hätten sie keine anderen Sorgen! Nein, Öznur hatte sich ja unbedingt durch diese dämliche Klausurenphase wie eine absolute Bitch verhalten müssen! „Glaub mir doch… Es tut mir leid…“, schluchzte sie. Wieder spürte sie, wie Anne eine Hand auf ihre Schulter legte. „… Ich glaube dir.“, erwiderte Anne nach einigem Zögern. „Aber dafür hörst du jetzt auch endlich mal mit dieser Heulerei auf.“ Öznur brachte nur ein Nicken zustande, schaffte es aber trotzdem nicht sich zu beruhigen. Stattdessen fiel sie Anne um den Hals und umarmte sie ganz fest. Eigentlich war Anne kein Fan von Umarmungen und das machte sie auch mit einem entnervten Stöhnen deutlich. Aber trotzdem wies sie Öznur nicht von sich. Im Gegenteil. „Du bist wirklich eine dumme Gans.“, meinte sie nur erwiderte die Umarmung. Öznur schluchzte. „Ich weiß.“ Kapitel 69: Eifersucht und Machtlosigkeit ----------------------------------------- Eifersucht und Machtlosigkeit       „Wollt ihr mich verarschen?“ Alles andere als begeistert verschränkte Anne die Arme vor der Brust. Nach der ganzen Aktion von Öznur hatte sie beschlossen das Training links liegen zu lassen und sich einfach mal mit der dummen Gans des Jahrhunderts zu unterhalten. Und ja, es ging ihr nun tatsächlich besser. Sie nahm Öznur die Aktion damals zwar immer noch übel aber das Wissen, dass es Öznur leid tat und sie es wirklich bereute, machte die Sache einfacher. Viel einfacher. Bis eben. Verbissen beobachtete Anne wie Susanne einen Typ über das Sportgelände führte und ihm den Campus der Coeur-Academy zu zeigen schien. Das war zwar nicht weiter von Bedeutung aber dass der Kerl dabei einfach so Susannes Hand hielt, löste in Anne eine lodernde Mordlust aus. Gleichzeitig hatte sie den Eindruck, jemand habe ihr einen Dolch ins Herz gerammt. „Das ist Miguel, oder?“, vermutete Öznur nachdenklich. „War. Wenn er nicht gleich ihre Hand loslässt.“, erwiderte Anne kopflos und verärgert. Öznur betrachtete sie irritiert. „Alles okay?“ Anne schnaubte. „Nichts ist okay.“ Öznur wollte etwas erwidern, doch dummerweise hatte Susanne sie bereits gesehen und musste natürlich zu ihnen rüber kommen. Das Schwein klebte derweil immer noch an ihrer Hand. Er war ein dunkler Typ mit schwarzen Locken und dunklen Augen, der sehr schnöselig gekleidet war. „Guten Morgen.“, grüßte Öznur die beiden. „Du musst Miguel sein, oder?“ Besagter Typ nickte. „Genau der. Und du bist… Öznur?“, vermutete er und reichte ihr die Hand, als Öznur seine Aussage bestätigte. Seine Hand wanderte zu Anne weiter, die jedoch nur die Arme vor der Brust verschränkte als sie knapp ihren Namen nannte. Sie wollte dem Arsch nicht die Hand geben. Er widerte sie an. Doch den Idioten schien das nicht weiter zu stören. Er lächelte die beiden Mädchen an. „Es freut mich, endlich Susannes Freundeskreis kennenlernen zu können.“ Wie kannst du es wagen ihren Namen zu nennen?, dachte Anne verärgert. Sie hatte keine Ahnung, warum sie dem Kerl bei jedem Wort am liebsten den Hals umdrehen würde. So krass war das noch nicht einmal gewesen als sie damals Carsten, Benni, Eagle oder sonst jemanden der Dämonen-Typen kennengelernt hatte. Aber es war nun mal so. Er kotzte sie einfach direkt an. Öznur nickte. „Uns freut es auch, dich endlich mal zu treffen.“ Anne schnaubte. Pah, von wegen. Derweil wandte sich Öznur an Susanne. „Aber warum hast du denn nichts gesagt, Susi?“ Diese seufzte. „Entschuldigt, ehrlich gesagt habe ich es bei all dem was passiert ist einfach vergessen. Aber Miguel wollte unbedingt noch während der Semesterferien vorbeikommen und hatte sich bereits als Gast angemeldet, da wollten wir es nicht mehr verschieben… Aber Öznur, ich dachte du wärst…“ Bedrückt wandte Öznur den Blick ab und Anne meinte zu sehen, dass ihr schon wieder Tränen in die Augen schossen. „Wir… haben uns gestritten.“ „Was?!“ Die Sorge und Anteilnahme in Susannes Stimme war nicht zu überhören, ebenso die Überraschung. Mit ihrem engelsgleichen Mitgefühl betrachtete sie Öznur. „Oh nein, das tut mir so leid… Wie… Wie konnte es dazu kommen?“ Betrübt zuckte Öznur mit den Schultern. „Wie du schon sagtest… Es ist viel passiert… Ich glaube, er… Er…“ „…Braucht etwas Zeit für sich.“, ergänzte Anne und befürchtete, dass Öznur direkt wieder losheulen würde. Mitleidig atmete Susanne aus. „Wahrscheinlich habt ihr recht… Und… Wie geht es Carsten?“ Das würde Anne auch gerne wissen. „Angeblich besser.“, antwortete Öznur, immer noch deprimiert. „Aber es scheint wohl noch eine Weile zu dauern, bis er wieder fit ist.“ Susanne nickte. „Den Eindruck hatte ich gestern auch. Carsten hat sich einfach viel zu sehr überarbeitet.“ „Ist das nicht der hochintelligente Indigoner, von dem du erzählt hast?“, erkundigte sich Miguel. Schon wieder würde Anne ihm am liebsten eine reinhauen. Susanne nickte. „Leider ist er momentan daheim. Gestern Abend ist er mit hohem Fieber zusammengebrochen und ich kann mir vorstellen, dass er eine Weile braucht, bis er wieder völlig genesen ist.“ „Herrje, das tut mir leid.“, erwiderte er und schien wirklich Mitleid zu haben. „Ich hätte ihn so gerne kennengelernt.“ „Ich bin mir sicher, dass ihr euch gut verstehen würdet.“, sagte Susanne. „Nach dem was du so erzählt hast glaube ich das auch. Außerdem hätte ich gerne mal seine Meinung zu Indigos momentaner Situation erfahren. Die Nachrichten erzählen zwar viel, aber es wäre sehr interessant, die Lage aus der Sicht eines Indigoners geschildert zu bekommen.“ Anne lachte in sich hinein. Oh ja, Carstens Sicht ist definitiv interessanter als die der ganzen ausländischen Reporter. Da fiel ihr auf, dass der Kerl wahrscheinlich gar nicht wusste, dass Carsten der kleine Bruder des erst gestern gekrönten Häuptlings war. Wenn Susanne nicht direkt von Eagle erzählt hatte war es unmöglich die Verwandtschaft alleine aufgrund der Namen zu erkennen. Denn in den Medien wurde Chiefs zweiter Sohn immer nur Crow genannt. Anerkennend hob Anne eine Augenbraue. Carsten hatte das mit seinem inoffiziellen Erstnamen gar nicht mal blöd angestellt. Bis auf ihre Gruppe wusste so gut wie keiner über seine Abstammung Bescheid. Widerwillig begleitete Anne Öznur, Susanne und das Schwein bei dem Rundgang über den Schulcampus, bis es Zeit fürs Mittagessen war. Wo er ihnen natürlich auch unbedingt Gesellschaft leisten musste. Zumindest Lissi zeigte ebenso wenig Begeisterung wie Anne. „Ich habe deine Kür bei der Krönungszeremonie gestern im Fernsehen gesehen.“, startete Miguel ein Gespräch mit Susannes jüngerer Zwillingsschwester. „Das war wirklich eindrucksvoll. Du bist letztes Jahr zurecht Junior-Damonmeisterin geworden.“ „Danke.“, nahm Lissi das Lob kurz gebunden an und bevorzugte es, ihre Aufmerksamkeit auf die Nudeln zu richten. „Wie kommt es, dass du diejenige warst, die für Eau den Beitrag geleistet hat?“, hakte Miguel nach. Lissi zuckte mit den Schultern. „Ich wollte einfach. Und deshalb habe über Padres Bekanntenkreis mal nachgefragt, ob die hohen Tiere damit einverstanden wären. Die fanden das ne nette Idee und deshalb durfte ich mitmachen. Mehr war das nicht.“ „Du untertreibst, ich fand das wirklich toll von dir.“ „Das stimmt, Lissi. Deine Kür war sogar noch besser als die von den Meisterschaften letzten Jahres.“, gab Susanne dem Typen recht. Erneut zuckte Lissi mit den Schultern. Ja, sie schien von der Situation wirklich genauso wenig begeistert wie Anne. Ziemlich ironisch, dass sie ausgerechnet mit Lissi mal einer Meinung war. Auch Miguel schien zu merken, dass er bei Susannes jüngerer Zwillingsschwester nicht gerade hoch im Kurs war. Daher wandte er sich an den Rest als er das Gespräch fortfuhr: „Ich war an sich richtig beeindruck von dem Programm gestern Abend. Nur dieser traditionelle indigonische Tanz war etwas…“ „… unerwartet?“, schlug Janine vor und schien Susanne zuliebe zu versuchen, die abweisende Haltung einiger Mädchen auszugleichen. Sie sollte sich gar nicht erst die Mühe machen. Miguel nickte. „Das trifft es ganz gut.“ „Oh ja, wir waren auch leicht geschockt.“, gab Ariane ihm Recht. Die Erinnerung daran schien Lissi zu amüsieren. „Du solltest wirklich überlegen, den Tanz Cärstchen zuliebe zu lernen.“ Während der Rest der Mädchen plötzlich loslachte verdrehte Ariane genervt und leicht verlegen die Augen. „Ich sagte doch schon, dass ich nicht tanzen kann.“ Janine kicherte. „Abgesehen davon würde er vor Scham wahrscheinlich direkt in Ohnmacht fallen.“ „Meint ihr diesen Carsten?“, erkundigte sich Miguel. „Dein Freund?“ Ariane schüttelte den Kopf. Da ergänzte Öznur plötzlich: „Noch nicht zumindest.“ Allmählich wurde Anne verwirrt. „Klärt mich mal jemand auf?“ Lissi kicherte. „Die beiden kommen sich endlich ein bisschen näher.“ „Wir haben nur den Nachmittag miteinander verbracht.“, dämpfte Ariane die Situation etwas ab und wirkte immer noch beschämt. Öznur zwinkerte ihr zu. „Zu zweit, ohne sonst jemanden. Und ihr habt in naher Zukunft ein Date.“ Ariane pustete einige Strähnen ihres Ponys aus dem Gesicht. „Eventuell. Wenn wir endlich mal wieder etwas Ruhe haben.“ „Ist das dein Ernst?“ Wie kam es eigentlich, dass nur Anne von all dem überrascht schien? Na gut, sie hätte sich auch nie vorstellen können, dass Carsten überhaupt mal jemandem näherkommen würde. Sie wusste nicht, wieso. Aber Carsten schien in ihren Augen einfach nicht für eine normale Beziehung gemacht. Wobei sie dasselbe auch über Benni gedacht hatte und bei dem und Laura wurde es ja im Endeffekt ekelhaft kitschig. Seufzend legte Ariane die Gabel zur Seite. „Denkt ihr ernsthaft, dass ich bei euren ganzen Andeutungen nicht mal irgendwann versuche herauszufinden, was genau nun Sache ist?“ „Na ja, etwas überrascht war ich schon, als du am Freitag plötzlich nach Indigo bist.“, gestand Laura. Öznur nickte. „Ich auch. Besonders, da du sogar mal gesagt hattest, dass du kein Interesse an Beziehungen hast.“ „Ich bin einfach neugierig.“, erwiderte Ariane. „Ich mag Carsten und wenn er sowieso an mir interessiert ist, was ja jeder von euch ständig andeutet, habe ich mir gedacht ich sollte einfach mal schauen, wie er reagiert. Ob er wirklich mehr als Freundschaft empfindet.“ „Und dein Fazit?“, fragte Laura neugierig. Ariane seufzte. „Er ist viel zu schüchtern. Wisst ihr, wie viel Überwindung es mich gekostet hat ihm anzubieten, dass wir mal gemeinsam Eislaufen gehen könnten?“ Miguel zuckte mit den Schultern. „Wenn ich meine Meinung dazu äußern darf: Auch die Jungs sind mal ganz froh, wenn das Mädchen einen Schritt macht.“ Öznur nickte. „Die Erfahrung durfte ich auch schon machen. Aber Carsten scheint wirklich ein Fall für sich zu sein. Ich meine: Wie lange steht er jetzt schon auf Nane, ohne auch nur irgendetwas unternommen zu haben?“ Laura kicherte. „Seit meinem Geburtstag auf jeden Fall. Wenn man an die Geschichte mit der Banane denkt…“ Anne konnte nicht anders als loslachen. Sie hätte die Szene nur zu gerne Live miterlebt. Selbst in ihrer Vorstellung übertraf es alle Komödien zusammen. „Du musst mir nachher unbedingt davon erzählen, Susanne.“ Belustigt betrachtete Miguel sie und die restlichen lachenden Mädchen, was Annes Laune sofort wieder in den Keller fallen ließ. Warum nochmal musste der Typ hier sein? Doch Susanne wischte sich lachend eine Träne aus den Augen. „Werde ich, definitiv.“ Auch Lissi wischte sich eine Träne aus den Augen und es war exakt dieselbe Bewegung wie die ihrer Zwillingsschwester. „Also wenn ihr es genau wissen wollt: Ich hatte schon seit der Faschingsfeier den Eindruck, dass Cärstchen für BaNane schwärmt.“ Öznur runzelte die Stirn. „So lange schon? Ich hatte da gar nichts gemerkt.“ „Er hat es sich auch nicht so anmerken lassen.“, erwiderte Lissi schulterzuckend. „Das war eher so ein instinktiver Eindruck, den ich da hatte. Und er schien in BaNanes Gegenwart immer besonders nervös.“ „Nane-Sahne war mir lieber…“, kommentierte Ariane mürrisch, sagte kurz darauf aber überrascht: „Also seit über einem halben Jahr schon? Krass, mir ist das nie aufgefallen.“ „Hättest du es ohne die ganzen Andeutungen überhaupt jemals bemerkt?“, erkundigte sich Laura leicht belustigt. Ariane schnaubte. „Wie gesagt: Von ihm kam ja nie was. Er ist einfach viel zu schüchtern.“ „Von dem, was ich jetzt so gehört habe, scheint er zumindest ein ganz lieber Typ zu sein.“, merkte Miguel amüsiert an. Öznur seufzte. „Das ist er auch. Er ist einfach zu gut für diese Welt.“ „Jetzt übertreib mal nicht.“ Anne schüttelte verstimmt den Kopf. Wobei sie eigentlich immer noch nur genervt von diesem Typ war, der einige Meter zu dicht neben Susanne saß. Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile. Als das Mittagessen endlich vorbei war, hoffte Anne schon, dass er sich endlich auf dem Heimweg machen würde. Doch dem war nicht so. Stattdessen begleiteten sie alle Susanne und den Idioten in den etwas abseits stehenden Bücherturm. Anne hielt sich selten in der Bibliothek der Coeur-Academy auf. Sie konnte den Charme des in dunklen, schweren Holzregalen gesammelten Wissens in Form von alten Büchern zwar verstehen, aber der Sportplatz gefiel ihr trotzdem besser. Miguel schien sich allerdings tatsächlich für die dicken Wälzer zu interessieren. Wie Carsten, wenn Anne so darüber nachdachte. „Nicht schlecht, das muss ich sagen.“, kommentierte er den Anblick der unzähligen Regale, als sie die Wendeltreppe des Turmes hinaufgingen. „Die Bibliothek meiner Uni wirkt zwar auch imposant, aber bei weitem nicht so gemütlich wie diese hier.“ „Stimmt es denn, dass Jura Studenten immer die Bücher voreinander verstecken, da der Wettbewerb unter ihnen so groß ist?“, erkundigte sich Öznur. Miguel runzelte die Stirn. „Dieses Klischee höre ich zum ersten Mal. Also ich habe zumindest bisher immer alle Bücher gefunden, die ich gesucht habe. Sollte wirklich mal eins wie vom Erdboden verschluckt sein, lasse ich es euch wissen.“ „Müsst ihr wirklich so viel auswendig lernen?“, hakte Ariane nach. Er seufzte. „Mehr, als mir lieb ist. Aber es geht…“ „Du klingst nicht ganz so überzeugt.“ „Es stimmt schon, das Studium ist ziemlich trocken.“ „Warum studierst du es dann?“, fragte Janine. „Das ist simpel: Weil meine Eltern es so wollten.“, antwortete Miguel. Anne runzelte die Stirn. „Und du machst das, was deine Eltern dir sagen?“ Was für ein schwacher Charakter. Er schüttelte den Kopf. „Unsinn, ich mache das schon aus eigenem Antrieb heraus. Auch, wenn es Phasen gibt, wo ich am liebsten alles hinschmeißen würde.“ Miguel lachte auf. „Für gewöhnlich nennen die sich Klausurenphasen. Aber ich kann definitiv selbst über meine Zukunft bestimmen. Das ist mir gestern bei der Krönung des Häuptlings von Indigo aufgefallen.“ „Hä?“, fragte Öznur sehr geistreich. „Diesen Eid fand ich richtig krass. Als er sagte: ‚Dafür wurde ich geboren, dafür lebe ich und dafür sterbe ich.‘ Da ist mir erst bewusst geworden, wie eingeschränkt man auch sein kann. Wahrscheinlich wurde er sein ganzes Leben lang darauf vorbereitet eines Tages den Platz seines Vaters einzunehmen. Ich würde gerne wissen, ob er sich jemals Gedanken über Alternativen gemacht hat. Über ein ‚was wäre, wenn‘. Oder, ob er diesen Weg überhaupt gehen wollte.“ Anne merkte, wie Öznur betreten den Blick senkte. „Was denkst du denn über den neuen Häuptling?“ Nachdenklich betrachtete Miguel die ganzen Bücher. „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Im Allgemeinen finde ich die Vorstellung richtig seltsam, wenn jemand die Herrschaft über meine Region hätte, der drei Jahre jünger als ich ist. Er ist in meinen Augen einfach noch ein Jugendlicher, der viel zu früh in dieser Situation gelandet ist. Und noch dazu direkt nachdem der eigene Vater brutal ermordet wurde. Es hieß ja sogar, dass er der erste war der die Leiche gefunden hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man nach einer Woche all das verarbeiten und zu einem würdigen Herrscher werden soll. Das hat man ja auch bei seiner Rede gestern gesehen. Aber auf der anderen Seite…“ Eine Weile schwieg Miguel und die Mädchen wurden immer neugieriger. Selbst Anne. Immerhin war das die Meinung eines Außenstehenden, der noch nicht einmal wusste, dass seine Gesprächspartner in gewisser Weise mit dem neuen Häuptling befreundet waren. So mehr oder weniger. Schließlich fuhr er fort: „Ich kann mir schon vorstellen, dass der Häuptling sich irgendwann fängt und das alles lernen kann. Aber ganz überzeugt bin ich davon trotzdem nicht, da ich mich selbst niemals in so einer Situation sehen könnte. Andererseits könnte ich seinem kleinen Bruder all das direkt zutrauen. Crow hieß er, oder?“ „Wie meinst du das?“, fragte Ariane überrascht. „Im ersten Moment wirkte er zwar ziemlich unbeholfen, aber insgesamt hat er auf mich einen sehr kompetenten Eindruck gemacht. Ich muss ehrlich sagen, dass mir Crows Rede besser gefallen hat als die des Häuptlings. Ihm hätte ich sofort zugetraut, den Platz seines Vaters einzunehmen.“ Anne hob eine Augenbraue. Eagles Vorwürfe gestern Nacht schienen doch nicht ganz unbegründet. Zumindest war offensichtlich seine Sorge gerechtfertigt, dass Carsten mit seiner Rede das Volk eher für sich als für Eagle gewinnen würde. Laura schnaubte. „So ein Unsinn, er wäre überhaupt nicht der Typ dafür ein Häuptling zu sein. Carsten ist viel zu schüchtern! Als Kind hat er sich immer vor fremden Leuten versteckt und mit ihnen reden konnte er schon gar nicht. Und selbst jetzt hasst er es immer noch im Mittelpunkt zu stehen.“ Miguel betrachtete sie irritiert. „Carsten?“ Anne seufzte. Dieses Mädchen war viel zu emotional. Aber jetzt ließ sich auch nichts mehr an der Situation ändern, der Idiot schien viel zu scharfsinnig. Das dachte sich wohl auch Susanne. „Crow ist Carstens offizieller Name.“, erklärte sie ihm. „Hier kennen ihn alle nur unter seinem inoffiziellen Erstnamen, damit nicht jeder sofort weiß wer er ist.“ Miguels Augen weiteten sich vor Erkenntnis und Verwunderung. „Also ist der Carsten über den ihr die ganze Zeit redet…“ „Auch gleichzeitig Crow, Eagles kleiner Bruder.“, ergänzte Susanne nickend. Er stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Wahnsinn, das hätte ich nicht erwartet. Und den neuen Häuptling kennt ihr dadurch auch?“ Erneut nickte Susanne und wies auf Öznur. „Die beiden sind zusammen.“ Betrübt senkte Öznur den Blick. „Das hoffe ich zumindest…“ Anne schlug ihr auf die Schulter, was wohl etwas fester als beabsichtigt war. „Jetzt hör auf zu flennen. Obwohl der Typ gerade absolut unzurechnungsfähig ist hat er nicht mit dir Schluss gemacht. Das ist doch immerhin etwas.“ Nun war auch der Rest der Mädchen neugierig und fragte was vorgefallen sei. Während Anne die Situation kurz mit „Er scheint momentan jeden zur Sau zu machen, der ihm nahesteht.“ zusammenfasste, schien Miguel von diesen Informationen absolut aus der Bahn geworfen worden zu sein. „Also… Wenn ich das nochmal zusammenfassen darf… Carsten ist Crow, der kleine Bruder des frisch gekrönten Häuptlings. Und du bist dessen Freundin?“, vergewisserte er sich. Öznur nickte, immer noch deprimiert und kurz vorm Heulen. Geräuschvoll atmete er aus und lehnte sich gegen ein Bücherregal. „Wahnsinn, jetzt bin ich vollkommen von der Rolle. Nun ergibt es auch Sinn, dass ihr die ganze Zeit meint es sei viel passiert. Das ist einfach…“ Verlegen lachte er auf. „Jetzt ist es mir richtig unangenehm, was ich eben über ihn gesagt habe.“ Susanne schüttelte den Kopf. „Das muss es nicht.“ „Stimmt, es war sehr interessant mal die Meinung von jemandem zu hören, der Eagle und Carsten nicht kennt.“, gab Laura ihr Recht. Miguel betrachtete sie eingehender. „Aber sag mir jetzt nicht, dass du die Prinzessin der Yami-Region bist, die gestern getanzt hat.“ Verlegen wandte Laura den Blick ab, während Miguel überrascht die Augenbrauen hob. „Ernsthaft?“ „Sieht man das nicht?“, fragte Ariane irritiert. „Doch, schon. Also ich dachte, dass du der Prinzessin sehr ähnlich siehst, aber… Wow. Einfach wow.“ Er wandte sich an Susanne. „Ich hätte nicht gedacht, dass du in so hohen Kreisen verkehrst.“ Kritisch runzelte Anne die Stirn. „Wie meinst du das?“ „Na ja, es ist doch Wahnsinn, wenn man Freunde eines so hohen Ranges hat, nicht wahr? Ich war ein paar Mal dank meinen Eltern bei etwas größeren, besonderen Events dabei. Es ist schon beeindruckend wer da alles ist. Was für Kleidung die Leute tragen, welche Autos sie fahren… Die hatten Geld, das konnte man deutlich sehen.“ Nun betrachtete Miguel Öznur. „Du bekommst garantiert richtig teure, noble Geschenke, oder?“ Anne betrachtete Öznur kritisch, während deren Gesicht eine leichte Zornesröte annahm. Im Prinzip war das genau ihr Gesprächsthema vom Vormittag. „Eagle hat bisher ein Mal etwas Teureres für mich bezahlt. Und das war das Kleid für die Abendgesellschaft.“, antwortete sie versucht ruhig. „Krass, auf der warst du sogar dabei?“ Der Arsch schien immer beeindruckter. „Aber überrascht bin ich schon, dass er dir nur ein Kleid gekauft hat. Ich dachte, so Leute werfen mit teuren Geschenken nur so um sich. Einen Ring hier, ein Goldkettchen da, ein neues Laptop, …“ Öznur ballte die Hände zu Fäusten. „So ein Unsinn!“ Klar, eigentlich sollte Anne sie jetzt beruhigen. Aber genau genommen hätte sie kein Problem damit, wenn Öznur den Kerl in ein Aschehäufchen verwandeln würde. Beruhigend hob dieses Schwein die Hände und lachte auf. „Sorry, so war das nicht gemeint. Ich hatte ihn nur so eingeschätzt, dass er seiner Freundin gerne mal so eine Freude bereitet.“ Ariane runzelte die Stirn. „Das nennst du eine Freude bereiten? Würdest du denn sowas machen?“ Der Idiot zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Wenn man schon das Geld dazu hat…“ „Aber sind nicht kleine Geschenke, die gut zu der Person passen, viel schöner? Oder etwas Selbstgemachtes, wo man sieht, dass man viel Arbeit und Zeit für denjenigen reingesteckt hat?“, warf Laura ein. Miguel lachte auf. „Du meinst so Herzchen, die man in der Grundschule immer für seine Mutter am Muttertag gebastelt hat?“ Verlegen schaute Laura auf den Boden, während Ariane einen Arm um ihre Schultern legte. „Ja, im Prinzip genau sowas. Meiner Meinung nach ist das wertvollste, was man jemandem schenken kann, seine Zeit. Egal, ob man das über ein selbstgemachtes Geschenk oder gemeinsame Unternehmungen ausdrückt.“ Der Typ betrachtete sie amüsiert. „Das ist eine süße Einstellung. Aber leider Gottes auch ziemlich naiv. Irgendwann hat man einfach keine Zeit mehr, um so etwas zu ermöglichen.“ „Und dadurch werden solche Geschenke umso wertvoller.“, warf Janine ein. „Oh, ich wünschte, ich könnte auch wieder so unschuldige, unbeschwerte Gedanken haben. Gute alte Zeit.“ Er seufzte, wirkte allerdings gleichzeitig amüsiert. Als würde er die Einstellung der Mädchen nicht ganz nachvollziehen können und sie auch nicht groß ernst nehmen. Anne ballte die Hände zu Fäusten. Mit so einem oberflächlichen Depp wollte Susanne doch nicht ernsthaft zusammen sein, oder? Bisher hatte sie einfach was gegen ihn gehabt. Hätte am liebsten lautstark gebrüllt, dass er sich verpissen solle. Alleine aus dem Grund, da er Susannes Hand gehalten hatte. Doch jetzt verstand sie, warum selbst Lissi strikt gegen diesen Typen war. So ekelhaft nett er auch schien, das war ein oberflächlicher Vollidiot. Garantiert hatte er nur Interesse an Susanne, da sie so schlau und hübsch war, und da ihr Vater Karas Bürgermeister war. Anne wollte Susi im Allgemeinen nicht an der Seite eines Typen sehen. Aber an der von dem da noch viel weniger. Doch Susanne schien diese oberflächliche Einstellung nicht groß zu stören. Oder gar zu bemerken. Sie warf ein, dass sie Miguels Meinung irgendwie verstehen konnte. Wobei sie kleine, persönliche Geschenke oder die gemeinsam verbrachte Zeit viel wertvoller finde als den teuersten Schmuck. Nach geraumer Zeit schaffte es Anne, sich endlich abzuseilen mit dem Argument noch trainieren zu wollen. Überraschender Weise traf sie Lissi in der Turnhalle, die einen dunkelblauen, glitzernden Turnanzug trug und sich dehnte. Sie hatte sich zehn Minuten vor Anne von Miguel verabschiedet. „Noch ein Flüchtling?“, kommentierte Lissi ihr Eintreten. Anne schnaubte und streckte sich. „Der Typ ist ätzend. Keine Ahnung, was Susanne an dem findet.“ „Sie sieht einfach immer nur das Gute in den Menschen…“ Bedrückt legte Lissi ihren Fuß auf eine Sprosse der Sprossenwand und dehnte ihren Überspagat. Ja, ihre Gelenkigkeit war nicht schlecht. „Zumindest verstehe ich jetzt, warum du ihn schon die ganze Zeit nicht leiden konntest.“ Lissi erwiderte kurz Annes Blick und dehnte nach einer Weile die andere Seite. „Was machst du eigentlich hier, Banani? Das Fitnessstudio ist auf der anderen Seite.“ Genervt verdrehte Anne die Augen. „Ich gehe nicht nur ins Fitnessstudio. Außerdem wollte ich noch an meinen Saltos feilen.“ Die kleine, nervige Lolita wirkte leicht amüsiert, erwiderte allerdings auch nichts darauf. Stattdessen richtete sie sich auf, schwang ein Bein nach hinten, über den Kopf und verhakte den Fuß schließlich in einer Sprosse vor ihrem Gesicht. Anne hob eine Augenbraue. „Nicht schlecht.“ Lissi lachte auf. „Jetzt tu nicht so. Wir wissen beide, dass du gelenkiger als ich bist.“ „Na und? Ich kann das doch trotzdem nicht schlecht finden.“, erwiderte Anne schulterzuckend. Kritisch betrachtete Lissi sie. „Dass du etwas von mir nicht schlecht findest, ist mal was ganz Neues. Oder willst du dich bei mir einschleimen, damit ich dir bei den Saltos helfe?“ Belustigt lachte Anne auf. „Ich kann ja selbst kaum glauben, dass es Sachen gibt in denen du richtig gut bist.“ „Ich bin in mehr Sachen richtig gut als dir lieb ist, Süße.“, erwiderte Lissi mit ihrem flirtenden Lissi-Unterton. Der Luftkuss hätte trotzdem nicht sein müssen. Anne stöhnte entnervt auf. Es war immer noch Lissi. „Turnen und Rhythmische Sportgymnastik reicht mir.“ „Und Schwimmen, Tanzen, Küssen, Bl-“ „Ja, ja!“, unterbrach Anne sie schnell, bevor Lissi mit noch mehr Details kam. „Ich sagte doch schon, Turnen und Rhythmische Sportgymnastik reicht mir.“ „…Und deine dunkelsten Geheimnisse ans Tageslicht bringen.“ „Aha. Und die wären?“ „Dass du auf meine Schwester stehst.“ Mit einem Schlag wurde Anne verdammt unwohl und ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Das Gefühl wurde nicht besser, als Lissi sie mit einem vollkommen ernsten Blick betrachtete, der gar nicht zu ihrer sonst so unbeschwerten, planlosen Art passte. Nein, dieser Blick hatte sogar etwas leicht Bedrohliches an sich. Und Tatsache, selbst Anne schaffte es nicht ihm standzuhalten. „W-wie kommst du denn auf so eine absurde Idee?“ „Banani, ich hatte seit Fasching bei Cärstchen den Eindruck, dass er auf Nane-Sahne steht. Dösi und Beagle sind zu eindeutig, die lassen wir mal aus. Ebenso Lauchs Verliebtheit in Bennlèy. Was den betrifft war ich mir übrigens spätestens seit Valentinstag sicher, dass er in sie verliebt ist. Denkst du da ernsthaft, ich würde deine Gefühle für meine Schwester nicht bemerken?“, erwiderte sie ruhig. Zu ruhig. Eine ruhige See, bei der man sich nicht sicher war, wann der nächste Sturm kommen würde. Anne ballte die Hände zu Fäusten. „Und? Hast du was dagegen, dass eventuell eine Frau Interesse an deiner Schwester hat?“ Lissi warf ihr einen eindeutigen Blick zu. „Ich wär wohl die letzte, die damit ein Problem hat.“ Sie verließ die Sprossenwand und kam zu Anne rüber. Obwohl sie fast zehn Zentimeter kleiner war als Anne, hatte diese den Eindruck von einer Wölfin in die Ecke getrieben worden zu sein. Und nicht mehr entkommen zu können. „Womit ich ein Problem habe bist du. Du mit deinem egoistischen Charakter.“ Was hat die da gesagt? Verbissen erwiderte Anne Lissis Blick und würde ihr am liebsten den Kopf abschlagen. „Wie meinst du das?“ „Du bist nicht so oberflächlich wie Miguel, das stimmt. Aber jemand, der bei einem Wutausbruch meine Schwester einfach so gegen die Wand stößt, ist eindeutig nicht gut genug für sie.“ „Was?! Wovon redest du?!“ Anne wurde immer unwohler. Eigentlich wusste sie genau, wovon Lissi da redete. „Das weißt du genau.“, erwiderte diese direkt. „Damals bei deinem Zickenkrieg mit Öznur warst du es, die Susi mit Sand-Energie angegriffen hatte.“ „Ich hab mich entschuldigt!“, rief Anne aufgebracht. „Das ist egal!“ Auch Lissis Stimme wurde lauter. Die See wurde unruhiger. Ein Sturm zog auf. „Es ist egal, ob du dich entschuldigt hast. Es ist egal, was für einen Grund du hattest! Du hast sie damals angegriffen! Nur darum geht es! Und jemanden, der seine Impulsivität nicht unter Kontrolle hat und sogar jemanden verletzt, der ihm viel bedeutet, will ich an niemandes Seite sehen müssen. Schon gar nicht an der von meiner Schwester!“ „Verdammt noch mal, es tut mir doch leid!“ Anne wusste nicht wieso, aber sie fühlte sich auf einmal viel schwächer als Lissi. Sie hatte den Eindruck überhaupt nichts gegen sie ausrichten zu können. Komplette Machtlosigkeit. All das löste Lissi mit nur einem Blick aus. Alleine durch ihre Worte wusste Anne, dass sie verloren hatte. Ohne auch nur ein einziges Mal zu einem Schlag ausgeholt zu haben. Ohne überhaupt den Gedanken an einen Kampf verschwendet zu haben. Lissi hatte bereits gewonnen. Ohne es zu wollen wich Anne einen Schritt zurück. „Ich…“ Lissi wandte sich ab und kehrte zur Sprossenwand zurück. Sie betrachtete Anne gar nicht erst als Bedrohung. Anne knirschte mit den Zähnen. „So viel zum Thema zweite Chance.“ Lissi wandte sich ihr wieder zu und meinte schließlich: „Dann überzeuge mich vom Gegenteil. Zeige mir, dass du dich verändert hast.“ „Und nur dann lässt du mich in die Nähe deiner Schwester?“ Verächtlich schnaubte Anne. „Exakt.“ „Ach fick dich.“ „Muss ich nicht. Es gibt genug andere, die das für mich machen würden.“, erwiderte Lissi ruhig und alles andere als eingeschüchtert von Annes aggressivem Tonfall. „Abgesehen davon hilft das nicht gerade, mich vom Gegenteil zu überzeugen.“, ergänzte sie. Am aller liebsten würde Anne die Tussi windelweich prügeln. Aber irgendwie konnte sie es nicht. Irgendwas hinderte sie daran, ihre Aggressionen an Lissi auszulassen. War es, weil sie Susannes Schwester war? Hatte Anne Angst danach von ihr gemieden zu werden? Warum auch immer, Anne sah keine Chance irgendwie als Siegerin aus dieser Situation hervorzukommen. Verärgert wandte sie sich ab und verließ die Halle. Auf Training hatte sie keine Lust mehr. Zumindest nicht mehr auf Turnen. Lieber ging sie zum Kampfplatz. Doch bevor sie diesen erreicht hatte, spürte sie ihr vibrierendes Handy in der Hosentasche. Entnervt stöhnte Anne auf. Was denn jetzt? Kritisch betrachtete sie die ihr unbekannte Nummer. Der Anruf kam aus Dessert… Nach einem kurzen Zögern hob Anne ab. „Hallo?“ Kapitel 70: Betrogenes Vertrauen -------------------------------- Betrogenes Vertrauen       „Hey Herr Häuptling, hörst du überhaupt zu?“ Eagle schaute von seinem Bierglas auf und blickte in Lens spöttisches Gesicht. „Nein.“, antwortete er lediglich. Der Indigoner verdrehte die Augen und fuhr sich mit der Hand über die Stoppeln seines Undercuts. „Freundlicher geht’s wohl nicht, oder?“ „Nein.“, antwortete Eagle erneut und so langsam genervt. „Sagt mir lieber, warum keiner der bestellten Shots bei mir ankommt.“ „Weil du dich offensichtlich nicht mehr unter Kontrolle hast.“, erklärte Namid ruhig. „Als hätte es nicht schon gereicht, dass du Carsten der kurz vorm Zusammenbrechen war -und danach auch zusammengebrochen ist- knallhart unterstellt hast er wolle dich hintergehen. Nein, danach musstest du dich unbedingt auch noch mit Öznur streiten.“ Eagle schnaubte und zündete sich eine Zigarette an. „Das ist euere Begründung?“ „Irgendjemand muss ja aufpassen, dass du dich zumindest halbwegs benimmst.“, kommentierte Ray. Er war der einzige Indigoner im Raum, dessen Haare nur wenige Zentimeter länger als Eagles waren. Der Grund war der Tod seines Großvaters vor zwei Monaten. „Hast du eigentlich inzwischen mit jemandem von den beiden geredet?“, hakte Namid nach. Geräuschvoll atmete Eagle aus. „Nein, hab ich nicht. Wie auch? Die letzten drei Tage war ich von früh bis spät bei irgendwelchen Sitzungen, von denen ich nicht mal die Hälfte verstanden habe. Und eigentlich wartet daheim immer noch der Berg an Schulstoff, den ich letzte Woche verpasst hab.“ „Seid ihr immer noch zu keiner Lösung gekommen, wie du das am besten unter einen Hut bringen kannst?“, fragte Len. „Doch, schon. Die Sitzungen liegen jetzt meist am späten Nachmittag, sodass ich davor in die Schule kann. Glücklich ist keiner darüber, aber für die drei bis vier Monate sollte das klappen. Vorausgesetzt ich bestehe die Abschlussprüfungen…“ „Warum solltest du sie nicht bestehen? Sonderlich viel gelernt hattest du nie und deine Noten waren trotzdem meist ganz gut.“, meinte Len schulterzuckend. Verbissen atmete Eagle den Zigarettenrauch aus. „Und wann soll ich jetzt noch trainieren? Oder ansonsten Zeit für ein Privatleben finden?“ „Na ja, die Personen mit denen du ansonsten Zeit verbringst dezimierst du ja momentan gekonnt.“ Verärgert funkelte Eagle Ray an, der sich seinen sarkastischen Kommentar offensichtlich nicht hatte verkneifen können. „Halt einfach die Fresse.“ „… Bin ich ansonsten der nächste auf deiner Liste?“ Eagle schlug auf den Tisch und richtete sich auf. „Ich sagte, halt die Fresse!“ Beschwichtigend hob Namid die Hände. „Eagle, beruhig dich wieder.“ „Schon mal darüber nachgedacht, dass dieser Satz noch nie jemanden beruhigt hat?!“ Len atmete aus und schob ihm ein gefülltes Schnapsglas rüber. „Da. Zufrieden?“ Immer noch verärgert setzte sich Eagle und exte den Inhalt des Glases. „Wenn das so weiter geht wird aus dir noch ein Alkoholiker…“, kommentierte Namid betrübt. Bevor Eagle etwas darauf erwidern kann tippte ihm jemand auf die Schulter. „Was?“ Genervt wandte er sich der Person zu und blickte in kastanienbraune Augen, die von schwarzem Kajal betont wurden. Die junge Frau war wunderschön und die blutrot geschminkten Lippen waren zu einem freundlichen Lächeln geformt. Jedoch war Eagle alles andere als erfreut sie zu sehen. „Ana. Was willst du hier?“ „Können wir kurz miteinander reden?“, erkundigte sie sich mit ihrer leicht rauchigen, verführerischen Stimme. Die ihre Wirkung verfehlte. Eagle war immer noch einfach nur genervt. „Ich wüsste nicht, worüber wir noch reden sollten.“ Ana schob die rote Unterlippe vor. „Ach komm schon, es gibt keinen Grund so abweisend zu sein.“ „Oh doch, den gibt es. Und du kennst ihn.“ „Eagle, bitte…“ Kritisch betrachtete Eagle seine Ex-Freundin. Er hatte schon an sich keine Lust auf ein Gespräch. Und auf eins mit Ana erst recht nicht. Eigentlich war er einfach nur in die Kneipe gekommen, um zu trinken. „Dann rede endlich.“, sagte er schließlich. Das war wohl noch der schnellste Weg sie wieder los zu werden. …Hoffentlich. Unsicher strich sich Ana eine schwarze Locke aus dem Gesicht. „Mir wäre es lieb, wenn wir das… unter vier Augen besprechen könnten…“ Entnervt stöhnte Eagle und richtete sich auf. „Sonst noch Wünsche?“ Ana schüttelte den Kopf. Eagle wandte sich an den Rest und meinte nur: „Bin gleich wieder da.“ Anschließend folgte er ihr in den dunklen Gang Richtung Toiletten. „Also, was willst du?“ Ana senkte den Blick. „Ich… ich wollte nur sagen, dass es mir furchtbar leidtut, was… was da alles geschehen ist mit deinem Vater… und…“ Sie seufzte. „Du hast letzten Samstag so fertig gewirkt, da wollte ich einfach wissen, wie es dir geht…“ „Es ging mir besser, bevor du hier aufgetaucht bist.“, erwiderte Eagle direkt. Mit jedem anderen Mädchen mit dem er mal was hatte unterhielt er sich eigentlich immer ganz freundlich. Aber nicht mit dieser Schlampe. „Eagle, es tut mir leid, was da vor einem halben Jahr passiert ist. Wirklich!“ „Das hättest du dir früher überlegen sollen. Viel früher.“ Ana wollte seine Hand nehmen, doch Eagle wich grob zurück. Sie seufzte. „Hast du nicht letzten Samstag erst von der zweiten Chance geredet?“ „So etwas bekommen nur Leute, die sie auch verdient haben. Und du bist definitiv niemand davon.“ Eagle verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn du mir nur dein Beileid ausdrücken wolltest, herzlichen Dank. Dann kann ich ja jetzt gehen.“ „Eagle, bitte!“ Ana versperrte ihm den Weg und blickte durch ihre langen, dichten Wimpern zu ihm hinauf. Allmählich dämmerte es Eagle, dass es wohl keine gute Idee war, einem hinterhältigen Biest zu einem dunklen, abgelegenen Ort zu begleiten. Wer weiß, auf was für kranke Ideen dieses Miststück kommen konnte. „Ich mein‘s ernst, lass mich einfach in Ruhe.“ Er ging an ihr vorbei. „Hast du das auch deiner Ex neulich gesagt?“ Bei Anas Worten hielt Eagle inne. „Wovon redest du?“ „Diese Schülerin von der Coeur-Academy. Ich habe gehört, dass du sie weggeschickt hast und sie einfach gegangen ist. Schon traurig, dass sie nicht einmal versucht hat mit dir zu reden. So wichtig scheinst du ihr ja nicht gewesen zu sein.“ Ein unwohles Gefühl breitete sich in Eagle aus, als er sich an seinen Streit mit Öznur vor einigen Tagen erinnerte. Im Nachhinein war er froh, sie weggeschickt zu haben. Und erleichtert, dass sie auch tatsächlich gegangen war. Wer weiß, was er ansonsten gesagt hätte… Er wollte Öznur nicht verlieren. Auf keinen Fall. Doch er hatte keine Ahnung, wie er das wieder geradebiegen sollte. Aber eine Sache stand fest: „Wir haben uns nur gestritten, das ist kein Grund sich direkt zu trennen. Also hör auf, sie als meine Ex zu bezeichnen.“ „Nicht? Also bei uns hattest du damals sofort Schluss gemacht.“ „Das war was anderes.“ „Ach komm, jetzt sei nicht so nachtragend. Ich hab mich verändert, wirklich.“ Eagle spürte, wie Ana ihre Arme um ihn legen wollte. Verdammt, die ließ einfach nicht locker. Ruckartig drehte er sich um. „Fass mich nicht an.“ „Warum denn nicht?“ Mit der Hand fuhr sie Eagles Arm hinauf, zur Schulter und strich ihm schließlich über Hals und Schlüsselbein. „Wenn ich mich richtig erinnere hatte es dir eigentlich immer ganz gut gefallen, wie ich dich berührt habe.“ „Ich sagte doch schon, fass mich nicht an.“ Eagle wollte zurückweichen, stellte aber fest, dass er mit dem Rücken zur Wand stand. Diese verdammte Schlampe, am liebsten würde er ihr direkt eine reinhauen. Ana schien seine Abweisungen gar nicht zu bemerken, sondern setzte den Weg ihrer Finger einfach weiter fort, über seine Brust nach unten. „Oder wo…“ Eagle hatte keine Ahnung, warum er sie noch nicht einfach von sich gestoßen hatte. Warum er nicht einfach abgehauen war. Er wollte. Aber irgendwie konnte er nicht. Durch den verfluchten Alkohol war ihm schwummrig. Er musste sich gegen die Wand lehnen, damit seine zitternden Knie unter ihm nicht nachzugeben drohten. Die Luft in diesem dunklen Gang wirkte auf einmal stickig und kochend heiß. Ana schien von all dem unbeeindruckt. „Ich kenne dich besser wie jeder andere. Ich weiß, wie man dich am besten ablenken kann. Also falls du…“ Sie betrachtete Eagle mit ihren dunklen Augen und senkte ihre Stimme. „Falls du jemanden brauchst…“ Anas Gesicht war nur wenige Zentimeter von seinem eigenen entfernt. Eagle spürte ihren Atem auf seinem Mund, erinnerte sich an ihre weichen Lippen. Den rauchigen, leicht süßlichen Geschmack, wenn sie sich geküsst hatten. Eagle konnte ihrem unausweichlichen Blick nicht standhalten. Er schloss die Augen und spürte, wie Anas Hand unter sein T-Shirt glitt. Er erinnerte sich an ihre Berührungen, an das Verlangen, was sie immer in ihm ausgelöst hatten.  War es so verkehrt diese Zeit noch ein einziges Mal wieder aufleben zu lassen? Konnte er nicht einmal eine Ausnahme machen? „Du weißt, ich bin für dich da.“, flüsterte sie. Doch es war nicht Anas Stimme, die Eagle zu hören meinte. Er wandte das Gesicht ab, packte Ana an den Schultern und schob sie von sich. Keine Ausnahmen. „Ich habe bereits jemanden, der für mich da ist. Und du bist die letzte, von der ich auch nur in irgendeiner Form Hilfe bekommen möchte.“ Ana zog einen enttäuschten Schmollmund. „Bist du dir da ganz sicher? Auf mich hat das eben anders gewirkt.“ „Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben! Das habe ich dir bereits oft genug gesagt, also lass mich endlich in Ruhe!“ Eagle ließ ihre Schultern los und wandte sich zum Gehen. Ana schnaubte. „Schön. Wenn du meinst…“ Sie ging schnellen Schrittes an Eagle vorbei, zurück in den Hauptraum der Kneipe. Genervt atmete Eagle aus. Ernsthaft, dieses verdammte Biest. Erneut lehnte er sich mit dem Rücken zur Wand und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen Haare. Eigentlich war ja nicht wirklich was passiert. Und er war auch verdammt froh drum. Aber trotzdem überkam ihn ein schlechtes Gewissen. Alleine, dass er es in Erwägung gezogen hatte eine Ausnahme zu machen… Hatte diese Schlampe ihn so sehr in ihren Bann ziehen können? Oder war was in seinen Drinks gewesen? Immer noch durcheinander verließ auch Eagle den Gang. Noch während er auf seinen Sitzplatz zusteuerte merkte er, dass alle Augenpaare auf ihn gerichtet waren. Irritiert blickte er sich um. „Was ist?“ „Alter, ernsthaft? Bist du so triebgesteuert?“ Len schaute ihn entgeistert an. Eagle runzelte die Stirn. „Wovon zum Teufel redest du?“ „Na ja, erst verschwindest du mit deiner Ex und kurz darauf kommt sie heulend angerannt und erzählt, dass du ihr an die Wäsche wolltest.“, erklärte Ray leicht argwöhnisch. „WAS?!“ Eagle fuhr herum und sah, wie Ana auf einem Barhocker saß und von einer ihrer Freundinnen im Arm gehalten wurde. Fette Krokodilstränen rannen über ihre Wangen. Dieses. Verdammte. Biest. „Glaubt ihr ernsthaft auch nur ein Wort, was über deren Lippen kommt? Die Schlampe lügt doch, sobald sie den Mund aufmacht!“, brüllte Eagle verärgert. Hätte er sich sowas bei diesem hinterhältigen Miststück nicht eigentlich denken können? Toll. Jetzt hielt ihn jeder für einen potenziellen Vergewaltiger! „Ich lüge nicht.“, schluchzte die hinterhältige Schlampe und vergrub ihr Gesicht in der Schulter ihrer Freundin. Und natürlich glaubten die Anwesenden eher dem heulenden Mädchen. „Und sowas ist nun unser Häuptling?“, hörte er eine Frau entsetzt fragen. „Es war doch von Anfang an klar, dass der Typ nicht dafür geeignet ist.“, murmelte ein Mann in der Ecke. Eagle ballte die zitternden Hände zu Fäusten. Ihm wurde kotzübel und am liebsten würde er seinen Ärger und die Verzweiflung einfach herausschreien. Wollte einfach mit einem gewaltigen Tornado alles dem Erdboden gleichmachen. Alles. Diese gesamte verfluchte Region. Es war von Anfang an klar gewesen, dass sie ihm niemals eine Chance geben würden. Und nach Anas hinterhältiger Aktion eben erst recht nicht mehr. „Ich hab nichts gemacht!“, brüllte Eagle verärgert, „Eher das Gegenteil war der Fall gewesen!“ „Das stimmt nicht…“, brachte das Miststück schluchzend hervor. „Ich wollte einfach nur reden und… und er…“ „Halt einfach die Fresse und hör endlich auf zu lügen!“ Der Frust und die Aggressionen ließen schneidende Winde um Eagles Fäuste zischen. Er wollte einfach nur alles in Stücke reißen. „Halt du die Fresse!“, schrie die Freundin von der Schlampe. „Und gib am besten auch direkt die Federkrone zurück!“ „Genau, tritt zurück! Du wolltest das doch eh nicht, oder?!“, rief jemand anderes. „Wir wollen keinen Perversen als Häuptling haben!“ Eagle kniff die Augen zusammen und versuchte, die Kommentare auszublenden. In seinem Kopf verschwamm alles nur zu einem tosenden Wirbelsturm. Ein Sturm, der seinen Körper zu zerreißen drohte. Eine Energie, die die Macht über ihn zu gewinnen schien. Die alles zerstören konnte. Plötzlich brachte die Stimme eines jungen Mädchens den Sturm zum Stillstand. „Sie lügt.“ Überrascht blickte Eagle auf und auch der Rest wandte sich dem achtjährigen Kind zu. Sie hatte helle Haut und braune, leicht rötliche Haare. Doch am auffälligsten waren die hellblauen Augen, die Eagle mit einem eindringlichen Blick betrachteten, obwohl sie ihn nicht sehen konnten. Risa war keine Indigonerin, sondern stammte aus Terra und war seit ihrer Geburt blind. Niemand wusste, wer ihre leiblichen Eltern waren und ob diese überhaupt noch lebten. Nur, dass sie ein Jahr nach ihrer Geburt vom Jugendamt in eine besondere Einrichtung verwiesen und mit vier Jahren von Ituha adoptiert wurde. „Wie meinst du das?“, erkundigte sich Len irritiert. „Damit meine ich, dass sie lügt.“, wiederholte sich Risa und hielt einige Zettel in die Höhe. „Ich wollte Mama die Rechnungen für den Monatsabschluss bringen und habe zufällig das Gespräch mitbekommen.“ Eagle runzelte die Stirn. Er hatte gar nicht bemerkt, dass jemand in der Nähe war. Andererseits war es in dem Gang ziemlich dunkel gewesen. Und jemand Blindes brauchte kein Licht, um sich zurechtfinden zu können. Ana vergoss immer noch ihre Krokodilstränen. „Du hast doch gar nicht sehen können, was da passiert ist.“ „Ich habe es hören können.“, erwiderte Risa ruhig. „Das reicht.“ „Bist du dir auch ganz sicher, Kleine?“, erkundigte sich einer der Gäste. Risa nickte, als von weiter hinten ein: „Zweifelst du an der Aussage meiner Tochter?“ kam. Ituha stand in dem Eingang von jenem Gang, in den die Schlampe Eagle vor kurzem noch gelockt hatte. Die muskulösen Arme hatte sie vor der Brust verschränkt und die Rasterlocken fielen über die breiten Schultern, während sie ihre Kunden mit einem strengen Blick betrachtete. Natürlich war ihre Frage rhetorisch gemeint und niemand wagte es auch nur, ihr zu widersprechen. Sie wandte sich an Ana. „Dein kleiner Bruder hat letzte Woche schon für genug Aufsehen gesorgt. Aber für so dreiste Lügen scheint mir Toilettenputzen etwas zu harmlos, findest du nicht auch?“ „Ich lüge nicht!“, schluchzte die Schlampe und schien immer noch an ihrer Opferrolle festhalten zu wollen. „Und ich bin ein rosa Einhorn, das über Regenbogenwolken galoppiert und Glitzerstaub versprüht.“, erwiderte Ituha und in ihrem Blick lag eine deutliche Warnung, dieses Schauspiel endlich sein zu lassen. „Erzähle deine Geschichte lieber der Polizei, die gleich ankommen dürfte.“ „Was?!“ Anas entsetzter Ton hatte etwas Schrilles und tat regelrecht in den Ohren weh. Namid schien genauso überrascht wie Eagle, als er fragte: „Du hast direkt die Polizei gerufen?“ „Wenn man nach zwei Mal ‚Lass mich in Ruhe‘ immer noch nicht aufhört, ist das meiner Meinung nach eindeutig sexuelle Belästigung.“, erwiderte Ituha ruhig. „Er hat auch zwei Mal ‚Fass mich nicht an‘ gesagt.“, ergänzte Risa. Darauf wusste irgendwie keiner mehr etwas zu erwidern, selbst das vermeintliche Opfer nicht. Ituha winkte Eagle zu sich rüber. „Wir müssen reden. Und der Rest von euch überlegt schon mal, wie er sich angemessen bei unserem Häuptling entschuldigt. Ihn direkt zu verurteilen ist widerlich.“ Eagles Herz fühlte sich immer noch seltsam zusammengepresst an und er merkte, wie seine Knie immer noch zitterten, als er zu Ituha rüber ging. Als er an Risa vorbei kam warf er ihr einen dankbaren Blick zu. Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, schien sie es zu merken und grinste ihn an. Eagle folgte Ituha erneut in den dunklen Gang, einige Meter weiter, die schmale Treppe hoch und trat schließlich durch die Tür, die sie ihm aufhielt. Es war ihr Büro, was wie der Rest der Kneipe eindrucksvoll eingerichtet war und an einen irischen Pub erinnerte. An den Wänden hingen Blechplakate von allen möglichen Biersorten, in Jack-Daniels-Flaschen brannten dunkelrote Kerzen und auf dem schweren Holzschreibtisch türmten sich mehrere Haufen Zettel neben einem Laptop. Eagle wandte sich Ituha zu, die die Tür in die Angeln fallen ließ. Sie knackste kurz mit den Fingern und ehe sich Eagle versah breitete sich ein stechender Schmerz auf seiner Wange aus als Ituha in ohrfeigte. „Scheiße, was soll das?!“, fragte Eagle verärgert. „Dasselbe könnte ich dich fragen.“, erwiderte Ituha ruhig, ging an ihm vorbei und holte zwei Whiskygläser aus einem Regal, in die sie einen absolut torfen Lagavulin schenkte. Eins der Gläser reichte sie Eagle. „Setz dich.“ Zögernd nahm Eagle auf einem Ledersofa platz. Seine Wange schien immer noch zu brennen. „Ernsthaft, wieso?“ Ituha wandte sich ihm wieder zu. „Wegen deiner absolut grenzenlosen Dummheit? Wie kamst du überhaupt auf die Idee mit diesem niederträchtigen Ding alleine zu sein?!“ „Sie wollte mit mir unter vier Augen reden.“, versuchte Eagle sich zu verteidigen. Aber eigentlich hatte Ituha Recht. Und das wusste sie. „Dann hättest du doch erst recht misstrauisch werden müssen. Eagle, dein Vater hatte mir erzählt, was zwischen euch vorgefallen ist. Das damals lässt sich noch durch Naivität entschuldigen. Doch das heute… Das war reine Dummheit, anders kann man es nicht sagen.“ „Woher hätte ich denn wissen sollen, dass sie-“ „Sowas brauchst du nicht zu wissen. Sowas musst du erahnen!“ Eagle zuckte durch Ituhas verärgerten Ton zusammen. Er hatte den Eindruck, von seiner Mutter zur Sau gemacht zu werden. Plötzlich fühlte er sich wie ein kleines Kind das die Wand bekritzelt hat, was es eigentlich nicht hätte machen dürfen. Und das Gefühl wurde nicht besser, als Ituha fortfuhr. „Wäre Risa nicht gewesen hättest du jetzt eine Anklage am Hals! Und du weißt genau, wem man in so Fällen eher glaubt! Ist es das, was du willst?!“ „Nein…“, versuchte Eagle irgendwie zu erwidern. „Willst du gezwungen sein zurückzutreten?! Die Federkrone abzulegen?!“ „Nein!“ „Dann reiß dich gefälligst zusammen und hör auf, ständig solche Dummheiten zu machen!“ Eagle sprang auf. „Wie denn?!“, brüllte er verzweifelt, „Ich versuche doch schon, mich zusammenzureißen! Ich versuche, da weiterzumachen wo Vater aufgehört hat! Es geht nicht!“ „Dann versuche es besser!“ „Ich kann nicht!!!“ Verzweifelt betrachtete Eagle Ituha, als seine Knie unter ihm nachgaben und er auf das Sofa zurücksackte. „Ich kann es nicht…“ „Was kannst du nicht?“ Ihre Stimme klang immer noch streng, aber längst nicht mehr so verärgert wie vor kurzem. „Das alles hier… Ich kann es nicht. Kaum habe ich den Eindruck, es klappt endlich mal, erinnere ich mich daran, dass Vater eigentlich da sein sollte. Dass er auf diesem einen Stuhl in dem Konferenzsaal sitzen sollte. Dass er…“ Eagle fuhr sich über die verschwitzte Stirn. Ihm war kochend heiß. „Ich kann nicht seinen Platz einnehmen. Ich schaffe es nicht, in seine Fußstapfen zu treten. Das ist unmöglich.“ Er merkte, wie Ituha ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Du sollst auch nicht in seine Fußstapfen treten. Du sollst deinen eigenen Weg gehen, nicht den von Chief.“ „Das sagt sich so leicht… Jeder erwartet von mir einen Chief 2.0. Möchte, dass ich genau da weiter mache, wo er aufgehört hat.“ „Dann sag ihnen, dass jetzt ein anderer Wind weht. Eagle, du musst die Dinge auf deine Art machen. Die Welt aus deinen Augen sehen. Nicht aus denen deines Vaters.“ Trotz der Strenge in Ituhas Stimme meinte Eagle, einen sanften Unterton hören zu können. Waren das nicht normalerweise Sachen, die eine Mutter zu ihrem Sohn sagen würde? Aber er hatte doch eine Mutter, auch, wenn sie nicht blutsverwandt waren. Da fiel Eagle auf, dass er mit Saya nie wirklich über all das geredet hatte. Wieso nicht? Traute sie sich nicht, das Thema anzusprechen?  Oder hatte sie den Eindruck, nicht die richtige Person dafür zu sein? „Ich…“ Eigentlich hatte Eagle keine Ahnung, was er sagen sollte. Er wusste noch nicht mal was er machen sollte. Oder konnte. Sanft strich Ituha ihm mit dem Daumen über die Wange, die sie vor wenigen Minuten erst geschlagen hatte. „Du bist kein Chief 2.0. Und du solltest erst recht nicht versuchen so jemand zu sein. Du bist Eagle. Und erst, wenn du diese Einstellung mit voller Überzeugung vertrittst, werden die anderen die Möglichkeit haben dich anzuerkennen. Erst dann werden sie dich ernst nehmen können.“ „Irgendwie kann ich dir das nicht glauben…“ „Dann probiere es aus und finde heraus, ob du mir glauben kannst. Natürlich wird es erst einmal schwer sein, nicht mehr ‚Häuptling Chief‘ zu sehen. Aber ich bin überzeugt, dass ‚Häuptling Eagle‘ auch ein guter Häuptling sein wird. Und zwar auf seine Art, und nicht die seines Vaters. Und diese Meinung vertrete nicht nur ich selbst. Du musst dich nur einmal umschauen und wirst genug Leute sehen, die ebenso denken.“ Mehr als ein Nicken konnte Eagle daraufhin nicht mehr erwidern. Er war müde und erschöpft. Und irgendwie war ihm momentan einfach nur zum Heulen zumute. Das schien auch Ituha zu merken. „Trink aus, ich fahr dich heim.“ Ein schwaches Lächeln breitete sich auf Eagles Lippen aus. „Kommt das auch auf die Rechnung?“ „Ich lasse sie dir zuschicken, wenn du wieder eins und eins zusammenzählen kannst.“, antwortete sie und stieß gegen Eagles Whiskyglas. „Lang lebe der Häuptling.“   Wenige Minuten später wurde Eagle von Ituha vor seiner Haustür abgesetzt. Zögernd schaute er sich um und ging ins Wohnzimmer, wo er wie erwartet Saya fand. Sie lag auf dem Sofa, ein geöffnetes Buch in der Hand und schien zu schlafen. Erst wollte Eagle lautlos aus dem Raum verschwinden aber dann entschied er sich doch dazu seine Stiefmutter zu wecken. Vorsichtig rüttelte er an ihrer Schulter. „Wach auf, bevor du am Ende auch noch krank im Bett liegst.“ Schlaftrunken gab Saya einen Laut von sich und richtete sich langsam auf. „Wie spät ist es?“ „Elf.“ Saya unterdrückte ein Gähnen. „Schon?“ „Komm, du solltest ins Bett.“ Doch sie schüttelte den Kopf. „Ist schon in Ordnung.“ „Glaube ich irgendwie nicht. Fängst du jetzt schon an dich wie Carsten zu überarbeiten? Untersteh dich.“ Saya betrachtete Eagle für einen Moment und strich ihm anschließend mit dem Daumen über die Wange, wie Ituha zuvor. „Hast du geweint?“, erkundigte sie sich vorsichtig. Eagle wich ihrem Blick aus. „Nein. Nur zu viel getrunken.“ Obwohl er sich eigenstehen musste, dass es ziemlich schwer war die Tränen zurückzuhalten. Das geschah in letzter Zeit häufiger als ihm lieb war. Saya schien das zu wissen, doch sie ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen erzählte sie: „Jenny war heute da und hat sich um das ganze Chaos gekümmert.“ Eagle seufzte. „Ich hätte sie gerne mal wieder gesehen.“ Er mochte die ältere, etwas beleibtere Haushälterin. Jenny war schon hier angestellt seit er denken konnte und hatte Eagle des Öfteren Süßigkeiten zugeschmuggelt, wenn seine Eltern nicht hingeschaut hatten. Gerade, wenn er mal wegen irgendeiner dummen Aktion Zimmerarrest bekommen hatte, war sie immer seine heimliche Verbündete gewesen. Ituha hätte ihn für das vorhin garantiert auch gerne mit Zimmerarrest verdonnert, mit den Worten dort dürfe er wohl nicht solche Dummheiten anstellen können. „Carsten geht es inzwischen auch etwas besser.“, fuhr Saya fort, was Eagle erleichtert aufatmen ließ. Die letzten Tage war Carstens Fieber gar nicht gesunken und konsequent knapp über vierzig Grad gewesen, sodass selbst Saya angefangen hatte sich Sorgen zu machen und eine genauere Untersuchung in Erwägung gezogen hatte. „Als ich das letzte Mal geschaut habe, hatte er 38,6 Grad. Und ich habe ihn sogar dazu bringen können eine Kleinigkeit zu essen.“ „Ist er wach?“ Saya zuckte mit den Schultern. „Ich glaube nicht. Er ist immer noch extrem erschöpft und die Verbrennungen von diesem furchtbaren Ritual machen ihm auch schwer zu schaffen.“ Eagle nickte betrübt. Die Verletzungen hatten wirklich übel ausgesehen. Wie konnte Magie nur solche Tribute fordern? „Aber du kannst ja mal nach ihm schauen.“, schlug Saya plötzlich vor. „Er hat vorhin erst im Halbschlaf nach dir gefragt. Ich glaube, es würde ihm ganz guttun, dich zu sehen.“ Immer noch bedrückt wich Eagle ihrem Blick aus. „Wohl kaum. Nicht nach dem, was ich… gesagt hatte…“ Saya wuschelte ihm durch die Haare. „Du kannst ihm deshalb nicht ewig aus dem Weg gehen. Carsten würde sich wirklich freuen dich zu sehen, glaub mir.“ Seufzend richtete sich Eagle auf. „Wenn du meinst…“ Er hielt einen Moment inne und betrachtete seine Stiefmutter. Sie wirkte ziemlich fertig. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass Saya wirklich immer da war, wenn er Schwierigkeiten hatte. Gerade jetzt… Und meist bekam er das noch nicht einmal bewusst mit. Nach einem kurzen Zögern beugte sich Eagle vor und umarmte sie. „Danke…“ Saya schien zwar etwas überrascht, erwiderte aber schließlich die Umarmung. „Dafür gibt es keinen Grund.“ „Oh doch, mehr als genug.“ Leicht amüsiert schob sie Eagle von sich weg und betrachtete ihn. „Nein, wirklich nicht. Und jetzt hör auf dich davor zu drücken, nach deinem kleinen Bruder zu schauen.“ „Ich drücke mich nicht davor.“ „Doch, tust du.“ Schnaubend, aber trotzdem leicht belustigt gab sich Eagle geschlagen und ging in das obere Stockwerk, wo er vorsichtig Carstens Zimmer betrat. Das Licht brannte zwar, aber Carsten schlief trotzdem wie Eagle feststellen musste. Er hatte den Kopf zur rechten Seite geneigt und war immer noch ziemlich blass. Die linke Hälfte seines Gesichts war mit irgendeiner Creme beschmiert und vorsichtig verbunden worden. Ebenso die restliche linke Oberkörperseite. Bedrückt atmete Eagle aus und entschied sich, dass es besser wäre Carsten schlafen zu lassen. Doch als dieser das Gesicht verzog und einen leisen Laut von sich gab, hielt Eagle kurz inne. „Eagle?“, fragte Carsten mit schwacher Stimme. „Sorry, ich wollte dich nicht wecken.“ „Nein, schon gut… ich…“ Carsten wollte sich aufrichten, hatte aber offensichtlich kaum die Kraft dazu. Stattdessen bereitete er sich damit nur noch mehr Schmerzen als er ohnehin schon hatte. „Lass das, bleib liegen.“, wies Eagle ihn hastig an. „Ich geh nicht weg, keine Sorge.“ Dennoch zögerte er etwas als er sich neben Carsten auf die Bettkannte setzte. Sein kleiner Bruder betrachtete ihn mit fiebrig glänzenden lila Augen. „Wie geht es dir?“ Geräuschvoll atmete Eagle aus. „Das sollte ich dich fragen.“ Carsten erwiderte nichts darauf und Eagle wurde immer unwohler zumute. Eigentlich sollte er sich jetzt endlich mal für seine Aktion von letztem Samstag entschuldigen. Und eigentlich wollte er auch, dass das endlich vom Tisch war. Aber irgendwie… Er hatte keine Ahnung, wie er das in Worte fassen sollte. Verdammt, wie kam er überhaupt auf die Idee seinem kleinen Bruder solche Vorwürfe zu machen? Ihm zu unterstellen die Federkrone an sich reißen zu wollen?! Ausgerechnet Carsten, der Eagle gerade mit diesem lieben und doch immer noch fiebrigen Hundeblick anschaute! „Hör mal… Wegen Samstag…“, setzte Eagle an. „Ist schon gut, ich habe es verdient.“, sagte Carsten schwach. „Nein, hast du nicht.“, widersprach er ihm bestimmt. „Ich wollte, dass du weißt, dass es… Dass es mir leidtut. Und dass ich so etwas niemals von dir denken würde. Ehrlich, ich hab keine Ahnung, was da mit mir los war.“ Carsten wich Eagles Blick aus, als wäre es ihm unangenehm darüber zu reden. Oder als belasteten ihn Eagles Worte mehr, als er zugeben wollte. „Das weiß ich doch. Ich…“ „… Nein, ich glaube nicht, dass du das weißt. Wie auch?“ Geräuschvoll atmete Eagle aus und versuchte, das drückende Gefühl im Hals herunterzuschlucken. „Ich war immer ein Arschloch dir gegenüber. Und kaum hat sich das endlich gebessert, lasse ich meinen Frust an dir aus. Obwohl du ganz offensichtlich mehr für mich tust als deine Gesundheit verkraften kann.“ Carsten wollte irgendetwas sagen, doch Eagle unterbrach ihn, bevor es dazu kam. „Jetzt versuch nicht, auch nur irgendetwas davon zu relativieren. Ich bin ein Arschloch und du übertrieben hilfsbereit. Du hast diese undankbare Reaktion von mir nicht verdient. Erst recht nicht nach allem, was du die letzte Woche für mich gemacht hast.“ Schweigend betrachtete Carsten die weiße Decke, bis er schließlich meinte: „Jetzt weiß ich zumindest, wie sich Benni und Laura damals nach meinen Worten gefühlt haben müssen…“ Eagle verstand, worauf Carsten anspielte. Es hatte ihn ziemlich zu schaffen gemacht, Benni kurz nachdem dieser seine Lehrmeisterin und in gewisser Weise auch Adoptivmutter verloren hatte als Monster beschimpft zu haben. Und als er Laura mit ihrer Schwäche und Abhängigkeit vom Schwarzen Löwen konfrontierte, war Eagle sogar dabei gewesen und hatte gesehen, wie sehr sie unter seinen Worten gelitten hatte. Bedrückt senkte Eagle den Blick. „Und… Wie haben sie sich gefühlt?“ Carsten seufzte. „Es ist schwer zu beschreiben… Ich glaube sie wissen, dass ich das nicht ernst gemeint hatte. Aber… es tut trotzdem weh…“ Eagle nickte langsam. „Kann ich mir gut vorstellen…“ Verdammt, er würde wieder am liebsten losheulen. Was war nur los mit ihm?! Warum war er so scheiß emotional zurzeit?! Lag es am Alkohol, den er noch intus haben müsste? Auch Carsten schien seinen Gefühlskampf zu bemerken. „Wirklich… Wie geht es dir?“ Eagle seufzte und erwiderte Carstens Blick. „Wie soll es mir schon gehen, wenn ich jedem der mir viel bedeutet die absurdesten Vorwürfe mache? Wenn ich jeden, der für mich da sein möchte, eiskalt zurückweise?! Wenn ich mein scheiß Mundwerk nicht im Zaum halten kann und mich wie ein Arschloch verhalte, ohne es überhaupt zu wollen?!?“ Frustriert ballte Eagle die Hände zu Fäusten und verfluchte sich fünf Bier getrunken zu haben. Er hatte sich schon vor einer Woche vor Carsten wie eine Heulsuse benommen. Nicht schon wieder. Nicht schon wieder! Carsten entging es natürlich nicht, dass Eagle seine Emotionen momentan alles andere als unter Kontrolle hatte. Obwohl Eagle ihn noch versuchte zurückzuhalten, richtete Carsten sich mit sichtbaren Schmerzen auf und lehnte sich gegen das Kopfende des Bettes. „…Ist was mit Öznur vorgefallen?“, erkundigte er sich schließlich vorsichtig und traf natürlich sofort ins Schwarze. „Ja… Irgendwie schon.“ „Falls du magst…“, setzte Carsten an, sprach das ‚wir können darüber reden‘ allerdings nicht aus. Eagle gab sich geschlagen und setzte sich seinem kleinen Bruder im Schneidersitz gegenüber auf das Bett. Vielleicht half es wirklich mit Carsten darüber zu sprechen. Seine Sicht der Dinge zu erfahren. „Im Prinzip bin ich einfach nur ausgerastet als Öznur angefangen hat mich zu kritisieren, dass ich wieder mit Rauchen angefangen habe.“ Carsten seufzte, erwiderte aber nichts darauf. Offensichtlich freute er sich auch nicht sonderlich über diese Neuigkeit. Carstens Reaktion ignorierend fuhr Eagle fort: „Als sie schließlich meinte, ich solle mich so benehmen wie es sich für einen Häuptling gehört, ist bei mir einfach eine Sicherung durchgebrannt. Ich glaube nicht, dass sie das überhaupt sagen wollte… Sie weiß ja, wie… Na ja…“ Eagle fuhr sich durch die Haare. „Ihr Kommentar hat mich an etwas… erinnert. Etwas, was vor über einem halben Jahr passiert ist. Und da… Ich habe ihr vorgeworfen, dass sie nur mit mir zusammen ist, da ich… der Häuptling… bin.“ Gerade die letzten Worte brachte Eagle nur mit viel Mühe über die Lippen. Ja, er war nun der Häuptling, und nicht sein Vater. Nicht mehr. Denn er war… tot… Erneut erinnerte sich Eagle an die Bilder als er seinen Vater gefunden hatte. Blutend, sich nicht mehr rührend, mit toten Augen. Dahinter Jack, der das Blut seines Vaters immer noch an sich kleben hatte. Der ihn ermordet hatte… „Eagle…“ Erst jetzt merkte Eagle, wie Carsten seine rechte Hand auf Eagles zitternden Arm gelegt hatte. Carstens warmer, besorgter Blick brachte Eagle in die Gegenwart zurück. Die nicht sonderlich besser war. Besonders, da Carstens Erkältung ihn zu einem heiseren Husten zwang. Eagle konnte Schweißperlen auf seiner Stirn erkennen. „Brauchst du was? Vielleicht irgendwas zum Trinken?“, erkundigte er sich besorgt. Wenn man bedenkt, dass Carsten vor ziemlich genau einer Woche krank geworden ist, und es ihm immer noch so schlecht ging… Immer noch hustend wies Carsten auf eine Teekanne, die auf seinem Nachttisch stand. Eagle füllte etwas von dem warmen Tee in die nebenstehende Tasse und reichte sie seinem kleinen Bruder. Irgendwann hatte sich der Husten wieder gebessert. „Entschuldige…“, meinte Carsten nur. Eagle schüttelte den Kopf. „Sag, wenn es dir zu viel ist… Du brauchst Ruhe. Extrem viel Ruhe.“ Auch Carsten schüttelte den Kopf und erwiderte Eagles Blick. „Glaubst du wirklich, dass Öznur nur deswegen mit dir zusammen ist?“ „Nein.“, antwortete Eagle direkt. „Aber… Das hatte ich bei Ana auch nicht geglaubt…“ „Deine Ex-Freundin, die bei der Krönungszeremonie den Federtanz getanzt hat?“ Das war keine Frage. Eagle runzelte irritiert die Stirn. „Kennst du sie?“ „Nein, Len hat es erwähnt.“ „Der Typ kann auch einfach nicht die Klappe halten.“ Eagle seufzte. Ja, Ana war schon immer ein hinterhältiges Miststück gewesen. Ituha hatte schon recht… Er hätte sich denken können, dass die Schlampe irgendwas vorhatte, als sie mit ihm da in diesen abgelegenen Gang gegangen ist. Die Erinnerung daran ließ Eagle schaudern. Wäre Risa nicht gewesen… Erneut riss ihn Carsten aus seinen Gedanken. „Namid hat erwähnt, dass du nicht gerne darüber redest. Also falls du es nicht erzählen möchtest ist das schon in Ordnung.“ Eagle betrachtete seinen kleinen Bruder. Es war seltsam mit Carsten über Beziehungssachen zu sprechen. Besonders, da dieser es ja noch nicht einmal aus eigener Kraft schaffte Ariane näher zu kommen. Eagle bezweifelte, dass Carsten auch nur irgendwelche Erfahrungen in diese Richtungen gesammelt hatte. …Wie auch? In dem Alter, wo man anfing sich für Mädchen zu interessieren, war er bereits im FESJ gewesen… Eagle seufzte. „Es stimmt, ich hasse es darüber zu reden.“ Und trotzdem… Irgendwie hatte er den Eindruck, sich Carsten anvertrauen zu können. Der Blick mit dem Carsten ihn betrachtete war alles andere als neugierig oder auffordernd. Er war einfach nur ruhig und besorgt. Und schwach… Carsten wirkte so mager und erschöpft, seine Augen hatten immer noch dieses fiebrige Glänzen und die kürzeren schwarzen Haaren klebten zum Teil an der verschwitzten Stirn. Und erst die ganzen Verbände, unter denen sich Verbrennungen befanden… Aber trotzdem konnte Carsten genug Energie aufbringen mit Eagle über sowas zu reden. Und ja, irgendwie hatte Eagle in gewisser Weise sogar das Bedürfnis mit ihm darüber zu sprechen. „In der Kurzfassung ist Ana einfach nur eine hinterhältige Schlampe.“, begann Eagle zögernd. „Aber das habe ich erst viel zu spät bemerkt… Klar, sie wollte häufiger mal irgendwelche besonderen Sachen geschenkt bekommen. Aber das war bei vielen meiner Bekanntschaften der Fall. Da habe ich mir nicht groß Gedanken gemacht.“ Carsten runzelte die Stirn. „Besondere Sachen?“ „Teurere Kleidung, edler Schmuck mit hübschen Steinen, … So Zeug halt. Ich hab recht viel Taschengeld bekommen und da sich die Mädels über sowas gefreut haben, war das nicht weiter schlimm. Genau genommen kann man so viele Mädchen für sich gewinnen. Wenn ich an einer interessiert war musste ich eigentlich nur herausfinden was sie mag und schon ist sie mir wie ein Hund hinterhergelaufen.“ „Solche Beziehungen hattest du?“, erkundigte sich Carsten verwirrt. Eagle zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Ich wollte bis vor kurzem eh nie eine Beziehung für die Ewigkeit.“ „Wieso denn das nicht?“ Nun schien Carsten endgültig überrascht. Spöttisch erwiderte Eagle seinen verwirrten Blick. „Vielleicht, weil ich die ganze Zeit damit gerechnet habe ohnehin in einer arrangierten Ehe zu landen? Immerhin hatte Vater bis vor einem halben Jahr noch ernsthaft überlegt mich mit einer gewissen Prinzessin aus Yami zu verheiraten.“ „Und deshalb hast du nie nach einer festen Freundin gesucht?“ „Genau. Wäre ziemlich blöd, wenn ich die Liebe meines Lebens finde und sie irgendwann verlassen muss, weil meine Hochzeit mit jemand anderem auf dem Plan steht.“ „Ja aber…“ So langsam schien es Carsten zu dämmern. „Hattest du nicht bis vor einigen Monaten noch Gefühle für Laura gehabt?“ Leicht amüsiert lachte Eagle auf. „Im Prinzip schon, ja. Ich mein, sie ist ein süßes, hübsches Mädchen und kann es faustdick hinter den Ohren haben. Da ich ohnehin damit gerechnet habe sie eines Tages zu heiraten, haben sich bei mir mit der Zeit Gefühle für sie entwickelt.“ Carsten betrachtete ihn kritisch. „Glaubst du ernsthaft, ihr wärt zusammen glücklich geworden?“ „Keine Ahnung.“, erwiderte Eagle schulterzuckend. „Mich hätte es nicht groß gestört, aber Laura konnte mich dank der Sache zwischen uns beiden ja nie sonderlich gut leiden. Und noch dazu ist sie sowieso Hals über Kopf in Benni verliebt. Sie hätte niemals mit mir an ihrer Seite glücklich werden können.“ „Und deshalb hast du letztlich das Angebot ausgeschlagen…“ Eagle nickte. „Es war schon ein bisschen verletzend, aber so im Nachhinein kann ich sie verstehen. Ich war ja wirklich ein Arsch… Und es ist tatsächlich viel schöner in einer Beziehung zu sein, wo man auch wirklich etwas für die andere Person empfindet.“ „Hattest du für die Mädchen in deinen anderen Beziehungen keine Gefühle?“, fragte Carsten und räusperte sich. „Mal mehr, mal weniger. Ich habe schon gerne Zeit mit ihnen verbracht und natürlich mochte ich sie auch. Aber überwiegend war das immer nur… körperlich.“ „…Verstehe…“ Mehr erwiderte Carsten nicht darauf. Eagle wusste noch nicht einmal, wie er diese Aussage deuten sollte. Es klang weder vorwurfsvoll noch bedauernd. Aber gleichzeitig wirkte es nicht so als könnte Carsten ihn wirklich verstehen. „Und Ana war eine dieser… Freundinnen?“, kehrte Carsten vorsichtig zum ursprünglichen Thema zurück. Bedrückt atmete Eagle aus. „Genau. Mit ihr war es tatsächlich mehr als nur eine gemeinsame Nacht. Eigentlich waren wir ein ganz normales Paar, nur mit dem Wissen, dass es sehr wahrscheinlich nichts für die Ewigkeit ist. Aber Ana schien damit nie ein Problem gehabt zu haben. Doch eines Tages…“ Okay, nun wurde Eagle das Thema unwohl. Also unwohl fühlte er sich schon die ganze Zeit dabei, aber jetzt wurde es so richtig unangenehm. Und er hatte auch keine Ahnung, ob Carsten das wirklich wissen wollte. Immerhin schien sein kleiner Bruder in so Themen absolut verklemmt. Eagle seufzte. „Also… Ana hatte immer die Pille genommen, deshalb hielt ich es nicht für nötig, anderweitig zu verhüten.“ Ja, an Carstens Reaktion konnte Eagle sehen, dass dieses Thema über seine Schmerzensgrenze hinausging. Dennoch machte er keine Anstalten ihn zu unterbrechen. „Das Problem dabei ist… Dass sie irgendwann ohne mein Wissen die Pille abgesetzt hat.“ „Was?!“ Carsten schien verwirrt. Was Eagle nicht groß überraschte, er hatte es damals selbst gar nicht glauben können. „Ich habe es nur dank der Gerüchteküche mitbekommen, aber im Endeffekt stimmte es tatsächlich.“ „Aber… Wieso?“ Eagle zuckte mit den Schultern. „Aus dem simpelsten Grund. So dämlich es auch klingt, sie wollte ein Kind von mir.“ „Ja, aber… Wenn es für euch doch feststand, dass das auf Dauer nichts wird…“ „Gerade deshalb.“ Verbissen atmete Eagle aus. Er brauchte unbedingt eine Zigarette. Aber er konnte nicht hier in Carstens Zimmer anfangen eine zu rauchen. Und schon gar nicht dann, wenn sein kleiner Bruder ihm mit recht hohem Fieber gegenübersaß. Carsten schien immer noch verwirrt, sodass Eagle gezwungen war weiter zu erklären: „Ein uneheliches Kind, für das auch in gewisser Weise der Vater zu sorgen hat. Meist über den finanziellen Weg. Da ist es schon praktisch, wenn der Vater dieses Kindes eines Tages der… Häuptling… ist.“ Carsten senkte den Blick und betrachtete den Tee in seiner Tasse. „Sie hatte also vor über ein Kind an Geld von dir zu kommen, um auch für die Zukunft abgesichert zu sein?“ „Du hast es erfasst.“ „Aber warum… warum sollte jemand so etwas…“ „Was fragst du mich?“ Eagle lehnte sich zurück und betrachtete die Decke, an der es nichts zu sehen gab. Irgendwie war er einfach nur noch müde. Er hatte bereits um fünf das Bett verlassen, um zumindest noch etwas Sport machen zu können. Das gepaart mit dem Alkohol ließ allmählich seine Augen schwer werden. Und dann war da noch dieser Vorfall mit Ana vor wenigen Stunden… Und das vor einem halben Jahr… „Das war damals ein ziemliches Drama daheim. Ich wollte eigentlich nicht, dass jemand was davon mitbekam, hatte aber doch zu viel Panik. Ich hatte einfach keinen Plan was ich hätte machen sollen, wäre Ana tatsächlich schwanger geworden. Dafür hat Vater zwei Wochen lang nicht mehr mit mir geredet.“ „Aber sie ist nicht schwanger geworden?“, vermutete Carsten hoffnungsvoll. „Nein, zum Glück nicht. Ich habe sie zum Teufel gejagt und bin seitdem nochmal vorsichtiger was Verhütung betrifft.“ Wobei Eagle Carsten mit den Details lieber verschonte, wie penibel er darauf achtete, dass sowohl frische als auch benutzte Kondome bloß nicht in die Hände seiner Partnerin gelangten. Carsten schien von diesem Thema schon verstört genug. Eigentlich goldig, wie unschuldig Eagles kleiner Bruder noch war. So ein bisschen heiterte dieses Wissen seine trübe Stimmung etwas auf. Carsten seufzte. „Zumindest hattest du Glück im Unglück…“ „Das war ein ziemlicher Schlag ins Gesicht, da ich ihr wirklich vertraut hatte.“ Eagle schnaubte. „Und heute kommt die Schlampe an, behauptet sie wolle einfach nur reden und lässt es danach auf einmal so aussehen als hätte ich über sie herfallen wollen.“ „Wie bitte?!“ „Du hast schon richtig gehört. Sie wollte mich im Prinzip so dastehen lassen als hätte ich sie sexuell belästigt.“ Erneut kochte der Zorn in Eagle hoch. Dieses verdammte, hinterhältige Biest. Aber gleichzeitig ärgerte er sich auch über sich selbst. Wieso hatte er sowas nicht direkt von ihr erwartet? Wie konnte er so blöd sein und auch noch in ihre Falle tappen? … Und wieso zum Teufel wäre er tatsächlich beinahe eingeknickt? Wäre fast ihren Berührungen unterlegen gewesen? Carsten seufzte. „Dich kann man wirklich keine Sekunde aus den Augen lassen.“ Eagle konnte nicht anders, er musste bei Carstens leicht sarkastischem Tonfall auflachen. Klang allerdings verbitterter als er zugeben wollte. „Ich befürchte, da hast du sogar recht.“ Eine Zeit lang schwiegen sie beide. Carsten schien seine Gedanken zu sortieren, während Eagles immer noch um jenen Vorfall heute Abend kreisten. Und um die Situation damals im Januar… „Glaubst du wirklich, dass Öznur auch so jemand ist?“, fragte Carsten schließlich. „Nein, natürlich nicht. Sonst wäre ich ja nicht mit ihr zusammen.“ Langsam nickte Carsten, jedoch schien die Bewegung durch seine Verbrennungen ziemlich schmerzhaft. „Ich nehme mal an, du hast seit eurem Streit noch nicht mit ihr geredet…“ Eagle schüttelte den Kopf. „Diese ganze Geschichte mit dem Häuptlings-Kram vereinnahmt mich gerade zu sehr. Ich will genug Zeit haben… Schon alleine aus dem Grund, da sie mir wahrscheinlich erstmal stundenlang die Hölle heiß machen wird.“ Carsten lachte schwach. „Gut möglich.“ „… Und ich hab keine Ahnung, was ich überhaupt sagen soll.“ Carsten warf Eagle ein Lächeln zu. „Sowas fällt einem wahrscheinlich nur spontan ein.“ Wieder überkam ihn ein Hustenanfall. Besorgt betrachtete Eagle seinen kleinen Bruder. „Ich sollte dich wirklich in Ruhe schlafen lassen.“ Er wollte sich aufrichten und gehen, doch da packte Carsten ihn plötzlich am Arm. „Kannst du noch… etwas… bleiben?“, fragte er und klang noch erschöpfter als er aussah. Eagle befreite sich aus Carstens Griff und nahm ihm die Teetasse ab. „Ernsthaft, ich hab dir schon genug abverlangt indem ich mich bei dir ausgeheult hab. …Mal wieder.“ „Bitte… Nur ein paar Minuten…“ Mit einem traurigen Lächeln betrachtete Eagle seinen kleinen Bruder. Carsten wirkte wie ein kleines Kind das nicht ins Bett wollte, dem aber vor Müdigkeit schon die Augen zuzufallen drohten. Ein sehr krankes kleines Kind… „Ist ja schon gut, ich gehe nicht sofort weg. Aber leg dich zumindest wieder hin.“ Immerhin hörte Carsten darauf und legte sich trotz der Schmerzen seiner Verbrennungen wieder normal ins Bett. Besorgt betrachtete Eagle die Verbände. Für Dämonenverbundene war es eigentlich unmöglich Narben zu bekommen. Aber Carsten war nur ein Dämonengezeichneter und diese Verbrennungen waren auch noch über ein Ritual der schwarzen Magie entstanden. Er fragte sich, ob sie ihre Spuren hinterlassen würden… Eagle musterte Carsten, dem die Augen bereits wieder zugefallen waren. Sah die kurzen, schwarzen Haare und erinnerte sich an Carstens Reaktion, als er den Haartrimmer gesehen hatte. An diese unbeschreibliche Angst und Panik in seinen Augen. Wie sehr sein Körper gezittert hatte. Eagle seufzte. „Ich glaube, du hast mehr Narben als wir sehen können.“ Carsten erwiderte nichts darauf, sondern schien bereits wieder eingeschlafen zu sein. Kapitel 71: Wiedersehen bringt Hoffnung --------------------------------------- Wiedersehen bringt Hoffnung       Gedankenverloren stocherte Öznur in ihrem Frühstück herum und hörte mit halbem Ohr zu, was für Klatsch und Tratsch Lissi zu berichten hatte. Eigentlich interessierte es sie nicht, dass Kaito nun mit Sabrina zusammen war. Und dass Lissi selbst momentan irgendwie mehr mit Karin zu tun hatte wollte sie noch weniger wissen. Das einzige, woran Öznur gerade denken konnte, war ihr Streit mit Eagle. Der lag inzwischen genau eine Woche zurück und sie hatte immer noch nichts von ihm gehört… So allmählich machte sie sich wirklich Sorgen und sie war drauf und dran sich doch von selbst bei Eagle zu melden. Sie wollte doch nur, dass das endlich geklärt war… Dass wieder alles in Ordnung werden würde! Öznur sollte während die anderen zu ihrem privaten Training gingen die Gelegenheit nutzen und Eagle mal anrufen. Ansonsten würde sie noch den Verstand verlieren. Auch Anne hörte Lissi nicht wirklich zu. Besorgt musterte Öznur sie. Obwohl seit einer Woche wieder alles in Ordnung sein sollte, wirkte Anne die letzten Tage absolut abwesend und war viel gereizter als sonst. Fast schon so wie Eagle… Ob was passiert war? Doch mit jemandem geredet hatte Anne bisher nicht. Vielleicht war es ja wegen Miguel? Sie war ihm selbst für ihre Verhältnisse ziemlich feindlich gesinnt., überlegte Öznur als es in ihrem Kopf Klick machte. Vielleicht hatte Anne ja Gefühle für Susanne?!? Überrascht wäre Öznur nicht. Susanne war ein liebes, hübsches Mädchen und versuchte immer nur das Gute im Menschen zu sehen. Außerdem schien Anne sich ohnehin eher für Frauen zu interessieren. … Dann wäre die Sache mit Miguel natürlich ein ziemlicher Schlag für sie. Kauend dachte Öznur darüber nach, wie kompliziert es doch sein musste auf dasselbe Geschlecht zu stehen. Es war schon im Allgemeinen schwierig genug jemand anderem seine Gefühle zu gestehen. Selbst sie hatte sich damals bei Eagle einen Ruck geben müssen. Aber Anne konnte sich noch nicht einmal sicher sein, ob Susanne überhaupt Interesse daran hätte, mit ihr -also einer Frau- eine Beziehung zu haben. Betrübt schluckte Öznur einen Bissen Rührei hinunter. Warum musste auch alles so kompliziert sein? … So hoffnungslos… Anne musste mit ansehen wie Susanne wahrscheinlich mit jemand anderem zusammenkam. Carsten konnte bereits seit über einem halben Jahr nicht den Mut aufbringen Ariane seine Gefühle zu gestehen. Laura hatte Benni nun schon seit einigen Monaten nicht mehr sehen können und hatte keine Ahnung, wie es ihm überhaupt ging. Und Öznur selbst kämpfte nun täglich mit der Angst Eagle für immer verloren zu haben. Wie ging es ihm überhaupt?  Wie hatte er die erste Woche als Häuptling überstanden? Sie wusste es nicht. Sie wusste nichts. Sie alle gingen einfach nur jeden Tag in den Unterricht und hatten keine Ahnung, wie es nun weiter gehen sollte. Das einzige was sie machen konnten war zu trainieren und sich auf den bevorstehenden Kampf vorzubereiten. Wie auch immer sie den gewinnen konnten. Überrascht blickte Öznur auf als Laura plötzlich eine Art Quietschen von sich gab und von ihrem Platz aufsprang. Als sich Öznur irritiert umdrehte sah sie, wie Laura lachend und mit Tränen in den Augen Carsten um den Hals fiel. Dieser wäre wohl unbeholfen die Treppe herunter gestolpert, stünde nicht Eagle neben ihm der amüsiert eine Hand auf Carstens Rücken legte und den Schwung von Lauras überschwänglicher Freude abfing. Öznur spürte wie sich ein Knoten in ihrem Herzen löste und sich auch in ihren Augen Tränen sammelten. Doch im Gegensatz zu den anderen Mädchen schaffte sie es nicht aufzustehen und die beiden Jungs zu begrüßen. Sie konnte nur fröhlich und traurig zugleich beobachten, wie die Brüder so herzlich empfangen wurden, dass man meinen könnte sie wären nach einem jahrelangen Krieg endlich zurückgekehrt. Sogar Anne umarmte Carsten zur Begrüßung, mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen. „Was ist denn los mit euch?“, kommentierte Eagle diesen ganzen Übermut. „Das fragst du noch?!“, fragte Laura unter Tränen. „Wir haben seit einer Woche nichts mehr von euch gehört und jetzt steht ihr hier und tut so als wäre nichts gewesen! Wir haben uns furchtbare Sorgen gemacht!“ Mit einem traurigen Lächeln nahm Carsten sie wieder in die Arme. „Entschuldige…“ „Wie… geht es euch?“, erkundigte sich Janine zögernd. Eagle zuckte mit den Schultern, was inzwischen wohl seine Standardantwort auf diese Frage war. Besorgt betrachtete Öznur ihn. Er wirkte genauso übermüdet wie vor einer Woche… Schließlich wies er mit dem Kopf auf den Tisch. „Dürfen wir uns dazu setzen?“ „Da fragst du?!“, erwiderte Ariane. Dennoch entging es Öznur nicht, dass Eagle nur zögernd neben ihr platznahm. Am liebsten hätte auch sie sich direkt beschwert, wieso er so lange gebraucht hatte um sich mal zu melden. Doch die Erleichterung war zu groß. Und obwohl sie nicht wusste wie es gerade zwischen ihnen stand überwand sie sich dazu Eagles Hand zu nehmen. Sie bezweifelte, dass mit einem Schlag wieder alles in Ordnung zwischen ihnen war. Zu viele Fragen geisterten in ihrem Kopf herum und sie schaffte es nicht auch nur eine davon auszusprechen. Doch alle Fragen und Zweifel waren wie weggeweht, als Eagle ihren vorsichtigen Händedruck erwiderte und seine Finger mit ihren verschränkte. Öznur unterdrückte ein Schluchzen und klammerte sich an seinen muskulösen Arm. Derweil erkundigte sich Susanne bei Carsten, ob er inzwischen wieder ganz gesund war. „Ein bisschen angeschlagen bin ich noch, aber ansonsten ist alles in Ordnung.“, antwortete er. „Und deine… Verbrennungen?“ Vorsichtig berührte Laura Carstens rechte Hand. Doch keine Anzeichen von noch so kleinen Verletzungen waren zu sehen. Auch Eagle schien dies aufzufallen. „Vor ein paar Tagen sah das noch ganz anders aus.“ „Sie verheilen gut.“, antwortete Carsten nur, erntete aber dafür sehr kritische Blicke von den Mädchen. Inzwischen wussten sie, dass er verschwiegener und verschlossener war als man es von ihm erwarten würde. Und dieses ‚sie verheilen gut‘ hätte auch genauso gut von Benni kommen können, der zwar nicht lügen aber die Wahrheit so geschickt umschreiben konnte, dass es doch irgendwie nicht ganz der Realität entsprach. Auch Laura hatte diese Antwort wohl viel zu sehr an ihren Freund erinnert. Kritisch krempelte sie den Ärmel von Carstens Sweatshirt hoch. Doch Tatsache, da war nichts. Vorsichtig pikste Laura mehrere Male in Carstens Unterarm, wo sich vor einer Woche noch die furchtbaren Wunden in Form der indigonischen Muster befunden hatten. Das konnte doch nie und nimmer so schnell verheilt sein. Schließlich nahm Carsten ihre Hand weg. „Lass das.“ „Tut mir ja leid, aber selbst für einen Dämonenverbundenen ist das schnell verheilt.“, erwiderte Laura und musterte seinen Arm immer noch misstrauisch. Eagle nickte. „Zu schnell.“ „Ich habe mit Magie nachgeholfen.“, erwiderte Carsten und fühlte sich offensichtlich nicht sonderlich wohl unter den ganzen Blicken. „Dein Fieber ist erst gestern vollständig verschwunden. Da hast du schon zaubern können?“, entgegnete wiederum Eagle. Öznur war überrascht, wie wenig er der Aussage seines kleinen Bruders Glauben schenkte. „Ich…“ Carstens Unwohlsein schien noch größer zu werden. Eagle machte Anstalten etwas zu sagen, als plötzlich ein „Entschuldigung?“ von der Seite kam. Verwirrt betrachtete Öznur die Gruppe Mädchen, die zu ihnen an den Tisch gekommen war. Ganz vorne stand ein kurviges Ding, übertrieben geschminkt und gestylt. Aber selbst damit wirkte sie in Öznurs Augen nicht sonderlich attraktiv. Und noch weniger als sie sie schließlich wiedererkannte. War das nicht die Tussi, die früher mal so einen Narren an Benni gefressen hatte? Wie hieß die nochmal? Rapula Wuko? Auch der Rest der Gruppe erinnerte sich an diese Schlampe. Alle bis auf Eagle, der sie gar nicht kannte. „Was ist?“, fragte er, komplett unvoreingenommen und ahnungslos. „Ich hab mal eine Frage…“, setzte diese Rapula an, während die restlichen Hühner hinter ihr kicherten. „Kann es sein, dass du… Also… Ich hab letzte Woche die Krönung des neuen Häuptlings von Indigo gesehen und… Du siehst ihm ziemlich ähnlich. Kann es sein…“ Öznur merkte, wie sich Eagle anspannte. Er war auf das Thema offensichtlich immer noch nicht gut zu sprechen. Auch der Rest von ihnen am Tisch schien den Atem anzuhalten. „Das hat man mir schon öfter gesagt.“, erwiderte Eagle schließlich ruhig. „Also bist du nicht…?“ „Matt. Sehr erfreut.“ Eagle setzte sein charmantes, freundliches Lächeln auf und hielt ihr die Hand hin. Natürlich war er sich seiner Attraktivität und der Wirkung die er auf Mädchen haben konnte bewusst. Und Öznur war beeindruckt wie gezielt er sie einsetzen konnte. Sowohl diese Rapula als auch die anderen Mädchen waren vollkommen durcheinander und gleichzeitig hin und weg von dem gutaussehenden Indigoner. Sie schaffte es nur noch seine Hand zu nehmen, sich mit Lisa Rapuko vorzustellen, für die Störung zu entschuldigen und anschließend von dannen zu gehen. Nahezu der gesamte Rest betrachtete Eagle verwirrt. Schließlich war es Öznur die fragte: „Matt?“ „Mein erster Vorname. Kanntet ihr den nicht?“ Ariane schüttelte den Kopf. „Du hast ihn uns damals verschwiegen als wir das mal als Gesprächsthema hatten.“ Eagle zuckte mit den Schultern. „Ich mag ihn auch nicht sonderlich.“ Argwöhnisch schaute er in die Richtung, in die die Tussen-Clique verschwunden ist. „Aber auf sowas hatte ich noch weniger Lust.“ „Waren sie dir direkt so unsympathisch?“, erkundigte sich Janine überrascht. „Ihr habt doch gesehen wie die sich stylen.“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Irgendwelche Nobel-Marken-Sachen. Na und?“ „Es gibt Unterschiede.“, klärte Eagle sie auf. „Entweder du hast wirklich das Geld dich komplett so einzukleiden oder du besitzt alles nur auf Pump und versuchst reich und wohlhabend auszusehen. Man erkennt sofort wer was ist.“ „Du vielleicht.“, entgegnete Carsten. Eagle lehnte sich im Stuhl zurück. „Zumindest hatte ich keinen Nerv auf so oberflächliche Tussen, die mich direkt danach fragen ob ich der Häuptling sei.“ „Dafür hast du das aber ziemlich charmant gelöst.“, merkte Lissi an und zwinkerte. Eagle warf ihr ein schiefes Lächeln zu. „Ich kann sie ja wohl kaum als Fremder dieser Schule direkt zum Teufel jagen.“ „Kannst du schon.“, sagte Anne. „Hätten sie auch verdient.“ „Stimmt wohl.“, gab Eagle ihr Recht. Öznur tauschte einen flüchtigen Blick mit Anne aus, die eine Augenbraue hob. Sie erinnerte sich an Annes Vermutung, dass Eagle wahrscheinlich keine sonderlich guten Erfahrungen mit solchen Mädchen gesammelt hatte. Und sie hatte immer mehr den Eindruck, dass da was dran sein könnte. „Also hast du Carstens subtile Taktik benutzt und deinen inoffiziellen Vornamen genannt.“, bemerkte Susanne. Carsten betrachtete sie irritiert. „Seit wann wisst ihr, dass ich mich deshalb nie als Crow vorstelle?“ „Seitdem alle Welt von Crow weiß und nur die wenigsten den Namen mit dir in Verbindung bringen können.“, antwortete sie. Laura schaute Carsten überrascht an. „Du hast das tatsächlich mit Absicht gemacht? Von Anfang an?! Seit ich dich kenne?!?“ Verlegen lachte Carsten auf. „Habe ich. Aber du hattest es trotzdem damals geschafft, halb meinen offiziellen Namen zu benutzen.“ Laura kicherte. „Stimmt.“ Auf die verwirrten Blicke hin meinte sie schließlich: „Ich habe Carstens Namen als Kind nicht aussprechen können und habe mir eine japanische Version davon zurechtgebastelt. In der Kindergarten- und Grundschulzeit habe ich ihn immer ‚Karasuten‘ genannt.“ „Das klingt kein bisschen nach seinem offiziellen Namen.“, bemerkte Öznur. Susanne überlegte einen Moment. „Karasu heißt Krähe, oder?“ Carsten nickte. Dem Rest der Mädchen ging ein Licht auf. „Das klingt schon mehr nach seinem offiziellen Namen.“ Öznur betrachtete Eagle. „Also sollen wir dich ab sofort außerhalb Indigos immer Matt nennen?“ Er seufzte. „Wenn es sich nicht vermeiden lässt…“ Es war eindeutig, dass die Mädchen ihn am liebsten Fragen würden wie er mit der momentanen Situation klarkam. Aber niemand traute sich diese Frage auszusprechen. Vorsichtig strich Öznur mit dem Daumen über Eagles Handrücken und hoffte, dass irgendjemand das Schweigen brechen würde. Schließlich war es Carsten der fragte: „Und was habe ich so in der Schule verpasst?“ Öznur schnaubte. „Mehr als genug. Aber du hast das ohnehin alles in zwei Stunden wieder aufgeholt.“ Carsten schüttelte den Kopf. „Du übertreibst.“ Janine kicherte. „Stimmt, eine Stunde reicht völlig.“ Während die anderen Mädchen loslachten verdrehte Carsten genervt die Augen. „Ach stimmt, da war noch was.“, meinte Eagle plötzlich und holte einige gefaltete Zettel aus seiner Hosentasche, die er Laura gab. Neugierig öffnete diese sie. „Sind das Carstens Notizen zum Zauber?“ Eagle nickte. „Pass auf, dass du sie ihm vor eurer Sperrstunde wieder wegnimmst, bevor er wieder auf die Idee kommt die Nacht durchzumachen.“ „Ihr könnt mir doch nicht ständig meine Notizen wegnehmen.“, empörte sich Carsten und wollte Laura die Zettel aus der Hand nehmen. Doch sie wich ihm noch rechtzeitig aus. „Doch, können wir.“ Carsten seufzte und versuchte immer wieder sie einzufangen. „Ich meine es ernst, die Zeit läuft uns davon.“ „Ein fertiger Zauber bringt uns rein gar nichts, wenn du dich dafür schon wieder überarbeitest.“, warf nun auch Janine ein. „Ich werde es schon nicht übertreiben.“ Eagle schüttelte den Kopf. „Glaubt dem kein Wort.“ „Mann, Eagle!“ Inzwischen hatte es Carsten geschafft Laura zu schnappen und festzuhalten, doch diese hatte die Notizen bereits an Ariane weitergegeben. Amüsiert bemerkte Öznur den verlegenen und zugleich verärgerten Seitenblick, den er Laura zuwarf. Diese grinste einfach nur, mit dem Wissen gewonnen zu haben. Mit Ariane würde Carsten niemals so rangeln können wie mit Laura. Dafür war er viel zu schüchtern. Verbissen ließ er sie los und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann fertige ich halt Kopien an.“ „Dann nehme ich dir die auch einfach weg.“ „Dann lerne ich es halt auswendig.“, erwiderte Carsten. Laura lächelte ihn herausfordernd an. „Dann sorge ich einfach mit der Finsternis-Energie dafür, dass du schläfst statt arbeitest.“ Nach einer Weile Schweigen meinte Carsten schließlich: „Das ist unfair.“ Bei seiner unbeholfenen Antwort musste der Rest einfach loslachen. Sogar Eagle. „Was Besseres ist dir nicht eingefallen?!“ „Wie meinst du das denn?“, fragte Carsten verlegen. Anne grinste. „Ein bisschen schlagfertiger hätte ich dich ja schon eingeschätzt.“ Carsten schüttelte seufzend den Kopf. „Wir werden Mars nicht mit meiner Schlagfertigkeit besiegen können.“ Ariane verdrehte die Augen. „Jetzt komm, du klingst schon genauso wie Benni damals beim Ausflug zum Teich.“ Betrübt setzte sich Carsten wieder hin. „Und ihr wisst genau, wie diese Geschichte ausgegangen ist…“ Dadurch wurde auch der Rest wieder ernst. Öznur bemerkte, wie sich Laura mit dem Handrücken über die Augen wischte. Wenn sie sich richtig erinnerte sah sie Laura in letzter Zeit nur noch selten lachen… Ohne hinschauen zu müssen legte Carsten einen Arm um ihre Schultern. „Entschuldige…“ Schweigend beobachtete Öznur, wie sich Laura gegen ihren besten Freund lehnte, während sie weiter gegen ihre Tränen anzukämpfen versuchte. Nach einer Weile meinte Eagle plötzlich: „Die Geschichte wird sich nicht wiederholen.“ Überrascht schaute Öznur ihn an. Wie konnte ausgerechnet Eagle so etwas in seiner aktuellen Situation von sich geben? Das dachte wohl auch der Rest, der ihn ebenso irritiert musterte. Carsten seufzte. „Die Entwicklung des Zaubers war jetzt nahezu zwei Wochen im Stillstand… Während Mars wahrscheinlich gar keine Pause macht.“ „Nicht ganz.“, widersprach Eagle. Carsten musterte seinen großen Bruder verwirrt. „Wie meinst du das?“ „Ich habe deine Sachen an Konrad weitergegeben und er hat sich das Zeug die letzten Tage mal angeschaut.“ „Du hast was?!?“ Carsten klang alles andere als begeistert als er verunsichert druckste: „Aber… Ich… Das sind nur Ideen. Der eigentliche Zauber…“ „Konrad fand das alles zumindest ziemlich gut.“, erwiderte Eagle trocken. „Er hat wohl noch ein bisschen was für den symbolischen Kram ergänzt und überarbeitet, aber ansonsten wüsste er nichts auszusetzen. Er meinte aber wenn du dich dadurch sicherer fühlst, kann er beziehungsweise Florian auch dafür sorgen, dass du bei den Erzmagiern in Ivory vorgeladen wirst.“ Amüsiert bemerkte Öznur wie Carsten die Röte ins Gesicht schoss während Susanne überrascht meinte: „Denkst du, sie würden Carsten tatsächlich helfen? Ich habe gehört, dass die Erzmagier vollkommen abgeschottet leben und selbst der König von Ivory keine Garantie hat sie zu treffen.“ Eagle nickte. „Es stimmt. Konrad erwähnte, dass sie ihr ganzes Leben der Zauberei widmen und ziemlich… speziell sind. Aber wie Carsten schon sagte sind wir alle Lebewesen desselben Planeten und in gewisser Hinsicht aufeinander angewiesen. Mars‘ Zerstörungsplan wird wohl kaum die Erzmagier und ihre Zauberei außenvor lassen. Also sollten sie uns gefälligst auch helfen.“ Beeindruckt betrachtete Öznur Eagle. Er schien all die Zeit immer total neben der Spur gewesen zu sein und auch jetzt noch sah man, dass er sich nicht wirklich gut fühlte. Aber irgendwie hatte er es trotzdem geschafft Carsten zu unterstützen. Wann und wie auch immer er das gemacht hatte. Schließlich erwiderte Eagle ihren Blick. Nach einem kurzen Zögern fragte er: „Möchtest du etwas mit rauskommen?“ Sofort bereitete sich ein flaues Gefühl in ihrem Magen aus und Öznur versuchte einen metallischen Geschmack herunterzuschlucken. Sie ahnte schon, worüber er mit ihr reden wollte. Und obwohl Öznur eigentlich davon überzeugt war, dass er sich nur entschuldigen wollte, hatte sie auf einmal Angst. Verunsichert nickte sie. Er richtete sich auf. „Dann vertraue ich euch mal Carsten mit dem Schock seines Lebens an.“ Sich immer noch unwohl fühlend folgte Öznur ihm die Wendeltreppe runter. Gemeinsam verließen sie den Mensaturm und wanderten ziellos auf dem Schulcampus herum. Öznur merkte, wie Eagle in seine Jackentasche griff und erhaschte einen Blick auf den Rand einer Zigarettenverpackung. Daher war sie umso überraschter als Eagle nach kurzem Zögern die Hand wieder herauszog. Ohne Zigaretten. Eigentlich war das ja ein gutes Zeichen. Aber trotzdem fühlte sich Öznur nicht sonderlich wohl. Alleine die Erinnerung an den Streit, Eagles verärgerten Blick, die laute, wütende Stimme, die Vorwürfe die er ihr gemacht hatte, … Schaudernd rieb sie sich die Oberarme. „Ist dir kalt?“, erkundigte sich Eagle, doch Öznur schüttelte den Kopf. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus. Schließlich schnaubte Eagle. „Carsten, dieser Vollidiot. Von wegen sowas fällt einem spontan ein.“ „Was?“ Schließlich blieb er stehen und erwiderte ihren Blick mit seinen hellen bernsteinbraunen Augen. „…Fang du an.“ Öznur musterte ihn verwirrt. „Womit?“ Eagle zuckte mit den Schultern. „Mich anschreien wie ich auf so eine Idee komme, wie ich es wagen kann dich so zu behandeln, was für ein Arschloch ich bin, … Irgendwie sowas.“ Also wollte er tatsächlich endlich die Sache mit ihr klären. Und was er da so sagte ließ vermuten, dass er seine Aktion wirklich bereute… Dass er das gar nicht wollte und einfach froh ist, wenn wieder alles in Ordnung war… Öznur schluckte den Kloß im Hals herunter und kämpfte gegen die Tränen an. Wieder erinnerte sie sich daran. An das erdrückende Gefühl von Eagle angebrüllt zu werden und nichts ausrichten zu können… Und schließlich einfach nur eiskalt dazu aufgefordert zu werden zu verschwinden… Ja, Öznur würde Eagle tatsächlich am liebsten anschreien. Ihm ihren ganzen Frust und die ganze Verzweiflung der letzten Woche entgegenschleudern. Doch sie konnte es nicht. Aus irgendeinem Grund blieben ihr die Worte in der Kehle stecken. Das einzige was über ihre Lippen kam war ein Schluchzen. Noch während sie ihre Tränen nicht länger zurück halten konnte warf sie sich in Eagles Arme. „Du Idiot…“, murmelte sie weinend, das Gesicht in seiner Lederjacke vergraben. Seufzend verstärkte Eagle seinen Griff und küsste sie auf den Scheitel. „Ich weiß… Es tut mir leid.“ Nun war der Damm in Öznur gebrochen und unter all den Tränen und Schluchzern fing sie tatsächlich an ihn anzuschreien: „Wie kommst du überhaupt auf die Idee, dass ich so etwas machen würde?!“ „Keine Ahnung.“, antwortete Eagle lediglich. „Hast du mir wirklich zugetraut so eine oberflächliche Tussi wie diese Lisa Rapuko zu sein?! Dass ich nur wegen deines Standes an dir interessiert bin?!?“ Sie spürte wie Eagle mit dem Kopf schüttelte. Nach einem kurzen Zögern fragte sie schließlich: „Anne meinte, du könntest schlechte Erfahrungen mit so einer Art Mädchen gesammelt haben… Stimmt das?“ Eagle strich ihr durch die Haare. „Beruhige dich erstmal. Danach erzähle ich dir alles was du wissen willst.“ Das sagte sich so leicht. „Du hast mich angebrüllt, gesagt ich soll verschwinden und dich danach für eine Woche nicht mehr gemeldet! Und da soll ich mich beruhigen?!?“ Sie spürte, wie eine Art Beben durch Eagles Brust ging. Als sie verwirrt aufschaute merkte sie, dass er angefangen hatte zu lachen. Öznur rieb sich die Tränen aus den Augen. „Was ist daran so lustig?“ Immer noch lachend betrachtete Eagle sie. „Gar nichts. Aber du reagierst genauso wie ich es erwartet habe.“ Schniefend boxte sie ihm gegen die Schulter. „Vollidiot.“ „Der bin ich wohl.“ Eagle nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und musterte sie erneut mit diesen hellbraunen Augen. Besonders aus der Nähe wurde Öznur bewusst, wie müde er wirkte. Wie er immer noch unter der gesamten Situation litt. Er seufzte. „Wirklich… Es tut mir leid.“ Noch bevor Öznur etwas darauf erwidern konnte beugte er sich vor und küsste sie. Sie bemerkte den salzigen Geschmack ihrer Tränen als sie den Kuss erwiderte und sich noch fester an Eagles Jacke klammerte. Endlich. Endlich konnten sie sich wieder küssen. Endlich war zwischen ihnen wieder alles in Ordnung! Dasselbe dachte wohl auch Eagle, der erleichtert aufseufzte und seine Stirn gegen ihre lehnte, kaum dass sich ihre Lippen getrennt hatten. Zögernd fragte Öznur nach einer Weile: „Du meintest du erzählst mir alles was ich wissen will?“ Eagle nickte und noch während sie einen wärmeren Ort ansteuerten fragte er: „Womit soll ich anfangen?“ Eagle erzählte ihr wirklich alles. Zwar war Öznur zuerst genervt davon nach jeder Kleinigkeit fragen zu müssen. Aber sehr bald erkannte sie, warum er nur vorsichtig alles Mögliche preisgab. Als er ihr von der Geschichte mit Ana im letzten Januar erzählte war sich selbst Öznur nicht sicher, ob sie wirklich alles hatte wissen wollen. Natürlich hatte sie sich durch Annes Vermutung und den Andeutungen von Eagles Freundeskreis schon gedacht, dass diese Tussi zu der Sorte Mädchen gehörte, wegen denen Eagles Vertrauen in Beziehungen so erschüttert war. Aber dass sie so weit gehen würde hätte Öznur trotzdem nicht erwartet. Sogar von dem Vorfall letzten Mittwoch in der Kneipe erzählte Eagle ihr, auch wenn er sich dabei sichtlich unwohl fühlte. Gedankenverloren stand Öznur von ihrem Bett auf und tigerte in ihrem, Lissis und Susannes Zimmer umher. „Wenn du mir eine reinhauen möchtest, nur zu. Ich hab’s verdient.“, meinte Eagle nur, immer noch im Schneidersitz auf Öznurs Bett sitzend. Geräuschvoll atmete sie aus und erwiderte seinen Blick. „Glaub mir, das würde ich gerade nur zu gerne. … Aber im Vergleich zu Ituhas Ohrfeige wird das wohl nicht viel bringen.“ Eagle zuckte mit den Schultern. „Ich bin schon froh, wenn du mich nicht direkt abfackelst.“ Öznur ballte die zitternden Hände zu Fäusten. „Dass du so blöd bist und in ihre Falle tappst, okay. Aber wieso hast du es so weit kommen lassen?! Und dann hast du es auch noch ernsthaft in Erwägung gezogen mit der Schlampe… Und warum zum Teufel erzählst du mir das überhaupt?!“, schrie sie. „Weil ich mich noch schlechter fühlen würde es dir zu verschweigen.“, antwortete Eagle ruhig. „Ich wollte das nicht und weiß auch nicht, was in dem Moment mit mir los war. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“ „Ja, aber…“ Verärgert wischte sich Öznur weitere Tränen aus dem Gesicht. „Du kannst mir doch nicht einfach erzählen, dass du mich fast betrogen hättest!“ „Ich habe dich aber nicht betrogen.“, widersprach er bestimmt. Gebrochen erwiderte sie Eagles Blick. Dass er bei Anas widerlicher Anmache tatsächlich fast eingeknickt wäre hatte sie am allerwenigsten wissen wollen. „Und was soll ich jetzt machen?“, fragte sie schluchzend. „Ich kann das doch nicht einfach so schulterzuckend akzeptieren! Wie soll ich dir jemals wieder komplett vertrauen können?!“ Eagle seufzte. „Ich weiß es nicht. Ich wollte nur…“ Öznur sank zurück aufs Bett, setzte die Brille ab und wischte sich erneut über die Augen. „Da dachte ich, dass endlich wieder alles okay ist und dann kommst du mit sowas an?!“ „… Dich anlügen wollte ich erstrecht nicht.“ „Du Drecksack!“, schrie Öznur und holte tatsächlich zum Schlag aus. Doch sie konnte es nicht. Sie schaffte es nicht Eagle eine runterzuhauen. Stattdessen brach sie erneut in Tränen aus. Sie spürte wie Eagle sie vorsichtig in die Arme nahm und besonders für seine Verhältnisse geduldig wartete, bis sich Öznur wieder so halbwegs beruhigt hatte. Schließlich fragte sie immer noch schluchzend: „… Aber… das mit uns ist für dich nicht einfach nur ein Zeitvertreib, oder?“ Sie merkte, wie Eagle die Stirn runzelte. „Wie kommst du denn auf so eine Idee?“ „Na ja, deine Beziehung mit Ana schien ja sowas gewesen zu sein und jetzt…“ Eagle packte sie an den Schultern und schob sie etwas von sich weg, um ihr in die Augen schauen zu können. Seine Stimme klang leicht beleidigt als er meinte: „Jetzt hör mal, wenn du mir wegen meiner Aktion von letztem Sonntag Vorwürfe machst verstehe ich das. Dazu hast du das volle Recht. Genauso wie mit der Sache letzten Mittwoch. Aber wehe du unterstellst mir mit dir zusammen zu sein, weil ich gerade Bock und nichts Besseres zu tun habe.“ „Und nach all dem soll ich dir das einfach so glauben?“ Geräuschvoll atmete Eagle aus. „Du weißt doch, dass ich in so Dingen nicht gut bin…“ Verwirrt beobachtete Öznur, wie Eagle irgendwie nach den richtigen Worten suchte während er sich gleichzeitig sichtbar unwohl in seiner Haut fühlte. Schließlich setzte er an: „Also… Du bedeutest mir viel. Viel mehr als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Und viel mehr als ich mir je hätte vorstellen können, dass so etwas überhaupt möglich ist. Wenn du meine ganzen Beziehungen die ich davor hatte als Zeitvertreib abtun möchtest, nur zu. Aber nicht das mit dir. Auf keinen Fall.“ Öznur schluchzte immer noch und obwohl sie sich eigentlich über seine Worte freuen sollte… „Ich weiß nicht, wie ich dir das glauben soll…“ Eagle murmelte irgendetwas wie „Warum muss auch alles so kompliziert sein?“ und meinte schließlich: „Ich kann dir keinen Beweis für meine Gefühle geben. Es liegt an dir ob du mir glaubst oder nicht, wenn ich dir sage, dass ich dich liebe.“ Fassungslos starrte Öznur ihn an, nicht wissend was sie denken sollte. Hatte er ihr je so etwas wie ‚ich liebe dich‘ gesagt? Nein, nicht dass sie wüsste. Das war das erste Mal. Genauso wie das ‚Danke, dass du da bist‘ in der Nacht seiner Krönungszeremonie. Immer noch verheult erwiderte sie Eagles Blick und obwohl sie alles nur verschwommen sah konnte sie erkennen, wie ernst er seine Worte meinte. Öznur schluchzte. „Warum musste ich mich auch ausgerechnet in ein Arschloch verlieben?“ Er strich ihr mit dem Daumen einige Tränen von der Wange. „Das kann ich dir leider auch nicht sagen.“ Eagle war wohl so überfordert mit dem plötzlichen Kuss, dass er von dem Schwung rückwärts in die Kissen fiel. Doch schließlich öffnete er seinen Mund und ging darauf ein. Öznur seufzte als Eagle sie noch näher an sich zog und der Kuss leidenschaftlicher wurde. Seine Nähe und die Wärme seines Körpers ließ Öznur alles vergessen, was die letzte Woche vorgefallen ist. Es schien als wäre der Streit nie dagewesen. Und mit Ana war genaugenommen ja auch nicht wirklich was passiert. Das einzige was zählte war, dass sie Eagle endlich wieder hier bei sich hatte. Den Geschmack seiner weichen Lippen, das Gefühl der harten Muskeln unter dem T-Shirt, der starke Griff der so wirkte als würde er Öznur nie wieder loslassen wollen, … Nach einer Weile lösten sie sich wieder voneinander, doch Öznur blieb trotzdem weiterhin auf Eagle liegen. Sie strich ihm über die kurzen schwarzen Haare, an deren Anblick sie sich so langsam gewöhnte. „Lauf dieser Tussi noch einmal über den Weg und ich flambiere sie.“ Eagle lachte auf. „Aufhalten werde ich dich zwar nicht, aber kannst du damit zumindest noch bis nach der Gerichtsverhandlung warten?“ Öznur runzelte die Stirn. „Ihr habt sie wirklich angezeigt?“ „Ituha macht keine halben Sachen. Das war ihr voller Ernst als sie die Polizei gerufen hatte. Und mit Risa als Zeugin steht der Ausgang eigentlich schon fest. Jeder weiß das, nur noch der formale Kram muss erledigt werden.“ „Krass. Und… was passiert dann mit ihr? Kommt sie direkt ins Gefängnis?“ Etwas unwohl fühlte sich Öznur bei dem Gedanken tatsächlich. Klar, sie konnte diese Ana bis auf den Tod nicht ausstehen obwohl sie sich noch nie wirklich getroffen hatten. Aber trotzdem war die Vorstellung unheimlich, dass sie im Gefängnis landen könnte. Doch Eagle schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Wahrscheinlich wird sie eine fette Summe an Schmerzensgeld zahlen müssen und damit wäre die Sache dann erledigt.“ Ein verstohlenes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Was für eine Ironie. Sie versucht über die hinterlistigsten Aktionen mithilfe des Gesetzes an Geld von mir zu kommen und nun ist sie es, die zahlen muss.“ Öznur musste bei der Schadenfreude in Eagles Stimme lachen. „Als hättest du dieses Schmerzensgeld so dringend nötig.“ Nachdenklich spielte Eagle mit Strähnen von ihren Haaren. „Ich könnte es dir geben. Immerhin hättest du auch eine Art Schmerzensgeld von mir verdient.“ „Nein. Auf keinen Fall.“, widersprach Öznur ihm direkt. „Nach den ganzen Geschichten mit geldgeilen Tussen, die ich jetzt so gehört habe, will ich nie wieder auch nur in irgendeiner Form Geld oder sonstigen materiellen Kram von dir bekommen.“ Eagle runzelte die Stirn. „Jetzt komm, übertreib nicht.“ „Ich übertreibe nicht.“ Öznur pikste ihm mit dem Finger in die Brust. „Das hatte echt weh getan als du mir vorgeworfen hast so oberflächlich zu sein. Ich will dir nie mehr auch nur die Chance geben, sowas zu denken.“ Eagle hob eine Augenbraue. „Toll, und was soll ich dir dann nächsten Monat zum Geburtstag schenken?“ Öznur kicherte. „Eine selbstgebastelte Karte vielleicht? Oder ein romantisches Gedicht?“ Als Eagle alles andere als begeistert aufstöhnte musste Öznur loslachen. Ja, er war kein sonderlich großer Romantiker. Sie strich ihm über die Wange. „Du kannst mir auch einfach sagen, dass du mich liebst und mich küssen.“ Eagle erwiderte ihren amüsierten Blick mit seinem schiefen Lächeln. „Das dürfte ich gerade so hinbekommen.“ Noch während er sie zu sich hinunterzog, um Öznur erneut zu küssen, hörte sie ein schwaches ‚Ich liebe dich‘ über seine Lippen kommen.   So allmählich hatte Öznur den Eindruck das, was Eagle all die Zeit gebraucht hatte, war Abstand. Einfach mal rauskommen aus Indigo und den ganzen Erinnerungen, Verpflichtungen und Erwartungen, die mit dieser Region verbunden waren. Sie hatte Eagle seit Ewigkeiten nicht mehr so ausgelassen und entspannt erlebt. Oder gar ihn so häufig lachen gesehen. Nachdem zwischen ihnen beiden endlich wieder alles geklärt war gingen sie zu der restlichen Gruppe und machten zum ersten Mal eine Art Kampfkünstler-Magier übergreifendes Training. Wobei sie eigentlich kaum trainierten. Nur Anne hatte sich irgendwann von ihnen verabschiedet mit den Worten, die Zeit sinnvoller nutzen zu wollen. Der Rest der Mädchen durfte lachend die unterhaltsamsten Schlagabtausche zwischen Eagle und Carsten beobachten, die sich inzwischen wie ganz normale Brüder verhielten. Auch Laura ging es nun deutlich besser, seit sie wieder ihren besten Freund um sich hatte. Und sogar Arianes Stimmung hellte sich endlich mal etwas auf und Öznur bemerkte amüsiert, dass sie tatsächlich ganz kleine Annäherungsversuche startete, die Carsten direkt in totale Verlegenheit brachten. Trotzdem war das bisschen Training was sie hatten sehr interessant und lehrreich. Noch während Carsten den Mädchen erklärte, worauf sie als Magier achten mussten, wenn sie gegen einen Kampfkünstler kämpften -und umgekehrt-, stellte sich sehr schnell heraus wieso er so gut Bescheid wusste. Eigentlich hätten sie sich ja denken können, warum: Carsten und Benni waren nun mal nicht nur beste Freunde, sondern gleichzeitig auch die besten Trainingspartner, die keine Rücksicht aufeinander nahmen. Zwar waren die Mädchen nun erst recht neugierig, wie ein Kampf Magier gegen Kampfkünstler aussehen würde, aber sie mussten einsehen, dass es besser war, wenn sich Carsten noch etwas schonte. Schaudernd wurde Öznur bewusst, dass Carsten über eine Woche lang richtig schlimm krank gewesen war… Diese ganze Situation schien ihn noch stärker zu belasten als man es ohnehin schon vermuten würde. Wobei es eigentlich nicht verwunderlich war. Das Schicksal der gesamten Welt lastete durch die Erstellung des Zaubers auf Carstens Schultern, während er gleichzeitig mit dem Wissen leben musste, dass sich sein bester Freund unfreiwillig in den Fängen des Feindes befand. Und dann wurde auch noch der eigene Vater ermordet und der große Bruder drohte unter den ganzen Erwartungen zusammenzubrechen. Erneut beobachtete Öznur Eagle und betrachtete die süßen, kleinen Grübchen bei seinen Mundwinkeln, als er über irgendeine tollpatschige Aktion von Laura lachte. Er schien wie ausgewechselt, war ganz anders als die gesamten letzten zwei Wochen. Plötzlich meinte er: „Bevor ich es vergesse: Habt ihr zufälliger Weise kommenden Dienstagabend Zeit?“ „Natürlich.“, antwortete Öznur prompt, da sie bereits wusste was für ein Tag der kommende Dienstag war. Carsten lächelte seinen großen Bruder an. „Wann sollen wir da sein?“ Eagle zuckte mit den Schultern. „Wann auch immer ihr könnt. In Indigo wurde das ohnehin als Feiertag festgelegt, ich werde also sowieso nichts zu tun haben.“ „Außer eure traditionellen Tänze tanzen?“ Amüsiert verpasste Öznur ihm einen leichten Stoß in die Rippen. Eagle verdrehte die Augen. „Zum Glück nicht. Das ist wohl das einzig Positive daran der Häuptling zu sein: Mit dieser schweren, fetten Federkrone auf dem Kopf erwartet keiner von dir, dass du auch noch tanzt.“ Lissi zog einen Schmollmund. „Ach schade, ich hätte dich so gerne tanzen gesehen, Eagle-Beagle.“ Amüsiert wies Eagle auf Carsten. „Der Kronprinz wird aber nicht drum herumkommen.“ Während die Mädchen bei dieser Vorstellung loslachen mussten, färbten sich Carstens Wangen leicht rötlich. „Ich bin nicht der Kronprinz.“ „Doch, bist du. Steht so in unserem indigonischen Gesetz, dass du unter Garantie sowieso auswendig kennst.“, widersprach Eagle ihm schulterzuckend. „Solange bis ich eigene Nachkommen habe, wäre das zweitgeborene Kind automatisch der Nachfolger.“ Irgendwie fand es Öznur gruselig, sich über diese Erbfolge Gedanken zu machen. Alleine die Vorstellung, dass Carsten Eagles Platz einnehmen müsste war schon komisch. Doch wenn es tatsächlich so weit käme, würde das bedeuten, dass Eagle… Schaudernd rieb sie sich die Arme. Wie konnte Eagle überhaupt so ruhig dieses Thema ansprechen? War er nach der Geschichte mit seinem Vater bereits so abgestumpft? Auch Carsten fühlte sich bei der Aussage seines großen Bruders alles andere als wohl. Jedoch schien er mit den Gedanken gar nicht so weit gegangen zu sein wie Öznur. Zumindest meinte er schließlich zu Öznur und Eagle: „Also falls ihr einen Patenonkel sucht melde ich mich gerne freiwillig. Ich halte keine neun Monate mit diesem Titel aus.“ Während die Mädchen erneut bei seinem Kommentar loslachen mussten, kam von Eagle ein verlegenes: „Jetzt übertreib mal nicht.“ Eagle seufzte. „Also abgesehen von der Tatsache, dass ihr Carsten wahrscheinlich ohnehin am Ende des Tages aus dem Loch werdet buddeln müssen, in das er sich vor Scham verkriechen wird: Kommt ihr am Dienstag?“ Lächelnd küsste Öznur ihm auf die Wange. „Ich sagte doch schon: Natürlich.“ Sie meinte, Eagle ganz leise aufatmen zu hören. Anscheinend war er immer noch nicht ganz überzeugt, ob nun wieder alles in Ordnung war. Selbst Öznur war überrascht von sich selbst, dass sie all das einfach so mir nichts dir nichts abtun konnte. Aber lieber so als in dieser furchtbaren Zeit noch mehr betrübliche Ereignisse zu haben. Verlegen zwirbelte Janine eine ihrer blonden Haarsträhnen. „Tut mir leid, aber… Ich kann nicht… An genau diesem Tag hat auch Annalena Geburtstag und ich wollte…“ „Annalena?“, fragte Eagle verwirrt. „Ach stimmt, du hast sie damals nicht kennengelernt.“, bemerkte Carsten. „Annalena ist Janines Adoptivmutter.“ „Du möchtest wirklich wieder nach Mur? Ist das nicht zu gefährlich?“, erkundigte sich Susanne besorgt. Janine schüttelte den Kopf. „Keine Sorge, da ich mich teleportiere werde ich nicht an den Grenzkontrollen vorbei müssen. Aber…“ Sie warf Eagle einen entschuldigenden Blick zu, doch dieser hob die Hände. „Das ist kein Grund ein schlechtes Gewissen zu haben. Ich verstehe, warum du den Anlass nutzen möchtest endlich mal wieder deine Adoptivmutter zu sehen.“ Zwar erleichtert aber auch beschämt atmete Janine auf. „Es tut mir leid…“ „Braucht es nicht, wirklich. Sie sieht dich garantiert sowieso schon viel zu selten.“ Janine brachte lediglich ein Nicken und ein schwaches „Danke“ zustande. Eagle wies mit dem Kopf auf eine der Sporthallen. „Übrigens kann auch Anne gerne kommen, wenn sie Lust hat.“ Susanne nickte. „Wir richten es ihr aus.“ „Was ist eigentlich los mit ihr?“, erkundigte sich Carsten besorgt. „Sie wirkte irgendwie gereizter als sonst.“ Ihm war es also auch direkt aufgefallen. Planlos zuckte Öznur mit den Schultern. Sie konnte ja wohl kaum ihre Vermutung äußern, dass Anne wegen der Sache mit Susanne und Miguel so mies drauf war. „Vielleicht hat sie ihre Tage?“, vermutete Lissi. Carsten runzelte die Stirn. „Kann das so starke Auswirkungen auf die Laune haben?“ „Sei froh, wenn du es nicht miterleben musst.“, kommentierte Eagle und verdrehte die Augen. „Manche Mädchen können sich zu richtigen Drachen entwickeln.“ Lissi kicherte. „Bei Özi-dösi passt zumindest schon einmal das Element.“ „Hey, so schlimm bin ich gar nicht!“, empörte sich Öznur und funkelte Eagle vorwurfsvoll an. Abwehrend hob dieser die Hände. „Komm runter, dich meinte ich überhaupt nicht! Ich habe von Sakura gesprochen.“ Carsten seufzte. „Sowas will ich gar nicht wissen.“ Derweil beobachtete Öznur schweren Herzens, wie sich Eagle bedrückt zurücklehnte und in die Ferne schaute. Wahrscheinlich mit den Gedanken bei seiner Halbschwester, die sich nun in irgendeinem Kerker bei Mars befand… „Eagle, wenn du magst-“, setzte Carsten an, wurde aber beim Kopfschütteln von seinem großen Bruder wieder still. „Vergiss es, du hast die letzte Zeit schon mehr als genug schwarze Magie gewirkt.“ „Ja, aber wenn-“ „Ich sagte nein!“ Bei Eagles schroffem Ton zuckte Carsten zusammen und auch der Rest der Mädchen wurde etwas eingeschüchtert. Geräuschvoll atmete Eagle aus. „Als ich Konrad deine Sachen gegeben habe, hab ich ihn etwas über schwarze Magie ausgefragt. Es ist kein Wunder, dass diese Magieform inzwischen verboten ist. Oder, dass Konrad selbst sie seit Jahren nicht mehr benutzt. Er erzählte, dass es nicht nur einen Blutzoll gibt, sondern dass mit dem Wirken von schwarzer Magie auch immer ein psychischer Preis verlangt wird.“ Ungläubig und besorgt betrachteten die Mädchen Carsten. „Stimmt das?“, fragte Laura mit zitternder Stimme. Sich nicht sonderlich wohlfühlend wich Carsten den Blicken der anderen aus. „Na ja, ich hatte danach immer Albträume. Aber mehr auch nicht.“ „Mehr nicht?“, presste Eagle zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Scheiße nochmal Carsten, diese Leute sind dazu verdammt eines Tages ihren Verstand zu verlieren! Wirkst du zu viel schwarze Magie wirst du früher oder später wahnsinnig!“ Betreten starrten die Mädchen Eagle an. Was hatte er da gerade gesagt? „Bist- bist du dir da ganz sicher?“ „Wenn ihr mir nicht glauben wollt oder könnt, fragt Konrad.“, antwortete Eagle lediglich. „In dem Krieg zwischen Spirit und Ivory vor über zwanzig Jahren war er anscheinend dazu gezwungen irgendwann mit schwarzer Magie aufzuhören, da er die Folgen nicht verkraften konnte.“ Nachdenklich nickte Susanne. „Er hatte mal gemeint er sei inzwischen aus der Übung.“ Ariane atmete tief durch und ballte die Hand zur Faust. „Alles klar, keine schwarze Magie mehr für Carsten.“ Auch Laura nickte bestimmt. „Beschlossene Sache.“ „Aber… Und der Bann?“, fragte Carsten stockend. „Um den werden wir wohl nicht drum herum kommen.“, gab Eagle zerknirscht zu. „Aber mehr auch nicht.“ Verunsichert betrachtete Carsten seinen großen Bruder, anschließend fiel sein Blick auf Ariane. Diese schien bereits zu ahnen, was in seinem Kopf vor sich ging und zwang sich zu einem aufheiternden Lächeln. „Keine Sorge, Eagle und ich werden auch ohne deinen Observationszauber zurechtkommen. Immerhin wissen wir ja, dass Benni auf die beiden aufpasst. Das ist es nicht wert, dass du den Verstand verlierst, nur damit wir für eine kurze Zeit lang unsere Geschwister beobachten können.“ Eagle nickte. „Seh‘ ich auch so.“ Carsten öffnete den Mund als wolle er irgendetwas erwidern, schloss ihn aber wieder. Jede weitere Diskussion mit den Mädchen und Eagle wäre sinnfrei, das musste selbst er einsehen. Ermutigend legte Ariane eine Hand auf eine Schulter. „Glaub uns, dieses Opfer wäre zu groß.“ Sich offensichtlich geschlagen gebend brachte Carsten nur noch ein Nicken zustande. Mit einem bedrückten Seufzen erhob sich Eagle. Auch, wenn er das nur mit deutlichem Widerwillen tat. „Dann passt bitte darauf auf, dass der Verstand meines kleinen Bruders so bleibt wie er ist.“ Enttäuscht schaute Öznur zu ihm auf. „Musst du schon gehen?“ „Klingt zwar komisch, aber ich muss morgen immerhin… arbeiten.“, brachte Eagle verbissen hervor. Öznur versuchte, das erdrückende Gefühl in der Kehle herunterzuschlucken. So entspannt und fröhlich Eagle den Tag über gewirkt hatte… Nun war der ernste, betrübte Blick wieder da, den er bereits seit zwei Wochen hatte. „Soll… ich dich noch nach Indigo teleportieren?“, bot Carsten seinem großen Bruder vorsichtig an. Freudlos lachte Eagle auf. „Besser nicht. Sonst kommen Saya und ich noch auf die Idee dich in dein Zimmer einzusperren, damit du ja nirgends hin kannst.“ Bedrückt atmete Carsten aus und erwiderte daraufhin nur noch ein „okay“. Irritiert legte Laura den Kopf schief. „Wieso denn das?“ Eagle steckte die Hände in seine Jackentaschen und Öznur wurde den Gedanken nicht los, dass er stärker gegen seine Gefühle ankämpfen musste als ihm lieb war. „Na ja… Das Haus ist mit einem Schlag ganz schön leer geworden und jetzt wo Carsten wieder hier bei euch ist…“ Ein betretenes Schweigen brach aus und niemand hatte auch nur den leisesten Hauch einer Ahnung, was er darauf erwidern sollte. Mitleidig musterte Öznur ihren Freund, wie er da stand. Seine Haltung war nicht so aufrecht wie normalerweise, die Hände in den Taschen verborgen, der müde, hoffnungslose Blick auf den Boden gerichtet. In zwei Tagen wurde er erst volljährig und trotzdem hatte er bereits beide leiblichen Elternteile verloren, wurde gewaltsam von der kleinen Halbschwester getrennt und hatte den Platz seines Vaters als Häuptling einnehmen müssen. Öznur wusste nicht das wievielte Mal sie sich nun schon fragte, wieso Eagle noch nicht gänzlich zusammengebrochen war. Wie schaffte er es, irgendwie weiterzumachen? Schließlich schlug sie verunsichert vor: „Ich kann dich auch gerne teleportieren, wenn du magst.“ Eagle schüttelte den Kopf. „Ist schon in Ordnung, ich fliege einfach rüber.“ „Aber es ist doch viel zu kalt! Nicht, dass jetzt auch noch du krank wirst!“, widersprach Öznur ihm. Sein betrübter Blick wurde wieder etwas amüsierter. „Fände ich gar nicht mal so schlecht, dann könnte ich die kommenden Tage schwänzen.“ Öznur schüttelte seufzend den Kopf, während Eagle sie belustigt beobachtete. „Und noch dazu könntest du mich in einem verführerischen Krankenschwesterkostüm gesund pflegen.“ „Eagle!“ Während die anderen lachten, schüttelte Öznur verstimmt den Kopf. „Soll ich dich nun heim teleportieren oder nicht?“ Eagle betrachtete sie für einen Moment und wägte wohl ab, wie sehr er in Versuchung kommen würde sie anstelle von Carsten bei sich Zuhause in Indigo einzusperren. Doch schließlich formten sich seine Lippen zu einem leichten Lächeln. „Das wäre nett, danke.“ Die Mädchen und Carsten begleiteten Eagle und Öznur noch bis zum Rand des Schulcampus, wo sie sich von ihnen verabschiedeten und beteuerten, am Dienstag so früh wie möglich vorbeizukommen. Anschließend verschwanden beide in der lodernden Flamme von Öznurs Teleportationszauber. Kapitel 72: Stilles Leid ------------------------ Stilles Leid       Nachdenklich schlug Carsten sein Chemiebuch zu und rieb sich den Nasenrücken. Da er noch nicht ganz genesen war, war er dazu gezwungen den Sportunterricht ausfallen zu lassen. Stattdessen nutzte er diese Zeit dazu den verpassten Schulstoff der letzten zwei Wochen aufzuholen. Wobei er als Kind schon so viel über organische Chemie gelesen hatte, dass er die Kapitel eigentlich nur noch überfliegen musste um wieder auf dem aktuellen Stand zu sein. Leicht beschämt stellte er bei einem Blick auf seine Armbanduhr fest, dass er tatsächlich nicht viel mehr als eine Stunde gebraucht hatte um Susannes Mitschriften durchzuarbeiten. Würde er das Öznur erzählen… Sie würde ihm den Hals umdrehen. Carsten streckte sich und ließ seinen Blick über die vollgestellten Regale des Bücherturms wandern. Er hatte sie häufig genug nach Sachen zu schwarzer Magie abgesucht, hier würde er keine weiteren Hinweise mehr für den Zauber finden. Noch während Carsten die Zettel mit seinen Notizen herausholte und auffaltete, tippte ihm jemand auf die Schulter. Irritiert schaute er auf und blickte in Annes dunkelblaue Augen. Statt einer Begrüßung war das erste, was über seine Lippen kam: „Möchtest du etwas?“ Anne schnaubte. „Ist es so unwahrscheinlich mich mal in einer Bibliothek zu treffen?“ „… Ja.“, antwortete Carsten wahrheitsgetreu. Seufzend setzte sich Anne auf den Platz ihm gegenüber und fuhr sich durch die kurzen hellbraunen Haare. Erneut fiel Carsten auf, dass irgendetwas nicht mit ihr zu stimmen schien. Irgendetwas schien sie zu belasten. Doch der Reaktion der Mädchen gestern nach zu urteilen hatte sie sich bisher niemandem anvertraut… Carsten rang mit sich selbst, ob er Anne einfach direkt fragen sollte was los sei. Immerhin betrachtete er sie inzwischen durchaus als Freundin und er hatte den Eindruck, dass auch sie ihn inzwischen besser leiden konnte als zu Beginn des Schuljahres. Nach geraumem Schweigen, in welchem Carsten abwog ob Anne sich ihm tatsächlich anvertrauen würde, fragte er schließlich doch: „Du siehst so blass aus… Ist alles in Ordnung?“ Tatsächlich war ihre Antwort ein Kopfschütteln. Nicht mehr, nicht weniger. Doch genug um zu realisieren, dass es keine Kleinigkeit war, die ihr da zu schaffen machte. „Kann ich… irgendwie helfen?“, erkundigte er sich. „Das hängt davon ab.“ Carsten runzelte die Stirn. „Wovon?“ „Ob du ein Geheimnis bewahren kannst.“ Nun war er endgültig verwirrt. Anne kam offensichtlich her, um ihn um einen Gefallen zu bitten. Warum suchte sie ausgerechnet seine Hilfe auf? Warum nicht Susannes? Oder Öznurs? Immerhin hatte er gehört, dass sich die beiden dem Himmel sei Dank endlich ausgesprochen hatten. Nein, ausgerechnet Carsten? Jemanden, dessen Existenz sie am Anfang noch nicht einmal hatte akzeptieren können? Selbst wenn sich ihre Beziehung inzwischen stark gebessert hatte und sogar ins freundschaftliche ging… Es war immer noch unvorstellbar. Er zwang sich zu einem aufheiternden Lächeln. „Das dürfte ich hinbekommen.“ Anne schaute ihn warnend an. „Das ist mir ernst, Carsten. Du darfst mit keinem drüber reden. Weder mit Laura, noch Ariane oder Eagle oder Saya, noch sonst wem. Keinem.“ So langsam wuchs die Neugierde in Carsten, aber auch die Sorge. Es gab etwas, was sie nur ihm erzählen konnte? Keinem sonst?! Carsten schluckte schwer und nickte. „Wenn es dir hilft, natürlich.“ Bedrückt atmete Anne aus. „Ob es mir hilft werden wir erst noch erfahren.“ Erst jetzt fiel ihm auf, wie ihre Hände zitterten. Wie ihr gesamter Körper angespannt war, wenn nicht gar verspannt. Ohne darüber nachzudenken griff Carsten über den Tisch hinweg nach Annes Hand. Sie war eiskalt. „Wie kann ich helfen?“ Freudlos lachte sie auf. „Das ist deine einzige Frage?“ „Sag einfach was ich machen soll.“ Anne schloss die Augen, atmete tief durch und erwiderte schließlich seinen Blick. „Du musst einen Zauber für mich wirken.“ Carsten nickte. „Klar, kein Problem.“ „Nicht irgendeinen Zauber. Es ist schwarze Magie.“ Diese Worte jagten einen Schauder über seinen Rücken. Ungewollt erinnerte er sich an Eagles Worte vom Vortag. Nutzte man zu häufig schwarze Magie verfiel man irgendwann dem Wahnsinn. Wurde verrückt. Carsten erinnerte sich an die Albträume, ein eisiges Prickeln fuhr durch seinen Körper. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, dass diese Magieform einem irgendwann den Verstand rauben würde… Aber andererseits… Ein Blick auf Anne genügte schon um zu sehen, dass sie selbst kurz davor war den Verstand zu verlieren. Dass sie ganz dringend Hilfe brauchte. Irgendwie. Nun war es Carsten der tief durchatmete. „Welcher?“ „Der Observationszauber, von dem du mal erzählt hattest.“ Verwirrt betrachtete Carsten sie. Anne wollte jemanden beobachten? Wen? Na ja, er würde es früh genug herausfinden. Suchend schaute er sich um, bis sein Blick auf die Treppe fiel, die in den oberen Bereich des Turmes führte. „Alles klar, komm mit.“ Er schnappte sich vier Kerzen von der Bibliothek -um Brandschutz schien sich hier wirklich niemand Gedanken zu machen- und fand tatsächlich eine einfach so herumstehende Messingschale. Anschließend ging er mit Anne in den obersten Teil des Bücherturms. Wie erwartet war der Turm hier noch nicht zu Ende, als er eine hölzerne Luke entdeckte, die auf den Dachboden führte. Mit einem Blick durch den Raum stellte Carsten fest, dass sie alleine waren. Also öffnete er die Luke und hievte sich ins Innere des Dachbodens. Staubkörnchen tanzten in dem spärlichen Licht und stiegen in Carstens Nase, sodass er ein Niesen unterdrücken musste. Der Dachboden erinnerte ihn an sein Versteck in Indigo. Nur war dieser hier kleiner und weniger vollgestellt. Fröstelnd rieb sich Carsten die Arme. Und kälter. Carsten hörte Anne fluchen als sie in eine der uralten, staubigen Spinnenweben gelaufen war. Offensichtlich war sie nicht so an Dachböden gewöhnt wie er selbst. Aber überraschenderweise beschwerte sie sich nicht über seine Ortswahl. Anne schien wohl froh, dass er sie zu dem am wenigsten besuchten Ort der Schule geführt hatte. Wie schon auf dem Dachboden daheim erschuf sich Carsten kleine Lichtkugeln, die den Raum erhellten. Er schloss die Luke, platzierte die Messingschale in der Mitte des Raumes, füllte sie mit Wasser und stellte die Kerzen um sie herum auf. Noch während er sein Taschenmesser an Anne für das Ritual gab meinte er: „Ich brauche zumindest den Namen der Person, um den Zauber sprechen zu können.“ Anne hielt inne. „Den wahren Namen?“ „Welchen denn sonst?“ Nach einigem Zögern gestand sie: „Ich kenne nur ihren Spitznamen…“ Seufzend atmete Carsten aus. Welche Person wollte Anne bitteschön sehen, deren wahren Namen sie noch nicht einmal kannte? Kannte sie dann die Person selbst überhaupt gut genug? „Der Spitzname sollte auch gehen.“, erwiderte er schließlich. Immerhin hatte er bei Benni auch nie dessen vollen Namen genutzt. Anne atmete aus. „Sultana.“ „…Was?“ „Sultana.“, widerholte sich Anne lauter. „Oder bist du taub.“ „Nein, aber…“ Was ging hier vor sich? Warum wollte Anne ausgerechnet ihre Mutter beobachten?! Ein unwohles Gefühl stieg in Carsten auf, als habe er sich den Magen verdorben. „Sprichst du den Zauber nun oder nicht?!“, fragte Anne ihn schroff. „D-doch, natürlich.“, stammelte Carsten. Mit schweißnassen Händen strich er sich die Haare aus der Stirn, die bei der Kürze sofort wieder an ihren ursprünglichen Platz zurückkehrten. Zitternd atmete Carsten aus und schloss die Augen, um seine Gedanken zu sortieren. Ein Geheimnis. Ein Obersvationszauber mit Annes Mutter als Ziel. Der Herrscherin über Dessert. Etwa zwei Wochen nach Chiefs Tod. Etwa eine Woche nachdem Eagle zum Häuptling gekrönt worden war. Carsten wollte den Gedanken gar nicht zu Ende führen. Er wollte gar nicht wissen, was ihn jetzt erwartete. Nicht schon wieder. Doch er verstand, dass sie Gewissheit brauchten. Dass Anne Gewissheit brauchte. Carsten öffnete die Augen und erwiderte Annes Blick. In ihm lag Ungeduld, Unruhe, aber auch Angst. Angst vor dem, was sie gleich sehen würde. Er deutete ein schwaches Nicken an um ihr zu sagen, dass er mit dem Zauber begann. Anne atmete tief durch als würde sie gleich ins kalte Wasser springen. Wie schon viele Male zuvor sprach Carsten den Zauber und gab Anne das Zeichen, sich in die Handfläche zu schneiden. Die Anspannung war regelrecht spürbar, während sie beobachteten wie sich ihr Blut mit dem Wasser vermischte. Carsten betete, dass das Wasser keine tiefe Schwarzfärbung bekam. Es dauerte eine qualvolle Ewigkeit, bis sich die Wasseroberfläche klärte. Nur um direkt wieder blutrot zu werden. Carsten hielt den Atem an, während er Anne nach Luft schnappen hörte. Noch während das Blut sich in einzelnen Flecken auflöste, drangen endlich Stimmen zu ihnen durch. „Bist du dir auch ganz sicher, nichts Weiteres zu wissen, meine Liebe?“ Alleine der Klang der Stimme sorgte dafür, dass Carstens Herz stehen blieb, dass er das Atmen vergaß. Sie war von Macht getränkt, tief und bedrohlich. Ein erdrückender Unterton eisiger Belustigung und Selbstgefälligkeit schwang mit. Eine Stimme bei der man alleine an ihrem Klang hören konnte, dass ihr Besitzer allem und jedem überlegen war. Die Stimme eines erbarmungslosen Gottes. Allmählich tat sich ihnen ein Bild auf, doch was sie zu sehen bekamen war mehr als nur grauenhaft. Sultana lag auf dem Boden, zwar nicht gefesselt doch so wie man ihren Körper zugerichtet hatte war es mehr als ein Wunder, dass sie sich noch bewegen konnte. Alleine auf den ersten Blick meinte Carsten über zehn Knochenbrüche zu erkennen. Einzelne Strähnen ihrer schwarzen Locken klebten in dem blutigen Gesicht, das einem Schlachtfeld glich. Die Nase hatte eine unnatürliche Krümmung, die Lippen waren aufgeplatzt und geschwollen und die Blessuren um das rechte Auge machten es schwer, daraus sehen zu können. Doch zumindest konnte man mit dem rechten Auge noch sehen. Die linke Seite war so zerstört, dass Carsten noch nicht einmal mehr wusste ob der Augapfel überhaupt noch vorhanden war. Carsten wagte einen vorsichtigen Blick zur Seite. Anne hatte die Hände so stark zu Fäusten geballt, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ihr Körper bebte und zitterte und eine grünliche Aura loderte um sie, während sie verbissen schweigend auf das Bild starrte. Erneut begann die erdrückende Stimme zu sprechen: „Wenn du schweigen möchtest, kann ich dich auch direkt deiner Zunge entledigen.“ Und nun sah Carsten den Besitzer dieser Stimme. Ein Wesen das aussah wie ein Mann und doch keiner war. Ein Gott. Die Macht. Die Zerstörung. Er war edel gekleidet, hatte zurückgekämmte purpurne Haare und unheimlich leuchtende dämonische Augen in ebendieser Farbe. Eine Aura, gleich eines purpurnen Feuers, loderte um seinen Körper. Und trotz der Angst und Verzweiflung lag in diesem Anblick eine Schönheit. Eine grausame Schönheit wie ein Meteorit, der drohte den Planeten zu zerstören. Das war dieser Gott. Das war Mars. Der Purpurne Phönix. Der Herrscher der Zerstörung. Carsten wollte Luft holen, schaffte es aber nicht. Obwohl er diesen Dämon nur aus einem Zauberspiegel aus betrachtete, schnürte sich bei dem Anblick seine Kehle zu. Sultana sagte irgendetwas, doch es war zu schwach um es verstehen zu können. Mars bedachte sie mit einem Lächeln, welches einem das Herz herausreißen könnte. „Wie bitte?“ Sultana wiederholte ihre Worte, dieses Mal lauter und stärker. „Fick dich!“ Mit widerlichem Amüsement ging Mars vor ihr in die Hocke und fuhr mit einem schlanken Finger über das blutige Gemälde ihres Gesichts. Sultana schrie, als der Finger einen Pfad der Verbrennung hinterließ und Carsten bildete sich ein den Geruch wahrnehmen zu können. Bilder von seinen Bestrafungen im FESJ zuckten an seinem inneren Auge vorbei und ein stechender Schmerz breitete sich auf seinem Rücken aus, der ihn erstickt keuchen ließ. Noch während Carsten nach Atem rang hörte er die machterfüllte Stimme sprechen: „All die Zeit, und dein Mundwerk arbeitet immer noch hervorragend. Also warum erzählst du mir nicht einfach wovon du weißt?“ „Ich weiß nicht… wovon du redest.“, keuchte Sultana. „Oh, ich denke das weißt du sehr wohl.“, erwiderte Mars mit seiner tiefen, melodischen Stimme, wie schwarzer Samt. „Aber falls ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen soll: Was haben der neue Häuptling und seine Freunde denn so erzählt? Ich habe gehört sein kleiner Bruder soll ziemlich krank gewesen sein… Geht es ihm besser?“ Carsten schauderte bei dieser letzten Frage. Sie hätte auch genauso gut lauten können: ‚Ist er nun endlich abgekratzt?‘ „Ich… ich weiß es nicht.“ „Das wäre aber schade.“ Wieder diese grauenhafte, falsche Fürsorge. „Dann wärst du mir nämlich nicht weiter von Nutzen.“ „Was…“ Mars packte Sultana an den blutverklebten Haaren und hob ihren Kopf an. „Wie macht sich der neue Häuptling so? Denkst du, deine Tochter würde sich besser schlagen?“ „Halt meine Tochter da raus.“, zischte Sultana. Mars zuckte mit den Schultern. „Ist nur ein Gedankenspiel. Was denkst du? Könnte sie genauso spontan deinen Platz einnehmen?“ „Halt meine Tochter da raus!“ Noch während Sultana das schrie spürte Carsten, wie Anne nach seinem rechten Arm griff. Wie sich ihre zitternden Finger in sein Fleisch bohrten. Mars‘ Gesicht war bedrohlich nahe an dem von Sultana, als er flüsterte: „Wollen wir nicht einfach ausprobieren, was passieren würde?“ „Willst du sie nicht einfach endlich in Ruhe lassen?“ Ruckartig ließ Mars Sultana los und drehte sich in Richtung der ruhigen Stimme, die diese Frage gestellt hatte. Als Carsten sah wie Benni und Jack den Raum betraten, schossen ihm unvermittelt Tränen in die Augen und er schaffte es, seine Hand auf Annes zitternde zu legen. Mars warf Jack einen warnenden Blick zu. Doch dieser hob alles andere als eingeschüchtert die Hände. „Sieh nicht mich an, ich hab nichts gesagt. Aber wenn du über eine Woche lang jemanden folterst, wird jemand mit Vampirsinnen das wohl früher oder später schon noch bemerken.“ Geräuschvoll atmete Mars aus und wandte sich Benni zu. „Wenn dem so ist, schön dich zu sehen.“ Erneut schwang diese grauenhafte Mordlust in seiner Stimme mit. „Darf ich dir unseren Gast vorstellen?“ „Wir kennen uns bereits.“, erwiderte Benni, den Blick nicht von Mars abwendend. „Wie schön. Vielleicht möchtest du uns ja bei unserem Gespräch Gesellschaft leisten?“ Er strich der schwer atmend am Boden liegenden Sultana über die schwarzen Haare. „Sie ist eine ganz charmante Person. Wir haben uns gerade darüber unterhalten wie stark und gebildet ihre hübsche Tochter ist. Ich bin mir sicher, sie wird eine würdige Nachfolgerin. Ist es nicht so?“ „Fick dich!“, brüllte Sultana erneut. Mars ließ von ihren Haaren ab und ballte immer noch lächelnd die Hand zur Faust. „Nur ihr Wortschatz ist etwas…“ Bevor er zuschlagen konnte hielt Benni seinen Arm fest. „Ich sagte lass sie in Ruhe.“, wies er Mars mit seiner eiskalten Stimme an. Dieser richtete sich auf, um Benni besser in die Augen schauen zu können. Wobei nun Benni um einen Kopf kleiner war. Weiterhin mit diesem grauenerregenden Lächeln auf den Lippen strich Mars Benni über die Wange und hinterließ dabei eine Spur von Sultanas Blut. „Wir müssen wohl noch einmal über deine Auffassung von absolutem Gehorsam sprechen, mein Junge.“ „Deine Definition von Gespräch ist auch sehr interessant.“, erwiderte Benni. Carsten fragte sich, wie er es schaffte direkt vor diesem Monster zu stehen und immer noch die Ruhe in Person zu sein, während ihm selbst bereits von hier aus vor Angst die Übelkeit hochstieg. Mars schien Bennis Kommentar zu amüsieren. Zumindest wurde sein Lächeln noch breiter, noch psychotischer. „Ich hatte nur ein paar Fragen an unsere verehrte Herrscherin über Dessert. Aber leider will sie nicht reden und beleidigt mich stattdessen die ganze Zeit.“ „Und du denkst nach einer Woche Folter wird das besser?“, fragte Benni kühl. „Vielleicht ändert sich ja irgendwann ihre Meinung mit den überzeugenden Argumenten.“, antwortete Mars amüsiert. Nein, das ist nicht wahr. Schoss es Carsten durch den Kopf. Der Typ ist ein Sadist. Er verletzt andere, weil es ihm Spaß macht. Er zerstört, weil es ihm Spaß macht… „Deine Argumente scheinen zumindest nicht sonderlich überzeugend.“, entgegnete Benni. „Das wollte ich gerade herausfinden.“ Erneut wandte sich der Dämon Sultana zu. „Wenn sie dazu bereit ist anstelle der Informationen das Leben zu opfern… Ist mir das auch recht.“ „Fragt sich nur welches Leben.“ Etwas schnürte Carstens Hals zu. Wie hatte Benni das gemeint? Nein, das kann nicht… Mars packte Benni am Saum seines T-Shirts und zischte mit dämonisch tiefer Stimme: „Du bluffst.“ „Muss ich dich vom Gegenteil überzeugen?“, konterte Benni, immer noch viel zu ruhig. Mars ballte die Hand zur Faust und holte zum Schlag aus. Automatisch kniff Carsten die Augen zusammen, als ein ekelhaftes, dumpfes Knacken durch den Raum hallte. Vorsichtig öffnete Carsten sie wieder. Dunkles Blut sickerte aus Bennis Nase, über die Lippen und tropfte auf den steinernen Boden vor seinen Füßen. Ohne Mars aus den Augen zu lassen wischte er sich mit der Hand etwas von dem Blut aus dem Gesicht. Doch sonderlich helfen tat dies nicht. Tadelnd schnalzte der Herrscher der Zerstörung mit der Zunge. „Junge, Junge, jetzt sieh nur, was ich deinetwegen gemacht habe. Und dabei hast du doch eigentlich so ein gutes Näschen.“ „Das ist nicht weiter schlimm, der Gestank hier war kaum auszuhalten.“ Jack unterdrückte bei Bennis Kommentar ein Lachen, während Carsten seinen besten Freund ungläubig anstarrte. Provozierte er Mars absichtlich oder war er diese gesamte Situation einfach nur noch leid? Zumindest schien Mars auch dieser Konter zu amüsieren. Oder wie auch immer man sonst das machtdurchdrungene, einschüchternde Lachen deuten sollte. Carstens Atmen war inzwischen mehr ein gepresstes Keuchen. Er wusste, was Benni vorhatte. Er wollte Sultana vor Mars beschützen, genauso wie Johanna und Sakura. Aber dafür… Immer noch lachend wuschelte Mars Benni durch die platinblonden Haare und hinterließ dabei wieder etwas von dem Blut, das an seinen Fingern klebte. Plötzlich hörte das Lachen auf, er packte Benni am Haaransatz und hielt seinen Kopf so fest, dass er gezwungen war ihm in die Augen zu schauen. „Deine Lehrmeisterin hat wohl versäumt dir Manieren beizubringen. Schade, dass sie das nun auch nicht mehr wird nachholen können.“ Höhnisch lächelte Mars mit dem absoluten Bewusstsein selbst dafür verantwortlich zu sein, dass Eufelia-Sensei nicht mehr da war. Carsten merkte, wie sich Ärger in Bennis Blick widerspiegelte als er mit nicht mehr so ruhiger Stimme sagte: „Zwing mich nicht Sultanas Wortwahl zu verwenden.“ Mars lachte auf und schlug Benni erschreckend beiläufig mit der Faust in die Magengrube, sodass er Blut hustend auf die Knie sackte. „Jack, ich glaube du hast einen schlechten Einfluss auf unseren hübschen Prinzen. Er scheint kurz davor zu sein, vulgäre Ausdrücke zu gebrauchen.“ Jack schien es wohl für die beste Entscheidung zu halten, sich einfach gar nicht an diesem Gespräch zu beteiligen, wie Carsten nun feststellte. Doch dies war auch nicht weiter nötig. Mars warf einen hasserfüllten Blick auf Benni und Carsten bekam es mit der Angst zu tun, ob sein bester Freund diese Begegnung überleben würde. Noch während sich Benni wieder aufrichten wollte trat Mars ihm gegen den Brustkorb, wobei mindestens eine Rippe brach, und hielt ihn mit dem Fuß am Boden. Carsten zuckte zusammen als habe man ihm diesen Tritt verpasst. Mit knirschenden Zähnen versuchte er sich bewusst zu werden, dass er von hier aus nichts ausrichten konnte. Und dass es keine Möglichkeit gab zu Benni zu gelangen, um Mars dafür büßen zu lassen. Doch er konnte und wollte das nicht akzeptieren. Das einzige was er wollte war Mars leiden zu sehen. Doch er litt nicht. Dieser verfluchte Dämon war absoluter Herr der Lage und kostete jede Sekunde davon aus. Mars wies mit ausschweifender Geste auf Sultana. „Jack, sei so freundlich und führe Ihre Majestät in ihre neuen Gemächer.“ Er beugte sich zu Benni runter und strich ihm erneut über die Wange. „Ich werde derweil versuchen unserem kleinen Prinzen ein paar Manieren beizubringen.“ Zwar deutete Jack ohne zu zögern ein knappes Nicken an und ging zu Sultana rüber, doch Carsten entging es nicht, dass er einen kurzen, besorgten Seitenblick auf Benni warf. Vorsichtig half Jack Annes Mutter auf die Beine und stützte sie auf dem Weg nach draußen. Noch während sie mehrere verzierte Räume durchschritten fragte Sultana mit schwacher Stimme: „Wird er nun auch…?“ „So schlimm wie du wird er wohl nicht zugerichtet. Keine Sorge… Oder so ähnlich.“ „…Warum?“ „Um zu verhindern, dass Anne in derselben Situation wie Eagle landet?“, vermutete Jack und half Sultana nun einen langen Gang entlang, welcher nur mit an den Wänden hängenden Kerzen erleuchtet wurde. Carsten wusste, dass es sinnvoll wäre sich nun alle Wege die Jack einschlug zu merken. Doch es war unmöglich. Er schaffte es nicht einmal einen klaren Gedanken zu fassen. Er konnte immer nur an das Bild denken, wie Benni bei Mars‘ Schlag zusammensackte. Hörte immer noch das Geräusch seiner brechenden Nase. Sah das Blut auf den Boden tropfen… Schaudernd versuchte sich Carsten auf das weitere Gespräch zu konzentrieren. Inzwischen waren sie in einer ganz normal eingerichteten Küche angekommen, wo Jack Sultana half sich auf einen Stuhl zu setzen. „Wer bist du?“, erkundigte sich Annes Mutter, während er eine recht beeindruckende Ausrüstung an Verbands- und sonstigem Erste-Hilfe-Material aus einem Schrank holte. „Jack.“, stellte er sich knapp vor. Sultana betrachtete ihn eingehender, soweit ihr das unter der gegebenen Situation mit all den furchtbaren Verletzungen möglich war. „Chiefs Mörder…“, stellte sie schließlich schaudernd fest. Jack antwortete nicht darauf, sondern untersuchte Sultanas Verletzungen. „Warum hast du…?“ „… Ihn getötet?“ Gleichgültig zuckte er mit den Schultern. „Weil es manche Dinge gibt, die man besser bereuen sollte.“ Sultana schien seine Andeutung nicht verstanden zu haben, doch Carsten wurde sie dafür umso schmerzhafter bewusst. Elan hatte Recht gehabt. Diese Vorwürfe, die Annahme er trage die Schuld an dem Tod seines Vaters… Es stimmte. Es war tatsächlich Carstens Schuld! Nur weil er Jack damals von seiner Familie erzählt hatte war er nun… Nur deshalb musste Eagle… Zitternd atmete er aus und versuchte Sultanas schwacher Stimme zuzuhören: „Und warum hilfst du mir?“ „Etwas widersprüchlich, stimmt.“, stellte Jack fest. „Den einen Herrscher töte ich, den anderen flicke ich zusammen.“ Er legte ein paar Finger auf Sultanas Nase. „Okay, das wird jetzt scheiß weh tun.“ Sultanas Schrei nach zu urteilen stimmte Jacks Behauptung. Erneut spürte Carsten, wie sich Annes Finger in seinen Arm bohrten. Doch ihre Frage konnte sie nicht aussprechen. ‚Was macht der da mit ihr?!‘ Irritiert beobachtete Carsten, wie Jack überraschend behutsam das Blut abwischte, während Sultana keuchend und nach Luft ringend hoffte, dass der Schmerz bald verblassen würde. „Was…“ „Ich hab deine Nase gerichtet und geschient. Jetzt kann der Knochen selbst in Ruhe zusammenwachsen.“ Wie hat er das denn angestellt? Fragte sich Carsten irritiert. Sultanas ungläubigem Blick nach zu urteilen dachte sie dasselbe. Jack zuckte als Antwort mit den Schultern. „Wenn man sich ständig selbst zusammenbasteln muss braucht man irgendwann etwas Einfallsreichtum.“ Er ließ einen kleinen Gesteinsbrocken auf seiner Hand auftauchen, warf ihn hoch und fing ihn wieder auf. „Die ‚Schienen‘ sind winzig und befinden sich am Knochen selbst, halten ihn aber gut. Gut genug, dass man ihn sogar belasten könnte. Würde ich aber nicht empfehlen, ist nicht sonderlich angenehm.“ Jack betrachtete den Rest von Sultanas Verletzungen. „Alles klar, jetzt die Rippen.“ Noch während er sich vor sie kniete hielt er inne. „Fürs Protokoll, ich will nur die Knochen richten. Keine sexuelle Belästigung oder so.“ Sultana lachte schwach auf und betrachtete Jack amüsiert. „Du kannst nicht Chiefs Mörder sein.“ „Mal schauen ob du das noch nach diesen sechs Rippen sagst…“, erwiderte Jack lediglich. Erneut wiederholte sich die Prozedur und Carsten fragte sich, wieso der Schmerz Sultana nicht schon längst in die Besinnungslosigkeit gerissen hatte. Nachdem sich Jack auch um die restlichen gebrochenen Knochen an Armen und Beinen gekümmert hatte, widmete er sich dem Schlachtfeld welches ihr rechtes Auge darstellte. „Uff, also ich hoffe, du findest Augenklappen sind ein nettes Accessoire.“, kommentierte er den Anblick. Ein bedrücktes Lächeln zeichnete sich Sultanas Lippen ab. „Ich verliere lieber mein Auge als… mein Leben.“ „Nachvollziehbar.“ Eine Zeit lang herrschte Schweigen, bis Sultana schließlich schaudernd fragte: „Warum tut er all das?“ „Mars? Weil er’s will und kann.“ Geräuschvoll atmete Jack aus und richtete sich auf. „Perfekt. Dein Halloween-Kostüm sieht umwerfend aus. Auch wenn es dafür noch ein Monat zu früh ist.“ Sultana lächelte bei seinem sarkastischen Tonfall und betrachtete ihn. „Du nimmst das Leben nicht sonderlich ernst, oder?“ „Das Leben ist zu absurd um ernst genommen zu werden.“, antwortete Jack schulterzuckend und holte eine Packung Schmerztabletten aus der Kiste. „Vielleicht helfen die zumindest ein bisschen. Wenn du magst kann ich dir auch noch Schlaftabletten bringen.“ Sultana streckte die weniger demolierte Hand aus. „Ich könnte direkt jetzt eine vertragen.“ Nachdem sie die Tablette genommen hatte betrachtete sie Jack erneut. Carsten erkannte diesen Blick. Es war der einer Mutter die wusste, wenn etwas nicht stimmte. Selbst, wenn es sich dabei nicht um ihr eigenes Kind handelte. „Und wo sind diese Schlaftabletten?“ „In meinem Zimmer, wieso?“ So langsam schien auch Jack den kritischen Blick zu bemerken. Er verzog das Gesicht. „Hey, bloß keine falschen Schlussfolgerungen ziehen. Ich brauch sie, um zumindest ein bisschen die Albträume vom Leib gehalten zu bekommen.“ Carsten überraschte diese Aussage kein bisschen. Sultanas Reaktion war jedoch das genaue Gegenteil. „Albträume?“ „Albträume.“ Sultana wollte anscheinend etwas erwidern, jedoch fehlte ihr die Kraft dazu. Die Folgen von Mars‘ Folter und Jacks Behandlungen waren deutlich sichtbar. Carsten fragte sich immer noch wie sie sich all die Zeit aufrecht halten konnte, geschweige denn sich mit Jack zu unterhalten. Sie brauchte unbedingt Ruhe. Dasselbe schien auch Jack zu denken, der Sultana vorsichtig wieder auf die Beine half. „Dann geleiten wir Euch mal in Eure Gemächer, Majestät.“ Erneut lachte Sultana schwach auf. „Du gehörst nicht hierher…“ „Ne, das stimmt. Ich gehöre vor den Computer mit Keksen und einer Tasse Kaffee in Reichweite.“ Wieder führte Jack sie durch die dunklen, spärlich beleuchteten Gänge, bis er bei einer großen schweren Holztür angelangt war, deren Metallhalterung mit einem schrillen Quietschen mitteilte, dass sie nun geöffnet wurde. „Blöder Onkel!“, rief eine erfreute Stimme. „Hast du endlich das neue Professor Layton Spiel?“ Jack verdrehte die Augen und half Sultana in das Kerkergewölbe. „Nein Johannes, das kommt immer noch erst im nächsten Monat raus. Und noch dazu will ich es zuerst spielen.“ „Aber beeil dich!“, rief Johannes erwartungsvoll. Nun konnte Carsten ihn auch sehen. Sowohl er als auch Johanna standen mit ihren blonden Haarschöpfen an den Gitterstäben und schienen den Neuankömmling in Augenschein zu nehmen. „Was ist denn passiert?“, erkundigte sich Johanna betroffen. In der Zelle nebenan tauchte nun auch Sakura auf. Carsten bemerkte sofort die zerzausten schwarzen Haare seiner Halbschwester, die ebenso kurz wie seine eigenen waren. „Frau Sultana?!“ Auch Annes Mutter schien nun zu erkennen, dass es sich bei dem Mädchen um Chiefs Tochter handelte. „…Sakura?“ „Ah wie schön, ihr kennt euch. Das erspart mir den höflichen Kram.“, kommentierte Jack und öffnete Sakuras Kerkertür. Carsten beobachtete wie Jack Annes Mutter half sich auf eines der beiden Betten zu legen. Sie waren aus modrigem Holz, die Matratzen waren alt und wirkten alles andere als bequem. Dennoch waren sie besser als der kalte Steinboden unter ihren Füßen. „Deine Mom ist doch Ärztin, oder?“, vergewisserte sich Jack an Sakura gewandt. Diese schien sich ursprünglich aus der Zelle rausschleichen zu wollen und hielt nun ertappt inne. „Ja, wieso?“, fragte sie in einem alles andere als freundlichen Ton. „Hast du ihr gelegentlich mal geholfen? Kannst du zum Beispiel Verbände wechseln?“ Doch Sakura schüttelte den Kopf, wobei die kurzen schwarzen Haare um ihr Gesicht tanzten. Jack seufzte. „Und das soll wirklich seine kleine Halbschwester sein?“ Empört ballte Sakura die Hände zu Fäusten. „Hey, Eagle kann auch keine Verbände wechseln!“ „Ich hab vom Gehirn geredet, nicht von den Muskeln.“, machte Jack sarkastisch deutlich welchen ihrer Halbbrüder er gemeint hatte. Trotz der gegenwärtigen Situation meinte Carsten, Anne bei dem Kommentar leise auflachen zu hören. Sakura erwiderte nichts darauf, sondern musterte ihn weiterhin mit diesem hasserfüllten Blick. Nun ja, Jack war immer noch der Mörder ihres Vaters. Sie hatte also eigentlich das volle Recht ihn zu hassen. Betrübt fragte sich Carsten, ob er Jack nicht deswegen eigentlich auch hassen sollte. Oder eher wie es dazu gekommen war, dass er dem Mörder seines Vaters trotz allem keinen Hass entgegenbringen konnte. … Und Benni wurde früher immer als gefühlloses Monster beschimpft? Dabei war Carsten doch um so vieles herzloser… Derweil hörte er Jack erneut seufzen. „Na gut, ich komme nachher vorbei und zeige dir, wie das geht.“ Nach einem Blick zu dem hölzernen Eingangsportal wandte er sich an Annes Mutter. „Die Schlaftabletten bringe ich gleich noch. Aber erstmal möchte ich schauen, ob noch jemand Hilfe beim verarztet werden braucht.“ Er wollte sich zum Gehen wenden, doch ein schwaches ‚Warte‘ von Sultana hielt ihn zurück. Annes Mutter betrachtete ihn mit erschöpftem Blick. „Was… passiert jetzt mit… mir?“ Jack zuckte mit den Schultern. „Du schläfst, versuchst wieder zu Kräften zu kommen, wirst wahrscheinlich etwas traumatisiert sein und Albträume haben… Das Übliche halt.“ „Und der… Dämon?“ Die Angst in ihrer Stimme war nicht zu überhören und erneut merkte Carsten, wie sich Annes Griff um seinen Arm verstärkte. „Der wird dir nichts mehr antun.“, antwortete Jack direkt. „Dafür hat Benni gesorgt.“ „Du meinst durch…“ „Na ja, er scheint Carsten, Laura, Anne und den anderen ja unbedingt helfen zu wollen. Und wenn das die einzige Möglichkeit ist, ist das für ihn immer noch besser als tatenlos zu warten und zu hoffen.“ Bedrückt atmete Sultana aus. „Dann richte ihm zumindest… meinen Dank aus…“ „Das kannst du selbst machen, wenn es dir wieder besser geht.“, erwiderte Jack lediglich, schob Sakura -die wieder Reißaus nehmen wollte- zurück in die Zelle, schloss die Gitter hinter sich und verschwand aus dem Bild. Noch während die quietschende Tür in die Angeln fiel, beobachtete Carsten wie sich seine kleine Halbschwester auf das andere Bett setzte und Sultana besorgt betrachtete. „Wie geht es Ihnen?“ „Es ging schon mal besser…“ Plötzlich wurden die Stimmen immer undeutlicher und das Bild begann zu verblassen. Irritiert schaute Carsten auf und bemerkte, dass Anne aufgestanden war und sich einige Schritte von ihm entfernt hatte. „… Wie geht es dir?“, erkundigte er sich bei ihr, wie zuvor schon seine kleine Halbschwester bei Sultana. Geräuschvoll atmete Anne aus. „Sie lebt, das ist die Hauptsache…“ Doch so taff sie auch versuchte zu klingen, das Zittern in ihrer Stimme konnte sie nur schwer verbergen. „Ihr wird nichts mehr passieren.“, versuchte Carsten ihr Mut zuzusprechen. Anne schnaubte. „Ich werd mich wohl bei der nächsten Gelegenheit bei Benni dafür bedanken müssen.“ Ein schwaches Lächeln zeichnete sich auf Carstens Lippen ab. „Ist das immer noch so schlimm für dich? Sich bei einem Jungen zu bedanken?“ Seufzend lehnte sich Anne gegen einen der Dachbalken und betrachtete eins von Carstens Magielichtern. Als sie auch nach einer Weile immer noch schwieg, fragte Carsten: „Wie geht es jetzt weiter?“ „Ich berichte den Beratern in Dessert was ich gesehen habe und dann überlegen wir, was die beste Lösung ist. Bisher wurde der Bevölkerung erzählt, dass sie krank sei und eine Auszeit brauche… Nach der Sache mit Eagle und eurem Vater ist die Situation insgesamt schon angespannt genug. Eine Information zu viel und es könnte direkt Panik ausbrechen.“ „Das ergibt Sinn. Und aus diesem Grund soll auch ich es geheim halten.“, folgerte Carsten und betrachtete Anne weiterhin. Sie schien sich nicht der Bequemlichkeit halber gegen diesen Balken zu lehnen. Eher wirkte es als bräuchte sie ihn als Stütze, um nicht direkt zusammenzubrechen. Um vor Carsten keine Schwäche zu zeigen. … Aber das hatte doch gar nichts mit Stärke und Schwäche zu tun! Warum war es Leuten wie Eagle und Anne so wichtig, dass niemand sie weinen sah? Warum war es ihnen so unangenehm, solche Gefühle zu zeigen? Carsten richtete sich auf und ging zu Anne rüber, um ihr die Hand auf die Schulter zu legen. „Kann ich dir sonst irgendwie helfen?“ Doch Anne schüttelte den Kopf. „Die Klappe halten reicht schon.“ „Aber-“ Sie schlug seine Hand weg. „Ich brauche keine Hilfe, Carsten!“ „Tut mir leid, aber sonderlich überzeugend ist das nicht.“ „Ich…“ Anne biss sich auf die Unterlippe und ballte die Hände zu Fäusten. Sie war kurz davor den Kampf gegen ihre Gefühle zu verlieren. Es fehlte nur noch eine Kleinigkeit. Carsten ertappte sich beim Abwägen, ob es nun besser war sie alleine zu lassen oder ihr Beistand zu leisten. Anne nahm so ungern Hilfe an, hasste es regelrecht von anderen unterstützt zu werden. Aber gleichzeitig machte sie auf Carsten nicht den Eindruck der Typ zu sein, der in so Fällen die Einsamkeit suchte. Sie war nicht wie Benni oder Ariane, die sich erst einmal alleine und in Ruhe mit diesen Gefühlen auseinandersetzen mussten. Sie war eher wie Laura. Sie brauchte jemanden der sie auffing. Sie brauchte eine Stütze, an der sie sich festhalten konnte. Die ihr half, wieder aufstehen zu können. Anne hatte schon eine Woche lang in der Ungewissheit gelebt, ob ihre Mutter überhaupt noch unter den Lebenden weilte. Eine Woche lang hatte sie dieses Leid bereits in sich herumgetragen. Das war zu viel. Sie konnte nicht mehr. Carsten brauchte keine Sekunde, um diese Gedanken zu Ende führen zu können. Vorsichtig ging er auf Anne zu und nahm sie in die Arme. Und sie gab den Kampf gegen ihre Gefühle auf. Mit einem lauten Schluchzen klammerte sie sich an ihn und ließ endlich die Tränen raus, die sie all die Zeit versucht hatte zurück zu halten. Schrie endlich ihren Schmerz heraus, den sie bisher vor jedem verbergen musste. Während Carsten seinen Griff um ihre bebenden Schultern verstärkte schweifte er mit den Gedanken zu dem unvollständigen Zauber ab. Sie hatten keine Zeit mehr. Kapitel 73: Einsam und verlassen -------------------------------- Einsam und verlassen       Genervt verschränkte Jack die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den heruntergekommenen Putz des noch heruntergekommeneren Hauses. Er hatte sowas von gar keinen Bock auf diesen Auftrag. Okay, genau genommen hatte er nie Bock auf irgendwelche Aufträge von Mars. Doch das war eher eine Form der Grund-Genervtheit. Wie wenn man sich jeden Morgen aus dem Bett quälte und zur Arbeit, zur Schule oder in die Uni musste. Doch dieser Auftrag, der war was Anderes. Das war kein ätzendes sich Aufraffen um zu tun was getan werden muss. Nein, dieses Mal fühlte er sich wirklich unwohl dabei. Regelrecht schuldig. Jack schaute die bröckelnde Fassade hinauf zu den Fenstern des Mehrfamilienhauses, das sich nicht von den restlichen Wohnblöcken dieses Viertels zu unterscheiden vermochte. Alles sah gleich aus. Schmutzig grau, heruntergekommen und verarmt. Die Straße war mit so vielen Schlaglöchern versehen, dass man schon einen Geländewagen bräuchte um hier Auto fahren zu können. Umso mehr fehl am Platz wirkte die dunkle Limousine, die just in dem Moment um eine Ecke bog und direkt vor Jack am Straßenrand parkte. Mehrere Passanten betrachteten das Spektakel neugierig. Wahrscheinlich sahen viele zum ersten Mal in ihrem Leben so ein Monstrum und schwärmten insgeheim von dem Reichtum, über welchen der Besitzer zu verfügen schien. Während sich Jack darüber Gedanken machte, wie unhandlich so ein riesiges Ding eigentlich war -insbesondere im Vergleich zu seinen Motorrädern, die er so liebte- stiegen fünf in schwarz gekleidete Schränke mit Sonnenbrillen aus. Vier von ihnen machten sich an die Arbeit die Gaffer aus dem Weg zu räumen, der fünfte kam auf Jack zu. „Zeig mir deinen Ausweis.“, wies er ihn auf Damisch mit stark russischem Akzent an. Der extrem badass klang. Jack hielt den Portalring mit dem orangenen Edelstein hoch, welchen nur er aufgrund der Erd-Energie benutzen konnte. „Dimitri, du kennst mich. Warum sollte ich mich ausweisen müssen?“ „Nicht diskutieren. Ausweis zeigen.“ „Jaa, jaa.“ Jack verdrehte die Augen und holte sein Portemonnaie heraus, um Dimitri den Ausweis zu geben. „Du weißt schon, dass sich sowas viel leichter fälschen ließe als dieser Ring hier?“ Dimitri war wohl nicht sonderlich zu Smalltalk aufgelegt. Die Nase rümpfend gab er Jack den Ausweis wieder und kehrte zur Limousine zurück, um seinem Herrn die Tür zu öffnen. Unter den aus der Entfernung zuschauenden Bewohnern brach ein angeregtes Murmeln aus. Und natürlich trat niemand geringeres als der verehrte Roland persönlich aus dem Auto. Während die Menge jubelte und gleichzeitig vor dem ‚einzig wahren und alleinigen Herrscher‘ in die Knie ging, nutzte Jack die Gelegenheit den Diktator dieser ärmlichen Region genauer unter die Lupe zu nehmen. Er hatte ihn zwar schon häufiger getroffen, aber meist nur flüchtig. Und eigentlich wollte Jack mit dem Typen auch nichts zu tun haben. Dennoch musste er sich eingestehen, dass sich der ‚einzig wahre und alleinige Herrscher‘ ziemlich gut gehalten hatte für seine 55 Jahre. Man konnte ihn durchaus als attraktiv betrachten und Jack wusste, dass dieser Typ extrem charismatisch war. Nicht umsonst wurde er von diesen Leuten hier gerade vergöttert, obwohl er sie in absoluter Armut leben ließ. Und trotzdem… Ein Bild von Eagles und Carstens Vater schoss durch Jacks Kopf. An Chief kam er nicht ran. „Sei gegrüßt, junger Mann. Ich nehme an du wurdest von ihm entsandt?“, vergewisserte sich der Herrscher mit einem ähnlichen Akzent auf Damisch, wie Dimitri zuvor. Jack nickte und deutete eine Verneigung an, während er sich fragte, wie Janine es geschafft hatte akzentfrei Damisch sprechen zu lernen. Roland nickte und wies seine Leibwächter an ihm zu folgen. Flankiert von diesen Riesen gingen sie die Treppe des Gebäudes hoch, wo man sich bei einigen Stufen locker das Genick brechen könnte, wenn man nicht richtig aufpasste. Jack verzog das Gesicht. Unter solchen Bedingungen musste Janine aufwachsen? „Kennst du das Fräulein, von dem uns berichtet wurde?“, erkundigte sich Roland. „Nein, nie von ihr gehört.“, log Jack und verfluchte diese Situation aufs Neue. Er hatte weder Mars noch sonst wem auch nur ein Fünkchen über die anderen Dämonenbesitzer erzählt. Das war auch nie nötig gewesen, denn Mars hatte seine eigenen Leute um an diese Informationen zu kommen. Roland zeigte Jack ein Foto, welches eine der Lehrerinnen der Coeur-Academy heimlich von den Magier-Mädchen gemacht hatte. „Es ist die kleine Blonde, nicht wahr?“ „Angeblich.“ Ja, Mars hatte seine Kontakte. Am Ende waren nur noch zwei aller Dämonenbesitzer für ihn unbekannt gewesen. Der neue Besitzer des Farblosen Drachen, von dem bisher niemand einen Plan hatte, was oder wer das war. Und… Janine. Die einzige Information, die Sultana bei ihrer Folter nicht hatte verschweigen können. Ausgerechnet diese! Kritisch betrachtete Roland das Foto. „Sie hat es also unbemerkt über die Grenze geschafft und besucht nun die Coeur-Academy. Sehr interessant.“ Es verwirrte Jack, wie wenig überrascht der Diktator wirkte, dass jemand aus seinem Volk so mir nichts dir nichts die Grenze hatte passieren können. „Ein hübsches Ding…“, murmelte Roland vor sich hin. Der lüsterne Blick, mit welchem er das Bild anschaute ließ Jack die Galle hochkommen und gleichzeitig mit den Bauchkrämpfen kämpfte er gegen den Drang an, diesem Typen seine Metallklauen in die Eier zu rammen. Warum musste ausgerechnet sowas der Herrscher über Janines Region sein?! Warum mussten solche Leute überhaupt existieren?! Jack atmete tief durch. Er konnte den Kerl nicht einfach so kastrieren, so sehr er auch wollte. Stattdessen gab er der Steinplatte, auf die Roland soeben seinen Fuß setzen wollte, einen kleinen Ruck. Nur einen kleinen. Was dafür sorgte, dass der ‚einzig wahre und alleinige Herrscher‘ einzig wahr und alleine auf die Fresse flog. Jack unterdrückte das Lachen, während die Leibwächter übertrieben besorgt ihrem Gebieter auf die Beine halfen. Zwar beteuerte dieser es sei nichts passiert, doch Jack stellte schadenfroh fest, dass der Typ die restlichen Stufen hinauf humpeln musste. Eine feste Hand packte ihn an der Schulter. „Ich warne dich Junge, keine faulen Tricks.“, zischte Dimitri ihm mit diesem Hammer Akzent ins Ohr. Damisch mit deutschem Akzent klang einfach scheiße. Aber dieser russische… Jack hob eine Augenbraue. „Was für faule Tricks? Was kann ich dafür, dass nicht genug Geld da ist und die Leute sich nicht um ihre Treppenhäuser kümmern können?“ Dimitri grummelte irgendetwas Unverständliches auf Russisch -was auch mega geil klang- und ließ Jacks Schulter endlich los. Derweil hatten sie die Zieletage erreicht und einer der Leibwächter klopfte gegen die Tür. Irgendetwas wurde von innen gerufen und kurz darauf wurde sie von einer Frau geöffnet, der erstmal alle Farbe aus dem Gesicht wich. Was auch nicht verwunderlich war, immerhin hatte sie auch extrem hohen Besuch. „E-einzig wahrer und a-alleiniger Herrscher…“, brachte sie keuchend hervor und ging hastig auf die Knie, sobald sie realisiert hatte wer das war. „Guten Tag, gnädige Frau. Dürfen wir eintreten?“ Natürlich war das eine notorische Frage und als die Frau ihr „selbstverständlich“ gab, schloss der letzte Leibwächter bereits die Tür hinter sich. „K-kommen Sie doch in die Küche, ich… verzeiht, es ist nicht…“, druckste sie weiterhin unbeholfen. Das war nicht nur Nervosität, stellte Jack fest. Das war Angst. Er konnte fühlen, wie die Frau am gesamten Leib zitterte. Er spürte ihren rasenden Herzschlag. Ahnte sie schon, was den ‚einzig wahren und alleinigen Herrscher‘ ausgerechnet hierher verschlagen könnte? Dieser schaute sich in der kleinen Küche um. „Ist Ihre bezaubernde Tochter außer Haus, gnädige Frau?“ Während Jack überlegte, ob er ein plötzliches Loch unter den Füßen des Diktators auch auf die Qualitätsmängel dieses Hauses schieben könnte, antwortete Janines Adoptivmutter stotternd: „N-nein, also ich meine, j-ja, ‚einzig wahrer und alleiniger Herrscher‘. Sie- sie ist in der Schu-schule.“ „Wie bedauerlich. Wann kommt sie denn wieder?“ „I-ich weiß es nicht…“ Jack nagte an der Unterlippe und wandte sich den Fotos auf dem Kachelofen zu. Was für eine scheiß Situation. Und er mittendrin. Auch Roland schien sich für die Fotos zu interessieren. Es waren zwei an der Zahl. Auf dem Familienbild auf der linken Seite befanden sich fünf Personen, auf dem rechts nur noch drei. Wobei nur eine Person auf dem rechten Bild auch auf dem linken wiederzufinden war. Mitfühlend betrachtete Jack die kleine Janine auf den beiden Bildern. Kein Wunder, dass sie in Wahrheit einen so taffen Charakter hatte. Man brauchte schon einiges an Stärke um das zu verkraften, was sie hatte erleben müssen. „Das ist die Familie Betz, nicht wahr?“, vergewisserte sich Roland und tippte auf das linke Bild. Irritiert blickte Jack auf, während Janines Adoptivmutter die Aussage betreten bestätigte. Woher zum Henker weiß er das? Missbilligend schüttelte Roland den Kopf. „Das arme Mädchen. Sie hatte wohl nie eine Chance, wohlbehütet aufzuwachsen.“ Jack runzelte die Stirn. „Wovon redest du?“ Nun nahm Roland das rechte Bild in die Hand und hielt es ihrer Adoptivmutter entgegen. „Was hast du ihr erzählt, als dein Mann, der gute Aurelius Bo, verstorben ist?“ Woher kennt er seinen Namen? Jack wurde immer unwohler. „K-Karystma.“ Der Diktator nickte wissend und nahm das Bild mit den fünf Personen. „Und ich vermute, ihre leiblichen Eltern und die große Schwester sind auch an Karystma verstorben?“ „J-ja…“ „Was ist mit dem großen Bruder?“ „A-auch…“ Bei Rolands Lachen bildete sich auf Jacks Armen eine Gänsehaut. Er war schon immer in seiner Gegenwart extrem angespannt gewesen. Verabscheute ihn, fürchtete sich gar ein bisschen vor dem Typen. Doch dieses Lachen… Es war beinahe so einschüchternd wie das des Purpurnen Phönix. In ihm schwankte beinahe genauso viel Mordlust mit. Und doch klang es viel grausamer. Denn es kam von einem Menschen. Jemandem, der Seinesgleichen erfrieren und verhungern ließ. Der sich am Tod anderer Menschen ergötzte. Roland nahm die Pistole aus seinem Gürtel. „Du weißt, wie Rebellen sterben. Oder, meine Liebe?“ Mit einem betretenen Schweigen nickte Janines Adoptivmutter. Doch Jack konnte seinen Mund nicht mehr halten. „Rebellen?“ Roland nickte. „Rebellen.“ Er zeigte mit dem Pistolenlauf auf Janines Adoptivvater. „Aurelius Bo. Eigentlich ein freundlicher und sehr gebildeter Mann. Doch leider hat er seinen Intellekt nicht in den Dienst des Staates gestellt und stattdessen für die Abtrünnigen gefälschte Papiere besorgt und Informationen zukommen lassen.“ Nun zeigte er auf Janines leibliche Eltern. „Diese hier waren nicht ganz so gemäßigte Personen. Jakov und Jelena Betz gehörten zu den meistgesuchten Rebellen der Nation. Wie ich Magier doch hasse. Ihre Tochter Jana, eine Kampfkünstlerin, war sogar noch aufmüpfiger. Sie müsste vierzehn gewesen sein, als wir sie letztlich gefangen und hingerichtet haben. Nur diese beiden…“ Sein Lauf wanderte weiter zu Janine, die die Hand ihres älteren Bruders hielt und schüchtern in die Kamera lächelte. „Die beiden waren noch zu klein, um irgendetwas angestellt haben zu können. Dennoch, bei so einer Familie wollten wir auf Nummer sicher gehen.“ Jack betrachtete den Diktator kritisch und erst als er durchatmete merkte er, dass er all die Zeit die Luft angehalten hatte. „Inwiefern?“ „Wir ließen sie vergiften.“ „Was?!“ Roland nahm von seinem schockierten Ton keine Notiz und zuckte lediglich mit den Schultern. „Das Gift wirkte zwar langsam, war aber 100% tödlich. Daher hatten wir es nie für nötig gehalten zu überprüfen, ob sie wirklich gestorben sind. Aber natürlich ist die Besitzerin der Herrscherin des Giftes immun gegen ihre eigene Macht.“ „Ihr- ihr habt… Also ist keiner dieser Personen wirklich an Karystma gestorben?“ Erneut lachte Roland und wieder wurde Jack übel davon. „Was bist du so blass, Junge? Ich hatte mir mal die Liste deiner Opfer angeschaut und war schwer beeindruckt.“ „Aber…“ Roland schüttelte den Kopf und legte eine Hand auf Jacks Schulter. „Im Endeffekt sind wir doch alle Mörder, Kind. Jeder einzelne von uns. Sowohl die Staatstreuen, als auch die Rebellen. Du, ich, die Familie Betz, … Wir alle töten Leute, um an unser Ziel zu kommen. In Wahrheit sind wir alle gleich.“ Jack schluckte den widerlichen Geschmack in seinem Mund runter und schlug Rolands Hand weg. „Wag es nicht dich mit mir und Janines Familie in einen Topf zu werfen.“ Herausfordernd lächelte der Diktator ihn an. „Und wieso nicht?“ „Weil du ein pädophiler Drecksack bist.“, zischte Jack zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Dimitri gab ein paar bedrohliche russische Worte von sich und wollte auf Jack losstürmen, welcher gerne dazu bereit war ihm die Rübe zu polieren. Doch Roland hob beschwichtigend die Hände. „Aber, aber, meine Herren. Wir wollen doch nicht hier im Haus der gnädigen Frau einen Streit anfangen.“ Dimitri murmelte eine russische Entschuldigung und auch Jack versuchte seinen Ärger herunterzuschlucken. Was nicht wirklich gelang. Also hatte man Janine all die Zeit nur erzählt, dass ihre gesamte Familie an Karystma verstorben war. Weil man ihr die brutalere Wahrheit verschweigen wollte… Und noch dazu wäre Janine selbst… Wäre sie nicht die Besitzerin der Gelben Tarantel… Jacks Beine fühlten sich wie Pudding, sodass er sich gegen den Kachelofen lehnen musste, dessen Kacheln unangenehm kalt waren. Er schaute zu Janines Adoptivmutter rüber, die da einsam und verloren am Küchentisch stand, wahrscheinlich mit den Gedanken bei ihrer Ziehtochter und der ansonsten bereits verstorbenen Familie. Daher war Jack umso verwirrter, als sie seinen Blick erwiderte, ganz leicht den Kopf senkte und ihm ein schwaches, wissendes Lächeln zuwarf. „Ich hätte da eine Frage an Sie, gnädige Frau.“, riss Roland die Aufmerksamkeit wieder zu sich, während sich Jack noch fragte, was das Lächeln zu bedeuten hatte. „Ja, ‚einzig wahrer und alleiniger Herrscher‘?“ Ihre Stimme klang auf einmal nicht mehr so nervös und verängstigt, wie Jack überrascht feststellte. „Wie hat es Ihre Adoptivtochter geschafft, die Grenzen zu überqueren, um auf die Coeur-Academy zu kommen?“ „W-was… wie… Wie meinen Sie das, mein Herr?“ Rolands Miene verfinsterte sich. „Frau Annalena Bo, ich weiß von zuverlässigen Quellen, dass ihr Mündel außerhalb unseres geliebten Staates zur Schule geht. Nun möchte ich von Ihnen wissen, wie es dazu kommen konnte?“ Wenn Janines Adoptivmutter etwas darauf antworten wollte, so konnte sie es nicht. Diese plötzliche Frage hatte sie wohl so überrascht, dass ihr alle Worte zu fehlen schienen. „Frau Annalena Bo, wie soll ich Ihr Schweigen deuten?“, hakte Roland nach, dessen Geduld anscheinend aufgebraucht war. Irritiert bemerkte Jack Schritte im Treppenhaus. Schritte, die er wiedererkannte. Er warf erst einen verunsicherten Blick in Richtung Tür, dann zu Annalena. Auch diese schien zu merken, dass da jemand kam. „Du weißt, wie Rebellen sterben. Oder, meine Liebe?“, wiederholte er seine Worte und entsicherte seine Pistole. Ein eiskalter Schauder überkam Jack, zeitgleich mit grausamer Erkenntnis. Genau in dem Moment hörten sie einen Schlüssel in der Tür, gefolgt von den Worten einer lieben, fröhlichen Stimme: „Annalena! Ich bin Zuhause!“ Erneut warf Annalena Jack dieses wissende Lächeln zu. „Pass auf sie auf.“ Aus den Augenwinkeln sah er, wie Roland den Abzug betätigte. Er brauchte nur einen Augenblick um zu reagieren. Sein „Nein!“ wurde von dem Schuss der Pistole übertönt. Jack stieß den Diktator zur Seite und riss ihm die Waffe aus der Hand. Hoffte, schnell genug reagiert zu haben. Doch der Augenblick war zu lang. Schwer atmend sah er wie Janines Adoptivmutter neben dem Tisch lag. Blut sickerte aus der Schusswunde zwischen ihren Augen, doch diese waren geschlossen. Als schliefe sie nur. Einen Moment lang rührte sich nichts. Jack konnte nur seinen eigenen Atem und das Ticken der Küchenuhr hören. Dann, plötzlich, kam aus dem Flur ein verunsichertes „Annalena?“. Die Schritte näherten sich der Küche. Jack kniff die Augen zusammen. Komm nicht näher… „Bist du da-“ Der Rest von Janines Frage brach ab, stattdessen hörte Jack eine Tasche auf den Boden fallen. „A-Annalena?“ Ohne es zu wollen spürte Jack das Zittern, das von Janines zierlichem Körper ausging. Ihre Stimme war kaum mehr ein Flüstern, als sie sich neben ihre Adoptivmutter kniete, vorsichtig ihre Schulter berührte und fragte: „Mama?“ Jacks Herz zog sich bei diesem Ton qualvoll zusammen, die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, während eine Flut von Erinnerungen über ihn hineinbrach. In Janine schienen sich Unglauben mit Tatsachen zu bekriegen, während Angst und Panik zunahmen. „Mama, was hast du?!“ Gleichzeitig mit ihrer, meinte Jack auch seine eigene Stimme hören zu können. „Mama, mach die Augen auf!“ Der Ton wurde flehentlicher. Verzweifelter. „Bitte! Wach auf!“ Ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. „Mama!!!“ Jack riss sich aus dem Erinnerungsstrudel und zwang sich, die Augen zu öffnen. Vorsichtig ging er auf Janine zu, die sich weinend und schreiend an den Leichnam ihrer Adoptivmutter klammerte. „Janine…“ Sie wischte sich über die Augen und schaute sich um. Erst jetzt schien sie die Anwesenheit der anderen überhaupt zu bemerken. Jack wusste nicht wieso, doch er wollte bei dem Anblick ihres verzweifelten, traurigen und komplett hoffnungslosen Gesichtsausdrucks am liebsten selbst direkt losheulen. Warum ausgerechnet Janine? Hatte sie nicht schon genug gelitten?! „J-Jack… Was…“, versuchte sie zu fragen, doch ihr Zittern und Schluchzen machten es unmöglich, zu sprechen. Da fiel ihr Blick auf die Pistole. In den falschen Händen. Ihre Augen weiteten sich vor Erkenntnis. „W-wieso?“ Unglauben. „Nein, das ist nicht… Ich… Ich habe nicht…“ Und Hass. „Du hast sie umgebracht…“ „Nein, Janine! Das verstehst du falsch! Ich wollte ihr-“ „Du hast sie umgebracht!“ „Glaub mir, ich wollte nur-“ Jack versuchte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter zu legen, doch Janine stieß sie weg. „Fass mich nicht an! Du hast sie ermordet! Du bist ein Mörder!!!“ Wieder rannen Tränen über ihre Wangen, während Jacks Verzweiflung wuchs. „Ich habe sie nicht ermordet!“ „Erst Eagles und Carstens Vater und jetzt meine Mutter!!! Macht dir das spaß?! Bist du nun glücklich?!?!“ „Janine, wirklich! Ich-“ „Verschwinde!!!“ Noch während Janine das schrie klammerte sie sich wieder an Annalenas Körper. Weinte und schluchzte, rief ihren Namen und flehte sie an zurückzukommen. Sie nicht alleine zu lassen. Bei dem Gefühlschaos in seinem Inneren war es Jack unmöglich, auch nur einen einzigen klaren Gedanken fassen zu können. Was sollte er jetzt tun? Er konnte sie nicht einfach in den Arm nehmen, so sehr er es auch wollte. Und tröstende Worte wären wirkungslos. Bedeutungslos. Janine hielt nun ihn für den Mörder ihrer Adoptivmutter. Sie dachte, er habe ihr die letzte Person ihrer Familie genommen, die noch übrig war. Jegliche Hilfe von ihm würde sie nur von sich weisen. Genau. Von ihm. Jack blieb die Luft in der Kehle stecken, als er sah wie sich Roland neben Janine kniete, einen Arm um ihre zitternden Schultern legte und beruhigend auf sie einredete. „Es ist alles gut, meine Liebe. Alles gut.“ Noch während Jack die zitternden Hände zu Fäusten ballen wollte fiel ihm auf, dass er immer noch die Pistole des Diktators in der Hand hielt. „Halt dich fern von ihr!“ Roland warf ihm einen eindringlichen Blick zu. „Es ist besser du gehst nun, junger Mann.“ „Ich sagte halt dich-“ „Sei still!“, schrie Janine plötzlich und hielt sich die Ohren zu. „Sei still und verschwinde!“ Roland tätschelte ihren Oberarm. „Es ist alles gut, meine Liebe. Der junge Mann wird dich nicht weiter belästigen. Komm, wir bringen dich erst einmal hier raus.“ „Aber Mama…“ „Wir kümmern uns um sie, keine Sorge.“ Schniefend wischte sich Janine über die Augen und nickte. Vorsichtig beugte sie sich über ihre Adoptivmutter und strich ihr einige Strähnen aus dem Gesicht. „Ich… ich weiß, dass du es nie leicht hattest… Deshalb… Danke, dass ich… trotzdem… deine Tochter werden durfte…“ Erneut begann Janine zu schluchzen, während sich Jack auf die Unterlippe biss. Bei dem Kampf gegen Eagle hatte er den Eindruck gehabt chancenlos zu sein? Bei den Trainingskämpfen gegen Benni fühlte er sich machtlos? Bei der einstigen Konfrontation mit Carsten dachte er dem Untergang geweiht zu sein? Jetzt wurde er eines Besseren belehrt. Das war wahre Machtlosigkeit. Hier hatte er keine Chance zu gewinnen. Und selbst der Weltuntergang wirkte harmlos im Vergleich dazu. Zu beobachten, wie der pädophile Drecksack Janine auf die Beine half. Wie er ihr ekelhaft sanft eine Strähne aus dem Gesicht strich und ihr ein Taschentuch reichte. Und wie Jack all das nicht verhindern konnte. Weil sie nicht auf ihn hören würde. Weil sie ihn für den Mörder ihrer Adoptivmutter hielt. Roland wandte sich an seinen Hauptleibwächter. „Dimitri, sorge bitte dafür, dass der junge Mann dem Fräulein nicht zu nahe kommt. Und… kümmere dich anschließend um die gnädige Frau.“ Dimitri gab ein russisches „Jawohl“ von sich und baute sich zwischen Jack und Roland mit Janine auf. Der Kerl war wahrlich ein Schrank. Noch während der Diktator mit seinen restlichen Leibwächtern und Janine die Küche verließ, versuchte Jack erneut an Janines Verstand zu appellieren. „Janine, erinnere dich daran, was ich dir über den Typen mal erzählt habe!“ Aber natürlich kam keine Reaktion von ihr. Hatte sie überhaupt realisiert wer dieser Mann war, der ihr eben gerade ‚helfen‘ wollte? Kurz darauf fiel die Tür in die Angeln. Während Jack alle Flüche von sich gab, derer er in seiner Muttersprache mächtig war, kramte Dimitri in seiner Tasche herum bis er offensichtlich gefunden hatte wonach er suchte. Zum Vorschein kamen zwei silbern glänzende Ringe, über eine Metallkette miteinander verbunden. „Umdrehen.“, wies Dimitri ihn an und packte seinen Arm. „Du willst mir nicht ernsthaft Handschellen anlegen, oder?“ „Auf jetzt.“ Geräuschvoll atmete Jack aus. „Ich hab dich eigentlich immer gemocht, aber jetzt hast du’s bei mir verkackt.“ Grob befreite er sich aus Dimitris Griff und rammte dem Hünen gezielt sein Knie in die Eier. Was direkt den gewünschten Effekt hatte. Mit einem schrillen Schmerzenslaut sackte der Schrank auf den Boden. Jack bewegte den Kopf nach links und rechts und knackste mit dem Nacken. „Sei froh, dass es nur deine Kronjuwelen sind. Hättest du mir die Dinger angelegt wäre noch viel mehr nicht mehr brauchbar gewesen.“ Aus dem Fenster hörte Jack ein losfahrendes Auto und er konnte nur noch aus dem vierten Stock beobachten, wie die dunkle Limousine um die Ecke bog und verschwand. Erneut fluchte er und warf die verdammte Pistole in die Ecke, die er bis eben immer noch in der Hand gehalten hatte. Scheiß Ding. Mit einem bedrückten Seufzen ging er zu der Leiche von Janines Adoptivmutter rüber und kniete sich neben sie. „Wird wohl schwerer als gedacht, auf sie aufzupassen…“ Noch bevor wieder Erinnerungen über ihn hereinbrechen konnten, schüttelte Jack den Kopf und richtete sich abrupt auf. „Aber ich tu, was ich kann.“ Er sandte Erd-Energie in den orangenen Stein vom Ring seines rechten Mittelfingers, welcher das Portal zurück in die Unterwelt öffnete und winkte Dimitri noch einmal zu. „Ich sagte doch, dass du mich eher mit diesem Ding hättest identifizieren sollen.“   In Mars‘ Unterweltschloss angekommen war der Herrscher der Zerstörung auch direkt Jacks erste Anlaufstelle. „Du kannst sie doch nicht einfach mit dem Typen mitfahren lassen. Sie hätte jederzeit die Gelegenheit zu fliehen.“, versuchte Jack möglichst ruhig und sachlich zu argumentieren. Mars zuckte mit den Schultern. „Ich denke nicht, dass sie in ihrer momentanen Situation dazu imstande ist.“ „Ja, aber… Und wenn doch? Wir sollten auf Nummer Sicher gehen und sie direkt hierher bringen.“ Mars trank einen Schluck von seinem Rotwein und betrachtete Jack amüsiert. „Sag, warum stört es dich so, dass Roland sie erst zu seinem Anwesen bringt?“ „Weil das nicht der Auftrag war.“ „Mein Auftrag lautete das Mädchen ausfindig zu machen und lebend hierher zu bringen. Über welchen Weg und mit welchen Mitteln ist mir vollkommen gleich. Die meisten freuen sich darüber, dass meine Aufträge so frei formuliert sind. Frag Benedict, er kann davon inzwischen wohl ein Lied singen.“, erwiderte Mars belustigt. „Aber…“ Shit. Mars würde er wohl nicht mit logischen Argumenten zu Handeln bringen. Es wäre auch zu schön gewesen. Der Dämon stellte das Rotweinglas auf dem goldenen Beistelltisch ab und winkte Jack zu sich rüber. Zögernd folgte er der Anweisung. „Jack, du weißt, dass du ehrlich mit mir sein kannst. Du gehörst zu den wenigen, nein, du bist gar der einzige, der hier nicht darauf achten muss, was er sagen sollte. Der frei sprechen kann, was er denkt. Also, was ist?“ Jack versuchte zu einer Erklärung anzusetzen, doch kein Ton kam über seine Lippen. Mars richtete sich auf und strich Jack über die Wange. „Du hast Gefühle für die Kleine. Ist es nicht so?“ „Ich…“ Jack atmete aus und erwiderte den bedrohlichen und zugleich auch irgendwie zuneigungsvollen Blick des Dämons. „Ich will nur nicht, dass sie in den Händen dieses pädophilen Arschlochs ist. Wer weiß, was für kranke Ideen in seinem Kopf herumgeistern.“ Mars nickte wissend und nahm wieder auf seinem Kanapee platz. „Erinnerst du dich an das Abkommen was wir hatten, als du hier aufgenommen wurdest?“ „Wie könnte ich das vergessen?“ Auf Mars auffordernden Blick hin erwiderte Jack schließlich: „Ich soll alle Aufträge von dir erfolgreich und ohne sie zu hinterfragen abschließen. Dafür bekomme ich Geld und sonstige Sachen, um ein halbwegs normales Leben führen zu können.“ Mars nickte. „Du hattest eine schwere Zeit und aufgrund dessen habe ich darüber hinweggeschaut, dass du mir am Anfang mehr Ärger als Nutzen gebracht hast.“ „Und gerade bringe ich dir auch mehr Ärger als Nutzen?“ Irgendwie fühlte sich Jack bei dieser Frage unwohl. Wenn ja, was würde Mars dann mit ihm machen? Er hatte sich tatsächlich viele Fehler erlauben dürfen. Und hatte häufig genug in der Angst gelebt, dass der Dämon ihn zurückschicken würde. Wieder eingesperrt. Wieder in Ketten. Wieder- Mars schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin äußerst zufrieden mit dir. Ich mache mir nur Sorgen.“ Jack runzelte die Stirn. „Sorgen?“ „Diese Gefühle, die du für das Mädchen hast. Und du kannst nicht leugnen, inzwischen freundschaftliche Gefühle für Benedict entwickelt zu haben. Ist es nicht so?“ Zögernd nickte Jack. Worauf wollte er hinaus? „Ich habe an dir immer geschätzt, dass du ein ruhiger, logischer Mensch bist. So wie die Maschinen, die du so magst. Du bekommst eine Aufgabe, überlegst dir die beste Lösung und erledigst sie. Kein ‚aber‘, kein ‚was wäre wenn‘, nichts. Diese neuen Gefühle hindern dich daran. Du fängst an nachzudenken.“ Freudlos lachte Jack auf. „Und Benni beschwerte sich erst letztens, dass ich zu wenig nachdenke.“ Mars zuckte mit den Schultern. „So viel wie der nachdenkt ist für ihn ja auch alles andere zu wenig. Aber verstehst du worauf ich hinaus möchte? Du kannst nicht meine Aufträge ohne zu hinterfragen abschließen, wenn du anfängst darüber nachzudenken.“ Jack versuchte den Kloß im Hals herunterzuschlucken. In diesem Fall würde er das Abkommen nicht mehr einhalten können… Mars würde ihn wieder… „Möchtest du, dass es so weit kommt?“ Wie betäubt schüttelte Jack mit dem Kopf. Erneut richtete sich Mars auf und legte eine Hand auf seine Schulter. „Ich auch nicht. Also vergiss das auch ja nicht.“ Dieses Mal brachte Jack lediglich ein Nicken zustande. Nicht zurück. Alles, bloß nicht wieder dahin zurück. Und trotzdem… „Und… Janine?“ Mars lachte auf und klopfte Jack noch einmal kurz auf die Schulter, ehe er sich wieder hinsetzte. „Die Kleine hat’s dir ganz schön angetan, kann das sein?“ Kichernd zuckte er mit den Schultern. „Hauptsache sie kommt hier her. Wie, ist mir egal. Du kannst sie eskortieren, wenn du magst und sie nicht länger mit Roland alleine lassen möchtest.“ „Aber sie…“ „Du kannst dir auch gerne Hilfe holen. Er sollte zwar nicht in die Nähe der anderen Dämonenverbundenen kommen, aber solange du aufpasst, dass es im Rahmen der Mission ist und er nur mit ihr in Kontakt kommt, will ich drüber hinwegsehen.“ Jack atmete auf. Auf genau diese Worte hatte er gehofft. Mehr wollte er gar nicht. „Danke, ich werde dich nicht enttäuschen.“ Nach einer schnellen Verneigung eilte er aus Mars‘ Gemächern. Rannte die Gänge entlang, eine Abzweigung nach der nächsten, bis er in der Trainingshalle ankam, deren Tür er schwungvoll aufriss. „Du musst sofort mitkommen, ich brauche deine Hilfe.“, keuchte Jack lediglich. Kritisch blickte Benni zu ihm rüber, der nach japanischer Manier einen schwarzen Hakama und Gi für sein Training trug. Wie auch immer er in seinem momentanen Zustand trainieren konnte. Die gebrochene Nase hatte Jack zwar behandeln können und Bennis Wunden verheilten deutlich besser als die eines Dämonenverbundenen oder gar eines normalen Menschen, sahen aber immer noch grauenhaft aus. Mehrere Blutergüsse zierten sein Gesicht und besonders das linke Auge hatte eine unangenehme Blaufärbung. „Ist etwas passiert?“ „Ja, also…“ Jacks Blick fiel auf das Trainingskatana, was Benni in der Hand hielt. Erinnerte sich an die letzte Auseinandersetzung als er so eine Waffe in der Hand gehalten hatte. Und an den Grund dieser Auseinandersetzung. „Aber… Du solltest mir besser erstmal dein Schwert geben.“ Bennis Blick verdüsterte sich. Er hatte die Andeutung verstanden. „Wer?“ „Gib mir erst das Katana.“, drängte Jack ihn, immer unruhiger werdend. Die Zeit lief ihnen davon und jetzt musste er auch noch aufpassen, dass Benni seine Drohung nicht doch plötzlich in die Tat umsetzte? Beschissener konnte es nicht mehr werden. Benni schien die für Jack untypische Ungeduld zu merken. Daher verzichtete er wohl auf weitere Diskussionen, steckte das Schwert weg und reichte es ihm. Jack atmete tief durch. „Janines Adoptivmutter.“ „Annalena?“ „Du kennst sie?“ Benni nickte und fuhr sich durch die weißblonden Haare. „Warum?“ Jack senkte den Blick und versuchte das Bild auszublenden, wie Janine weinend über den Körper ihrer Adoptivmutter gekrümmt war. „Ich bin mir nicht ganz sicher… Allem Anschein nach gehörte sie wie der Rest der Familie zu einer Gruppe Widerstandskämpfern…“ Doch auf Bennis fragenden Blick hin schüttelte Jack den Kopf. Zwang sich zurück in die Gegenwart. „Erklär ich dir nachher. Die Kurzfassung ist: Roland hat Annalena erschossen und Janine denkt, dass ich es war. Und deshalb ist sie jetzt ausgerechnet mit diesem Kinderschänder auf dem Weg zu seinem Anwesen, während der Wichser wahrscheinlich schon die perversesten Fantasien hat.“ Benni stieß einen japanischen Fluch aus. „Und auf dich hört sie nicht, da sie dich für den Mörder ihrer Mutter hält.“ Bedrückt nickte Jack. Er hatte es schon häufiger geschafft zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Doch an diesem Missverständnis kam nichts ran. Und dann auch noch ausgerechnet Janine… „Ich… hatte gehofft, dass sie eher Trost bei dir suchen würde, als bei dem Arschloch. Immerhin kennt ihr euch und seid in gewisser Weise miteinander befreundet.“, erklärte Jack. Benni nickte. Doch Jack entging nicht, dass er trotz allem zögerte. Er konnte sich schon denken, wieso. „Mars hat sein okay gegeben. Solange du Janine hierher bringst und nur zu ihr Kontakt hast drückt er ein Auge zu.“ Ein weiteres Nicken und schon hatte Benni mit dem schwarzen Stein seines eigenen Portalringes einen Weg in die Oberwelt geschaffen, der ganz in der Nähe des Anwesens war. Während sie auf den prunkvollen Palast des Diktators zuliefen fragte Jack: „Du glaubst mir einfach so, dass ich sie nicht getötet habe?“ „Du hast keinen Grund zu lügen.“ „Na ja… Es gibt immer Gründe zu lügen.“ Benni zuckte mit den Schultern. „Außerdem meintest du sie wurde erschossen. Und du würdest nicht mal bei einem Meter Entfernung treffen.“ „Sehr schmeichelhaft.“ Bedrückt atmete Jack aus und stellte verbissen fest, dass die Limousine bereits auf ihrem Parkplatz stand. Sie traten in das weiße Gebäude, was mit seinem Reichtum und Prunk wohl versuchte mit Mars‘ Gemächern zu konkurrieren. Was fanden die Leute so toll an dem ganzen Müll? Sie gingen die mit rotem Teppich bedeckte, riesige Treppe nach oben und beachteten die Bediensteten gar nicht, die sie versuchten aufzuhalten. Benni hatte wohl auch keinen Nerv für Diskussionen. Als die Leibwächter vor der Tür zum Salon ihn aufhalten wollten, schaltete er sie ohne mit der Wimper zu zucken mit seiner Finsternis-Energie aus. Jack hielt sich jedoch zurück als Benni die Tür öffnete und eintrat. Es war wohl besser, wenn Janine ihn vorerst nicht zu Gesicht bekam. „Was willst du hier?!“, hörte Jack einen weiteren Leibwächter rufen. Das nächste was zu hören war, war Janines schwache Stimme. „B-Benni?“ Jack spürte, wie sie vom Sofa aufstand, auf Benni zu rannte und sich schluchzend in seine Arme warf. Genau diese Reaktion hatte sich Jack erhofft. Erleichtert atmete er auf und lehnte sich gegen die Wand neben der Tür. Es war nichts weiter passiert. Sie hatten es noch rechtzeitig geschafft. Er schloss die Augen und ‚beobachtete‘ mithilfe seiner Erd-Energie, wie Benni zögernd und leicht unbeholfen die Umarmung erwiderte, während sich Janine bitter weinend an seinen Gi klammerte und anscheinend keine Hemmungen mehr hatte, ihren gesamten Schmerz herauszuschreien. Erneut zog sich Jacks Herz unfassbar schmerzhaft zusammen, während er tatenlos miterleben musste, wie Janine ihrem Leid ausgesetzt war. Wie er in gewisser Weise sogar der Verursacher dieses Leids war. Er hatte Annalena nicht retten können. Er hatte zu lange gebraucht um zu reagieren. … Mal wieder. Jack atmete zitternd durch und lauschte der alles andere als erfreuten Stimme des Diktators: „Du hast hier nichts verloren, Junge.“ „Janine genauso wenig.“, erwiderte Benni und schien sich instinktiv etwas zwischen Janine und das Arschloch zu stellen. Roland äußerte etwas Verärgertes auf Russisch, woraufhin Benni in derselben Sprache irgendwas antwortete. Jack hatte zwar keine Ahnung worüber sie da redeten, doch bei dem bedrohlichen Unterton in Bennis Stimme, in dem immer diese eisige Kälte mitschwang, wusste selbst Jack, dass man nun besser nichts in seinen Augen Falsches machen sollte. Dessen schien sich auch Roland bewusst, der seinem Überlebensinstinkt folgend jegliche Diskussion aufgab, sich demonstrativ aufrichtete und zusammen mit seinen Leibwächtern aus dem Zimmer rauschte. Als er auf dem Gang Jack erblickte, warf er ihm nur eine unfreundliche russische Beleidigung entgegen, die Jack ohnehin nicht verstand und mit einem erhobenen Mittelfinger erwiderte. Erst als der Typ mit seinem Gefolge hinter der nächsten Ecke verschwunden war merkte Jack, wie die gesamte Anspannung seinen Körper verließ. Wie er kaum mehr die Kraft hatte auf seinen eigenen Beinen zu stehen. Vorsichtig ließ er sich auf den Boden gleiten und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Zimmer hinter ihm. Ohne dass Benni nachfragen musste, begann Janine schluchzend die Situation zu erklären. Sie redete wie ein Wasserfall und ebenso rannen immer mehr und mehr Tränen über ihre Wangen. Meist hörte Benni einfach nur schweigend zu. Nur als sie von Jack selbst erzählte versuchte er, das Missverständnis aufzuklären. Doch seine Worte erreichten sie nicht. Janine war immer noch viel zu durcheinander und aufgewühlt, um auch nur halbwegs klar denken zu können. So aufgewühlt, dass sie ohne es zu merken in ihre Muttersprache abdriftete und Jack gar kein Wort mehr verstehen konnte. Da war es umso praktischer, dass sich Benni nun um sie kümmern musste, dessen Russisch zwar ziemlich eingerostet aber immer noch vorhanden war. Es dauerte ganze zwei Stunden, die sie so verbrachten. Janine war am Reden und Weinen, komplett fertig mit sich und der Welt. Benni hörte ihr ruhig zu und versuchte soweit es ihm möglich war Trost zu spenden. Und Jack saß da im Flur, schweigend, und warf jeder Person einen warnenden Blick zu, die in seinem Blickfeld auftauchte und dem Raum zu nahe zu kommen drohte. Innerhalb dieser Zeit kam Jack nicht drum herum nachzugeben und in seinen eigenen Erinnerungen zu versinken. Die Schreie. Die toten grünen Augen. Das Meer an Blut, dass sich mit ihren kupferroten Haaren vermischte. Der Gestank und die Übelkeit. Verzweiflung. Einsamkeit. Hoffnungslosigkeit. Und nicht zuletzt der Zorn. Der Zorn, der ihm eine nie dagewesene Macht verlieh, die alles vernichten konnte. Die ihn vernichten konnte. Jack schreckte hoch, als er Benni plötzlich wieder auf Damisch reden hörte: „Wir sollten uns langsam auf den Weg machen.“ „Wo… bringst du mich jetzt…?“, schluchzte Janine, der Rest wurde zu einem verängstigten Flüstern, „Zu… Mars?“ „Ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit… Aber…“ Jack merkte, wie Janine schwach mit dem Kopf schüttelte. „Ich weiß, es ist wegen… Laura und Carsten. Sie… vermissen dich sehr.“ Benni schien nichts darauf erwidern zu können, doch das ‚Ich sie auch.‘ lag trotzdem spürbar in der Luft, während er Janine auf die Beine half. „Kannst du gehen?“ Janine brachte ein leichtes Nicken zustande. Während Benni sie zu den anderen in den Kerker der Unterwelt begleitete, folge Jack ihnen lautlos, damit Janine seine Anwesenheit nicht würde bemerken können. Sie ließ sich ohne Widerworte auf einem Bett in einer Einzelzelle nieder. Momentan schien ihr alles egal. Selbst, dass sie nun eine Gefangene ihres Feindes war. Nichts zählte mehr. Nichts hatte mehr Bedeutung. Das einzige was sie wahrnahm war die Einsamkeit. Verloren und allein. Niemand, der sie auffangen konnte. Der ihr Licht in der Finsternis war. Und so froh und dankbar sie auch über Bennis Anwesenheit war, er schaffte es nur einen verschwindend geringen Teil des Leids von ihr zu nehmen. Verbissen schaute Jack auf Bennis Trainingsschwert, das er immer noch in der Hand hielt. Im Endeffekt steht man mit seinem Leid eben alleine da. Im Endeffekt ist die Hoffnung auch nur eine kleine Kerze, die bei dem schwächsten Windhauch ausgepustet werden kann. Kapitel 74: Happy Birthday -------------------------- Happy Birthday       „Alles Gute zum Geburtstag, mein Liebling!“ Öznur rannte auf Eagle zu und fiel ihm schwungvoll um den Hals, um ihm einen fetten Schmatzer auf die Lippen zu drücken. Carsten und der Rest der Mädchen waren ihr mit etwas Abstand gefolgt und beobachteten amüsiert, wie Eagle mit der guten Laune seiner Freundin fertig zu werden versuchte, die trotzdem irgendwie ansteckend war. Carsten erkannte sofort, dass es seinem großen Bruder deutlich besser ging als letzte Woche oder gar die Woche zuvor. Natürlich war dieser Ausdruck relativ. Eagle litt immer noch extrem unter der ganzen Situation. Aber nun schaffte er es endlich zu erkennen, dass es Leute gab die für ihn da waren. Dass er nicht alleine war. Und das konnte man auch in seinen Handlungen beobachten. Er suchte regelrecht die Nähe der anderen. Nachdem Öznur mit ihren überschwänglichen Glückwünschen und Küssen fertig war, hielt er immer noch ihre Hand als auch schon Lissi ihn mit der nächsten Umarmung überfiel – aber zum Glück ohne die ganzen Küsse. Auch die restlichen Mädchen gratulierten und umarmten ihn. Sogar Anne, wenn auch nach einem deutlichen Zögern und begleitet von noch deutlicherer Verwunderung seitens der anderen, insbesondere bei dem Geburtstagskind selbst. Was nicht überraschend war. Zwar hatte sich Annes Einstellung zum männlichen Geschlecht extrem verbessert, aber wirklich freundschaftliche Gesten ihrerseits waren bisher immer nur Carsten vorbehalten gewesen. Und dass sie jetzt ausgerechnet Eagle umarmte, den sie zu Beginn von allen hatte am wenigsten leiden können, wollte schon was heißen. Bedrückt überlegte sich Carsten, ob dies etwas mit ihrer eigenen momentanen Situation zu tun haben könnte. Immerhin ging es ihr zurzeit ganz ähnlich wie Eagle. Auch, wenn bis auf Carsten niemand davon wusste. Überhaupt niemand davon erfahren durfte. Aber so schwer es ihm auch fiel dieses Versprechen zu halten, Anne hatte Recht. Die Entführung ihrer Mutter durfte sich unter keinen Umständen herumsprechen. Und je mehr davon wussten, desto größer wurde dieses Risiko. So blieb Carsten keine andere Wahl als schweigend zuzusehen wie Anne Eagle zum Geburtstag gratulierte mit dem Wissen, dass sie sich näherstanden als man es je für möglich halten würde. Zum Abschluss war Carsten selbst an der Reihe und… hatte keine Ahnung, was er machen sollte. Wie gratuliert man seinem großen Bruder zum Geburtstag? Ihn umarmen, so wie der Rest es tat? Oder doch lieber einfach nur die Hand reichen? Was hatte er bei Benni damals in der Zeit vor der Besserungsanstalt gemacht? Nichts, wenn er sich recht erinnerte. Für Benni war sein eigener Geburtstag ein Tag wie jeder andere auch. Sogar auf ein simples ‚alles Gute‘ hatte er nur mit einem Verdrehen der Augen reagiert. Wenn überhaupt. Verunsichert hielt Carsten seinem großen Bruder die Hand hin. „Ähm… Alles Gute…“ „Wie jetzt? Selbst von Anne bekomme ich mehr Liebe als von meinem kleinen Bruder?“ Amüsiert und vielleicht auch ein bisschen gekränkt schüttelte Eagle den Kopf und zog Carsten in eine Umarmung. Dieser stammelte eine schwache Entschuldigung und fühlte sich umso beschämter. Eagle befreite Carsten wieder und klopfte ihm seufzend auf die Schulter. „Schon gut. Ist ja nicht so als hätte ich es verdient.“ Carsten wollte etwas darauf erwidern, als Ariane ihn berichtigte: „Du meinst wohl ‚nicht verdient‘, oder?“ „Ach Quatsch, Eagle-Beagle verdient alles Gute der Welt.“, sagte Lissi kichernd, während Eagle verwirrt überlegte: „Echt? Zwei Verneinungen?“ „Glaube schon… Das war doch ironisch gemeint, oder?“ Jetzt war auch Ariane verunsichert. „Ja, aber das ‚nicht‘ steckt doch schon im Satz.“, bemerkte Eagle. Nun war es Öznur die kicherte. „So ganz perfekt ist dein Damisch wohl doch nicht.“ Schnaubend verschränkte er die Arme vor der Brust. „Damisch ist nun mal meine erste Fremdsprache. Ich wurde halt nicht zweisprachig erzogen wie der ganze Rest von euch.“ Während Öznur bei dieser Aussage überrascht reagierte, lachte Lissi lauthals los. „Keine Sorge, BaNane auch nicht.“ Nun brach auch der Rest in Gelächter aus. Genervt stöhnte Ariane auf. „Ach kommt schon, fangt nicht schon wieder damit an.“ „Womit denn, BaNane? Ich habe doch nur gemeint, dass du lediglich mit Damisch aufgewachsen bist und halt kein Französisch kannst.“, tönte Lissi mit ihrer Unschuldsmiene. Carsten ignorierte derweil die Rotfärbung seines Gesichts als er gezwungenermaßen an die damalige Situation mit der Banane und Arianes fehlenden Französischkenntnissen dachte. Aber irgendwie war es ja wirklich witzig… Selbst Benni hatte fast losgelacht, hätte er sich in dem Moment nicht vor Überraschung unglücklich verschluckt. Diese Erinnerung ließ nun auch Carsten amüsiert lächeln. Stimmt, Ariane hatte ihn damals fast zum Lachen gebracht. Und das wollte bei Bennis ernstem Charakter durchaus etwas heißen. Anne runzelte irritiert die Stirn. „Aber Carsten, du wurdest doch zweisprachig erzogen, oder?“ Carsten nickte. „Echt? Nur zweisprachig?“, erkundigte sich Ariane verwirrt. „Ich dachte du wurdest ‚vielsprachig‘ erzogen, so wie Benni.“ „Nein, ich habe nur Indigonisch und Damisch von Beginn an gekonnt. Japanisch habe ich durch Benni und Laura gelernt und den Rest über Bücher.“ „Dafür, dass du das alles nur über Lesen gelernt hast, ist deine Aussprache aber top.“, bemerkte Öznur überrascht. Von diesem Lob verlegen fuhr sich Carsten durch die kurzen Haare, während Eagle den Kopf schüttelte. „Ich dachte wir haben schon festgestellt, dass Carsten nicht normal ist.“ „Genau genommen ist niemand von uns normal.“, ergänzte Lissi, woraufhin Anne erwiderte: „Du am aller wenigsten.“ „Apropos nicht normal…“, bemerkte Öznur und reichte Eagle ein hübsch verpacktes Päckchen mit roter Schleife. „Hier ist dein unnormales Geburtstagsgeschenk.“ „Das wäre doch nicht nötig gewesen, aber… danke.“ Auch, wenn Eagle sich mal wieder versuchte cool zu geben, war es mehr als deutlich, dass er sich insgeheim wie ein kleines Kind über das Geschenk freute. „Wir haben alle zusammengelegt. Wobei die Idee eigentlich von Carsten kam.“, ergänzte sie, während Eagle das Päckchen bereits geöffnet hatte und den Inhalt beeindruckt betrachtete. „Eine Pfeife?“ „Wie gesagt, die Idee kam von Carsten.“, sagte Öznur erneut. Irritiert schaute Eagle Carsten an. „Versteh mich nicht falsch, sie sieht richtig gut aus. Aber warum? Ich dachte, ich rauche eurer Meinung nach schon mehr als genug.“ Irritiert legte Laura den Kopf schief. „Ich dachte, du hattest versucht damit aufzuhören.“ Eagle seufzte. „Genau. Versucht. Ist schwerer als gedacht.“ „Deshalb die Pfeife.“, erklärte Carsten. „Vielleicht hilft sie dir als Übergang, um zumindest die Tabakmenge zu reduzieren.“ „Und der Tabak riecht total nach Tee.“, merkte Ariane begeistert an. Sie war beim Aussuchen des Tabaks überraschend Feuer und Flamme gewesen und hatte mit ihrer guten Nase an so gut wie jeder Dose im Laden geschnuppert. … Was ziemlich süß war und Carsten nicht gerade beim Konzentrieren geholfen hatte… „Also kein bisschen eigennützig.“, bemerkte Eagle belustigt. „Aber die Idee ist wirklich gut. Ich hatte selbst schon überlegt auf Nikotinpflaster oder so ähnlich umzusteigen, aber ne Pfeife hat nochmal mehr Style. Moment mal…“ Irritiert schaute Eagle sie an. „Wie zum Henker seid ihr da dran gekommen, wenn niemand von euch volljährig ist?“ Öznur seufzte. „Lissi war’s. Mehr Einzelheiten haben wir uns selbst erspart.“ Lissi runzelte die Stirn. „Was für Einzelheiten meinst du denn, Özi-dösi? Ich hab einfach nen guten Freund um einen Gefallen gebeten.“ Eagle hob eine Augenbraue. „Wow, das ist wirklich harmloser als erwartet.“ „Was denkt ihr denn von meiner Schwester?“ Irritiert und auch leicht schockiert schaute Susanne den Rest an. „Ich glaube, das weißt du schon längst…“, antwortete Ariane seufzend. Susanne schüttelte bedrückt den Kopf, während Lissi von der Meinung der Mädchen über sie noch nicht einmal Notiz zu nehmen schien. „Also, Eagle-Beagle: Wo ist denn die riesen-Party, die dir zu Ehren stattfindet?“ Eagle deutete mit dem Daumen hinter sich. „Auf dem Zentralplatz. Die sind allesamt auch schon ganz gut drauf.“ „… Also besoffen.“, übersetzte Ariane seine Worte und bekam ein bestätigendes Nicken. Öznur hakte sich bei Eagle unter und steuerte zielsicher auf den zentralen Platz von Karibera zu. „Solange Eagle noch normal ist, ist mir der Rest egal.“ „Glaub mir, nach den letzten Wochen mache ich erstmal einen großen Bogen um Alkohol.“, meinte Eagle und klang sogar ein kleines bisschen beschämt. „Besser so.“ Zufrieden nickte Öznur. Während die Situation beim Gratulieren immer noch ein unangenehmes Gefühl in Carstens Magen hinterließ, schien Ariane mit ihren Gedanken zu Janine abgedriftet zu sein. Bedrückt seufzte sie. „Ich hoffe, Ninie ist gut daheim angekommen.“ „Keine Sorge, Janines Teleportations-Fähigkeiten sind inzwischen sehr gut. Und gerade sie hat doch immer besonders aufgepasst, dass niemand etwas über ihre Kräfte herausfindet.“, versuchte Carsten sie aufzuheitern. Was aber nicht wirklich gelang, wie er besorgt feststellte. Eigentlich gehörte Ariane zu den optimistischsten aus ihrer Gruppe. Schaffte es egal in welcher Situation noch etwas Gutes sehen zu können. Das Licht in der Finsternis. Doch seit der Entführung ihrer Schwester… Laura legte einen Arm und die Schultern ihrer besten Freundin. „Komm schon Nane. Selbst wenn jemand sie angreifen würde… Ninie ist von den Magierinnen die beste im Kämpfen. Ich meine… Bei unserem letzten gemeinsamen Training hat sie selbst Eagle beeindruckt!“ „Das stimmt.“, gab Eagle ihr recht. „Carsten, was zum Teufel hast du mit der Kleinen gemacht, dass sie einen so aggressiven Kampfstil hat?“ Carsten zuckte mit den Schultern. „Gar nichts. Sie hat mich selbst damit vollkommen überrascht.“ „Stille Wasser sind nun mal tief.“, sagte Lissi kichernd, die von allen am wenigsten überrascht von Janines beeindruckenden Kampffähigkeiten war. „Dann muss es sich bei dir wohl um seichte Gewässer handeln.“, kommentierte Anne ihre Aussage bissig. „Hast du immer noch deine Tage, Banani?“ Lissis Kommentar half nicht sonderlich, Annes ohnehin angespannte Laune zu bessern. „Ach, halt die Fresse.“ Öznur seufzte. „Anne, jetzt reiß dich mal zusammen. Gerade heute, an Eagles Geburtstag, kannst du dir deine Zickereien auch mal sparen. Bitte. Wir wollen einfach mal einen schönen Tag haben… Und den ganzen Rest vergessen…“ Aus den Augenwinkeln bemerkte Carsten den gemischten Blick, den Anne Öznur zuwarf. Ärger, Verzweiflung, Einsamkeit und gleichzeitig der Versuch, all diese Gefühle zu verbergen. Vorsichtig wollte er eine Hand auf ihre Schulter legen, doch sie wehrte ihn nur grob ab. Sie durfte sich die Empathie der anderen nicht erlauben. Carsten ballte die Hand zur Faust. Nichts verraten. Es musste ein Geheimnis bleiben. Inzwischen hatten sie den Platz mit dem Marterpfahl erreicht und Eagle hatte recht, es waren bereits alle ‚gut drauf‘. Von dem Misstrauen und den geringen Erwartungen, mit denen Eagle all die Zeit zu kämpfen hatte, war momentan keine Spur zu sehen. Die Indigoner tranken und feierten ausgelassen. Die Gruppen an denen sie vorbeigingen grüßten erfreut, gratulierten Eagle zum Geburtstag, hoben die Krüge und tranken auf seine Gesundheit. Eagle erwiderte die Grüße höflich und freundlich. Aber nicht herzlich, wie Carsten bedrückt feststellte. Diese Distanz kannte er gar nicht von seinem großen Bruder. Was für ihn umso mehr ein Grund zur Sorge war. Das, was Eagle sein ganzes Leben als Kronprinz ausgezeichnet hatte, war die Nähe zu seinem Volk gewesen. Dieses vertraute Verhältnis, was selbst Chief in all seinen Jahren als Häuptling nicht hatte entwickeln können. Doch seit Eagles erzwungen frühem Amtsantritt war dieses Verhältnis erschüttert. Das Vertrauen angeschlagen. Die Nähe musste der Distanz weichen. Nur weil jeder bezweifelte, dass Eagle seiner Rolle als Häuptling gerecht werden könnte. Sogar der Häuptling selbst. Natürlich bemerkte auch Öznur wie erzwungen das Lächeln ihres Freundes war. Wie ihn das fehlende Vertrauen seines Volkes insgeheim immer noch verletzte. Amüsiert beobachtete Carsten, wie sich Öznur mit ihrer immer noch vorhandenen guten Laune in einige Gespräche einklinkte und zum Teil sogar einige Sätze auf Indigonisch sagte. Und noch amüsierter stellte er fest, wie ihre grauenhafte Aussprache die Stimmung auflockerte und selbst Eagle entspannter wurde. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit und unendlich vielen Gesprächen endlich ihr Ziel erreicht hatten, wurden sie bereits von Eagles Freundeskreis in Empfang genommen. „Na endlich, ich dachte schon wir sehen uns nie wieder!“, grüßte Len, der Indigoner mit dem Undercut, die Truppe. Noch während er Öznur mit einem Augenzwinkern zur Begrüßung umarmte, kam Carsten der Gedanke auf, dass er nicht das lange Warten auf das Geburtstagskind eben gerade gemeint hatte. Auch Eagle war das nicht entgangen. „Wie meinst du das denn?“ Namid klopfte ihm auf die Schulter. „Wir sind einfach nur froh, dass du wieder normal bist.“ „Und was soll das bitteschön heißen?!“, fragte Eagle mit einem warnenden Unterton in der Stimme. Kichernd hakte sich Öznur bei ihm unter und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Auch wenn du es nicht zugeben willst: Recht haben sie.“ Eagle schnaubte. „Will mir noch jemand mitteilen, was für ein Arschloch ich die letzte Zeit war?“ Überraschender und lustiger Weise hob tatsächlich Laura ihre Hand, woraufhin Carsten ein Lachen zu unterdrücken versuchte. Versuchte. Eagle seufzte. „Wow, selbst die wohlerzogene Prinzessin, die ansonsten kein Schimpfwort über die Lippen bringt.“ „Carsten würde dir das ja niemals ins Gesicht sagen können. Dann muss ich das halt für ihn übernehmen.“, erwiderte diese wohlerzogene Prinzessin. Lissi kicherte. „Ach Lauch, du musst ihn nicht in Schutz nehmen. Cärstchen gibt Eagle-Beagle schon gehörig kontra, wenn ihm etwas nicht passt.“ Öznur nickte. „Stimmt, Carsten kann ziemlich unangenehm werden, wenn er sauer ist.“ Carsten errötete leicht, wusste aber nicht, was er darauf erwidern konnte. Immerhin hatte Öznur recht… Leider. „Ich wundere mich ja eher, dass Anne sich nicht gemeldet hat.“, sinnierte Ariane nachdenklich. „Stimmt, Banani. Normalerweise nutzt du jede noch so kleine Gelegenheit.“ Entnervt verdrehte Anne die Augen, erwiderte aber nichts darauf. Auch keine Beleidigung, womit der Rest eigentlich insgeheim gerechnet hatte. Und was entsprechend auch einen Grund zur Sorge bei den anderen auslöste. Vorsichtig legte Öznur eine Hand auf Annes Schulter. „Ist alles okay?“ Anne verdrehte die Augen erneut und stieß ihre Hand weg. „Erst wollt ihr das ich die Klappe halte und jetzt fragt ihr mich ob alles okay ist, weil ich die Klappe halte?! Entscheidet euch mal.“ Öznur seufzte. „Nein, wirklich Anne. Ist alles okay?“ „Warum sollte nicht alles okay sein?“ „Na ja… Bitte nimm es uns nicht übel, aber jeder hatte in letzter Zeit den Eindruck, dass etwas nicht stimmt.“, erklärte Laura zögernd, woraufhin Eagle und einige der Mädchen bestätigend nickten. Anne lachte auf, aber dennoch konnte sie die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht komplett verbergen. „Das ist eure größte Sorge zurzeit?“ Dieses Mal war es Susanne, die Anne vorsichtig am Arm berührte. „Bitte Anne, sag, wenn dich etwas belastet. Du weißt, dass du mit uns reden kannst.“ Anne schien etwas darauf erwidern zu wollen, jedoch brachte sie nichts weiter über die Lippen. Für einen Moment dachte Carsten wirklich, dass Anne dem nicht länger standhalten konnte. Beinahe, als wollte sie den Mädchen eigentlich erzählen was los war. Doch letztlich war es der Kopf, der die Oberhand gewann. Nicht das Herz. Und mal wieder überlegte Carsten bedrückt, ob er das Versprechen nicht doch lieber brechen sollte. Wahrscheinlich würde er Anne damit im Endeffekt sogar einen Gefallen tun. Doch gleichzeitig wollte er ihr Vertrauen nicht missbrauchen. Und noch dazu an einem so öffentlichen Ort und direkt vor Eagles Freunden, die eigentlich gar nichts mit ihr zu tun hatten… Letztlich gewann auch Carstens Verstand die Oberhand und er zwang sich widerwillig dazu still zu bleiben. Zum Glück löste sich die Situation von selbst, da Rays „Hey schaut mal, da sind Ana und Elan.“ die Aufmerksamkeit auf sich zog. Sofort breitete sich ein unangenehmes Gefühl in Carsten aus, als er an seine Begegnungen mit Elan dachte. Die Vermutung er trage die Schuld am Tod seines Vaters, die Vorwürfe er wolle insgeheim Eagles Platz einnehmen, … Öznur war eher auf Elans große Schwester fixiert. Wütend ballte sie die Hände zur Faust und Carsten meinte leichte Flammen um sie herum erkennen zu können. „Na warte, diese Schlampe kann was erleben.“ Beschwichtigend legte Eagle eine Hand auf die Schulter seiner Freundin. „Özi, beruhige dich.“ Spöttisch schaute Len Eagle an. „Schon mal darüber nachgedacht, dass dieser Satz noch nie jemanden beruhigt hat?“ Anscheinend war dieser Kommentar ein Insider, denn Eagle seufzte genervt und stellte sich in Öznurs Blickfeld, damit diese nicht auf die Idee kam Ana aus der Ferne in Flammen zu setzen. Was Carsten ihr gerade durchaus zutrauen würde. „Wirklich. Sie ist es nicht wert, dass du dich so über sie aufregst.“, versuchte Eagle sie zu besänftigen. „Aber…“, setzte Öznur an, wusste jedoch selbst nichts darauf zu erwidern. Eagle wollte noch etwas sagen, doch da ebbten alle Gespräche ab und von irgendwoher wurde eine indigonische Musik gespielt. Viele Jugendliche und junge Erwachsene versammelten sich auf dem freien Platz in der Mitte und begannen sich im Rhythmus zu bewegen. Erst jetzt fiel Carsten bewusst auf, dass bis auf der Gruppe aus der Coeur-Academy jeder hier traditionelle indigonische Kleidung trug. Eagle hatte sogar die Federkrone auf. Wie konnte er das nicht bemerkt haben? Und warum hatte Eagle ihnen nicht einfach Bescheid gesagt, sodass sie sich davor hätten umziehen können? Ray, anscheinend kein großer Freund vom Tanzen, stöhnte genervt auf, während Namid belustigt seufzte. „Auf geht’s, die Pflicht ruft.“ „Ich muss ja gestehen, ein bisschen neidisch bin ich schon auf dich, Eagle.“, kommentierte Ray diese Pflicht. Len schob seinen Kumpel in Richtung der tanzenden Indigoner. „Komm, gönn ihm zumindest das.“ Belustigt klopfte Eagle auf Carstens Schulter. „Die Pflicht ruft auch nach dir, Kronprinz.“ Carsten gefiel es immer noch kein bisschen, dass dieser Titel nun an ihn vererbt wurde. Doch bei einem Blick auf die sich im Rhythmus der Musik bewegenden Gesellschaft… „… Ich kenne diesen Tanz gar nicht.“, stellte er irritiert fest. Eagle schien genauso verwirrt. „Red‘ keinen Scheiß, den lernt hier jeder in…“ Plötzlich seufzte er. „In der Mittelstufe.“ Carsten entging es nicht, dass die Mädchen betretene Blicke austauschten. Und auch Eagle schien mal wieder gegen sein schlechtes Gewissen ankämpfen zu müssen. Nachdenklich fuhr sich Carsten über seinen Nacken, der nicht mehr von seinen Haaren verdeckt wurde. Natürlich belastete auch ihn diese Erinnerung daran aber Eagle schien sich das noch mehr zu Herzen zu nehmen… Dabei wollte Carsten das alles doch einfach nur vergessen! Schließlich meinte er versucht witzig: „Ich kann ja improvisieren.“ Eagle warf ihm ein schwaches Lächeln zu und schüttelte den Kopf. Sein Versuch war wohl nicht wirklich geglückt. Während sie den tanzenden Indigonern zuschauten, kam Carsten nicht drum herum die Blicke zu bemerken, welche die Älteren ihnen zuwarfen. Sie waren kritisch und zum Teil sogar leicht abwertend. Blicke die sagten ‚Was machen die denn hier?‘ bis hin zu ‚Die haben hier nichts zu suchen.‘. Nicht nur Carsten fiel dieser Argwohn auf. Auch Laura fühlte sich sichtlich unwohl, so beobachtet zu werden. Sie rieb sich die Oberarme als sei ihr kalt. „Ist es wirklich in Ordnung, dass wir hier sind?“ „Ignoriert sie.“, meinte Eagle nur und funkelte eine der Gruppen verärgert an. „Einerseits wollen die alten Säcke die Vorteile nutzen, die gute Beziehungen zu den anderen Regionen Damons mit sich bringen, andererseits wollen sie für sich leben und eigentlich mit der Außenwelt nichts zu tun haben. Die haben sich gefälligst daran zu gewöhnen, dass Indigo nicht für sich alleine stehen kann.“ Öznur betrachtete ihren Freund irritiert. „Was ist denn aus deinem Nationalstolz geworden?“ „Der stirbt an jedem Tag mehr, den ich mit innen- und außenpolitischen Wünschen und Forderungen verbringe.“ Carsten runzelte die Stirn. „So schlimm?“ Eagle seufzte. „Entweder das, oder ich sehe alles komplizierter als es eigentlich ist. Zumindest scheint die Bereitschaft zu nehmen viel größer zu sein als die Bereitschaft zu geben.“ „Ist das nicht immer so?“, fragte Anne trocken. „Schon. Aber zu erwarten, dass bei einem drohenden Krieg der Rest von Damon Indigo militärische Unterstützung zusichert und gleichzeitig selbst keine Kämpfer zum Schutz anderer Regionen bereitstellen zu wollen, ist einfach scheiße. Besonders, wenn sowas von einer der kampffähigsten Regionen kommt.“ „Wirklich?“ Ungläubig schaute Laura ihn an. Bedrückt atmete Carsten aus. „Traurigerweise ist das noch nicht einmal überraschend. Indigo hat schon immer sein eigenes Ding gemacht. Separate Schulen, spezielle Handelsbeziehungen, … Und wie ihr vorhin gehört habt wird sogar Damisch nicht einmal als Standardsprache vorausgesetzt, sondern erst offiziell ab dem ersten Jahr der Mittelschule unterrichtet.“ Eagle nickte. „Das Damisch vieler Indigoner ist die Hölle, da sie es nie wirklich benötigen und entsprechend selten benutzen. Und gute Damisch-Lehrer in den Schulen sind auch keine Selbstverständlichkeit.“ „So krass ist das bei euch?“, fragte Ariane ungläubig. „Aber deine Freunde sprechen doch alle fließend Damisch.“ „Durch das Internet.“, erklärte Eagle, „Dadurch kommt unsere Generation viel mehr in Kontakt mit dem Rest von Damon als unsere Eltern oder gar Großeltern. Und entsprechend häufiger benutzen wir Damisch auch in unserem Alltag.“ Nachdenklich nickte Öznur. „Es stimmt schon. Ich habe häufiger mitbekommen, dass Leute hier Indigonisch sprechen, obwohl ich dabei bin. Aber so schlecht ist das Damisch von den Indigonern jetzt auch nun wieder nicht.“ „Für Smalltalk vielleicht. Aber wenn es wirklich zu dem Krieg kommt, den Koja vorhergesehen hat, müssen wir berücksichtigen, dass die Sprachbarriere zu einem Problem führen könnte.“ Verwundert schaute Carsten Eagle an. Es war klar, dass er als Häuptling nun viel besser über Vorgänge Bescheid wusste, die im Hintergrund abliefen. Aber… „Ihr trefft jetzt schon Vorbereitungen für einen möglichen Krieg?“, sprach Susanne schaudernd seine Gedanken aus. „Mein Vater hat schon vor Monaten angefangen mit den Stammesoberhäuptern Pläne für alle Eventualitäten durchzusprechen.“, erwiderte Eagle zerknirscht. Natürlich war Carsten nicht sonderlich überrascht über diese Neuigkeit. Immerhin bereiteten sie sich im Prinzip schon seit Beginn diesen Jahres auf die kommende Konfrontation mit Mars vor. Und unbewusst geschah all dies sogar bereits seit Bennis Geburt. Seit feststand, dass Mars die Möglichkeit hätte den Bann zu brechen. Und trotzdem… Es war seltsam zu hören, wie sein großer Bruder über Kriegsvorbereitungen sprach. Bedrückt atmete Carsten aus. Natürlich war er sich dessen bewusst, dass Mars eine Bedrohung für ganz Damon darstellte. Genau genommen für die ganze Welt. Aber dennoch hatte er die Lösung des Problems immer nur bei sich und dem Rest ihrer Gruppe gesehen. Sie mussten kämpfen. Sie mussten Mars besiegen. Sie mussten die Welt vor der Zerstörung bewahren. Aber der Rest? Bereits jetzt mussten schon viel zu viele Außenstehende unter Mars leiden. Eltern, Geschwister, … Es wirkte schon so wie die Erzählungen von den Dämonenverfolgungen vor über zwölf Jahren. Carsten hatte erst neulich mitbekommen, wie Susanne bei einem Telefonat mit ihren Eltern sicherstellte, dass ihr Vater auch ja die Sicherheitsvorkehrungen erhöht hatte. Und so sorglos sich Öznur momentan Eagle zuliebe gab, auch sie hatte schlaflose Nächte. Nächte, in denen sie sich den Kopf darüber zermarterte wie sie ihre Familie vor den Launen des Herrschers der Zerstörung beschützen könnte. Und als wäre das nicht genug wussten sie durch Konrad, dass Mars eine Armee zusammenstellte. Eine Armee, die es sicherlich nicht nur auf die Dämonenbesitzer abgesehen hatte. Und die sie niemals alleine würden bezwingen können. Bedrückt betrachtete Carsten seinen großen Bruder. Er würde nicht nur Seite an Seite mit ihnen gegen den Herrscher der Zerstörung kämpfen müssen. Viel schlimmer war, dass eine seiner ersten Aufgaben als Häuptling es sein würde, sein Volk in einen Krieg zu schicken. Von seinen Entscheidungen würde es abhängen, wer überlebte und wer starb… Plötzlich erwiderte Eagle seinen Blick. „Was ist?“ Carsten schüttelte den Kopf. „Nichts.“ Eagle befasste sich wahrscheinlich ohnehin bereits mehr mit diesem Thema, als ihm lieb war oder gut tat. Dem Schweigen zu urteilen dachte auch der Rest der Mädchen an etwas derartiges. Doch niemand von ihnen wollte es zur Sprache bringen. Nicht heute. „Endlich habe ich dich gefunden!“, hörte Carsten eine erfreute Kinderstimme über die rhythmische Musik hinweg rufen. Als er sich umdrehte sah er Saya auf die Gruppe zukommen, die ein junges Mädchen an der Hand führte. Sie schien im Grundschulalter, hatte rotbraunes, strubbeliges Haar und blassblaue Augen. Doch am auffälligsten war der kleine hübsch verzierte Blindenstock, den sie in ihrer freien Hand hielt. „Hallo Risa.“, grüßte Eagle das kleine Mädchen freundlich und ging in die Hocke, um auf ihrer Augenhöhe zu sein. Diese wünschte ihm beschwingt „Alles Gute zum Geburtstag!“ und sprang ihm so gezielt in die Arme, dass Carsten sich direkt fragte, ob sie wirklich blind war. Amüsiert stellte Carsten fest, dass Eagle erstaunlich gut mit Kindern umgehen konnte. Während er Risa mit einem Arm hochhob, die fasziniert über die Federn seiner Krone strich, erklärte Saya: „Sie hat anscheinend schon der Hälfte aller Besucher ein Loch in den Bauch gefragt, wo du zu finden seist.“ „So dringend wolltest du mir zum Geburtstag gratulieren? Jetzt bin ich aber geschmeichelt.“, alberte Eagle und Risa kicherte. „Nö, ich hab dich nur gesucht, um deinen Bruder zu treffen!“ Eagle schnaubte gespielt beleidigt. „Musst du das auch noch so direkt sagen?“ Risa blies die Backen auf und hob den kleinen Finger ihrer linken Hand. „Du hattest es mir versprochen. Du sagtest“, sie imitierte Eagles tiefe Stimme so gut es ihr mit ihrer hohen Kinderstimme möglich war, „Morgen kommt er zu Besuch und dann werde ich ihn dir endlich mal vorstellen.“ „Ja, das hab ich wohl gesagt.“, erwiderte Eagle seufzend und lachend zugleich. Begleitet von belustigten Blicken der übrigen Beobachter verstärkte Eagle seinen Griff um Risa und hielt sie Carsten entgegen, als sei sie eine kleine Katze und kein kleines Mädchen. „Da.“ „Hä?“ Bei Carstens planloser und doch nicht wirklich vorhandener Reaktion wich die Belustigung einem lauten Gelächter. „Carsten Risa, Risa Carsten.“, stellte Eagle sie gegenseitig vor, während er das Mädchen immer noch vor Carstens Nase hielt. Risa schien das nicht sonderlich zu stören, da sie begeistert eine Hand hob und meinte: „Hallo Carsten! Freut mich, dich kennenzulernen!“ „Ähm… hallo…“, stammelte Carsten vollkommen überfordert. So gut Eagle im Umgang mit kleinen Kindern war, so wenig konnte Carsten mit ihnen anfangen. Selbst als er einst in diesem Alter war, hatte er eigentlich nur mit Benni und Laura tatsächlichen Kontakt gehabt. Die restlichen seiner Altersgenossen waren ihm immer viel zu wild und unzivilisiert gewesen. Ständig tobten sie herum, wälzten sich im Dreck und machten ohrenbetäubenden Lärm. Richtige Unterhaltungen konnte man auch nicht wirklich mit ihnen führen und- „Jetzt nimm sie schon.“, unterbrach Eagle Carstens Gedankenschwall und drückte ihm Risa in die Arme. Ein schmerzhaftes Stechen durchzuckte seine linke Seite. Das Mädchen war schwerer als es aussah und diese plötzliche Belastung… Vorsichtig verlagerte er Risas Gewicht auf seine rechte Seite, in der Hoffnung das brennende Gefühl würde bald aufhören. Der Rest hatte zum Glück nichts davon mitbekommen, sondern hatte nach Beendigung der Musik bereits die Aufmerksamkeit auf die Tanzfläche gerichtet. Von dort kam direkt Rays erlöst klingendes „Eeeendlich!“ „Ach komm, so schlimm war’s doch nicht.“, kommentierte Eagle. Wütend funkelte Len ihn an. „Halt du einfach die Klappe.“ Derweil wandte sich Namid an Carsten und das kleine Mädchen auf seinen Armen, welches vorsichtig sein Gesicht abtastete als würde sie sich so ein Bild von ihm machen können. „Hallo Risa. Wie ich sehe hast du endlich deinen großen Helden kennenlernen dürfen.“ Während Risa begeistert nickte und die Mädchen erneut lachen mussten, fragte Carsten verwirrt: „Helden?“ Amüsiert deutete Namid mit dem Daumen auf Eagle. „Als du damals verhindert hast, dass der da bei seinem Wutausbruch die ganze Bar auseinandernimmt, hat das ganz schön Eindruck hinterlassen. Risa liegt Eagle seitdem regelmäßig in den Ohren, er solle doch endlich mal wieder seinen kleinen Bruder mitbringen, damit sie ihn kennenlernen kann.“ „Ooooh, wie süüüß!“, quietschte Lissi begeistert. „Cärstchen, du hast eine kleine Verehrerin!“ „Ähm…“, druckste Carsten und wusste nicht wirklich etwas darauf zu erwidern. Lachend stieß Öznur Eagle mit dem Ellenbogen in die Seite. „Man muss ihn halt einfach liebhaben, nicht wahr?“ „Wenn du meinst…“ Erneut pikste sie ihm in die Seite. „Komm schon, sag einfach ‚ja‘.“ Mehr als ein genervtes Seufzen bekam Öznur allerdings nicht von Eagle zu hören. Stattdessen meinte Ray empört: „War aber ziemlich feige von unserem Helden, sich vor dem traditionellen Tanz des Erwachsenwerdens zu drücken.“ „Aber wenn man verletzt ist, darf man doch gar nicht tanzen!“, mischte sich plötzlich Risa ein. Der Rest schaute sie verwirrt an. Jeder außer Carsten, dem mit einem Schlag alles Blut aus dem Gesicht wich. Sein Herzschlag setzte aus. Woher- „Tut’s sehr weh?“, erkundigte sich Risa und berührte vorsichtig seine linke Wange. Ungläubig erwiderte Carsten Risas blinden Blick. „Ich… Es… Nein, nein, es ist alles in Ordnung.“, stammelte er. Doch so wie sie den Kopf schief legte, schien sie seiner Aussage nicht wirklich Glauben zu schenken. „Du musst mich übrigens nicht tragen, wenn es dir zu anstrengend ist.“ Carsten wollte erneut widersprechen, doch Risa wurde tatsächlich von Sekunde zu Sekunde schwerer. Es war bereits so anstrengend sie zu halten, dass sich kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten. Vorsichtig ging er in die Hocke, um Risa auf dem Boden absetzen zu können. Doch selbst als diese Last weg war, lastete noch eine seltsame Schwere auf ihm. Das erdrückende Gefühl aller neugierigen und besorgten Blicke, die sich allesamt nur auf ihn richteten. Darunter der von Laura. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, ja. Ich bin nur noch etwas erschöpft von der Erkältung.“ Carsten versuchte so normal wie möglich zu klingen. Doch als er es endlich schaffte in die Augen der anderen zu schauen, war das Misstrauen nicht zu übersehen. „Carsten, du bist kein guter Lügner. Also lass es.“, meinte Eagle nur und kniete sich zu ihm und Risa. „Was ist los?“ „Ich…“ Er wusste nichts darauf zu erwidern. Die Luft um ihn herum fühlte sich unangenehm warm und schwer an, sodass er kaum atmen konnte. „Diese Verbrennungen von dem Ritual… Sie sind wirklich noch nicht verheilt, nicht wahr?“, hörte er Laura verunsichert fragen. Unbewusst hielt sich Carsten den linken Arm. Als könne er damit die Brandwunden endgültig verbergen. Als könne diese eine Geste das bewirken, wozu noch nicht einmal eine Jacke und Magie imstande war. Eagle klang sichtlich verletzt, als er fragte: „Warum hast du nichts gesagt?! Warum versteckst du deine Verletzungen vor uns?!“ Carsten öffnete den Mund, brachte aber kein Wort über die Lippen. Eagles gekränkter Tonfall, der enttäuschte Blick… „Weil du der Held bist, nicht wahr?“ „Was?“ Verwirrt schaute er Risa an. Diese berührte erneut vorsichtig die linke Seite seines Gesichtes. „In den Geschichten sind die Helden immer stark und schlau und beschützen die Unschuldigen vor dem Bösewicht. Dafür werden sie von allen bewundert und geliebt. Aber Mama meinte, dass niemand sieht, wie sehr die Helden in Wahrheit leiden. Weil sie ständig stark sein müssen, um beschützen zu können.“ „So ein Unsinn.“ Carsten tat diese banale Erklärung mit einem Kopfschütteln ab. „Und warum dann?!“ Eagles Tonfall wurde noch verärgerter, klang noch enttäuschter. Er griff nach Carstens Arm und obwohl die Berührung vorsichtig und in keiner Weise grob war, zuckte Carsten bei dem plötzlichen Schmerz zusammen. Durch seinen Kopf zuckten Bilder. Erinnerungen an ähnliche Schmerzen. Jacks Angriff. Die Brandstrafen im FESJ. Der Geruch verbrannter Haut stieg in seine Nase, ihm wurde übel. Er wollte sich von Eagle losreißen, war aber zu schwach dazu. Sein pochendes Herz drohte ihm die Brust zu zersprengen. „Carsten, beruhige dich!“ Eagle verstärkte seinen Griff, was den Schwindel umso schlimmer machte. Er fühlte sich gefangen. Schon wieder. Wieder gefangen in Schmerz und Verzweiflung. Er spürte eine kleine, kühle Hand auf seiner verschwitzten Stirn. „Hast du Fieber?“ Carsten zwang sich die Augen zu öffnen und sah Risas blinden Blick auf sich ruhen. „Nein aber… ich… keine… Luft…“, versuchte er gepresst zu antworten. „Dann musst du atmen.“, antwortete Risa ruhig, als müsse er diese grundlegende Fähigkeit erst noch lernen. Was gar nicht weit von der Realität entfernt war. Risas Anweisungen folgend atmete Carsten langsam ein und aus, bis der Schwindel sich legte und das Zittern seiner Hände abnahm. Zurück blieb die Erschöpfung und das immer erdrückendere Gefühl der besorgten Blicke. Er spürte Sayas Hand auf seinem Rücken, als auch sie sich zu ihm auf den Boden kniete und fragte: „Carsten, kommt sowas häufiger vor?“ Carsten antwortete nicht. Auch Laura setzte sich zum ihm auf den Boden und berührte vorsichtig seinen Handrücken. „Carsten?“ Als er auch darauf nicht reagierte, richtete Eagle sich kopfschüttelnd auf und antwortete an den Rest gewandt: „Das ist die zweite Panikattacke innerhalb weniger Wochen, die ich mitbekommen habe. Aber ein gewisser jemand weigert sich einzusehen, dass er unbedingt Hilfe braucht.“ Zerknirscht verschränkte er die Arme vor der Brust. „Vielleicht hört er ja auf einen von euch.“ „Ich brauche keine Therapie.“, widersprach Carsten seinem großen Bruder matt. Eagle seufzte. „Seht ihr?“ „Möchtest du es nicht zumindest versuchen?“, schlug Susanne vorsichtig vor. „Wenn du denkst es bringt nichts, kannst du die Therapie doch einfach abbrechen.“ Laura nickte und warf Carsten ein versucht aufheiterndes Lächeln zu. „Susi hat recht. Du erinnerst dich doch an Jannik, oder? Er hatte ja mal gemeint, dass seine Mutter Therapeutin ist. Du könntest vielleicht einfach mal mit ihr reden und-“ „Nein!“ Bei seinem schroffen Tonfall zuckten Susanne und Laura erschrocken zusammen. Doch gleichzeitig schwang in seiner Stimme eine verräterische Panik mit, die niemandem entgehen konnte. Betreten atmete Öznur aus. „Das ist ja noch krasser, als ich dachte…“ „Carsten, bitte!“, flehte Laura und klammerte sich an den Stoff seiner Jeansjacke. „Ich brauche keine Hilfe!“ Carsten riss sich von ihr los und richtete sich stolpernd auf, um Abstand zwischen sich und dem Rest zu bekommen. Erneut begann sein Herz zu rasen. Warum war jeder so versessen darauf ihn in eine Therapie zu stecken? Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen?! „Du klingst schon so wie Benni.“, meinte Laura frustriert, den Tränen nahe. „Das ist was anderes.“ „Nein, ist es nicht!“ Auch Laura war aufgesprungen und funkelte ihn aus ihren schokoladenbraunen Augen an. „Warum denkt jeder von euch, dass das keine große Sache ist?! Warum glaubt ihr, dass ihr alleine damit fertig werdet?! Ist es wirklich so schlimm, um Hilfe zu bitten?!?“ „Laura, ich…“ Frustriert wischte sich Laura mit dem Handrücken über die Augen. „Du hast die Folgen doch selbst gesehen. Du hast gesehen was passiert, wenn man sich nicht helfen lässt…“ „Ich bin aber nicht Benni!“ „Nein, stimmt. Du bist noch schlimmer als er!“, schrie sie verzweifelt. „Du-“ Ihre Worte verstummten, als Ariane eine Hand auf ihre Schulter legte und mit einem Kopfschütteln sagte, dass es nun reiche. Verbissen wandte Laura den Blick ab und zwang sich zur Ruhe. „Ist es vielleicht wegen der schwarzen Magie?“, äußerte Ariane ihre Vermutung. „Du meinst, dass sie eine Art Verstärker für negative Erinnerungen und Emotionen ist?“, vergewisserte sich Susanne. Nachdenklich nickte Anne. „Ich kann mich zumindest nicht daran erinnern, dass Carsten schon so extrem damit zu kämpfen hatte, bevor er schwarze Magie lernen musste.“ „Was hatte Konrad dir denn so erzählt? Als du ihn darüber gefragt hattest?“, erkundigte sich Öznur an Eagle gewandt. „Nur, dass die Auswirkungen von Person zu Person verschieden sein können. Und dass am Ende jeder, der regelmäßig schwarze Magie verwendet…“ „… den Verstand verliert.“, beendete Laura betreten seinen Satz. Len fuhr sich durch die kurzen Stoppeln seines Undercuts. „Krass, ich hätte nie im Leben erwartet, dass Magie so schlimme Auswirkungen auf den Zauberer selbst haben kann.“ Eagle seufzte bedrückt. „Wem sagst du das…“ Geräuschvoll atmete Ariane aus und ging auf Carsten zu, um vorsichtig seine rechte Hand in ihre zu legen. Erneut beschleunigte sich Carstens Herzschlag, doch dieses Mal war keine Panikattacke die Ursache. Nicht wirklich zumindest. Er versuchte das beklemmende Gefühl herunterzuschlucken, während er es kaum schaffte, Arianes Blick standzuhalten. „Wie wäre es damit:“, schlug sie vor, „Wir schieben das alles erst einmal auf die schwarze Magie und schauen, ob es sich im Laufe der Zeit verbessert, da du ohnehin schwarze Magie-Verbot von uns bekommen hast. Wenn das wirklich der Fall ist, können wir uns beruhigt zurücklehnen. Wenn es aber nicht oder nur kaum besser wird, werden wir es mit einer Therapie versuchen. Wäre das okay für dich?“ Verlegen wich Carsten Arianes Blick aus. Er würde niemals ‚Nein‘ sagen können. Nicht zu ihr. Also was blieb ihm anderes übrig? Seine Antwort war nichts weiter als ein schwaches Nicken und dennoch war die Erleichterung der anderen nicht zu übersehen. Nur Risa schien nicht sonderlich zufrieden gestellt. „Du musst es versprechen!“, forderte sie ihn auf und hob den kleinen Finger ihrer linken Hand. Unmittelbar schoss Carsten das Blut in den Kopf. Lissi stemmte grinsend die Hände in die Hüften. „Jap, Cärstchen sollte definitiv den kleinen Finger-Schwur machen. Sonst macht er am Ende noch einen Rückzieher.“ „Was ist das?“, fragte Ariane verwirrt. Irritiert schaute Laura sie an. „Du kennst ihn nicht? Na ja, man verhakt die kleinen Finger miteinander und verspricht sich etwas. Und wenn jemand das Versprechen bricht, muss dieser sich den kleinen Finger abschneiden.“ Ariane runzelte die Stirn. „Wer macht denn bitteschön solche Versprechen?“ Der Rotton auf Lauras Wangen war für sie wohl Antwort genug. Belustigt wandte sich Ariane wieder Carsten zu, dessen Wangen ein noch tieferes Rot angenommen hatten. Doch sie klopfte ihm nur aufmunternd auf die rechte Schulter. „Keine Sorge, ich will deinen kleinen Finger nicht als Versicherung.“ Mit ernsterer Stimme fuhr sie fort: „Aber trotzdem… Bitte versprich mir, dass du dir Hilfe holst, wenn es nicht besser wird.“ Wie zuvor schon war das einzige, was Carsten zustande brachte, ein schwaches Nicken. Während Lissi, Risa und einige der anderen Mädchen -und sogar Eagle- hörbar enttäuscht über diese Art des Versprechens waren, schüttelte Ariane lediglich seufzend den Kopf. Dieses Mal berührte sie vorsichtig Carstens linke Hand und betrachtete den Handrücken. „Aber hör dafür bitte zumindest damit auf, deine Wunden vor uns zu verstecken. Laura hat schon recht. In dem Punkt bist du tatsächlich schlimmer als Benni…“ Wieder schaffte Carsten es nicht Arianes Blick zu erwidern. Ein Blick, so freundlich, fürsorglich und doch voller Sorge. Unmittelbar kam in ihm die Frage auf, ob er sie überhaupt verdient hatte. Er trug so viele Probleme mit sich herum, mehr als er den anderen oder gar sich selbst eingestehen wollte. Könnte das überhaupt jemals eine harmonische Beziehung werden? Oder hätte sie irgendwann die Schnauze voll von ihm? Überrascht stellte Carsten fest, dass normalerweise Laura prädestiniert für solche Zweifel war. Verbittert lachte Carsten in sich hinein. Er war nicht nur schlimmer als Benni. Er war noch dazu auch schlimmer als Laura. „Carsten?“ Arianes Stimme holte ihn aus seinen trüben Gedanken zurück. Sie wartete wohl immer noch auf eine Reaktion von ihm. Zitternd atmete Carsten aus und schloss die Augen. Versuchte sich zu konzentrieren. Was nicht sonderlich einfach war, bei den ganzen Blicken, die auf ihn gerichtet waren. Merkte denn keiner wie unwohl er sich dabei fühlte? Oder war es ihnen einfach egal? Carsten konzentrierte sich auf seine linke Körperhälfte. Den Arm, die Schulter, den Hals hinauf bis zum Gesicht. Er stellte sich vor eine Folie abzuziehen. Als sei es eine dünne Schicht Haut, die er sich erschaffen hatte, um die Verbrennungen darunter zu verstecken. Als er die Augen öffnete war diese Hautschicht verschwunden. Er konnte die Verletzungen nicht mehr vor den Blicken der anderen verbergen. Blicke voll von Besorgnis, Beklemmung und auch Entsetzen. „Das ist ja kaum verheilt bisher…“, stellte Öznur betreten fest. Laura strich sich eine Strähne hinters Ohr und schaute auf den Boden. „Das ist genauso wie Bennis Verbrennungen damals…“ Bedrückt atmete Susanne aus. „Na ja, sie sind durch ein Ritual entstanden. Und Carstens Regenerationsfähigkeiten sind nicht so gut wie… wie zum Beispiel Bennis.“ „Trotzdem…“ Eagle wandte sich an Susanne. „Kann man da nichts machen? Kannst du nicht den Heilprozess irgendwie beschleunigen?“ Selbst ohne die Erwähnung von Energie wich Susanne Eagles bittendem Blick aus und schüttelte den Kopf. Sie schien die Folgen ihrer Prüfung wohl immer noch nicht verkraftet zu haben. Und dabei lag diese fast ein halbes Jahr in der Vergangenheit. Auch der Rest schien dies zu merken und hielt es für die beste Entscheidung, Susanne nicht weiter zu drängen. Stattdessen richtete sich erneut alle Aufmerksamkeit auf Carsten und wieder breitete sich ein unwohles Gefühl in seinem Magen aus. Er hasste es im Mittelpunkt zu stehen. Besonders in solchen Situationen. „Aber warum hast du die Verbrennungen überhaupt vor uns versteckt?“, fragte Ariane. Die leichte Enttäuschung in ihrer Stimme machte es noch schlimmer. „Na ja… Gerade im Gesicht ist das nicht gerade… unauffällig. Die anderen…“, stammelte er sich eine Antwort zurecht. Trotzdem schien er sie damit nicht wirklich zufriedenstellen zu können. Laura am allerwenigsten. „Dass du sie vor den Blicken der anderen versteckst verstehe ich ja. Aber vor uns? Du hättest doch zumindest etwas sagen können!“ Bedrückt schaute sie Carsten an. „Vertraust du uns so wenig?“ „Wa- Nein!“, widersprach er hastig. „Ich- es ist- ich wollte nur…“ Doch eine richtige Erklärung fand er trotzdem nicht. Ja, warum eigentlich? Warum schaffte er es nicht einfach mal den Mund aufzumachen und zu sagen, was los war? Carstens flüchtiger Blick schweifte über Laura, Eagle und Ariane. Vielleicht, weil wir schon mehr als genug Sorgen haben., vermutete er beklommen. Im Vergleich dazu sind meine Probleme… „Aber du kümmerst dich schon darum, dass deine Verbrennungen heilen. Oder?“, erkundigte sich Ariane. Carsten runzelte die Stirn. „Natürlich.“ Und das war wirklich nicht gelogen. Der Rest schien erleichtert aufzuatmen. „Zumindest etwas.“, meinte Eagle lediglich. Ariane seufzte auf und lies Carstens linke Hand endlich los, die durch die ganze Nervosität bereits schweißnass war. „Sag mir jetzt aber nicht, dass wir bei dir die ganze Zeit Sherlock Holmes spielen müssen.“ „Das würde zumindest erklären, warum Benni schon immer gerne Detektiv Conan gelesen hat.“, kommentierte Laura. „Das macht es gerade irgendwie nicht wirklich besser.“, erwiderte Ariane daraufhin. Geräuschvoll atmete Eagle aus und ging zu Carsten, um ihm einen Arm um die Schultern zu legen. Wobei er trotzdem darauf achtete, die linke Seite möglichst unberührt zu lassen. „Wir werden schon noch alles aus dir rauskitzeln, auch ohne einen Detektiv.“ Belustigt verschränkte Ray die Arme vor der Brust. „Ist das deine Art, jemandem Hilfe anzubieten?“ „Ach, bei nem großen Bruder muss das wie ne Morddrohung klingen.“, witzelte Len. Öznur verdrehte die Augen. „Oh glaubt mir, so liebevoll sind nicht nur große Brüder.“ Während sich Öznur darüber beschwerte, wie penetrant ihre großen Schwestern damals versucht hatten sie mit irgendwelchen ‚heißen Typen‘ zu verkuppeln, wandten sich Laura und Ariane wieder Carsten und Eagle zu. Dieses Mal war es Laura, die Carstens Hand nahm und ihm aufmunternd zulächelte. „Selbst wenn du uns nicht alles erzählen möchtest… Oder kannst… Ich hoffe du weißt, dass wir für dich da sind… Also, falls du…“ Den Rest sprach Laura nicht aus. Brauchte sie auch gar nicht. Stattdessen war es Eagle, der seinen Griff um Carstens Schultern verstärkte. „Du bist nicht allein.“ Carsten senkte den Blick und schluckte ein paar Tränen runter. Hatte sein großer Bruder mit Absicht die Worte verwendet, die Carsten ihm die letzten beiden Wochen so häufig gesagt hatte? „Ich weiß…“, war das einzige, was er mit schwacher Stimme erwidern konnte. Kapitel 75: Schatten der Vergangenheit -------------------------------------- Schatten der Vergangenheit Am nächsten Tag wachte Susanne bereits mit einem unwohlen Gefühl auf. Sie wusste nicht was es war, aber irgendetwas stimmte nicht. Mit dieser bedrückten Vorahnung schaute sie sich im Zimmer um, doch sowohl Lissi als auch Öznur schienen friedlich zu schlafen. Es war immer noch seltsam Öznur bei sich im Zimmer zu haben, und nicht mehr Janine, wie es ursprünglich der Fall war. Zwar hatten die beiden durch den Streit zwischen Öznur und Anne die Zimmer getauscht, aber obwohl nun alles ausgesprochen und in Ordnung war, hatten sie die Zimmeraufteilung seitdem nicht mehr rückgängig gemacht. So lautlos wie möglich schlich Susanne ins Bad, wo sie sich nur die Zähne putzte und die Schuluniform anzog, um den Rest nicht zu wecken. Sie bevorzugte es ohnehin abends zu duschen, da musste sie die Mädchen nicht jetzt schon versehentlich wecken. Wobei die beiden ohnehin einen recht tiefen Schlaf hatten. Bei Janine war das etwas anderes gewesen. Sie war häufig aufgewacht, wenn Susanne sich versucht hatte aus dem Zimmer zu schleichen, um zu frühstücken. Fröstelnd zog sie ihr Jackett fester um sich, was den kühlen Wind auf dem großen Platz jedoch auch nicht wärmer zu machen schien. Der Sommer war nun wohl endgültig gegangen. Noch während sie auf den Mensaturm zusteuerte, öffnete sich die Eingangstür und Anne und Carsten verließen das Gebäude. Sie schienen Susanne direkt entdeckt zu haben und kamen schnellen Schrittes auf sie zu. Noch bevor Susanne dazu kam den beiden einen guten Morgen zu wünschen, fragte Carsten: „Susi, hast du Janine gesehen?“ Susannes Herz setzte aus. Was hatte Carsten da gesagt? „… Nein… Wieso?“ „Sie ist gestern Abend nicht mehr zurückgekommen.“, erklärte Anne zerknirscht. „Ich dachte, sie wollte vielleicht noch etwas mehr Zeit bei ihrer Mutter verbringen, aber vorhin war sie auch nicht im Zimmer.“ „Und beim Frühstück auch nicht.“, ergänzte Carsten. Alles Blut wich aus Susannes Gesicht. Die Jacke war gar nicht mehr dazu in der Lage, dem eisigen Wind Einhalt zu gebieten. „Was?“, fragte sie schwach. „Denkt… Denkt ihr, dass etwas…“ Sie wagte es gar nicht, diese Frage aussprechen zu müssen. „Bei einer Region wie Mur kann man sich nie sicher sein.“, antwortete Anne ehrlich. „A-aber…“ Verzweifelt suchte Susanne nach anderen Orten, wo sich Janine aufhalten könnte. „Was ist mit den Stallungen? Seit Benni weg ist, kümmert sie sich doch immer mal wieder um die Einhörner. Oder die Küche?! Vielleicht hat sie Frühstücksdienst! Oder sie fühlte sich nicht so gut und ist in den Krankensaal! Oder-“ Sanft legte Carsten eine Hand auf ihre Schulter und unterbrach somit Susannes immer panischer werdende Erklärungsversuche. Es durfte nichts passiert sein. Janine durfte nichts passiert sein! „Wir haben den Campus noch nicht abgesucht.“, meinte er und fügte hinzu: „Wir wollten erst die anderen wecken, damit sie helfen können.“ Susanne atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. „Gute Idee…“ Anne warf Carsten einen Blick zu. „Wir wecken den Rest. Du kannst ja schon mal in der Küche nachschauen.“ Dieser nickte. „Ich rufe dich an, sollte ich sie finden.“ Während Carsten wieder auf das Hauptgebäude zusteuerte, kehrten Susanne und Anne schweigend zum Mädchenhaus zurück. „Glaubst du, wir finden sie?“, fragte Susanne hoffnungslos, konnte sich Annes Antwort aber schon denken. „… Ich hoffe es.“, meinte diese wie erwartet. Zu direkt und ehrlich, um auch nur annährend hoffnungsschöpfend zu sein. Susanne wusste nicht, warum sie sofort so besorgt war. Wobei… Eigentlich konnte sie es sich denken. Dieses seltsame Gefühl vorhin gepaart mit all den anderen bedrückenden Ereignissen in letzter Zeit… Bei einer Treppenstufe blieb Susanne stehen und merkte, wie die Hand, die sie aufs Geländer gelegt hatte, leicht zitterte. „Ich habe solche Angst um sie…“ „Das wird dir aber nicht helfen, sie zu finden.“ Wieder war Annes Kommentar direkter als erwünscht. Susanne schluckte schwer. „Ich weiß…“ Die restlichen Mädchen waren hellwach als Susanne und Anne ihnen die Situation erklärten. Wahrscheinlich hätten sie gar nicht lange warten müssen, bis der Rest angezogen war. Doch die Anspannung und Unruhe sorgte dafür, dass Susanne das Mädchengebäude direkt wieder verließ und gemeinsam mit Anne zu den Stallungen eilte. „Hier ist sie nicht!“, stellte Susanne vor Ort verzweifelt fest. Anne warf einen Blick auf ihr Handy. „In der Küche und im Krankensaal ist wohl auch Fehlanzeige.“ Hastig kramte Susanne ihr eigenes Smartphone heraus und rief ihre Schwester an. „Lissi, wo bist du? Hast du Ninie gefunden?!“ Die Sorge nahm zu. Und mit ihr auch die Panik. „Nein, Susi. Tut mir leid.“ Lissis Stimme klang bedrückter als es Susanne lieb war. „Weder Ariane noch ich können so etwas in der Art wie eine Fährte aufnehmen, die frisch zu sein scheint. Und hören kann Öznur sie auch nicht. Wie ist es bei euch?“ „Nein… Nichts…“ Kraftlos lehnte sich Susanne gegen einen Holzpfeiler. Sie wusste, wenn Lissi auf Spitznamen verzichtete… Anne nahm Susanne das Handy aus der Hand. „Carsten ist gerade zu den Direktoren gegangen, Frau Bôss scheint bereits im Büro zu sein.“ „Dann treffen wir uns dort.“, hörte Susanne Lissi vom anderen Ende der Leitung sagen und legte auf. „Wir sollten auch gehen.“, meinte Anne und gab Susanne das Handy zurück. Welches ihr direkt aus den zitternden Händen gefallen wäre, wenn Anne nicht schnell genug reagiert hätte. Mit einem schwachen Danke steckte Susanne das Handy in die Jackett-Tasche, ehe es ihr erneut aus den Fingern rutschten konnte. Dennoch hatte sie irgendwie den Eindruck, sich vor Anne rechtfertigen zu müssen. „Entschuldige… Ich weiß, ich sollte mich zusammenreißen. Zumindest bis wir wissen, was wirklich der Fall ist. Aber… es fällt mir so schwer. Ich glaube, dass sie… Dass…“ Schluchzend wischte sich Susanne eine Träne aus den Augen. „Wir werden sie schon finden.“ Anne legte eine Hand auf ihre Schulter. Susanne schluchzte erneut. „Glaubst du wirklich?“ „Ja. Und selbst wenn nicht, dann…“ Anne brach ab, doch sie beide wussten, was sie sagen wollte. Ein Gedanke, der auch schon ihr selbst in den Sinn gekommen war. Sollten sie Janine wirklich nicht finden, dann wäre es immer noch möglich, dass Carsten- Susanne erwiderte Annes Blick. Der Zwiespalt in ihren Augen war derselbe, den auch sie selbst empfand. Sie beide wussten: Würden sie den Observationszauber auch nur andeuten, würde sich Carsten sofort bereit erklären. Egal was für Folgen das für ihn haben könnte. Aber war es das wirklich wert? Wollten sie wirklich seine psychische Gesundheit aufs Spiel setzen, nur um Gewissheit zu haben? Um das herauszufinden, was wahrscheinlich jeder insgeheim schon vermutete? Und dabei konnten sie die Auswirkungen bereits jetzt sehen. Sie alle hatten mitansehen müssen, was für einen Tribut diese paar Rituale der schwarzen Magie jetzt schon forderten. Susanne schauderte, als sie an Carstens Panikattacke vom Vortag zurückdachte. Sie wusste nicht, ob es Einbildung gewesen ist, oder ob sie durch ihre Energie tatsächlich wahrnehmen konnte, was Carsten gespürt hatte. Die Atemnot, das Gefühl das Herz in ihrer Brust würde zerspringen, die kochende Hitze, … Und dieser Geruch. Dieser furchtbare, widerliche Geruch. Begleitet von diesem lähmenden Schmerz… Susanne schüttelte den Kopf und zwang sich in die Gegenwart zurück. Sollte dies wirklich der Tribut sein, den schwarze Magie forderte… Sie durften nicht zulassen, dass Carsten so etwas auf sich nahm. Sie atmete tief durch. „Wir müssen sie finden.“ Anne nickte, erwiderte ansonsten aber nichts darauf. Sie wirkte trotz allem nicht sonderlich überzeugt. Eher das Gegenteil war der Fall. Vorsichtig nahm Susanne Annes Hand, die immer noch auf ihrer Schulter lag. „Ist wirklich alles in Ordnung?“ Anne seufzte und zwang sich zu einem Lächeln. „Du meinst bis auf das gerade?“ „Anne, rede mit mir!“, flehte Susanne sie an. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte. Jeder wusste es! Lissi schien sogar eine konkrete Vermutung zu haben, doch sie weigerte sich, diese mit ihr zu teilen. Mit ihrer eigenen Zwillingsschwester. „Bitte, ich möchte dir doch helfen. Sag was los ist!“ Einen Moment länger hielt Anne ihrem Blick stand. Einen kleinen Moment, in dem Anne es nicht schaffte, die eigene Angst und Verzweiflung in den nachtblauen Augen zu verbergen. Doch dann wandte sie sich abrupt ab. „Du solltest gerade andere Sorgen haben.“ Susanne verstärkte ihren Griff um Annes Hand. Es tat ihr im Herzen weh, sie so im Stillen leiden zu sehen. Susanne fühlte sich beinahe schuldig, dass sie ihr nicht helfen konnte. Nein, es brach ihr gar das Herz, dass Anne sich nicht helfen ließ. Sich von ihr nicht helfen ließ. Susanne seufzte. „Du bist eine dieser ‚anderen Sorgen‘, Anne.“ Sie spürte, wie Anne den Händedruck erwiderte. Und es war umso erschreckender, wie schwach dieser Händedruck wirkte. Genauso schwach wie Annes Stimme, als sie letztlich antwortete: „Ich kann nicht…“ „Doch, natürlich kannst du.“, redete Susanne auf sie ein. „Nein, wirklich. Ich kann nicht.“ Sie hatte Anne selten so verzweifelt erlebt. So im Kampf um Selbstbeherrschung, so kurz davor ihren Gefühlen unterlegen zu sein. Die einzigen Momente die das gerade übertrafen waren die, wenn sie an die grauenhaften Taten ihres Vaters erinnert wurde. Doch dann war Anne immer gegangen. Oder eher geflohen. Aber gerade? Gerade wollte sie nicht fliehen. Sie wollte eigentlich reden. Sich den Schmerz von der Seele schreien. Doch sie konnte es nicht. Oder eher: Sie durfte es nicht. Warum? Susanne senkte den Blick. „Aber wenn es dich doch so sehr belastet…“ „Ich komme schon klar.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, kommst du nicht.“ Annes schwaches, freudloses Lachen sorgte dafür, dass sich Susannes Herz umso mehr zusammenzog. Ihre Gefühle waren durch Janines Verschwinden schon aufgewirbelt genug. Und nun, dieses verzweifelte Lachen… Das traf Susanne härter, als sie es für möglich gehalten hätte. Sie blinzelte die Tränen weg und stellte sich in Annes Blickfeld, um ihr ein aufheiterndes, wenn auch erzwungenes Lächeln zuzuwerfen. „Es ist in Ordnung. Es ist okay, wenn du es nicht erzählen kannst.“ Ohne groß zu überlegen nahm sie Anne in die Arme. „Ich finde schon einen anderen Weg um dir zu helfen.“ Susanne merkte, wie Anne deutlich zögerte die Umarmung zu erwidern. Doch letztlich gab sie sich geschlagen. Sie spürte das leichte Zittern ihres Körpers, als Anne den Kopf auf ihre Schulter legte. Susanne war überrascht, wie zerbrechlich Annes Körper eigentlich wirkte. Durch ihren athletischen Körperbau und die definierte Muskulatur hatte sie immer stark und hart wie Stein gewirkt. Aber nun? Sie hatte doch keine so breiten Schultern und Arme. Sie fühlte sich doch eher weich statt hart an. Die Hände, mit denen sich Anne an Susannes Jackett klammerte waren schlanker und graziler, als man es von einer Kriegerin erwarten würde. Susanne meinte Anne leise schluchzen zu hören und verstärkte ihren Griff, während auch sie selbst die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Eigentlich war sie erleichtert, dass Anne ihren Hilfeversuch annahm. Aber irgendwie war es dadurch auch umso schlimmer, diesen Schmerz miterleben zu müssen. Einen Schmerz, von dem sie noch nicht einmal die Ursache kannte. Und doch war es beinahe so, als wäre Annes Leid ihr eigenes. Als Susanne und Anne das Büro der Direktoren betraten, schien bereits eine aufgebrachte Diskussion am Laufen zu sein. Diese Diskussion wirkte so hitzig, dass nur Lissi ihr Eintreten bemerkte. „Was ist denn los?“, fragte Susanne ihre Zwillingsschwester irritiert. Diese seufzte und deutete mit dem Daumen auf Carsten. „Du müsstest es dir denken können.“ Susanne tauschte einen kurzen Blick mit Anne aus. Eigentlich war es zu erwarten gewesen. Carsten war garantiert der erste von allen gewesen, der Schwarzmagie ernsthaft in Betracht gezogen hatte um Janine zu finden. „Wir können doch nicht einfach nur tatenlos rumsitzen und hoffen, dass es ihr gut geht!“, herrschte dieser gerade Laura an, die stur Carstens Blick erwiderte. „Und stattdessen sollen wir dich opfern?! Dafür sorgen, dass du noch einen Schritt näher am Wahnsinn bist?!?“ „Die Ungewissheit ist doch viel schlimmer!“ „Schlimmer als das, was dich gerade innerlich auffrisst?!?“ Tränen sammelten sich in Lauras Augen. „Willst du das?! Diese Panikattacken?! Und was auch immer danach noch kommt?!“ „Es ist nur ein einziger Zauber!“, widersprach Carsten lautstark. Bedrückt schüttelte Ariane den Kopf. „Wie häufig hast du dir das schon gesagt?“ „Ich-“ Carsten brach ab. Verbissen ballte er die Hände zu Fäusten. „Wollt ihr denn nicht wissen, wo sie ist? Wie es ihr geht?“ Nun mischte sich auch Susanne ein. „Doch, natürlich. Aber nicht so. Nicht über diesen Weg.“ „Aber es gibt keinen anderen Weg.“ Geräuschvoll atmete Frau Bôss aus, die bisher nur schweigend zugehört hatte. „Hat zumindest jemand von euch mal versucht sie anzurufen?“ Die Gruppe tauschte irritierte Blicke aus und auch Susanne stellte überrascht fest, dass sie noch gar nicht daran gedacht hatte. Dabei besaß Janine sogar ein Handy. Susanne holte ihr Smartphone raus und tippte ihre Nummer ein. Sonderlich viel Hoffnung hatte sie nicht, aber wer weiß? Vielleicht ging Janine ja wirklich dran. Schweigen breitete sich aus, während jeder verzweifelt hoffte, dass das Tonsignal aufhörte und stattdessen Janines Stimme zu hören wäre. Das Warten schien sich endlos in die Länge zu ziehen und abermals begannen ihre Hände zu zittern. Schließlich brach der Ton ab. „Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist zurzeit…“ Langsam senkte Susanne das Handy, während die Frauenstimme sie zur Mailbox weiterleitete. Nichts. Öznur seufzte. „Ein Versuch war’s wert.“ „Und jetzt?“, fragte Susanne, nicht wissend, was ihnen für andere Möglichkeiten blieben. Carsten öffnete den Mund, doch bevor er auch nur ein Wort sagen konnte brach Laura ihn ab. „Nein. Vergiss es.“ „Es ist der schnellste und einfachste Weg.“, widersprach Carsten bestimmt. „Und der gefährlichste.“ Anne verschränkte die Arme vor der Brust. „Was wollen wir uns eigentlich von dem Zauber erhoffen? Selbst wenn wir Janine finden -und ich glaube jeder ahnt schon, wo sie sein müsste- dann sind uns doch so oder so die Hände gebunden. Wir brauchen einen verdammt guten Plan, um sie und die anderen da raus zu holen. Und am besten auch einen fertigen Zauber, um Mars direkt Einhalt gebieten zu können, bevor er noch mehr Schaden anrichtet.“ Ariane nickte. „Anne hat recht. Wir schaffen es noch nicht einmal, meine Schwester, Sakura oder Johannes da raus zu holen. Geschweige denn Benni.“ „Ohne den Zauber seid ihr gegen den Purpurnen Phönix so gut wie machtlos.“, mischte sich auch Frau Bôss ein. „Carsten, so ehrwürdig dein Verlangen deinen Freunden zu helfen auch sein mag, all das alles lenkt dich von deinem eigentlichen Ziel ab. Der Fertigstellung des Zaubers.“ „Aber ich arbeite doch schon die ganze Zeit daran!“, schrie Carsten aufgebracht. Susanne zuckte bei seinem Tonfall zusammen. Carsten war schon immer eher ein emotionaler Typ. Aber dass er so leicht in die Luft ging… „Na ja Carsten, du musst einsehen, so ganz stimmt das nicht.“, erwiderte Anne, von seinem verärgerten Ton unbeeindruckt. „Bevor ihr mich mal wieder falsch versteht: Ja, die letzten Wochen waren schlimm. Und ja, es ist nachvollziehbar, dass deshalb nicht so viel am Zauber gearbeitet werden konnte. Aber Fakt ist nun mal, dass wir diese zwei Wochen verloren haben. Genauso wie die Zeit, die Carsten im Unterricht verbringt. Und Eagles Geburtstagsfeier gester-“ „Anne, es reicht!“, unterbrach Laura sie schroff. „Carsten macht genug! Er kann doch nicht jede wache Sekunde seines Lebens-“ „Nein, Anne hat recht.“ Dieses Mal war es Carsten, der Laura unterbrach. „Es ist naiv zu glauben, so etwas ginge ‚nebenbei‘.“ „Wenn ich mich recht erinnere, hatte mein Mann dir bereits angeboten, den Unterricht ausfallen zu lassen.“, vergewisserte sich die Direktorin. Betrübt nickte Carsten. „Es wäre tatsächlich besser, das Angebot anzunehmen.“ Laura schien seine Gedanken erahnt zu haben. „Du willst dich also wieder von uns allen abschotten? Wie damals, als du dich auf die Schwarzmagier-Prüfung vorbereitet hattest?“ „Wenn es keinen anderen Weg gibt…“ „Im Endeffekt wird Cärstchen wegen Burnout nicht dazu im Stande sein, mit uns gegen Mars zu kämpfen.“, mischte sich nun auch Lissi ein. „So ein Unsinn.“ Carsten tat ihre Aussage mit einem Kopfschütteln ab. Lissi stemmte die Hände in die Hüften. „Sicher? Letzte Woche noch hat deine Gesundheit es dir ganz schön heimgezahlt, dass du ohne Rücksicht auf dich selbst alles gleichzeitig versucht hast zu bewerkstelligen. Außerdem bist du immer noch verletzt. Plus die Folgen der schwarzen Magie. Da sieht doch selbst jemand Blindes, dass du am Limit bist.“ „Und was soll ich sonst machen?!“, herrschte Carsten Lissi an. „Willst du den Zauber schreiben?! Oder der Rest von euch?! Denkt ihr, das ist wie eine Aufgabe aus dem Mathebuch?!? Ein paar Terme umformen und Werte einsetzen, und schon ist alles gelöst?!?“ Mit jedem weiteren Satz redete sich Carsten immer mehr in Rage. Zitternd verschränkte Susanne die Arme. War das die schwarze Magie? War es der seit Monaten angestaute Frust, bisher kaum einen Schritt weiter gekommen zu sein? Beides? Laura rieb sich schluchzend über die Augen. „Nein, Carsten. Das denken wir nicht! Aber… Wir wollen dir helfen! Irgendwie!“ „Dann hört auf ständig an mir herumzumeckern!!!“ Das hatte das Fass wohl zum Überlaufen gebracht. Viele der Mädchen zuckten erschrocken zusammen, Laura wich sogar einen kleinen Schritt zurück und klammerte sich an den Ärmel von Arianes Uniformjacke. Und auch Susanne griff instinktiv nach Lissis Arm. Carsten war die fürsorglichste, einfühlsamste, freundlichste Person, die Susanne je kennengelernt hatte. Obwohl er für gewöhnlich extrem schüchtern war, war er sehr sympathisch und wurde von allen gemocht und geschätzt. Doch wenn er mal wirklich wütend wurde… „Wenn ihr unbedingt einen Sündenbock braucht, dann sucht euch einen anderen! Ich bin es leid, für jeden Scheiß verantwortlich gemacht zu werden, der auf der Welt passiert!!!“ Carsten war viel zu sehr in Rage, um die Reaktionen der Mädchen zu bemerken. Oder war es ihm egal? Susanne wusste es nicht. Ihr Griff um Lissis Arm verstärkte sich, während sie verzweifelt hoffte, dass irgendjemand ihn doch endlich mal beruhigen würde. Laura ließ Arianes Jacke los und ging einen Schritt auf Carsten zu. „Aber das machen wir doch gar nicht!“, widersprach sie ihm verzweifelt. „Ach, macht ihr nicht?! Warum hat Eagle dann all seinen Hass an mir ausgelassen, weil er dachte ich wäre für den Tod unserer Mutter verantwortlich?! Warum dachten die Lehrer früher, ich schreibe von meinen Mitschülern ab, weil ich im Unterricht sonst nie etwas gesagt habe?! Wieso wurde ich im FESJ immer und immer wieder für Sachen bestraft, die ich gar nicht getan habe?! Warum sagt man mir nach, die Mitschuld am Tod meines Vaters zu tragen?! Wieso soll ich es in Wahrheit auf die Federkrone abgesehen zu haben?! Und warum werft ihr mir vor-“ „Wir werfen dir gar nichts vor!“, schrie Laura unter Tränen. Carsten wollte etwas erwidern, als Ariane vortrat und sich zwischen die beiden stellte. Sie betrachtete ihn ruhig und meinte schließlich: „Sprich weiter, Carsten. Was werfen wir dir vor?“ Was auch immer Carsten ursprünglich sagen wollte, er wusste es nicht mehr. Oder er wollte es gar nicht mehr sagen? Egal was in seinem Kopf gerade vor sich ging, es war offensichtlich, dass diese wenigen Worte von Ariane ihn zum Schweigen gebracht hatten. Seufzend verschränkte Ariane die Arme vor der Brust. „Es gibt tatsächlich eine Sache, die wir dir vorwerfen. Und zwar, dass du deinen ganzen Frust an uns auslässt, obwohl wir nur helfen wollen. Machst du das mit Absicht? Bringst du Laura absichtlich zum Weinen, nur, damit du dich nachher besser fühlst?“ Carsten machte den Mund auf, als wolle er sich irgendwie rechtfertigen. Schien aber nicht die richtigen Worte zu finden. Arianes Stimme war nicht wirklich verärgert, wirkte aber dafür umso kälter. „Hör auf damit, Carsten. Hör auf, alles auf eigene Faust machen zu wollen. Das tut dir nicht gut.“ „Aber-“ „Nichts aber. Falls du dauernd jemanden brauchst, den du anschreien kannst um Stress abzubauen, dann ist das echt schade. Ich dachte eigentlich du wärst besser als sowas. Und wenn das auf der anderen Seite wirklich der schwarzen Magie zu verschulden ist, dann ist das umso mehr ein Grund, warum du die Finger davon lassen solltest.“ Es war deutlich sichtbar, wie hart Arianes Worte Carsten trafen. Was nicht überraschend war, wenn man daran dachte wie lange er bereits romantische Gefühle für sie hegte. Aber leider musste sich Susanne eingestehen, dass Ariane recht hatte. Und Carsten schien zu derselben Erkenntnis zu gelangen. Ob es nun eine Charakterschwäche von ihm oder die Schwarzmagie war… In beiden Fällen sollte er unbedingt etwas dagegen unternehmen. Carsten wandte den Blick ab und brachte lediglich eine schwache Entschuldigung über die Lippen. Laura lächelte ihren besten Freund mitfühlend an. „Es ist schon okay, Carsten. Wir wissen, dass du es momentan schwer hast.“ „Aber das ist umso mehr ein Grund, warum du einfach mal mit uns sprechen solltest.“, ergänzte Ariane. „Vielleicht können wir dir beim Zauber selbst nicht helfen. Zumindest nicht direkt. Aber es gibt andere Dinge, du musst nur mit uns reden.“ Nun mischte sich auch Lissi ein. „Cärstchen, selbst wenn du denkst, dass du uns damit Umstände bereitest: Das ist nicht der Fall.“ „Im Gegenteil!“, fügte Laura hinzu. „Wir wollen dir helfen! Und wenn wir das irgendwie falsch machen, dann sag uns bitte, was du stattdessen brauchst!“ Carsten biss die Zähne zusammen. „Das weiß ich doch selbst nicht…“ Susanne meinte zu erkennen, wie er gegen die Tränen anzukämpfen versuchte. Ihr fiel zum weiß Gott wievielten Mal auf, wie mager er die letzte Zeit geworden ist. Aß er nicht genug? Und noch dazu die dunklen Schatten unter seinen Augen, die ihn inzwischen eher krank als müde wirken ließen. Noch bevor jemand etwas auf seine Worte erwidern konnte, wandte sich Carsten abrupt ab und verließ den Raum. Deprimiert setzte sich Laura auf einen freien Stuhl und wischte sich erneut mit dem Handrücken über die Augen. Sie wollte Carsten nicht so sehen. So erschöpft und am Ende seiner Kräfte. Sie merkte, wie Ariane sich vor sie kniete und eine Hand auf ihren Arm legte. „Brauchst du was?“ „Warum warst du so gemein zu ihm?“, fragte Laura schluchzend. „Er hat es doch schon schwer genug…“ Ariane seufzte. „Das gibt ihm noch lange nicht die Erlaubnis, sich uns gegenüber so zu verhalten. Und dir gegenüber schon gar nicht.“ „Aber wenn es ihm hilft, damit fertig zu werden…“ Laura hätte kein Problem damit die Zielscheibe zu sein, wenn es Carsten dadurch wieder besser ging. „Nein, Laura. Das ist nicht okay. Er hat nicht das Recht dazu jemandes Gefühle zu verletzen, nur um Frust abzubauen.“, widersprach Ariane ihr bestimmt. Während Laura betrübt auf ihre Hände starrte, füllte sich der Raum mit Schweigen. Es war, als würde man ihnen keine Verschnaufpause mehr gönnen. Benni, Johanna, Johannes, Sakura, … Und jetzt wahrscheinlich auch Janine. Sie alle waren Gefangene von Mars und niemand wusste, ob und wann sie befreit werden könnten. Und selbst, wenn Mars ihr Leben aus irgendeinem Grund verschonte… Andere hatten weniger Glück gehabt. Allen voran Eagles und Carstens Vater. Wer war der nächste? Lauras eigene Eltern? Obwohl O-Too-Sama als Reaktion auf Chiefs Tod die Sicherheitsvorkehrungen stark erhöht hatte, das Haus mit Leibwache sogar regelrecht umzäunt hatte… Würde es reichen? Und dabei hatte Laura inzwischen doch sogar endlich ihre Dämonenform!!! Schließlich war es Susanne, die die Stille brach. „Und was… machen wir jetzt?“ „Wir sollten erst einmal den Rest informieren.“, schlug Öznur vor und versuchte optimistisch zu klingen. „Wer weiß, vielleicht ist sie ja nach Indigo zu Eagle gegangen, da sie dachte, wir wären noch dort. Und dann war es zu spät um hierher zu kommen und sie hat da übernachtet.“ Anne schüttelte verstimmt den Kopf. „Das glaubst du doch selbst nicht.“ „Man kann ja zumindest hoffen…“ „Habt ihr inzwischen eigentlich den momentanen Besitzer des Farblosen Drachen gefunden?“, erkundigte sich Frau Bôss plötzlich. Erneut senkten alle Mädchen betrübt den Kopf. Nein, das hatten sie natürlich nicht. „Wir wissen doch noch nicht einmal, wo wir überhaupt anfangen sollen.“, meinte Öznur seufzend. Bedrückt fragte sich Laura, zu was überhaupt sie eigentlich zu gebrauchen waren. Denn bis auf die extra Trainings-Stunden, um auf bevorstehende Schlachten vorbereitet zu sein… „Können wir denn wirklich gar nichts tun?“, fragte Laura verbittert. „Sollen wir wirklich die ganze Zeit nur warten und trainieren? Während vor unseren Augen Leute entführt werden und sterben?!“ Frustriert ballte sie die Hände zu Fäusten und kämpfte mal wieder gegen Tränen an. Da war sie nun endlich stärker, hatte ihre Dämonenform, konnte kämpfen… Und war doch zur Tatenlosigkeit verdammt. „Na ja, wie wäre es, wenn wir uns erst einmal mit den anderen Dämonenbesitzern, also Konrad und Florian in Verbindung setzen?“, schlug Nane vor. „Wir haben Carsten doch selbst gesagt, wie wichtig Kommunikation ist. Statt einfach zu warten und zu hoffen, dass sich der Rest bei uns meldet, wenn er Hilfe braucht, könnten wir mal die Initiative ergreifen und unsere Hilfe anbieten.“ Traurig lachte Anne auf. „Wo können wir denn eine Hilfe sein? Bei uns kann man ja schon von Glück reden, wenn sich niemand streitet und wir uns nicht entführen lassen.“ Irritiert betrachteten die Mädchen die Prinzessin aus Dessert. So eine pessimistische Aussage gehörte eigentlich zu Laura. Vielleicht auch zu Susanne oder Öznur. Aber ganz und gar nicht zu der selbstbewussten Kriegerin, der es noch nicht einmal passte, wenn sie gegen Ariane eine Wette verlor. Insgeheim rechnete Laura damit, dass Anne schulterzuckend irgendetwas wie ‚zumindest, was den Rest von euch betrifft‘ ergänzen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen war es Lissi, die mit den Schultern zuckte. „Daran wird sich so lange nichts ändern, bis wir es nicht zumindest ausprobiert und die anderen gefragt haben.“ Kopfschüttelnd verschränkte Anne die Arme vor der Brust. „Selbst dann. Uns sind so lange die Hände gebunden, bis wir nicht mehr so penibel darauf achten müssen, dass man uns als Dämonenbesitzer enttarnen könnte. Und da die Regionsvertreter bisher noch nicht offiziell bestätigt haben, dass die Dämonenverbundenen nichts zu befürchten haben, wird sich daran auch so schnell nichts ändern können.“ Bedrückt atmete Ariane aus. „Stimmt, das Problem gab’s ja auch noch.“ Öznur runzelte die Stirn. „Die haben das immer noch nicht geklärt? Gab es denn keine Sitzungen mehr?“ „Doch. Zumindest von dem, was O-Too-Sama am Telefon so erzählt hat, gab es noch ein paar.“ Laura drehte ihren Kreuzanhänger zwischen den Fingern, den Benni ihr vor einer gefühlten Ewigkeit geschenkt hatte. „Er wollte nur nicht, dass ich hingehe, da die Situation ohnehin schon angespannt genug ist. Und hier in der Academy sei ich sicherer. Aber man muss auch nicht da gewesen sein um zu wissen, was dort gemacht wurde: Geredet, beratschlagt, diskutiert und noch mehr geredet.“ „Du hast besprochen und abgewogen vergessen.“, ergänzte Anne. Ariane seufzte. „Das wird ja nie was…“ „Was gibt es denn da abzuwiegen?“ Verärgert schüttelte die Direktorin den Kopf. „Egal wer an der Macht ist, diese Leute sind unverbesserlich. Vor zwölf Jahren genauso wie heute.“ „Sie meinen die Dämonenverfolgung?“, vergewisserte sich Susanne schaudernd. Bedrückt betrachtete Frau Bôss die Mädchen. „Tut mir einen Gefallen: Macht nichts Unüberlegtes, bis wir die Gewissheit haben, dass die Dämonenverbundenen mit einem Gesetz geschützt werden.“ „Aber das heißt weiterhin rumsitzen und abwarten!“, rief Laura enttäuscht. Sie wollte nicht mehr warten. Sie wollte endlich etwas unternehmen, um Benni da raus zu holen! Und Janine! Und- „Ich weiß!“ Frau Bôss‘ strenge Stimme ließ Laura unvermittelt zusammenzucken. „Aber ansonsten haben wir keine Garantie für euren Schutz. Wenn ihr aktiv werdet, wird man euch sehr bald als Dämonenbesitzerinnen enttarnen. Dann genießen die Menschen solange euren Schutz, bis die Gefahr gebannt ist und sie wieder genug Kapazitäten haben, sich vor den restlichen Dämonen zu fürchten. Es geht mir nicht um gerade. Es geht mir um die Gefahr, der ihr danach ausgesetzt sein könntet.“ „Aber wir können doch nicht warten, bis die Welt kurz vor ihrer Zerstörung steht!“ „Doch Fräulein Lenz, das könnt ihr.“, widersprach die Direktorin bestimmt. Öznur ballte die Hände zu Fäusten. „Wie können Sie das von uns verlangen?! Selbst wenn es da Leute gibt, die uns jagen und töten wollen… Was ist mit unseren Familien?! Es ist doch eindeutig, auf wen Mars es zurzeit abgesehen hat! Und Sie verlangen von uns, abzuwarten und zuzuschauen?!?“ Ein Klopfen gegen die bereits offene Tür erstickte den Rest der Diskussion. Erst jetzt bemerkten die Mädchen, dass Herr Bôss am Türrahmen lehnte. Und das wahrscheinlich nicht erst seit eben gerade. Er trug wie immer Jeans und einen lässigen Pullover, die rosaroten Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Eigentlich sah er aus wie immer, aber der Blick seiner giftgrünen Augen wirkte nicht so belustigt wie sonst, wenn er mit den Mädchen sprach. Er war ernst. So ernst, dass Laura eine Gänsehaut bekam und zu frieren begann. Genauso ernst klang auch seine Stimme, als er meinte: „Die Menschheit vergisst schnell. Und noch schwerer fällt es ihr, aus gewohnten Mustern auszutreten und mit Traditionen zu brechen. Diese Angst vor Dämonen existiert schon seit Jahrhunderten. So wünschenswert es auch ist, wir können nicht erwarten, dass ihr von allen dauerhaft als Helden gefeiert werdet, wenn all das überstanden ist. Wir brauchen diese Garantie für eure Sicherheit.“ Susanne schauderte. „Denken Sie wirklich, dass man uns selbst danach noch jagen würde?“ Frau Bôss nickte und das Unbehagen der Mädchen wuchs. „Wir können dankbar sein, dass sich die Dämonenjäger seit dem Vorfall mit dem Schwarzen Löwen zurückgezogen haben. Aber einen Dämonenverbundenen zu töten ist trotz allem noch nicht strafbar.“ „Wie ‚nicht strafbar‘?!“, fragte Ariane schockiert. „Wir sind immer noch Menschen! Das wäre Mord!“ Herr Bôss schüttelte den Kopf. „Eben nicht. Im Grundgesetz von Damon seid ihr eine besondere ‚Spezies‘, wie Indigoner, Elben oder Vampire. Für diese drei steht allerdings explizit drinnen, dass Verbrechen gegen sie genauso wie Verbrechen gegen Menschen geahndet werden. Nicht jedoch für Dämonenverbundene.“ Ungläubig starrte Öznur ihn an. „Das ist doch ein Witz.“ „Ich wünschte, es wäre so.“, erwiderte der Direktor lediglich. Erneut brach Schweigen aus und die Kälte in Laura wurde immer stärker. Sie erinnerte sich an ihre Dämonenprüfung. Damals hatte ihr großer Bruder es einfach so akzeptiert gehabt, dass Lukas vorhatte den kleinen Benni zu ermorden. War es, weil er ohnehin ein Dämonenverbundener war? Weil ein Mord an ihm kein Verbrechen gewesen wäre? „Aber wie ist das bei Konrad und Florian?“, erkundigte sich Ariane. „Über die beiden scheint man ja Bescheid zu wissen. Und Eagle gibt sich auch keine große Mühe, seine Kräfte zu verstecken.“ „Weil die Gesetze in diesen drei Regionen anders sind.“, erklärte Herr Bôss. „Zwar gilt für sie auch das damische Grundgesetz, aber ihre regionalen Richtlinien schließen Dämonenverbundene bewusst mit ein. Würde jemand von ihnen umgebracht, müsste sich der Täter vor dem Gericht der entsprechenden Region behaupten.“ Ariane schnaubte. „Die Menschheit stellt sich nicht gerade in einem guten Licht dar.“ „Das tat sie noch nie.“ Herr Bôss tauschte einen kurzen Blick mit seiner Frau aus, den Laura nicht wirklich deuten konnte. Sie wusste, dass die Direktoren bei der Dämonenverfolgung damals aktiv an der Rettung der einstigen Besitzerin des Roten Fuchses beteiligt waren, genauso wie Florian. Laura würde zu gerne wissen, was genau damals vorgefallen war. Aber irgendwie hatte sie den Eindruck, dass diese Frage unangebracht wäre. Besonders, da die momentane Stimmung ohnehin schon bedrückt genug war… Kapitel 76: Alles eine Frage der Zeit ------------------------------------- Alles eine Frage der Zeit       Nachdem sie noch eine Weile in dem Büro der Direktoren gesessen und vor sich hin geschwiegen hatten, atmete Laura tief durch und richtete sich auf. „Wäre… Ähm… Ist es okay, wenn ich den Unterricht ausfallen lasse? Ich würde gerne schauen, wie es Carsten geht…“ Herr Bôss warf ihr ein schwaches Lächeln zu und zuckte mit den Schultern. „Wenn du dich krank fühlst, werden wir dich wohl kaum dazu zwingen in den Unterricht zu gehen.“ Es war schon ein bisschen seltsam, ausgerechnet vom Direktor die Erlaubnis zum Schwänzen zu bekommen. Aber andererseits war Laura auch froh darum. Schule war momentan wohl ihre geringste Sorge. So langsam vermisste sie den Stress von der Prüfungsphase. … Dass es mal so weit kommen würde… Laura verließ das Direktorat und ging durch den gold-farbenen Flur, die Treppe hinunter und aus dem Gebäude raus. Vor dem Jungengebäude angekommen traf sie auf Raven. Die flauschige schwarze Katze saß vor der Tür und schien wohl darauf zu warten, dass man sie endlich rein ließ. „Na? Ist dir auch kalt?“, fragte Laura. Raven antwortete mit einem Maunzen und ließ sich von Laura hochheben. Selbst als sie die Tür öffnete und die Treppen hoch in das zweite Stockwerk ging, machte die Katze keine Anstalten selbst zu laufen. Eigentlich war Raven eine Einzelgängerin und kam sehr gut alleine zurecht. Aber in Wahrheit war sie ganz schön verkuschelt. Traurig lächelte Laura und betrachtete das schnurrende Fellknäul in ihren Armen. Von wem hast du diese Eigenschaft wohl? Inzwischen stand sie vor der Tür zu den Räumen der Schülervertretung. Sie verlagerte Ravens Gewicht, damit sie eine Hand frei hatte um die Klinke herunter zu drücken. Laura war schon länger nicht mehr hier gewesen und schon alleine beim Betreten des Aufenthaltsraumes wurde sie wehmütig. Laura betrachtete die Fotos auf der gegenüberliegenden Wand und fragte sich leicht amüsiert, wie viele Schulfotografen Benni wohl schon in den Wahnsinn getrieben hatte. Denn er machte sich noch nicht einmal die Mühe seine Foto-Abneigung zu verstecken. Sie ging zu der Tür links von den Fotos, die wie erwartet nicht verschlossen war. Dennoch war der Raum viel zu dunkel, als dass man jemanden hier vermuten würde. Traurig musterte Laura die Silhouette, die auf dem Bett lag und schweigend auf irgendwelche Zettel in der Hand starrte. „Dachte ich mir doch, dass du hier bist.“, meinte sie nur und setzte sich auf die Bettkante. „Bin ich so durchschaubar?“ Carstens Stimme wirkte zwar nicht mehr so aufgewühlt wie vorhin, aber diese tonlose Resignation gefiel ihr noch weniger. „Arbeitest du am Zauber?“, fragte sie, mit einem Blick auf die Blätter in seiner Hand. „Ich versuche es zumindest.“ Seufzend legte er sie zur Seite. „Aber es bringt ja sowieso nichts.“ „Jetzt sag doch sowas nicht.“ Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Ich stecke schon seit Ewigkeiten fest. Die symbolische Magie war nie meine Stärke und genau dieser eine Punkt bereitet auch Konrad Kopfzerbrechen.“ „Welcher?“, erkundigte sich Laura und hoffte, Carsten mit dieser Frage irgendwie zu helfen. Es war ja häufig so, dass man die Erklärung genau dann fand, wenn man sein Problem schilderte. … Zumindest hatte Laura dies sehr häufig bei irgendwelchen Matheaufgaben… Seufzend richtete sich Carsten auf und reichte Laura einen der Zettel. Trotz des dämmrigen Lichtes hatte sie überhaupt keine Probleme damit, die Zeichen und Muster auf dem Blatt zu erkennen. Eine Fähigkeit, die sie ihrer erst kürzlich erhaltenen Dämonenform zu verdanken hatte. Sie betrachtete die Zeichen in der oberen Hälfte des Blattes. Runen, Kreuze, Pentagramme und alles andere, was irgendwie eine magische Bedeutung zu haben schien. Daneben waren ein Haufen Notizen zu den Elementen, deren Bedeutung und so weiter. In der unteren Hälfte waren vier nach außen immer größer werdende Kreise aufgezeichnet, wo auf bestimmten Positionen Abkürzungen eingetragen waren. Jedoch fiel es extrem schwer sich einen Reim aus all dem zu machen, wenn man nicht die Person war, die dieses Blatt beschrieben hatte. Denn es war das reinste Chaos. Ein Teil war durchgestrichen, korrigiert und wieder durchgestrichen und zum Teil war es Laura noch nicht einmal möglich, die Schrift zu entziffern. Der Großteil dieses Durcheinanders war mit einem schwarzen Stift geschrieben. Jedoch gab es auch Stellen, wo in blau und deutlich lesbarer Handschrift jemand anderes Punkte hinzugefügt oder verbessert hatte. Leicht amüsiert warf Laura Carsten einen Blick zu. „Ich kannte bisher immer nur deine ordentliche Handschrift, aber du schaffst es wohl doch, das Arzt-Klischee zu erfüllen.“ Ihr bester Freund zuckte mit den Schultern. „Die Notizen waren auch nicht dazu gedacht, dass sie jemand anderes als ich verwenden würde.“ Laura kicherte. „Du musst Konrad in den Wahnsinn getrieben haben, als er sich deine Sachen zum Überarbeiten angeschaut hat.“ Leider half ihr Kommentar nicht wirklich dabei, Carstens Stimmung zu erhellen. Sie atmete bedrückt aus und rückte näher an ihn heran, damit sie gemeinsam auf den Zettel schauen konnten. „Erklär mir, was da steht. Ich kann kein Wort entziffern.“ Sie merkte, wie Carsten sich innerlich zu sträuben schien, ihren Hilfeversuch anzunehmen. Also versuchte Laura noch etwas mehr nachzuhaken. Sie tippte auf die Abkürzung, die ganz oben auf dem äußersten Kreis stand. „Was ist GT?“ Nun gab sich Carsten doch geschlagen. „Gelbe Tarantel.“ „Also ist das die Anordnung der Dämonenbesitzer?“ Er nickte. „Es entspricht der Rangfolge der Dämonen. Je weiter innen, desto höher der Rang und desto mehr kommt die Kraft des Dämons der eines Gottesdämons gleich. Ganz außen sind die Lebenskräfte, davor die abgewandelten Naturelemente, die Naturelemente und schließlich die Ursprungskräfte. Die Anordnung im Kreis selbst ergibt sich zum Teil aus den Himmelsrichtungen.“ Laura ging ein Licht auf. „Ah, so wie die Elemente einer Himmelsrichtung zugeordnet sind. GA im zweiten Kreis von innen ist also Grauer Adler. Also muss Eagle dann im Osten stehen. Öznur im Süden, Lissi im Westen und- …im Norden…“ „… Jack. Genau.“ Laura seufzte. Wenn er überhaupt mit ihnen kooperieren würde… Sie warf einen prüfenden Blick auf Carsten und beobachtete, wie dieser wiederum das Blatt betrachtete. „Denkst du… Jack wird uns helfen?“, fragte sie verunsichert. „Er ist von allen das geringste Problem.“, antwortete Carsten und klang so überzeugt, dass Laura ihren irritierten Blick unmöglich verbergen konnte. Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen, als er ihre Verwirrung bemerkte. „Von dem was ich so mitbekommen habe, scheinen er und Benni sich irgendwie angefreundet zu haben.“ Raven gab zwar ein bestätigendes Maunzen von sich, aber Laura war umso verwirrter. „Wirklich? Trotz allem, was er getan hat? Mit… Chief? Und bei dir damals?! Und… und Herr Weihe?“ Traurig senkte Laura den Blick, als sie sich an Bennis Großvater erinnerte. Er war so ein lieber Opi, dem es so viel bedeutet hatte, dass sein Enkel glücklich war… Ja klar, Jack hatte ‚nur‘ das Feuer gelegt. Aber das sprach ihn trotzdem nicht frei von Schuld. Und Laura hatte es damals deutlich mitbekommen, wie Benni unter dem Tod seines Großvaters gelitten hatte. Wie er wahrscheinlich immer noch unter seinem und Eufelia-Senseis Tod litt… Bedrückt atmete Carsten aus. „Deshalb finde ich es umso mehr einen Grund Jack zu vertrauen, sollte er sich wirklich mit Benni angefreundet haben.“ Damit hatte Carsten einen Punkt. Benni vergab sein Vertrauen nicht leichtfertig. Und sie hatten häufig genug miterlebt, wie gut er Situationen einschätzen und vorhersehen konnte. Laura mehr als alle anderen. Also wenn er tatsächlich der Meinung war man könne Jack trauen… Sie richtete ihren Blick wieder auf Carstens Notizen und betrachtete den zweiten Kreis von außen. Das waren wohl die abgewandelten Naturelemente, deren Positionen von den Naturelementen selbst abhingen. Zwischen Wasser und Erde war das Türkise Einhorn mit der Pflanzen-Energie. Daneben, zwischen Erde und Wind die Grüne Schlage mit Sand. Der Besitzer des Farblosen Drachen mit Blitz, den sie immer noch nicht gefunden hatten, würde im Kreis hinter Eagle und Öznur stehen. Und der Lila Killerwal, also Johannes mit Schnee beziehungsweise Eis, wäre im Kreis hinter Öznur und Lissi. Irritiert betrachtete Laura den äußeren Kreis, wo die Abkürzungen nur mit blauem Stift eingetragen waren. „Die abgewandelten Naturelemente verstehe ich ja, aber was hat es mit der Anordnung der Lebenskräfte auf sich?“, fragte Laura irritiert. Offensichtlich hatte auch Carsten damit seine Probleme gehabt, da diese Einträge eindeutig von Konrad kamen. „Allem Anschein nach repräsentieren sie in gewissem Sinne die Kräfte der Gottesdämonen.“ „Ah, Heilen für Entstehung, Blut für Erhaltung und Gift für Zerstörung?“ Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Fast.“ Er tippte auf die Petrole Fledermaus rechts unten. „Entstehung.“ Dann auf den Pinken Bär in der linken unteren Hälfte. „Erhaltung“ Und schließlich auf die Gelbe Tarantel ganz oben. „Zerstörung.“ Laura runzelte die Stirn. „Warum repräsentiert Susis Energie nicht die Entstehung?“ „Weil ihre Kraft nur weitergegeben werden, also wenn du es so möchtest die Gesundheit nur ‚erhalten’ aber nicht ‚erschaffen‘ kann. Konrads Blut-Energie entspricht dem Ursprung des Lebens. Denn Blut lässt sich eher… regenerieren.“ „Gesundheit doch auch, wenn es nicht direkt so wie in… Susis Prüfung ist.“ Schaudernd schob Laura die Erinnerung an Susannes Erzählung beiseite. Sie hatte sich häufig genug gefragt, wie der Pinke Bär ihr so etwas hatte antun können. Und sie hatte einfach nie eine Erklärung finden können. Doch Carsten schüttelte den Kopf und lächelte sie traurig und nicht zuletzt wissend an. „Es gibt Krankheiten, die unheilbar sind… Susanne könnte sie zwar von einer Person auf die andere übertragen, aber der Tod ist gewiss. Konrad hat mit seiner Energie wirklich die Kraft Leben zu retten, ohne gezwungenermaßen ein anderes opfern zu müssen.“ Bedrückt atmete Laura aus. „Ich habe Susi um ihre Kraft immer beneidet aber wenn du das so sagst… Eigentlich ist sie ganz schön…“ „…Doof?“, beendete Carsten ihren Satz und warf ihr wieder ein bedrücktes Lächeln zu. Aber immerhin lächelte er überhaupt mal wieder, stellte Laura halbwegs erleichtert fest. Wenn dieser traurige Blick in seinen lila Augen nur nicht wäre… Laura betrachtete den Zettel erneut und tippte in den innersten Kreis. „Da müssten dann wohl Nane und ich sein, aber… Wo stehen wir?“ Carsten seufzte und selbst das traurige Lächeln verschwand wieder. „Sag du es mir… Das ist der Punkt, an dem ich einfach nicht weiterkomme. Du, Nane, Benni und ich. Wir vier müssen definitiv im inneren Kreis stehen. Ihr beiden wegen der Ursprungskräfte und Benni und ich wegen der Durchführung des Rituals.“ Laura legte den Kopf schief. „Ihr beide?“ „Ich für den Zauber und Benni für den Blutzoll.“, erklärte er knapp. „Aber wie genau die Anordnung sein muss… Keine Ahnung. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, Arianes Standort von der Position der Sonne abhängig zu machen. Der Rest müsste sich dann von selbst ergeben. Aber das würde die ganze Sache nur unnötig verkomplizieren. Besonders in der Unterwelt. Und irgendwie… Ich weiß nicht, es fühlt sich falsch an.“ „Dann ist es wahrscheinlich auch nicht so.“, gab Laura ihm nachdenklich recht. Immerhin war das ja für sie schon eine goldene Regel: Wenn Carsten auch nur glaubte etwas zu wissen, war es zu zweihundert Prozent richtig. Dieser seufzte erneut. „Und jetzt sind wir in der Gegenwart angelangt. Ich sitze vor diesem verfluchten Zettel und zerbreche mir den Kopf darüber, was dieser eine verdammte letzte Schritt ist.“ Irritiert musterte Laura ihn. Vorhin war ihr das auch schon aufgefallen: Hatte Carsten schon immer so viel geflucht? Natürlich kamen auch über seine Lippen mal unangebrachte Worte, aber für gewöhnlich drückte er sich doch recht gemäßigt aus. Besonders in so normalen Gesprächen. „Ich glaube, Eagle hat einen schlechten Einfluss auf dein Vokabular.“ Carsten erwiderte ihren Blick verwirrt. „Wie meinst du das?“ „Na ja, weil du verflucht viele verdammte Wörter verwendest, und es dir scheiß egal zu sein scheint.“ Tatsächlich brachte ihr Kommentar Carsten zum Lachen. Na endlich! „Das klingt so falsch aus deinem Mund.“ „Ach, und aus deinem nicht?“ Immer noch amüsiert schüttelte Carsten den Kopf. „Komm, so schlimm bin ich nicht.“ „… Soll ich eine Strichliste machen?“ Nach geraumem Schweigen, wo Carsten wohl selbst noch einmal über die letzten Gespräche reflektierte, meinte er schließlich: „… Lieber nicht.“ Laura kicherte und wandte sich erneut dem Zettel zu. „Ich vermute mal, Nane und ich müssen gegenüberstehen und du und Benni dann genau dazwischen. Wegen Kräftegleichgeweicht und so.“ Carsten nickte. „Und warum stehe ich nicht im Norden und Nane im Süden? Das würde Licht und Dunkelheit doch am besten repräsentieren.“ „Schon, aber es kommt auch auf das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Kreisen an. So wie abgewandelte Naturelemente und Naturelemente zum Beispiel.“ „Ach so…“ Laura runzelte die Stirn. „Und was ist dann mit den Lebenskräften? So zusammenspielend mit den anderen wirkt das nicht.“ Carsten nickte. „Das hatte ich mir auch gedacht. Aber Konrad scheint sich ziemlich sicher zu sein, dass sie so angeordnet werden müssen, da sie dem Lebenszyklus entsprechen.“ „Geburt, Leben, Tod?“ „Welcher sonst?“ Gedankenverloren starrte Laura auf den Zettel, wie es Carsten wahrscheinlich schon so viele Stunden getan hatte. Sie würde niemals dahinterkommen. Sie betrachtete die magischen Zeichen auf dem oberen Teil des Zettels. Pentagramm, Kreuz, Yin und Yang, andere Symbole die sie noch nie zuvor gesehen hatte… Irgendwie versuchte sie, da Verbindungen zu ihrer bisherigen Aufstellung zu finden. Aber ohne Erfolg. So langsam verstand Laura, wieso Carsten bis spät in die Nacht daran sitzen konnte. Es war schon wie ein kleines Rätsel. Also nein, eigentlich ein großes. Und wenn man sich dessen bewusst war, wie relevant es dafür war den Herrscher der Zerstörung zu bannen… Laura betrachtete den Zettel eingehender. Moment mal… ‚Viele Stunden‘? ‚Bis spät in die Nacht‘? „… Eine Uhr!“, rief sie plötzlich. Carsten betrachtete sie als sei sie es, die durch Schwarzmagie den Verstand zu verlieren drohte. „Bitte was?“ „Das ganze ist im Prinzip nichts anderes als eine große Uhr.“, meinte Laura aufgeregt. Konnte es wirklich sein, dass sie, ausgerechnet sie, eben das Rätsel gelöst hatte?!? Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Das hatte ich auch gedacht, aber schau mal genauer hin: Wenn man die Personen mit der Mitte verbindet, wo Mars sich befinden sollte, sind die Winkel nicht gleichmäßig. Und bei einer Uhr betragen die Winkelgrößen zwischen den Stunden immer 30°.“ Laura schaute ihn herausfordernd an. „Hattest du nicht selbst gesagt, dass das eben keine Matheaufgabe ist?“ Beschämt wich Carsten ihrem Blick aus, erwiderte aber nichts darauf. Laura rückte noch näher an ihn und zupfte am Ärmel des Hemdes seiner Schuluniform. „Jetzt komm, ich will zumindest wissen, was du von meiner Idee hältst. Also: Du sagtest, die Lebenskräfte symbolisieren den Lebenszyklus. Na ja, und wenn man von den Kreisen immer weiter nach innen geht, hat man halt immer kleinere Zyklen. Und das immer im Uhrzeigersinn.“ Carsten runzelte die Stirn. „Also meinst du, die abgewandelten Naturelemente repräsentieren…“ „… Die Jahreszeiten!“ Laura tippte auf das Türkise Einhorn. „Pflanzen für Frühling, Sand für Sommer, Gewitter im Herbst und…“ „… Im Winter Schnee.“ Carsten verstand worauf sie hinauswollte. „Und die Elemente selbst sind der Tageszyklus.“ Laura nickte grinsend. „Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf, im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen. Kennt doch jedes Kind, diesen Spruch.“ „… Ich kannte den nicht…“, stellte Carsten beschämt fest. „Hä? Du weißt alles, außer den Merksatz für den Sonnenverlauf und die vier Himmelsrichtungen?“ „Na ja… Ich konnte mir das auch ohne ganz gut merken…“ Laura seufzte. „Zu schlau für diese Welt…“ Carsten schüttelte den Kopf, schien inzwischen aber selbst endlich mal wieder motivierter. Er richtete sich etwas mehr auf und zeigte auf den inneren Kreis. „Und was gibt es das kürzer als der Tageszyklus ist?“ „Stunden!“ „Und deshalb kamst du auf die Uhr?“ Laura zwirbelte eine Haarsträhne. „So halb… Ich hatte mich eher gefragt, was der Ursprung, also die Grundlage von all dem ist. Und das ist die Zeit.“ Carsten ging ein Licht auf. „Und diese wird durch die Uhr repräsentiert…“ „Genau! Nane und ich können nicht auf gegenüberliegenden Seiten stehen. Denn sowohl das Licht als auch die Dunkelheit sind im Prinzip um zwölf Uhr am stärksten. Was dich und Benni betrifft bin ich mir zwar nicht ganz sicher… Aber könnte es nicht sein, dass ihr bei der entsprechenden Stundenanzeige von Sonnenauf- beziehungsweise Sonnenuntergang steht?“ Nun war Laura doch etwas verunsichert. „Ich… Ich kenne mich mit dem Zauber natürlich nicht aus. Ich dachte nur… Na ja, da du ja derjenige bist, der Mars bannt… Da geht ja für ihn im Prinzip die Sonne unter…“ Sie spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. Beschämt legte sie das Blatt weg. „Tut mir leid… War nur ein Gedanke…“ Eine Zeit lang brach Schweigen aus und ironischer Weise war nur das Ticken der Wanduhr aus dem Gemeinschaftszimmer zu hören. Und Raven, die sich schnurrend in Lauras Schoß gekugelt hatte. Laura wurde immer unruhiger und schallte sich innerlich dafür, überhaupt auf die Idee gekommen zu sein diesen Gedanken mit Carsten zu teilen. Und ihm damit unnötige Hoffnungen gemacht zu haben… Nach einer weiteren Weile meinte sie, Carsten plötzlich leise Lachen zu hören. … Oder weinte er? Laura war sich nicht ganz sicher. Verunsichert legte sie eine Hand auf seine zitternde Schulter. „Alles okay? Habe… ich was falsch gemacht?“ Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Nein Laura, du hast alles richtig gemacht. Derjenige, der was falsch macht bin ich. Immer und immer wieder. Und doch lerne ich nie dazu.“ „Hä?“ Sie konnte seine Reaktion immer noch nicht ganz deuten. Und noch weniger, als Carsten mit einem verbitterten Lächeln und Tränen in den Augen ihren Blick endlich erwiderte. „Das Zahlen des Blutzolls ist die Einleitung für das Ritual. Und der Spruch… beendet es.“ In Lauras Kopf drehten sich die Rädchen. „Du meinst also… meine Idee…“ „Sie stimmt, Laura. Du hast den Zauber fertig gestellt.“ „WAS?!“ Ungläubig starrte sie Carsten an. „Aber- aber es klang so, als würde noch voll viel fehlen! Also von dem, was du alles erzählt hast!“ „Ja und nein. Das war der Knackpunkt, weshalb ich an dem Spruch nicht weiterarbeiten konnte. Aber jetzt, wo die Bedeutung von allem klar ist…“ Carsten lehnte seine Stirn gegen Lauras Schulter. Mit einem Schlag wirkte er total müde und erschöpft, als wäre die ganze Anspannung der letzten Wochen, nein, der letzten Monate mit einem Mal verschwunden. Raven richtete sich auf und schmiegte sich maunzend an Carstens Brust. Als er auch darauf nicht reagierte, begann Laura doch sich etwas Sorgen zu machen. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seinen Arm. „… Alles okay?“ Die einzige Antwort darauf war ein schwaches Kopfschütteln. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich aus, als sich ihr Herz zusammenzog und sie vorsichtig die Arme um Carstens Schultern legte. Hatte sich sein Körper schon immer so schwach und mager angefühlt? Dieses Mal war es unverkennbar ein Schluchzen, was aus Carstens Kehle drang als er sich an Lauras Jackett-Ärmel klammerte. Laura schluckte schwer und verstärkte ihren Griff. Es war nicht so, dass sie seine Reaktion nicht nachvollziehen konnte. Im Gegenteil, eigentlich sollte sie sogar froh sein, dass Carsten endlich die ganze angestaute Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit rausließ. Und besonders, dass er endlich mal offen zeigte, wie schlecht es ihm in Wahrheit ging. Aber anderseits konnte Laura bei diesem herzzerreißenden Schluchzen selbst kaum gegen die Tränen ankämpfen. War es nicht schon schlimm genug, dass Benni und so viele andere bei Mars gefangen und dessen Launen ausgesetzt waren? Musste sie wirklich auch noch mitansehen, wie all das seinen Tribut von Carsten verlangte? Konnte sie denn gar nichts tun?!? Laura drückte ihren besten Freund noch fester an sich, während sie sich den Kopf darüber zermürbte, wie sie Carsten bloß helfen konnte ohne dabei direkt einen Nerv bei ihm zu treffen. Denn offensichtlich hatte er ja riesige Probleme damit, Hilfe anzunehmen. Oder gar um Hilfe zu bitten. Nach einer Weile wurde Carstens Schluchzen schwächer und schließlich schien er sich weit genug beruhigt zu haben, um sich von selbst aus der Umarmung zu lösen. „Entschuldige…“, meinte er nur matt. Laura lächelte ihn mitfühlend an. „Ach was, auch Helden dürfen ihre schwachen Momente haben.“ Traurig lachte Carsten auf. „Ich bin nicht der Held.“ „Nicht? Wer sollte es sonst sein?“ Mit einem bedrückten Seufzen kraulte er Raven am Kopf und warf einen Blick in das dunkle Zimmer. „Ist das nicht offensichtlich? Benni natürlich. Ich bin höchstens der tollpatschige Sidekick.“ „Hm, dann werden wir wohl um diese Position kämpfen müssen.“, stellte Laura fest. Die Erinnerung an Lauras ellenlange Liste von tollpatschigen Aktionen schien Carstens Gemüt tatsächlich wieder etwas aufzuheitern. Zumindest ein kleines bisschen. „Okay, du hast gewonnen. Ich bin noch nicht einmal dafür zu gebrauchen.“ Laura stöhnte auf. „Ach Carsten! Du klingst ja noch schlimmer als ich.“ „Ich bin schlimmer als du.“ Diese Aussage klang in ihren Ohren viel zu resigniert, um auch nur annähernd witzig zu wirken. Was die Sorgen, die sie sich um ihren besten Freund machte, nicht gerade verringerte. Bedrückt schaute auch sie sich im Zimmer um, während Raven in den Genuss der doppelten Menge an Krauleinheiten kam. „Warum fällt es dir eigentlich so schwer, dich uns anzuvertrauen?“, fragte sie schließlich. „Ich weiß es nicht…“, antwortete Carsten bedrückt. Zumindest bestritt er es inzwischen nicht mehr. Laura seufzte. „Wenn zumindest Benni hier wäre…“ Carsten erwiderte nichts darauf, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er sich das auch schon oft genug gedacht hatte. Vielleicht sogar noch häufiger als sie selbst… „Es ist nicht die schwarze Magie, oder? Also… nicht nur.“, stellte sie fest und erntete einen verwirrten Blick. „Na ja… Nimm‘s mir nicht übel, aber du bist nicht gerade die ausgeglichenste Person. Genauso wenig wie ich.“ Beschämt lächelte sie. „Wir brauchen einfach diesen einen Ruhepol. Besonders in so… schwierigen Zeiten. Und du bist noch mehr auf so eine Stütze angewiesen als ich.“ Carsten erwiderte wieder nichts darauf, doch das brauchte er auch gar nicht. Selbst wenn Laura nicht genau wusste, was in ihm vor sich ging… Sie wusste, dass es schon immer Benni war, der ihm immer und immer wieder auf die Beine geholfen hatte. Damals, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten, während ihrer Grundschulzeit, und auch während Carstens Zeit im FESJ. Es war immer Benni gewesen, den er aufgesucht hatte, wenn es ihm nicht gut ging. Und selbst, wenn dieser die Ursache seines Leids nicht aus der Welt schaffen konnte, hatte er es doch ertragbar machen können. Als sei das alles halb so wild. Aber jetzt… Betrübt seufzte Laura. Ausgerechnet bei Carsten und Ariane zehrten all die Ereignisse an ihrer zuversichtlichen Denkweise. Am Ende wäre Laura noch die optimistischste von der ganzen Gruppe…   ~*~   Eagle hatte alle Mühe die Augen offenzuhalten und dem Stammesoberhaupt von Tahi zuzuhören. Er war nie jemand gewesen, der sonderlich viel Schlaf gebraucht hatte. Aber in letzter Zeit war er trotzdem andauernd erschöpft und würde sich nach der Schule am liebsten hinlegen. Doch dieser Traum würde wohl noch eine ganze Weile unerfüllt bleiben. Eagle nahm sich vor, wenn all das vorbei war, würde er einfach mal einen ganzen Tag durchschlafen und auf den Rest der Welt scheißen. Er warf einen versucht unbemerkten Blick auf sein Handy, der natürlich nicht ganz unbemerkt blieb, doch von Öznur war keine Antwort mehr gekommen. Natürlich war Janine nicht zu ihm nach Indigo gekommen, so gerne Eagle ihr das auch geantwortet hätte. Verdammt, das alles war nur passiert, weil sie nach Mur gegangen war um ihre Mutter zu besuchen! In der Academy wäre sie sicher gewesen! Und als wäre das nicht genug, musste sein kleiner Bruder natürlich auch direkt auf die geisteskranke Idee kommen, sie mit schwarzer Magie suchen zu wollen. Zum Glück hatten die Mädchen ihn daran hindern können. Auch, wenn die Diskussion einen dramatischeren Abschluss gefunden hatte als notwendig. „Keine Neuigkeiten, nehme ich an?“, erkundigte sich das Stammesoberhaupt von Keipo. Eagle schüttelte den Kopf. „Damit würden wir auch schon beim nächsten Punkt ankommen.“, fügte dieser hinzu. Eagle verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. „Meine Antwort lautet immer noch nein. Ich brauche keine Aufpasser.“ „Häuptling, der Geleitschutz ist notwendig.“, warf das nächste Stammesoberhaupt ein. „Wir dürfen kein Risiko eingehen. Nicht, dass Euch am Ende noch dasselbe widerfährt wie Eurem Vater.“ Eagle biss die Zähne zusammen und zwang sich mit aller Kraft ruhig zu bleiben. „Ich bin aber nicht mein Vater.“ „Trotzdem-“ „Wenn ihr so fest damit rechnet, dass ich keine weiteren zwölf Stunden überlebe, solltet ihr vielleicht endlich meiner Gesetzesänderung zustimmen.“, unterbrach er ihn, schroffer als angemessen. Aber egal. „Aber mit diesem Gesetz wäre der Häuptling überflüssig. Wollt Ihr wirklich-“ „Wollt ihr, dass sich das ganze Drama der letzten Wochen wiederholt?“, unterbrach Eagle ihn erneut. „Ich sehe es ja ein, dass Indigo mit einer Demokratie momentan noch völlig überfordert wäre. Aber zumindest in diesem Kreis sollten wir abstimmen dürfen, damit der Häuptling nicht einfach so seinen Willen durchsetzen kann. Und noch wichtiger: Wenn es einfach keinen volljährigen Nachfolger gibt, brauchen wir einen Weg, trotzdem handlungsfähig zu bleiben und nicht dem nächstbesten die Federkrone auf den Kopf zu stecken.“ Das Stammesoberhaupt von Tahi betrachtete ihn belustigt. „Ihr wisst, dass Ihr unsere Zustimmung für die Gesetzesänderung nicht benötigt?“ Eagle schnaubte. „Da wäre ich ja schön konsequent. Ein Gesetz erzwingen was die Mehrheit entscheiden lässt, obwohl die Mehrheit eben gegen dieses Gesetz ist.“ Die Stammesoberhäupter tauschten untereinander Blicke aus, die Eagle nicht ganz deuten konnte. Schon krass, wie traditionsbesessen Indigo noch war. Da wollte er im Prinzip den Leuten mehr Macht verleihen und diese weigerten sich, weil es nun mal schon immer der Häuptling war, der seinen Kopf am Ende durchsetzen konnte, durfte und musste. Innerlich seufzte Eagle. Und dabei findet es doch eigentlich jeder geil, mehr Macht zu haben. Der Stammesführer von Chôyon schaute ihn fragend an. „Und sollte ab sofort wirklich jemand Minderjähriges gezwungen sein die Federkrone zu tragen, wollen Sie wirklich…“ „Ich will es nicht, ich verlange es.“, stellte Eagle klar. „Auch, wenn mir dieses Gesetz seit gestern leider nichts mehr bringen wird.“ „Warum?“ Eagle atmete geräuschvoll aus, antwortete aber nicht darauf. „… Ist es wegen Ihres Bruders?“, hakte das Stammesoberhaupt von Keipo nach. „Auch.“, gab er zu. „Wenn ich so frei sprechen darf: Er hat bei Ihrem Amtseintritt keine schlechte Figur gemacht. Insbesondere seine Ansprache. Natürlich war diese alles andere als professionell. Aber gerade, wenn man berücksichtigt, dass er nie auf so etwas vorbereitet wurde…“ „Er ist in dem Moment innerlich gestorben.“, warf Eagle verbissen ein. Und als wäre es nicht genug, dass er damals Carsten in diese Situation gebracht hatte, obwohl er ganz genau wusste, wie sehr sein kleiner Bruder unter einer solchen geballten Menge an Aufmerksamkeit litt… Er hatte ihm ja auch noch direkt danach die irrsinnigsten Vorwürfe machen müssen. „Car- ähm Crow wäre ein guter Anführer. Viel besser als ich, das ist keine Frage. Aber wie zum Henker soll er eine Region repräsentieren, vor Leuten reden und alles, was sonst noch öffentlich getan werden muss, wenn er es noch nicht einmal im Unterricht schafft den Mund aufzumachen.“ Das Stammesoberhaupt von Chôyon runzelte die Stirn. „Ist das so schlimm?“ Verbittert lachte Eagle auf. „Sie wissen ja gar nicht, wie sehr ihm seine Schüchternheit zum Verhängnis geworden ist.“ Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Eigentlich ging das diese Typen nichts an. „Um zum eigentlichen Thema zurückzukehren: Es geht mir nicht nur darum, dass mein Bruder schon alleine beim Erwähnen des Begriffs ‚Kronprinz‘ fast in Ohnmacht fällt. Es geht mir auch um Sakura.“ „Aber ihre Halbschwester-“ „Wäre nach ihm die nächste rechtmäßige Nachfolgerin.“ Er warf einen eindringlichen Blick in die Runde. „Ich kann nicht garantieren, dass Crow und ich die Konfrontation mit etwas überleben, das ‚Herrscher der Zerstörung‘ genannt wird. An sich, sosehr ich mir auch wünsche, dass es ihr gut geht, momentan kann ich noch nicht einmal für ihr Überleben garantieren. Im schlimmsten Fall…“ Eagle wollte den Gedanken nicht zu Ende führen. Dass er selbst bei der ganzen Aktion draufgehen könnte, störte ihn dabei noch am allerwenigsten. Vielmehr waren es die Auswirkungen, die das auf Carsten oder Sakura haben könnte. … Ob es seinem Vater damals auch so gegangen war, als er Häuptling geworden ist? Eine Zeit lang herrschte Schweigen, bis das Stammesoberhaupt von Keipo schließlich meinte: „Ich stimme dafür. Für beides. Ich weiß, Indigo war immer stolz darauf, wie schnell und mit wenig Formalitäten wir auf Situationen reagieren konnten. Aber es stimmt, wir sind viel zu sehr vom Häuptling abhängig. Wir benötigen mehr Flexibilität, gerade in den kommenden Zeiten.“ Innerlich atmete Eagle auf, als nach und nach die restlichen der fünf Stammesoberhäupter langsam aber sicher eingestanden, dass diese Gesetzesänderung wirklich keine so dumme Idee war. Und tatsächlich dauerte es keine halbe Stunde mehr, bis alle Formalitäten geklärt und das Gesetz geändert war. Schön, dass es manchmal auch relativ einfach gehen durfte. Manchmal. „Und Sie sind sich wirklich sicher? Ein Geleitschutz wäre nur von Vorteil. Insbesondere, nachdem auch die Besitzerin der Gelben Tarantel entführt wurde.“ Eagle stöhnte auf. „Wie oft soll ich das noch sagen? Nein.“ Wobei… „Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Aber wenn ihr unbedingt Geld für eine Leibwache ausgeben wollt…“ „Ihre Stiefmutter wird natürlich auch Schutz bekommen.“, warf das Stammesoberhaupt von Keipo ein. „Und wenn Sie möchten, selbstverständlich auch Crow. Jedoch scheint er wirklich jemand zu sein, der sich problemlos selbst verteidigen kann.“ In Kämpfen vielleicht… Betrübt schob Eagle den Gedanken an Carsten und die Folgen des FESJ und der Schwarzmagie beiseite. Dank Ariane hatten sie ja nun zumindest die Hoffnung, dass es sich in naher Zukunft wieder bessern könnte. Zumindest, wenn er wirklich auf jegliche Formen der schwarzen Magie verzichten würde. „Nein, ich meinte jemand anderes. Ist mir egal, ob das in euren Augen eigennützig erscheint oder einfach nur dem größeren Wohl dienen soll. Aber es gibt definitiv jemanden, der so einen Schutz mehr benötigt als wir.“ Eagle berichtete den Stammesoberhäuptern von seinen Gedanken, die ihm überraschend aufmerksam zuhörten. Eigentlich hätte Eagle damit gerechnet, dass sie genauso ablehnend reagieren würden wie anfangs bei seiner Gesetzesänderung. Aber irgendwie… Plötzlich klopfte es gegen die Holztür und Ituha betrat den Konferenzraum. „Darf ich kurz stören?“ Als würde sie das eben nicht sowieso schon tun. „Ist es dringend?“ Ituha nickte. „Sehr. Da ist jemand, der mit dem Häuptling sprechen möchte.“ „Kann das nicht bis nach der Sitzung warten?“, erkundigte sich das Stammesoberhaupt von Chôyon, doch Ituha schüttelte den Kopf. Da sie es ohnehin gewohnt waren, Ituha niemals im Leben zu widersprechen, hatte sich die Sache eigentlich von selbst geklärt. Eagle richtete sich auf. „Dann sehen wir uns nächste Woche.“ „Sie reden bis dahin mit ihr?“ „Werde ich.“, meinte er nur und verließ den Raum. So traditionsbesessen sie auch waren, Indigoner legten zum Glück legten nicht allzu viel Wert auf Formalitäten. Da hatte das Stammesoberhaupt von Keipo durchaus Recht, sie waren dadurch in der Lage viel schneller und spontaner zu reagieren als die restlichen Regionen. Und es machte die ganze Sache für Eagle deutlich ertragbarer. Er hasste es schon in der Schule, ständig irgendwelchen Mist auf irgendwelche Zettel schreiben zu müssen. Während er Ituha zu ihrer Bar folgte, wo anscheinend dieser ominöse Besucher auf ihn wartete, erkundigte sich Eagle kritisch, wer das überhaupt war. Doch sie zuckte einfach nur mit den Schultern. Hm, seltsam. Eagle hatte eigentlich damit gerechnet, dass jemand wie Öznur oder Carsten ihn dringend sprechen wollte. Aber Ituhas Reaktion nach kannte sie diese Person selbst noch nicht einmal. Ituha öffnete die schwere Holztür und trat in die spärlich beleuchtete Kneipe. Anscheinend hatte sie nicht geöffnet, was dem Wochentag und der Uhrzeit nach ziemlich eigenartig war. „Da seid ihr ja endlich!“, rief Risa erfreut. Das kleine Mädchen rutschte von einer der Bänke kam ein paar Schritte auf sie zu. Ohne jemand bestimmtes anzuschauen meinte sie: „Das ist Eagle, unser Häuptling. Und der Besitzer des Grauen Adlers.“ Eagle runzelte die Stirn. Was zum- Er betrachtete eine kleine Gestalt, die von der gegenüberliegenden Bank runter kletterte. Sie war etwa so groß wie Risa und trug einen dunkelgrünen, schweren Wollumhang, der ihren zierlichen Körper und das Gesicht komplett unter sich verbarg. Aber es war weniger die vermummte Erscheinung, die ihn stutzig machte. Eher war es das vertraute Gefühl von… Energie! Von dieser kleinen, schmächtigen Person ging Energie aus! Mit einer ruhigen mädchenhaften Stimme meinte sie: „Ich bin geehrt, Euch kennen zu lernen, Besitzer des Grauen Adlers.“ Mit diesen Worten zog sie die Kapuze zurück und offenbarte ihr Gesicht. Tatsächlich war es das rundliche Gesicht eines jungen Mädchens, umrahmt von dunkelbraunen schulterlangen Haaren. Ebenso braun war ihr linkes Auge, aber das rechte war Blattgrün. Das war nicht weiter seltsam, doch schien sie weder Indigonerin, noch ein Menschenmädchen zu sein. Zumindest hatte Eagle noch nie jemanden gesehen, dessen Haut so einen Oliv-Ton hatte. Er hatte nur von solchen Leuten gehört. „… Eine Dryade?“ Aber wie war das möglich?! Das gesamte Dryaden-Volk war doch dem magischen Krieg zum Opfer gefallen. Oder etwa nicht? „Ich werde Kito genannt.“, stellte sich das kleine Dryaden-Mädchen vor und schien sich nicht daran zu stören, Eagle gerade vollkommen aus der Bahn geworfen zu haben. „Bitte verzeiht, dass ich noch nicht so gut sprechen kann. Ich lernte zwar ein bisschen Indigonisch und Damisch, aber noch nicht so ausdrucksstark.“ Hä? Ausdrucksstark? „Ehm… Schon okay…“ „Aber dafür bin ich ja da!“, warf Risa erfreut ein. „Du kannst mit mir so viel Indigonisch und Damisch üben wie du willst, Kito!“ „Das begeistert mich sehr, vielen Dank.“, antwortete sie lächelnd. Eagle versuchte die Verwirrung abzuschütteln und ging vor den beiden Mädchen in die Hocke, wie er es schon bei Sakura früher immer gemacht hatte. „Sag mal Kito, wo kommst du denn her? Lebst du in Obakemori?“ Diese Frage schien wiederum das Mädchen aus der Bahn geworfen zu haben. Nach einer Weile meinte sie: „Ich muss schweigen.“ So langsam verstand Eagle, was Sache war. „Darfst du nichts sagen, weil sich dein Volk vor dem Rest von Damon verstecken muss?“ Kito senkte den Blick und nickte traurig. „Sakim sprach, dass Menschen uns töten möchten. Töten und foltern und in Zirkel zeigen.“ Risa legte den Kopf schief. „Meinst du ‚Zirkus‘?“ Nachdenklich nickte Kito. „Da, wo Tiere kunststücken.“ Au scheiße, und Eagle hatte sich schon über die potenzielle Sprachbarriere zwischen Indigonern und Menschen Sorgen gemacht. Er verdrängte diesen Gedanken und fragte stattdessen: „Aber wenn ihr euch vor den Damonern verstecken müsst, warum bist du dann hier?“ „Ryû sagte, ihr wollt mich.“ … Nein, das definitiv nicht. Risa musste ihr unbedingt Nachhilfe in Damisch geben, bevor Eagle wegen diesem verirrten Vokabular noch als Pädophiler dastand. „Wer ist Ryû? Warum meint er, dass wir dich brauchen?“ „Darum.“ Lächelnd hielt Kito Eagle die Hand hin. Und Tatsache, er hatte sich das Energie-Gefühl nicht eingebildet. Zwischen Kitos kleinen, grünlichen Fingern zuckten winzige Blitze hin und her, bei denen man zum Teil sogar ein leichtes Zisch-Geräusch hören konnte. Ungläubig starrte Eagle sie an. „Du bist… Eufelias Nachfolgerin? Du bist die neue Besitzerin des Farblosen Drachen?“ Kapitel 77: Zu viele Ängste --------------------------- Zu viele Ängste       Eagle selbst musste nur einen Anruf tätigen und keine zehn Minuten später stürmte nicht nur die Truppe aus der Academy, sondern auch noch der Elb und ein komplett vor der Sonne geschützter Vampir die Kneipe. Noch wusste niemand der Übrigen Bescheid. Eagle hatte ihnen nur gesagt es gäbe eine dringende Angelegenheit, so wie Ituha zuvor. Denn wer weiß, wer sonst noch alles zuhören könnte. Gerade übers Telefon. Die ersten, die die Blitz-Energie wirklich als solche wahrnahmen, waren Carsten, Konrad und Florian. Wohl aus dem Grund, weil diese drei von allen am vertrautesten mit Eufelia selbst gewesen sind. Während sich der Elb und der Vampir noch kritisch umschauten, fragte Carsten verunsichert: „Sensei?“ Bei Carstens gebrochener Stimme wünschte sich Eagle direkt, sie doch irgendwie schon eingeweiht zu haben. Jeder war sich ja dessen bewusst, dass Benni Eufelias Tod sehr nahe ging, da sie nicht nur seine Lehrmeisterin, sondern in gewissem Sinne auch seine Pflegemutter gewesen ist. Doch was sie dabei häufig vergaßen: Eufelia ist auch Carstens Lehrmeisterin und Vertrauensperson gewesen. Ohne sie wäre er nicht der Magier, der er heute war. Eagle fragte sich, wie sehr Carsten im Stillen unter ihrem Verlust litt. War das wieder eine Sache, die er vor dem Rest verheimlichte? Zumindest schien Kito genaustens Bescheid zu wissen. „Ich entschuldige mich, ich bin nicht die wehrte Frau und Meisterin Eufelia, die ihr erwünscht.“ Der Rest war genauso perplex als er das Dryaden-Mädchen erblickte, wie zuvor Eagle. Somit war niemand auch nur dazu in der Lage, etwas auf das plötzliche Auftauchen eines Mädchens zu erwidern, deren Volk seit etwa 180 Jahren als ausgestorben galt. Bevor es jedoch in einer ewigen Schockstarre zu enden drohte, erklärte Eagle schnell die Umstände, weshalb die Dryaden sich gezwungen sahen sich vor den Menschen zu verbergen. Florian nickte nachdenklich. „Verstehe… Und der Farblose Drache hat dich in alles eingeweiht, weshalb du nun nach Indigo gekommen bist?“ Kito nickte. „Ich bereue, dass ich jetzt erst angetroffen bin. Es bedarfte seiner Zeit, dass ich für den Test trainieren musste.“ Öznur verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich würde die Prüfung für die Dämonenform jetzt nicht gerade als Test bezeichnen.“ Doch natürlich verstand Kito nicht, wo der Unterschied zwischen einem Test und einer Prüfung liegen könnte. Lissi schaute sie belustigt an. „Wieso denn nicht? Du hast dort doch sogar mit einem heißen Typen rumknutschen dürfen.“ Geräuschvoll atmete Eagle aus. Ach DAS war ihre Prüfung gewesen, erinnerte er sich. Ja, die hätte wirklich als ‚Test‘ durchgehen können. Kito betrachtete Lissi verwirrt. „Was ist ‚rumknutschen‘?“ „Du bist noch zu jung, um das wissen zu müssen.“, warf Eagle schnell ein, bevor Lissi auf die Idee kam, dem Kind das irgendwie erklären zu wollen. „Kito, wie alt bist du denn eigentlich?“, erkundigte sich Öznur. „Bedeutet ‚wie alt‘ die Jahreszyklen oder der Anteil von meinem Lebenszyklus?“ … Wow, man konnte sein Alter wohl auch dramatisch ausdrücken. Öznur schien etwas überfordert davon. „Ähm…“ „Warum sagst du uns nicht beides?“, schlug Konrad vor. „Die Menschen und Indigoner hier unterscheiden nicht zwischen den Zyklen.“ „So ist das? Also nett-“ „Also gut.“, berichtigte Risa sie direkt. „… Also gut, ich habe bereits acht Stufen von meinem Lebenszyklus, also 17 Jahreszyklen überlebt.“ „Was zum- Die ist älter als ich!“, stellte Öznur geschockt fest. „Sie ist acht.“, korrigierte Anne sie. „Ja, das hab ich schon kapiert. Aber in Menschenjahren ist sie so alt wie Benni!“ Konrad zuckte mit den Schultern. „Das will doch nichts heißen.“ „Stimmt, Opi. Mit deinen 223 Jahren wärst du inzwischen ein wandelndes Skelett.“, stichelte Lissi. Konrad lachte auf. „Hey, ich bin inzwischen 224 Jahre alt.“ „Oh wei, pass auf, dass du nicht auseinanderfällst.“, triezte nun auch Florian ihn, was auch den Rest der Mädchen zum Lachen brachte. Eagle verdrehte amüsiert die Augen und wandte sich an Kito. „Ja, mit diesem verrückten Haufen müssen wir die Welt retten.“ Irgendwie schien auch Kito die Situation lustig zu finden, denn mit leuchtenden Augen meinte sie: „Ich rette gerne die Welt mit verrückten Haufen!“ … Sie passte echt gut in diese Gruppe. Und sei es schon alleine wegen ihrer Wortschatz-Verirrungen. „Aber wisst ihr, was das heißt?“, fragte Laura plötzlich begeistert in die Runde. „Jetzt, wo Kito da ist, können wir bald in Aktion treten!“ Irritiert betrachtete Eagle sie. Wie meinte sie das? Anne zuckte mit den Schultern. „Klar können wir das, wenn sich ein gewisser jemand endlich zusammenreißt und am Zauber arbeitet, statt seine Zeit damit zu verschwenden jeden anzuscheißen und sich darüber zu beschweren, wie schwer es ist am Zauber zu arbeiten.“ Beschämt senkte Carsten den Blick, doch Laura ließ sich davon überraschender Weise nicht entmutigen. „Das ist es ja!“ Eagle lachte in sich hinein. Bei dem Funkeln in ihren schokoladenbraunen Augen erinnerte er sich wieder daran, wieso er nie ein Problem mit der Aussicht darauf hatte, irgendwann einmal eine Ehe mit ihr arrangiert zu bekommen. Obwohl Laura eigentlich gar nicht sein Frauentyp war, sie war einfach super süß. Doch ihre Aussage hatte ihn und den Rest trotz allem stutzig gemacht. Florian betrachtete Carsten verwundert. „Hast du den Zauber fertig gestellt?“ Tatsächlich keimte ein Funken Hoffnung in ihnen allen auf, doch Carsten schüttelte den Kopf und der Funken erlosch wieder. Aber trotz seines besorgniserregend trüben Gesichtsausdrucks, meinte Eagle ein schwaches Lächeln zu erkennen. Als Carsten einen Blick auf Laura warf und seiner besten Freundin eine Hand auf die Schulter legte, wurde das Lächeln deutlicher. „Ich nicht.“ Ein kollektives „Hä?!“ ging durch die Runde und selbst Kito und Risa schienen von seiner Aussage verwirrt. Kritisch verschränkte Anne die Arme vor der Brust. „Willst du uns gerade allen Ernstes weißmachen, dass Laura den Zauber fertig gestellt hast, an dem du seit Wochen am Verzweifeln bist?“ Als sich alle verwirrten Blicke auf sie richteten, nahmen Lauras Wangen die allseits bekannte Rotfärbung an. Hastig wedelte sie mit den Händen. „Nein, nein, so ist das nicht! Ich- ich… Ich hab nur etwas geholfen!“ Ihre Reaktion sorgte dafür, dass Carsten auflachte und den Kopf schüttelte. „‘Nur etwas geholfen‘?“ Er wandte sich an Konrad. „Sie hat den inneren Kreis der Aufstellung herausgefunden und gleichzeitig alles miteinander verbunden.“ Das schien eine große Sache gewesen zu sein, denn selbst der Vampir war bei Carstens Aussage sprachlos. „Du musst mir nachher unbedingt erklären, was es damit auf sich hat.“ „Ich muss Anne noch einmal wiederholen.“, warf Ariane mindestens ebenso von der Rolle ein, „Laura hat den Zauber fertig gestellt?! Das heißt- das heißt- Wir können endlich zu Mars?! Wir können Gotsch und Ninie und alle anderen da rausholen?!?“ „Noch nicht… Tut mir leid…“ Carsten betrachtete sie und es war deutlich sichtbar, wie schmerzhaft es für ihn war, Arianes Hoffnung enttäuschen zu müssen, endlich ihre Schwester retten zu können. „Den Spruch habe ich vorhin so gut wie fertig bekommen, aber es gibt noch ein paar Kleinigkeiten…“ Ariane senkte den Kopf. „Ach so…“ „Aber es sind nur ein paar ‚Kleinigkeiten‘?“, fragte Susanne hoffnungsschöpfend. Carsten nickte. „Das schwierigste ist überstanden.“ Seufzend lehnte sich Eagle zurück und versuchte immer noch, das ganze der letzten zwanzig Minuten zu verarbeiten. Er konnte es noch gar nicht glauben. In den letzten Tagen wirkte alles so hoffnungslos, genauso wie die Wochen zuvor. Und nun auf einmal… Konnten sie das? Durften sie sich das erlauben, diesen Funken Hoffnung? Oder würde es nur gleich wieder die nächste niederschmetternde Nachricht geben? Wie zuvor schon mit Janine… Auch Kito schien zu merken, wie sich die Hoffnung bei vielen nicht ganz ausbreiten konnte. „Sind das nicht gute Neuigkeiten?“ Öznur seufzte. „Es ist einfach zu viel passiert, um…“ Eagle betrachtete seine Freundin. Obwohl Öznur nie wirklich mit ihm über dieses Thema geredet hatte, wahrscheinlich weil sie sich dachte ihn damit nur noch mehr zu belasten, konnte er sich schon denken, was in ihrem Kopf vor sich ging. Klar, die Familien von Laura und Anne gingen seit dem Tod von seinem Vater auf Nummer sicher und hatten die Sicherheitsmaßnahmen rasant erhöht. Immerhin waren sie die Herrscherfamilien. Susannes und Lissis Eltern hatten auch genug Kohle, um sich abzusichern. Und so hart es auch klang, aber Ariane hatte nach ihrer Schwester ohnehin kaum mehr was zu verlieren. Bei dieser biestigen Stiefmutter wäre Ariane wahrscheinlich sogar froh, wenn Mars sie entführen ließe. Wie es bei Janine aussah, wollte sich Eagle ohnehin nicht vorstellen müssen. Aber Öznur… Öznur hatte noch keinen verloren. Noch. Und genau dieses ‚noch‘ bereitete ihr insgeheim so eine Angst. Ihre Familie hatte nun mal nicht das Geld, um eine Leibwache bestehend aus antiken Begabten anzuheuern. Und da diese idiotischen Herrscher über die ‚menschlichen‘ Regionen Damons sich zum Teil immer noch querlegten, konnte sie auch unmöglich auf eigene Faust handeln, ohne in Gefahr zu laufen enttarnt zu werden. Noch bevor Eagle dazu kam etwas zu sagen, meinte Ariane plötzlich: „Alles klar, was können wir tun?“ „Was?“, kam nahezu gleichzeitig von Konrad, Florian und Eagle selbst. „Es gibt doch garantiert irgendetwas, was wir machen können.“, meinte sie erneut. Lissi nickte und stemmte die Hände in die Hüften. „Wir sind es leid, einfach nur herumzusitzen, zu warten bis irgendetwas passiert und zu hoffen, dass nichts passiert.“ „Genau, es muss doch irgendetwas geben.“, gab Susanne ihrem Zwilling Recht. „Wir sind vielleicht nicht die besten Kämpferinnen und bis auf Anne und Laura haben wir auch nicht sonderlich viel Einfluss in der Politik, aber… Aber wir können doch nicht einfach nur zusehen, wie jeder der uns wichtig ist in Gefahr schwebt! Und jetzt auch noch Janine!“ Bei der Erwähnung ihres Namens traten direkt Tränen in Susannes Augen. „Bitte! Es muss doch irgendetwas geben!“ Eagle merkte, wie Konrad und Florian einen zögerlichen Blick austauschten. Natürlich wollte niemand von ihnen die Mädchen mehr in die Sache einbeziehen als notwendig. Eagle konnte das besser verstehen als jeder andere. Aber andererseits verstand er auch, wie diese gezwungene Tatenlosigkeit ihnen den Verstand zu rauben schien. Immerhin half ihm selbst der Gedanke extrem, dass alles was er momentan machte, irgendwie auch zu Sakuras Rettung beitragen könnte. Schließlich seufzte der Vampir. „Wir verstehen ja, wie ihr euch momentan fühlen müsst… Aber…“ Laura schaute ihn mit traurigen Kulleraugen an. „Sind wir so ein Klotz am Bein?“ „Nein, das nicht!“, widersprach Konrad ihr hastig. „Es ist nur…“ Öznur ballte die Hand zur Faust „Was ist es dann?! Wir wollen helfen!“ Entschieden schüttelte Florian den Kopf. „Nein, wollt ihr nicht.“ Nun mischte sich auch Anne in die Diskussion ein. „Könntet ihr das vielleicht erst einmal mit uns absprechen, bevor ihr das einfach so festlegt?!“ „Ihr macht schon genug.“, mischte nun auch Eagle mit. „Gerade du, Anne.“ Die Mädchen betrachteten Anne verwirrt. „Wieso denn das?“ Geräuschvoll atmete Anne aus, antwortete aber nicht darauf. Stattdessen erklärte Florian: „Ihre Mutter scheint sich eine ziemlich schlimme Grippe eingefangen zu haben und muss momentan das Bett hüten. Anne nimmt an ihrer Stelle an den Besprechungen teil.“ „Was?! Das wussten wir gar nicht!“ Schockiert betrachtete Öznur ihre Freundin. Vorsichtig legte Susanne eine Hand auf Annes Arm. „Ist es das, was dich in letzter Zeit so belastet?“ „Es geht ihr zurzeit… ziemlich scheiße. Muss wohl was Mieses im Umlauf sein.“, meinte Anne nur, den Blick abgewandt. „Aber du hättest uns doch was sagen können!“, empörte sich Öznur weiter. „Wir haben uns echt Sorgen gemacht!“ Anne seufzte. „Sorry, ist einfach… viel zurzeit.“ „Das verstehen wir.“ Susanne warf ihr ein aufheiterndes Lächeln zu. „Aber ich hoffe du weißt, dass wir immer für dich da sind. Also falls du Hilfe brauchst…“ Anne brachte ein schwaches Nicken zustande, was für Öznur der Anlass war, sich wieder Florian zuzuwenden. „Dasselbe gilt für den Rest von euch.“ Eagle wies mit dem Kopf Richtung Carsten. „Ich bin schon dankbar, dass ihr dafür sorgt, dass der da mit seiner schwarzen Magie nicht auf dumme Gedanken kommt.“ Der Blick den seine Freundin ihm zuwarf sagte eindeutig, dass es nicht die Art von Hilfe war, die sie im Sinn gehabt hatte. Geräuschvoll atmete Florian aus. Die Mädchen schienen die Geduld des Hauptmanns ziemlich auf die Probe zu stellen. „Ihr wisst genau, was euch widerfahren würde, wenn die Menschen herausfinden was ihr seid.“ Kito legte den Kopf schief. „Wollen Menschen euch auch im Zirkel einsperren?“ „Zirkus.“, berichtigte Risa sie erneut. „Eher töten und foltern.“, ergänzte Eagle. „Und was, wenn uns das egal ist?!“, schrie Öznur aufgebracht. Die kleinen Mädchen zuckten erschrocken zusammen und Eagle beobachtete überrascht, wie ihre Geduld offensichtlich am Ende war und sie den Elben wutentbrannt anschaute. „Du, Konrad, Eagle, die Direktoren… Ihr alle erwartet von uns, dass wir brav trainieren und den Aufpasser für Carsten spielen!!! Vielleicht reicht uns das nicht?! Vielleicht haben wir die Schnauze voll davon, dass jemand entführt oder getötet wird und wir uns immer nur denken können ‚Tja, wir dürfen ja eh nichts machen, um es zu verhindern‘?!?“ „Aber ihr unternehmt doch etwas.“, versuchte Konrad sie zu beruhigen. „Ihr warnt eure Familien und bereitet euch bestmöglich auf alles Kommende vor.“ „Das reicht nicht!!!“ Nun explodierte Öznur endgültig. „Es hat zu reichen!“ Der autoritäre Klang von Florians Stimme machte mit einem Schlag deutlich, warum er der Hauptmann einer gesamten Armee war. Entsprechend eingeschüchtert waren die Mädchen, als er schließlich mit ruhigerem Ton fortfuhr. „Ihr wisst, dass Konrad und ich schon mehr als genug Erfahrungen im Krieg gesammelt haben. Wir wollen einfach nicht, dass auch ihr diese Erfahrungen machen müsst.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Aber wenn es doch unausweichlich ist?“ „Selbst dann.“, warf Konrad ein und seufzte. „Es ist nicht der effektivste Weg, da habt ihr vollkommen recht. Aber lasst uns zumindest versuchen, euch vor den Auswirkungen zu beschützen, die so etwas auf jemanden haben kann.“ Nun mischte sich auch das kleine Dryaden-Mädchen ein. „Bei uns wird viel über den Krieg vor damals gesprochen. Über Grausamkeiten und Abscheulichkeiten. Sakim sprach immer, nicht die Dämonen sind die Monster, es sind die Menschen. Der Krieg sieht ihr wahres Gesicht.“ „Sakim ist euer Stammesältester?“, vergewisserte sich Carsten. Kito nickte. Betrübt atmete Konrad aus. „Leider hat er da nicht ganz unrecht. Nicht nur die Menschen, der Krieg macht uns alle zu Monstern.“ Florian nickte. „Deshalb, haltet euch bitte so weit wie möglich da raus. Euch selbst zuliebe und auch da wir hoffen, dass die Menschheit eines Tages durch euch nicht mehr die Monster in den Dämonenverbundenen sehen wird.“ „Aber…“ Irgendwie wollte Öznur ihm widersprechen, doch anscheinend fand sie die richtigen Worte nicht. Stattdessen konnte Eagle sehen, wie sich bei der ganzen Verzweiflung Tränen in ihren Augen sammelten. So konnte das nicht weitergehen. Bedrückt schüttelte er den Kopf und richtete sich auf. „Komm mal mit, wir müssen reden.“ Die irritierten Blicke der anderen und von Öznur selbst ignorierend nahm er ihre Hand und zog sie regelrecht mit sich, als er die Kneipe verließ. Außen angekommen, riss sich Öznur ziemlich unsanft von ihm los. „Ernsthaft Eagle, das ist ein schlechtes Timing! Wir-“ „Ist es wegen deiner Familie?“, kam er direkt zur Sache. Vor Überraschung verschlug es Öznur die Sprache, doch Eagle konnte genau erkennen, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Seufzend entfernte sie sich einige Schritte und setzte sich auf eine der außenstehenden Bänke. Eagle schwieg für eine Weile und wartete, ob sie von selbst begann zu erzählen. Und Tatsache, seine Geduld musste auf keine allzu harte Probe gestellt werden. „Weißt du… Damals, als bei Nane rauskam, dass sie ihrer Familie nie ein Wort über ihre Dämonenkräfte erzählt hatte, war ich ziemlich überrascht. Ich dachte, dass jeder zumindest mit den Eltern und Geschwistern darüber redet. Bei mir war das jedenfalls nie ein Thema gewesen und sogar der Rote Fuchs selbst war immer der Meinung, dass ich meiner Familie gegenüber ruhig offen sein könnte, solange wir alle es für uns behalten.“ Mit den Fingerspitzen wischte sich Öznur ein paar Tränen aus den Augenwinkeln, offensichtlich mit dem Versuch, ihre Schminke dabei nicht zu verwischen. Aber Eagle ahnte schon, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihren Gefühlen unterlag. Er setzte sich neben sie und meinte: „Ich nehme mal an, dass das nie ein Problem für sie war. Dass du die Besitzerin des Roten Fuchses bist.“ „Fast nie. Am Anfang waren sie schon etwas verunsichert und besorgt, da sie ja die ganzen Geschichten mit den Verfolgungen der Dämonenbesitzer aus den Nachrichten kannten. Aber… Wir haben beschlossen, dass das einfach ein ganz großes Geheimnis wird und damit war die Sache erledigt.“ Traurig lachte sie auf. „Manchmal haben meine Schwestern das als Gelegenheit genutzt, mich ein bisschen damit zu ärgern. Wenn wir zusammen shoppen waren haben sie mir immer nur rote Kleidungsstücke gebracht und mir alles, was eine andere Farbe hatte, direkt aus der Hand gerissen.“ Amüsiert betrachtete Eagle sie. Obwohl Öznur gerade die Schuluniform der Coeur-Academy anhatte (an dieser Stelle fiel ihm mal wieder auf, wie extrem heiß sie darin aussah), wusste er sehr genau, was sie ansonsten in ihrer Freizeit trug. „Erklärt zumindest deinen fast einfarbigen Kleiderschrank.“ Dieses Mal wirkte Öznurs Lachen leichter. „Mir gefällt die Farbe halt selbst.“ „Sie steht dir ja auch echt gut.“ Natürlich half das Kompliment nicht wirklich dabei Öznur aufzuheitern, aber sie schien sich innerlich trotzdem darüber zu freuen. Zumindest für einen kleinen Moment. „Ich find’s echt schön, wie sehr sie mir vertrauen. Auch bei der ganzen Geschichte mit Mars… Sie wissen, dass da was Großes kommt. Und sie wissen auch, dass… dass…“ Öznur schluchzte und legte ihre Brille zur Seite, als sich versuchte weitere Tränen aus den Augen zu wischen. Doch allmählich wurden es zu viele. „Ich… ich hab mit den Direktoren geredet…“, erklärte sie, zwischen weiteren Schluchzern. „An der Coeur-Academy wären sie ja viel sicherer, wie… wie daheim… Aber… aber…“ Vorsichtig nahm Eagle sie in die Arme, während Öznur ihre Fassade fallen ließ und ihr Gesicht weinend in seinem Hemd vergrub. „Die Direktoren hatten damit überhaupt kein Problem!“, schrie sich schluchzend. „Es gibt genug Gästezimmer im Lehrertrakt, wo man sie unterbringen könnte. Aber meine Eltern wollen nicht!“ „Wieso das?“, fragte Eagle irritiert. Auch er hatte gedacht, dass die Coeur-Academy eigentlich eine gute Notlösung wäre. „Na ja, wegen der Arbeit… Sie haben Angst, dass sie sonst direkt den Job verlieren und keinen neuen finden und wir dann kein Geld mehr haben und die Rechnungen nicht mehr bezahlen können und schließlich auf der Straße landen und-“ „Schon gut, schon gut! Ich habs kapiert.“, versuchte Eagle sie in ihrem immer lauter werdenden Wortschwall zu unterbrechen. „Ich hab Angst dass sie… dass sie entführt werden… wie Ninie und Sakura und Johanna… Oder, dass sie… …“ Das letzte Wort verschwand in dem Stoff von Eagles Hemd. Eagle verstärkte seinen Griff um ihre zitternden Schultern und legte seinen Kopf auf ihren. Nach einer Weile meinte er: „Du weißt, dass ich helfen kann. Also warum bittest du mich nicht darum?“ „Das kann ich nicht…“, erwiderte sie mit schwacher Stimme. Eagle runzelte die Stirn. „Klar kannst du.“ Er schob sie etwas von sich weg, um ihr in die Augen schauen zu können, die bereits leicht rötlich von dem ganzen Weinen waren. „Ich hab vorhin sogar das Okay der Stammesoberhäupter bekommen. Wir können dir helfen.“ Öznur schien etwas erwidern zu wollen, wandte aber schließlich den Blick ab. Eagle konnte ihre Reaktion nicht wirklich deuten. Und noch weniger verstand er sie, als sie schließlich meinte: „Das geht nicht…“ „Was redest du da für einen Mist? Natürlich geht das.“ „Nein! Das geht nicht!“, widersprach Öznur ihm bestimmt und schluchzte erneut. „Und bitte biete mir sowas gar nicht erst an!“ „Was?! Wieso denn nicht?!“ „Weil ich das nicht will!“, schrie Öznur aufgebracht und wand sich aus seinen Armen. „Ich will so eine Hilfe nicht von dir annehmen müssen! Ich will deinen Status nicht ausnutzen!!!“ Was zum- So langsam dämmerte es Eagle, was Öznur zu dieser Aussage ritt. Und er war im Prinzip selbst dran schuld. Oh scheiße. „Özi, du weißt, dass ich damals nicht ich selbst war.“ „Denkst du, das reicht als Begründung?! Nachdem du mir vorgeworfen hast, genauso wie all die anderen Schlampen zu sein?! Dass ich genauso wie sie nur an deinem Status interessiert bin?! Und das nur ausnutzen will?! Und jetzt verlangst du von mir ernsthaft, genau das zu tun?!? Eine Woche, nachdem du mich deswegen zum Teufel gejagt hattest?!“ Geräuschvoll atmete Eagle aus. Wer hätte gedacht, dass ihm das ausgerechnet jetzt zum Verhängnis wurde? „Es geht um deine Familie!“, versuchte er an ihre Prioritäten zu appellieren. „Ich weiß!!! Aber… Aber… Ich kann das nicht! Ich will nicht ausnutzen, dass du der Häuptling bist!“ Weinend vergrub Öznur das Gesicht hinter den Händen. Eagle schluckte alle Kommentare runter, die ihm durch seine aufbrausende Natur auf der Zunge lagen. Stattdessen zog er sie erneut an sich und suchte nach passenderen, ruhigeren Worten, während sich Öznur an seiner Brust die Seele aus dem Leib zu heulen schien. Wahrscheinlich war es nicht nur die Angst um ihre Familie, die ihr so zu schaffen machte. Vermutlich auch der Zwiespalt, in dem sie sich gerade befand. Sie beide wussten, dass es die beste, wenn nicht gar die einzige Möglichkeit war, einen halbwegs zuverlässigen Schutz für ihre Eltern und Geschwister zu gewährleisten. Es war nur diese Erinnerung an damals, die Öznur davon abhielt Eagles Angebot anzunehmen. Nur, weil er damals grundlos so ausgerastet war und sich wie das letzte Arschloch verhalten hatte. Eagle kniff die Augen zusammen. Ausgerechnet jetzt. Ausgerechnet jetzt, wo er die Macht dazu hätte, ihr eine schwere Last von den Schultern zu nehmen, war es genau diese Macht, die ebendies verhinderte. „Bitte… Nutze es doch einfach aus.“ Dennoch spürte er, wie sie schwach mit dem Kopf schüttelte. Er biss die Zähne zusammen. „Verdammt Öznur, lass dich nicht ausgerechnet von diesen Gefühlen von damals leiten! Nicht dann, wenn das Leben deiner Familie auf dem Spiel stehen könnte!“ „Aber… aber…“, schluchzte sie. Eagle atmete hörbar aus und schob seine Freundin wieder etwas von sich weg, um ihr erneut in diese geröteten Augen schauen zu können. „Hör mal… Ich will das nicht. Ich will nicht, dass du dieselben Erfahrungen machen musst wie ich. Oder wie Laura. Oder Ariane. Oder Janine… Niemand von deiner Familie ist an irgendeiner Krankheit gestorben. Und niemand wurde entführt, oder gar ermordet. Ich… will nicht, dass es soweit kommen muss. Und noch weniger will ich dich dann darunter leiden sehen. Und mir sagen müssen, dass ich es vielleicht hätte verhindern können. … Verstehst du?“ Nur zögernd antwortete Öznur darauf mit einem Nicken. Mit einem schwachen Lächeln wischte Eagle ihr eine Träne von der Wange, die durch die Wimperntusche eine leichte Schwarzfärbung hatte. „Du meintest doch, dass du nach all dem nichts ‚Materielles‘ mehr von mir willst. Und ich finde, die Möglichkeit deine Eltern und Geschwister zu beschützen, hat nichts mit etwas Materiellem zu tun. Oder?“ Öznur schaffte es immer noch nicht, ihm in die Augen zu schauen. Aber trotzdem hatte Eagle den Eindruck, dass seine Argumente so langsam bei ihr ankamen. „Und… was sind das für Leute, die meine Familie beschützen sollen?“ „Das sind Profis, die zivil bei Festlichkeiten und so weiter darauf aufpassen, dass niemand vorhat, dem Häuptling zu schaden.“ Öznur runzelte die Stirn. „Sowas habt ihr?“ „Meines Wissens hat jede Region so etwas. Indigo ist da sogar noch recht entspannt, wir haben nur Aufpasser für solche Events, die unübersichtlicher sind. Also wo viele Leute an einem Fleck sind. Bei anderen Herrscherfamilien ist für gewöhnlich eine private Leibwache der Standard.“ „Stimmt, Benni war ja früher sogar offiziell Lauras Bodyguard.“, erinnerte sich Öznur und lachte schwach auf. „Zum Beispiel, ja.“ Eagle betrachtete sie. „Willst du nicht jede Gelegenheit ergreifen, um deine Familie zu beschützen?“ „Doch… schon…“ Eagle packte sie an den Schultern. „Dann mach das auch! Setze nicht das Leben deiner Familie aufs Spiel, nur, weil ich mich vor einer Woche wie ein Arschloch verhalten habe.“ „Du bist echt ätzend, weißt du das?“ Öznur verpasste ihm einen schwachen Hieb gegen die Brust und Eagle wusste direkt, dass er die Diskussion gewonnen hatte. „Immer wieder gerne.“ „Danke…“ Zitternd seufzte sie und lehnte sich wieder gegen ihn. Erneut nahm Eagle Öznur in die Arme und schaute gedankenlos in den Himmel. Die Wolken wirkten nahezu schwarz. Es würde wohl bald ziemlich stark gewittern und stürmen. Auch wenn sie momentan endlich wieder hoffen durften, konnte man das als kein sonderlich gutes Omen sehen… „Oh… ups…“, meinte Öznur plötzlich. Eagle betrachtete sie verwirrt. „Was ‚ups‘?“ Beschämt lachte Öznur auf und wischte sich etwas von der verschmierten Schminke von der Wange. „Sorry, ich dachte sie wär‘ wasserfest.“ Eagle wollte schon fragen was zum Teufel sie damit meinte, aber ein Blick auf sein Hemd war Antwort genug. Er seufzte. „Na toll, Jenny wird mich umbringen.“ Immer noch leicht bedrückt, aber gleichzeitig auch belustigt winkte Öznur ab. „Ach was. Sie weiß das garantiert zu schätzen, was für ein Gentleman du warst.“ Eagle hob eine Augenbraue. „Sie wird mir gar nicht erst die Gelegenheit geben, mich zu erklären. Letzte Woche hätte sie mich wegen unseres Streits schon fast verdroschen.“ Diese Vorstellung brachte Öznurs heiteres Gemüt nun gänzlich zurück. „So langsam glaube ich, dass in Wahrheit die Indigonerinnen den Titel ‚stärkste Kämpfer Damons‘ tragen sollten.“ Dieser Gedanke ließ nun auch Eagle schmunzeln. Ja, selbst sein Vater hatte es immer vermieden, Jenny oder Ituha gegen sich aufzubringen. „Ich glaube, wenn wir eine wütende Jenny mit Hausschlappen in den Kampf schicken, verbannt sich Mars direkt von selbst.“ Das brachte Öznur nun endgültig zum Lachen, als von weiter entfernt ein „Mann Eagle, dann hätte sich Carsten die ganze Arbeit ja auch gleich sparen können!“ kam. Überrascht wandte er sich der Eingangstür zur Kneipe zu, wo Laura mit Carsten und einigen anderen stand. Carsten lächelte schwach, während er die beiden auf der Bank sitzenden betrachtete. „Wir wollten eigentlich schauen, ob bei euch alles in Ordnung ist. Aber diese Sorge war wohl unbegründet.“ Noch jemand, der dringend aufgeheitert werden sollte., dachte sich Eagle. Carsten lachte ihm viel zu selten in letzter Zeit. Besonders, da er eigentlich immer so eine lebendige, fröhliche Person war… Eagle beschloss, sein persönliches kleines Drama noch mehr auszuschmücken. „Nichts ist in Ordnung.“, meinte er also und wies auf die schwarzen Flecken, die er Öznurs Mascara zu verdanken hatte. „Ich bin ein toter Mann.“ Seine Überdramatisierung brachte tatsächlich auch den Rest zum Lachen, inklusive Carsten. „Ist Jenny wirklich so schlimm?“ „Sei froh, dass du sie noch nie wütend erlebt hast.“ Ituha schüttelte amüsiert den Kopf. „Crow ist schließlich nicht derjenige, der eine Dummheit nach der nächsten begeht.“ „Da bin ich mir nicht so sicher.“, meinte Laura kritisch. „Eagle übt jetzt schon mehr Einfluss auf Carsten aus als notwendig.“ Eagle runzelte die Stirn. „Soll ich mir jetzt Sorgen machen?“ Laura betrachtete ihren besten Freund mit einem traurigen Lächeln. „Um Carsten muss man sich immer Sorgen machen.“ Dieser erwiderte ihren Blick kritisch. „Du solltest erst einmal vor der eigenen Haustür kehren, bevor du solche Annahmen machst.“ „Mir wird jetzt erst so richtig bewusst, dass Benni es all die Zeit mit zwei Sorgenkindern auf einmal aufnehmen musste.“, fiel Öznur auf. Anne hob eine Augenbraue. „Er ist doch selbst ein Sorgenkind.“ „Sind wir das nicht alle?“, fragte Eagle, halb amüsiert und halb schockiert, wie viel Wahrheit tatsächlich in dieser Aussage steckte. „Was bedeutet ‚Sorgenkind‘?“, hörte er Kitos Stimme aus dem Inneren des Gebäudes. Während Risa und Susanne ihr versuchten den Begriff zu erklären, fragte Eagle an den Rest der Mädchen gewandt: „Und habt ihr einen Kompromiss mit dem Hauptmann und dem Vampir finden können?“ Ariane verschränkte die Arme vor der Brust und warf einen leicht verärgerten Blick in das Innere, wo sich offensichtlich Konrad und Florian noch befanden. „Sie wenden sich an uns, wenn es etwas gibt, wo wir helfen können.“ Laura seufzte. „Also im Prinzip dasselbe wie zuvor: Warten und hoffen.“ Carsten schüttelte den Kopf und legte einen Arm und ihre Schultern, um Laura etwas an sich zu drücken. „Glaubt mir, ihr macht schon mehr als ihr es für möglich haltet.“   Kapitel 78: Die tiefste Schlucht der Unterwelt ---------------------------------------------- Die tiefste Schlucht der Unterwelt       Jack lehnte sich im Stuhl zurück, zufrieden gesättigt und fast schon überfressen. Selbstgemachte Burger waren halt schon immer was Tolles. Er beobachtete Benni, welcher schweigend das Geschirr ihrer unfreiwilligen Gäste in die Spülmaschine räumte. Eins der wenigen technischen Geräte, welches er doch tatsächlich zu bedienen gelernt hatte. Selbst der stärkste Kämpfer Damons war also in der Lage, ein paar Knöpfchen zu drücken. Jacks Blick fiel auf den Pappbecher neben der Spüle. „Hat sie schon wieder nur Cup Noodles gegessen?“ „Besser als nichts.“, erwiderte Benni lediglich. Verstimmt schüttelte Jack den Kopf. „Das kann doch nicht so weitergehen.“ Janine war nun schon seit einer Woche hier, hatte am Anfang jedoch überhaupt kein Essen angerührt. Jack hatte erst vermutet, dass sie einfach keinen Appetit hatte. War ja auch nicht sonderlich ungewöhnlich, nach… sowas. Aber sehr bald stellte sich heraus, dass es nicht am Essen selbst lag, sondern an der Person, die hinter den Kulissen für die Verpflegung zuständig war. „Soll ich doch versuchen, etwas für sie zu kochen?“ Zwar schien diese Frage ernst gemeint aber gleichzeitig lag auch ein Hauch Sarkasmus in Bennis Stimme. Der sich Jacks Antwort ohnehin schon denken konnte. „Niemals.“ Genau genommen hatte Benni hier noch nie etwas gekocht, sondern sich seit Beginn mit -Überraschung, Überraschung- ‚Cup Noodles‘ über Wasser gehalten. Doch nachdem Jack ihn endlich hatte dazu bringen können, seine Existenz als solche anzuerkennen, hatte er sehr bald vegetarische Abwandlungen seines eigenen Essens für Benni hergestellt. Ihm war sogar einige Male ein anerkennendes Nicken für diverse Gerichte vergönnt worden. Und es war witzig zu beobachten, was für Zutaten Benni besonders mochte: Mais, Pilze, Mais, Kartoffeln, Reis und noch einmal Mais. Zumindest, falls er noch keinen Mais verwendet hatte. Was Janine wohl normalerweise gerne aß? Jack hatte ursprünglich gehofft es genauso wie bei Benni herauszufinden, um ihr zumindest über diesen Weg kleine Freuden bereiten zu können. Um ihr die Möglichkeit zu geben immerhin ein paar Mal am Tag den tristen Gedanken und Erinnerungen zu entfliehen, die sie mehr gefangen hielten als es den Metallgittern im Kerker je möglich wäre. Aber leider… „Sie lässt wahrscheinlich immer noch nicht mit sich reden, oder?“ „Nicht mehr als sonst.“, antwortete Benni tonlos und suchte nach getaner Arbeit nach etwas im Regal, was er dort nicht zu finden schien. Jack seufzte. „Tja und wenn ich selbst versuchen würde mit ihr zu reden wäre das genauso erfolgsversprechend wie deine Suche eben gerade.“ Benni warf einen Blick über die Schulter, den Jack nicht wirklich deuten konnte. „Ich hatte extra zwei Packungen gekauft.“ „Selbst schuld, wenn du nicht vorausschauend planst.“ „Das war vor zwei Tagen.“ „Ja. Und?“ „Du hast eine Kekspackung pro Tag geleert?“ „Ja. Und?“, wiederholte Jack sich. Benni atmete geräuschvoll aus und schloss den Schrank wieder. Offensichtlich ohne das gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte. Jack betrachtete ihn belustigt. „Komm, der mächtige ‚stärkste Kämpfer Damons‘ braucht doch keine Kekse, um die Welt vor dem Untergang zu retten.“ Benni erwiderte seinen Blick. „Wenn Mars gewinnt, trägst du daran die Schuld.“ Jack lachte auf. „Kein Problem, bin ja eh der Bösewicht.“ Seufzend lehnte sich der stärkste Kämpfer Damons gegen die Küchenzeile und verschränkte die Arme vor der Brust. So Hammer sein trockener Humor auch war, leider war er nur auf kurze Phasen beschränkt. Was solche Kommentare aber umso besser machte, wenn Benni sie mal fallen ließ. Es waren diese kleinen Erinnerungen daran, dass er halt doch ein Mensch war und keine eiskalte Killermaschine. „Du scheinst immer noch nicht so zuversichtlich, dass der Rest es schafft ihm zuvor zu kommen.“, vermutete Jack und konnte direkt erkennen, dass er recht hatte. „Es ist schwer zu hoffen, wenn man sich dessen bewusst ist, dass alles von den Launen eines Dämons abhängt, der zu alldem über die Zerstörung herrscht.“ „Ach komm, nicht alles.“, versuchte Jack ihm -und sich selbst- den Pessimismus auszureden und fragte schließlich: „Wo wir schon dabei sind: Wie geht’s dem Näschen?“ „Geht.“, erwiderte Benni nur, mit den Gedanken ganz eindeutig noch bei dem Ober-Bösewicht. Nachdem Jack sein Talent gebrochene Knochen zu richten an Sultana schon hatte ausleben dürfen, war es ihm auch vergönnt worden sich um Bennis gebrochene Nase zu kümmern. Natürlich hatte dieser den Schmerz mit seiner typischen stoischen Fassung ertragen. Aber sonderlich glücklich über die Behandlungsweise war Benni auch nicht gewesen. „Und ‚geht‘ bedeutet…?“, erkundigte sich Jack, als er Bennis Gesichtsausdruck genauer unter die Lupe nahm, der trüber als trüb war. Seufzend schüttelte er den Kopf. „Diese Stimmen machen mich noch verrückt.“ Stimmen? Jack runzelte die Stirn. „Ähm Benni… Heikles Thema aber das mit dem ‚Stimmen hören‘ und ‚verrückt‘ ist eigentlich genau anders herum.“ „Da ist eine große Menge durcheinanderredender Leute, so wie in einem Zelt auf dem Jahrmarkt. Hörst du sie nicht?“ „Nope.“ Aber vielleicht war es ja trotzdem keine Einbildung. Immerhin hatte Benni dank seiner Vampir-Gene ein deutlich besseres Gehör als Jack. „Vielleicht kommt das aus der Kantine mehrere Stockwerke weiter oben? Haufen Vampire, Werwölfe und Zombies… Das klingt dort garantiert wie in einem Markt-Zelt.“ Doch Benni schüttelte den Kopf. „Das dachte ich auch, aber die Richtung ist eine andere.“ „… Jetzt mache ich mir ernsthaft Sorgen um dich.“ Trotz Jacks typischem Hauch Sarkasmus war diese Aussage ernst gemeint. Psychische Probleme sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen, das hatte er selbst häufiger und stärker erfahren dürfen als ihm lieb war. Und von all dem was er gehört hatte, war Benni auch nicht gerade verschont von traumatisierenden Ereignissen geblieben. Eigentlich war es ein Ding der Unmöglichkeit, dass seine Psyche von all dem unbeschadet geblieben sein könnte. Was man schon alleine daran beobachten konnte, wie schwer es ihm fiel Gefühle auszudrücken oder verstehen zu können. Doch gleichzeitig schien sich Benni dessen bewusst, dass diese Eigenarten von ihm ‚nicht normal‘ waren. „Bist du dir sicher, dass diese Stimmen keine Einbildung sind?“, hakte Jack nach und bekam als Antwort darauf lediglich ein Nicken. Er seufzte und richtete sich auf. „Okay, dann lass uns herausfinden, wo sie herkommen.“ Seine plötzliche Aufbruchstimmung schien Benni etwas verwirrt zu haben, daher meinte er noch: „Entweder wir finden die Ursache, oder du hast offiziell einen an der Klatsche. Was ist dir lieber?“ „Denkst du wirklich, ich habe einen ‚an der Klatsche‘?“, fragte Benni nur, verließ aber seinen Platz an der Küchenzeile. „Das sowieso.“, erwiderte Jack und klopfte ihm auf die Schulter. „Aber ich versuche herauszufinden, was genau es ist.“ Während sie einen der tausenden mit abertausenden Kerzen beleuchteten Gänge entlanggingen, meinte Benni plötzlich: „Schizoid.“ „Gesundheit. Und übrigens heißt es schizophren.“ „Du wolltest doch wissen, was ich an der Klatsche habe.“ Überrascht schaute Jack auf. Er hatte das ernst gemeint? Okay, natürlich hatte Benni das ernst gemeint. Es war Benni. „Schizo-was?“ „Schizoid. Eine begrenzte Fähigkeit Gefühle auszudrücken und sich im Prinzip von allem wie abgespalten zu betrachten.“ „Klingt passend. Wie kommst du darauf? Wohl kaum gegoogelt, oder?“ „Die Mutter eines ehemaligen Klassenkameraden ist Psychotherapeutin.“ Jetzt hatte Benni es endgültig geschafft Jack aus der Rolle zu werfen. „Heißt das, du hattest eine Therapie gemacht?“ „So überraschend?“ „Ja.“ Benni erwiderte nichts darauf und führte sie eine der Wendeltreppen des Schlosses weiter nach unten. Schließlich hakte Jack nach: „Ist es für dich okay darüber zu reden? Ich bin echt neugierig.“ „Inwiefern?“ „Na ja, du und eine Psychotherapie. Irgendwie passt das nicht zusammen. Warum? Es wird dich wohl kaum jemand hin geschleift haben, oder?“ „Nein, es war meine Entscheidung.“ „Und wann?“ „…“ Tatsächlich schien diese Frage Benni etwas ins Stocken zu bringen. Sonderlich angenehm war das Thema für ihn also wirklich nicht. „… Kurz nach dem Tod von meinem Sensei.“ Also gerade mal vor einem halben Jahr… Mitfühlend betrachtete Jack Benni. „Du hast nicht so um sie trauern können, wie es eigentlich der Fall sein sollte. Nicht wahr?“ „Es ist schwer zu beschreiben.“, meinte er nur. In der unteren Etage angekommen, schien sich Benni auf die Suche nach der nächsten Treppe zu machen, um noch weiter nach unten zu gelangen. Aber tatsächlich versuchte er doch noch, seine Gedanken oder eher Gefühle in Worte zu fassen: „Da war diese seltsame Leere, die ich nicht verstehen konnte. Und gleichzeitig hat sich in der Brust ein Druck ausgebreitet, sodass ich meinte nicht richtig atmen zu können. Aber trotzdem… hatte ich nicht das Gefühl traurig zu sein. Selbst der Begriff ‚Trauer‘ war schwer zu verstehen.“ „Und da hast du beschlossen es ist an der Zeit etwas zu ändern?“ „Ja. Eufelia-Sensei hatte vor ihrem Tod einen letzten Wunsch. Sie wollte, dass ich lerne meine Gefühle in den richtigen Momenten zuzulassen. Aber… ich konnte es einfach nicht. Ich dachte eigentlich, ich könne meine Gefühle kontrollieren. Als ließen sie sich ein- und ausschalten. …Oder zumindest wollte ich das denken.“ „Aber in Wahrheit hattest du keinen Plan und warst total überfordert damit, wie dein Körper auf diese ominöse Trauer reagiert.“, vermutete Jack und bekam ein Nicken. Schweigen breitete sich aus, während sie der nächsten Treppe immer weiter nach unten folgten. Eigentlich fand Jack es cool, dass sich Benni auf eigene Faust Hilfe geholt hatte. Das war nicht häufig der Fall. Besonders, da man diese mangelnde Fähigkeit Emotionen zu empfinden auch durchaus als Vorteil betrachten konnte. Aber andererseits… Es war ja nicht so, dass Benni innerlich aus Stein war. In der nächst-unteren Etage angekommen fragte Jack: „Hast du schon mal mit jemandem darüber geredet?“ „Konrad, Rina und die Direktoren wussten Bescheid.“ Das überraschte Jack ein bisschen. „Die Direktoren schon aber nicht Carsten und Laura?“ „Ich musste mich manchmal vom Unterricht befreien lassen.“, war Bennis einzige Erklärung dazu. Aber vermutlich wollte Benni insgeheim die beiden Sorgenkinder nicht auch noch damit belasten. Laura hatte durch ihr persönliches kleines Drama mit dem Schwarzen Löwen ohnehin lange genug etwas gehabt, woran sie schwer zu beißen hatte. Und Carsten musste auch schon sein eigenes Kreuz tragen, was viel schwerer war als er sich eingestehen wollte. „Aber denkst du, die Therapie hat geholfen?“ „Zumindest fällt es mir inzwischen leichter zu verstehen.“ „Und zu fühlen?“ „Kommt darauf an.“, antwortete Benni nur. Inzwischen waren sie am Fuß der nächsten Treppe angekommen. Jack selbst konnte immer noch nichts hören, abgesehen von ihren eigenen Stimmen.  „Das ist der unterste Teil des Schlosses. Sind diese komischen Stimmen inzwischen deutlicher geworden?“ Tatsächlich nickte Benni und schaute sich weiter um, um sich von seinem Gehör in einen der Gänge leiten zu lassen. Jack hatte null Plan, was hier unten sein sollte. Viele von Mars‘ Schachfiguren lebten hier im Schloss, was entsprechend riesig war. Aber die meisten Zimmer waren eher in den oberen Stockwerken. Plötzlich blieb Benni stehen und betrachtete die Wand, die sich vor ihm auftürmte. „Scheint ne Sackgasse zu sein.“, kommentierte Jack. „Sicher?“ „Du mit deinen Stimmen wirst mir immer seltsamer. Ich glaube, ich kenne das nächste Therapie-Thema schon für dich.“ Benni schaute sich um, aber natürlich gab es nichts zu finden. Genauso wenig wie er zuvor die Kekse finden konnte. Bei einem Blick nach oben meinte er schließlich: „Wir müssten uns genau unter dem Eingang zu Mars‘ Gemächern befinden.“ Jack zuckte mit den Schultern. „Könnte hinhauen.“ Also eigentlich hatte er keine Ahnung. „Kannst du etwas spüren?“, erkundigte sich Benni, wobei er eindeutig Jacks Tastsinn-Fähigkeiten der Erd-Energie meinte. „Hm, hab etwas Bauchschmerzen. Vielleicht war der zweite Burger doch zu viel.“ Benni erwiderte nichts auf diesen ironischen Kommentar, aber Jack tat ihm trotzdem den Gefallen. Er legte eine Hand auf die Wand, wobei ihm das eigentlich nicht sonderlich weiterhalf, und schloss die Augen. Er konnte den Verlauf der Wände so deutlich nachvollziehen, als hätte er einen Lageplan zur Hand. Ein ganz normaler Lageplan eines ganz normalen Untergrundschlosses. Gewaltig groß, zig-tausende Gänge, aufgebaut wie ein riesiges Labyrinth und natürlich auch Geheimgänge. Jack runzelte die Stirn. Tatsache. Geheimgänge. „Direkt hinter dieser Wand befindet sich eine Treppe.“ An der Stelle wo seine Hand die Wand berührte erschuf Jack mit der Erd-Energie ein Loch, so groß wie eine Tür. Direkt dahinter, etwa ein Meter unter dieser Öffnung, konnte man eine schwach beleuchtete Treppe erahnen, die in tiefste Finsternis führte. Es war eine monströse Schlucht, wie man sie niemals hinter den Innenwänden eines Schlosses erwarten würde. Außer natürlich es war ein Schloss in der Unterwelt, beherrscht von dem Ober-Bösewicht persönlich. „Du willst mir jetzt nicht ernsthaft weißmachen, dass deine Stimmen von genau da unten kommen, oder?“ „Doch.“ Ein kalter Luftzug ließ Jack frösteln. „Nicht sehr einladend.“ Er merkte, wie auch Benni zögerte die Entdeckungstour fortzusetzen. Dieser Ort schrie regelrecht danach, dass dort niemand etwas zu suchen habe. Tja, zu blöd, dass Jack von Natur aus extrem neugierig war. „Also dann…“ Er hielt sich an der Wand fest und ließ sich vorsichtig zu den Stufen runter. Mit einem Schlag war es eiskalt und Jack bereute es, lediglich mit Jeans und T-Shirt ausgestattet zu sein. Frierend verschränkte er die Arme vor der Brust und schaute hoch zum Eingang. „Kommst du nun oder nicht?“ Es war mehr als deutlich, dass Benni dieser mysteriöse Abgrund noch weniger geheuer war als Jack selbst. Und da Bennis gesunder Menschenverstand noch halbwegs funktionierte, ließ er sich auch nicht so leicht von der Neugier überzeugen, wie es bei Jack der Fall war. „Wenn du die Hosen voll hast, kannst du die Stimmen auch gerne Stimmen sein lassen. Ich gehe auf jeden Fall da runter und schau mir an, was dort ist.“, kommentierte Jack Bennis Zögern. Es dauerte noch eine Weile, in der Jack gefühlt schon zu einem Eiszapfen erfroren war, doch schließlich überwand auch Benni seine Zweifel und kletterte zu ihm auf die Stufen hinunter. „Ich weiß nicht, ob wir da wirklich sein sollten.“, meinte er nur, erschuf mit seiner Feuer-Energie aber eine kleine Flamme über seiner Hand. Das Licht brauchte Jack zwar eigentlich nicht, aber die ausgestrahlte Wärme nahm er dafür umso dankbarer an. „Wir dürfen uns überall im Schloss frei bewegen. Mars hat nie etwas von einem ‚verbotenen Flügel‘ erwähnt.“, erwiderte er nur schulterzuckend und konzentrierte sich darauf, auf den feuchten Stufen nicht auszurutschen. Andernfalls würde sein Abstieg zumindest extrem verkürzt werden. Und Mann, war dieser Abstieg eine Geduldsprobe. Die Wendeltreppe war schmal und schlängelte sich ganz langsam am Rand dieses unsagbar riesigen Turms entlang, der als und als nicht enden wollte. Der Weg hinab war begleitet von erdrückendem Schweigen. Keine sarkastischen Kommentare und keine anderen blöden Witze. Jack hatte den Eindruck, selbst wenn er auch nur versuchen würde die Stimmung aufzulockern, würde die Schwärze nur jeglichen Humor verschlucken. An diesem Ort konnte man nichts Witziges finden. Hier gab es nichts zu Lachen. Sondern nur Kälte. Jack runzelte die Stirn. Aber so langsam… „… Da sind wirklich Stimmen.“ „Sag ich doch.“, erwiderte Vampir-Boy. Die Luft war kalt und dünn, als würden sie einen Berg hinaufklettern und nicht in einen Abgrund hinein. Aber gleichzeitig war die Feuchtigkeit nahezu spürbar, was die Kälte umso eisiger erscheinen ließ. Benni rümpfte die Nase und auch Jack meinte, etwas zu riechen. Diesen süßlichen Geruch von Fäulnis und Verderbnis, der immer stärker wurde, je näher sie dem Grund in der Tiefe kamen. Der sich mit der kalten Feuchtigkeit vermischte und den Eindruck verlieh, als würden sie gerade in eine Jahrhunderte alte Gruft spazieren. Gerade als Jack es in Erwägung zog sich bei dem bestialischen Gestank von seinen Burgern zu verabschieden, konnten sie im Flackern des Feuers das Ende der Treppe erkennen. „Herzlichen Glückwunsch, Sie haben Ihr Ziel erreicht.“, meinte er tonlos. „Der kälteste, stinkendste Ort in der gesamten Unterwelt.“ Sie betrachteten den gewaltigen Raum, in dem man bis auf Dunkelheit nichts sehen konnte. Aus den Augenwinkeln nahm Jack eine knappe Armbewegung von Benni wahr, als sich mehrere Flammen mit Feuer-Energie bildeten und die Finsternis mit ihrem warmen, rötlichen Flackern erhellten. Der Raum war in der Tat gigantisch. Nach oben hin verlor sich das Feuer im Nichts, das wahrscheinlich erst unter Mars‘ Gemächern endete. Das Licht der Flammen tanzte an steinernen Wänden, die weniger gebaut und mehr Natur-geschaffen schienen. Im Boden des runden Turms waren Furchen vier gigantischer Kreise, die nach Innen hin immer kleiner wurden und trotzdem noch riesig waren. Sie schienen irgendein Muster zu ergeben, was bei der Größe aber mit bloßem Auge nicht erkennbar war. Jack ging die letzten Stufen der Treppe hinunter und folgte einem Weg des Musters, über die Kreise hinweg auf die Mitte zu. Auf der anderen Seite des Raumes ragte eine überdimensional große Steintür in die Höhe, mit wirren Symbolen verziert. Sie wirkte so massiv und schwer, dass noch nicht einmal zwei Kampfkünstler pro Türflügel in der Lage schienen sie zu öffnen. Und drei mal durfte man raten, was Jack hinter dieser Tür hören konnte. „Wir haben wohl tatsächlich deine Stimmen gefunden.“ Jack beobachtete, wie Benni selbst die Treppe verließ, begleitet von so deutlichem Zögern als würde er gleich in brodelnde Lava treten. Während Benni sich der Tür mit dem Meer an Stimmen näherte, schaute Jack sich weiter im Raum um, bis etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Er verließ seinen Platz auf dem Kreis und näherte sich einer mageren Gestalt, die zusammengesackt auf dem Boden saß. Jack würde nur zu gerne sagen, dass diese Gestalt nur noch aus Haut und Knochen bestand, aber leider musste er sich eines Besseren belehren. Sie bestand nur noch aus Knochen. Jack ging vor der armen Kreatur in die Hocke und betrachtete die abgewetzten Lumpen, die die traurigen Überreste des Leichnams zum Teil bedeckten. Der Stoff war dunkel und Jack war sich nicht sicher, was davon Dreck und was Stoff war. Und ob es noch was anderes gab, was ihm diese Farbe verliehen hatte. Er suchte nach weiteren Anhaltspunkten, was oder eher wer das mal gewesen sein könnte, bis ihm wenige Meter entfernt ein metallisches Leuchten auffiel. Ein goldener, verzierter Kranz, vielleicht eine Art Tiara, schon fast zu verdreckt um das Licht der Flammen reflektieren zu können. Mit einem Gedanken ließ er die Krone mit seiner Erd-Energie zu sich kommen und wischte etwas von dem feuchten Staub weg. Oder war das Schimmel? Jack wollte es gar nicht erst wissen. Die Erkenntnis wer das war, jagte ihm einen eiskalten Schauder über den Rücken. Er kannte die wahre Geschichte vom Magischen Krieg. Und eigentlich war es auch logisch. Er hätte es sich schon denken können. Das ‚wer‘. Er hätte sich auch schon denken können, wo sie sich gerade befanden. Und trotzdem. Diese Gewissheit… „Wir sollten besser nicht hier sein…“, meinte er, eher zu sich selbst. „Hey Benni, lass uns lieber von hier verschwinden.“ Er wandte sich Benni zu, welcher wie gebannt die Steintür zu betrachten schien. „Benni? Wir sollten-“ „Eine Familienzusammenführung, wie ich sehe. Wie schön!“ Erschrocken fuhr Jack herum. Trotz seiner Fähigkeiten hatte er keine weitere Person wahrgenommen. Bis eben. Und genau genommen war es auch keine weitere Person. Mit seinem typischen diabolischen Lächeln betrachtete Mars Benni, welcher nicht so erschrocken reagierte wie Jack, als er sich weg von der Tür und dem Dämon zu wandte. „Hier warst du also all die Jahre.“ „Gefangen, ohne die Aussicht auf einen Ausweg. Nur in Gesellschaft meines geschätzten Freundes.“ Er wies auf das Skelett, neben dem Jack immer noch stand. „Leonhard.“, sprach Benni das offensichtliche aus. Seine Reaktion war schwer zu deuten. War er sich des Schicksals seines Vorfahren bewusst? Belastete ihn dieses Wissen? Und noch wichtiger: Wie fühlte er sich in dieser Situation gerade? Dem Dämon gegenüberzustehen, dessen Pläne er genau kannte. Dessen Ziele er genau kannte. Und mit der Gewissheit, welche Rolle er selbst dabei spielen sollte. „Er war leider nicht sonderlich gesprächig. Scheint wohl in der Familie zu liegen.“, erzählte Mars weiter, seine tiefe Stimme hallte in der Weite des Turmes. „Aber irgendwann verliert jeder gegen die Erschöpfung und Einsamkeit.“ Jack merkte, wie Benni sich anspannte und seine Sinne nach einem Ausweg zu tasten schienen. Irgendwohin. Hauptsache weg hier. Weg von Mars. Aber wie? Der Dämon ging einige Schritte auf Benni zu. Jeder Schritt wirkte schwer und mächtig, als verriet er die wahre Größe dieses Geschöpfes. Das purpurne Flackern um Mars Körper wurde stärker. Größer. Bedrohlicher. Jack war froh, in all dem nur ein Beobachter sein zu können. Doch Benni begab sich instinktiv in eine Abwehrhaltung. „Keinen Schritt weiter.“ „Und wenn doch?“, fragte Mars provokativ. Lächelnd. Er kostete es aus, Benni so in die Enge getrieben zu sehen. Genoss jeden einzelnen Moment. Und Benni? Der saß in der Falle. Es gab keinen Ausweg. Außer… Es war nur ein kurzer Augenblick, in dem Benni zögerte. Beinahe zu kurz, um beobachten zu können wie Angst und Unsicherheit der Entschlossenheit wich. Natürlich war sich Jack dessen bewusst gewesen, dass es nur von symbolischer Bedeutung war als Benni ihm sein Samurai-Schwert und die Pistole anvertraut hatte. Es gab genug Wege in den Tod. Und bei so vielen Energien wie Benni sie beherrschte standen ihm alle Türen offen. Er musste sich nur für eine entscheiden. „Du weißt, was dann geschieht.“, erwiderte er. Jack spürte das Aufblitzen von Energie, kurz darauf hielt Benni auch schon einen hellblau schimmernden Eis-Dolch in der Hand. Eiskalt, unsagbar spitz und definitiv tödlich. Obwohl dieser Gegenstand kaum größer als sein Unterarm war, konnte Jack die Kälte bis hierhin spüren. Viel eisiger als diese widerliche Schlucht es jemals zu sein vermochte. Warum die Eis-Energie? Warum ein Dolch? Warum jetzt? Es gab viele Fragen, die man sich in diesem Moment stellen könnte. Und noch mehr Antworten, die man sich erhoffte. Aber Tatsache war: Es würde keine Antworten geben. Und die Fragen? Die kamen Jack erst gar nicht in den Sinn. Das einzige was er wahrnahm war der Machtverlust. Er spürte, wie jegliche Kontrolle über diese Situation aus seinen Fingern glitt. Und dieses Gefühl war erschreckend. Es machte ihm Angst. Es erinnerte ihn an früher. An das Bewusstsein der Situation ausgeliefert zu sein und nichts daran ändern zu können. Absolute Machtlosigkeit. Ohne Hoffnung. Ohne Gerechtigkeit. Nur Gewalt. Leid. Verzweiflung. „Aber, aber. Wir wollen doch beide nicht, dass es soweit kommen muss.“, durchbrach Mars‘ vermeintlich beruhigende Samt-Stimme die Flut an Erinnerungen in Jacks Kopf. Benni erwiderte nichts darauf, doch Mars schien sich ohnehin seines Triumpfes sicher. „Wir wollen doch nicht, dass diese süße Prinzessin und der clevere Prinz erfahren, was mit dir geschehen ist. Was denkst du? Wie würden sie reagieren, wenn sie deinen leblosen Körper finden?“ Bennis Griff um den Dolch verstärkte sich. Natürlich nutzte der Dämon direkt seine Schwachstelle aus. „Ich habe da eine Vermutung. Möchtest du sie wissen?“ Mars ging weitere Schritte auf Benni zu und überwand somit die letzten Meter zwischen ihnen. Zitternd zwang Jack sich dazu, an das Atmen zu denken. Ansonsten blieb ihm lediglich, wie zu Stein erstarrt das Geschehen zu beobachten. Genauso wie Benni selbst, der gar nicht darauf reagierte als Mars nach dem Arm griff, mit welchem er den Dolch hielt. Der Dämon wiederum war sich dessen vollkommen bewusst, dass er die Situation ganz unter seiner Kontrolle hatte. „Nun, ich für meinen Teil kann mir das verweinte Gesicht von Laura sehr gut vorstellen. Verzerrt vom inneren Schmerz. Über die Person gekrümmt, der sie einst ihr Herz geschenkt hatte. Aber nicht für lange. Sie wäre auf Gerechtigkeit aus. Auf Rache. Würde den Schuldigen zur Rechenschaft ziehen wollen. Ja, die kleine Löwin würde kämpfen. Aber für welchen Preis?“ Ohne es zu wollen stellte Jack sich die Situation vor. Sah, wie Laura schreiend auf Mars zustürmen würde. Sie wollte doch nur ihren Benni zurück. Jack schüttelte den Kopf, ehe die Konfrontation ihr blutiges Ende finden konnte. Benni schien dies weniger zu gelingen, dem Zittern seiner Hände zu urteilen. Er kniff die Augen zusammen als versuchte er so die Bilder auszublenden. Die in der Dunkelheit jedoch umso deutlicher hervorstachen. Mars‘ Mundwinkel verformten sich zu einem zufriedenen, selbstgefälligen Lächeln. Genussvoll spielte er weiter mit ihren Vorstellungen. „Und Carsten? Glaubst du, er würde auch nur irgendeine Form der Gegenwehr zeigen? Ich denke ja, man könnte sehr leicht mit ihm spielen. Wie mit einer leblosen Puppe.“ Mit diesen Worten verpasste Mars Bennis Handgelenk eine ruckartige Drehung, sodass Benni abrupt den Dolch losließ. Mit einem Klirren zerbarst er in tausende Eisscherben, die sich glitzernd und funkelnd zu ihren Füßen verteilten. Plötzlich stieg eine unangenehme Hitze in Jack auf, als hätte er schlagartig 40 Grad Fieber bekommen. Obwohl er vorhin noch über die eisige Kälte geschimpft hatte, wünschte er sie sich nun zurück. Sie war viel angenehmer. Viel besser als diese bedrohliche, erdrückende Hitze. Insgeheim war Jack immer beeindruckt gewesen, wie ruhig Benni Mars gegenüberstehen konnte. Wie er Mars‘ Abhängigkeit von ihm ausnutzen konnte. Mit dem Dämon gar gespielt hatte. Doch in Wahrheit hatte Jack einfach keine Ahnung gehabt. Es war nicht Benni, der mit Mars gespielt hatte. Sondern genau umgekehrt. Der Dämon war es, der dieses Spiel zugelassen hatte. Der ihm diese kleinen rebellischen Aufstände gestattete. Trotz all dem hatte Mars immer noch die absolute Kontrolle. Die vollkommene Macht. Und beide sind sich dessen bewusst gewesen. Lediglich Jack war blind für all das. Er hatte das offensichtlichste nicht wahrhaben wollen. „Du bist ersetzbar, mein Junge. Die Besitzerin des Schwarzen Löwen eher weniger. Und der dämonen-gezeichnete Schwarzmagier erst recht nicht.“ Mars strich Benni über die Wange, welcher keine Gegenwehr mehr zu leisten vermochte. Schließlich meinte der Dämon mit sanfter und doch angsteinflößender Stimme: „Es ist an dir zu entscheiden. Wenn du diese Welt verlassen möchtest, nur zu. Ich für meinen Teil kann auch noch ein paar Jahre länger auf den nächsten Nachfahren mit antiker Begabung warten.“ Jack stieß innerlich einen Fluch aus. Er hatte doch nicht ernsthaft… Auch Benni hatte die Andeutung verstanden. „Woher willst du das wissen?“, fragte er verbissen, wobei seine Stimme eher verzweifelt als rebellisch klang. „Nun, ich habe so meine Wege. Immerhin kann ein Dämon spüren, ob ein un- oder neugeborenes Kind eine antike Begabung besitzt. Nicht wahr, Jack?“ Aus der Beobachter-Rolle rausgerissen wusste Jack nicht, was er darauf sagen sollte. Wie er auf Mars‘ selbstgefälligen und Bennis ungläubigen Blick reagieren sollte. Shit. Jetzt bloß vorsichtig bei der Wortwahl sein. „Ich glaube, du hattest dich verhört. Ich sagte-“ „Ich weiß, was du gesagt hast.“, unterbrach der Dämon ihn und dem Lächeln wich ein ernster Ausdruck. Neben der kochenden Hitze kroch erneut eine eisige Kälte an Jacks Körper hinauf. Es gab immer einen Grund zu lügen. Doch ob das eine gute Idee war, war eine ganz andere Frage. „Wir besprechen später noch einmal, was ich unter ‚alle meine Aufträge erfolgreich und ohne sie zu hinterfragen abschließen‘ verstehe.“ Während Jack der Atem weg blieb, wandte sich Mars wieder Benni zu. „Aber sei versichert, dass ich das zweite antik-begabte Yoru-Kind genauso fürsorglich behandeln werde wie seinen großen Bruder.“ Scheiße, sie mussten weg hier! Sofort! Aber wie? Und wohin? Jack wusste, jeder Schritt, jeder Versuch hier rauszukommen wäre besser, als tatenlos rumzustehen. Als dem Dämon direkt in die Hände zu spielen. Doch er konnte nicht. Irgendeine Blockade in seinem Kopf sorgte dafür, dass sich sein Körper weigerte auch nur einen Muskel zu rühren. Und Benni schien es ähnlich zu ergehen. Fuck, wir müssen hier weg!, schrie es in Jacks Kopf. Mit einem zufriedenen Lächeln ging Mars einige Schritte zurück. Das purpurne Lodern wurde stärker und stärker, es wuchs, genauso wie es der Dämon tat. Hau ab!, wollte Jack Benni zurufen, doch die Worte erstickten in seiner Kehle. Die purpurnen Haare bekamen die Form von Federn, die rötliche Energie bildete gewaltige Flügel. Eine unbeschreibliche Macht ging von diesem Wesen aus, stärker, angsteinflößender und zerstörerischer als alles je da Gewesene. Und es war gigantisch. Vermutlich reichte seine Größe bis zu der Etage, wo Jack und Benni die Schlucht betreten hatten. Mindestens. Das gellende Kreischen eines Phönix‘ hallte durch den gesamten Turm. Laut und dröhnend, dass Steine von den Wänden regneten. Jack kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Als würde das etwas bringen. Eine Flucht schien aussichtslos. Und trotzdem… Irgendwie mussten sie doch… Zwanghaft schaute er auf, sein Blick fiel auf Benni. Nie hatte Jack so viel Grauen in einer Person gesehen. Die Augen vor Panik weit aufgerissen, der Mund verzerrt als er den Atem verlor. Sein gesamter Körper bebte und doch bewegte er sich nicht. „Benni, verschwinde von hier!“, versuchte Jack das Kreischen des Monstrums zu übertönen. Erfolglos. „Benni!!!“ Keine Chance. Benni war viel zu fixiert auf das überdimensionale Monster. In dem Moment sah Jack weniger den fast erwachsenen Teenager und viel mehr einen kleinen Jungen, welcher dem Entsetzen gegenüberstand und ihm hilflos ausgeliefert war. Er hörte Mars irgendetwas sagen und nahm es doch nicht wahr. Eine lodernde Energie breitete sich im Raum aus und löschte die Flammen. Der Turm war in schaurige rot-lila-Töne getaucht. Die Ursache dieser Farben, die zerstörende Energie des Purpurnen Phönix, fraß sich in Jacks Haut und hinterließ brennende Schmerzen, obwohl keine Verletzungen sichtbar waren. Und trotz allem… Benni reagierte nicht. Wie eine leblose Puppe stand er da, kein Ausweg in Sicht. Gefangen in seinem eigenen Körper. Die Energie verdichtete sich um den Phönix, wabernd, rot, zerstörerisch. Eine geballte Masse an Vernichtung. Ein weiteres markerschütterndes Kreischen ertönte. Und die Energie fiel über Benni her. Jack hörte ihn vor Schmerz aufschreien, schrie selbst seinen Namen und doch drang nichts von all dem nach außen. Alles wurde von der Zerstörung eingefangen und verschlungen. Alles.   Schwer atmend stützte Jack sich auf dem Unterarm ab, unverletzt und doch verfolgt von Phantomschmerzen. Sein dröhnender Kopf brauchte nicht lange, bis er sich an das Geschehene erinnerte. Verwirrt schaute er sich um. Er war immer noch in der tiefsten Schlucht der Unterwelt, doch von dem gewaltigen Monstrum mit seiner noch gewaltigeren Energie fehlte jede Spur. War etwa alles nur Einbildung gewesen? Vielleicht irgendwas Verdorbenes gegessen? Und doch belehrten die Phantomschmerzen und das eigenartige purpurne Leuchten ihn eines Besseren. Er nahm weiter entfernt eine Bewegung wahr. Mühselig richtete er sich auf, eilte zu Benni rüber und kniete sich zu ihm, mit der Absicht ihm aufzuhelfen. „Hey, alles in Ordnung? Wie geht’s dir?“ Benni erwiderte seinen Blick. Jack erstarrte mitten in der Bewegung. Die Äderchen in den Augen und um diese herum stachen rötlich hervor. Man konnte regelrecht beobachten, wie Energie durch sie hindurch pulsierte. Jacks Herzschlag setzte aus, als sich Bennis Mundwinkel zu einem vertrauten, selbstgefälligen Lächeln verzogen und er mit einer Stimme antwortete, die nicht Bennis war: „So gut wie noch nie.“ Quälend langsam wich Jack zurück. „Was… Du…“ Mars stand auf und betrachtete seine Hände, ballte sie zur Faust und öffnete sie wieder. Bewegte Bennis Körper probehalber, streckte die Arme, als würde er gerade eine neu erworbene Waffe prüfen. „Was ist mit Benni?“, sprach Jack seine Gedanken aus, deren Echo im Turm mehrmals zu hören war als wollten sie die plötzliche Leere füllen. „Um den brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“, antwortete Mars. Jack versuchte irgendwo noch Bennis eigene Stimme herauszuhören, doch ohne Erfolg. Der Dämon hatte die gesamte Kontrolle übernommen. „Was ist?“, kommentierte dieser Jacks Schweigen. „Du hast… Der Bann…“ „… ist gebrochen. Nach fast 180 Jahren bin ich endlich wieder frei.“ Zitternd stolperte Jack mehrere Schritte zurück. All die Zeit hatte er diesem möglichen Tag mit stoischer Gleichgültigkeit entgegengeblickt. Immer war ihm alles egal gewesen. Es hatte ihn nie geschert, all das wahrscheinlich nicht zu überleben. Und noch weniger hatte es ihn gejuckt, dass Damon und der gesamten restlichen Welt die Zerstörung drohte. Doch jetzt, wo es so weit war… Mit einem Schlag… „Was ist, freust du dich nicht für mich?“ Keine Antwort von Jack kam auf diese Frage. „Bedauerlich.“ Das Seufzen klang schon fast wie Bennis eigenes, doch es konnte genauso gut eine Einbildung gewesen sein. Mars ging einen Schritt auf Jack zu, woraufhin dieser sofort zurückwich. Ich muss hier weg! Sofort!, schrie sein Überlebensinstinkt ihn an. „Dabei hatte ich gehofft, dass du mir einen kleinen Gefallen tust.“, fuhr der Dämon unbeeindruckt fort und betrachtete Bennis zur Faust geballte Hand. „Ich wollte, dass du mir hilfst herauszufinden, wozu dieser Körper alles fähig ist.“ Diese Aussage brachte die Blockade zum Einsturz. Sorgte dafür, dass Jack seine gezwungene Bewegungsunfähigkeit endlich überwinden konnte. Und er machte das einzige, was ihm in dieser Situation noch blieb: Er rannte. Er wusste weder wohin, noch, ob das die beste Idee war. Das einzige was er wusste war, dass er einen Kampf niemals würde überleben können. Also musste er rennen. Er spürte hinter sich wie Energie freigesetzt wurde. Im nächsten Moment türmte sich vor ihm eine gewaltige Feuerwand auf. Schlitternd kam er noch gerade rechtzeitig zum Stillstand, die brennende Hitze des Feuers bereits auf seinem Gesicht spürend. „Ein Nein kann ich nicht akzeptieren.“, hörte er hinter sich. Erneut spürte er das Freiwerden von Energie. Mehrere spitze Steine schossen aus dem Boden, auf Jack zu. Instinktiv befahl er ihnen anzuhalten. Und direkt stand alles still. Mars betrachtete sie fasziniert. „Interessant. Gegen den wahren Herrscher der Erde sind die Erd-Kräfte eines Dämonengesegneten also tatsächlich machtlos. Das ist gut zu wissen.“ Jack stieß in Gedanken einen Fluch aus, doch ehe er eine weitere Fluchtidee herauskramen konnte, musste er sich vor einer gewaltigen Wasserwelle schützen. Doch sein Erdschild wurde direkt von den darauffolgenden Windsicheln in Kleinstteile zerstückelt. In Trainingskämpfen hatte Benni auch ein paar Mal seine Energien verwendet und Jack hatte immer Schwierigkeiten damit gehabt auf alles gleichzeitig zu reagieren. Nur gerade so schaffte er es, sich vor den einschlagenden Blitzen zu schützen, wurde direkt darauf aber von Ranken festgehalten als auch schon eiskalte Splitter seinen Körper streiften und blutige Kratzer hinterließen. Erst der Sandsturm befreite ihn und schleuderte ihn auf die andere Seite des Raumes gegen die Wand, wenige Meter von der gewaltigen Tür entfernt. Jack war sich nicht sicher, ob die Stimmen tatsächlich verstummt waren oder ob das Dröhnen in seinem schmerzenden Kopf alles andere überlagerte. Scheiß Stimmen, fluchte er innerlich, als er sich mühsam aufrichtete. In seinem wankenden Blickfeld beobachtete er, wie Mars auf ihn zukam. Gedämpft hörte Jack den Dämon „Ich bin schwer beeindruckt.“ sagen. Jack biss die Zähne zusammen und zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Der konnte doch nicht alle Fähigkeiten von Benni übernommen haben! Mars hatte keine Ahnung von Kampfkünsten! Hoffentlich ist Angriff wirklich die beste Verteidigung. Jack ballte die Hand zur Faust und stürmte auf Mars zu, um ihm einen Schlag in den Brustkorb zu verpassen. Doch der Dämon blockte ihn. Jack startete weitere Versuche aber sie alle blieben erfolglos. Jeder einzelne Angriff wurde von Mars geblockt. Schließlich wehrte er Jacks Faust ab und konterte mit einem Schlag, bei dem Jack die Luft entwich. Schwer atmend und ungläubig starrte Jack ihn an, was Mars zum Lachen brachte. „Das nennt man dann wohl Muskelgedächtnis.“ Er hatte wirklich alle Fähigkeiten von Benni übernommen. Alle Talente, für die dieser nahezu sein gesamtes Leben, täglich trainiert und geschwitzt hatte. Die er mit verbissener Entschlossenheit und sturem Ehrgeiz versuchte zu perfektionieren. Und all das hatte Mars nun einfach so. Er hatte nur die richtige Marionette dafür gebraucht. Jack frustrierte dieser Gedanke, doch ihm blieb nicht die Zeit, sich über diese Ungerechtigkeit zu ärgern. Er wehrte weitere Angriffe von Mars ab, der immerhin noch ein bisschen unbeholfen mit diesen neuen Fähigkeiten schien. Jack versuchte das für sich auszunutzen, führte eine Finte aus. Doch bevor er seinen eigentlichen Angriff starten konnte brannte sich Feuer-Energie in seine ungeschützte Seite. In dem kurzen Moment, wo kleine Lichter vor Jacks innerem Auge tanzten, riss ihn irgendeine oder mehrere Energien von den Füßen. Er prallte schmerzhaft auf dem Boden auf und überschlug sich mehrmals, bis er es schaffte sich selbst zu stoppen. Ein hohes Pfeifen schrillte in seinen Ohren und ein höllischer Schmerz durchzuckte seinen rechten Arm, genau der auf dem er gelandet war. Verbissen versuchte Jack sein Gewicht zu verlagern, doch sein Kopf war nicht dazu in der Lage oben von unten zu unterscheiden. Mit einem erstickten Keuchen gab Jack den Versuch sich zu bewegen auf und schluckte den widerlichen Geschmack von Erbrochenem runter. Als er aufblickte sah er nur vage, wie Mars neben ihm in die Hocke ging und ihn betrachtete. Jacks Kopf war so benebelt, dass er meinte beobachten zu können, wie Bennis Gesicht verschwamm und stattdessen Mars in seiner Menschengestalt auf ihn herabblickte. Noch diffuser war das mitleidige Lächeln auf Mars‘ Lippen als er meinte: „Armer Junge. Komm, ich helfe dir.“ Als er die Hand nach Jack ausstreckte, wurde er sofort von Panik überfallen. Reflexartig kniff er die Augen zusammen und gab ein schwaches Wimmern von sich. Sein gesamter Körper zitterte vor Angst und schien zu überhitzen. Mars lachte bei seiner Reaktion leise auf. „Immer noch der kleine Valentin von damals, wie ich sehe.“ Von Jacks röchelndem nach Luft Ringen keine Notiz nehmend, fuhr Mars fort. „Weißt du, ich habe immer gedacht, dass wir uns ähnlich sind. Wo wir auch hingehen, Zerstörung und Leid ist unser steter Begleiter. Das hatte mich sehr berührt damals. Dieser tote Blick in deinen Augen, der sich bereits damit abgefunden hatte. Der bereits akzeptiert hatte.“ Obwohl er genau wusste, dass so etwas Jacks Panik verstärkte, strich Mars ihm über die Haare. „Ich hatte den Eindruck, dass du so etwas wie mein eigener Sohn bist.“ Freud- und kraftlos lachte Jack auf. „Kein Wunder, ich hatte nie ein Glück mit Vaterfiguren.“ Wobei man kaum ein Wort verstehen konnte, so rau wie seine Stimme klang. Mars betrachtete ihn weiterhin. „Weißt du Junge, ich war schwer enttäuscht als ich feststellen musste, dass du mich bezüglich Samira Yorus ungeborenem Kind angelogen hattest. Ich muss gestehen, im ersten Moment wollte ich am aller liebsten…“ Mars sprach es nicht aus, doch ein grauenhafter Schmerz fuhr durch Jacks rechtes Bein, begleitet von einem deutlichen Kracken, als Mars es ihm mit bloßer Hand brach. Ein heiserer Schrei drang aus Jacks Kehle. Wieder stieg Übelkeit in ihm auf, gleichzeitig breitete sich eine Schwärze aus, die nur wirres Flimmern zu ihm durchließ. Keuchend versuchte Jack zu Atem zu kommen, während der schrille Ton in seinen Ohren kaum mehr verständlich machte, was Mars sagte. „Aber ich konnte nicht, da ich mich dir gegenüber verpflichtet fühle. Wie ein Vater gegenüber seinem Sohn. Was macht also ein Vater, wenn sein Kind in einer rebellischen Phase ist? Er gibt ihm Stubenarrest.“ Mit diesen Worten brach Mars Jacks zweites Bein. Erneut schrie er auf. Jack fehlte die Kraft, weiterhin gegen den Schmerz anzukämpfen. Er spürte nur noch eine kühle Hand auf seiner überhitzten Stirn als der Dämon meinte: „Tut mir leid, mein Junge. Aber wir wollen doch nicht, dass du auf die Idee kommst dem Stubenarrest zu entfliehen.“ Kapitel 79: Der Anfang vom Ende - Teil 1 ---------------------------------------- Der Anfang vom Ende - Teil 1       Laura betrachtete ihren besten Freund, welcher mal wieder gedankenverloren auf den Zettel mit dem Zauberspruch in der einen Hand starrte. Den Zettel mit den sonstigen Notizen und der Aufstellung, welche Laura vor etwa einer Woche aus heiterem Himmel vervollständigt hatte in der anderen Hand haltend. „Du solltest endlich mal was Essen.“, riet sie ihm, doch Carsten reagierte nicht darauf. Ariane zuckte mit den Schultern. „Na gut, umso mehr für mich.“ Mit diesen Worten schnappte sie sich den Teller mit seinem Mittagessen, um sich den Extraweg für einen Nachschlag zu sparen. Doch selbst darauf erwiderte Carsten nichts, obwohl er so klassische Gerichte wie Chili con Carne eigentlich immer ganz gerne aß. Das Ausbleiben jedweder Reaktionen war für die Mädchen direkt ein Grund zur Sorge. Wobei sie sich inzwischen eigentlich in einem dauer-besorgten Zustand befanden, wenn es um Carsten ging. „Ist dir doch noch ein Fehler beim Zauber aufgefallen?“, erkundigte sich Suanne. Anne runzelte die Stirn. „Das kann doch nicht sein. Ich dachte, du wärst heute Vormittag endlich bei diesen seltsamen Erzmagiern in Ivory gewesen, die Florian dir vermittelt hatte.“ Bei diesen Worten kehrte Carsten endlich in die Realität zurück. „Was ist mit den Erzmagiern?“, fragte er, beinahe verschreckt. Öznur kicherte. „Die scheinen ja ganz schön gruselig gewesen zu sein.“ Mit dunkleren Wangen als normalerweise schaute Carsten wieder zurück auf die Zettel. Und wieder machte sich Laura Sorgen. „Waren sie unfreundlich zu dir?“ Sie wusste, dass Carsten schon immer riesige Probleme hatte mit Fremden zu reden. Insbesondere, wenn diese Fremden irgendwelche übergeordneten, wichtigen oder respektablen Persönlichkeiten waren. Kurz bevor er sich auf den Weg nach Ivory gemacht hatte war er kaum mehr wiederzuerkennen gewesen, so leichenblass wie er da gewesen ist. Dann auch noch auf unfreundliche Gesellen treffen zu müssen, machte die ganze Situation natürlich noch unerträglicher. Und das bei seiner momentanen Verfassung… „N-nein, nein. Sie waren sehr höflich und zuvorkommend. Nur… seltsam.“, stammelte er. „Wo liegt dann das Problem?“, fragte Ariane, während sie nach einem Wasserglas griff, mit dem Versuch die Schärfe des Chilis zu löschen. „Es ist… ich…“ Carsten ließ die Zettel sinken und meinte schließlich: „So sehr ich auch suche, ich… ich kann keine Fehler mehr finden.“ Schweigen breitete sich aus, während die Mädchen diese Worte verarbeiteten. Man konnte beinahe die Schwere spüren, die auf dem gesamten Tisch lastete. Es war fast schon hörbar, wie sich die Rädchen in ihren Köpfen in Bewegung setzten. Und es war ihnen als wären sie in der Lage zu beobachten, wie der Nebel sich lichtete. Wie die erdrückende Schwere fortgeweht wurde, ersetzt von einer sanften, leichten Briese. Schließlich erkannten sie dieses Gefühl wieder. Nach all der Zeit hatten sie schon fast vergessen, was das war. Hoffnung. „Er… er ist fertig?“, fragte Laura, brachte aber kaum mehr als ein Flüstern hervor. „Du hast… der Zauber er ist…“ Der einzige, den dieses längst verloren geglaubte Gefühl der Schwerelosigkeit noch nicht erreicht hatte, war Carsten selbst. Kritisch betrachtete er die beiden Zettel, abwechselnd den Spruch und die Aufstellung, als suchte er noch nach diesem einen Fehler, der sich seinem Blick entziehen wollte. Ohne ihn zu finden. Zur selben Zeit merkten sie, wie ihre erwartungsvollen Blicke ihn unter Druck setzten. Er war ihnen eine Antwort schuldig. Er war ihnen ein ‚Ja‘ schuldig. Nach zwei Monaten, die für ihn geprägt von schwarzer Magie waren, in denen er nur auf diesen einen Moment hingearbeitet hatte, sollte dieser Moment nun endlich eingetroffen sein. Er war fertig. Der Zauber um Mars Einhalt zu gebieten war endlich fertig. Nur noch Carsten selbst musste das realisieren. Schließlich, endlich, wagte er ein schwaches Nicken. „Ich glaube schon…“ Die Reaktionen der Mädchen könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Ariane bei dem Gedanken endlich ihre kleine Schwester zu retten plötzlich in Tränen ausbrach und Carsten weinend um den Hals fiel, sprang Öznur auf einmal mit einem lauten Triumpf-Schrei vom Stuhl auf. Während Anne wie zu Stein erstarrt schien, redete Susanne plötzlich auf Lissi ein, dass sie nun endlich Janine, Benni und all die anderen da rausholen könnten. Während zum vermutlich ersten Mal in Lauras Leben jeder Funken Pessimismus wie weggeblasen schien, wurden Carstens Gedanken von Unglauben und Selbstzweifel regiert. Und trotzdem war der Grund von all dem der gleiche. Der Zauber war fertig. Der Zauber war endlich fertig! Diese seltsamen, teils widersprüchlichen Ausdrücke der Freude dauerten noch eine ganze Weile an, in der vermutlich jeder andere Tisch im Mensa-Turm diesen Trupp bereits für verrückt erklärt hatte. Schließlich war es Öznur, die hastig ihr Handy herauskramte und meinte: „Das muss ich unbedingt Eagle sagen!“ „Nein!“, rief Carsten, während Öznur schon nach Eagles Nummer suchte. Verwirrt schaute sie ihn an. „Wieso nicht?“ „Weil wir keine Garantie haben, wer mithören könnte.“, erwiderte er und schaute sich kritisch im Mensaturm um. „Vergesst nicht, dass Mars ohnehin hier irgendwo einen Spion hat. Wenn er jetzt irgendwie erfährt, dass…“ Laura blieb die Luft weg bei dem Gedanken, was dann vermutlich geschehen könnte. Was dann mit Benni passieren könnte… Zitternd verschränkte sie die Arme vor der Brust und versuchte die Bilder ihrer Vorstellung auszublenden. Das durfte nicht geschehen. Das durften sie nicht zulassen! Und schon gar nicht durch so eine dumme Nachlässigkeit. Schweigen breitete sich aus und leicht beschämt nahm Öznur wieder auf ihrem Stuhl Platz. Nur Ariane schniefte immer noch. Carsten musterte sie besorgt. „Nane, ist alles in Ordnung?“ Mit einem schwachen Lächeln erwiderte Ariane seinen Blick und wischte sich eine Träne aus den Augen. „Ich würde ja echt gerne sagen es ist alles in Ordnung. Besonders… eben gerade. Aber…“ Sie schniefte erneut und deutete auf das Chili. „Das ist viel zu scharf!!!“ Die Mädchen und sogar Carsten konnten nicht an sich halten und mussten bei diesem empörten Blick loslachen. „Was hast du denn anderes erwartet, als du Carstens Essen geklaut hast?“, fragte Laura und hielt sich den Bauch vor Lachen. „Er schärft seine Gerichte doch immer im Nachhinein noch so stark, dass kein normaler Mensch es mehr essen kann.“ „Du übertreibst.“, erwiderte Carsten lächelnd, reichte Ariane aber eine Flasche mit stillem Wasser. Diese machte sich gar nicht erst die Mühe, das Wasser vorher ins Glas zu kippen. Während sie also beeindruckender Weise die fast volle Flasche in gefühlt einem Zug leerte, wurde dies von weiterem Gelächter untermalt. Ein heiteres, sorgloses Lachen, wie es schon lange nicht mehr der Fall gewesen ist.   ~*~   Wieder wurde er von quälenden Träumen heimgesucht. Von Bildern, die ihn bis in die entferntesten Ecken seiner Wahrnehmung verfolgten. Und wieder waren sie es, die ihn aus dem Schlaf rissen. Schwer atmend und nicht in der Lage sich zu rühren öffnete Jack die Augen. Selbst die schwache Beleuchtung der Schreibtischlampe blendete ihn. Übelkeit stieg in ihm auf, die er nur mit Mühe herunterschlucken konnte, begleitet von einem unerträglichen Hämmern in seinem Kopf und lähmenden Schmerzen im Rest seines Körpers. Jack brauchte sich gar nicht erst umzuschauen, um zu merken, dass er im Bett seines Zimmers lag. Und er brauchte sich auch gar nicht erst zur Tür zu quälen, um zu realisieren, dass sie verschlossen war. Er war also gefangen. Gefangen in seinem eigenen Zimmer. Schon wieder. Frustriert biss Jack die Zähne zusammen und versuchte sich aufzurichten. Doch sein rechter Arm konnte die Belastung nicht mal ansatzweise tragen. Na toll, gebrochen. Auch die linke Seite war extrem mitgenommen, aber zumindest noch in der Lage ihn in eine halbwegs sitzende Position zu bringen. Jack lehnte sich gegen die Wand am Kopfende und wischte sich schwer atmend den Schweiß von der Stirn. Alleine das Aufrichten war extrem anstrengend gewesen. Und so wirklich weiter gebracht hatte ihn das auch noch nicht. Jack begann seine Chancen abzuwägen. Selbst wenn er es mit Schmerzen und tausenden Ohnmachtsanfällen schaffen würde zur Tür zu kriechen, er könnte sie nur mit Erd-Energie öffnen. Und das würde Mars merken. Er würde herkommen und hundert prozentig auf Nummer sicher gehen, dass Jack nicht wieder auf so eine aberwitzige Idee wie einen Flucht- oder gar Rettungsversuch kommen würde. Sorge und auch ein Hauch Panik stieg in Jack auf, als seine Gedanken zu dem kleinen Kindergarten im Kerker wanderten. Selbst wenn Janine und Johannes als Dämonenbesitzer wahrscheinlich sicher waren, waren da immer noch… Jetzt, wo Benni sie nicht mehr vor ihm beschützen konnte… Was wurde dann aus Johanna, Sultana und Sakura? Würde Mars sie auch weiterhin als potenzielle Druckmittel am Leben lassen? Jack ballte die Hand zur Faust. Selbst wenn, ohne Verpflegung würden sie dort auch keine Ewigkeit aushalten können. Und niemand von ihnen war dazu in der Lage, auf eigene Faust aus der Unterwelt zu fliehen. Zumindest nicht, ohne sich und die anderen dabei in große Gefahr zu begeben. Jack hatte den- Er stutzte und betrachtete seine rechte Hand. Fuck! Natürlich hatte Mars ihm den Portalring abgenommen. Warum konnte nicht einfach mal einmal im Leben etwas so sein wie es sollte?! Jack würde am liebsten schreien. Nie! Er bekam es wirklich nie auf die Reihe auch nur ein einziges Mal etwas richtig zu machen! Und jetzt würde er noch nicht einmal Benni diesen einen Gefallen tun können. Dieses eine Versprechen halten können. Jack zwang seine aufgewirbelten Gefühle dazu sich zu beruhigen. Eins nach dem anderen. In seiner jetzigen Verfassung würde er erst recht nichts zustande bringen können. Ein verunsicherter Blick fiel auf die Tür. Zum Knochenrichten brauchte er nicht viel Erd-Energie, mit etwas Glück würde es gar nicht erst auffallen. Jack atmete tief durch und schlug die Decke zur Seite um seine Beine zu betrachten. Selbst durch die löchrige Jeans hindurch konnte man erkennen, dass diese Form nicht normal war und definitiv nicht so bleiben sollte. Da er sowieso Linkshänder war, war sein rechter Arm keine allzu große Einschränkung. Aber ohne die Fähigkeit zu Laufen hätte er überhaupt keine Chance. Er nahm ein Stück seiner Decke in den Mund und biss fest drauf. Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in Jacks Magen aus als er sich für die kommenden Schmerzen wappnete. Seine Sinne tasteten nach der gebrochenen Stelle im linken Bein und erschufen winzig kleine, dafür aber umso stabilere Erdschienen auf beiden Seiten des Bruches. Zumindest schien es ein sauberer Bruch zu sein, das machte die ganze Sache deutlich einfacher. Jack atmete durch die Nase noch einmal tief ein und aus, was mehr nach einem Schnaufen klang. Dann setzte er den Knochen in Bewegung. Schmerzen explodierten in seinem Bein und trieben Tränen in seine Augen. Jack schrie in das Stück Stoff, kämpfte mit aller Kraft gegen den Drang an aufzuhören. Einfach aufzugeben. Mach weiter. Noch ein kleines Stück!, zwang er sich in Gedanken, über die sich bereits die Schwärze legte. Der Knochen schien sich gar nicht zu rühren, keinen einzigen Millimeter. Es war eine endlose Ewigkeit und noch schwieriger war es dabei die Konzentration zu behalten. Bei Bewusstsein zu bleiben. Jacks Biss verstärkte sich, er kniff die Augen noch fester zusammen. Komm schon! BITTE!!! Schweiß lief ihm von der Stirn und tropfte auf die Decke, darunter vielleicht auch einige Tränen von Schmerz und Frust. Irgendwann, endlich, spürte er, wie die Schienen aufeinandertrafen. Schnell verband Jack beide Seiten und stärkte sie so gut es ging, dass sie den Knochen ideal stützen konnten. Keuchend ließ er sich zurückfallen und schaute zur schwankenden Decke hoch. Viele Male legte sich Finsternis über sie, bis Jack allmählich wieder zu Atem gefunden hatte. Das brennende Gefühl in seinem Bein ließ jedoch überhaupt nicht nach. Jack verfluchte sich selbst, dass er die Schmerztabletten Sakura überlassen hatte, damit sie notfalls Sultana damit versorgen könnte. Und so verlockend es auch war, die Schlaftabletten in seinem Badschrank würden gerade nicht den notwendigen Dienst erweisen können. …Aber den wünschenswerteren. Jack schob all die Gedanken beiseite als er merkte, dass er sich halbwegs wieder gefangen hatte. Nur mit links konnte er immer noch nicht laufen. Er seufzte und stopfte die Bettdeckenecke wieder in seinen Mund. Also auf ein Neues. Das zweite Bein zu richten war noch schlimmer und schwieriger als das erste. Der Bruch war nicht ganz so sauber und er musste sich sogar Knochensplitter zusammensuchen. Es war schwer einzuschätzen, wie lange Jack insgesamt dafür brauchte. Es könnten nur zehn Minuten gewesen sein, aber auch genauso gut zehn Stunden. Mehrere Male verlor er das Bewusstsein und musste gefühlt immer wieder von vorne anfangen. Die Luft im Zimmer schien kochend heiß und stickig. Irgendwann mischten sich neben dem Schweiß rote Flecken auf der Decke, als Blut aus seiner Nase zu sickern begann. Ob und wie Jack es schließlich schaffte, dazu würden ihm keine Erinnerungen bleiben.   ~*~   Die ausgelassene Stimmung hielt noch den gesamten Nachmittag an, bis zum Abendessen. Und auch dann war deutlich spürbar, wie Erleichterung und Hoffnung das Gruppenklima regierten. Selbst Carsten schaffte es nach und nach seine Zweifel beiseite zu räumen, da er einfach keinen weiteren Fehler mehr finden konnte. Irritiert schaute er sich im Mensaturm um. „Wo bleiben denn Susanne und Anne?“ „Also Susi ist nochmal schnell zu den Einhörnern gegangen, um ihnen ihr Abendessen zu geben.“, erklärte Lissi und Öznur ergänzte: „Anne meinte vorhin sie will noch trainieren. Dauert wahrscheinlich länger bei ihr, sie vergisst ja an sich ganz gerne die Zeit, wenn sie Sport macht.“ Laura runzelte die Stirn. „Das würde mir nie passieren. Ich schaue jede gefühlte Stunde auf die Uhr und es sind doch nur zehn Minuten vergangen.“ Ariane lachte auf und klopfte ihr auf die Schulter. „Besser als früher, da hast du alle fünf Minuten auf die Uhr geschaut.“ „Was kann ich dafür, dass die Lehrer immer so anstrengenden Unterricht machen?“, empörte sie sich. Lissi schaute sie schelmisch grinsend an. „Also Bennlèys Training fand ich noch anstrengender als den Schulsport. Und da hattest du nie auch nur ein einziges Mal auf die Uhr geschaut.“ Ein Hauch Röte färbte ihre Wangen, als Laura die Arme vor der Brust verschränkte. „Draußen hatten wir einfach keine Uhren.“ „Jede Sporthalle hat doch eine riesige Uhr, die man von den Sportplätzen aus sehen kann.“, stellte Ariane fest. Öznur lachte auf. „Die Ausrede zieht also nicht, Laura. Du hattest ganz offensichtlich all die Zeit immer nur Augen für Benni.“ Auch die restlichen Mädchen mussten bei diesem Witz auf Lauras Kosten loslachen. Amüsiert schüttelte Ariane den Kopf. „Aber ich muss sagen, Benni hatte sich überraschend gut als Lehrmeister gemacht. Hätte ich nicht von ihm mit seiner schweigsamen Art gedacht.“ Bei der Erinnerung an Benni in seiner Lehrerrolle musste Carsten lächeln. Gerade, da er einen Vergleich zu Eufelia-Sensei hatte, war er sich der Ähnlichkeiten besonders bewusst. Tatsächlich hatte Benni dieselben hohen Ansprüche, einen leichten Hang zum Perfektionismus und duldete keine Faulheit oder Nachlässigkeit. Dafür war er aber umso geduldiger, wenn man sich Mühe gab und es trotzdem einfach nicht auf die Reihe bekam. Und noch rücksichtsvoller, wenn man drohte seine Grenzen zu sehr zu überschreiten. Er sparte nicht an Kritik, doch sie kam nie ohne Ratschläge zur Verbesserung. Und wenn er mal ein Lob aussprach, wusste man dies umso mehr zu schätzen und freute sich entsprechend auch viel mehr darüber. Leicht bedrückt seufzte Carsten.  Jetzt, wo der Zauber fertig war, hatten sie endlich alle Mittel, um ihn und all die anderen zu retten. Doch eine Frage blieb immer noch offen: Wie? Laura schien seine Gedanken zu erahnen und nahm seine Hand, um ihm ein aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen. „Komm schon, nur noch das Abendessen. Und dann werden wir Eagle, Florian und Konrad treffen und besprechen alles weitere.“ Schnaubend verschränkte Öznur die Arme vor der Brust. „Ich verstehe ja, dass wir auch mit unseren Handys vorsichtig sein sollen. Aber mies finde ich das schon von den drei. Eine dezente Nachricht von Eagle und alle kommen angerannt. Eine vorsichtige Nachricht von uns und niemand reagiert drauf oder verschiebt es auf später, weil wichtige Sitzungen und so weiter und so fort.“ Ariane seufzte. „Ja. Besonders, da Florian sogar schon ahnen müsste, was Sache sein sollte.“ „Ich wette, wenn Carsten die Nachricht geschrieben hätte, wären fünf Minuten später alle angerannt gekommen.“, maulte Öznur weiter, woraufhin Laura, Ariane und Lissi bestätigend nickten. „Ach kommt, ihr übertreibt.“, versuchte Carsten die Mädchen zu besänftigen. „Die drei haben einfach furchtbar viel um die Ohren zurzeit. Florian scheint momentan ganz schön gestresst, weil er sich um das Training der gesamten Armee kümmert, was genauso wie bei euch wegen des möglichen Krieges verschärft wurde. Und gleichzeitig muss er sich auch noch mit den restlichen Regionen Damons um potenzielle Schlachtpläne Gedanken machen, sowie anderen Sachen wie zum Beispiel, dass Dämonenverbundene endlich per Gesetz geschützt werden sollten. Dass Eagle die ganzen letzten Wochen schon am Limit ist, wisst ihr alle genauso gut wie ich. Und Konrad hat seit gestern wohl besorgniserregend viel Bewegung in der Unterwelt festgestellt.“ Carsten merkte, wie Lauras Gesicht bei seiner letzten Aussage direkt an Farbe verlor. „Weißt du Genaueres?“ Leider musste er ihre Frage mit einem Kopfschütteln verneinen. Auch Carsten bereitete diese plötzliche Wendung Sorgen. Besonders, da Konrad nach Florians Erzählungen ungewohnt angespannt gewirkt hatte. Und wenn man den Vampir kannte wusste man, dass es keine Kleinigkeiten waren, wenn er mal aus der Ruhe gebracht wurde. Vorsichtig nahm er Lauras zur Faust geballte Hand in seine und strich mit dem Daumen über ihren Handrücken. Sosehr er es auch wollte, mehr konnte er nicht machen. Er konnte ihr nicht den Mut zusprechen, den er selbst nicht einmal hatte. „Aber dann ist das doch umso mehr ein Grund, warum sie auf die Nachricht reagieren sollten!“, empörte sich Öznur. „Ehrlich gesagt glaube ich, dass sie die Nachricht bisher noch nicht einmal empfangen haben. Geschweige denn gelesen.“, erwiderte Carsten. „Das macht die Sache trotzdem nicht besser.“, widersprach Lissi und schüttelte den Kopf. „Sieh es doch einfach ein, Cärstchen. So sehr die drei der Meinung sind, dass auch die ‚Kinder‘ ein Mitspracherecht haben, in Wahrheit trauen sie uns nichts zu. Dich ausgenommen, versteht sich. Aber in dem Rest von uns sehen sie nur die hilflosen kleinen Mädchen, die noch nicht einmal auf sich selbst aufpassen können.“ „So ein Unsinn, jetzt tut ihr ihnen aber wirklich Unrecht.“ Seufzend zog Laura ihre Hand aus seiner. „Nein Carsten, du siehst es nur nicht, weil sie dich wirklich wie einen Ebenbürtigen behandeln. Aber wir…“ „… Wir sind nur die Schachfiguren für eure Aufstellung. Nichts weiter als Energielieferanten.“, beendete Ariane ihren Satz. Ein unwohles Gefühl breitete sich in Carsten aus. Das war also die Sicht der Mädchen auf die Dinge? „Ihr seid nicht einfach nur Schachfiguren. Ihr habt euren eigenen Willen und könnt selbst entscheiden, was ihr macht!“, versuchte Carsten ihnen zu widersprechen, doch er merkte direkt, dass seine Worte sie nicht erreichten. Ariane zuckte mit den Schultern. „Ist leider schwer zu glauben, wenn man uns von Anfang an sagt, was wir zu tun haben und was wir lassen sollen.“ Lissi nickte. „‚Findet die anderen Dämonenbesitzer.‘ ‚Macht eure Prüfung für die Dämonenform.‘ ‚Trainiert, um für eine mögliche Schlacht gewappnet zu sein.‘ und jetzt ‚Wartet, bis wir sagen, dass wir euch brauchen.‘ Sorry Cärstchen, aber das klingt für mich kein bisschen nach ‚freier Wille‘.“ Übelkeit, gepaart mit Wut stieg in Carsten auf. Doch nur die Übelkeit schaffte er runterzuschlucken. „Ach und ihr denkt, Konrad, Florian, Eagle oder ich machen all das, weil wir gerade Bock drauf haben? Seid doch froh, dass ihr zumindest wisst, was euer nächster Schritt ist! Und dass ihr trotz allem noch die Möglichkeit habt zu entscheiden! Falls ihr jetzt schon der Meinung seid keinen freien Willen zu haben, denkt mal an die, die ihren freien Willen bereits gänzlich aufgeben mussten!!!“ Bei seinem schroffen Tonfall zuckten einige der Mädchen zwar zusammen, doch ansonsten reagierten sie nicht. Schweigen breitete sich aus, wo jeder mit den Gedanken zu Benni, Johannes und Janine abdriftete. Genauso wie Johanna, Sakura und, was niemand außer Carsten an diesem Tisch wissen dürfte, Sultana. Selbst wenn viele von ihnen einen starken Willen hatten, frei war was Anderes. Bedrückt stellte Carsten fest, dass seine Worte ausgerechnet Laura und Ariane am stärksten getroffen hatten. Was nicht überraschend war, wenn man bedachte an wen sie dadurch wieder erinnert wurden. Direkt bereute Carsten, dass er seinen Ärger nicht hatte im Zaum halten können. Gleichzeitig wusste er nicht, wer der beiden nun eher Beistand bräuchte. Noch während er sich Vorwürfe machte, ging ein leichtes Beben durch den Turm. Irritiert schaute er auf. Hatte er sich das vielleicht nur eingebildet? „Habt ihr das auch gespürt?“, fragte Öznur verwundert. Wohl doch keine Einbildung. Diese Vermutung bestätigte sich als erneut ein Beben den Turm erschütterte. Dieses Mal stärker. Instinktiv klammerte sich Laura an Carstens Arm. „Das ist kein Erdbeben.“, stellte sie schaudernd fest. Unruhiges Gemurmel erfüllte den gesamten Turm, was beim dritten Mal bereits in leichte Panikschreie überging. Jetzt wünschte sich Carsten definitiv jemanden, der ihnen allen sagte was sie tun sollten. Hoffend schaute er zum Lehrertisch, der über die andere Treppe des hohen Turms erreichbar war. Und tatsächlich, Herr Bôss wechselte einige ernste Worte mit seiner Frau und beide standen kurz darauf mit einem Nicken auf. Während die Direktorin die Treppe runter ging, wandte sich der Direktor an die Schülerschaft und sagte mit magie-verstärkter Stimme: „Ruhe!“ Sofort wurde es still im Turm, lediglich das leichte Beben weigerte sich, dem Folge zu leisten. „Ihr müsst jetzt Ruhe bewahren. Etwas scheint die Magie-Barriere durchbrochen zu haben, doch das ist kein Grund direkt in Panik zu verfallen. Meine Frau geht eben gerade raus und prüft die Lage. Wenn sie euch das Zeichen gibt, verlasst ihr langsam eure Plätze und werdet von den Lehrern zum Schutzbunker geleitet. Lediglich die Magier aus dem dritten Jahr kommen bitte zu mir.“ Bei diesen Worten blickte der Direktor direkt in ihre Richtung, eine deutliche Aufforderung, dass auch sie dazu zählten. „Denkt immer daran: In Krisensituationen ist es die Panik, die mehr Opfer fordert als die Krise selbst. Also bitte bewahrt Ruhe, sodass wir die Möglichkeit haben gar keine Opfer beklagen zu müssen.“ Direkt im Anschluss deutete Frau Bôss ihnen bereits an, dass sie kommen sollten. Es herrschte ein Schweigen, wie man es sonst nur von Beerdigungen kannte, als sie alle aufstanden und die Treppe runter in Richtung Ausgang gingen. Nur allmählich wagten sich einige zu leisen Gesprächen, die bei jedem weiteren Beben schlagartig verstummten. Einige weniger starke Nerven begannen zu Schluchzen, doch in den meisten Fällen wurden sie von ruhigeren Mitschülern direkt getröstet, sodass nur wenig mögliche Panik aufkommen konnte. Carsten musste gestehen, dass er durchaus überrascht war. Er hätte nicht erwartet, wie besonnen so eine große Menschenmasse reagieren konnte. Ob es mit ihrem Training zusammenhing? Mit der Magie und dem Kampfsport, wo die Schüler des Öfteren mit vermeintlich bedrohlichen Situationen konfrontiert wurden? Vielleicht lag es auch an dem Respekt und dem Vertrauen, den die Lehrer und insbesondere die Direktoren dieser Schule genossen. Der Zuversicht, dass sie diese Situation meistern können, wenn man nur das machte was sie sagten. Carsten ertappte sich selbst bei diesem Gedanken. Frau Bôss war eine überragende Kampfkünstlerin, selbst Chief hatte ihre Fähigkeiten mal in den höchsten Tönen gelobt. Und dass Herr Bôss ein begnadeter Magier war, stand ebenso außer Frage. Gerade was ihn betraf… Er hatte nichts Geringeres getan als Carsten aus der schlimmsten Zeit seines Lebens zu begleiten. Ohne Herr Bôss wäre er nicht hier, würde nicht diese Stufen mit den anderen heruntergehen. Gerade, als sie sich mit einigen aus dem dritten Jahr von der Schülerschaft trennen wollten, meinte Lissi plötzlich gedämpft: „Geht ohne mich weiter. Was auch immer hier gerade passiert: Susi und Banani haben keine Ahnung.“ „Lissi, warte!“, rief Öznur und wollte sie zurückhalten, doch Lissi rannte bereits Richtung Haupteingang des Gebäudes. Eine Lehrerin stellte sie zur Rede, doch nachdem Lissi die Situation kurzerhand erklärt hatte ließ sie sie überraschender weise passieren. Sprachlos schaute der Rest ihr hinterher, obwohl sie bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Schließlich war es Ariane, die sich seufzend abwandte. „Lissi wird schon wissen, was sie tut.“ Nur zögernd gaben sie ihr mit einem Nicken recht, bevor sie es Ariane gleichtaten und auf Herr Bôss zugingen. Dieser vergewisserte sich, dass alle relevanten Personen anwesend waren, bevor er ihnen bedeutete ihm zu folgen. Sie gingen die andere Treppe hoch, um den restlichen Schülern Platz zu machen, die von den Lehrern in einen Untergrundraum geleitet wurden. Carsten hatte nie bemerkt, dass sich in der Mitte des Turmes eine riesige Falltür befand. Erst, als sich der goldene Boden auf magische Weise öffnete und eine breite Treppe freigab erkannte er, was Herr Bôss ganz offensichtlich mit ‚Schutzbunker‘ gemeint hatte. Diese Schule steckte voller Überraschungen. Inzwischen hatten sie die große Plattform erreicht, wo normalerweise die Lehrkräfte während der Mahlzeiten saßen. Genauso wie Herr Bôss warf auch Carsten einen Blick in die Runde. Etwa 50 Mitschüler waren gefolgt und um die zehn Lehrkräfte. 60 Magier gegen eine unbekannte Bedrohung. Ob das reichen würde? Auch Herr Bôss schien dies abzuwägen, ehe er meinte: „Okay, hört mir nun gut zu. Es scheint ein schwerer Sturm aufzuziehen, der alles andere als natürlich ist. Zum Teil hält die Barriere noch, aber sie wird von Sekunde zu Sekunde schwächer. Alleine werde ich sie nicht aufrechterhalten können. Und genau dabei werdet ihr mir helfen müssen. Selbst wenn hier alle in Sicherheit gebracht wurden, müssen wir auch damit rechnen, dass sich einige Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte sowie weiteres Schulpersonal außerhalb des Mensaturms befinden. Wir müssen ihnen genug Zeit verschaffen, einen der anderen Fluchtwege zu benutzen.“ Andere Fluchtwege? Während Herr Bôss weiter erklärte, warf Carsten einen fragenden Blick in Richtung der Mädchen. Laura bemerkte seine Verwirrung. „Das wurde uns damals direkt am ersten Schultag erklärt.“, erläuterte Laura flüsternd. „Es gibt verschiedene Wege in einen Schutzraum, der sich tief unter nahezu dem gesamten Campus befindet.“ Gut zu wissen. Herr Bôss hatte die Magier derweil in zwei Gruppen eingeteilt, sodass sich besonders die Schüler gegenseitig ablösen und eine Pause machen konnten, würde der Zauber ihnen zu viel abverlangen. Als sich die Menschentraube in Zweiergruppen allmählich auflöste, um zu höheren Ebenen des Turmes zu gelangen, kam Herr Bôss auf ihre kleine Gruppe zu. „Carsten, ich brauche dich als Rückversicherung, sollten zu viele der Schüler ausfallen.“, meinte er direkt. Carsten rutschte das Herz in die Hose. „Rückversicherung?“ Der Direktor nickte. „Noch kann ich nicht einschätzen, wie stark dieser seltsame Sturm wirklich ist. Aber selbst einige vom dritten Jahr werden ihre Schwierigkeiten haben. Das Problem ist, je mehr aus Erschöpfung den Zauber abbrechen müssen, desto anstrengender wird es für die Übrigen.“ Herr Bôss warf ihm ein Lächeln zu und ergänzte mit leicht sarkastischem Tonfall: „Du bist sozusagen unser Ass im Ärmel.“ Natürlich fühlte sich Carsten alles andere als wohl dabei, dass Herr Bôss so viel Hoffnung in ihn setzte. Dass insgesamt zurzeit so viel Hoffnung in ihn gesetzt wurde. Aber jede weitere Diskussion würde sie nur umso mehr wertvolle Zeit kosten, weshalb Carsten darauf einfach nur ein wenig überzeugendes Nicken erwiderte. „Und wir?“, fragte Laura plötzlich. Herr Bôss wies auf den Rest der Schülerschaft. „Ihr begebt euch in Sicherheit.“ „Nein! Ooooh nein, das machen wir nicht!“ Empört verschränkte Öznur die Arme vor der Brust. „Wir werden uns nicht mehr verstecken! Wir wollen uns nicht zurücklehnen, während der ganze Rest sein Leben aufs Spiel setzt!“ „Genau!“, warf Ariane ein. „Gerade Laura und ich haben die Möglichkeit zu helfen. Wir können-“ „Hatten wir nicht letzte Woche erst diskutiert, warum ihr das nicht könnt?!“, ertönte hinter ihnen Frau Bôss‘ strenge Stimme. „Wollen Sie das wirklich riskieren?!“, fragte Öznur frustriert. „Das Leben von all Ihren Schülern, nur, um zu verhindern, dass wir enttarnt werden?!“ „Fräulein Albayrak, jetzt ist nicht die Zeit für Diskussionen.“ Laura verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann sparen Sie sich den Versuch uns davon abzuhalten lieber gleich.“ Carsten legte seiner besten Freundin eine Hand auf die Schulter. „Laura, es ist schon gut. Tut, was sie sagen.“ „Nein.“ Natürlich hätte er bei ihrem Dickkopf mit so einer Antwort rechnen müssen. „Du hast gemeint wir haben einen freien Willen? Dann versuch nicht, uns ausgerechnet jetzt davon abzubringen.“ Herr Bôss, der diese unnötige Diskussion bisher nur schweigend beobachtet hatte, lachte schließlich auf. „Lasst sie, die Mädchen werden schon wissen, was sie tun.“ An die drei gewandt meinte er noch: „Aber denkt bitte trotzdem daran, was für ein Risiko ihr damit für euch darstellt. Haltet euch solange bedeckt, bis es wirklich brenzlig wird. Okay?“ Anscheinend halbwegs zufrieden gestellt mit diesem Kompromiss nickten sie. Ohne noch mehr Zeit zu verschwenden wies Herr Bôss Carsten an ihm zu folgen, während der Rest bei Frau Bôss für den ärgsten Notfall zurückblieb. „Je weiter oben, desto effektiver ist der Zauber.“, erklärte der Direktor ihm, während sie an den schon wartenden Magierpaaren vorbeigingen. „Aber dafür ist es auch umso gefährlicher. Du musst mir versprechen dich sofort in Sicherheit zu bringen, wenn es kritisch wird.“ Carsten wollte ihm widersprechen, doch beim Luftholen wurde er bereits von Herr Bôss unterbrochen. „Kein ‚Aber‘. Du bist unersetzlich, Carsten. Wenn wir dich verlieren, gibt es keinen Weg Damon zu retten. Ich gehe an sich schon ein großes Risiko ein, dich und jetzt auch noch die Mädchen in all das zu integrieren.“ Schaudernd fiel Carsten auf, dass Herr Bôss alles andere als zuversichtlich wirkte. Es war das genaue Gegenteil zu der Ausstrahlung, die er zuvor noch hatte, als er mit den restlichen Schülern gesprochen hatte. „Glauben Sie…“ Er warf ihm ein kesses Lächeln zu. „Ich bin Atheist, ich glaube nicht.“ Dennoch wurde er direkt wieder ernst. „… Aber ich hoffe. Und selbst das fällt schon schwer.“ Inzwischen waren sie bei der höchsten Plattform des Turmes angelangt, die nur über diese Treppe erreichbar war. Staunend schaute sich Carsten um. Der Boden war beängstigend weit entfernt, selbst ein Dämonenverbundener würde einen Sturz aus dieser Höhe nicht überleben können. Sogar die Mädchen und Frau Bôss, die sich etwa in der Mitte des Turmes befanden, wirkten winzig. Carsten warf einen Blick auf das Mosaik hinter ihm. Er hatte die Bilderreihenfolge immer und immer wieder betrachtet, während er die Schülertreppe rauf und runter gegangen war. Nur das letzte Bild hatte er nie zu Gesicht bekommen, da es nur über die Treppe für die Lehrerschaft und die Schülervertretung erreichbar war. Es war offensichtlich, um was für eine Geschichte es sich handelte, die die Mosaikbilder erzählten. Es ging harmonisch los, doch sehr bald kreuzten sich Schwerter und Zauberstäbe. Man sah, wie Menschen sich gegenseitig bekämpften, Magier gegen Kampfkünstler. Auf weiteren Bildern sah man, wie Indigoner und Elben flüchteten. Wie Dryaden gejagt und gefoltert wurden. Es war der magische Krieg. Durch das bunte Mosaik wirkte er weniger düster und grausam wie er in Wahrheit war. Und doch war man sich der Grausamkeiten dieser Zeit bewusst. Am Ende der Bilderreihe sah man, wie Frieden geschlossen wurde, wie die Menschen Damon gründeten und Elben und Indigoner zurückkehren konnten. Wie die Vampire in die Oberwelt eingeladen wurden, in der Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz mit allen irdischen Lebewesen. Und nun stand Carsten vor dem letzten Bild dieser Geschichte. Das Bild, dass sich der Menschheit all die Zeit verborgen hatte. Drei junge Erwachsene waren zu sehen. Ein Magier mit weinrotem Haar in asiatisch angehauchter edler Tracht. Eine ebenso elegant gekleidete Frau mit kurzen silbernen Haaren und eine Kriegerin mit langen Haaren in ebendieser Farbe, gekleidet in einem roten Kimono und mit einem Katana in den Händen. Und in gewaltiger Größe hinter den Helden türmte sich ein Purpurner Phönix auf, den Schnabel aufgerissen, sodass Carsten bereits meinte das ohrenbetäubende Kreischen hören zu können. Das war das wahre Ende der Geschichte. Das war der Kampf von Eufelia, Coeur und Leonhard gegen Mars. Noch während sich Carsten schaudernd bewusst wurde, dass bald er selbst mit den Mädchen, sowie Benni und seinem Bruder und all den anderen Dämonenbesitzern an diesem Punkt stehen würde, so dicht vor dem Verursacher all des Leids, spürte er, wie eine gewaltige Macht vom Turm nach außen drang, als Herr Bôss mit den Lehrern und Schülern die Barriere erschuf, um die Akademie und all die Leute da drinnen zu beschützen.   ~*~   Ein seltsames Geräusch. Ein Klacken. Das war es, was Jack hochschrecken ließ. Wobei hochschrecken eigentlich der falsche Begriff war, da kein Muskel dazu in der Lage schien, irgendetwas was auch nur annähernd in die Richtung ‚hoch‘ ging, bewerkstelligen zu können. Noch während sich sein Körper der geballten Ladung an Schmerzen bewusst wurde, kam es wieder. Das Klacken. Das Türschloss!, schoss es Jack durch den Kopf. Dank des Adrenalins durch die plötzliche Panik schreckte Jack nun wirklich hoch. Vorsichtig stützte er sich auf seinem linken Arm ab, während er mit pochendem Herzen beobachtete, wie mit erdrückender Langsamkeit die Türklinke heruntergedrückt wurde. Hatte Mars es doch gemerkt? Dieses bisschen an Energie?!? Nicht schon wieder. Nicht schon wieder! Jacks Atem wurde flacher, es war ihm nicht möglich die Angst auch nur ein bisschen im Zaum zu halten. Ein schmaler Lichtstrahl drang in sein Zimmer, als die Tür für einen Spalt geöffnet wurde. Je mehr die Tür sich öffnete, desto breiter wurde er. Und desto weniger bekam Jack Luft. Schließlich konnte er sie erkennen. Die Silhouette eines jungen Mannes, umrahmt vom flackernden Kerzenlicht, was den Haaren eher einen leichten orange-Ton verlieh statt dem typischen blond. Doch die Kleidung war unverkennbar. Schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans. Warum konnte Jack jetzt nicht einfach wieder in Ohnmacht fallen, wie es in den Filmen so häufig der Fall war? Er versuchte sich zu fangen. Suchte nach einer Möglichkeit diese Situation für sich auszunutzen. Irgendwie die Gelegenheit zu ergreifen, um fliehen zu können. Doch natürlich gab es nichts. Es gab keinen Ausweg. Der wurde versperrt. Mars betrat das Zimmer und meinte mit vor der Brust verschränkten Armen: „Ich würde ja gerne sagen du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen, aber… eigentlich siehst du eher aus als wärst du der Geist selbst.“ Jack stutzte. Das war weder Mars‘ noch Bennis Stimme. Die Gestalt kam näher auf ihn zu, sodass Jacks verschwommene Sicht bessere Chancen hatte ihn erkennen zu können. Es war nicht nur das Kerzenlicht, was die Haare orange erscheinen ließ. Sie waren tatsächlich orange, bis auf einen strohblonden Ansatz, wo offensichtlich nicht mehr nachgefärbt wurde. Automatisch erwartete Jack ebenso orange-farbene Augen, doch im Licht der Schreibtischlampe sah er, dass die Kontaktlinsen herausgenommen waren. Stattdessen betrachtete er ihn mit einem strahlenden Himmelblau, als er mit einem schiefen Lächeln meinte: „Nimm’s nicht persönlich aber: Du siehst echt scheiße aus.“ „… Max?“ Eindeutig, es war einer der drei Jungs, die Mars mit seinem Fluchmal belegt hatte, um die potenzielle Bedrohung die von Laura ausging in Schach zu halten. Der Max, der nach seinem etwa einjährigen Aufenthalt im FESJ von Mars herausgeholt wurde, um weiterhin krumme Dinge für ihn drehen zu können. Der durch das Fluchmal ein irrer Psychopath geworden ist. Genau dieser Max stand nun vor ihm. Und irgendwie auch nicht. „Sorry, falls du jemand anderes erhofft hast.“, meinte er belustigt. „Aber in deiner jetzigen Situation wäre es wohl besser, nicht so wählerisch zu sein.“ „Aber… warum…“, stammelte Jack. Als wäre es nicht schon ätzend genug, dass er durch die ganzen Schmerzen keinen einzigen klaren Gedanken fassen konnte. Jetzt stand auch noch jemand vor ihm, mit dem er am wenigsten gerechnet hätte und der sich überhaupt nicht so verhielt, wie er sich eigentlich verhalten müsste. Zumindest schien Max seine Verwirrung zu bemerken. Mit einem mitleidigen Lächeln ging er neben Jacks Bett in die Hocke. „Gestern, da… Es ist schwer zu beschreiben. All die Zeit war ich nicht ich selbst. Ich konnte nichts anderes machen als beobachten. Ich konnte nur zusehen, wie ich Leute verletze, wie ich eine Waffe auf Freunde richte… Und trotzdem konnte ich es nicht verhindern. Ich hatte keine Macht über mich. Aber gestern, von einem Moment auf den anderen, da hatte ich diese Macht auf einmal wieder. Ich konnte meine Arme so bewegen wie ich es wollte.“ In Jacks Kopf machte es Klick. „Das Fluchmal ist gebrochen.“ Max nickte. „Ich denke mal die Ursache brauche ich dir nicht zu erläutern.“, meinte er, mit einem Blick auf Jacks ramponierten Körper. Eine Welle der Erleichterung überkam ihn. So sehr er sich eine Rettungsaktion auch erhofft hatte, damit gerechnet hatte er nicht. Und damit schon gar nicht. Und trotzdem… „…Wie bist du an die Schlüssel gekommen? Ich dachte die wären bei…“ Max grinste ihn an. „Wenn ich schon die ganze Zeit gegen meinen Willen ein Verbrecher war, will ich zumindest ein paar Tricks davon mitgenommen haben. Also…“ Er hielt einen Moment inne. „… Das Eichhörnchen war’s.“ Verwirrt schaute sich Jack um und Tatsache, in der Tür saßen zwei Tiere. Das eine monströs groß und furchteinflößend in der Form eines Wolfes, das andere winzig klein und leicht dicklich, was das Eichhörnchen dafür aber umso knuffiger wirken ließ. Chip hob eines der Pfötchen als er erwähnt wurde, als würde er Jack zuwinken. Ohne darüber nachzudenken winkte Jack zurück. Max richtete sich wieder auf. „So. Ich weiß ja, dass dein Element die Erde ist. Aber weiterhin wie ein Stein in der Gegend rumliegen wird uns leider nicht weiterhelfen.“ Es war also wirklich keine Einbildung. Es war kein Traum. Okay, so einen friedlichen Traum würde sich Jack ohnehin niemals erhoffen können, aber… Verdammt, yes!!! Jack sammelte alle seine Kräfte, um sich aufzurichten. Seine Beine brannten zwar wie Höllenfeuer als er sie belastete, doch die Schienen leisteten gute Arbeit. Die Verletzungen dürften also nicht so stark darunter leiden. „Ich vermute mal unser nächster Stopp ist bei den Kerkern?“, vergewisserte sich Max und reichte Jack einen goldenen Ring, verziert mit einem orangenen Edelstein. Der Typ hatte ja echt an alles gedacht. „Wir müssen Janine und die anderen rausholen.“, bestätigte Jack. Max rümpfte die Nase. „Ich wünschte nur wir hätten genug Zeit, um dich vorher nochmal schnell unter die Dusche zu stecken.“ „Wer ist hier nun wählerisch?“, konterte Jack und vergewisserte sich, dass niemand sonst in ihrer Nähe war. Bei einem prüfenden ‚Blick‘ in seinem Zimmer stellte er fest, dass sowohl Bennis Samurai-Schwert als auch die Pistole nicht mehr dort waren, wo sie sich befinden sollten. Mist, also hat Mars bereits beides in die Finger bekommen. Doch ihm blieb keine Zeit, sich weitere Gedanken darüber zu machen. Er und Max tauschten nur einen kurzen Blick aus, dann verließen sie beide gefolgt von den pelzigen Kumpanen das Zimmer. Während sie zu viert die Gänge entlangschlichen musste Jack sie immer wieder zum Anhalten bewegen, um ihre Umgebung auf mögliche Gefahren zu untersuchen. Eigentlich ging das nebenbei. Eigentlich. Wenn man nicht gerade damit beschäftigt war bei jedem Schritt zu sterben. Schwer atmend stützte sich Jack an einer Wand ab. Er wusste, dass sie sich nicht die Zeit für eine Pause leisten konnten. Aber der Boden schwankte so sehr als würde er versuchen auf Wackelpudding zu laufen. „Geht’s?“, erkundigte sich Max. „Bloß einen Moment…“, antwortete Jack keuchend. Vorsichtig ließ er sich an der Wand entlang auf den Boden gleiten, wobei sich Wolf ihm überraschender Weise als Stütze anbot. Und Mensch, das Fell war wirklich so flauschig wie gedacht! Während Jack versuchte wieder zu Kräften zu kommen fragte er: „Wie habt ihr es geschafft an den Schlüssel und den Ring zu kommen?“ Max zuckte mit den Schultern, wirkte aber nicht so sorglos als er antwortete: „Ich weiß nicht, was genau gerade am Laufen ist. Aber es scheint ‘ne ziemlich große Sache zu sein, die Mars‘ volle Aufmerksamkeit verlangt.“ „… Arme Schweine.“ „Na ja, für uns immerhin die perfekte Gelegenheit.“ Wohl wahr, Max hatte es ganz eindeutig gepackt den perfekten Augenblick zu erwischen. Da sollte Jack ihr Glück nicht noch länger herausfordern. Mit zusammengebissenen Zähnen mühte er sich wieder auf die Beine, anscheinend sehr zu Max‘ Sorge. „Nichts überstürzen, es bringt uns rein gar nichts, wenn du am Ende zusammenbrichst.“ „Wenn wir das Zeitfenster zu sehr auskosten sind wir genauso am Arsch.“, erwiderte Jack und setzte ihren Weg fort. „Schon, aber…“ Jack lachte auf. „Es ist echt seltsam, dich so zu erleben. Du wirkst so… normal.“ Max schnaubte. „Willst du mich beleidigen?“ Auf diesen gekränkten Kommentar hin mussten beide grinsen. Nach einer Weile, in der der Boden schon wieder wie ein Schiff hin und her schwankte, meinte Max plötzlich: „Zumindest bin ich froh, endlich wieder ich selbst sein zu können.“ „War wohl ziemlich krass…“, erwiderte Jack lediglich außer Atem und wischte sich den Schweiß von der überhitzten Stirn. Max blieb stehen als sei er der Meinung Jack bräuchte eine weitere Pause. Doch dieser ging kopfschüttelnd weiter, was dem Schwindel allerdings eher im negativen Sinne dienlich war. Wieder war es Max, der das Gespräch startete. „Du hast schon einige Leute umgebracht, oder?“ „Klar.“, war das einzige, was Jack darauf antwortete. Zumindest fühlte er sich so matschig, dass sich sein Körper gar nicht erst mit Erinnerungen oder Emotionen befassen konnte. „Selbst Freunde?“, hakte er nach. „Was für Freunde?“, erwiderte Jack sarkastisch, wobei er mehr keuchte als lachte. Nun kamen doch Erinnerungen hoch, die selbst bei der Erschöpfung nicht so leicht verblassen konnten. „…Getötet nicht, aber ich hab einen… guten Bekannten häufiger und mehr Leid zugefügt als er verdient hätte.“ Schwer atmend lehnte sich Jack erneut gegen die Wand. Bei seiner momentanen Kondition würde der Weg noch ewig dauern. Dabei war das normalerweise eine Sache von etwa 15 Minuten. Scheiß riesen-Schloss. Auch Max lehnte sich gegen die Wand und betrachtete gedankenverloren die Kerze auf der gegenüberliegenden Seite. „Ich verstehe was du meinst… Besser als mir lieb ist.“ Seufzend schüttelte er den Kopf. „Ich werde mir ganz schön was einfallen lassen müssen, um all die Scheiße die ich gebaut habe wiedergutzumachen.“ Jack schwieg. Es war unmöglich, sich selbst nicht mit dieser Aussage zu identifizieren. Dabei traf Max selbst doch eigentlich überhaupt keine Schuld. Er war ein Opfer, dem Mars‘ Willen aufgedrängt wurde. „… Du solltest nicht zu hart mit dir ins Gericht ziehen.“, meinte er schließlich. Erneut warf Max ihm ein mitleidiges Lächeln zu. „Du genauso wenig.“ Jack schnaubte und tat diese Aussage mit einem Kopfschütteln ab. Bevor sie weitergehen konnten, wurde ihr Weg allerdings von Wolf versperrt. Ein warnendes Knurren grollte aus seiner Kehle. „Was ist?“, fragte Max verwirrt. Prüfend sandte Jack seine Sinne aus, wobei die Umgebung deutlich zu fühlen genauso schwierig war wie geradeaus zu schauen. Doch Tatsache… „Scheiße. Wachen.“ „Was?!“, kreischte Max erschrocken. Zischend hielt Jack ihn dazu an die Klappe zu halten und erklärte mit gedämpfter Stimme: „Vor der Kerkertür. Ein Zombie, ein Vampir und ein Werwolf.“ Sonst wäre es ja auch langweilig. Auch Max begann zu flüstern. „Toll. Und jetzt?“ „Erd-Energie zu benutzen wäre jedenfalls lebensmüde.“ Sonst würde Mars ihr Vorhaben sehr schnell durchschauen. Und sie noch schneller davon abbringen. „Und einen Schleichangriff können wir auch vergessen.“ Scheiße und in seiner jetzigen Verfassung war Jack alles andere als dazu in der Lage sich in einem direkten Kampf zu behaupten. Er warf Max einen fragenden Blick zu. „Du hast nicht zufälligerweise weitere Verbrecher-Tricks wie diesen von vorhin auf Lager?“ Planlos zuckte dieser mit den Schultern, doch dafür stellte sich Wolf auf die Hinterbeine, um die Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. Und wieder fiel Jack auf, was für ein riesiges Ungetüm das doch war. Doch gleichzeitig… Die Rädchen in seinem Kopf setzten sich quietschend in Bewegung. „Ihr könntet eine Ablenkung spielen, sodass wir sie in eine Falle locken.“ „Und wie stellst du dir das vor?“ Jack zog die Schnallen seiner Armschiene mit den Metallklauen fester, damit sein rechter Arm bei den kommenden Belastungen nicht zu sehr gegen ihn arbeiten würde. Zumindest diese Waffe hatte Mars ihm nicht abgenommen. Vermutlich, da er ohnehin nicht damit gerechnet hatte, dass Jack von ihr Gebrauch machen würde. Oder eher könnte. „Wolf lockt sie her und während die drei vollkommen auf euch fixiert sind nutze ich die Gelegenheit und erledige sie.“ Max betrachtete ihn als wäre diese Idee geisteskrank. Was sie definitiv war. „Fällt dir was Besseres ein?“ Seufzend schüttelte Max den Kopf. „Hauptsache du sorgst dafür, dass wir hier noch lebend rauskommen.“ „Ich habe nicht vor jemanden von euch sterben zu lassen.“, meinte Jack und entledigte sich seines T-Shirts. Was Max wohl noch mehr aus der Bahn warf. „Hier? Jetzt? Sorry Kumpel, aber ich bin schon vergeben.“ Er warf ihm ein kesses Grinsen zu. „Aber ich muss gestehen, heiß bist du. Besonders mit den ganzen Narben. Das hat was ziemlich verruchtes.“ „Was zum- Nimm einfach.“ Jack warf das Shirt Max entgegen, was dieser alles andere als erfreut auffing und sich demonstrativ von der Nase weghielt. „Und was soll ich damit?“ „Hör auf zu meckern und ziehe es über. Je mehr Geruch von eurer Gruppe ausgeht, desto weniger werden sie mich bemerken.“ Max verzog das Gesicht. „Oh ja, damit fallen wir hundert pro auf.“ „Mach einfach.“ Während Max mit übertriebenem Ekel Jacks T-Shirt überzog, begab Jack selbst sich in einen Gang, wo man ihn, wenn, dann erst zu spät bemerken konnte. Zumindest leistete sein Hormonhaushalt gute Arbeit und pumpte ihn mit mehr Adrenalin voll als notwendig. Das erhöhte ihre Chancen zumindest ein bisschen. Er atmete tief durch, was für seine Lungen immer noch eine Herausforderung zu sein schien, und nickte Wolf zu. Während sich Chip in eine knuffige, absolut ungelenke Kampfposition begab, sprintete der Wolfshund los. Mit seinen inneren Augen verfolgte Jack den Weg. Binnen weniger Sekunden hatte Wolf die drei Wachen bereits erreicht, die ihn und sein Knurren direkt als Bedrohung wahrnahmen und zum Angriff übergingen. Geschickt wich Wolf ihnen aus und machte mit zwei imposanten Wandsprüngen über den Köpfen der Unterweltler kehrt, um sie zu ihrer Gruppe zu locken. Krass. Dafür, dass Wolf so riesig war, war er extrem wendig. Und schnell. Selbst der Werwolf konnte nicht zu ihm aufschließen. Wenig später preschte Wolf bereits um die Ecke. Wobei er solch eine Geschwindigkeit drauf hatte, dass er schon wieder an der Wand abspringen musste, um die Kurve zu kratzen. „Stehen bleiben!“, brüllte der Vampir ihm hinterher. Jack lachte in sich hinein. Als würde dieser Spruch je was bringen. Als Max und Chip die drei Unterweltler erblickten quietschten sie erschrocken und verängstigt auf. Jetzt kam es auf das Timing an. Jack schloss die Augen, um seine Gegner wahrzunehmen ohne sie sehen zu müssen. Vampir und Werwolf waren fast gleichauf. Mit etwas Glück könnte er beide mit einem Streich erwischen. Jack begab sich in Position. Wolf kam an ihm vorbei. Kurz darauf der Werwolf und- Gerade als der Vampir seine Höhe erreicht hatte schoss Jack aus dem Versteck hervor und rammte ihm die Klauen in die Kehle. Der gurgelnde Schrei seines Kameraden zog nun auch die Aufmerksamkeit der anderen beiden auf Jack. Sofort waren Wolf, Chip und Max uninteressant. Er wirbelte herum und riss dabei die Klinge unsanft aus dem Körper des ersten Gegners. Sofort begann sein rechter Arm zu protestieren. Jack biss die Zähne zusammen und spießte auch den zweiten auf. Doch der kurze Schwächeanfall hatte ihm einen wertvollen Herzschlag gekostet, in dem der Werwolf bereits tiefe Furchen in seinen linken Arm geschlagen hatte. Schwer atmend wandte er sich dem Zombie zu. Blöderweise galten Zombies im Allgemeinen als sehr intelligente Genossen und dieser hatte sofort erkannt, dass wegrennen und Hilfe holen die bessere Alternative wäre als der sichere Tod. Zumindest für ihn selbst, was Jack ihm nicht wirklich verübeln konnte. Trotzdem… „Scheiße…“, fluchte Jack außer Atem und versuchte trotz der Sternchen in seinem Blickfeld zu dem letzten Überlebenden aufzuholen. Zum Glück gab es hier noch jemanden, der mitdenken und -kämpfen konnte. Wolf war schon an Jack vorbei und versperrte dem Zombie den Weg. Als dieser trotzdem nicht zurückwich, sprang das Monstrum ihn an und warf ihn zu Boden. Knurrend ging Wolf etwas zurück als auch Jack sie endlich erreicht hatte. Weiß-graue Augen schauten mit einem flehenden Blick zu ihm hoch. „Jack, ich bin’s doch. Was ist los, Kleiner?“, keuchte der Zombie mit seiner kratzigen Stimme. „…Gheorez?“ Jack hielt inne. Er hatte sich mit ihm eigentlich immer ganz gut verstanden. Und direkt bekam er sein Zögern zu spüren. Jack schrie auf, als Gheorez die Gunst der Stunde nutzte und ihm gegen das linke Schienbein schlug. Für einen Moment überlagerte ein explodierender Sternenhimmel seine Sicht, in welchem der Zombie bereits einen erneuten Fluchtversuch startete. Der abrupt endete. Ganz mitbekommen hatte Jack es zwar nicht, aber so, wie der Zombie wenige Sekunden später mit unnatürlichen Verrenkungen an der Wand lag und Wolf immer noch in seiner kauernden Kampfposition stand, konnte er sich schon vorstellen was Sache war. Mit einem erstickten Schmerzenslaut sackte Jack auf den Boden und versuchte dem Schmerz Herr zu werden. „Ich schulde dir was…“, keuchte er an Wolf gewandt. Dieser schien sich zu beruhigen als er erkannte, dass sein Gegner sich wohl nie mehr rühren würde. Gleichzeitig mit Wolf kamen auch Max und Chip zu ihm rüber. „Wow, das war krass.“, kommentierte Max. „Und extrem lebensmüde.“ „Gehört zum Job.“, erwiderte Jack nur, immer noch nicht bei Atem. Vorsichtig tastete er nach dem Bruch in seinem linken Bein. Selbst die leichteste Berührung ließ ihn zusammenzucken, doch wie durch ein Wunder hatte die Schiene dem Schlag Stand gehalten. „Geht’s?“, hörte Jack Max‘ Stimme, während seine Sicht immer noch flimmerte. Ganz in der Nähe seines linken Ohres hörte er ein Quietschen und spürte wie eine flauschige Pfote seine Wange berührte. „Ja, ja. Geht schon.“, ächzte er und streckte die Hand aus, um sein T-Shirt zurückzufordern. Was sich Max nicht zweimal sagen ließ. „Was ist mit… Kerkerschlüssel?“, erkundigte sich Jack und versuchte sich gleichzeitig darauf zu konzentrieren, sein T-Shirt mit einer Klinge der Klauen in einen langen Streifen zu schneiden. „Den hab ich.“, antwortete Max und beobachtete das Schauspiel. „Armes T-Shirt.“ „Armes Ich, wenn ich verblute.“, erwiderte Jack nur und versuchte einen Druckverband zu improvisieren. So blöd stellte er sich zwar nicht an, aber Max dauerte es wohl trotzdem zu lange. „Los komm, lass mich machen. Das kann ja keiner mitansehen.“, er kniete sich neben Jack und riss ihm regelrecht den Stofffetzen aus der Hand. Jack wollte ihm widersprechen, doch Max hatte Recht. Und dennoch war es ein seltsames Gefühl, die Hilfe von jemandem anzunehmen. Gerade in der letzten Zeit hatte Jack selbst häufig Leute verarztet. Aber bei seinen eigenen Verletzungen war er immer auf sich selbst gestellt gewesen. Die Zeiten in denen man ihn tröstend auf den Schoß nahm und ein Pflaster auf die blutige Stirn klebte waren lange vorbei. Die kleinen Aufmerksamkeiten um seine aufgewühlten Gefühle zu beruhigen sind mit ihr gestorben. Das plötzliche Ziehen als Max den Druckverband enger als angenehm schnürte, ließ Jack nicht ganz in seinen Erinnerungen verweilen. „Alles okay?“, erkundigte sich Max, Jacks trüben Blick bemerkend. Geräuschvoll atmete er aus und quälte sich auf die Beine. „Erst, wenn’s Kekse gibt.“ Max lachte auf und hob entschuldigend den Kerkerschlüssel in die Höhe. „Danach bekommst du die besten Kekse von ganz Damon. Versprochen.“ Aus einem sonderbaren Grund motivierte diese Aussage Jack tatsächlich. „Dann lass uns keine Zeit mehr verschwenden.“ Kapitel 80: Der Anfang vom Ende - Teil 2 ---------------------------------------- Der Anfang vom Ende - Teil 2       In den ersten Minuten hatte Anne den plötzlichen Wetterumschwung einfach für einen typischen Herbststurm gehalten, dem wahrscheinlich sehr bald Gewitter folgen würden. Doch sie wurde schneller eines Besseren belehrt als ihr lieb war. „Was zum Teufel geht hier vor sich?“, murmelte sie bei einem Blick aus dem Fitnessraum zu sich selbst. Der Himmel wurde von einer düsteren Wolkendecke verschleiert, die Bäume bogen sich unter dem Sturm und es war fragwürdig, wie die Stämme noch intakt sein konnten. Immer noch in ihren Trainingsklamotten verließ Anne das Gebäude, um sich ein besseres Bild von der Lage verschaffen zu können. Direkt wurde sie vom peitschenden Wind in Empfang genommen, der tobte und heulte als wäre er die Ausgeburt des Bösen. Einen Moment lang hatte Anne Eagle in Verdacht. Doch sie konnte keine Erklärung finden, warum der ausgerechnet jetzt einen Wutanfall haben könnte, der sich so weit von Indigo entfernt bemerkbar machte. Und trotzdem… Dieser Sturm war nicht normal. So viel stand fest. Unter lautem Getöse hörte Anne Äste am Rande des Ostwaldes abbrechen. Große, gewaltige Äste. Mit einem noch lauteren Krachen verlor der erste Baumstamm seinen Kampf gegen den Wind. Ein schwaches Schimmern in dem sonst so düsteren Himmel erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine nahezu durchsichtige Kuppel schien den gesamten Campus der Coeur-Academy zu umgeben. Sicherlich die Magiebarriere, die jegliche Gefahr von ihnen eigentlich fernhalten sollte. Anne runzelte die Stirn. So wenig Ahnung sie auch von Magie hatte, dass ein sonst unsichtbarer Schutzschild auf einmal flackerte und flimmerte war definitiv kein gutes Zeichen. Sie überlegte, wo der nächste Noteingang zum Bunker war, als eine andere Bewegung in der Ferne ihre Aufmerksamkeit erregte. Dieses Mal auf der anderen Seite der Sportplätze. Jemand, der mit der Geschwindigkeit eines Kampfkünstlers in Richtung der Stallungen rannte. Anne wusste sofort wer. Ohne weiter darüber nachzudenken sprintete auch sie los, auf die Stallungen zu. Was sich durch den Gegenwind anstrengender gestaltete als es sein sollte. Sehr bald breitete sich ein Taubheitsgefühl in Annes Händen und ihrem Gesicht aus. Sie war nie ein Freund der Kälte gewesen. „Was ist denn hier los?!?“, schrie sie über das Tosen zu Lissi rüber, die ihre Anwesenheit inzwischen bemerkt hatte und auf Anne zu gerannt kam. „Keine Ahnung! Aber die Direktoren haben angeordnet, dass wir alle uns in Sicherheit bringen sollen, während die fortgeschrittenen Magier die Schutzbarriere aufrechterhalten!“, antwortete Lissi, ebenso aus vollem Halse schreiend. „Lissi?! Anne?!“ Dieser verunsicherte Ruf richtete ihrer beider Aufmerksamkeit zum Stall. Susanne stand am Eingang, Sorge und auch einen Hauch von Angst zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, während der Wind so stark um sie wehte als wolle er Susanne weg von ihnen zerren. Erschrocken schrie Susanne auf, als der Sturm einige Ziegel vom Dach fegte die wenige Meter von ihr entfernt laut auf den Boden schlugen und in kleinere Stücke zerbrachen. „Susi!“ Lissi rannte zu ihrer älteren Zwillingsschwester, dicht gefolgt von Anne. Immer noch verschreckt klammerte sich Susanne an Lissis Arme und schaute sich ungläubig um. „Was passiert hier?“ „Wir müssen uns schnell in Sicherheit bringen.“, erwiderte Lissi nur und wollte Susanne in Richtung Ballturm zerren, wo sich neben der Mensa ein weiterer Noteingang befand. Doch Susanne rührte sich nicht. „Jetzt komm, wir haben keine Zeit zu verlieren.“, drängte nun auch Anne als nicht weit von ihnen entfernt der nächste Stamm zerbarst. „Aber…“ Susanne drehte sich um und blickte ins Innere des Stalls. Unter dem ganzen Geschreie und Getöse hatte Anne gar nicht wahrgenommen, dass auch die Einhörner panisch Wieherten. Einige bäumten sich auf, andere traten gegen die Boxen welche jedoch selbst für die Stärke eines Einhorns zu stabil gebaut waren. Und trotzdem… würde der Stall diesem seltsamen Sturm standhalten können? Anne und Lissi verstanden, worauf sie hinauswollte. Susanne war einfach eine herzensgute Person, die alles und jeden in Sicherheit wissen wollte. Darauf bedacht nicht von den riesigen Tieren platt getrampelt zu werden, öffneten die drei nach und nach jede der Boxen, um den Einhörnern ihren eigenen Überlebenskampf zu ermöglichen. Die sich prompt für das richtige entschieden und in Sicherheit galoppierten. Unter ihnen war nur eines, dessen Ruhe dafür besonders hervorstach. Ein schwarzes Einhorn mit glänzender Mähne, was auch ansonsten gut gepflegt aussah. Als Susanne die Box von diesem Tier öffnete, schien es eine Art Danke zu schnauben und stupste mit seiner Nase gegen ihre Wange. Susanne lachte auf und tätschelte ihm den Hals. „Kein Wunder, dass du dich immer so gut mit Benni verstanden hast, Flicka.“ „Komm jetzt, das war die letzte Box.“, drängte Anne und schaute nach außen in den schwarzen Himmel. Inzwischen war die flimmernde Magiebarriere deutlich sichtbar und in eine bunte Färbung getaucht. Beinahe als wären es mehrere Personen, die sie aufrechterhalten mussten. Und trotzdem nahm der Sturm nicht merklich ab. Eher das Gegenteil schien der Fall zu sein. Die Ohren des schwarzen Einhorns bewegten sich und während sie sich auf den Weg nach außen machten wieherte es leise und stieß Susanne leicht in den Rücken, als solle sie sich beeilen. Selbst das Tier verstand also, was Sache war. Lächelnd streichelte Susanne erneut seinen Hals. „Ist schon in Ordnung, mach dir um uns keine Sorgen. Bringe dich lieber selbst in Sicherheit.“ Das Einhorn gab ein weiteres Schnauben von sich und schob Susanne noch einmal Richtung Ausgang, ehe es selbst in diese Richtung davon galoppierte. Susanne lachte auf und schaute ihm hinterher. „Wie Benni. Ständig in Sorge um alles und jeden.“ „Womit beide nicht ganz unrecht haben.“, erwiderte Lissi erschreckend ernst. „Los jetzt.“, drängte Anne erneut, mit der Sorge das Dach über ihnen könne einbrechen. Sie hatte nicht diese ganzen Tiere da rausgeholt, nur damit ihr genau das widerfuhr, wovor sie die Einhörner eben beschützt hatten. Gerade als sie sich dem Ausgang zuwandten hörten sie splitterndes Glas und berstendes Holz. Der Stall würde jetzt doch nicht wirklich zusammenbrechen? Sofort drehte sich Anne zur Ursache dieses Geräusches um. Gleichzeitig ließ ein markerschütternder Schrei ihre Bewegung erstarren. „Susanne!!!“, hörte sie Lissi kreischen und nahm es doch kaum wahr. Mit lähmendem Entsetzen versuchte Anne den Anblick zu verarbeiten. Susannes Gesicht war schmerzverzerrt, ihre Brust hob und senkte sich hektisch, während ihr Körper um Sauerstoff bettelte. Doch viel mehr hob sich eine dunkle Gestalt vom Hintergrund der grauen Wolken ab. Wo einst Fenster und Holzbalken waren, klaffte nun ein riesiges Loch, versursacht von einem Wesen weder Mensch noch Wolf. Ein Wesen mit übermenschlicher Stärke und noch spitzeren Zähnen, welche es tief in Susannes Hals und Schultern geschlagen hatte. „Du Mistvieh, lass sie los!!!“, schrie Lissi und griff es mit einer Wassersichel an. Der Werwolf grollte verärgert und ließ Susanne achtlos fallen, wo sich inzwischen eine Pfütze ihres eigenen Blutes gebildet hatte. Nun hatte auch Annes Verstand die Situation erfasst. Und neben Verzweiflung loderte unsagbarer Zorn in ihr auf. „Verdammtes Arschloch!!!“, brüllte sie und durchbohrte den Drecksack mit einem Haufen Sandpfeile. Noch während der auf die beiden übrigen Mädchen zustürmte, traf Anne irgendwas Lebensnotwendiges. Das Vieh krachte auf den Boden und kam schlitternd vor ihren Füßen zum Stehen. Doch Anne und Lissi waren bereits zu Susanne gerannt. „Susi?! Susanne!!! Kannst du mich hören?!“, schrie Lissi panisch auf ihre bewusstlose Zwillingsschwester ein, mit Tränen in den Augen. Annes Herz schien ihre Brust zu zersprengen, als sie Susanne vorsichtig auf den Rücken drehte. Das war viel zu viel Blut. Die Wunde war viel zu tief. Es war unmöglich, dass sie- „Wir müssen zu Carsten! Schnell!!!“, kreischte Lissi über den immer lauter werdenden Sturm. Anne war kochend heiß und das Gefühl der Aussichtslosigkeit schnürte ihr die Kehle zu. Und trotzdem… Die Hoffnung konnte sie genauso wenig aufgeben wie Lissi. Obwohl ihr bewusst war, dass diese Wunde absolut tödlich sein müsste… Irgendetwas wollte sich nicht kampflos geschlagen geben. Das Etwas, was mit aller Verzweiflung hoffte, dass Susanne überlebte. Was sich eine Welt ohne sie gar nicht mehr vorstellen wollte. Mit einem knappen Nicken, dafür aber umso behutsamer, schob Anne ihre Arme unter Susanne und hob sie hoch, mit dem Versuch auch ihren Kopf etwas zu stützen. Ohne weitere Absprache verließen sie den Stall. Doch was sie außerhalb zu Gesicht bekamen war nicht viel besser. Anne stieß einen Fluch aus. Es war nicht der Sturm, nicht die Bäume die teils auf den Sportplatz gestürzt waren und auch nicht, dass der Stall inzwischen die Hälfte seiner Ziegel verloren hatte. Nein, es war viel bedrohlicher. Viel einschüchternder. Viel mehr. Es waren ein Haufen Unterweltler. Werwölfe, Vampire, Zombies und andere abstruse, widerliche Kreaturen, die nach und nach den Westwald verließen und das Sportgelände der Schule betraten. Es könnten genauso viele sein wie damals in Spirit, als Lukas mitten in der Nacht einen Angriff auf Konrads Villa mit ihnen allen als Gäste geplant hatte. Doch dieses Mal hatten sie keine Ariane bei sich, die alle mit ihrer Licht-Energie in Asche verwandeln könnte. Die Unterweltler hatten die beiden und das lebensgefährlich verwundete Mädchen bereits entdeckt und waren viel weniger überrumpelt. Entsprechend griff eine Horde von ihnen schon an als Anne erst realisiert hatte, dass ein Kampf unausweichlich war. Fluchend wehrte sie die erste Welle mit einer Sandwand ab. Mit Susanne in ihren Armen würde sie nicht kämpfen können. Kaum war der Wall verschwunden beschwor Lissi eine gewaltige Welle und trieb die weniger standhafte Hälfte zurück. Anne bombardierte die übrig gebliebenen mit weiteren Sandpfeilen, von denen zumindest einige ihr Ziel trafen. Scheiße, so wird das nichts. Schon gar nicht bei dieser Menge., dachte sie fluchend. Mit einem weiteren Gedanken verwandelte sie so viel Boden wie möglich zwischen ihnen und dem Wald in Sand. „Lissi!“ Lissi verstand, worauf Anne hinauswollte. Mit einem einzigen weiteren Gedanken begann bereits ein Großteil der Angreifer langsamer zu werden, während alle nach und nach in den Boden sanken. „Komm, der Treibsand wird sie nicht lange aufhalten.“, meinte Anne, doch Lissi schüttelte den Kopf. „Geh alleine.“ Entgeistert starrte Anne sie an. „Hast du sie noch alle?!“ „Du hast doch selbst gesagt der Treibsand hält sie nicht lange auf! Willst du eine Legion Unterweltler in eine Menge ahnungsloser Schüler und unvorbereiteter Lehrer schicken?!“ „Nein, aber-“ „Jetzt ist keine Zeit zum Diskutieren!“, wies Lissi sie zurecht. „Geh!“ Ihr Befehlston gefiel Anne kein bisschen. Aber gleichzeitig wusste sie, dass Lissi Recht hatte. Sie mussten verhindern, dass der Überraschungsangriff der Unterweltler gelingen würde. Und gleichzeitig mussten sie Susanne so schnell es ging zu einem Arzt bringen. Jede weitere Sekunde die sie vertrödelten machte Susannes Tod umso wahrscheinlicher… Anne biss die Zähne zusammen. „Komm ja nicht auf die Idee, hier einen Heldentod zu sterben.“ Ein belustigtes Lächeln umspielte die Lippen von dem Mädchen mit den kindischen Zöpfchen, als sie einige entfernte Unterweltler mit weiteren Wellen und Wassersicheln attackierte. „Keine Sorge Süße, so leicht kriegst du mich nicht dazu, dir meine Schwester vollständig zu überlassen.“ Anne hätte eigentlich erwartet, dass diese Aussage sie extrem aufregen würde. Aber unter den gegebenen Umständen… Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und rannte in Richtung des Hauptgebäudes, auf den Mensaturm zu wo Carsten und der Rest ihrer Gruppe sein müsste. Der immer noch starke Sturm war dabei alles andere als hilfreich. Egal in welche Richtung Anne rennen wollte, es schien immer Gegenwind. Das konnte doch nicht wahr sein! „Wir haben es fast, halte durch.“, redete Anne beschwichtigend auf Susanne ein, obwohl diese nichts mehr mitbekam. Doch die Trümmer vor einem der Hintereingänge ins Hauptgebäude machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Fluchend rannte Anne weiter, durch den schmalen Gang zwischen Hauptgebäude und Krankensaal, um zum nächstbesten Eingang zu gelangen. Ein weiteres Knirschen und Krachen. Gerade rechtzeitig wich Anne herabfallenden Steinen aus. Erschrocken und schwer atmend drückte sie Susannes bewusstlosen Körper stärker an sich, als weitere Ziegel direkt neben ihr auf den Boden prallten. „Was zum Teufel soll das alles?!“ Nein, für Panik war jetzt keine Zeit. Sie schüttelte den Kopf und rannte Richtung Mitte des großen Platzes, um nicht noch mehr Gebäudeteilen ausweichen zu müssen. Da erregte eine kleine leuchtende Gestalt beim Brunnen ihre Aufmerksamkeit. Eine Elfe, die ihr vehement zuwinkte, mit der deutlichen Aufforderung zu ihr zu kommen. Stimmt, warum ist mir Depp das nicht früher eingefallen?!, schallte sich Anne in Gedanken. Der Weg über den Untergrund ist viel sicherer. So schnell ihre Beine sie tragen konnten sprintete Anne auf den Brunnen zu. Und sprang hinein. In jeder normalen Situation würden sie und Susanne nun triefend nass im Wasser sitzen. Aber das war keine normale Situation. Und der Brunnen wusste das. Anstelle des Bodens war eine Membran, die nur die beiden Mädchen aber kein Wasser hindurch ließ. Sie hielt Susanne so sicher wie möglich, den Kopf gegen ihre Schulter gelehnt, während Anne den geschwungenen Schacht hinunter in den Bunker rutschte. Unten angekommen bemerkte Anne erst wie schwer sie eigentlich atmete. Mit einem prüfenden Blick wie es Susanne ging richtete sie sich schließlich auf und schaute sich um. Der Bunker war eine Art unterirdische Höhle, einzig erhellt von magischen Lichtern und dem Leuchten der kleinen Elfen, die herumflatterten und sich bei den Schülern um ihr Wohlergehen erkundigten. Trotz der Düsternis und Kälte hatte dieser Ort mit seinen steinigen Wänden etwas Gemütliches, Beruhigendes, sodass sich Anne ohne es zu wollen ein bisschen entspannte. Sie entfernte sich einige Schritte von dem Eingang zu einer Wand, wo sie Susanne vorerst behutsam absetzte und gegen die Steine lehnte. Anne versuchte das Ausmaß der Verletzung zu erahnen, doch die Schuluniform war so getränkt in rotes Blut, dass sie nichts erkennen konnte. Würde sie überhaupt etwas an erster Hilfe leisten können? Oder war dieser Versuch nichts als Zeitverschwendung und sie sollte lieber sofort nach Carsten suchen? Zitternd atmete Anne aus. Zögern und sich Sorgen machen war zumindest der falsche Weg. Besonders, da in diesem Moment sogar zwei Leben auf dem Spiel standen. Anne verdrängte den Gedanken an die Horde Unterweltler, der Lissi ganz alleine ohne eine realistische Aussicht auf Erfolg gegenüberstand.   ~*~   „So ein verdammter Mist!“, schrie Öznur verzweifelt und warf ihr Handy gegen die Wand, was natürlich sofort hinüber war. „Kein Empfang!“ Laura seufzte. „Was hast du anderes erwartet?“ „Und jetzt?“, erkundigte sich Ariane, mit einem Blick in Richtung Spitze des Turmes wo Carsten und der Direktor standen. „Özi, du wirst dich teleportieren müssen. Selbst wenn du diesen Zauber hasst.“ „Aber ich kann mich einfach nie an den Spruch erinnern!“, erinnerte Öznur sie verbittert daran, dass sie eine absolute Versagerin im Auswendiglernen war. Sie wandte sich an Frau Bôss. „Kennen Sie den Zauber zufälligerweise?“ Doch natürlich schüttelte die Kampfkünstlerin den Kopf. „Maaaann!“ Öznur schaute sich um. So viele Magier und doch war niemand gerade dazu imstande ihr zu helfen, da so gut wie jeder mit dieser blöden Magiebarriere beschäftigt war. Und die, die gerade nicht zauberten, lehnten erschöpft an der Wand und versuchten zu Kräften zu kommen, um so bald wie möglich wieder helfen zu können. Einige andere hatten wohl schon alle ihre Kräfte aufgebraucht. Betroffen beobachteten die Mädchen, wie die ersten Schüler bereits vor Erschöpfung zusammenbrachen. Öznur fluchte auf ihrer Muttersprache und lief unruhig auf und ab. Sie brauchte unbedingt diesen Zauber. Diesen verdammten Zauber, den sie sich einfach nie merken konnte! „Warum habe ich den Spickzettel nur im Zimmer liegen lassen?!“, klagte sie. Die Erklärung war einfach: Normalerweise trug sie ihre Freizeitkleidung, wenn sie sich nach Indigo teleportierte um Eagle zu besuchen. Aber hilfreich war das trotzdem nicht. Jetzt schon gar nicht, wo sie sich so schnell wie möglich an genau diesen Ort teleportieren musste! Die Zeit rannte ihnen davon! Sie musste- Eine grazile Hand mit überraschend starkem Griff hinderte Öznur daran, weiter kopflos auf und ab zu laufen. Verwirrt blickte sie in Lauras schokoladenbraune Augen, die sie warm und irgendwie auch beruhigend anlächelten. „Setz dich erstmal.“, riet Laura ihr und zog Öznur zu dem Esstisch der Lehrer, wo sie sich widerwillig auf einen der Stühle setzte. „Laura, ich habe nicht die Zeit-“ „Doch, hast du.“, meinte Laura direkt. „Da sind mehr Magier, die dir viel mehr Zeit verschaffen, als du benötigst. Also atme erst einmal tief durch.“ So irritierend es auch war, dass ausgerechnet Laura in dieser Situation die Ruhe bewahren konnte… Gerade das half Öznur, langsam runter zu kommen. Sie spürte ihr vor Aufregung pochendes Herz, aber gleichzeitig merkte sie auch, wie gut es tat sich einfach nur auf seinen Atem zu konzentrieren. Trotzdem… „Und was soll das bringen?“ „Dass du dich erst einmal beruhigst.“, antwortete Laura und lachte beschämt auf. „Glaube mir: Benni hat das oft genug mit mir üben müssen, während der Prüfungsphase.“ Jetzt musste auch Öznur lachen. „So läuft der Hase.“ Mit einem bedrückten Seufzen schaute sie sich wieder um. „Mir kommt diese Zeit so lange her vor…“ Laure senkte den Kopf. „Mir auch…“ Mitleidig betrachtete Öznur sie. Laura gab sich eigentlich immer ganz tapfer, obwohl sie schon so lange nichts mehr von Benni gehört hatte. Und die Momente der Zweisamkeit lagen noch weiter zurück… Öznur schweifte mit den Gedanken zu der Beziehung der beiden ab. Wie kompliziert am Anfang doch alles zwischen ihnen gewirkt hatte. Der eine absolut gefühllos, die andere fürchterlich verunsichert. Umso mehr hatte sich Öznur darüber gefreut, wie beide es tatsächlich geschafft hatten zu einem halbwegs normalen, super süßen Paar zu werden, das allem möglichen getrotzt hatte, von familiären Hindernissen bis hin zu tödlichen Krankheiten. Und doch wurden ihnen schon wieder Steine in den Weg gelegt. Wenn Öznur so darüber nachdachte… Kein Wunder, dass Laura so ruhig blieb. Sie hatte schon alleine in der Zeit in der sie sich kannten mehr durchgestanden als der Großteil der Menschheit im ganzen Leben. Bevor Öznur dazu etwas sagen konnte erkundigte sich Laura plötzlich: „Geht es wieder?“ Überrascht fiel ihr auf, dass sie tatsächlich nicht mehr so aufgebracht war wie zuvor. Beeindruckt betrachtete sie Laura und brachte ein schwaches Nicken zustande. „Super!“, meinte Laura erfreut. „Okay, dann schließe die Augen und stelle dir vor, dass du Eagle besuchen willst. Was machst du? Vermutlich erstmal Freizeitkleidung anziehen, oder?“ Öznur nickte und stellte sich automatisch vor, Jeans und irgendeinen Pulli anzuziehen. „Und dann?“, fragte Laura weiter. „Dann nehme ich mein Handy, die Schlüssel und… und teleportiere mich halt nach Indigo.“ „Gehst du dafür vom Schulgelände runter?“, hakte Laura nach. „Ne, natürlich nicht. Als Dämonenverbundene kann ich alleine ja eine Magiebarriere durchbrechen.“ Öznur ahnte schon, dass Laura wollte, dass sie sich wirklich jeden Schritt bis ins kleinste Detail vorstellte. Also tat sie das. Schlüssel und Handy in die Hosentasche. Nach mehreren Misserfolgen fand sie dann irgendwo in einer anderen Jeans endlich ihren Notizzettel und… Ohne darüber nachdenken zu müssen sprach Öznur den Zauber. Als sie die Augen wieder öffnete, stand sie vor einem vertrauten kleinen Anwesen.   ~*~   Besorgt schaute Carsten den Turm hinab. Innerhalb weniger Minuten konnten bereits mehr Schüler der Wucht des Zaubers nicht standhalten als erwartet. Zu viele für so eine kurze Zeitspanne. „Das wird nichts…“, murmelte er leise. Herr Bôss hatte ihn offensichtlich gehört. Während er immer noch auf den Zauber fokussiert war zeichnete sich ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen ab. „Wenn du einen Alternativplan hast, nur raus damit.“ Tatsächlich hatte Carsten direkt mehrere Ideen im Kopf. Plötzlich bemerkte er aus den Augenwinkeln eine Stichflamme weiter unten. Er lächelte in sich hinein, als er nur noch Laura und Ariane bei der Direktorin erkennen konnte. „Zwei Dumme, ein Gedanke.“ Kurz darauf kippte eine weitere Magierin um. „Ich muss deine Hilfe wohl früher in Anspruch nehmen als gedacht.“, meinte Herr Bôss verbissen. Wie ferngesteuert nickte Carsten, hob die Hand und sprach selbst den Zauber für die Magiebarriere. Trotzdem konnte er die Zweifel nicht ablegen. Dieser Zauber schien zu schwach und der Angriff zu mächtig. Würde es reichen? Oder würden sie nur unnötig viele Leben aufs Spiel setzen? Carsten versuchte den Gedanken an die Alternative beiseite zu schieben. Er hatte es versprochen. Er hatte den Mädchen und besonders Ariane versprochen, bis auf den Bann keine schwarze Magie mehr zu benutzen. Und Öznur war bereits auf dem Weg, um Eagle zu holen. Aber… Würden sie ihr die nötige Zeit verschaffen können? Was, wenn Öznur länger brauchte? Würde sie Eagle vielleicht erst in Indigo suchen müssen? Egal wie viele Begründungen Carsten sich zurecht suchte, er kam immer zur gleichen Schlussfolgerung. Schwarze Magie war nun einmal viel stärker als die geläufigen Zauber. Er spürte, wie das aufrechterhalten der Barriere immer fordernder wurde, je mehr Magier dazu gezwungen waren den Zauber abzubrechen. Jede Minute die verstrich fühlte sich wie eine Stunde an. Und jede Stunde ließ ihn unruhiger werden. Carsten biss die Zähne zusammen und legte noch einmal mehr Kraft in den Zauber. Es war wie ein Marathonlauf. Weder zu wenig noch zu viel war gut. Nur wie sollte man die richtige Dosis wissen, wenn man die Länge der Strecke nicht kannte? Herr Bôss lachte angestrengt. „Wir werden wohl doch auf Lauras und Arianes Angebot zurückkommen müssen.“ „Auf keinen Fall.“, widersprach Carsten bestimmt. Er würde nicht zulassen, dass sich die Mädchen vor der gesamten Schule als Dämonenbesitzerinnen enttarnten. „Arion!“, hörte er die Direktorin den Vornamen ihres Mannes rufen. „Die Elfen meinen, alle befänden sich nun im Untergrund. Begebt euch in Sicherheit, solange ihr noch könnt.“ Tatsächlich halfen bereits einige der Kampfkünstler ihren erschöpften Magier-Mitschülern in den Raum unter der Mensa. Auch Herr Bôss registrierte dies und nickte. „Alles klar. Carsten, schnapp dir die Mädchen und bringt euch in Sicherheit. Ich sichere mit den Lehrern den Fluchtweg.“ Normalerweise war es Carsten gewöhnt Anweisungen direkt zu befolgen. Schließlich hatte er es schon immer gehasst, sich Regeln oder Autoritäten widersetzen zu müssen. Doch irgendwie… „Das fühlt sich falsch an.“ „Was?“, fragte Herr Bôss. „Wollen Sie die ganze Schule einfach aufgeben? Und woher wissen die Elfen so genau, dass jeder in Sicherheit ist? Was ist, wenn sich doch jemand noch irgendwo auf dem Campus befindet?!“ Die Direktorin schüttelte den Kopf. „Mir wurde versichert, dass alle in Sicherheit sind.“ „Vertrau ihr, Carsten. Noch dazu können wir den Zauber ohnehin nicht länger aufrechterhalten, ohne mit Verlusten rechnen zu müssen. Und ich muss mich wohl nicht wiederholen, wenn ich sage, dass gerade du und die Mädchen unter keinen Umständen dazu gehören dürfen.“ Widerwillig nickte Carsten und tat schließlich doch das, was er immer machte. Er hörte auf das, was man ihm sagte. Er hatte keine Ahnung, wie viel Hilfe er im Endeffekt tatsächlich gewesen ist. Auf ihn wirkte sie bedeutungslos gering. Entsprechend fühlte sich Carsten beschämt, wie ein Versager, als er an den Magiern vorbei die Treppe zu Laura und Ariane hinunter ging. Die verwirrten Blicke der Lehrer und der ausdauernderen Mitschüler machten die Situation nicht gerade besser. Bevor Laura und Ariane ihn fragen konnten was los war, meinte er nur: „Wir sollen uns in Sicherheit bringen.“ Natürlich begannen die beiden sofort empört zu protestieren, doch Carsten ging ohne weitere Beachtung an ihnen vorbei nach unten, zu dem Eingang des Bunkers. Erst als er fast am Ende der Treppe angekommen war wurde Carsten bewusst, was genau ihm an dieser scheinbaren Niederlage so zu schaffen machte. Es war die Tatsache, dass er schon wieder einen wichtigen Ort nicht vor der Zerstörung bewahren konnte. Zähneknirschend blickte er zurück zu der höchsten Empore, wo sich das letzte Mosaik befand. Der Kampf von Leonhard, Coeur und Eufelia gegen Mars. Würde das nun schon wieder geschehen? Würde nun der nächste Ort zerstört, der ihm ebenso Zuflucht geboten hatte wie damals das Häuschen von Benni und Eufelia? Konnte er schon wieder einfach nur tatenlos zusehen? Die Schwere dieser Gewissheit traf ihn mit voller Wucht. Er wollte das nicht! Er wollte nicht genau die Schule verlieren, in der er sich zum ersten Mal wirklich wohl fühlte! Wo er nicht jeden Morgen mit Bauchschmerzen an den anbrechenden Tag dachte. Wo die Lehrer und Schüler ihn einfach so akzeptierten wie er war. Keine abfälligen Bemerkungen, keine Beleidigungen, keine Folter, keine- Carsten ballte die Hände zu Fäusten und blinzelte einige Tränen weg. Nein, er würde diesen Ort nicht aufgeben. Unter keinen Umständen. „Alles okay?“ Er spürte Lauras Hand auf seiner Schulter. Zitternd atmete er aus. „Tut mir leid, aber… Ich muss das machen!“ „Was hast du vor?!“, rief Ariane ihm hinterher, während Carsten bereits zum Ausgang des Mensaturms rannte. Nach außen, wo der tosende Sturm tobte und immer stärker wurde. „Carsten!“, hörte er Laura hinter sich schreien, schenkte ihr aber keine Beachtung. Er holte sein Taschenmesser aus der Hosentasche seiner Uniform. Warum auch immer er das selbst während der Schulzeit ständig mit sich herumtrug. Er meinte auch Ariane seinen Namen rufen zu hören, doch der Wind verschlang ihre Stimme. Sie wirkte so weit weg, so unerreichbar. Ziegel oder Steine, irgendetwas krachte neben ihm auf den Weg. Der Himmel war so dunkel. Viel zu dunkel. Der Wind war kalt und beißend. Er erinnerte sich an damals, als er Eagles Wutausbruch eingedämmt hatte. Würde er das wieder schaffen? Bei so einem riesigen Areal? Carsten hob die linke Hand, schloss die Augen, blendete all die Zweifel aus. Und rammte das Messer in seinen Unterarm. Er hatte bisher nur von diesem Zauber gelesen. Das Pendant der schwarzen Magie zum bekannten Schutzschild. Und doch hatte er keine Probleme den Zauber Wort für Wort zu rezitieren. Überraschenderweise tat der Stich kein bisschen weh. Selbst als er das Messer herauszog spürte er keinen Schmerz. Im Gegenteil. Das Blut, dass sich mit dem Wind vermischte und die schwarze Wolkendecke in eine rötliche Färbung tauchte schien eins mit der Natur. Er selbst schien eins mit der Natur. Es wirkte so friedlich und beruhigend, obwohl um ihn herum die Welt unterzugehen schien. Und trotzdem fühlte sich Carsten befreit. So frei, wie er sich noch nie zuvor gefühlt hatte. War es nicht immer das, was er sich sein ganzes Leben gewünscht hatte? Freiheit? Die Welt zu sehen, ohne dass irgendetwas ihn daran hinderte? Er fühlte sich so leicht wie eine Feder. Der Zauber schien auch ohne sein Zutun zu wirken. Warum machte er sich eigentlich immer solche Sorgen? Es war doch eigentlich alles so einfach.   ~*~   Jeder Schritt wurde anstrengender und mühseliger. Er war froh, dass Max sich darum kümmerte den Schlüssel im Schlüsselloch herumzudrehen und gemeinsam mit Wolf die schwere Kerkertür öffnete. Jack hätte aller höchstens dagegen fallen können. „Onkel, da bist du ja endlich!“, hörte er Johannes sofort begeistert rufen. Der kleine Blondschopf hatte wohl noch keine Ahnung. Genauso wenig wie der Rest dieser Kompanie. Doch statt die Situation irgendwie zu erklären, schaffte es Jack nur noch gerade so sich an einer der Gitterstreben festzuhalten, um nicht mit der Nase voran auf den Boden zu knallen. „Ruh dich etwas aus, ich kümmer mich hier drum.“, meinte Max nur und machte sich daran die erste Zelle zu öffnen. Das hätte er Jack gar nicht erst sagen müssen, mehr als ‚ausruhen‘ ging eben sowieso nicht. „Ist etwas passiert?“, erkundigte sich Arianes kleine Schwester besorgt und war direkt mit Johannes bei Jack, kaum dass ihre Zelle offen war. „Das kannst du laut sagen.“, erwiderte Jack nur und fragte sich, ob die Sternchen vor seinem inneren Auge schon eine eigene Galaxie gegründet hatten. Max war zum Glück zu mehr Erklärung imstande. „Wir müssen hier so schnell es geht raus, bevor er bemerkt was hier vor sich geht.“ „Der… Dämon?“, fragte Sultana schwach. Ihre und Sakuras Tür war die zweite, die sich öffnete. Max nickte nur und machte sich daran, Janines Zelle aufzusperren. Sie war die erste, die die unangenehmste Frage stellte: „Und Benni?“ Bei der Erinnerung an gestern senkte Jack betrübt den Blick und auch Max Stimme brach ein bisschen als er antwortete: „Der… kann leider nicht mitkommen…“ Natürlich verlangten sie sofort eine Erklärung und besonders bei Johannes traf diese Aussage auf Unverständnis. Sein lautstarker Protest sorgte für ein hohes Pfeifen in Jacks Ohren. Max versuchte ihn zu beruhigen. „Wir erklären es nachher, okay? Jetzt haben wir keine Zeit zu verlieren. Also…“ „…Wir müssen so schnell wie möglich in die Oberwelt.“ Mühsam richtete sich Jack wieder auf. Warum hatte Mars ihm auch beide Beine brechen müssen?! So ein verdammter Scheiß. „Aber er wird es sofort bemerken, wenn du die Energie in den Portal-Ring leitest, oder?“, vergewisserte Max sich. Jack nickte nur. Geräuschvoll atmete er aus und stemmte die Hände in die Hüften als sei er der Anführer irgendeines Superheldenteams. „Alles klar, wir gehen wie folgt vor: Johannes, du gehst mit Chip und Wolf als erster durchs Portal und sicherst die Lage. Verstanden?“ Überraschend enthusiastisch salutierte der Junge. „Aye aye, Capitain!“ Wolf und Chip nahmen diese Anweisung lediglich zur Kenntnis. Verschwommen nahm Jack wahr, wie sich Chip zurück zur Kerkertür umdrehte als wartete das kleine Pelzknäuel noch auf jemanden. „Ihr zwei Mädels helft Sultana und stützt sie, Johanna und ich sind euch direkt auf den Fersen. Jack bildet die Nachhut und sorgt dafür, dass sich das Portal sofort schließt, wenn wir durch sind. Verstanden?“ Johanna und Sakura nickten. Janine wirkte immer noch nicht ganz überzeug, ging aber zu Annes Mutter rüber, um sie gemeinsam mit Sakura zu stützen. Jack seufze. Wenn das mal nicht gewaltig in die Hose gehen würde… Doch Max schien zuversichtlich. Enthusiastisch klatschte er in die Hände. „Dann lasst uns keine Zeit verlieren! Ihr wollt doch garantiert auch endlich wieder nach Hause!“ Die Motivation der Kids hatte er damit sicher. Und auch Sultana schien sich trotz ihres immer noch besorgniserregend schwachen Zustands zu freuen. Nur Jack und Janine reagierten verhalten. Vermutlich hatten sie sogar dieselben Gedanken: Was für ein Zuhause? Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, doch Janine erwiderte auf Jacks mitfühlendes Lächeln nur ihren typischen Ausdruck voll Hass und Verachtung. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn sie ihre Meinung von einem Tag auf den anderen geändert hätte. Jacks Gedanken drifteten an den Tag vor einer Woche ab. An den Moment, als Janine bitter weinend über den Leichnam ihrer Pflegemutter gekrümmt war. Wie lange würde sie brauchen, um das so halbwegs verarbeitet zu haben? Dieses Bild, was sich in ihr Gedächtnis eingebrannt haben müsste… „Jetzt komm schon!“, drängte Max ihn. Die Erinnerung verpuffte. Jack lachte schwach auf. „Du bist ja ganz schön heiß drauf hier raus zu kommen.“ „Natürlich! Ich kanns kaum erwarten meine Familie und Freunde wiederzusehen!“ Er grinste Jack herausfordernd an. „Und dein Gestank ist einfach nicht auszuhalten.“ „… Du bist ne echte Diva, kann das sein?“ Max zuckte mit den Schultern. „Ich war schon immer die Drama-Queen unserer Gruppe.“ „Welch Überraschung.“, erwiderte Jack nur und hob die Hand mit dem Portal-Ring. „Mars wird sofort wissen was Sache ist. Also wehe ihr trödelt.“ Johannes nickte eifrig und begab sich in Losrenn-Position. Jack wünschte sich, dass der Kleine ihm etwas von seiner Energie abgeben könnte. Er atmete noch einmal tief durch. Und sandte seine Erd-Energie in den Ring. Kaum war das Portal entstanden, war Johannes mit einem Kriegerschrei auch schon hindurchgerannt, dicht gefolgt von Wolf und Chip. Und zur selben Zeit wusste Jack, dass Mars sie bemerkt hatte. Er stieß einen Fluch aus und beobachtete, wie Janine und Sakura dabei waren, Sultana Richtung Portal zu stützen. Schneller, schneller, schneller! Vermutlich waren die Mädchen gar nicht mal so langsam wie es Jack erschien. Doch alleine bei jedem Zentimeter den sie zurücklegten, hatte sich Mars ihnen schon mehrere Meter genähert. Er war schnell. Natürlich war er schnell. „Na los, beeilt euch!“, rief Jack und verstärkte die Kerkertür mit einer massiven Erdwand. Mit Mühe und Not schleppten sich die drei durch das Portal. Zur selben Zeit hatte Mars den Kerker erreicht. Jacks Herz hämmerte in seiner Brust. „Los!“, brüllte er zu Max und Johanna, wurde vom Krachen der Steine aber übertönt. Als würde den Herrscher der Zerstörung eine simple Wand stoppen können. Johanna kreischte erschrocken auf. Doch die Ursache war Max, der sie aus ihrer Schockstarre gerissen und durch das Portal gestoßen hatte. Aus den Augenwinkeln nahm Jack das purpurne Lodern wahr, als er sich ruckartig umdrehte. Zu ruckartig, für seinen randalierten Körper. Mit einem erstickten Keuchen gaben seine Beine unter ihm nach. „Was machst du da?!“ Noch bevor Max selbst das Portal passiert hatte wandte er sich zu Jack um und zerrte ihn hoch. „Das würde ich auch gerne wissen.“, tönte die tiefe Stimme des Dämons. Mit angehaltenem Atem, wie zu Stein erstarrt, blickte Jack zurück. Wieder fiel es ihm schwer hinter der zerstörerischen Aura die eigentliche Person zu erkennen, der dieser Körper gehörte. Doch dafür fiel ihm etwas anderes umso deutlicher ins Auge. Das silberne Glänzen einer edlen Pistole, die er in den letzten Wochen in seinem Zimmer aufbewahrt hatte. Jack blieb bewegungslos. Kein Gedanke konnte sein Gehirn erfassen, keinen Muskel konnte sein Körper bewegen. Er blickte einfach nur in diesen schwarzen Abgrund des Pistolenlaufs als habe er sich schon damit abgefunden, dass hier sein Ende wäre. „Komm schon!“ Max zerrte ihn auf die Beine, durch das Portal. Ein Schuss. Eine Explosion. Jack schrie auf als ihn etwas von innen zerriss. Und dann Leere. Kapitel 81: Der Anfang vom Ende - Teil 3 ---------------------------------------- Der Anfang vom Ende - Teil 3       Das Gefühl war erschreckend gewesen. Schrecklich. Der plötzliche Schmerz und gleichzeitig diese unsagbare Panik. Die Angst zu sterben. Und plötzlich, ganz plötzlich, war das alles vorbei. Kein Schmerz. Keine Angst. Stattdessen Wärme, Geborgenheit. Blinzelnd öffnete Susanne ihre Augen. „Was…“ „Susi?“, hörte sie eine ungläubige und doch irgendwie liebevolle Stimme fragen. Noch etwas verschwommen, beinahe schlaftrunken, schaute Susanne auf und blickte in Annes nachtblaue Augen, die mit Erleichterung und Verwunderung zugleich gefüllt waren. „Anne? Was… Was ist passiert?“, fragte sie und unterdrückte ein Gähnen. So langsam kehrten ihre Sinne zu ihr zurück, sodass sich Susanne umschauen konnte. „Und… Wo sind wir hier?“ Es schien eine Art Höhle, doch Susanne konnte sich nicht erklären, wie sie hier gelandet waren. Hatte sie so lange geschlafen? „Du… Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?“, fragte Anne, statt zu antworten. Nun war Susanne umso verwirrter. „Nein, wieso?“ Ihre Aussage wiederum schien Anne zu irritieren. Schließlich seufzte diese. „Du wurdest von einem Werwolf angegriffen. Wir dachten… Es sah wirklich schlimm aus. Also wieso…“ Kaum fiel der Begriff ‚Werwolf‘ kehrten die Erinnerungen zurück. Die Erinnerung an den Schmerz. Das Gefühl in Stücke gerissen zu werden. Instinktiv griff Susanne nach ihrem Hals aber… Wo waren die Schmerzen? „Bist… bist du dir sicher?“ Anne schaute sie an als habe sie die Sorge, dass der Angriff auch Teile ihres Gehirns getroffen hatte. „Extrem sicher, glaub mir.“ Umso verwirrter tastete Susanne die Stelle an ihrem Hals ab. „Aber… ich spüre nichts.“ So ganz stimmte das nicht. Sie merkte eine feuchte, leicht dickflüssige Substanz an ihrer Schuluniform haften. Und als sie ihre Hand betrachtete stellte sie schaudernd fest, dass ihre Finger sich dunkelrot gefärbt hatten. „Willst du mich ver-…“ Noch bevor Anne ihre Frage fertig gestellt hatte, trafen sich ihre Blicke. Sie wirkte wirklich besorgt, wie Susanne feststellte. Und mindestens genauso verwirrt wie Susanne selbst sich fühlte. Anne seufzte. „Kann ich… darf ich mir das mal anschauen?“ Susanne brachte lediglich ein Nicken zustande. Was ging hier vor sich? Behutsam, um nicht zu sagen sanft, strich Anne Susannes Haare nach hinten. Inzwischen waren sie schon wieder so lang, dass sie ihr in leichten Wellen über die Schultern fielen. Begleitet von noch deutlicherem Zögern begann Anne schließlich, die oberen Knöpfe von ihrer Schuluniform zu öffnen. Es waren nicht viele, nur so weit, bis Anne die Bluse weit genug zur Seite schieben konnte, um einen Blick auf Susannes Hals werfen zu können. Und trotzdem… Die Art, wie sie ihre Haare berührt hatte, die Vorsicht, mit der ihre Finger über ihren Hals strichen… Susannes Herzschlag beschleunigte sich und ein seltsames und doch wohliges Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus. Was war das? Bisher hatte Susanne jegliche sanfte Berührung mit einem Lächeln hingenommen ohne etwas gefühlt zu haben. Wie Miguel ihre Hand gehalten hatte, wie er ihr über die Wange gestrichen hatte… Selbst als er sie beim letzten Abschied geküsst hatte. Susanne hatte es auf die Aufregung geschoben. Dachte, wenn sie sich nur nahe genug kommen würden, dann kämen diese schwerelosen Gefühle von alleine, von denen sie immer und immer wieder in Büchern gelesen hatte. Also wie konnte es sein, dass sie so lange schon versuchte eine Bindung zu Miguel aufzubauen, während eine einzige Berührung einer anderen Person schon dieses Gefühl vermittelte? Diese Schwerelosigkeit? Anne schien immer noch viel zu fokussiert auf die vermeintliche Verletzung an Susannes Hals, um zu bemerken wie sehr sie Susanne mit diesen nebensächlichen Berührungen aus dem Konzept brachte. Wie sehr sie sie damit verwirrte. Waren das diese Gefühle, von denen Lissi erzählt hatte? Fühlte es sich so an verliebt zu sein? Unwillkürlich erinnerte sich Susanne an ein Gespräch mit ihrer Schwester wenige Wochen zuvor. Sie saßen beide auf einem Bett in ihrem Zimmer der Coeur-Academy. Susanne war mit ihren Gedanken bei Laura und Benni gewesen und schließlich weiter zu Miguel abgedriftet. ‚Wie fühlt es sich eigentlich an, verliebt zu sein?‘, fragte sie. Lissi ließ sich zurück in die Kissen fallen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. ‚Hm, das ist schwer zu beschreiben.‘ ‚Wirklich? Ich dachte, es wäre einfach. Dieses typische Phänomen mit Schmetterlingen im Bauch, nicht richtig denken zu können, …‘ ‚Jaaaaa…‘ Lissi schien nicht sonderlich überzeugt. ‚Das gehört schon dazu.‘ Sie kicherte. ‚Besonders bei Cärstchen, der bei BaNanes Anwesenheit auf einmal zu gar nichts mehr in der Lage ist.‘ Die Schwestern lachten auf bei den Erinnerungen an Carstens Unbeholfenheit, wenn er von Ariane in eine ungewohnte Situation gebracht wurde. Schließlich richtete sich Lissi wieder auf. ‚Aber verliebt sein kann man nicht einfach nur mit Schmetterlingen im Bauch und rosaroter Brille beschreiben. Und Liebe selbst erst recht nicht.‘ Susanne runzelte die Stirn. ‚Und woran soll man dann erkennen, dass man jemanden liebt?‘ ‚Das ist ganz einfach!‘ Mit ihrer typischen überschwänglich guten Laune drückte Lissi sie an sich. ‚Man weiß es einfach!‘ Damals hatte Susanne Lissis Aussage lachend akzeptiert, ohne sie wirklich verstanden zu haben. Doch nun, schon alleine das Bewusstsein, dass sie sich genau jetzt an genau dieses Gespräch erinnerte… Seufzend schüttelte Anne den Kopf und setzte sich wieder normal auf den Boden der Höhle. „Krass. Nichts. Da scheint nicht einmal mehr ein Kratzer zu sein.“ „Was?“ Susanne hatte ganz vergessen, worum es ursprünglich ging. „Susi, du bist komplett unverletzt.“, wiederholte Anne sich, immer noch nicht in der Lage das zu glauben. „Wie kann das sein? Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie der Werwolf dir fast den Kopf vom Hals gebissen hat.“ Susanne schauderte bei der Art von Annes Erzählung. Stimmte das? War es wirklich so schlimm gewesen? Aber… „Ich… Mir geht es gut, wirklich.“ Sie schien sich mit der Aussage beinahe für irgendetwas entschuldigen zu wollen. Wieder bedeckte sie mit der Hand ihren Hals. Spürte das noch nicht getrocknete Blut, welches ihr eigenes zu sein schien. Anne runzelte nachdenklich die Stirn. „Vielleicht hast du durch deine Energie so gute Regenerationsfähigkeiten?“ „Das kann sein…“, gab sie ihr nachdenklich recht. „Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals ernsthaft verletzt gewesen zu sein. Und selbst kleinere Wunden waren eigentlich immer sofort verheilt. Ich dachte, es läge allgemein an der Regenerationsfähigkeit eines Dämonenverbundenen.“ „Aber vielleicht ist deine aufgrund der Heil-Energie viel stärker als die vom Rest von uns.“, beendete Anne ihre Vermutung. Geistesabwesend nickte Susanne. Wenn die Prüfung des Pinken Bärs ihr eine Sache gezeigt hatte, dann, dass ihre Kräfte ihre Grenzen hatten. Sie konnte niemanden ins Leben zurückholen, der bereits auf der Schwelle des Todes stand. Zumindest nicht, ohne dafür ein anderes Opfer in Kauf nehmen zu müssen… Ohne es zu wollen hatte sie wie so oft Naokis Gesicht vor Augen. Sie erinnerte sich an die pechschwarzen Haare, im Kontrast zu seiner hellen Haut. An das freundliche und doch irgendwie traurige Lächeln, der Blick seiner bernsteinbraunen Augen, viel zu stark und erwachsen für seine jungen Jahre. Ein Kind, was nie wirklich Kind sein konnte. Ein Leben, was er nie leben konnte. Weil Susanne ihn getötet hatte. Diese Erinnerung ließ ihr, wie so häufig, das Herz schwer werden. Selbst wenn es nötig war, um die Prüfung zu bestehen… Wie war sie überhaupt dazu in der Lage gewesen? Wieso hatte ihr Körper so eine grausame Tat durchführen können? Einem Kind das Leben zu nehmen… „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Anne, anscheinend in Sorge, dass Susanne doch irgendwie verletzt war. Susanne blinzelte die Tränen weg. „Ich bin so egoistisch… Jemand anderen kann ich mit meiner Energie nicht vor dem Tod retten. Aber mich selbst…“ „Du meinst wegen… Hast du das von damals immer noch nicht verarbeitet?“ Natürlich nicht. Wie sollte man so etwas auch verarbeiten können? Sie schluchzte. Geräuschvoll atmete Anne aus. „Das beschäftigt dich häufiger, nicht wahr?“ Susanne konnte darauf nichts antworten. Die Erinnerungen, das schreckliche Gefühl, alles hatte sie viel zu sehr im Griff. Ließ sie nicht mehr los. Erfolglos kämpfte sie gegen ihre Tränen an. Sie spürte, wie Anne eine Hand auf ihre Schulter legte. Aber… irgendwie reichte Susanne diese Form von Trost nicht. Warum konnte Anne sie nicht einfach in den Arm nehmen? Sie war doch so stark. Stark genug um sie zusammen zu halten, um zu verhindern, dass Susanne zersplitterte. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen: „Hör mal, Susanne… Ich kann verstehen, dass das schwer ist. Und du Zeit brauchst. Aber nicht jetzt. Wir müssen schnell zu Carsten, um-“ „Coralin, bitte! Mach die Augen auf!!!“ Der verzweifelte Ruf eines Jungen ließ beide schlagartig verstummen. Immer noch schluchzend wischte sich Susanne mit der Handfläche die Tränen von den Wangen und schaute auf, in die Richtung aus der die Stimme kam. Weiter entfernt in der Höhle sah sie das Leuchten einer der Elfen bei einem Jungen, der weinend über den Körper eines Mädchens gebeugt war. Susanne schwante schlimmes. Immer noch leicht geschwächt mühte sie sich auf die Beine, doch Anne hielt sie zurück. „Du solltest da nicht hin.“ „Aber… Ich bin Sanitäterin! Ich muss!“ „Glaubst du wirklich, du könntest noch etwas für sie machen?“ Verzweifelt schaute Susanne weiter zu dem Jungen, der seine Freundin anflehte endlich aufzuwachen. Konnte sie denn wirklich nichts ausrichten? War sie so nutzlos? Und das, obwohl doch ihre Energie die Heilung war. Obwohl sie so gerne Leuten half! Und doch war sie zu nichts zu gebrauchen? „Ich… Ich muss es versuchen!“ Überraschenderweise hielt Anne sie nicht länger auf. Durch den Blutverlust noch etwas wankend ging Susanne zu der kleinen Gruppe rüber. Um die beiden hatten sich inzwischen einige Schüler versammelt und versuchten, ihren Mitschüler zu beruhigen. Sie quetschte sich durch die Traube an Jugendlicher. Einige machten ihr bereitwillig Platz, als sie das Sanitäter-Mädchen aus dem ersten Jahr erkannten. Doch Susannes Hoffnung zu helfen schwand, als sie die blutende Wunde an dem Kopf des Mädchens erblickte. Und trotzdem… „Was ist passiert?“, fragte sie und kniete sich zu dem jungen Paar. „Ich… wir… wir waren in der Bib, als es plötzlich anfing zu stürmen.“, erklärte der Junge verstört. „Erst dachten wir uns nichts dabei, doch bald… Der Sturm wurde stärker. Da wollten wir zurück gehen. Und… und dann… Da war dieser Ast, der ist abgebrochen… und hat… Coralin wurde…“ „Kannst du etwas für sie tun?“, erkundigte sich ein Mädchen aus Susannes Klasse. „Ich kann es zumindest versuchen…“ Ein bedrückendes Gefühl breitete sich wieder in ihrem Herzen aus als sie die blutverschmierten Haare beiseite strich, um die Kopfwunde zu untersuchen. Dass die normale erste Hilfe ausreichen würde bezweifelte Susanne. Aber vielleicht könnte sie ja wirklich noch etwas mit Magie bewirken. Sie sprach einen Zauber, der die Heilung beschleunigen sollte. Ein warmes rosa Leuchten füllte die Höhle und ließ alle umstehenden Hoffnung schöpfen. Doch der Zauber wirkte nur langsam und war zu entkräftigend auf die Zeit. Schwer atmend brach Susanne ihn ab und wischte sich mit dem Unterarm Schweißtropfen von der Stirn. Ihre Hände bebten. Eigentlich war sie durch das regelmäßige Balletttraining und Schwimmen immer ziemlich fit, doch Heilmagie war nicht ohne Grund die anspruchsvollste Magieform von allen. Sie erforderte unsagbar viel Kondition. Weshalb viele Magier häufiger und früher an ihr Limit stießen als wenn sie einen Kampf bestreiten würden. Ihr verzweifelter Blick schien Bände zu sprechen. „Kann… kann man denn nichts für sie tun?“ Die hoffnungslose Stimme ihres Mitschülers machte die Sache umso schlimmer. Susanne senkte den Kopf und ballte die Hände zu Fäusten. War es das? Sie beherrschte die Heil-Energie und konnte trotzdem niemanden retten? Betrübt fragte sie sich, ob Carsten das Mädchen würde heilen können. Vermutlich. Selbst wenn sogar bei ihm normale Magie nicht ausreichte, Susanne war sich sicher, dass er alle erdenklichen Fäden ziehen würde. Mit Erfolg. Er hatte die Macht dazu Leben zu retten. Die Fähigkeiten. Susanne konnte nur jemand anderen stattdessen sterben lassen… Sie spürte eine Hand auf ihren zitternden Fäusten. Doch sie wollte Anne nicht in die Augen schauen müssen. Sie fühlte sich beschämt, gar nicht erst berechtigt hier zu sein. Warum war sie nach all dem noch am Leben? Warum hatte sie diese Fähigkeiten, wenn sie doch niemand anderem damit helfen konnte?! „Susi, wir sollten wirklich-“ „Nein!“, schrie Susanne aufgebracht. „Ich will sie nicht sterben lassen! Ich kann sie nicht sterben lassen!!!“ „Wir haben keine Zeit.“, appellierte Anne an irgendetwas, woran Susanne gerade ohnehin nicht denken konnte. Die Verzweiflung nahm zu. Ja, ihr rannte die Zeit davon. Je mehr Sekunden sie verzweifelt damit verbrachte nach einer Lösung zu suchen, desto wahrscheinlicher war es, dass das Mädchen nicht überlebte. Sie betrachtete ihren Freund, dem das Leid deutlich ins Gesicht geschrieben war. Bitte! Gibt es wirklich nichts, dass ich machen kann?! Ein stiller Hilferuf. Ein Flehen an jenes Wesen, dass ihr gezeigt hatte welch tödliche Waffe ihre Energie eigentlich war. Keine Antwort. Stattdessen meinte der Junge plötzlich: „Gibt… gibt es irgendetwas, was ich tun kann?“ Ihr war, als schlug ein Blitz in genau die Stelle ein, an der sie saß. Sein trauriger Blick erinnerte Susanne direkt wieder an Naoki. Nein, sie konnte das nicht. Nicht schon wieder! Aber… Plötzlich meinte Anne, so leise, dass nur Susanne durch ihr verbessertes Gehör es wahrnehmen konnte: „Sag mal… Es gibt eine Sache, die mich schon immer verwirrt hatte. Musst du die Wunden komplett heilen?“ Susanne runzelte die Stirn. Eigentlich… Konnte sie das wirklich? Einfach so? Eine ernsthafte Wunde in zwei weniger gefährliche aufteilen? Geteiltes Leid ist halbes Leid. Sagt man das nicht so?, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf. Eine Stimme, die sie seit mehreren Monaten nicht mehr gehört hatte. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie diese Stimme seit langem auch nicht mehr hören wollen. Doch jetzt… Sie musste es versuchen. Sie musste. Anne schien ihren Entschluss zu bemerken. Zumindest meinte sie, wieder genauso leise: „Ich hab nicht vor dich aufzuhalten. Aber denk dran, warum wir eigentlich…“ Susanne nickte. Ja, sie brachte sich damit selbst in Gefahr, indem die Schüler sie als Dämonenbesitzerin erkennen könnten. Aber andererseits… War es nicht genau das? Wollte nicht jeder, dass Dämonenverbundene endlich nicht mehr gefürchtet wurden? Susanne betrachtete ihren Mitschüler, dessen Blick sie anflehte alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um seine Freundin zu retten. Sie atmete tief durch und meinte schließlich: „Ich… Es gäbe tatsächlich etwas. Aber ich weiß nicht, ob es funktioniert.“ „Wirklich?!“ Er schien den zweiten Teil ihrer Aussage gar nicht erst wahrgenommen zu haben, so hoffnungsvoll klang seine Stimme. Susanne nickte. „Aber du musst dir ganz sicher sein. Wenn… Es könnte schief gehen. Ihr könntet beide sterben.“ „Aber sie könnte überleben? Du kannst sie heilen?!“ Trotz allem war Susanne immer noch nicht ganz von sich überzeugt.  Was wenn… Wieder driftete sie mit den Gedanken zu Naoki ab. Erinnerte sich an denjenigen, an den die Persönlichkeit des Jungen angelehnt war. An das Schicksal, welches die Person erdulden musste, die Naoki in Susannes Prüfung repräsentiert hatte. Ihre Gedanken kreisten weiter, zu dem ersten richtigen Gespräch was Susanne mit Benni damals in Flickas Box hatte. Wie seine Freundlichkeit und sein Humor sie damals positiv überrascht hatten. Und… „Du bist wie Carsten.“, meinte Benni seufzend. Susanne lachte nun endgültig verlegen auf. „Irgendwie schon, stimmt.“ „Eure Selbstzweifel sind hinfällig.“ Es war diese eine Erinnerung und auf einmal waren alle Zweifel wie fortgeblasen. Stattdessen nahm die Entschlossenheit ihren Platz ein. Susanne streckte die Hand nach dem Jungen aus. „Darf ich?“ Ohne es auch nur ansatzweise zu hinterfragen nickte er. Erneut atmete Susanne tief durch, berührte die verwundete Stelle am Kopf des Mädchens und die entsprechend unverletzte am Kopf des Jungen. Die noch unverletzte. Aber wenn alles gut lief… Susanne schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Die Verletzung schien nicht tödlich. Noch nicht. Also wenn sie wirklich sofort handelte… Ohne sich wieder in Erinnerungen zu verlieren sandte Susanne ihre Energie aus. Ein rosa Schimmern umgab ihren Körper in einer angenehmen Form der Wärme und der Hoffnung. Beinahe ein Versprechen, dass alles gut werden würde. Der Junge verzog für einen Moment das Gesicht, als Susanne ihm etwas seiner Gesundheit, seiner Unverletztheit wegnahm und es an seine Freundin weitergab. Eine leicht blutende Stelle bildete sich an seiner Schläfe. Zur selben Zeit konnte man beinahe zusehen, wie die Wunde des Mädchens begann zu verheilen. Wie sie nicht mehr so schlimm, so lebensbedrohlich aussah. Einen Teil der Verletzung gab Susanne nicht an den Jungen weiter. Diesen Teil führte sie ihrem eigenen Körper zu. Wenn sie schon so gute Regenerationsfähigkeiten hatte, dann sollte sie das auch auf anderem Wege nutzen. Susanne wurde etwas schwummrig. Vermutlich, weil sie auch die leichte Gehirnerschütterung übernahm. Doch es war in Ordnung. Es war gut so. Als sie die Augen öffnete, zeugte nur noch eine leicht rötliche Stelle davon, dass das Mädchen hier fast ihren Verletzungen ausgeliefert gewesen ist. Erschöpft ließ sie sich auf den Boden sinken, wo überraschenderweise Anne direkt da war um sie zu stützen. Wieder dieses Herzklopfen… Ein Schweigen, beinahe ehrfürchtig, breitete sich in der Höhle aus. Selbst die Gespräche der anderen Mitschüler, die nicht um sie herumstanden, schienen verstummt zu sein. Fast so als wartete jeder auf etwas. Und ihre Erwartungen wurden erfüllt. „… Coralin?“, fragte der Junge ungläubig, als seine Freundin leicht das Gesicht verzog. Als sie schließlich die Augenlider öffnete breitete sich ungläubiges Raunen aus, was sehr schnell in Erleichterung und Begeisterung über schwang. Wieder mit Tränen überströmtem Gesicht drückte der Junge sie an sich und erkundigte sich mehrfach, ob alles in Ordnung sei und ob sie Schmerzen habe. Coralin selbst schien immer noch viel zu benommen, um antworten zu können. Oder hatte sie etwa… Coralins Blick fiel auf Susanne, Unglauben sprach aus ihren Augen. „Was… was war das?“ Sie hatte es gemerkt. Man konnte wohl wirklich einen Unterschied zwischen Heil-Energie und Heil-Magie spüren. Doch obwohl sie sich gerade im Prinzip verraten hatte, hatte Susanne keine Angst. Lächelnd legte sie ihren Zeigefinger über die Lippen. „Wer weiß? Vielleicht ein Schutzengel.“   ~*~   Öznur war noch nie sonderlich sportlich gewesen. Ausgerechnet Eagle hatte sie deshalb häufiger gerne aufgezogen, aber sie hatte sich eigentlich nichts daraus gemacht. Bis auf heute. Natürlich war Eagle nicht zuhause gewesen, sondern hatte eine Sitzung mit den Stammesoberhäuptern. Das hatte ihr die kleine, etwas dickliche Haushälterin Jenny so langsam und deutlich wie möglich auf Indigonisch erklärt. Öznur war noch nie so froh gewesen, dass sie sich von Eagle und Carsten ein paar Indigonisch-Grundlagen hatte beibringen lassen. Wahrscheinlich hätte sie hier in Indigo sogar wieder Handyempfang gehabt, aber ihr Handy lag ja nun alles andere als brauchbar im Mensaturm der Coeur-Academy. Außerdem wäre Eagle vermutlich sowieso nicht dran gegangen, falls er sein Handy überhaupt eingeschaltet hatte. Und somit blieb Öznur keine andere Wahl, als gefühlt durch ganz Karibera zu rennen. Komplett außer Puste und vor Frust absolut verheult kam sie in dem relativ großen, verhältnismäßig modernen Regierungsgebäude an. „Ich muss sofort zum Häuptling!“, schrie sie so gut sie konnte auf Indigonisch. Die Empfangsdame war absolut verwirrt. Aber zum Glück kannte, oder eher erkannte, sie Öznur und begleitete sie zum Konferenzraum. Noch bevor die Indigonerin höflich anklopfen konnte riss Öznur die Tür auf. Direkt fragte einer der Stammesoberhäupter kritisch: „Wie können Sie es wagen zu-“ „Öznur?“ Eagle kam ihr entgegen, sodass Öznur absolut k.o. in seine Arme fiel. „Du… Du musst sofort mitkommen! Coeur-Academy… Sturm…“, versuchte Öznur zu erklären und gleichzeitig wieder zu Luft zu kommen. Eagle erkannte zum Glück sofort, dass etwas ganz gewaltig nicht in Ordnung war. Er stieß einen Fluch aus und sagte irgendetwas zu den restlichen Anwesenden, was Öznur bei der Muttersprachler-Geschwindigkeit gar nicht mehr verstehen konnte. Dann packte er sie am Arm und schleifte sie regelrecht mit nach außen. „Kannst du noch laufen?“ Automatisch nickte sie, obwohl sie richtig Schwierigkeiten hatte auch nur geradeaus zu schauen. Dennoch bekam sie mit, wie er sich in Windeseile von seinem Hemd befreite. „Jenny bringt mich sonst wirklich noch um.“, meinte er nur und drückte es Öznur in die Hand. Außerhalb vom Gebäude angekommen nahm er seine Dämonenform an. Wie gerne würde Öznur jetzt einen Moment innehalten und die attraktive Ausstrahlung in sich einsaugen, die von Eagle ausging. Doch leider fehlte ihnen die Zeit dazu. Und Eagle gab ihr auch nicht wirklich die Gelegenheit. Kaum realisierte Öznur, dass er sie auf den Arm genommen hatte, befanden sie sich auch schon in schwindelerregenden Höhen. Leicht erschrocken kreischte sie auf. „Ich hoffe, du kannst den Zauber endlich.“, meinte Eagle nur. Ohne darauf zu antworten oder gar darüber nachzudenken, teleportierte Öznur sie zurück nach Cor, kaum, dass sie die Magiebarriere von Eagles und Carstens Oma verlassen hatten. „Was bei den Dämonen…“ Der Schock war Eagle deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie waren südlich vom Campus bei der Bushaltestelle gelandet und auch Öznur raubte der Anblick den Atem. Um sie herum herrschte die reinste Zerstörung. Die Wolken waren tiefschwarz und der überirdisch starke Wind ließ nicht nur vereinzelte Blätter, sondern auch größere Äste und Steine mit lautem Geheule in der Luft herumwirbeln. Bäume lagen quer über der Hauptstraße, das Wurzelwerk wurde zum Teil sogar mit aus dem Boden gerissen. Ein Bereich der Mauer und des großen Eingangstores war durch einen gewaltigen Stamm zertrümmert. Doch die Schule selbst stand noch, wie Öznur ungläubig feststellte. Eine tiefrot leuchtende Kuppel umgab den größten Teil des Campus, von der immer wieder kleine Wellen nach unten liefen. Irgendwie erinnerte Öznur dieser Anblick an Blut… All die Eindrücke prasselten in kürzester Zeit auf Öznur ein, sodass ihr von dieser Reizüberflutung fast schwindelig wurde. Besonders das laute Getöse des Windes bereitete ihr Kopfschmerzen. Plötzlich spürte sie neben sich Energie und ein anderer Wind begann an ihren Haaren und ihrer Schuluniform zu zerren. Auch ohne den Blick zur Seite hätte sie die Ursache gewusst. Eagle hatte die Hand ausgestreckt, als wolle er die unsichtbare Macht irgendwie einfangen. Die Adern auf seinem Handrücken und seinem Arm stachen leuchtend grau hervor und pulsierten. Ebenso die Adern in und um seine Augen, deren bernsteinfarbene Iris unheimlich zu leuchten begann. Der Anblick hatte etwas Betörendes, aber gleichzeitig auch erschreckend und einschüchternd. Bei dem dämonischen Blick in Eagles Augen konnte Öznur nicht eindeutig sagen, ob er ihnen nun wirklich helfen wollte oder für den Sturm sogar verantwortlich war. Sie selbst wusste es. Aber ein Außenstehender… So langsam verstand sie, weshalb die Menschen solch eine Angst vor den Dämonen und dadurch auch den Dämonenverbundenen hatten. Diese Erkenntnis, was für eine Macht sie hatten… Wie leicht sie Leute damit verletzen oder gar töten könnten… Öznur ertappte sich selbst bei diesen Gedanken. So attraktiv Eagle war, so sehr sie ihn auch liebte… Diese Gestalt von ihm, ihn so zu sehen, das machte ihr einfach Angst. Aber gleichzeitig stellte sie besorgt fest, dass der Versuch diesen Sturm einzudämmen extrem an Eagles Kräften zehrte. Er biss die Zähne zusammen uns setzte noch etwas mehr Energie frei. Und tatsächlich. Öznur war sich sicher, dass es keine Einbildung war. Der Wind wurde schwächer. Langsam, ganz langsam verlor er an Kraft. Fast so wie beim Armdrücken, wenn erst die eine Seite die Oberhand hatte, dann die andere, schließlich wieder die eine und plötzlich, mit einem Schlag, war alles weg. Windstille. Ungläubig starrte Öznur in den immer noch schwarzen Himmel. Doch nun waren dort nur noch Wolken. Keine Blätter, keine Äste, keine Steine… Sondern einfach nur dunkle Wolken. Sie hörte ein schwaches Keuchen und beobachtete besorgt, wie Eagle kraftlos auf den Boden sackte. Hastig kniete sie sich vor ihn und strich ihm etwas von dem Schweiß von der Stirn, der ihm in Strömen über das Gesicht lief. „Geht’s?“ „Gib mir ‘nen Moment…“, antwortete Eagle nur, mit besorgniserregender schwacher Stimme. Er schien es noch nicht einmal zu schaffen die Dämonenform länger aufrechtzuerhalten. Mit einer angenehm kühlen Brise, begleitet von einzelnen Federn die um sie tanzten, verschwanden die Flügel und die grau lodernde Aura, die Eagle umgeben hatte. Immer noch etwas in Sorge strich Öznur Eagle wiederholt über die Wange und wartete, bis er einen Teil seiner Kräfte zurückgewonnen hatte. Schließlich fragte sie verstört: „Was… was war das?“ „Keine Ahnung…“, erwiderte Eagle matt und schaute in den betrügerisch friedlichen und doch düsteren Himmel. „Es schien wie Wind-Energie, aber…“ „Denkst du es war Mars?“ Öznur schauderte. „So wie beim Feuer in Obakemori damals?“ Eagle runzelte die Stirn. „Irgendwie schon und irgendwie nicht… Du konntest das Feuer ja erst dann kontrollieren, als Lissi es mit ihrer Wasser-Energie bereits geschwächt hatte. Aber das hier, das ließ sich…“ „…Sofort kontrollieren?“, vermutete Öznur. Eagle nickte, immer noch ganz schön erschöpft. Behutsam legte Öznur das Hemd über seine Schultern, in der Sorge, dass er bei dem ganzen Schweiß unterkühlen könnte. Eagle fuhr sich durch seinen kurzen schwarzen Haaransatz und richtete sich seufzend wieder auf, wenn auch mit einiger Anstrengung. „Lass uns schauen, wie es auf dem Campus aussieht.“, schlug er vor und streifte sich das Hemd über, ohne sich die Mühe zu machen es zu verschließen. Einen Moment lang hielt Öznur inne und atmete erleichtert auf. „Was ist?“, fragte Eagle verwirrt, doch sie schüttelte nur den Kopf. Sie war einfach froh, dass diese seltsame Angst von vorhin wieder verschwunden war. Nun stand wieder der attraktive, muskulöse Indigoner vor ihr, der sich gefälligst das Hemd zuknöpfen sollte, damit Öznur nicht die ganze Zeit auf seinen durchtrainierten Körper starren musste. Darauf bedacht, nicht von Steinen oder sonstigen instabilen Sachen erschlagen zu werden, betraten Eagle und Öznur durch das Loch in der Mauer den Campus. Eagle verzog das Gesicht, als auch er die magische Kuppel bemerkte. „Will ich wissen, was das ist?“ „Müsste die Magiebarriere sein.“, vermutete Öznur. „Der Direktor wollte mit den Magiern aus dem dritten Jahr, den Lehrern und Carsten das Schild aufrechterhalten.“ Eagle schien nicht überzeugt. „So wenig ich von Magie auch weiß, aber so sieht für mich kein normaler Schutzschild aus.“ Öznur ahnte schon, was er befürchtete. Gerade, als sie die blutrote Barriere erreicht hatten, begann sie sich nach und nach in kleinen Wellen aufzulösen, wie ein fallender Vorhang. Kaum war sie verschwunden, hörte Öznur Eagle auch schon einen indigonischen Fluch ausstoßen. Sie hatte keine Chance mit ihm Schritt zu halten, als er auf einmal losrannte, zur anderen Seite des großen Platzes. So erschöpft sie durch ihren Marathon vorhin auch war, als Öznur erkannte, wie sich Eagle zu Laura und Ariane kniete, beschleunigte auch sie ihre Schritte so schnell es ging. Übelkeit und Sorge stiegen in ihr auf, als sie erkannte, wen Laura da an sich drückte. Sie hörte wie das Mädchen unter Tränen die Umstände schilderte und dass sie keine Chance mehr gehabt hatten Carsten aufzuhalten. Schließlich hatte auch sie die Gruppe erreicht, während Eagle mit leicht panischer Stimme seinen kleinen Bruder dazu aufforderte die Augen auf zu machen. Seine Panik ging direkt auf Öznur über, als sie Carsten genauer betrachten konnte. Er hatte an sich in letzter Zeit schon besorgniserregend schwach und mager gewirkt. Doch nun… Das Gesicht schien wie eingefallen und was auch immer er für einen Zauber verwendete, um die Wunden von dem Ritual von damals zu verbergen, offensichtlich hatte er seine Wirkung verloren. Selbst wenn die indigonischen Muster der Verbrennungen im Gesicht besser aussahen als vor einer Woche, trugen sie dazu bei, dass der Gesamteindruck umso schlimmer wirkte. Ohne direkt hinzuschauen deutete Ariane auf Carstens linken Unterarm. „Kann… kann jemand von euch einen Druckverband oder so machen?“ Instinktiv schaute sich Öznur nach Susanne um, doch von ihr fehlte jede Spur. Genauso wie von Anne oder gar Lissi, die eigentlich losgegangen war, um die beiden zu holen. Umso überraschter beobachtete Öznur, wie Eagle direkt den zerfetzten Teil vom Ärmel von Carstens Schuluniform abriss. Zum Vorschein kam eine tiefe Stichwunde, die beinahe den gesamten Arm durchbohrt zu haben schien. Eigentlich wollte Öznur nicht hinsehen, doch genauso wenig konnte sie den Blick abwenden. Stattdessen beobachtete sie verstört und auch leicht bewundernd, wie Eagle tatsächlich mit den Stofffetzen und Carstens Bordeaux-roter Uniformkrawatte einen Verband improvisierte, um die Blutung zu stoppen. Auch Laura schien beeindruckt. „Nicht schlecht…“ „Meine Stiefmutter ist immerhin Ärztin.“, erwiderte Eagle nur, verbissen konzentriert darauf, den eigentlichen Mediziner ihrer Gruppe zu verarzten. „Komm schon, wach endlich auf.“, forderte er Carsten leise auf. Schweren Herzens kniete sie sich neben Eagle und legte eine Hand auf seinen Rücken, während sie Carsten im Stillen fragte, wie er seinem großen Bruder nur ständig solche Sorgen bereiten konnte.   ~*~   Schmerz. Nichts weiter als Schmerz. Eigentlich müsste er dieses Gefühl gewöhnt sein und doch war es immer und immer wieder grauenhaft. Seine Aufmerksamkeit war nur darauf beschränkt, gar nicht dazu in der Lage irgendetwas anderes wahrnehmen zu können. Wieso war er überhaupt noch hier? Wie konnte er noch am Leben sein? Kaum hatte er sich diese Fragen stellen können, verlor sich Jack erneut in der Tiefe der Bewusstlosigkeit.   ~*~   Absolut verzweifelt und besorgt und doch auch beeindruckt beobachtete Laura, wie Eagle Carstens Stichwunde in kürzester Zeit verbunden hatte. Es war definitiv nicht der beste, sterilste Weg, aber immerhin verblutete er so nicht… Laura biss sich auf die Unterlippe, während sie ihren Griff um Carstens bewusstlosen Körper verstärkte und mit aller Kraft versuchte die Tränen zurückzuhalten. „Warum hast du das nur gemacht?“, fragte sie verbittert. „Was ist denn hier passiert?“, ertönte hinter ihr die Stimme der Direktorin. Herr Bôss stieß einen Fluch aus als er die Situation verstand. „Der Junge lernt auch einfach nicht dazu.“ „Scheiße Carsten, wach endlich auf!“, schrie Eagle derweil seinen kleinen Bruder verzweifelt an und auch Laura verlor allmählich ihren Kampf gegen die Tränen. Derweil kniete sich der Direktor neben Eagle. Eine hellgrün schimmernde Aura umgab seine Hand als er diese über Carstens verwundeten Arm hielt. Es waren vermutlich keine zwei Minuten und dennoch warteten sie länger und ungeduldiger darauf, dass etwas passierte, als ihnen lieb war. Begleitet von einem schwachen Schmerzenslaut öffnete Carsten langsam die Augen, was alle Umstehenden erleichtert aufatmen ließ. Laura wischte sich eine Träne von der Wange. „Alles okay?“, fragte sie ihn, während sich Carsten benommen umschaute. Laura stützte ihn etwas, als er Anstalten machte sich aufzusetzen. Ein plötzlicher Schmerz ließ ihn zusammenzucken. „Mach langsam, du bist immer noch verletzt.“, wies Ariane ihn an. Auch auf ihre Aussage erwiderte Carsten nichts, doch überrascht stellte Laura fest, dass es nicht die Stichwunde am Unterarm zu sein schien, die ihm Schmerzen bereitete. Stattdessen war es die rechte Seite auf Höhe der Rippen, nach der er tastete. Ob das durch die Verbrennungen kam? Halt nein, das war links gewesen., erinnerte sich Laura verwirrt. Also was… Bevor sie ihre Gedanken zu Ende führen konnte zuckte sie erschrocken zusammen, als Eagle Carsten an den Schultern packte und schrie: „Was sollte das?! Was hast du dir dabei gedacht?!“ Der grobe Griff und der vorwurfsvolle Ton ließ auch Carsten zusammenschrecken. Die erste richtige Reaktion, die er zeigte. „Eagle, lass das! Er ist verletzt!“, schrie Öznur. Doch Eagle ignorierte sie. „Was zum Teufel ist los mit dir, dass du ständig so lebensmüde Aktionen startest?! Ist dir egal, was die schwarze Magie mit dir anstellt?! Willst du das?!? Willst du den Verstand verlieren?!“ „Lass ihn doch erstmal zu sich kommen.“, wies nun auch Ariane ihn zurecht. „Nehmt ihr ihn auch noch in Schutz?!“, fragte Eagle vorwurfsvoll. „Ist das okay für euch, dass er jede Gelegenheit sucht sich Schaden zuzufügen?!?“ „Nein! Aber- aber du musst ihn doch nicht so anschreien!“ Öznur versuchte ihn von Carsten wegzuzerren, doch er schüttelte sie nur grob ab. Besorgt bemerkte Laura, wie Carsten die Augen zusammengekniffen hatte und am ganzen Körper zitterte. Fast schon so als hätte er… „Eagle, bitte beruhige dich! Du machst ihm Angst!“, versuchte sie an seine fürsorgliche Seite zu appellieren. „Angst?!? Das nennst du Angst?! Ich sag dir mal, was Angst ist! Angst ist, die ganze Zeit in der Sorge zu leben, dass ein gewisser Jemand sich wegen dieser verfickten schwarzen Magie umzubringen droht!!!“ Eingeschüchtert wandte sich Laura ab, während ihr wieder Tränen in die Augen schossen. Natürlich verstand sie Eagle. Auch sie hatte diese Angst. Insgeheim. Die Angst, dass die Folgen der schwarzen Magie eines Tages zu schlimm wurden. Und dass sie Carsten nicht mehr davor würden beschützen können. Diese unsagbare, lähmende Angst, dass es ihn zerreißen könnte. Aber… Befangen beobachtete Laura, wie Carsten immer noch am ganzen Körper zitternd die Schimpftirade seines großen Bruders über sich ergehen ließ. Er zeigte nicht die geringste Form der Gegenwehr, beinahe, als wäre er gar nicht dazu in der Lage. Während Öznur aufgebracht und Ariane etwas ruhiger versuchten Eagle davon abzubringen so auszurasten, realisierte Laura es. Carsten zeigte keine Gegenwehr, da er wie gefangen in dieser Situation war. Die Angst schien ihn daran zu hindern, irgendwie handeln zu können. Und die Art, wie er die Augen zusammengekniffen hatte… Es war fast so als würde er den Schlag ins Gesicht schon erwarten. Nicht nur Worte, sondern einen physischen Schlag. Und da verstand Laura. Die Bilder von damals waren so schockierend, so prägend gewesen, dass sie sie trotz ihrer jungen Jahre nie hatte vergessen können. Sie war noch keine vier Jahre alt und zum ersten Mal in Indigo gewesen. Es wirkte auf sie fast so als befände sie sich in einer anderen Welt. Die hübschen bunten Tipis, die Leute mit der dunklen Hautfarbe und den langen schwarzen Haaren, so etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Während O-Too-Sama mit ihrer Mutter und ihren älteren Geschwistern Höflichkeiten mit den Anwohnern ausgetauscht hatte, war Laura getrieben von Entdeckerlust auf eine kleine Tour gegangen. Natürlich nicht ohne Begleitung von Benni, der damals bereits fünf war. Sie waren gerade auf dem zentralen Platz am Marterpfahl angekommen, als ihnen eine Gruppe Kinder auffiel, nicht viel älter als sie selbst. Die Gruppe lachte ausgelassen und im ersten Moment dachte Laura, dass das Spiel wohl ziemlich viel Spaß machte, was sie da gerade spielten. Doch als Laura und Benni ihnen näher kamen, als sie die Situation genauer erkennen konnten, war es auf einmal nicht mehr lustig. Die Gruppe, allesamt Jungs, standen um einen weiteren kleinen Jungen der auf dem Boden lag. Obwohl er die Arme zum Schutz vor dem Gesicht hatte konnte Laura erkennen, dass er weinte. Vor Angst, Schmerz, Trauer, irgendetwas davon oder alles zusammen. Der größte Junge verpasste ihm einen so schmerzhaft wirkenden Tritt gegen die rechten Rippen, dass Laura automatisch selbst zusammenzuckte als habe man sie getreten. „Lasst ihn in Ruhe!“, hatte sie aus voller Kehle geschrien. Etwa zeitgleich war Benni losgerannt. Der größere Indigonerjunge hatte schon zum Schlag ausgeholt, doch genau in dem Moment war Benni bei ihnen angekommen und blockte den Angriff ab. Auch Laura rannte auf die Gruppe zu, wenn auch nicht so schnell wie Benni. In der Zeit hatte Benni den Angreifer bereits zurückgestoßen und sich zwischen ihn und dem am Boden kauernden Jungen gestellt. Es kam zu einem kleinen Kampf, aus dem Benni aber nach nicht einmal drei Sekunden schon als Gewinner hervorging. Selbst wenn der ältere Indigonerjunge Kampfkünstler war, Benni hatte dank Eufelia-Sensei jetzt schon zigmal mehr Kampferfahrung sammeln können als er. Als Laura sie schließlich erreicht hatte, nahm die Gruppe bereits Reißaus. Ohne sie weiter zu beachten wandte Benni sich dem am Boden liegenden Jungen zu. „Bist du verletzt?“ Schniefend wischte sich dieser mit dem Arm über die Augen, schüttelte aber den Kopf. Im Gegensatz zu den anderen Bewohnern Indigos waren es nicht die pechschwarzen, etwas längeren Haare oder die dunkle Hautfarbe, die ihr bei ihm als erstes auffielen. Nein, es waren die lila Augen, von denen irgendwie ein magisches Leuchten auszugehen schien. „Kannst du aufstehen?“, erkundigte sich Benni derweil. Als der Junge nicht reagierte, hielt Benni ihm die Hand entgegen. Laura hätte damals fast losgeweint, als der kleine Indigonerjunge ungläubig zu Benni hochgeschaut hatte. Beinahe als könne er es nicht glauben, dass jemand ihm einfach so auf die Beine helfen wollte. Er hatte deutlich gezögert. Vielleicht hatte er einen Moment lang sogar Angst gehabt, Benni würde die Hand zurückziehen und genauso hämisch lachen wie die Gruppe zuvor gelacht hatte. Doch Benni, bekannt für seine engelsgleiche Geduld, hatte einfach nur gewartet. Und schließlich ergriff der kleine Indigoner die Hand und ließ sich aufhelfen. Mit abgewandtem und beschämtem Blick nuschelte er ein schwaches „Danke“. Laura kannte diesen Tonfall von sich selbst, wenn sie gezwungen war mit irgendwelchen fremden Leuten zu reden. Wie schwierig es war, ihnen in die Augen zu schauen. Um ihm die Situation etwas zu erleichtern nahm sie seine Hand und lächelte ihn ermutigend an. „Ich bin Laura und das ist Benni. Wie heißt du?“ Es dauerte einen Moment, doch schließlich überwand der Junge seine Schüchternheit und schaffte es, ihnen in die Augen zu schauen. „Carsten.“ Blinzelnd kehrte Laura in die Gegenwart zurück, während Eagle immer noch seinem kleinen Bruder einen Vorwurf nach dem nächsten machte. Er hatte ihn immer noch an den Schultern gepackt und schüttelte ihn, als könne er so den Wahnsinn aus Carsten heraustreiben. Und trotzdem zeigte Carsten nicht den leisesten Ansatz einer Gegenwehr. Er wirkte wie der kleine Junge von damals, der das alles einfach über sich ergehen ließ. „Lass ihn in Ruhe!“, schrie Laura. Sie packte Eagle an den Armen und versuchte ihn dazu zu bringen, Carsten endlich loszulassen. „Halt dich da raus!“, wies Eagle sie an. Natürlich hatte sie keine Chance gegen seine körperliche Stärke. Verbissen sandte Laura etwas Finster-Energie in ihre Hände. Nicht viel, aber genug um etwas von seiner Kraft zu absorbieren und Eagles Griff zu schwächen. Laura stieß ihn zurück und stellte sich zwischen die Brüder. „Merkst du nicht, dass du das alles gerade nur noch schlimmer machst?!“ Verärgert aber auch leicht verwirrt erwiderte er ihren Blick. „Wovon zum Henker redest du?“ Eagle wollte sich aufrichten, schien aber ziemlich geschwächt. Entweder durch Lauras Finsternis-Energie oder der Tatsache, dass er den Sturm hatte kontrollieren müssen. Öznur stützte ihren Freund etwas, hielt Eagle aber gleichzeitig zurück Carsten wieder zu nahe zu kommen. Und auch Ariane legte eine Hand auf seine Schulter als wolle sie ihn von seinem kleinen Bruder fernhalten. Derweil wandte sich Laura eilig Carsten zu. „Bist du verletzt?“ Ihr bester Freund schwieg weiterhin, doch Laura kam nicht drum herum, in ihm schon wieder den kleinen Jungen von damals zu sehen. Der verletzte Blick in seinen lila Augen ließ ihr Herz schwer werden. Benni, wo steckst du nur? Carsten braucht dich doch! Laura schluckte die Tränen herunter. Sie konnte das nicht. Sie konnte nicht die Stütze für Carsten sein, die Benni schon immer gewesen ist. Sie hatte nicht die Kraft dazu. Sie hatte nicht die Ruhe dafür! Sie hatte nicht diese starke Ausstrahlung, der Fels in der Brandung zu sein! Aber genau das brauchte Carsten. Jetzt mehr denn je. Laura atmete tief durch und erinnerte sich an Bennis starken Griff. Wie er auch ihr schon so häufig wieder auf die Beine geholfen hatte. Wie er ihr ständig etwas von seiner Kraft gegeben hatte. Sie warf ihrem besten Freund ein schwaches Lächeln zu und hielt ihm die Hand entgegen. „Kannst du aufstehen?“ Carsten hatte haargenau denselben ungläubigen, verängstigten Blick wie vor über zwölf Jahren. Laura zwang sich die Tränen zurückzuhalten. Einfach zu warten. Und tatsächlich, endlich, genauso wie damals, streckte Carsten schließlich die Hand aus. Dank ihrer Kampfkünstlerstärke hatte Laura keine großen Probleme ihm auf die Beine zu helfen. Doch sie merkte trotzdem, wie wenig Carsten von seinem eigenen Gewicht tragen konnte. Wie schwach er war. Von weiter entfernt meinte Laura schnelle Schritte auf die Gruppe zukommen zu hören, doch sie beachtete sie nicht weiter. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem besten Freund, der ihrem Blick wie früher leicht verängstigt und ungewohnt verschüchtert auswich. Lauras Gedanken überschlugen sich. Das konnte kein Zufall sein, er verhielt sich viel zu sehr so wie damals. Sie hatte beinahe schon Angst vor dem was passieren würde, als sie sich schließlich dazu durchrang seine Hand zu nehmen. Carsten blinzelte mehrmals, bis seine lila Augen die ihre fanden. „… Laura?“ Es war unheimlich zu beobachten, wie sich Carstens Mimik veränderte. Erst noch der eingeschüchterte Blick, der sich allmählich in Unglauben und schließlich Erkenntnis und Entsetzen wandelte. Seine Stimme war kaum mehr als ein schauderndes Flüstern. „Was passiert mit mir?“ Sofort nahm Laura Carsten in die Arme. „Was geht hier vor sich?“ Seine Stimme brach und zitternd klammerte Carsten sich an sie. Sie wussten es beide. Laura hatte sich nur an damals erinnert doch Carsten, Carsten hatte sich in dieser Situation befunden. Er war wieder der kleine Junge gewesen, der von seinem großen Bruder gedemütigt und schikaniert wurde. Und zwar nicht einfach nur als Erinnerung. In dem Moment war es für Carsten die Realität. War schwarze Magie wirklich zu so etwas in der Lage? Hatte sie die Macht solche Wahnvorstellungen auszulösen?! Sie hatten ihre Antwort. Laura biss sich auf die Unterlippe und verstärkte die Umarmung, während diese Erkenntnis Carsten mit voller Wucht traf. Wie er nun selbst realisierte, was da in seinem Kopf vor sich ging. Laura kamen selbst die Tränen, während sich Carsten zitternd und weinend an sie krallte, als sei sie zur Zeit der einzige Bezug zum Hier und Jetzt, den er noch hatte. „Ich bin hier. Es ist alles gut, ich bin doch hier.“, redete sie auf ihren besten Freund ein und hatte gleichzeitig keine Ahnung, was sie sonst machen konnte außer ihm über die Haare zu streichen und ihm irgendwie zu vermitteln, dass das hier die Realität, die echte Realität war. Es verstrichen unendlich viele Minuten, in denen sich Carsten einfach gar nicht beruhigen konnte. Ansonsten herrschte Schweigen. Vermutlich wusste der Rest noch nicht einmal, was los war. Laura war absolut verzweifelt. Ihr war in letzter Zeit an sich schon immer zum Weinen zumute, wenn sich die Auswirkungen von all dem was gerade vor sich ging bei Carsten zeigten. Doch jetzt… Jetzt wurde es zu viel. Auch für sie. Sie schluchzte und drückte ihn noch fester an sich. „Das wird schon wieder, Carsten. Versprochen!“   ~*~   ‚Komm schon, wach auf!‘ Eine Stimme, beinahe wie ein Echo. So weit entfernt. Viel näher waren die Qualen. Das Gefühl, von einem lodernden Feuer verschlungen zu werden. Doch irgendwo dahinter… Er spürte eine Hand auf seiner rechten Schulter. Die Berührung war zu sanft um real zu sein. Jack gab ein schmerzverzerrtes Stöhnen von sich und versuchte blinzelnd die Augen zu öffnen. Über sich erkannte er eine Gestalt. Verschwommen realisierte er die blonden langen Haare mit dem Pony, die das Gesicht rahmten. Janine? Nach und nach schärfte sich seine Sicht und überlagerte das Bild seiner Vorstellung. Die eisblauen Augen bekamen einen grün-braun-Ton. Die Nase wurde ein bisschen stupsiger. Die Gesichtsform wurde rundlicher, wirkte jünger. „Johanna?“, fragte Jack matt. Arianes kleine Schwester atmete erleichtert auf. „Zum Glück bist du wach.“ Etwas lauter rief sie: „Er ist aufgewacht!“ „Das hilft uns auch nicht weiter!“, dröhnte eine weitere Mädchenstimme in seinen Ohren. „Zocker-Onkel, wir brauchen Hilfe!“, schrie eine hohe aber weniger mädchenhafte Stimme. Jack selbst hatte nicht die Energie den Inhalt dieser Worte zu verarbeiten. Sie waren für ihn nur ein seltsamer Wirrwarr aus verschiedenen Lauten und Tönen. Er schloss die Augen, verlor sich beinahe wieder in der Finsternis aus Feuer und Schmerz. Doch Johannas energisches Rütteln und ihr „Komm zu dir!“ verhinderte dies. Die plötzliche Bewegung ließ einen grauenhaften Schmerz durch seinen Körper zucken, ausgehend von seiner linken Schulter. Erneut drang ein heiserer Schmerzenslaut aus Jacks Kehle. Was zum Teufel… Benommen tastete er nach der brennenden Stelle, zuckte aber sofort zusammen. Dennoch bemerkte er das Blut, das an seinen Fingern kleben blieb. Während Jack die rote Färbung seiner Hand betrachtete bemerkte er, dass er wohl ziemlich viel Glück im Unglück gehabt haben musste. In dieser Situation hätte Mars ihn unter Garantie nicht mit dem Leben davonkommen lassen. Und er selbst hätte noch weniger die Kraft dazu gehabt, ums Überleben zu kämpfen. „Ich schulde dir was, Max.“ Keuchend aber erfolglos versuchte Jack sich aufzurichten. Irgendwie überlagerte dieser Schmerz in seiner linken Schulter alles andere, selbst das fast schon beängstigende Taubheitsgefühl in seinen Beinen oder seinem rechten Arm. Allmählich nahm er irgendeine störende Geräuschkulisse im Hintergrund wahr, doch er hatte immer noch nicht die Energie dazu ihr oder dem Rest Beachtung zu schenken. Er schaute sich so gut es ging um, wobei er sich so wenig wie möglich zu bewegen versuchte. Als erstes fiel ihm der dunkle, wolkenverhangene Himmel in die Augen. Was ein Kackwetter, hoffentlich fängt es nicht gleich an zu regnen. Doch die Wiese auf der er lag fühlte sich weitgehend trocken an. Insofern er neben all den Qualen noch was anderes spüren konnte. Sogar der verbesserte Tastsinn schien wie eingeschlafen. Mit etwas Mühe wandte er den Kopf nach links, doch bis auf die Tatsache, dass Johanna neben ihm kniete, konnte Jack ansonsten nur Grau und Gestrüpp sehen. Also prüfte er die Seite rechts von sich. Dort meinte er Sakura zu erkennen, die Sultana stützte und… „Max?“ Ein Schauder durchfuhr Jack, eine unsichtbare Macht presste ihm die Luft aus den Lungen. Obwohl seine linke Schulter lautstark protestierte, stemmte er sich hoch. Sein rechter Arm weigerte sich, die Last zu tragen und doch stützte Jack sich auf ihm ab als er sich auf die Seite hievte, wo Max wenige Zentimeter entfernt neben ihm lag. Mühevoll brachte Jack sich in eine halbwegs sitzende Position. „Alles okay?“, fragte er, die Stimme rau von all der Belastung, der sein Körper die letzten 24 Stunden ausgesetzt war. Noch während Jack die Hand nach ihm ausstreckte, um ihn wach zu rütteln, hielt er geschockt inne. Unter ihm färbte irgendetwas das Gras dunkel. Zerrissene Kleidung, deren Ausläufe mit Blut getränkt waren. Ein Loch in Höhe der Stelle, wo sich das Herz befand. Sakura sagte irgendetwas, doch er hörte sie nicht. Diese seltsame Geräuschkulisse schien verschwunden. Jack hörte nichts. Er spürte nichts. Gar nichts. Keinen Herzschlag. „… Max?“ Es erforderte beängstigend viel Kraft, ihn auf den Rücken zu drehen. Der Körper schien schlaff. Leblos. Jack erinnerte sich. Er hatte es mit letzter Kraft geschafft das Portal zu schließen. Doch davor… Da hatte er zwei Schüsse gehört. „Komm Max, verarsch mich nicht.“ Jack biss die Zähne zusammen. „Du warst doch so froh, endlich wieder du selbst sein zu können…“ Keine Reaktion. Nichts. Nur himmelblaue Augen, die nach oben schauten. In eine unendliche Ferne, weit hinter die schwarze Wolkendecke. Jack ballte die zitternden Hände zu Fäusten. „Du hast es doch kaum erwarten können, wieder nach Hause zu kommen…“ Das konnte nicht sein. Das war nicht fair! Max war frei gewesen! Er hatte es fast geschafft!!! Nur, weil er sich umgedreht hatte! Weil er ihm geholfen hatte! Jack war derjenige, der hätte sterben sollen!!! Jacks Augen begannen zu brennen, seine Sicht verschwamm allmählich. „…Das ist nicht fair…“ Schon wieder! Schon wieder war jemand gestorben, weil er ihn beschützen wollte! Schon wieder war jemand gestorben, den Jack hatte beschützen wollen! Seine Fingernägel bohrten sich in das Fleisch der Handflächen. „Ich will nicht mehr.“ Jack richtete sich auf. Die Verletzungen nahm er gar nicht mehr wahr, so sehr übernahmen Trauer, Zorn und Frust seine Wahrnehmung. Er kannte dieses Gefühl. Nur zu gut. Der Schuss hallte in seinen Ohren. Er spürte Erschütterungen durch den Boden wandern. Er ging auf die Ursache davon zu. Jack sah nichts. Er spürte nur. Er spürte eine gewaltige Mauer, die sich vor ihnen auftat und den Weg versperrte. Eine Mauer aus Werwölfen, Vampiren, Zombies und weiteren widerlichen Ausgeburten der Unterwelt. Vor der Wand standen zwei Personen, die irgendwie zu verhindern versuchten, dass sie die Gruppe überrollte. Eine kochende Aura in loderndem Orange umgab Jack, als er auf diese Wand zuging. „Ich bin es leid, machtlos zu sein.“ Janine und Johannes schlugen sich tapfer, doch eine so gewaltige Übermacht konnte selbst Eis-Energie und Kampfmagie zusammen nicht lange aufhalten. Jacks Körper zitterte vor Wut. Mit ihm zitterte die Erde. Die Unterweltler erstarrten in ihren Bewegungen. Das Beben wurde stärker. Jack schob Johannes und Janine zur Seite, bis er zwischen ihnen und der Wand an Monstern stand. Kreaturen, deren genaue Position er kannte. Die er genau voneinander unterscheiden konnte. Eines der Wesen erkannte in. „Jack?“ Er spürte, wie das Blut langsam seinen linken Arm hinunterfloss. „Ich hab die Schnauze voll.“ Das Blut erreichte die Spitze seiner Finger, ein Tropfen fiel. Das Beben hörte ruckartig auf. Der Bluttropfen berührte die Erde. Gleichzeitig ballte Jack die Hand zur Faust. Spitze Steine schossen aus dem Boden, genau an der Stelle, wo die Unterweltler standen. Nicht mehr, nicht weniger. Jeder wurde aufgespießt. Kein einziger überlebte. Entfernt hörte er eines der Mädchen aufkreischen. Das brachte ihn zurück, raus aus der Trance von Zorn, Frustration und Selbsthass. Jack spürte, wie die Energie ihn verließ. Keuchend sackte er auf den Boden. Kapitel 82: Kreuzende Pfade --------------------------- Kreuzende Pfade       Trotz des schmerzhaften Ziehens in seinem linken Arm verstärkte Carsten seinen Griff um Laura, klammerte sich an sie als könne sich im nächsten Moment alles um ihn herum in Rauch auflösen. Auch wenn das Schluchzen allmählich abebbte, auch wenn keine Tränen mehr vorhanden schienen, die lähmende Angst war immer noch da. Die Panik vor dem, was geschehen ist. Was noch geschehen könnte… Verloren in Erinnerungen, gefangen in der Wahrnehmung. Keine Macht über sich selbst. Albträume, die ihn selbst dann heimsuchten während er wach war. Stärker als jemals zuvor. Immer noch zitternd hatte Carsten sein Gesicht in Lauras Halsbeuge vergraben. Er konnte nicht atmen. Er bekam keine Luft. Er konzentrierte sich auf ihre Stimme, die ihm dauernd vergewisserte, dass er immer noch er selbst war. Dass er immer noch hier war. Im Hier und Jetzt, bei allen anderen. Ohne diese Worte würde er das nicht wissen. Er konnte es selbst jetzt kaum glauben. Schon wieder verschwamm seine Wahrnehmung. Das Gesicht hatte er in ein Kissen gepresst, sodass man sein Schluchzen nicht hören konnte. Die Bäume und weißen Barockgebäude wurden zu grauen Wänden, zu einem Gefängnis. „Es ist in Ordnung, Carsten. Du bist hier, bei uns allen. Bei mir, Nane, Eagle, Öznur, Anne, Susanne, Herr und Frau Bôss, … Wir sind alle da.“ Die Wände verschwanden wieder, das Kissen hatte auf einmal den Duft von Lauras Körpergeruch, es fühlte sich wie der seidene Stoff ihrer Schuluniform an. Aber nur für einen kurzen Moment. Nicht schon wieder eingesperrt. Bitte! Nicht schon wieder gefangen! Nicht dort! „Hol mich hier raus…“, flehte er sie zitternd an. Plötzlich ertönte Herr Bôss‘ tiefe Stimme. „Du bist draußen, Carsten.“ Er spürte eine große Hand auf seinem Rücken. Laura schien Anstalten zu machen ihn loszulassen, doch Carsten klammerte sich noch stärker an sie. „Nein, geh nicht weg! Lass mich nicht allein!“, schrie er in seiner Panik. Dieses Mal war es Ariane, die er sagen hörte: „Wir lassen dich nicht alleine.“ Kurz darauf spürte er ihre Hand auf seinem Arm. „Doch! Das werdet ihr! Genauso wie Benni!!!“ Carsten schluchzte. „Aber Benni hat dich nicht alleine gelassen!“, widersprach Laura ihm. Er hörte sie ebenfalls schluchzen. „Selbst wenn er gerade nicht bei uns sein kann, er würde uns niemals alleine lassen! Das weißt du!“ Weinend kniff Carsten die Augen zusammen. Wenn er jetzt in dieses Auto stieg war alles vorbei. Es war alles verloren. Er war für immer alleine. „Wartet!“, hörte er die Stimme eines Jungen hinter sich. Sowohl Carsten als auch die hochgewachsenen Männer die neben ihm standen drehten sich um. Ein elfjähiger Junge kam auf sie zu gerannt. Die Haare hatten ein so helles blond, dass sie von weitem weiß wie Schnee erschienen, und verdeckten das rechte Auge. Das sichtbare linke war so schwarz wie die Nacht. „Was willst du, Knirps?“, fragte einer der Männer argwöhnisch. „Wir haben nicht viel Zeit, die Maschine nach Terra fliegt in zwei Stunden.“ Benni ignorierte die beiden und reichte Carsten einen kleinen Zettel. „Hier.“ Irritiert nahm Carsten ihn entgegen. Bennis Schrift war extrem klein aber sehr sauber und daher trotzdem deutlich lesbar. „Ist das eine Telefonnummer?“, fragte er irritiert. Benni nickte. „Ich habe gehört, dass man dort einmal im Monat für zwanzig Minuten telefonieren darf.“ Carsten blickte von dem Zettel auf, die Verwirrung war ihm ins Gesicht geschrieben. Benni zuckte mit den Schultern. „Mit der Nummer kannst du mich jeder Zeit erreichen, wenn du magst.“ Carstens Gedanken überschlugen sich. Hieß das, Benni hatte sich ein Handy gekauft? Aber… Aber er hatte doch keine Ahnung von Elektronik! Und so Sachen waren doch richtig teuer, Benni hätte dafür auf all sein Erspartes zurückgreifen müssen! Wieder sammelten sich Tränen in Carstens Augen. Benni schien verwirrt. „Ist alles in Ordnung?“ Ehe er sich versah hatte Carsten auch schon weinend die Arme um ihn geschlossen. „Glaubst du das wirklich? Dass wir dich alleine lassen würden?“, hörte er Laura fragen. Langsam, als müsse er sich selbst davon überzeugen, schüttelte Carsten den Kopf. Ariane nahm seine Hand. „Komm Carsten, sieh dich um.“, forderte sie ihn auf. Widerwillig ließ er zu, dass sie seine krampfhafte Umarmung um Laura löste, die einen Schritt zurück ging. Zögernd öffnete Carsten die Augen, in der Angst wieder etwas zu sehen, was nicht zu sehen war. Sein Blick fiel automatisch auf Ariane, die immer noch seine Hand hielt. „Was siehst du?“, fragte sie, mit einem so freundlichen, strahlenden Lächeln, das die Macht zu haben schien all die schwarzen Wolken zu vertreiben und die Sonne wieder scheinen zu lassen. Direkt beschleunigte sich Carstens Herzschlag. „… Dich…“ Ihr Lächeln wurde noch heller. „Und weiter?“ Er schaute auf, dieses Mal in Lauras mit Tränen gefüllte Augen, deren schokoladiges Braun genauso sanft und beschützend wirkten wie der Dachboden, in dessen gemütliche Dunkelheit sich Carsten als Kind so häufig geflüchtet hatte. „…Laura.“ Nach und nach sollte Carsten die Namen aller Leute auflisten, die sich um ihn herum befanden. Eagle, der seinem Blick auswich, anscheinend geplagt von Gewissensbissen, Öznur, die ihre Arme um ihn gelegt hatte und man selbst von weitem ihre Wärme spüren konnte, Anne, Susanne, Herr und Frau Bôss, … Erst, als Carsten die Gebäude der Coeur-Academy nannte, die weniger zerstört aussahen als er befürchtet hatte, war Ariane zufrieden gestellt. „Glaubst du immer noch, dass wir dich alleine lassen würden?“ Carsten schüttelte den Kopf, deutlich weniger zögernd als zuvor. „Na also.“ Einen Moment lang schauten sie sich einfach so in die Augen. Ein Moment, der länger war als notwendig. Es war fast so, als würden sie sich beide erhoffen, dass der andere irgendetwas machte. Doch schließlich zwang Carstens Schüchternheit ihn dazu, die Augen abzuwenden. Dennoch… Es war keine Einbildung, er hatte wirklich den Eindruck, dass Arianes Weg ihn in die Realität zurückgebracht hatte. „Danke…“ Er konnte ihr Lächeln regelrecht spüren. „Kein Ding.“ Carsten hörte Eagle seufzen. „Tut mir leid, wegen vorhin.“ Doch er schüttelte den Kopf. „Es ist schon okay, du-“ „Lissi!“ Susannes geschockter Schrei ließ ihn aufschrecken. Verwirrt beobachtete er, wie Susanne ihrer Schwester entgegeneilte, die auf die Gruppe zu gerannt kam. Oder eher gestolpert. Stimmt, wo war Lissi eigentlich gewesen?, fragte er sich. „Ein Glück, es geht dir gut!“ Lissi fiel Susanne so sehr in die Arme, dass sie ihre ältere Zwillingsschwester damit fast umwarf. Als Carsten realisierte, dass sie verletzt schien, ging auch er schnellen Schrittes zu den beiden rüber, dicht gefolgt vom Rest. Derweil erkundigten sich beide Schwestern aufgebracht bei der jeweils anderen, ob sie in Ordnung seien. Verwirrt versuchte Carsten die Situation zu verstehen. Erst jetzt fiel ihm auf, wie blutgetränkt Susannes Schuluniform war. Die Risse auf Höhe ihres rechten Schlüsselbeins ließen vermuten, dass es Susannes eigenes Blut war, doch so wie sie sich verhielt… Sie wirkte gänzlich unverletzt. Bei Lissi wiederum waren die Kratzer und Prellungen deutlich sichtbar. „Was ist denn passiert?“, erkundigte er sich und kniete sich neben die beiden. „Unterweltler…“, meinte Lissi nur, vollkommen außer Atem. Carsten gefror das Blut in den Adern. „Was?!“, fragte die Direktorin schockiert. Während Anne die Situation genauer erklärte, fiel Lissi plötzlich Carsten um den Hals. „Ich weiß, dass ich das nicht sagen sollte, aber: Danke…“ Damit hatte sie alle nun völlig verwirrt, Carsten am meisten. „W-wie meinst du das?“ „Diese… diese blutrote Kuppel. Die war von dir, nicht wahr?“ Bedrückt nickte Carsten. Er wollte gar nicht daran denken müssen… Und doch drohten die Erinnerungen, ihn wieder gefangen zu nehmen. „Das… Du… Damit wurden die Unterweltler zurückgedrängt.“, erklärte sie. Das Zittern in ihrer Stimme verriet, was für eine Angst Lissi gehabt haben musste. Instinktiv erwiderte Carsten die Umarmung. „Aber… ist mit dir alles in Ordnung? Geht es dir gut?“ Er spürte Lissi nicken und meinte sogar ein schwaches Schluchzen zu hören. „Dank dir…“ Im nächsten Moment überforderte sie Carsten vollkommen, indem sie ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Kichernd löste sich Lissi aus der Umarmung und erwiderte auf sein hochrotes Gesicht: „Sorry Cärstchen, aber das musste einfach sein.“ Während Carsten noch darum bemüht war sich zu fangen, berichteten Lissi und Anne vom Angriff. „Oh nein, das wolltest du uns also die ganze Zeit sagen?!“, stellte Öznur betroffen fest. Geräuschvoll atmete Anne aus. „Ihr hättet mich ja zumindest zu Wort kommen lassen können, statt mir dauernd Taktlosigkeit vorzuwerfen.“ Auch Susanne traf diese Erkenntnis hart. „Es tut mir so leid… Ich… Es… Es ist alles meine Schuld! Ich hätte dir besser zuhören müssen!“ Anne schüttelte den Kopf. „Du kannst wohl am wenigsten dafür.“ „Aber…“ Betreten schaute Susanne ihre Zwillingsschwester an, doch diese winkte ab. „Es ist alles in Butter Susi, wirklich.“ Carsten war überrascht, wie normal Lissi direkt wieder wirkte. Besonders, da sie vor wenigen Sekunden noch extrem aufgelöst gewesen schien. Frau Bôss schaute in Richtung Westwald. „Selbst wenn Carstens Barriere sie zurückgedrängt hat…“ „Nun haben sie freie Bahn.“, beendete der Direktor ihren Satz. Eine Zeit lang schauten sie alle in die Richtung, mit der Befürchtung eine gesamte Legion würde sich aus der Finsternis des Waldes materialisieren. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen… „… Ein Erdbeben?“, fragte Laura ungläubig. „Das hat uns gerade noch gefehlt.“, kommentierte Anne verbissen. Der Boden vibrierte, begleitet von einem tiefen Grollen. Eagle war der erste, der die Ursache des Bebens ausmachen konnte. Sein Ausdruck sprach Bände über den Zorn und Hass, den er zu spüren schien, als er mit unheimlicher Stimme sagte: „Jack.“ Innerhalb eines Wimpernschlages hatte Eagle die Dämonenform angenommen und sich mit ausgebreiteten Flügeln in die Höhe gestoßen. „Warte!“, rief Carsten seinem großen Bruder hinterher, doch natürlich ohne Erfolg. Taumelnd sprang er auf die Beine und folgte Eagle in westliche Richtung. Doch natürlich war er viel zu langsam. Carsten teleportierte sich an den Anfang des Westwaldes. Ohne Eagle durch die Baumkronen aus den Augen zu verlieren teleportierte er sich immer weiter nach vorne, soweit seine Sicht es zuließ. Die Spuren des Sturmes waren im Wald deutlich sichtbar. Der Wind hatte alle restlichen Blätter von den Bäumen gefegt und er musste aufpassen, dass nicht einer der abgebrochenen Äste oder Stämme im Nachhinein noch umstürzte. Carsten stolperte und stürzte, als er einen Ast übersah, der vom Laub verdeckt worden ist. Angestrengt versuchte Carsten zu Eagle aufzuholen. Der Blutverlust des vorigen Zaubers war da alles andere als dienlich. Irgendwann bedeckte schwarze Asche den Waldboden, doch Carsten hatte nicht die Kraft sich auch darüber Gedanken zu machen. Und trotzdem… Der Weg wirkte auf einmal noch unebener als er zuvor schon war. Carsten kämpfte viel häufiger um Gleichgewicht und diese seltsame Asche wirkte gänzlich fehl am Platz. Schwer atmend hielt er inne und stützte sich auf den Knien ab, während er seinen Gedanken die Möglichkeit gab sich zu sortieren. Sollten laut Lissi nicht die Unterweltler in den Westwald zurückgedrängt worden sein? Die Unterweltler im Westwald, das Erdbeben, anscheinend durch Jack verursacht, die Aschehaufen… Carsten stieß einen Fluch aus als er die Puzzelteile zusammensetzte und teleportierte sich direkt weiter in die Richtung, soweit es ihm möglich war. So geleitet von Hass wie Eagle gerade war musste Carsten unbedingt verhindern, dass sein großer Bruder etwas sehr, sehr Dummes anstellte. In der Ferne erkannte Carsten eine Lichtung, auf die er sich direkt teleportierte. Genau in diesem Moment konnte er Eagle landen sehen, etwa einen Kilometer entfernt. Noch ein Teleport, direkt vor seinen großen Bruder. „Eagle, hör auf!“, schrie er und schlitterte mehrere Meter zurück, als er Eagle festhielt und seinen Ansturm getrieben von Zerstörungswahn und Mordlust abfing. „Lass mich los!“, forderte Eagle ihn lautstark auf. „Es ist nicht so, wie du vermutest! Du musst dich beruhigen!“ Natürlich war jeder Appell an Eagles Vernunft erfolglos. „Bitte, beruhige dich!“ „Wie kannst du das von mir verlangen?! Der Arsch hat unseren Vater getötet!“ „Bitte!“, schrie Carsten, dessen Stimme bereits heiser von seinem vorigen Gefühlsausbruch war. Tatsächlich wurde Eagles Widerstand schwächer. Während Carsten sich eben noch mit aller Kraft gegen seinen großen Bruder hatte stemmen müssen, gewann allmählich die Erschöpfung die Oberhand, sodass er sich nun eher gegen ihn lehnen musste, um stehen bleiben zu können. „Was ist denn los?!?“, hörte er Ariane rufen. Natürlich hatte sie als die schnellste der Gruppe noch am ehesten zu ihnen aufschließen können, doch auch der Rest hatte sie alsbald eingeholt. Selbst die Magierinnen, die von ihnen allen am langsamsten waren. Einen Moment lang herrschte absolute Stille. Vorsichtig ließ Carsten von Eagle ab und wollte selbst schauen, was genau hier vor sich ging. Doch plötzlich… „Gotsch!“ Ariane sprintete an ihnen vorbei und gerade, als sich Carsten umgedreht hatte, sah er, wie Ariane lachend und weinend zugleich ihrer kleinen Schwester um den Hals fiel. Unglauben spiegelte sich auf Carstens Gesichtszügen, als er nach und nach erkannte, wer sich da alles befand. Als er beobachtete, wie Ariane nach all der Zeit endlich wieder mit ihrer kleinen Schwester vereint war, sie endlich wieder bei sich in Sicherheit hatte und in die Arme nehmen konnte, füllten sich Carstens Augen mit Tränen. Sehen zu können, wie das Licht endlich wieder gänzlich zu Ariane zurückkehrte war das schönste, was er sich vorstellen konnte. Endlich wieder ihr heiteres Lachen zu hören, das selbst die tiefste Finsternis erleuchtete. Ein erleichtertes Aufatmen. Ein Innehalten, um diesen Moment genießen und in sich aufsaugen zu können. Und endlich, nach all der Zeit, hatte Carsten wirklich wieder Hoffnung. Nicht diese trügerische Hoffnung begleitet von Selbstzweifel, als er meinte den Zauber fertig gestellt zu haben. Nein, einfach Hoffnung. Sakuras Stimme war die nächste, die er hörte. „B-Bruderherz?“ Das brachte Eagle wohl gänzlich aus seiner Rage zurück. „Sakura?“ Sakura unterdrückte ein Schluchzen und rannte zu Eagle, wo sie ihm weinend in die Arme sprang. Eagle fing seine kleine Halbschwester auf und Carsten konnte nicht sagen, wer sich stärker an den jeweils anderen klammerte. Die Worte sprudelten nur so aus Sakura heraus, als wolle sie in kürzester Zeit alles was sie mit sich herumgetragen hatte loswerden. Eagle strich ihr immer wieder über die inzwischen kurzen, strubbeligen Haare und redete auf einmal so beruhigend auf sie ein, dass man sich gar nicht mehr vorstellen konnte wie er vor wenigen Minuten noch drauf und dran war, von Hass geleitet einen der hier Anwesenden in Stücke reißen zu wollen. Carstens Blick fiel auf Jack und sofort überkam ihn Sorge als er all die Verletzungen sah. Blutergüsse, Knochenbrüche, … Der anscheinend mit seinem T-Shirt improvisierte Druckverband war nicht dazu in der Lage, die tiefe blutende Wunde an seinem linken Arm gänzlich zu stoppen. Und eine noch frischere Wunde an seiner linken Schulter schien bisher überhaupt nicht behandelt. Auch fielen ihm die Äderchen in und um seine Augen auf, die immer noch orange hervorstachen und leicht pulsierten. Es war also wirklich Jack gewesen, der die Unterweltler mit seiner Erd-Energie besiegt hatte. Doch bevor Carsten dazu kam zu ihm zu gehen, bemerkte er Anne, die auf zwei etwas weiter hinten stehenden Personen zuging. „Ist das… Sultana?“, fragte Öznur ungläubig. Sie und die restlichen Mädchen, sowie Eagle und die Direktoren hatten bis zum Ende nicht gewusst, dass sich Annes Mutter ebenso in den Fängen von Mars befunden hatte. Entsprechend konnte niemand seinen Augen trauen, als Anne vor Sultana stand, die von Janine gestützt wurde, und meinte: „Bist wohl tatsächlich noch am Leben.“ Annes Mutter erwiderte auf die brüske Aussage ihrer Tochter lediglich lächelnd: „Du kennst mich doch.“ Trotzdem war Annes Erleichterung deutlich spürbar als sie ihre Mutter -sehr zu deren Überraschung- in die Arme schloss und mit schwacher Stimme sagte: „Wohl nicht gut genug.“ Trotz ihrer immer noch besorgniserregend schlechten Verfassung erwiderte Sultana die Umarmung. „Ninie!“ Janine hatte sich nur wenige Schritte von Mutter und Tochter entfernt, da wurde sie auch schon von Susanne in die Arme geschlossen. Unter Tränen erkundigte sich Susanne, ob mit Janine alles in Ordnung sei. Eine Zeit lang beobachtete Carsten einfach nur, wie die Erleichterung sie alles Vergangene vergessen ließ. Wie jeder einfach nur froh war, dass es dem jeweils anderen gut ging. Doch nicht bei allen kam dieses Gefühl gänzlich an. Suchend ließ Carsten seinen Blick über die Gruppe schweifen und er wusste, dass Laura haargenau dasselbe tat. Wolf und Chip waren zwar bei Johannes und Jack, aber… Ein alles andere als erleichtertes Gefühl breitete sich in Carstens Brust aus, als er auf die vier zuging. Wo ist Benni? Doch die Frage blieb in Carstens Hals stecken. Er konnte nicht fragen. Er wollte nicht fragen. Er wollte es nicht wissen, die Wahrheit. Und er wusste nicht, ob er Jack in dessen aktueller Verfassung auch noch damit belasten sollte. Mit der undankbaren Aufgabe ihnen zu erklären, warum ausgerechnet Benni nicht dabei sein konnte. Carsten schluckte das unangenehme Gefühl runter, versuchte es zumindest, und zwang sich zu einem Lächeln. „Wirst du zumindest dieses Mal medizinische Hilfe annehmen?“ Jack verstand die Andeutung, doch auch sein Lächeln wirkte nicht ganz echt, als er sarkastisch antwortete: „Vielleicht solltest du mich trotzdem erstmal k.o. schlagen, bevor schon wieder was schiefläuft.“ Carsten lachte auf. „Ich soll einen Verletzten verprügeln?“ Jack schien noch irgendeinen sarkastischen Kommentar erwidern zu wollen, doch es war mehr als offensichtlich, dass er am Ende seiner Kräfte war. Carsten wusste: Er und Sultana mussten so schnell es ging in ein Krankenhaus. Doch er wollte die herzlichen Wiedervereinigungen nicht jetzt schon unterbrechen müssen. Daher machte er sich erst einmal ein Bild von Jacks Verletzungen. Was den Drang ihn in ein Krankenhausbett zu stecken nur verstärkte. Irgendwann ging Herr Bôss an ihnen vorbei und kniete sich zu einer weiteren Person, die Carsten bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Er hatte sie nicht bemerkt, da sie auf dem Boden lag. Mit einem unwohlen Gefühl in der Brust richtete sich Carsten auf und kam zu dem Direktor rüber. Auch Laura folgte ihm, die ursprünglich zu Wolf und Chip wollte. Als sie erkannte wer das war, schlug sie die Hände vor den Mund als wolle sie ein Schluchzen eindämmen. Und auch Carstens Magen drehte sich herum. Es war ein junger Mann, wenige Jahre älter als Carsten und Laura, vielleicht so in Eagles Alter. Die Haare hatten eine orangene Färbung, aber am Haaransatz konnte man erkennen, dass er eigentlich strohblond war. Die himmelblauen Augen starrten ihn und Laura mit leerem Blick an, der Mund war leicht geöffnet. Carsten wusste, warum Laura so Schwierigkeiten hatte die Tränen zurückzuhalten. Und ihm erging es nicht anders. Es wirkte fast so, als wolle dieser Junge ihnen noch etwas sagen. Eine letzte Botschaft. ‚Es tut mir leid.‘ Herr Bôss runzelte kritisch die Stirn. „War das nicht der Junge, der dir im FESJ das Leben so zur Hölle gemacht hat?“ Schweren Herzens kniete sich Carsten auf die andere Seite. War er das wirklich gewesen? Natürlich sah er fast genauso aus wie früher und doch… Irgendwie… „… Nein.“, antwortete Carsten schließlich. „Das ist ein früherer Schulfreund von Benni.“ Während er Laura leise schluchzen hörte, schloss Carsten Max‘ Augen. Es breitete sich eine beinahe erdrückende Stille aus. Anscheinend hatte nun auch der Rest realisiert, dass es einen gegeben hatte, der den Preis für diese Wiedervereinigung hatte zahlen müssen. Diese Ruhe wirkte andachtsvoll, um nicht zu sagen ehrfürchtig, während die schweigsame Dankbarkeit beinahe spürbar war. Nach geraumer Zeit war es Johannes, der das Schweigen brach. „Er war witzig…“, meinte er mit gesenktem Blick. „Er hat so fröhlich gewirkt. Und er hat sich so gefreut nach Hause zu kommen.“ Jacks Stimme klang rau und kraftlos, als er fragte: „Hat jemand von euch Kontakt zu seiner Familie?“ Laura nickte, schaffte es aber nicht sich anzubieten, Jannik die Nachricht zu überbringen, dass sein Cousin bei einem Flucht- und/oder Rettungsversuch gewaltvoll ums Leben gekommen ist. Auch Herr Bôss bemerkte dies. „Wenn du uns die Kontaktdaten geben kannst, kümmern wir uns darum.“, bot er zuvorkommend an. Erneut schluchzte Laura und wischte sich mit dem Arm Tränen aus den Augen, während sie nickte. „Danke…“ Es brauchte einige Zeit, bis sich der Großteil von ihnen gefangen hatte. „Und… was machen wir jetzt?“, fragte Öznur schließlich. Carstens Blick fiel erst auf Jack, dann auf Sultana. „Vielleicht gehen wir erst einmal zum Krankenhaus in Indigo.“, schlug er vor. Von Anne bekam er direkt ein bestätigendes Nicken. Eagle schien nicht so glücklich damit. „Warum ausgerechnet Indigo?“ Carsten seufzte. „Weil Saya die Leiterin von Kariberas Krankenhaus ist?“ „Na und?“ Er musste jetzt doch nicht ernsthaft mit seinem großen Bruder darüber diskutieren, warum Indigo die beste Wahl war. Oder? Zum Glück bekam er Unterstützung vom Direktor. „Es gibt nicht viele Orte, wo die Sicherheit zumindest halbwegs gewährleistet ist.“ Seufzend schaute er in Richtung Osten, wo sich der Schulcampus befand. „Und momentan habt ihr einen weniger. Selbst wenn Carsten mit seiner schwarzen Magie den Schaden auf ein Minimum reduzieren konnte, wird es ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen alles wiederaufzubauen. Und gerade Verletzte sollten wir daher lieber woanders unterbringen.“ Frau Bôss nickte. „Besonders, da wir selbst unter normalen Bedingungen im Krankensaal nicht für solch ernsthafte Verletzungen gewappnet sind.“ Trotzig verschränkte Eagle die Arme vor der Brust. „Und deshalb soll ausgerechnet Indigo den Kopf hinhalten? Erwartet ihr allen Ernstes von mir, dass ich das Leben von meinem ganzen Volk aufs Spiel setze, nur, um eine Horde Jugendlicher und Verletzter unterzubringen?“ „Eine Horde Jugendlicher?!“, entrüstete sich Öznur, „Jetzt hör mal, Freundchen, vor kurzer Zeit hast du selbst noch zu dieser ‚Horde Jugendlicher‘ gezählt!“ Anne schnaubte. „Ist dir das Erwachsensein etwa jetzt schon zu Kopf gestiegen?“ Seufzend atmete Carsten aus. Auch wenn Eagle unnötig schnippisch war, sehr wahrscheinlich aus dem Grund, da es sich bei einem der Verletzten um Jack handelte, musste er doch einsehen, dass sein großer Bruder recht hatte. Aber… Es war das Beste, wenn die Gruppe zusammenblieb. Das hatte sich nun schon bei Johannes und Janine unter Beweis gestellt. Und gerade für Jack war es in seinem miserablen Zustand besonders wichtig, ihn in Sicherheit zu wissen. „Wo sollen wir denn sonst hin?“, fragte Carsten, die Hoffnung von vorhin längst wieder verloren. Er senkte den Blick. Herr Bôss hatte recht, die Coeur-Academy konnte ihnen erst einmal keinen Schutz mehr bieten. Viele Hauptstädte anderer Regionen Damons hatten zwar auch eine Magiebarriere, jedoch… „Du hattest doch selbst einmal gesagt, Indigo sei die Region mit der meisten Kampfkraft. Aber vielleicht können wir ja mal mit Florian reden, in Ivory würden wir vielleicht auch aufgenommen werden…“ Carsten wusste, dass er diese Aussage von Eagle nicht persönlich nehmen sollte. Und trotzdem… Würde er nun wirklich eher in Ivory um Asyl bitten müssen? Eher als in seiner ursprünglichen Heimatregion? Ob Eagle seinen deprimierten Blick interpretieren konnte wusste Carsten nicht. Dennoch fiel er ihm anscheinend auf. Zumindest meinte Eagle schließlich seufzend: „Wir können es ja erstmal als eine Übergangslösung betrachten.“ Damit ließ sich der Rest zumindest halbwegs zufriedenstellen. Carsten warf einen prüfenden Blick auf die Verletzten. So kritisch ihre Situation auch war, ein Teleport war der schnellste und sicherste Weg. Selbst wenn es ihnen extrem viel Energie kosten würde. „Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“, meinte er deshalb. Missbilligend schüttelte Janine den Kopf. „Wie kannst du ihm nach all dem noch helfen wollen?“ Ihm? Irritiert schaute Carsten zwischen Janine und Jack hin und her. Jacks Seufzen nach zu urteilen war etwas ganz gewaltig schiefgelaufen. „Er ist verletzt, ich muss ihm helfen.“, erinnerte Carsten sie an seine Prinzipien. Freudlos lachte sie auf. „Lernst du denn nie dazu? Müssen wir dich etwa daran erinnern was geschehen ist, als du ihm das letzte Mal deine Hilfe angeboten hast?“ Ein kalter Schauer fuhr über Carstens Rücken als er ihren abfälligen Ton hörte. Was war passiert? Janine ging zu Jack rüber und kniete sich vor ihn. „Kannst du eigentlich irgendwas anderes, außer Leuten zu schaden oder sie direkt umzubringen?“ Obwohl ihr Kommentar ihn sichtbar verletzte, zwang Jack sich zu einem sarkastischen Lächeln. „Ich kann ziemlich gute Burger machen.“ „Oh ja, das stimmt!“, gab Johannes ihm begeistert recht. Zischend griff Janine nach Jacks verletzter Schulter und drückte zu. Carsten stockte der Atem als er Jack aufschreien hörte und sah, wie er sich unter ihrem Griff krümmte. Was… Wie… War das wirklich Janine? Ihre Janine?! Das liebenswerte Mädchen, dass trotz ihres schweren Lebens in Armut immer noch versuchte, das Gute im Menschen zu sehen? Die schon so viele wichtige Leute verloren hatte und trotz allem immer noch lachen konnte? War das wirklich sie?!? „Janine, lass ihn los!“, hörte Carsten sich rufen. „Warum?!“, schrie sie derweil Jack an. „Warum will jeder dir ständig helfen, obwohl du nur Leid und Zerstörung verursachst?! Wie kannst du es wagen, überhaupt noch am Leben zu sein?!?“ Carstens Kehle schnürte sich zu, nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen oder zu machen. Was ging hier vor sich?! Dem Rest schien es ähnlich zu ergehen. Niemandem war es möglich etwas dagegen zu unternehmen. Ihr Blick, verzerrt von Hass und Zorn, glich eher einer karikativen Maske die man zu Karnevalszeiten trug. Die Hand mit der sie Jacks blutende Schulter zu zerquetschen schien, wirkte eher wie die Klaue eines Ungeheuers. Das war nicht Ninie. Nur Johannes ließ sich davon nicht ganz einschüchtern. Er zerrte an ihrem anderen Arm, wollte sie weg von Jack ziehen. „Tantchen, hör auf!“ „Halt du dich da raus!“, fuhr sie ihn an. Das gelbe Lodern um ihren Körper ließ Johannes abrupt zurück stolpern. Obwohl er sich vor Schmerz krümmte, keuchte und hustete, suchte Jack noch das Gespräch. „Janine… jetzt hör… ich…“ „Sprich mich nicht an!“ Es kam Carsten wie in Zeitlupe vor. Ein lautes Pochen, beinahe wie ein Herzschlag, echote über der Waldlichtung. Für einen Moment lang noch waren Jacks grüne Augen vor Schreck weit aufgerissen, dann, ganz langsam, schlossen sich die Augenlider, während er zur Seite umkippte. Allmählich ebbte das gelbe Lodern um Janines Körper ab, doch ein beängstigendes Rauschen hinterließ es in ihren Ohren. „W- was hast du gemacht?!“, fragte Öznur schockiert, ihr Ton schrill von Aufregung. Janine klang beängstigend ruhig als sie sich aufrichtete und antwortete: „Ihn vergiftet.“ Susanne ging einen Schritt auf Janine zu, wagte es aber nicht ihr zu nahe zu kommen. „… Ninie?“ „Ihr wolltet ihn doch ins Krankenhaus bringen. So macht er uns zumindest keinen Ärger.“ „Aber… Wieso…“ Unglauben regierte Arianes Stimme. „Das ist doch kein Grund, ihn direkt…“ „Keine Sorge, ich habe das Gift direkt wieder neutralisiert. Er wird schon nicht sterben. Auch, wenn er es verdient hätte.“ Laura war die erste, die unter Tränen das aussprach, was die Welt von allen zum Einsturz gebracht hatte. „Ninie, du hast ihn gefoltert!“ „Na und?“ Janine zuckte mit den Schultern. „Auge um Auge…“ Carsten biss die Zähne zusammen. „… Und die ganze Welt wird blind.“ Gefühlskalt erwiderte Janine seinen Blick, als er sie fragte: „War es das? Wolltest du Rache?“ „Er hat bereits viel zu viel Schaden verursacht.“ „Wolltest du Rache?“, wiederholte Carsten seine Frage. Janines steinerne Fassade schien zu bröckeln. „Er hat meine Mutter getötet!“ „Wolltest du Rache?!“ „Ja!!!“ Tränen quollen aus ihren Augen, als Janine auf dem Boden zusammenbrach. Trotz ihrer vorigen Angst war Susanne direkt bei ihr, um sie in die Arme zu nehmen. Auch Carsten ging zu ihr rüber, doch noch während er seine Hand auf ihre Schulter legen wollte, hielt er inne. „… Fühlst du dich nun besser?“, fragte er stattdessen. Ihr Gesicht in Susannes Schuluniform vergraben schüttelte Janine schluchzend den Kopf. Das hatte sich Carsten gedacht. Seufzend entschied er, Janine und ihre aufgewirbelten Gefühle erst einmal Susanne zu überlassen und kniete sich stattdessen zu Jack, um seinen gesundheitlichen Zustand zu überprüfen. Als ginge es ihm nicht schon miserabel genug. Sein Herz schlug schwach, aber regelmäßig. Aber für eine Teleportation… Der Rest schien sich noch nicht sicher, wie er auf all das reagieren sollte. Carsten betrachtete Eagle, der immer noch Sakura im Arm hielt und zu Janine und Susanne schaute. Entsetzen zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Schließlich bemerkte er, dass Carsten ihn beobachtete. „Merk dir ihren Blick.“, meinte Carsten daraufhin nur. „Du hattest vorhin genau den gleichen.“ Bedrückt wandte sich Carsten wieder Jack zu. Auch Herr Bôss war zu ihnen rübergekommen und strich Jack die braun-roten Haare aus der verschwitzten Stirn. Carsten wusste, dass sich die beiden von früher kannten. Und egal woher, sie schienen ein durchaus gutes Verhältnis gehabt zu haben. Zumindest, wenn Carsten den besorgten Blick des Direktors richtig deutete. „Ein Teleport könnte kritisch werden.“, stellte Herr Bôss ebenso wie Carsten zuvor fest. Dieser nickte. Als hätte Jack es nicht schon schwer genug… Plötzlich kniete sich Laura neben ihn und hielt ihm die Hand entgegen. Etwas verwirrt schaute Carsten von ihren eleganten Fingern zu ihrem mitfühlend lächelnden Gesicht. „Komm schon, Benni hatte mir damals doch auch immer Energie gegeben.“, erinnerte sie ihn an früher, als ihr eigener Körper kaum einer einzigen Teleportation hatte standhalten können. Dankbar nahm Carsten Lauras Hand und während sie ihre Finsternis-Energie an ihn gab, leitete er sie in Form von Erd-Energie an Jack weiter. Erleichtert atmete er auf, als Jack zwar nicht wieder aufwachte, aber sein Herzschlag zumindest an Stärke gewann. Nach einer Weile meinte Frau Bôss plötzlich: „Ihr solltet euch auf den Weg machen.“ Ihr Mann nickte. „Wir kümmern uns hier um das Notwendige und… vielleicht findet sich ja ein etwas ruhigeres Zeitfenster, wo wir bei euch vorbeischauen könnten.“ Dankbar nickte Carsten den beiden zu. Er wüsste nicht, was sie ohne die Hilfe der Direktoren machen sollten. Es wirkte alles so viel, so erdrückend… Er warf einen letzten Blick auf Max, der auf der Wiese lag als würde er friedlich schlafen. Wäre nur diese blutige Wunde über seinem Herzen nicht… Verbissen kniff Carsten die Augen zusammen und versuchte mit aller Kraft nicht mit den Gedanken zu Benni abzudriften. Nach dem Grund zu fragen, weshalb ausgerechnet er nicht dabei sein konnte. Erfolglos. Und noch schlimmer: Eigentlich wusste Carsten es bereits. Er weigerte sich nur, es einsehen zu müssen. Versuchte zu verdrängen, dass sie Benni für immer verloren haben könnten. Das er ihn für immer verloren haben könnte. Kapitel 83: Zwischen Hoffnung und Verzweiflung ---------------------------------------------- Zwischen Hoffnung und Verzweiflung       Obwohl Lauras eigener Körper inzwischen in der Lage war Teleportationen zu verkraften, meinte sie trotzdem selbst einen Anflug von Schwäche zu spüren, während sie sah wie Sultana zusammenklappte als sie am Rande Kariberas ankamen. Sie hätte niemals gedacht, dass Annes Mutter eine Gefangene von Mars gewesen ist. Eigentlich war es so logisch! Und doch hatte sie die Geschichte mit der Grippe geglaubt. Hatte das einfach so hingenommen, während Anne innerlich weiter unter der Angst gelitten hatte, ihre Mutter nie wieder zu sehen. Es herrschte ein bedrücktes Schweigen als sie den beiden Krankenwagen hinterherschauten, die bei ihrem Ankunftsort bereits auf sie gewartet hatten. Laura wusste nicht, wem der zwei es schlechter ging. Jack oder Sultana. Aber eins wusste sie: Wie es Benni ging wusste sie überhaupt nicht! Frierend verschränkte sie die Arme vor der Brust. Ihre Schuluniform alleine war viel zu dünn für das Wetter Anfang Oktober und der leichte Nieselregen in Indigo machte es nicht gerade besser. Und doch kam die eigentliche Kälte von innen. Sie spürte, wie Carsten seine eigene Jacke über ihre Schultern legte, der linke Ärmel zerrissen durch den Tribut, den man für die Schwarzmagie zahlen musste. Zumindest dem physischen… Laura blickte zu Carsten hoch, der ihr ein liebevolles Lächeln zuwarf. Dabei war ihm doch selbst kalt… Schweigen beherrschte die Gruppe, als sie durch Karibera zu dem Häuptlingsanwesen wanderten. Es war viel zu viel passiert. Zwar auch Gutes, aber genauso viel Schlechtes. Niemand wusste, wie er sich in diesem Moment fühlen sollte. Gedankenverloren betrachtete Laura die bunten Tipis an denen sie vorbeigingen. Durch den dunklen Himmel wirkten sie düster, fast schon gruselig. Sie spürte, wie einige Indigoner die vorbeikommende Gruppe irritiert, teils auch argwöhnisch betrachteten. Erst jetzt wurde Laura schmerzhaft bewusst, wie wenige gute Erinnerungen sie mit Indigo eigentlich verband. Den schlechten war es ein Leichtes, die Oberhand zu behalten. Immer noch frierend lehnte sie sich beim Laufen etwas gegen Carsten, der beinahe schon instinktiv einen Arm um ihre Schultern legte. Wenn sie schon so wenig gute Erinnerungen an diese Region hatte… Wie musste das erst für ihn sein, der seine Kindheit hier verbracht hatte? Ohne es zu wollen erinnerte sich Laura an ihr erstes Treffen. Auch wenn Carsten alles andere als nachtragend war, war es offensichtlich wie er insgeheim noch darunter litt. Wie es ihn doch noch belastete, eine so lange Zeit von seinem Bruder so grausam behandelt worden zu sein. Was davon verursachte die schwarze Magie? Wie viel hatte er selbst in seinem Herzen unter Verschluss gehalten? Bei dem Anwesen angekommen, wartete Saya bereits auf den Stufen der Treppe. Als sie nach all der Zeit endlich wieder ihre Tochter erblickte, eilte sie ihr erleichtert entgegen, während auch Sakura losrannte und von ihrer Mutter weinend ganz fest in die Arme geschlossen wurde. Es befanden sich noch mehr Personen auf der Veranda, wie Laura nun erkannte. Konrad nickte der Gruppe lächelnd zu, während Florian sich hinkniete, um Wolf und Chip in Empfang zu nehmen. Besonders der Wolfshund schien sich zu freuen, den Elben zu sehen. Raven, die sich irgendwie vor dem Teleport noch dazu gemogelt hatte, hüpfte derweil Rina in die Arme und ließ sich schnurrend den Kopf kraulen. Auch Ituha mit Risa und Kito waren da. Die beiden Mädchen winkten der Gruppe fröhlich zu und besonders Johannes schien sich zu freuen, jemanden in halbwegs seinem Alter zu treffen. Kurz darauf wurden sie von einer kleinen, dicklichen Indigonerin reingerufen, da das Abendessen fertig sei. Noch während sich alle mit knurrendem Magen an die große Tafel im Speisesaal setzten -von außen sah das Haus immer viel kleiner aus, als es in Wahrheit war- wurde Eagle auf einmal auf Indigonisch von Jenny ausgeschimpft. Vermutlich, da er bei seinem vorigen Wutausbruch ein weiteres Hemd unbrauchbar gemacht hatte. Zu beobachten, wie der momentane Häuptling von einer süßen, älteren Indigonerin zur Sau gemacht wurde, heiterte die Stimmung wieder etwas auf. Lachend beobachtete Laura, wie sich Eagle mit einem normalen, nicht zerstörten T-Shirt zu der essenden Gesellschaft setzte. Jenny hatte ihm davor das Hemd vom Leib gerissen und ins Gesicht gepfeffert, mit den Worten er solle sich erst einmal etwas Gescheites anziehen, bevor er sich den Wanst vollschlagen würde. Zumindest hatte Carsten das dem Rest im Nachhinein so übersetzt. Eagle schnaubte. „Sie hätte ja zumindest auch mal was zu Carstens Schuluniform sagen können.“ Öznur verpasste ihrem Freund einen Hieb in die Seite. „Ach komm, stell dich nicht so an.“ Laura warf einen Seitenblick auf Carsten, der inzwischen auch normale Kleidung trug und dessen Arm vor dem Essen direkt von Saya verarztet worden ist. Bedrückt betrachtete sie die weiße Mullbinde und erinnerte sich direkt wieder an den grausigen Anblick, gerade mal eine Stunde zuvor. Sie glaubte immer noch zu spüren, wie sich Carsten an sie klammerte. So voller Angst und Verzweiflung, kurz davor zu zerbrechen… Schaudernd wandte sie sich wieder ihrem Essen zu, wobei ihr auffiel, dass Carsten sein eigenes bisher gar nicht angerührt hatte. „Seit wann ist Jenny denn so fies zu dir?“, erkundigte sich Sakura verwirrt. Ituha zuckte mit den Schultern. „Seit der Junge eine Dummheit nach der anderen begeht, als wolle er einen Rekord brechen.“ Unnötig grob spießte Eagle eine Pommes auf. „Hängt ihr mir das immer noch nach?“ „Hey, die Pommes kann nichts dafür!“, nahm Ariane das arme Essen direkt in Schutz. Laura lachte auf. Sie hätte nie gedacht, wie sehr sie sich über so einen belanglosen Kommentar von Ariane über Essen freuen würde. Aber… Es ließ Ariane endlich wieder so wie früher wirken! Auch Johanna war direkt der Meinung, dass man unschuldiges, leckeres Essen gefälligst mit Respekt behandeln solle. Und sofort erkannte man, dass die beiden Geschwister waren. Nach und nach bildeten sich einzelne Gruppengespräche und auch, wenn die Stimmung nicht ganz ausgelassen sein konnte, war deutlich spürbar wie gut diese Pause tat. Wie sie einfach alle zusammensitzen und durchatmen konnten. Anne wusste, dass ihre Mutter trotz ihres kritischen Zustandes sich nun in den fähigen Händen indigonischer Ärzte befand. Eagle war so erleichtert Sakura wieder bei sich in Sicherheit zu wissen, dass er einen Moment lang vergaß, wer sich außerdem in dem Krankenhaus seiner Region befand. Ariane und Johanna unterhielten sich pausenlos über alles und nichts, einfach, da sie seit Ewigkeiten endlich wieder miteinander reden konnten. Und sogar Janine schaffte es bei Susannes heilendem Lächeln und Lissis blöden Kommentaren abzuschalten. Laura schüttelte sich, als sie sich an ihren Wutausbruch vorhin auf der Lichtung erinnerte. So hatte sie Janine noch nie gesehen. So hatte sie noch nie überhaupt jemanden gesehen… Noch nicht einmal… Ein tosender Schmerz ergriff ihr Innerstes, als sie an Max dachte. War er wirklich so ein schlechter Typ gewesen, wie sie ihn in Erinnerung hatte? Nein, eigentlich… Natürlich überwogen die schlechten Eindrücke gegen Ende und doch wusste Laura, dass er einer der Schlüsselpersonen gewesen ist, die Benni wieder so halbwegs in die Gesellschaft hatten integrieren können. Das konnte kein böser Mensch gewesen sein. Und jetzt war er… „Du kannst Schlittschuhlaufen?!?“ Johannas plötzlicher begeisterter Ausruf ließ Laura hochschrecken. Belustigt bemerkte sie, wie Carsten sich noch mehr erschreckt hatte als Laura selbst, während Arianes kleine Schwester mit leuchtenden Augen zu ihm rüber schaute. Verlegen, um nicht zu sagen absolut verschüchtert, kratzte sich Carsten am Hinterkopf. „Ein bisschen, aber sonderlich gut bin ich nicht…“ Laura kicherte. „In Carsten-Sprache bedeutet das: Ich hätte eigentlich bei den Damonmeisterschaften mitmachen können, wenn ich nicht eine absolute Abneigung gegenüber Wettkämpfen verspüren würde.“ „Laura!“ Bei seiner Reaktion mussten Ariane und Laura loslachen, während Johanna umso begeisterter schien. „Wirklich?! Welche Sprünge kannst du?! Kannst du einen dreifachen Toeloop?!“ Ariane lachte auf. „Gotsch, Laura hat damit schon ein bisschen übertreiben wollen.“ Sie wandte sich Carsten zu. „Aber ich würde auch ganz gerne wissen, was du damals so gelernt hattest.“ Belustigt bemerkte Laura, wie seine Wangen die typische dunkle Färbung bekamen, während er antwortete: „Dreifach hatte ich noch nie einen Sprung geschafft, immer nur zweifach.“ „Welche davon? Sogar den Axel?!“, hakte Johanna fasziniert nach, woraufhin Carsten verlegen nickte. „Ähm ja… Wieso?“ „Echt? Wow, das ist der schwerste von allen, den hatte ich noch nie hinbekommen. Nicht mal einfach!“ Auch Ariane war beeindruckt. Und Carsten noch roter. Für jemanden, der das nur Hobbymäßig während seiner Kindheit gemacht hatte, war das wirklich ganz schön gut. „Ich… ich fühle mich beim Vorwärtsabspringen einfach viel sicherer…“, erklärte er, als wolle er damit irgendetwas rechtfertigen. „Waaaaahnsinn!“, staunte Johanna, absolut begeistert. „Und Drehungen? Kannst du die Biellmann-Pirouette?!?“ Lachend schüttelte Carsten den Kopf. „Nein, für sowas bin ich nicht gelenkig genug.“ Johanna nickte zustimmend. „Verstehe ich, ich schaffe es einfach nicht in den Schultern gelenkiger zu werden.“ Laura und Ariane tauschten einen belustigten Blick aus, während Carsten und Johanna über ihre Köpfe hinweg begannen sich über Eiskunstlauf zu unterhalten. Ariane lachte leise auf. „So kenne ich Gotsch gegenüber Fremden gar nicht.“ Auch Laura musste kichern. „Carsten ist eigentlich auch nicht so gesprächig, wenn er die Person kaum kennt.“ Eagle, der auf Carstens linker Seite saß, musste ebenfalls lachen. „Da haben sich ja zwei gefunden.“ Schließlich seufzte Johanna. „Bei den Sprüngen traue ich mich einfach nie, richtig abzuspringen. Und dann wird das natürlich nie was.“ „Wieso denn?“, fragte Carsten. „Na ja, ich könnte blöd fallen! Und dann verletze ich mich dumm, oder zerre mir was, …“ Carsten runzelte die Stirn. „Ich bin häufig hingefallen, aber wirklich verletzt habe ich mich nie. Sicher, dass es nicht einfach eine Blockade in deinem Kopf ist?“ „Doch, natürlich. Aber… Es ist halt schwer, die zu überwinden.“ Carsten warf ihr sein süßes, mitfühlendes Lächeln zu. „Verstehe ich.“ „Nane meinte, du bist ein Heil-Magier. Stimmt das?“, fragte Johanna plötzlich. „Ähm… ja…“ „Dann könntest du ja direkt jemanden heilen, wenn er sich verletzt hat!“ Lachend erwiderte Carsten: „Je schlimmer die Verletzung, desto schwieriger ist das zwar, aber ja, im Prinzip kann ich das.“ Er verstand, worauf Arianes kleine Schwester hinauswollte. „Wenn das gegen deine Blockade hilft: Ich kann dich gerne heilen, sollte unwahrscheinlicher Weise wirklich mal etwas passieren.“ Johannas Begeisterung war regelrecht spürbar, was auch Laura und Ariane zum Lachen brachte. „Schon praktisch, wenn man ein wandelndes Erste-Hilfe-Set ist.“ Lissi, die das Gespräch wohl oder übel mitbekommen hatte, rief belustigt zu Ariane rüber: „BaNane, ich würde mir ernsthafte nächste Schritte überlegen, bevor dein Schwesterherz dir Cärstchen vor der Nase wegschnappt, sobald sie alt genug ist!“ „Was ist?“ Annes irritierte Frage brachte nun auch den Rest zum Lachen, der das halbwegs gehört hatte. Lissi wischte sich eine Träne aus den Augen. „Oh nein, Banani, dich meinte ich gar nicht!“ „Ich glaube, du musst doch zu ‚Nane-Sahne‘ zurückkehren.“, bemerkte Susanne belustigt. „Bevor es noch zu Missverständnissen kommt.“ „Wäre ich nicht böse drum.“, meinte Ariane nur, die dieser Spitzname natürlich immer an eine ziemlich peinliche, dafür aber umso lustigere Situation erinnerte. Nachdenklich legte Lissi einen Zeigefinger auf die Lippen. „Banani und Cärstchen wären auch eine süße Kombi, wenn ich mir das so recht überlege.“ Die Tatsache, dass Carsten und Anne das zeitgleich verlegen abstritten, verstärkte den Lachanfall vom Rest umso mehr. „Kommt, ihr kennt Lissi.“, versuchte Ariane beide zu beruhigen. Laura bemerkte, dass Ariane unheimlich viel Glück gehabt hatte, als Anne sie unbewusst aus Lissis Fängen gerettet hatte. Aber überraschender Weise waren die Mädchen nicht so penetrant wie bei ihr und Benni damals. Immerhin: Ursprünglich hatte Öznur beschlossen, dass Laura und Benni offiziell als Paar galten! Und an diese ganzen Andeutungen von Lissi wollte sie gar nicht erst denken. Bedrückt senkte Laura den Blick und blinzelte eine Träne weg. Inzwischen vermisste sie Lissis unnötigen Kommentare… Sie vermisste Benni… Laura kniff die Augen zusammen und biss sich auf den Zeigefinger, als könnte sie so zumindest versuchen das Schluchzen zu verhindern. Doch natürlich gelang es nicht. Es hatte sich all die Zeit nur angestaut und jetzt, mit einem Mal…  Es war einfach zu viel. So sehr sich Laura auch für den Rest freute… Sie hatte Benni trotz allem noch nicht zurück!!! Entfernt nahm Laura wahr, wie ihr Schluchzen das Lachen der restlichen Anwesenden im Keim erstickte. Es tat ihr so leid… Sie wollte diese gute Laune nicht zerstören! Sie wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass diese heitere Stimmung zerbrach! Und doch… Sie konnte sich einfach nicht mehr zusammenreißen. All die Zeit hatte sie um Selbstbeherrschung gekämpft. Hatte dafür trainiert, dass sie Benni irgendwann zurückholen könnte. Und nun war fast jeder zurückgekehrt… Jeder! Außer Benni. Erneut schluchzte Laura, dieses Mal konnte sie es gar nicht mehr verhindern. Sie spürte, wie jemand sie in die Arme nahm. Als Laura Carstens vertrauten Duft bemerkte verlor sie jegliche Selbstbeherrschung, um die sie zuvor noch gekämpft hatte. Es war zu viel. Es war einfach viel zu viel. Weinend krallte sie sich an Carstens T-Shirt fest. Ließ ihren Tränen freien Lauf, die sich seit über zwei Monaten angestaut hatten. Sie schrie als hätte sie jetzt erst wirklich realisiert, dass Benni nicht mehr da war. Es war so ungerecht! Es war alles so unfair!!! „Ich will das nicht mehr!!!“ Sie spürte, wie Carsten seinen Griff verstärkte. Dabei hatte er selbst doch eigentlich überhaupt keine Kraft mehr. Es war seine Psyche, die dem Wahnsinn zu verfallen drohte! Und trotzdem musste er sich jetzt um Laura kümmern, musste sie drücken und trösten, ihr versichern, dass alles gut werden würde. Und er selbst brauchte das mehr als jeder andere in diesem Raum… Es war zu viel. Viel zu viel… … „Was denkt ihr… Warum ist Benni nicht dabei?“, hörte sie schließlich Öznur fragen. Vorsichtig und ängstlich, da sie ganz genau wusste, was diese Frage, oder eher die Antwort, bei einigen auslösen könnte. Es war Konrad, der mindestens genauso bedrückt antwortete: „Ich glaube nicht, dass wir diese Vermutung in Worte fassen können… Oder wollen…“ „Wir haben gehört, dass wohl ziemlich viel Bewegung in der Unterwelt ist.“, bestätigte Ariane, eine Hand auf Lauras Rücken. „Und nach dem, was heute Abend alles passiert ist…“ Laura meinte, Wolf leise winseln zu hören. Daraufhin sagte Kito plötzlich: „Er sprach, dass der Wille seines jüngeren Bruders nicht mehr der seinige ist.“ Kito hatte Benni nicht kennenlernen können. Dennoch klang ihre Stimme vorsichtig, als wäre sie sich der Schwere dieser Aussage vollkommen bewusst. Aber nicht ihrer Auswirkungen. Laura konnte nicht sagen, wie der Rest reagierte. Einfach aus dem Grund, da diese Nachricht sie in eine abgrundtiefe Finsternis riss. Sie schrie, als wäre sie gefangen, sie weinte, als würde man ihrem Körper unsagbare Qualen zufügen. Und so, wie Carsten sich an sie klammerte, wie er sie fast zerquetschte, erging es ihm haargenau so. Laura spürte, wie Ariane sie und Carsten gemeinsam umarmte. „Hey ihr zwei, das wird schon wieder. Wir werden einen Weg finden, ihn zu retten.“ Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Nein, es gibt keinen. Wir sind zu spät… Es war alles umsonst…“ „Verdammt, jetzt reißt euch mal zusammen!“, rief Anne. „Es ist ja nicht so, als wäre er gestorben!“ „Es macht keinen Unterschied!“, schrie Carsten und sprang auf. „Wenn Benni Mars‘ Dämonenbesitzer geworden ist, ist es nicht anders als wenn- Als wenn…“ Ihr Herz wurde zerquetscht. Die plötzliche Kälte machte es umso schlimmer. Diese Leere. Ariane drückte Laura sofort noch fester an sich, doch es half nichts. Wie könnte das Licht im Nichts existieren? „So ein Blödsinn, ihr übertreibt.“, versuchte Eagle beide zu beruhigen. Erfolglos. Schließlich meinte Florian zerknirscht: „Es gibt nur einen Weg, eine einzige Situation, wann der Dämon tatsächlich gezwungen ist, seinen Dämonenbesitzer zu verlassen. Und das ist…“ „… der sichere Tod.“, beendete Konrad zitternd Florians Satz. Laura hörte einen Schlag, ein Splittern, fast so als habe man ihr Herz zertrümmert. Sie hörte Eagle fluchen und nahm nur entfernt wahr, dass Carsten neben ihr sein Wasserglas zerschlagen hatte. Es war alles zerstört. Alles in Scherben. Nun gab es keine Hoffnung mehr. Nichts mehr. Gar nichts. Benni würde sie nie mehr in den Armen halten können. Er würde sie nie wieder küssen. Es war unmöglich, das zu überleben. „Wir finden eine Alternative, ganz sicher!“, rief Susanne über das Schluchzen und die Verzweiflung hinweg. „Es… Wenn wir… wenn ich…“ Laura meinte, einen Stuhl rücken zu hören, als Susanne aufstand und mit fester Stimme meinte: „Es wird schwierig, keine Frage. Aber wenn wir es richtig anstellen, könnte ich… werde ich ihn heilen.“ Es dauerte lange, sehr lange, bis ihre Worte Laura erreichten. Bis ihre aufgelösten Gefühle sich soweit beruhigt hatten, dass sie Susannes Aussage verarbeiten konnte. Jeder Satzteil, jedes Wort, jeder Buchstabe, alles musste bis ins kleinste Detail untersucht werden. Erst dann, als sie sich ganz sicher war, dass sie diese Worte wirklich gehört hatte, diese Zuversicht wirklich gespürt hatte, dann erst wagte Laura es sich aus Arianes Umarmung zu lösen und aufzublicken. Alle Augen waren auf Susanne gerichtet, das Mädchen mit den schulterlangen gewellten Haaren und den blaugrünen Augen. Augen, die selten so viel Überzeugung ausgestrahlt hatten wie eben gerade. „Aber… wie…“, setzte Carsten an, absolut hoffnungslos, absolut verzweifelt. „Ich… ich konnte Naoki opfern, um jemand anderes vor dem sicheren Tod zu retten. Vielleicht könnte ich… nein, ich kann Benni vor dem sicheren Tod retten, wenn ich dafür jemand anderen…“ Anne nickte. „Es wird mehr als genug Untertanen von Mars geben, die den Tod doppelt und dreifach verdient hätten.“ „Aber…“ Laura schluchzte. Sie weigerte sich, diese Hoffnung anzunehmen. Sie schaffte es nicht, nach diesem einen Strohhalm zu greifen, der sie zurück ins Licht ziehen könnte. „Aber Susi, du kannst doch nicht… Dafür müsstest du…“ „Ich kann meine Energie verwenden. Ich weiß es. Und ich werde es, sobald es nötig ist.“ Susanne lächelte sie an. Ein heilendes Lächeln, wie es nur die Besitzerin des Pinken Bärs haben konnte. Die Herrscherin über die Heilung. Sie ging um den Tisch herum zu Laura und Carsten rüber. Während Ariane immer noch Laura im Arm hatte, hielt Eagle seinen kleinen Bruder in etwas, was sowohl eine Umarmung sein könnte, als auch ein Versuch Carsten bewegungsunfähig zu machen. Erst jetzt bemerkte Laura schaudernd, wie sich tatsächlich Splitter des Glases in seine Hand geschnitten hatten. Nur widerwillig ließ Eagle ihn los, als Susanne Carstens verwundete rechte Hand in ihre nahm. Mit einem Zauber ließ sie alle Glassplitter herausfliegen. Es war fast wie ein Glitzern und wirkte gar nicht so, als hätten sie sich so tief unter jemandes Haut bohren können. Dann erfüllte ein wärmendes rosa Strahlen den Raum, was nicht nur die Schnittwunden, sondern auch die Stichverletzung und die Verbrennungen von den Schwarzmagie-Ritualen verschwinden ließ. Gleichzeitig hatte Laura den Eindruck, dass sich eine seltsame Leichtigkeit in ihrem Körper ausbreitete. Beinahe schon die Zuversicht, dass alles gut werden würde. Ungläubig starrte Carsten Susanne an. Auf ihrer Haut zeichneten sich genau dieselben Verletzungen ab, die zuvor seinen Körper geplagt hatten. Doch sie verheilten so schnell, dass man meinte dabei zusehen zu können. Erneut lächelte Susanne. „Ich kann euch nicht versprechen, dass es leicht wird, aber… Was war hier schon jemals leicht? Doch eines kann ich euch versprechen: Ich kann ihn retten. Und ich werde es.“ Schweigen breitete sich aus. Es lag so viel Gewicht in Susannes Worten, so viel Hoffnung und Zuversicht, dass niemand es wagte sie verklingen zu lassen. Beinahe als hätten sie die Angst, dass die Seifenblase dieses Traumes platzen könnte, wenn jemand etwas sagte. Und doch war ihr Blick so stark, so überzeugend, dass die Seifenblase hart wie Stahl wirkte. Konrad spann diesen Gedanken weiter. „Benni ist hart im Nehmen. Sobald wir es schaffen, dass die Verletzung tödlich scheint, sodass Mars die Flucht ergreifen muss, sie aber nicht direkt tödlich ist, sodass wir genug Zeit für das Ritual haben, könnte Susanne ihn danach noch schnell heilen.“ Seufzend verschränkte Florian die Arme vor der Brust. „Das wird unglaublich viel Präzision und noch mehr Glück fordern.“ „Aber es ist besser als nichts!“, warf Ariane ein. „Und Benni ist schon aus so vielen kritischen Situationen mit dem Leben davongekommen.“ „Ich will mich darauf nicht verlassen müssen…“, meinte Laura, immer noch leicht schluchzend. „Das bedeutet nicht, dass wir uns auf dieser Lösung ausruhen werden.“, meinte Florian bestimmt. „Wir werden nach Alternativen suchen, die mehr Garantie haben und weniger von Glück abhängig sind. Aber zumindest haben wir einen Weg.“ Es fiel schwer, sich damit zufrieden zu stellen. Aber sie hatten recht, es war besser als nichts. „Du… du würdest das wirklich tun, Susi?“, fragte Carsten, wie Laura trotz allem noch nicht in der Lage, das glauben zu können. Erneut dieses sanfte Lächeln. „Natürlich.“ Mit einem Schlag schien die Anspannung aus Carstens Körper zu weichen, als er sich erleichtert bedankte. Und zwar nicht nur einmal, auch nicht zwei- oder dreimal. Es schienen unzählige Male. Und die Art, wie er Susanne umarmte, der Ton seiner immer noch zitternden Stimme… All das sprach noch viel mehr Dankbarkeit aus als er in Worte fassen konnte. Laura selbst wusste noch gar nicht, was sie darüber denken konnte. Oder gar wie sie sich fühlen sollte. Ein Krieg zwischen Erleichterung und Anspannung. Zwischen Zuversicht und Zweifel. Sie hatte es so gut wie nie aus ihrem Kopf bekommen. Dieses ‚Aber‘. Es war das Teufelchen auf ihrer Schulter, was alle Hoffnungsbekundungen des Engelchens zerstörte. Was jedes logische Argument zunichtemachen konnte. Obwohl das Engelchen sie anschrie, dass alles gut werden würde. Dass sie in Susanne und ihre Fähigkeiten vertrauen solle. Dass Benni wirklich immer, aus egal welcher bedrohlichen Situation, irgendwie mit dem Leben davongekommen ist. Aber was, wenn es dieses Mal anders ist? Nein! Nein, ist es nicht! Es wird alles gut! Aber bist du da dir da auch ganz sicher? … Plötzlich nahm Ariane sie wieder in die Arme, fast schon als habe sie den Streit in ihrem Inneren mitbekommen. „Es wird alles gut. Du wirst schon sehen, Benni wird zu uns zurück kommen. Egal, was dir dein Pessimismus auch weismachen will.“ Laura meinte fast das Teufelchen fauchen zu hören, als Ariane dies mit solcher Zuversicht sagte, als sei Benni schon auf dem Weg zu ihnen. Und dann verschwand es. Einfach so. Laura war sich ziemlich sicher, nicht lange von diesen Zweifeln verschont zu bleiben. Doch für diesen einen Moment lehnte sie sich einfach gegen ihre beste Freundin und atmete tief durch. Nur einen Moment. Eine kurze Pause. Nach einiger Zeit, als so halbwegs wieder Normalität eingekehrt war und sie alle aufgegessen hatten, stand Carsten auf und verabschiedete sich. Er wollte noch einmal zum Krankenhaus und würde wahrscheinlich auch dort übernachten, sodass er direkt da sein konnte, falls es jemandem schlechter ginge. Namen vermied er, obwohl jeder wusste, von wem er redete. Auch Anne verabschiedete sich mit dem Vorwand, nach ihrer Mutter schauen zu wollen. Doch auch sie hatte nicht vor zurückzukommen. Weil es für die jüngeren ihrer Gruppe bereits Schlafenszeit war, machte sich auch Ituha mit Kito und Risa auf den Weg. Da sie sich ohnehin um die zwei achtjährigen Mädchen kümmerte, machte es für sich auch keinen Unterschied mehr, dass sie auch den zehn- bis elfjährigen Jungen bei sich aufnahm. Belustigt schüttelte sie den Kopf und meinte, wohl eher zu sich als dem Rest: „Ich wollte nur eine Tochter und was habe ich? Ein blindes Mädchen aus Terra, den Dämonenbesitzer aus Cor und eine kleine Dryadin, für die ich die Nanny spielen muss.“ „Es tut mir wirklich leid, ich hoffe du sagst, wenn es zu viel für dich wird.“, entschuldigte sich Saya, doch Ituha winkte ab. „Ach was, das sind ja zumindest keine plärrenden Quälgeister mehr.“ „Johannes, hast du inzwischen eigentlich deine Eltern benachrichtigt?“, erkundigte sich Susanne, doch der Junge schüttelte den Kopf. „Überlasst das alles mir.“, meinte Ituha direkt und warf der Gruppe ein für die muskulöse Indigonerin ungewohnt mütterliches Lächeln zu. „Ruht ihr euch erstmal aus.“ Einige erwiderten das Lächeln, andere sprachen ihren Dank aus. Ituha wuschelte noch einmal durch Eagles kurze Haare, dann machte sie sich mit den Kindern auf den Weg zu ihrer Bar, wo sie in den oberen Etagen ihre Wohnung hatte. Der Rest setzte sich ins Wohnzimmer. Jeder in seine eigenen Gedanken vertieft, irgendwo anders und doch beim selben Thema. An wen Laura ununterbrochen dachte war wohl überflüssig zu erwähnen. Saya war die erste, die das Schweigen brach: „Konrad, ich habe gehört, dass du auch schwarze Magie beherrschst…“ Und sofort dachte jeder an dasselbe. An dieselbe Person und, soweit möglich, an dieselbe Situation. Seufzend lehnte sich Konrad zurück und kraulte Wolf hinter den Ohren. „Das klingt ganz so, als würde es sich die letzte Zeit nicht wirklich verbessert haben.“ „Na ja…“ Schließlich schaffte Laura es, sich zu überwinden. Ihre Vermutung zu äußern, dass Carsten vorhin tatsächlich Halluzinationen gehabt hatte. Sich an ganz anderen Orten zu ganz anderen Zeiten befunden hatte. Der Schock saß tief, selbst bei denen, die diesen Moment eigentlich mitbekommen hatten. So wirklich wahrhaben wollte es niemand. Konnte es auch niemand. Zitternd verschränkte Saya die Arme vor der Brust und schaute den Vampir an. „Ist… ist das normal? Kann man da nichts dagegen machen?“ Konrad tauschte einen Blick mit seiner Verlobten aus, doch sie beide brachten keine Antwort über die Lippen. Stattdessen meinte Florian: „Das ist alles seltsam. Ich habe im Krieg gegen viele Vampire gekämpft, die Schwarzmagie verwendet haben. Aber… Etwas in diese Richtung habe ich nie mitbekommen.“ Schließlich antwortete Rina: „So etwas bekommt man auch nicht mit, wenn man sich im Kampf befindet. So etwas erfährt man erst danach. Diejenigen, die von der Schwarzmagie den meisten Schaden erleiden sind der Magier selbst und seine Familie und Freunde. Nicht die Feinde.“ Zitternd atmete Laura ein und klammerte sich an Arianes Arm, die neben ihr auf dem Teppichboden saß. Wobei man nicht genau sagen konnte, wer der beiden sich an wem festhielt. „Was… Wie… war das bei euch damals?“ Die roten Vampiraugen gesenkt, antwortete Konrad: „Ich… ehrlich gesagt fällt es mir schwer, über damals zu sprechen…“ Er atmete tief durch und schaffte es schließlich in die Runde zu blicken. „Aber demzufolge was ihr erzählt habt, sollte ich das. Es fing harmlos an, so harmlos, dass ich es eigentlich gar nicht bemerkt habe. Ich hatte Albträume und wurde emotionaler um nicht zu sagen aufbrausender, aber…“ „Wir hatten das auf den Krieg geschoben.“, fuhr Rina seine gequälte Erzählung fort. „Es war eine schlimme Zeit und natürlich macht das einem zu schaffen. Doch irgendwann… Irgendwann, da wurde es zu viel. Konrad ging viel zu leicht in die Luft, der kleinste Kommentar machte ihn aggressiv.“ Laura biss sich auf die Unterlippe. Richtig aggressiv, im Sinne von gefährlich, ist Carsten eigentlich nie geworden. Aber sie konnte ihn trotzdem in der Erzählung wiederfinden. „Dabei solltet ihr immer im Hinterkopf haben, dass diese Folgen von Person zu Person verschieden sind.“, meinte Konrad. „Für mich war es die ständige Konfrontation mit dem Krieg, die schließlich mein aggressives Verhalten beeinflusst hatte.“ „Als es stärker wurde, haben wir angefangen zu recherchieren.“, erzählte Rina weiter. „Nie wurde auch nur in irgendeiner Weise erwähnt, dass mit der schwarzen Magie auch psychische Schäden einhergehen. Und das aus gutem, aber dafür umso schockierenderem Grund.“ Konrad nickte. „Die Magier selbst bemerken es nicht. Und wenn sie es bemerken, dann ist es schon zu spät.“ „Was?!“, schrie Öznur entgeistert auf, während sie sich an Eagle klammerte, der kreidebleich schien. „A-aber… wieso?!“ Betroffen schaute Susanne den Vampir an, der all das selbst hatte erleben müssen. „Es… man könnte es als eine Sucht beschreiben.“, versuchte er zu erklären. „All die anderen Zauber wirken machtlos im Vergleich zur Schwarzmagie. Dieses Gefühl von Macht, von Freiheit, die Fähigkeiten alles zu erreichen, was auch immer man sich vorstellt. Es… Es ist…“ Er stockte und schüttelte den Kopf. „Es ist wie als hätte man keine Alternativen mehr. Man will keine Alternativen mehr. Die Macht, die man während eines Schwarzmagie-Rituals hat sorgt dafür, dass einem alles andere egal ist. Und deshalb ist es schon zu spät, sobald man erkennt, was mit einem vor sich geht. Weil man bereits gefangen ist zwischen absoluter Macht und vollkommenem Wahnsinn.“ Nachdenklich nickte Florian. „Das würde zumindest zu meinem Bild von Schwarzmagiern passen. Sie haben sehr viel schwarze Magie angewandt. Viel zu viel.“ Konrad nickte. „Die meisten finden an Blutverlust den Tod.“ „Und das erklärt, warum du noch hier bei uns bist…“, stellte Florian betroffen fest. „Da du mit der Blut-Energie nicht auf dein eigenes für die schwarze Magie zurückgreifen musstest.“ Eine Gänsehaut breitete sich auf Lauras Armen aus. War es das? War das das Schicksal eines Schwarzmagiers? „Aber… Aber du bist doch irgendwie aus diesem Teufelskreis herausgekommen!“, stellte Susanne verzweifelnd und auch hoffend fest. Konrad nickte. „Über einen alles andere als schönen Weg.“ Eine unausgesprochene Aufforderung lag in der Luft, dass Konrad von diesem Weg erzählen sollte. Dass er ihnen irgendwie sagen sollte, wie sie Carsten retten konnten. Wie sie verhindern konnten, dass er in diesen Kreislauf geriet und darin gefangen blieb. „Es… im Prinzip war es Rina.“, gab er schließlich dem lautlosen Flehen nach. „Ich hatte mich irgendwann überhaupt nicht mehr unter Kontrolle. Am Ende hatte sie mir nur mitteilen müssen, dass die Krawatte schief sitzt und ich bin ausgerastet. Irgendwann… Da…“ Die Stimme des Vampirs brach. Was auch immer es war, es belastete Konrad wohl nach all der Zeit noch so sehr, dass er nicht darüber reden konnte, ohne, dass die Vergangenheit ihn zu sehr einholte. Rina strich über die zur Faust geballten Hand ihres Verlobten, als sie seine Erzählung fortsetzte. „Trotz Konrads Wutausbrüche blieb es eigentlich immer nur auf verbaler Ebene. Er hatte geschrien, mich beleidigt… Es war nicht schön, aber ich habe versucht es runterzuschlucken. Mir zu sagen, dass es nur diese eine Phase ist. Dass es wieder gut werden würde, wenn der Krieg nur endlich vorbei wäre. Doch irgendwann… da wurde er plötzlich handgreiflich. Er hatte mich zurückgestoßen und machte Anstalten mich zu schlagen.“ Laura entwich der Atem, sie schaute das Vampirpaar schockiert an. Er hatte was?! Selbst wenn Konrad eher in die emotionale Richtung ging, war er doch eigentlich immer ein ruhiger, besonnener Typ. Und am allerwichtigsten: Er würde niemals jemanden verletzen wollen, der ihm wichtig war. Selbst wenn Laura den Vampir nicht sonderlich gut kannte wusste sie das. Schließlich waren er und Rina Schlüsselfiguren von Bennis Kindheit. Noch dazu waren Konrad und Rina das prägendste Paar für ihn gewesen und Laura hatte tatsächlich häufiger Gesten von ihm ihr gegenüber bemerkt, die Ähnlichkeiten mit dem Vampir hatten. Fast so, als hätte Benni bei ihnen gesehen, wie sich ein Liebespaar verhielt. Und eine Sache stand fest: Selbst in den Trainingskämpfen war Benni immer extrem darauf bedacht gewesen, dass sie sich nicht verletzte. Er würde ihr niemals Schaden zufügen wollen. Falls er körperlich überhaupt dazu in der Lage war. Mit diesem Wissen war es umso schockierender, dass Konrad gewalttätig geworden war. „A-aber… Und wie… Was…“ Rina seufzte. „Keine Sorge, es ist nie so weit gekommen.“ Verbittert lachte Konrad auf. „Und das aus gutem Grund…“ „… Ich sagte: ‚Wenn du jetzt zuschlägst, hast du mich für immer verloren.‘ Danach kam er wieder zu sich. Es war schwer, aber schließlich haben wir es doch geschafft und die schwarze Magie besiegt.“ „… Das erklärt, warum du im Kampf gegen mich keine schwarze Magie mehr verwendet hattest, obwohl du bei den Elben schon berüchtigt dafür warst.“, meinte Florian nachdenklich, eher zu sich selbst. „Ich wollte es nicht mehr.“, erwiderte Konrad trostlos. „Ich konnte das nicht mehr… damit leben. Mit diesem Wissen, zu was für einem Monster ich dadurch werde… Dass ich selbst die wichtigste Person…“ Dieses Mal konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Sanft nahm Rina ihn in die Arme und bei der plötzlichen Kälte rückte auch Laura näher an Ariane, die wiederum sowohl sie als auch Johanna enger an sich drückte. Auch den Rest hielt diese gequälte Erzählung gefangen. Man konnte deutlich spüren, wie die Vergangenheit noch über ihnen loderte, obwohl sie über zwanzig Jahre zurück lag. Wie sich jemand durch die schwarze Magie plötzlich von seinen Prinzipien abzuwenden drohte und was für Folgen das für diese Person so viele Jahre später noch haben konnte. Laura bemerkte, wie sich Saya gegen Eagle lehnte, als hätte die Erkenntnis, was ihrem zweiten Stiefsohn drohte, ihr jegliche Kraft geraubt. Eagle wirkte zwar weniger überrascht, dafür aber umso verbissener und verzweifelter. Er hatte von Anfang an befürchtet, dass es so ausgehen könnte. War all die Zeit schon von diesen Ängsten geplagt. Schließlich atmete Konrad tief durch, beinahe so als müsse er sich mit aller Kraft zur Ruhe zwingen. „Ich habe mich nicht grundlos dazu durchgerungen, euch davon zu berichten. Nach allem was ihr erzählt habt ist mir eine Sache aufgefallen.“ Erneut atmete er tief durch und sein ernster Blick brachte Lauras Herz zum Stillstand. „Das alles entwickelt sich bei Carsten viel zu schnell.“ „Was?!“ Eagle war aufgesprungen, seine Stimme klang fast wie ein Donner. Zeitgleich fühlte sich Laura wie vom Blitz erschlagen. Was hatte er… Carsten… Zu… Zu schnell? Rina nickte. „Diese Zeit zwischen den emotionalen Ausbrüchen und… und dem Eindruck, dass wirklich etwas nicht in Ordnung ist. Das hat bei Konrad vielleicht so zwei bis drei Jahre gebraucht. Halluzinationen hatte er in dem Zeitraum noch überhaupt keine gehabt.“ Konrad nickte. „Doch bei Carsten ist wieviel Zeit vergangen? Zwei Monate?“ Kraftlos sackte Eagle zurück aufs Sofa. „Seine Schwarzmagier-Prüfung liegt etwa einen Monat zurück…“ „A-aber…“, setzte Laura an, irgendwie in der Hoffnung ihnen widersprechen zu können. Doch es gab nichts. „Aber wieso?!“, fragte Öznur verzweifelt. Nachdenklich verschränkte Lissi die Arme vor der Brust. „Könnte es sein, dass die Psyche des Magiers Auswirkungen darauf hat?“ Konrad nickte. „Genau das ist meine Vermutung.“ „Aber wieso sollte Carstens Psyche Auswirkungen auf die schwarze Magie haben?!“, fragte Öznur ungläubig. „Es war doch bisher alles in Ordnung! Klar, es gab Sachen, die ihn belastet haben, aber…“ Eagle ballte die Hand zur Faust, seine Stimme war kaum wiederzuerkennen, als er zitternd fragte: „Es ist meine Schuld, nicht wahr? Unsere Kindheit, das FESJ, …“ „Aber er hat immer so normal gewirkt!“, widersprach Öznur verzweifelt. Laura rieb sich die Oberarme. Ihr war eiskalt. „Genau… Gewirkt.“ „Erinnert ihr euch noch, als wir damals in Terra waren?“, rief Lissi ihnen ins Gedächtnis. „Oder an seinen Albtraum kurz danach? Oder seine Reaktion, als Öznur ihn gefragt hatte, wie er eigentlich sonst so seine Ferien verbracht hatte?“ „Auch damals bei der Abendgesellschaft… Er hatte schon fast panisch gewirkt, als er den Direktor des FESJ einfach nur gesehen hat.“, erinnerte sich Ariane. Konrad seufzte. „Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass seine Psyche von all dem unbeschadet geblieben ist. Selbst Benni hatte mal so eine Befürchtung geäußert.“ „Es kann gut sein, dass sich beides gegenseitig verstärkt.“, setzte Rina ihre Vermutungen fort. „Wie bei Konrad mit dem Krieg damals. Selbst wenn Carsten es bisher unter Kontrolle hatte, hat er doch viele Angriffspunkte, die die Schwarzmagie allesamt ausnutzt. Sei es die Vorbelastung durch die Familie, die Schule, das FESJ, … Einfach alles. Das gepaart mit einer schwachen Psyche ist wie eine Vorerkrankung, wenn man eine Grippe bekommt.“ Susanne nickte schwach. „Das ergibt Sinn…“ Mitleidig bemerkte Laura, wie besonders Saya dieses Wissen zu schaffen machte. „Und trotz allem habe ich nie etwas bemerkt… Habe ich nie etwas dagegen getan…“ „Aber du hast ihn doch so gut es geht unterstützt.“, versuchte Öznur ihr die Selbstvorwürfe auszureden. „Nein, nicht genug!“ Verzweifelt wischte sich Saya eine Träne aus den Augen. „Es hat sich schon so früh angedeutet! Ihr… ihr müsst wissen, dass Carsten weder im Kindergarten noch in der Grundschule Anschluss finden konnte. Die Erzieherinnen fanden es seltsam, dass er nie mit anderen Kindern gespielt hatte, aber ich dachte einfach, dass er zu weit entwickelt für sie war! Carsten hatte halt schon immer viel lieber gelesen als Fangen zu spielen! Er beherrschte bereits mit vier alle Grundrechenarten! Deshalb hatten wir ihn ein Jahr früher einschulen lassen. Doch in der Grundschule waren seine Leistungen immer nur befriedigend und die Lehrer beklagten sich, dass er im Unterricht nie mitarbeite und ständig abwesend wirke. Und selbst wenn sie die Fragen direkt an ihn richteten, sagte er entweder gar nichts oder stammelte etwas komplett Falsches!“ Schluchzend fuhr sich Saya erneut über die Augen. „Die Lehrer wollten ihn wieder ein Jahr zurückversetzen. Sie meinten, dass er wohl noch nicht reif genug war. Da uns nichts Besseres einfiel hatten wir dem zugestimmt, aber es wurde nur noch schlimmer! Carsten hatte all das immer nur wortlos über sich ergehen lassen, hatte nie protestiert, wenn ich ihm solche Vorschläge gemacht habe. Aber irgendwann begann er morgens ständig über Bauchschmerzen zu klagen. Ich ließ ihn einen Tag daheim, dachte, am nächsten bessert es sich, doch es kam wieder und wieder! Also nahm ich ihn mit ins Krankenhaus, um ihn untersuchen zu lassen… Und… und da… Er war auf einmal ein ganz anderer Mensch! Er ist richtig aufgeblüht! Hat sich mit Kollegen von mir unterhalten, als wäre seine Schüchternheit nie da gewesen! Er redete mit ihnen über Medizin, einige nahmen ihn sogar mit zu Operationen oder ins Forschungslabor!“ Sie verbarg ihr Gesicht hinter den Händen. „Doch an seiner schulischen Situation hatte das trotzdem nie was geändert. Er brachte bei Klassenarbeiten eine vier nach der anderen heim, häufig mit dem Kommentar ‚vom Nachbarn abgeschrieben‘.“ Es war ein lähmendes Gefühl was sich in Laura ausbreitete, als Sayas Schluchzen das einzige war, was den Raum füllte. Sie hatte gewusst, dass Carsten Schule schon immer gehasst hatte. Natürlich hatte sie das auf seine Schüchternheit und insbesondere auf Eagle geschoben gehabt. Aber dass es so schlimm gewesen ist… Das hatte sie sich doch nicht vorstellen können. Auch der Rest konnte Sayas Erzählung nur mit Mühe verarbeiten. Eagle am allerwenigsten, der ruckartig aufstand und den Raum verließ. Öznur rief ihm hinterher, er solle zurückkommen, doch natürlich half das nichts. Mit einem entschuldigenden Blick stand auch sie auf, um ihm zu folgen. Laura ballte die Hände zu Fäusten, bis sich ihre Fingernägel in die Handflächen schnitten. Tränen brannten in ihren Augen. „Und nach all dem habt ihr ihn auch noch aufs FESJ geschickt?“ Weinend versuchte Saya sich zu erklären, brachte jedoch nichts über die Lippen. Stattdessen war es Rina, die antwortete: „Konrad und ich hatten diesbezüglich häufiger im Internet recherchiert. Schon damals, als man Benni wegen des Vorfalls mit den Profi-Kampfkünstlern dort einweisen wollte. Und auch später, als es um Carsten ging und Benni versucht hatte alles über diese Anstalt in Erfahrung zu bringen.“ Konrad nickte. „Im Internet hat die Schule eigentlich ganz seriös gewirkt. Sehr strenge Regeln, aber alles mit der Begründung, dass ‚schwer erziehbare Kinder‘ eine starke Hand bräuchten, um sie auf den rechten Pfad zurückbringen zu können.“ „Wir haben die Form des Erziehungsstiles nicht unterstützt und waren damals auch entsprechend froh, dass Leon Lenz Benni nur verbannt hatte. Aber in den Medien wurde eigentlich nie etwas Schlechtes über die Schule berichtet.“ Ariane erwiderte darauf nur zerknirscht: „Könnte das nicht absolut einseitige Berichterstattung und Kontrolle sein? Immerhin haben wir doch schon festgestellt, dass Mars gerade in Terra seine Finger im Spiel hat.“ Seufzend nickte Florian. „Das ist leider sehr wahrscheinlich. Aber für jemanden, der keine oder nur kaum Ahnung hat…“ Plötzlich richtete Lissi sich auf, jeglicher lockere, unbekümmerte Blick war aus ihren Gesichtszügen verschwunden. „Seht es doch endlich ein, wir wissen nur von zwei vielleicht vier Leuten, die uns wirklich erzählen können, was in dieser Schule vor sich geht. Einer davon hatte vor wenigen Monaten einen unkontrollierbaren Wutausbruch bekommen, weil einfach nur der Name dieser Schule erwähnt wurde! Und der andere schafft es nicht, auch nur ein Wort dazu zu äußern. Vielleicht wissen Benni oder Herr Bôss noch etwas, aber ansonsten können wir nicht sagen, wie es innerhalb dieser Mauern aussieht und wie dort die Schüler behandelt wurden.“ Betreten senkte Laura den Blick. Lissi hatte recht. „Benni hatte mal angedeutet, dass die Strafen ziemlich ‚unmenschlich‘ wären. Also, dass man drei Tage lang nichts zu Essen bekommt, wenn man dabei erwischt wird, dass man im Unterricht nicht aufgepasst hat. Aber…  Mehr hat er mir auch nie erzählt…“ Ariane seufzte. „Also krass ist das schon. Ich dachte eigentlich, dass die anderen Schüler dafür verantwortlich sind, warum diese Zeit Carsten so belastet. Immerhin ist die Anstalt ja im Prinzip für minderjährige Verbrecher gedacht…“ „Dass die Strafen brutal sind, kann man sich schon vorstellen. Aber ich dachte immer in die Richtung alte Schule und Rohrstock.“, gestand Susanne, woraufhin Laura und einige andere bedrückt nickten. Erst jetzt wurde Laura bewusst, wie wenig sie doch wussten. Eigentlich… Eigentlich wussten sie rein gar nichts. Lissi hatte recht, Carsten schaffte es so gut wie gar nicht darüber zu reden. Jack hatte zumindest damals seine Gefühle überhaupt nicht unter Kontrolle gehabt. Und von Herr Bôss oder Benni hatten sie nie wirklich was erfahren. „Du… du hast bereits Vermutungen, oder?“, fragte Susanne ihre Zwillingsschwester. „Schon seit längerem…“ Seufzend setzte sich Lissi wieder hin. „Ihr… solltet nächstes Mal vielleicht mal einen Blick auf Jacks Oberkörper werfen. Und wenn Carsten schon die Verbrennungen mit Magie versteckt hatte… Da will ich nicht wissen, was sich sonst noch so darunter verbirgt.“ Laura wurde schlecht. Also ihr wurde richtig, richtig schlimm übel. Was hatte Lissi da vermutet? Was hatte diese Andeutung zu bedeuten? „Du… du glaubst…“ Sie zitterte, war mal wieder kurz davor loszuweinen. „… Dass die Schüler dort bei den ‚unmenschlichen‘ Bestrafungen gefoltert werden? Ja, das glaube ich schon lange.“ Das war ein Scherz. Das konnte nicht wahr sein! So ging doch keine Schule mit ihren Schülern um!!! Aber es war so logisch, warum sonst würde Benni ihr so wenig- Nein! Das- das war… Der gesamte Raum befand sich wie in einer Schockstarre. Nur Laura vergrub ihr Gesicht hinter den Händen, verkrallte die Finger in den Haaren, während ein tosender Schmerz in ihrer Brust tobte. Das war es, was Benni ihr all die Zeit verschwiegen hatte? Das war es, was Carsten ständig hatte mit sich herumtragen müssen?! Kapitel 84: Zwischen Gegenwart und Vergangenheit ------------------------------------------------ Zwischen Gegenwart und Vergangenheit       Ariane blickte die hölzerne Fassade des Krankenhauses hinauf und zupfte an dem T-Shirt, was Saya ihr zum Wechseln aus Carstens Kleiderschrank geholt hatte. Bis auf Öznur hatte natürlich niemand von ihnen etwas Anderes als die Schuluniform hier in Indigo, und es hatte sich auch niemand getraut zurück zur Coeur-Academy zu teleportieren, um Wechselsachen zu holen. Selbst wenn Carstens Zauber die Zerstörung zum Großteil verhindert hatte… Niemand wagte es in Erfahrung bringen zu müssen, wie der Schulcampus nun wohl aussah. Dafür waren die Erinnerungen an gestern Abend noch zu frisch. Saya selbst war eine sehr zierliche Person, weshalb nur Laura und Janine ihre Kleidung gepasst hatten. Diejenigen unter ihnen, die auch nur ein bisschen kurviger oder muskulöser waren, hatten folglich auf Oberteile von Carsten zurückgreifen müssen, die hier aufbewahrt wurden. Der Rock beziehungsweise die Hose war aber trotzdem noch von der Schuluniform. Zum Glück musste sowas nicht allzu häufig gewechselt werden wie ein Oberteil, was Ariane alleine nach ihrem gestrigen Sprint durch den Westwald schon vollgeschwitzt hatte. Lissi kicherte. „Cärstchen wird in Ohnmacht fallen, wenn er dich in seinem T-Shirt und seiner Jeansjacke sieht.“ Seufzend schaute Ariane zu Laura rüber. So hätten zumindest einige etwas zu Lachen… Laura, Ariane und Johanna hatten vergangene Nacht in Carstens ohnehin leerstehendem Zimmer übernachtet und es hatte ihr das Herz gebrochen, wie sich Laura so leise sie konnte in den Schlaf geweint hatte. Dabei hatte Ariane seit Lauras Geburtstag doch eigentlich gehofft, dass diese Zeiten endlich vorbei wären. Doch das Wissen, was anscheinend Benni widerfahren war… Die Gewissheit wie es um Carsten stand… Öznur schien etwas Ähnliches gedacht zu haben. Als sie das Krankenhaus betraten meinte sie zumindest: „Eagle würde das garantiert auch gut tun zu sehen… So normale Reaktionen von seinem kleinen Bruder…“ „Das hatte ihn gestern richtig schwer getroffen, oder?“, erkundigte sich Susanne mitfühlend, während sie den Eingangsbereich durchquerten, der mit den Pflanzen und der hellen Inneneinrichtung eigentlich ziemlich gemütlich wirkte. Öznur nickte betrübt. „Ich hab ihn noch nie so fertig gesehen. Selbst bei seinem Vater neulich…“ „Und dabei hat er noch nicht einmal alles mitbekommen.“, murmelte Ariane eher zu sich selbst. „Was ist?“, fragte Öznur irritiert, doch sie schüttelte den Kopf. „Nichts…“ Öznur ging nicht weiter darauf ein und presste nur verbittert hervor: „Und das mitten in seinen Abschlussprüfungen. Wie soll er denn so Mathe schreiben?!“ „Heute Mittag werden wir es wohl oder übel erfahren.“, meinte Laura und drückte die Türklinke des Zimmers herunter, vor dem sie schließlich angekommen waren. Als sie die Person erblickten nach der sie suchten, mussten die Mädchen leise kichern. „Ich glaube, Carsten war in seinem früheren Leben mal eine Katze.“, stellte Laura belustigt aber trotzdem flüsternd fest. Ariane unterdrückte das Lachen und nickte. Seine Schlafposition sah nicht sonderlich gemütlich aus, sodass sich automatisch jeder fragen musste, wie man so überhaupt einschlafen konnte. Er saß auf einem Stuhl, den Kopf ohne jegliche Stütze zur Seite geneigt. Ein Bein war angewinkelt und ein Arm darauf gelehnt, während der andere auf dem angrenzenden Tischchen lag. Eine nette Sitzposition war das, keine Frage. Aber damit meinte Ariane auch wirklich eine Position zum Sitzen. Und nicht zum Schlafen. Carsten murmelte etwas Unverständliches auf Indigonisch, woraufhin es den Mädchen umso schwerer fiel das Lachen zu unterdrücken. Lissi quietschte lautlos. „Cärstchen ist ein Schlafredner, wie süüüüß.“ Er verzog etwas das Gesicht und Ariane fragte sich, ob er schon wieder einen Albtraum hatte. Plötzlich schob Lissi Ariane auf ihn zu. „Na los, du solltest ihn wecken, BaNane.“ „Was- warum…“ Seufzend schüttelte Ariane den Kopf. Lissi mal wieder. Dennoch ging sie zu Carsten und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. „Guten Morgen, Carsten.“ Dieser kniff die Augen zusammen und murmelte Schlaftrunken: „Ich will nicht in die Schule…“ Wäre das Gespräch von gestern Abend nicht gewesen, hätten sie vermutlich nun allesamt loslachen müssen. Doch Saya hatte ihnen von damals erzählt. Und diese Erzählung war in allen Köpfen noch schmerzhaft präsent. Viel zu schmerzhaft. Ariane zwang sich zu einem Lächeln. „Komm Carsten, wach auf.“ Endlich öffnete er blinzelnd die Augenlider und… zuckte so erschrocken zurück, dass er fast mit dem Stuhl umgekippt wäre. Das brachte die Mädchen nun trotz gestern Abend zum Lachen. „Guten Morgen, Cärstchen.“, grüßte Lissi ihn, absolut zufrieden mit ihrer Tat. Ariane hatte immer noch die Hand auf seiner Schulter liegen -unter anderem aus dem Grund, weil sie ihn so instinktiv vorm Umkippen gerettet hatte- und fragte belustigt: „Alles okay?“ Carsten lehnte den Kopf zurück gegen die Wand und schien das Aufwachen jetzt schon zu bereuen. „Was macht ihr denn hier?“ „Was für eine Begrüßung.“ Lachend schüttelte Öznur den Kopf. Susanne kicherte. „Aber zumindest bist du nun wach, oder?“ Grummelnd wich Carsten Arianes Blick aus und richtete sich auf. Während er sich durch die kinnlangen Haare wuschelte warf er einen Blick auf die Person, die das eigentliche Bett dieses Zimmers in Anspruch genommen hatte. „Geht es ihm inzwischen besser?“, fragte Laura und gesellte sich neben ihren besten Freund, um Jack genauso wie Ariane und Carsten betrachten zu können. Obwohl Ariane nur mit viel Mühe Sympathie und Mitgefühl für diesen Typen empfinden konnte, stellte sie doch betroffen fest, dass er deutlich übler zugerichtet aussah als sie es gestern bei ihrer düsteren Umgebung hatte erkennen können. Und das lag noch nicht einmal an den Bandagen und seinem geschienten rechten Arm. Er wirkte richtig blass, fast schon blutleer, und hatte so tiefe Augenringe das man vermuten könnte, er hätte mehrere Nächte hintereinander durchgefeiert. Um die Augen herum konnte man immer noch die Entzündungen sehen, die jeder Dämonenverbundene bekam, nachdem er zu viel Energie eingesetzt hatte. Jacks Gesichtszüge ließen nicht vermuten, dass er entspannt schlafen würde und sein Atem ging flach und unregelmäßig. Seufzend betrachtete Carsten den Ständer neben dem Bett, an dem mehrere Beutel hingen, die über Schläuche mit Jacks linkem Arm verbunden waren. Einer davon war fast leer, doch man konnte immer noch rote Überreste erkennen. „Er hat ziemlich viel Blut verloren.“ Bedrückt atmete er aus. „Geht ruhig schon mal ins Café, ich komme gleich nach.“ Die Mädchen nickten, Ariane hielt ihm aber noch einen Rucksack entgegen. „Hier, Saya hat Wechselsachen für dich zusammengepackt. Sie hatte vermutet, dass du die nächsten Tage ohnehin im Krankenhaus übernachten möchtest.“ „Oh, danke.“ Carsten wollte den Rucksack nehmen, hielt in der Bewegung aber abrupt inne. Nun war es den Mädchen unmöglich, leise zu bleiben. Besonders Lissi und Öznur lachten lauthals los. Offensichtlich hatte Carsten haargenau den Blick, den sie sich vorgestellt hatten. Lächelnd und ein bisschen verlegen zupfte Ariane an ihrer, genauer Carstens Jeansjacke. „Sorry, wir haben nichts Anderes da…“ Carsten nahm den Rucksack entgegen und stammelte nur verlegen: „S-soll ich euch nachher zur Academy teleportieren?“ Laura klopfte ihm auf die Schulter. „Nicht nötig, aber danke.“ Es brauchte nur ein kleines bisschen Fantasie, um sich Dampfwolken über Carstens dunkelrotem Gesicht vorstellen zu können. Doch irgendwie war Ariane erleichtert bei seiner Reaktion. Öznur hatte recht, es tat gut den ‚normalen Carsten‘ zu sehen. Das Café wirkte genauso gemütlich wie der Eingangsbereich des Krankenhauses. Auch hier war viel in hellen Holztönen gehalten und mit grünen, saftigen Pflanzen verziert. Einige Ärzte saßen zur Kaffeepause an vereinzelten Tischen und unterhielten sich. Die Gruppe beschlagnahmte einen der größeren Tische und während Öznur gemeinsam mit Lissi immer noch schwärmte wie süß Carsten doch sei, begleitete Ariane Laura zur Kaffeemaschine. Sie ließ ihren schwarzen Tee ziehen und beobachtete, wie Laura etwas Milch in ihren gezuckerten Kaffee schüttete. „Carsten trinkt seinen immer schwarz, oder?“ Laura überlegte. „Öhm, glaube schon…“ Als Ariane eine Tasse unter die Maschine stellte und den Knopf drückte, kicherte Laura plötzlich. Ariane seufzte. „Fang du nicht auch noch damit an, bitte.“ Entschuldigend lächelte Laura. „Ich frage mich nur, wann jemand von euch endlich mal den ersten Schritt macht. Es ist doch offensichtlich.“ Erfolglos versuchte sie einen Schluck ihres Kaffees zu probieren. Er war noch viel zu heiß für sie. Ariane schnaubte. „Mensch, ich sage euch doch schon die ganze Zeit wie schüchtern ich bin.“ „Aber das ist nichts im Vergleich zu Carsten.“ „Trotzdem…“ Ariane schüttelte den Kopf und trug ihre beiden Tassen zurück Richtung Tisch, während Laura mit halb herausgestreckter Zunge versuchte ihren Kaffee zu balancieren, ohne dass er überschwappte. „Außerdem ist jetzt nicht die Zeit für sowas.“, meinte Ariane schließlich noch. „Nicht die Zeit für was, BaNane?“, fragte Lissi neugierig. „Für romantische Gefühle.“, antwortete sie ehrlich und für sensiblere Herzen wie Laura wohl etwas zu direkt. Wobei Laura in der ganzen Situation ohnehin eine Ausnahme darstellte… „Aber… wie kommst du denn darauf?“, fragte Susanne und wirkte auch überraschend betroffen. Ariane winkte ab. „Tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint. Bei dir und Miguel ist das ohnehin noch was Anderes. Und na ja… bei Laura und…“ Sie warf einen prüfenden Blick auf die Eingangstür, bevor sie schließlich seufzend hinzufügte: „Aber sind wir mal ehrlich: Wie soll man in so einer Zeit versuchen sich näher zu kommen? Ich halte von Romantik eigentlich nichts, aber ein Schlachtfeld finde ich trotzdem keinen schönen Ort für ein Rendezvous.“ „Aber gerade in so schweren Zeiten ist es doch wichtig, dass man näher rückt!“, widersprach Öznur energisch. „Klar, aber das sollte für alle gelten, und nicht nur bezogen auf die Person, an der man eventuell interessiert sein könnte.“ „Das klingt bei dir noch alles sehr hypothetisch.“, stellte Susanne fest. Laura zwirbelte eine Haarsträhne. „Sag mal, Nane… Bist du überhaupt an Carsten interessiert?“ „Stimmt, du hattest nur mal erwähnt, dass du einfach schauen möchtest wie sich das entwickelt.“, erinnerte sich Susanne. Ariane betrachtete den Kaffee, der neben ihrem schwarzen Tee stand. Der Gedanke, der sich in ihrem Kopf ausbreitete, deprimierte sie noch mehr als erwartet. „Ich will Carsten so kennenlernen wie er wirklich ist und nicht… so. Die ganze Situation gerade, die schwarze Magie, …“ Ariane ballte die Hand zur Faust. „Wenn er diese Probleme wirklich all die Zeit mit sich herumgetragen hat und Hilfe braucht, dann… dann ist das okay für mich. Wenn sie zu ihm gehören und nicht zu etwas, was aus den fürsorglichsten Pazifisten aggressive Monster machen kann.“ Tatsächlich merkte Ariane, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Während sie all das in Worte fasste wurde ihr überhaupt erst richtig bewusst, was sie wollte. Was sie empfand. „Ich… ich will den Carsten von damals zurück. Den, der mir einen anzüglichen Text aufgrund seiner Schüchternheit vollkommen falsch übersetzt. Der Berge in Bewegung versetzen würde, wenn es darum geht jemandem zu helfen. Der so heiter und sorglos lachen kann, wenn jemand wie Laura mal wieder was ganz Blödes angestellt hat…“ Schweigen breitete sich aus, nur Laura meinte noch leise: „… Das will ich auch…“ „Was ist denn euch über die Leber gelaufen?“, fragte Anne, die wenig später gemeinsam Carsten das Café betrat. „Guten Morgen, Prinzessin!“, grüßte Öznur sie. „Gut geschlafen?“ Anne betrachtete Öznur kritisch, während sie sich neben sie setzte. „Ehrliche Antwort?“ Sie schüttelte traurig lächelnd den Kopf und nahm Anne trotz deren Protest in den Arm. „Wie geht es deiner Mutter?“, erkundigte sich Janine direkt, worauf Anne nur ein Schulterzucken erwiderte. Es war so mit das erste, was Ariane an diesem Tag von Janine gehört hatte. Sie senkte den Kopf. Noch jemand, bei dem sie sich in die Vergangenheit zurücksehnte. „Alles in Ordnung?“, fragte Carsten und setzte sich gegenüber von ihr und Laura an den Tisch. Bei seinem fürsorglichen Ton und dem für ihn typischen lieben Lächeln schüttelte Ariane lachend den Kopf. Er war immer noch Carsten, das sollte sie nicht vergessen. „Ich würde mal sagen, den Umständen entsprechend.“, antwortete sie und schob ihm die Tasse mit dem schwarzen Kaffee rüber. Zwar wie immer leicht verschüchtert, aber trotzdem mit einem herzlichen Dank, nahm Carsten sie entgegen. Er hatte sich inzwischen wohl auch umgezogen, denn… „Sag mal, ist das T-Shirt neu?“ „Was?“ Carsten schreckte auf. „Also… Nein, ich hatte es schon ein einige Male getragen.“ Ariane runzelte die Stirn. „Echt? Ist mir nie aufgefallen und dabei ist rot meine Lieblingsfarbe.“ „Die Farbe steht Cärstchen richtig gut, oder?“, mischte sich Lissi ins Gespräch ein. Ariane nickte. „Ja, finde ich echt. Deshalb habe ich mich gefragt, warum mir das bisher nie aufgefallen ist.“ Während diese Aussage Carsten natürlich total verlegen machte, schüttelte Janine missbilligend den Kopf. „Schön wie gut es euch geht, dass ihr euch genug Gedanken um rote T-Shirts und Mörder machen könnt.“ Ihr Kommentar löste kollektives Entsetzen aus. Und das nicht zum ersten Mal, seit sie Janine endlich wieder bei sich hatten. „Ninie?!“ Es brach Ariane das Herz. Bei Carsten konnte sie es zumindest auf die Schwarzmagie schieben, aber bei Janine… Diese betrachtete die Gruppe verurteilend. „Dafür, dass ihr euch für so empathisch haltet, zeigt ihr beängstigend wenig Mitgefühl für die Leute, die es gerade am meisten brächten. Ohne euer Wissen hat Anne Wochen damit verbracht sich zu fragen, ob ihr dasselbe Schicksal droht wie Eagle. Und jetzt wisst ihr endlich bescheid! Ihr wisst endlich, wie kritisch es immer noch um ihre Mutter steht! Und statt euch um sie zu kümmern redet ihr lieber über neue rote T-Shirts?! Und was ist mit Laura?! Solltet ihr euch nicht lieber Gedanken machen über Wege, die Benni retten können ohne ihn so nah an den sicheren Tod bringen zu müssen?! Und Carsten, der-“ Öznur schlug auf den Tisch, was Janine verstummen ließ. „Verdammt, Ninie, was ist los mit dir?! Natürlich machen wir uns Sorgen um Annes Mama! Und natürlich wollen wir Benni retten! Aber- aber ist es denn so schlimm, mal nicht verzweifelt zu sein?! Einfach mal über was Anderes zu reden?! Wir haben doch schon genug, was uns fertig macht!“, schrie sie unter Tränen. „Öznur!“, wies Susanne sie zurecht und legte einen Arm um Janine, die sich allerdings nur widerwillig auf diese tröstende Geste einließ. Vermutlich merkte Laura gar nicht, dass sie ihre Gedanken aussprach, als sie sagte: „Und trotzdem würde es Carsten viel besser gehen, wenn er sich nicht die ganze Nacht um jemanden hätte kümmern müssen, der von dir auch noch vergiftet wurde.“ Ariane verpasste ihrer besten Freundin einen warnenden Rippenstoß, während Carsten meinte: „Laura, beruhige dich bitte. Jacks Zustand ist auch ohne die Vergiftung kritisch, das hätte nichts an der Situation geändert.“ „Er hat es verdient.“ Janines Augen wurden beängstigend schmal und es sprach so viel Hass heraus, dass Ariane befürchtete sie würde gleich aufstehen und Jack den Gnadenstoß verpassen wollen. „Janine…“ Schließlich nahm Susanne sie ganz in die Arme. Alsbald verschwand ihre Ausstrahlung puren Hasses. Stattdessen kam die Verzweiflung und Trauer durch, die auch Janine nun seit über einer Woche mit sich hatte herumtragen müssen. Susanne hatte ihnen in einer ruhigen Minute vorhin die ganze Situation geschildert und Ariane konnte ihren Groll gegen Jack mehr verstehen als ihr lieb war. Aber… Sie warf einen Seitenblick auf Carsten. Er hatte gestern Abend schon recht gehabt. Es gab nicht umsonst die Abwandlung dieses Sprichwortes. Auge um Auge… und die ganze Welt wird blind. Und trotzdem… Bedrückt legte Ariane auf der anderen Seite ihre Hand auf Janines Rücken. „Tut mir leid, Nine. Ich wollte einfach nur ein bisschen quatschen, aber…“ Zitternd atmete sie aus. „Es tut mir leid.“ „Mir auch…“ Laura senkte den Blick und auch Öznur nickte betreten. Nun verlor Janine wohl endgültig den Kampf gegen ihre Gefühle. Weinend und schluchzend kniff sie die Augen zusammen.   Nachdem der Großteil die Zeit bis zum Mittagessen nur mit irgendwie existieren verbracht hatte, stießen sie auf dem Weg zur Kantine auf Eagle. Öznur rannte ihm direkt entgegen und fragte ihn mit ihrem herzlichsten Ton: „Liebling, wie war’s?“ Geräuschvoll atmete Eagle aus und machte sich noch nicht einmal die Mühe, ihre Umarmung zu erwidern. „Scheiße, wie sonst?“ „Denkst du, du hast bestanden?“, erkundigte sich Susanne, doch Eagle zuckte nur mit den Schultern. Auch Saya ging zu ihrem Stiefsohn und wuschelte ihm durch das kurze schwarze Haar. „Bestanden hast du sicher.“ „Wird mir den Schnitt aber ziemlich runterziehen.“ „Eagle, niemand schaut später noch auf den Schnitt, den du bei deinem Schulabschluss gemacht hast.“ Freudlos lachte er auf. „Sagt diejenige mit ner glatten 1,0.“ Saya seufzte. „Ich hatte das ja auch für mein Studium benötigt. Und außerdem hatten wir das doch neulich ausgerechnet. Selbst, wenn du überall ‚nur‘ bestehst, hast du eine 2,5.“ „Das ist doch richtig gut!“, bemerkte Öznur erfreut. Zerknirscht schüttelte Eagle den Kopf. „Die zerreißen sich doch allesamt das Maul, wenn da vorne keine eins steht.“ Öznur zuckte mit den Schultern. „Bei denen kann dir das doch egal sein.“ „Wie viele Prüfungen fehlen dir denn noch?“, fragte Susanne, um das Thema halbwegs wechseln zu können. „Die beiden mündlichen nach den Ferien. Mit schriftlich bin ich durch.“ Die Mädchen staunten nicht schlecht. „Wann hattest du die denn?“ „Letzte Woche Damisch und Geschichte, heute Mathe.“ Eagle betrachtete sie verwirrt. „Wusstet ihr nichts davon?“ Die meisten schüttelten den Kopf. „Und… und wann hast du dafür gelernt?“, fragte Ariane ungläubig. Ihr war das Lernen für die Zwischenprüfungen ja schon extrem vorgekommen, besonders, da sie nebenbei auch noch ihr verschärftes Training mit Benni gehabt hatten. Aber Eagle war ja an sich schon die ganzen letzten Wochen überlastet gewesen. Und das waren die Schulabschlussprüfungen! „Vorm Schlafengehen immer ein bisschen.“ Laura schluckte schwer. „Ich wäre gestorben…“ Saya klopfte ihm auf die Schulter. „Geschafft ist geschafft. Du bist jetzt erst einmal fertig und Indigonisch und Politik nach den Ferien wird ganz entspannt laufen, du wirst schon sehen.“ Alles andere als begeistert stöhnte Eagle auf. „Wie konnte ich nur so blöd sein, ausgerechnet Politik zu wählen.“ Ariane runzelte die Stirn. „Da musst du die Prüfung doch eigentlich nicht mal antreten, um eine gute Note zu bekommen.“ Eagle erwiderte ihren Blick spöttisch. „Die werden es mir doch gerade deshalb besonders schwer machen wollen.“ „Was besonders schwer machen?“ Inzwischen war auch Carsten angekommen, der wohl noch einmal nach Jack geschaut hatte. Ariane fiel sofort auf, wie Eagle es vermied seinem kleinen Bruder in die Augen zu schauen. Au weia, das gestern hatte ihn wirklich schwer getroffen… Öznur begann ihren Freund in Richtung Kantine zu schieben. „Oh glaub mir, wenn ich nicht gleich etwas zu Essen bekomme, werde ich dir das Leben bald besonders schwer machen.“ Etwas erleichterter lachte Ariane auf. „Da bin ich dabei.“ Und auch der Rest stimmte dem zu. Während sie also ihren Weg zur Kantine fortsetzten, wandte sich Eagle an Saya und fragte zerknirscht: „War er schon wieder bei ihm?“ „Hm?“ „Du weißt, wen ich mein.“ Seufzend schüttelte Saya den Kopf. „Eagle, sein Zustand ist nach wie vor kritisch. Carsten muss regelmäßig nach ihm schauen.“ „Wie kannst du das überhaupt zulassen?!“, fragte Eagle, etwas lauter, verärgerter. „Was ist das denn für eine Frage? Er ist schwer verletzt.“ „Er ist ein Mörder!“, schrie Eagle aufgebracht, mit einem Schlag auf 180. „Wieso zum Henker findet sich jeder in diesem Krankenhaus damit ab, dass der Mörder ihres Häuptlings hier behandelt wird?!?“ „Weil das hier ein Krankenhaus ist.“, erinnerte Saya ihn und ermahnte ihn gleichzeitig zur Ruhe. „Hier gibt es keine Mörder, nur Verletzte und Kranke.“ Janine schüttelte auf diesen Kommentar hin nur verächtlich den Kopf, während Eagle die Hände zu Fäusten ballte. „Bin ich hier etwa der einzige, dem es nicht egal ist, dass Vater gestorben ist?!?“ Ariane merkte, wie Carsten bei den Worten seines großen Bruders betroffen zusammenzuckte. Gebrochen versuchte er sich zu rechtfertigen. „Eagle, es ist- Jack, er… Er braucht Hilfe. Ich muss- wir-“ „Carsten?“, ertönte hinter ihnen plötzlich eine Frauenstimme. Irritiert drehte sich Ariane um. Eine Indigonierin im mittleren Alter kam auf sie zu. Genauso wie die anderen Indigoner hatte sie einen dunklen Hautton, war hochgewachsen und hatte schwarze Haare. Ihre schmalen Augen waren ebenso dunkel und die Hochsteckfrisur hielt ihr jegliche Strähnchen aus dem Gesicht fern. Der Schlüsselkarte an der Jeans nach zu urteilen arbeitete sie hier aber was genau sie war, konnte Ariane nicht sagen. Nur, dass der erst noch streng erscheinende Blick sich zu einem warmen, liebevollen Lächeln wandelte, als sich Carsten zu ihr umdrehte. „Du bist es wirklich! Das ist ja eine Ewigkeit her, schön dich endlich wiederzusehen!“ „Lakota!“ Ariane konnte ihren Augen kaum trauen als Carsten auf die Indigonerin zuging und ihren rechten Unterarm packte. Eine indigonische Begrüßungsgeste unter guten Freunden, wie sie mal von Laura gehört hatte. Wer ist das?, fragte sie sich verwirrt. La-Dings-da startete direkt eine Unterhaltung, als seien die beiden richtig gute Freunde, die sich seit Jahrzehnten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten. „Das ist ja eine nette Überraschung, dich hier zu treffen! Seit wann bist du denn wieder da?“ „Ähm… Lange Geschichte.“ Die Indigonerin schaute kurz auf ihre Uhr. „Hoffentlich nicht zu lang für die Mittagspause? Los komm, Sakima und Yma werden Augen machen, wenn sie sehen wie groß du geworden bist!“ Auch Laura war verwirrt. „Wer… was… wie?“ Inzwischen hatte Carstens Bekannte wohl auch den Rest von ihnen zur Kenntnis genommen. „Hallo zusammen, ich bin Lakota.“ Ungläubig schaute sie Carsten an. „Sind das alles Freunde von dir?“ Carsten nickte. „Von der Coeur-Academy.“ „Oh, wie schön! Ich wusste doch, so eine Schule passt viel besser zu dir!“ Sie wandte sich an Saya. „Hey Chefin, ich würde mal deinen Sohn entführen. Passt das?“ Saya lachte auf. „Das musst du nicht mich fragen.“ Während Lakota und Carsten quatschend an ihnen vorbei gingen und die Kantine betraten, folgte der Rest ihnen. Fast niemand hatte eine Ahnung was zum Henker vor sich ging. Die Kantine war ähnlich eingerichtet wie das Café, nur, dass rote Säulen hin und wieder den Raum zierten und auch die Sitze eine rote statt weißer Polsterung hatten. Lakota schrie direkt über alle Anwesenden hinweg: „Sakima, Yma, schaut mal, wen ich mitgebracht habe!“ Ariane war noch verwirrter. Carsten stand im Zentrum der Aufmerksamkeit und war nicht kurz davor im Boden zu versinken? Plötzlich standen ein Indigoner mit hübschen blauen Augen und eine Indigonerin, die etwas kleiner und kräftiger als der Rest war auf und kamen auf sie zu. Wieder begrüßte Carsten sie mit dieser freundschaftlichen Geste und wieder wirkte er ihnen gegenüber alles andere als distanziert. Immer verwirrter setzten sie sich gemeinsam an den Tisch neben diese drei eigenartigen Indigoner und den noch eigenartigeren Carsten. Schließlich war es Anne, die die treffendsten Worte fand: „Was ist das und was hat es mit Carsten gemacht?“ Saya lachte auf. „Hat das euer Weltbild zerstört?“ „… Und wie.“, gab Laura ihr recht, vollkommen aus der Bahn geworfen. Saya warf einen liebevollen Blick in Richtung ihres Stiefsohnes, welcher sich so ausgelassen mit den dreien unterhielt als sei seine fast schon krankhafte Schüchternheit nur ein Mythos. „Ich hatte euch doch erzählt, dass Carsten wie ein anderer Mensch gewirkt hatte, als ich ihn mit ins Krankenhaus genommen hatte.“ „Sind das die Kollegen von damals?“, vergewisserte sich Susanne, woraufhin Saya nickte. „Die drei sind Studienkollegen, haben hier aber unterschiedliche Wege eingeschlagen. Lakota, die ihr am Anfang kennengelernt habt, ist medizinische Fachangestellte in der Unfallchirurgie. Sakima ist in der Gerichtsmedizin und Yma als Biochemikerin in der Forschung tätig.“ „Wo ist eigentlich Hotah?“, fragte Carsten plötzlich und schaute sich um. Yma berührte sanft seinen Unterarm. „Hotah… Er ist ein Jahr nachdem du weg gegangen bist in Pension gegangen und vor zwei Jahren dann…“ „A-ach so…“ Beklommen senkte Carsten den Blick. Sakima seufzte. „Tut uns leid… Wir hatten schon befürchtet, dass dich das ganz schön treffen würde.“ Bedrückt atmete Carsten aus. „Na ja… Sein Herz hat ihm ja schon damals immer Schwierigkeiten bereitet…“ „Das stimmt.“, gab Yma ihm traurig recht. „Aber wir vermuten, dass es der Ruhestand war, der ihm einfach nicht bekommen ist.“ Lakota nickte. „Er war einfach immer am glücklichsten, wenn er Leuten helfen konnte. Jede erfolgreiche OP war wie Weihnachten und Silvester zusammen, oder wie auch immer die Menschen das sagen. Diese Tatenlosigkeit… Ich kann mir nicht vorstellen, wie er sich damit anfreunden könnte.“ Auf die fragenden Blicke hin erklärte Saya: „Hotah war ein sehr begnadeter Unfallchirurg gewesen und hat Carsten häufiger in Operationen mitgenommen. Die beiden hatten sich blendend verstanden. Er hat Carsten sogar manchmal ein bisschen assistieren lassen.“ Lakota lachte auf. „Ein bisschen ist gut.“ „Inwiefern?“, fragte Laura neugierig. Belustigt erzählte sie: „Ich war damals eigentlich überflüssig.“ „Hatte Hotah nicht mal mitten in der OP einen Herzinfarkt gehabt, wo Carsten sie dann zu Ende geführt hatte?“, vergewisserte sich Sakima. „Was?!“ Überrascht schaute die Gruppe zu dem anderen Tisch rüber. Ihnen gegenüber hatte Carsten trotz allem seine typische Schüchternheit, es könnte aber auch Bescheidenheit sein, als er verlegen meinte: „Na ja, also… Es war jetzt nicht so, dass ich wirklich die OP…“ Lakota winkte ab. „Glaubt dem kein Wort. Bei den Assistenten brach damals absolute Panik aus. Hotah aber meinte nur ‚lasst den Jungen das machen‘ und ist danach raus, um sich behandeln zu lassen. Und das war der Wahnsinn gewesen! Stellt euch mal einen neunjährigen Zwerg mit Tretleiter an einem Operationstisch vor, der mit Magie jegliche Kniffe ausgleicht, zu denen er feinmotorisch nicht in der Lage war und was auch immer er sonst noch damit gemacht hat! Und die Operation war ein voller Erfolg! Der Patient hat keine negativen Folgen davongetragen und war kurz darauf schon wieder putzmunter!“ „Wie bitte?!“, fragte Saya schockiert. Yma kicherte. „Wir fanden es wirklich schade, dass Hotah all die Dankesbekundungen bekommen hatte. Er hat sich von allen am schlechtesten deswegen gefühlt. Aber wir hielten es doch für das Beste, wenn es ein Geheimnis blieb, dass ein Neunjähriger die OP durchgeführt hatte.“ Lakota zuckte mit den Schultern. „Ein großes Geheimnis, von dem das gesamte Krankenhaus weiß.“ „Ihr habt meinen Sohn eine Operation durchführen lassen?!“, donnerte die Leiterin dieses Krankenhauses. „Also alle, außer die Chefin.“, ergänzte Sakima belustigt. Geräuschvoll atmete Saya aus und stützte den Kopf auf einer Hand ab. „Oh Gott, was würde die Versicherung da sagen? Und erst die rechtliche Lage…“ Der Indigoner lachte auf. „Hey, ist doch alles gut gelaufen.“ Saya funkelte ihn vorwurfsvoll an. „Ich will nicht wissen, was für Fälle du ihm erst in der Gerichtsmedizin vorgelegt hast.“ Sakima grinste schelmisch, antwortete aber nicht darauf. Eagles und Carstens Stiefmutter fuhr sich durch die nussbraunen Haare, als wäre es ihr unmöglich auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können. Während also nun Sayas Weltbild zerstört wurde, stellte sich das der Mädchen allmählich wieder her. Erleichtert atmete Laura auf. „Es ist doch noch unser Carsten.“ Dieser betrachtete sie verwirrt. „Wieso sollte ich das nicht sein?“ Dass er wohl noch nicht einmal bemerkte wie anders er sich in Gegenwart dieser Leute verhielt, machte die ganze Sache noch amüsanter. Ariane streckte sich. „Das heißt so viel wie: Du kannst gerne etwas von der Lockerheit von diesem Carsten an deine schüchterne Seite abgeben.“ Lissi kicherte. „Definitiv, dann könnte sich zwischen dir und BaNane auch endlich mal was entwickeln.“ Yma klatschte begeistert in die Hände. „Oh, eine Freundin?!“ Lakota machte eine Art Gewinner-Pose. „Ich wusste doch, dass so eine Schule viel besser zu ihm passt!“ Carsten seufzte, erwiderte aber nichts. Ariane lachte in sich hinein. Anscheinend war diese Schüchternheit doch schwerer zu überwinden als gehofft. Schließlich merkte Susanne bewundernd an: „Es ist aber schon beeindruckend, wie du mit neun Jahren bereits Medizin mit Magie verbinden konntest. Und dann auch noch in einer so schwierigen Situation.“ Kichernd meinte Yma: „Aber es passt zu ihm. Schließlich begleitet diese Kombination ihn schon seit seiner… nein, sogar vor seiner Geburt.“ „Hä?“, machte Laura. Saya schien den Schock allmählich verdaut zu haben. Zumindest seufzte sie, schüttelte aber belustigt den Kopf. „Ich hatte euch doch erzählt, dass ich Carsten damals ans Sisikas Stelle ausgetragen hatte.“ Susanne verstand, worauf sie hinauswollte. „Diese Art ‚Übergang‘ habt ihr über Magie gemacht?“ Saya nickte. „Es war ein ziemlich riskantes Unterfangen gewesen, aber wir hatten eine sehr gute Heilmagierin und am Ende ist alles gut gelaufen.“ „Es ist schon erstaunlich, wozu Magie alles in der Lage ist.“, gab Lakota ihr entschieden recht. „Und wie! Könnt ihr euch vorstellen, wie viele Möglichkeiten es gibt, Magie in der Medizin anzuwenden? Nicht nur, dass man bei Operationen viel besser an kritische Stellen kommt, auch was die Narkose betrifft gibt es sicherere Wege. Und erst in der Forschung, da könnte man… “ Das Funkeln in Carstens lila Augen sprach Bände darüber, wie viel dieses Thema ihm bedeutete und mit wieviel Herzblut er bei der Sache war, während er unzählige Möglichkeiten auflistete, wo Magie sonst noch alles Anwendung in der Medizin finden könnte. Während die Ärzte ihn daran erinnerten, dass er nicht alles auf einmal machen könne -und dabei auch noch irgendwie versuchten ihn für ihren jeweiligen Fachbereich zu gewinnen- konnte sich Ariane ein Grinsen nicht verkneifen. Das war er, der Carsten den sie näher kennenlernen wollte. Staunend lehnte sich Öznur in ihrem Stuhl zurück. „Krass… Das ist einfach der Wahnsinn…“ Eagle nickte nur. „Ja, das ist es wohl.“ Mitleidig stellte Ariane fest, dass es ihm alles andere als gut bekam, diese lockere und aufgeschlossene Seite von Carsten kennenzulernen. Vermutlich aus dem Grund, da er sich so langsam aber sicher schmerzhaft bewusst wurde, was er Carsten durch ihre gemeinsame Vergangenheit geprägt von Hass und Nicht-Akzeptanz alles zerstört hatte… Kapitel 85: Zwischen Liebe und Verdammnis ----------------------------------------- Zwischen Liebe und Verdammnis       Er rannte einen Weg entlang. Er rannte und rannte, ohne sich wirklich von der Stelle zu bewegen. Er konnte nicht fliehen. Vor was auch immer er davon rannte, er konnte dem nicht entkommen. Seine Beine gaben unter ihm nach, schwer atmend stützte er sich auf den Händen ab. Alles brannte. Er brannte. Sein Körper schmolz dahin. Übrig blieb die Gestalt eines kleinen Jungen. Ein Rotzlöffel, verheult und verschnupft, zusammengekauert hinter verschlossener Tür. Von außen hörte er Gebrüll, Geschrei, so laut als befände es sich bei ihm im Zimmer. Gepolter. Noch mehr Gebrüll und Geschrei. Valentin hielt sich die Ohren zu. Er wollte das nicht mehr, er wollte das nicht mehr hören müssen! Rotbraune verstrubbelte Haare klebten an der verschwitzten Stirn, eine Stelle blutete ein bisschen. Da hatte die Gürtelschnalle ihn erwischt. Tränen rannen über die sommersprossigen Wangen und die Nase, und tropften schließlich auf den Boden. Es hörte immer noch nicht auf, es wurde immer lauter. Lass sie in Ruhe! Ein Beben setzte ein, erst schwach, dann immer stärker und stärker. Sachen kippten um, eine von seinen Superheldenfiguren fiel aus dem Regal. War es inzwischen still? Er wusste es nicht. Er wusste gar nichts, bis plötzlich… Ein Rütteln. Jemand versuchte die Tür zu öffnen. Brüllte, schlug dagegen, brüllte nochmal. Valentin blieb still, bewegungslos vor Angst. Atmete nicht. Vielleicht merkt er ja gar nicht, dass ich da bin… Und dann, eine raue Stimme. Leise, bedrohlich. „Ich weiß, was du bist.“ Sein Herz setzte aus. Grüne Augen weit aufgerissen, überwältigt vom Schock. „Du hast unserer Familie lange genug Leid zugefügt. Du hast ihr genug geschadet! Aber nicht mehr. Du wirst uns kein Unglück mehr bringen.“ Schritte entfernten sich, eine Tür wurde zugeschlagen. Finsternis. Doch Valentin saß weiterhin da, unbeweglich, gegen eine steinerne Wand gelehnt. Sein Atem ging schnell, war panisch. Er hasste die Dunkelheit. Er hatte Angst vor ihr. Er spürte, wie seine Lunge immer mehr schmerzte. Wie sie sich wie ein Luftballon ausdehnte, kurz vorm Zerplatzen. Dann öffnete sich eine Tür. Erst drang nur ein schmaler Lichtstrahl ins Zimmer, doch bald wurde er immer größer. Valentin klammerte sich an dem kalten Boden fest, seine Fingernägel waren schon lange abgescheuert, die Fingerkuppen wund und blutig. Die Tür war ganz offen, tauchte die schwarze Silhouette in ein unheimliches Licht. Groß, mächtig, bedrohlich. Sie kam auf ihn zu, griff nach ihm. Valentin schrie und weinte. Er versuchte sich zu befreien, aber ohne Erfolg. Er konnte nur weiter schreien.   „Jack, es ist alles gut! Du musst aufwachen!“   Nach Luft ringend riss Jack die Augen auf. Sein Herz pochte so stark, als wäre es kurz davor seine Brust zu zerreißen. Das Licht blendete ihn. Er wollte den linken Arm heben, um sich davor zu schützen, doch ein stechender Schmerz fuhr durch seine Schulter und ließ ihn zusammenzucken. Jack biss die Zähne zusammen und versuchte nach der Verletzung zu tasten, hatte aber kaum die Kraft sich zu bewegen. „Keine Sorge, die Kugel ist draußen.“, meinte die Stimme, die ihn zuvor aus dem Traum gerissen hatte. Er wandte sich dem Besitzer dieser Stimme zu, doch das Licht blendete immer noch. Er sah nur undeutliche Schemen einer Person, sowohl mit den Augen als auch mit der Erde. Jack wollte etwas sagen, wusste aber nicht was. Stattdessen meinte Carsten: „Die Schienen von deiner Erd-Energie sind richtig gut. Aber du solltest es trotzdem nicht herausfordern und lieber noch etwas liegen bleiben.“ Allmählich schärfte sich Jacks Sicht und er konnte die kinnlangen schwarzen Haare besser von dem Gesicht mit den lila Augen unterscheiden. Der Besitzer dieser magischen Augen warf ihm ein freundliches, mitfühlendes Lächeln zu. „Ach Schade… Dabei ist mir gerade so nach einem kleinen Tänzchen…“, kommentierte Jack matt. Belustigt schüttelte Carsten den Kopf und wandte sich irgendwas anderem zu, was Jack ohnehin nicht erkennen konnte. Die Erinnerungen kehrten schneller zurück als ihm lieb war. Und so gerne Jack es ihm auch verschweigen würde… „Hör mal… Wegen Benni…“, brachte er mühsam mit rauer Stimme hervor. Er hörte ein Klappern, als Carsten etwas aus den Fingern rutschte und auf den Boden fiel. Seine Stimme klang beängstigend schwach. „Ich… Ich weiß… Wolf hat es schon…“ Schweigend schaute Jack zur verschwommenen Decke hoch, die immer noch ein bisschen schwankte. Stille breitete sich aus, nur Carsten werkelte weiterhin mit irgendetwas herum. Es schien nichts Wichtiges. Eher etwas, womit er sich einfach beschäftigen konnte. Womit er sich ablenken konnte. Schließlich ein Klopfen. Die Tür wurde geöffnet und eine liebe Stimme, die wohl Laura gehören musste, fragte: „Hey Carsten, wir wollten wissen, ob du heute Abend schon wieder hier in der Kantine essen willst.“ „Ähm ja, hatte ich vor.“ Laura seufzte und klang leicht enttäuscht. „Okay… Dann… bis morgen.“ Ohne ein weiteres Wort schloss die Tür sich wieder. Nach einer Weile meinte Jack: „Hey, komm… Tu ihr den Gefallen.“ Schwach lachte er auf. „Ich werd schon nicht davonrennen.“ Carsten zögerte. „Jack, du… Du hast fast drei Tage durchgeschlafen und bist immer noch ziemlich geschwächt…“ Allmählich gab Jack dem erdrückenden Gefühl der Erschöpfung nach und schloss die Augen wieder. „Umso mehr ein Grund…“ Ob Carsten noch etwas dazu sagte, bekam er gar nicht mehr mit. Die Folgen vom Angriff des Werwolfs waren immer noch deutlich spürbar, genauso wie die gebrochenen Knochen und die ganzen kleineren Wehwehchen. Doch der höllische Schmerz in seiner Schulter stellte konsequent alles in den Schatten. Dieses vertraute Gefühl war seltsam, beinahe unheimlich. Doch so hatte er schon immer am besten einschlafen können. Geplagt von Schmerzen, denen sein Körper irgendwann nicht mehr standhalten konnte. Es war nicht schön, doch so vergaß er zumindest die Angst vor den Albträumen…   Es war still. Zu still. Auch wenn Jack die panische Angst vor der Dunkelheit inzwischen überwunden hatte, war ihm diese Ruhe nicht geheuer. Es gab immer unbekannte Gefahren, die in der Finsternis lauern konnten. Unbehagen breitete sich in Jacks Brust aus. Er hasste es, nicht genau zu wissen was in seiner Umgebung vor sich ging. Doch zumindest konnte er sich inzwischen diesbezüglich Abhilfe schaffen. Während Jack zur schwarzen Decke hoch schaute, konzentrierte er sich auf seine Tastsinnfähigkeiten. Das Krankenhaus lag ruhig da, fast so als würde es selbst schlafen. Das Zimmer war ansonsten leer, Carsten war vermutlich wirklich zum Abendessen nach Hause gegangen. Zum Glück. Er versuchte viel zu häufig alleine mit dieser ganzen Belastung fertig zu werden. Falls er nicht direkt schon wieder am Verdrängen war. Irgendwann nahm Jack Schritte wahr. Sie waren leise und doch bestimmt. Er schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Carsten war es nicht. Die Person war weiblich, mit normaler Statur. Vielleicht eine Krankenschwester, die Nachtschicht hatte? Zumindest trug sie ein kleines Metallkästchen mit sich. Die Schritte stoppten vor seiner Zimmertür. Interessant. Langsam und leise wurde die Türklinke heruntergedrückt und vorsichtig die Tür geöffnet. Früher wäre Jack spätestens jetzt in Panik geraten. Früher, als er noch nicht diese Fähigkeiten gehabt hatte. Als er jeder Unwissenheit, jeden grausigen Vorstellungen und Erwartungen hilflos ausgeliefert gewesen war. Doch jetzt konnten weder Fantasie noch grausame Erfahrungen seine Sinne mehr benebeln. Denn er wusste es genau. Er wusste genau, was Sache war. Jack blieb weiterhin ruhig, während die Person in das Zimmer schlich und lautlos das kleine Kästchen auf dem Tisch in der Nähe absetzte. Es waren nur wenige geschickte Handgriffe, bis sie ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatte und auf leisen Sohlen zum Bett kam. Zu blöd, dass es nicht Jacks Ohren waren, die sie hätte täuschen müssen. Einen Moment lang zögerte Jack. Er hatte schon häufig mit dem Gedanken gespielt, wie einfach es wäre. Wie einfach er den ganzen Scheiß um sich herum vergessen könnte. Doch wie sonst auch setzte sich der Überlebensinstinkt durch. Eine Steinwand schoss aus der Erde. Sie traf das Handgelenk der Frau, sodass der kleine Gegenstand davon flog, kaum hörbar auf dem Boden aufschlug und unter einen Schrank rollte, wo er schließlich zum Stillstand kam. „Du bist wach.“, stellte die Frau fest. „Hast du ernsthaft geglaubt ich könnte so ruhig und friedlich schlafen?“, konterte Jack. „Und? Hat Mars nun dich geschickt, da er es selbst nicht geschafft hatte mich zu töten?“ Sie schnaubte. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ „Ähm, ich schon. Immerhin ist es mein Leben, um das es da geht.“ Jack schaute weiterhin zur Decke hinauf, doch er merkte wie seine Gesprächspartnerin die Hände zu Fäusten ballte. Zorn lag in ihrer Stimme als sie fragte: „Wie kannst du es wagen… Wie kannst du es wagen überhaupt noch hier zu sein?!“ „Hey, sei ruhig. Das hier ist ein Krankenhaus.“ „Du verfluchtes-“ Sie wollte auf ihn zustürmen, doch ehe es so weit kam sperrte Jack sie in einem Erdgefängnis ein, mit nur einem freien Spalt für Frischluft. Sie hämmerte gegen die Wände, doch Jack war nicht so blöd ein Gefängnis zu erstellen, welches eine Kampfkünstlerin würde zerstören können, um sich genau diese Kampfkünstlerin vom Leib zu halten. „Du verdammter Hurensohn, lass mich hier raus!“, schrie sie. „Wow, wir werden ja direkt persönlich.“ Jack spielte mit dem Gedanken auch das Luftloch zu schließen, damit das Gezeter zumindest ein bisschen leiser wäre. Die Beleidigungen und Beschimpfungen gingen noch eine ganze Weile weiter und Jack hörte schon lange nicht mehr zu. Dafür kamen nun auch noch Kopfschmerzen hinzu. Als ginge es ihm nicht schon beschissen genug. Er stöhnte auf. „Ey, geht’s auch ein bisschen leiser? Oder soll ich die Bullen wegen Ruhestörung rufen?“ „Derjenige der hinter Schloss und Riegel gehört bist du! Du verdammter Drecksack hast meinen Bruder ermordet!“ Jack zuckte mit den Schultern, merkte aber zu spät, dass das ja auch scheiße weh tat. „Kann sein.“, meinte er nur. „Mars hat mir viele Aufträge gegeben. Gut möglich, dass dein Bruderherz da auch dabei war.“ Hä? Moment mal… „Sag mal… warum arbeitest du überhaupt für ihn, wenn er deinen Bruder auf seiner Abschussliste hatte?“ „Das war nicht Mars, du verdammtes Arschloch! Du hast ihn ermordet! Du, der Besitzer des Orangenen Skorpions!“ Haaaaaaaalt mal. Das konnte nicht sein. „Der ehemalige Häuptling hatte eine Schwester?! Dich? Weiß Carsten, dass du seine Tante bist?! Seid ihr überhaupt blutsverwandt? Immerhin kommst du doch aus-“ „Ich bin nicht die Schwester von diesem Kerl, du Vollidiot! Das war vor sechs Jahren! Vor sechs Jahren hattest du meinen Bruder umgebracht! Wilhelm Masiur!!!“ Alle Farbe wich aus Jacks Gesicht. Einen Namen, den er so lange schon nicht mehr gehört hatte. Den er nie wieder hatte hören wollen. Wilhelm Masiur… „… Meinen… Vater?“ So langsam dämmerte es Jack. Die dunklen Haare, die hellblauen Augen… Sie sahen sich ansonsten zwar kaum ähnlich, aber wenn man es wusste… Übelkeit stieg in Jack hoch als Erinnerungen über ihn herfielen. Dieser Mann… Dieses- „Monster! Du Monster hast ihn umgebracht!!!“, schrie sie unter Tränen und schlug erneut gegen das Steingefängnis. „Er war das Monster!“ Jacks Geduldsfaden riss. „Er hat-“ „Du hast ihn ermordet! Ihn und diese Ausgeburt von Frau, die es auch noch wagen konnte so eine Kreatur wie dich in die Welt zu setzen!!!“ Jack warf die Decke zurück, stand auf und schlug gegen die steinerne Wand. Ein Beben fuhr durch den Raum. „Halt die Fresse!!!“ Er spürte das Brennen in seinen immer noch gebrochenen Beinen, doch das war ihm gleich. Diese verfluchte Frau, wie konnte sie es wagen… „Weißt du, was die Medien damals berichtet haben?! Blutbad in Rolexa! Familie zu Schaschlik-Spießen verarbeitet! Der Orangene Skorpion ist zurück!“ „Sei still!!!“ Tränen, kochend heiß, rannen über Jacks Gesicht. Er kannte die ganzen Artikel, jeden einzelnen davon und noch viele mehr. Und immer war es der Orangene Skorpion gewesen. Immer hatte dessen Dämonenbesitzer die ganze Familie umgebracht. Immer! Sie lachte hysterisch. „Ich hatte mir Rache geschworen! Grausame Rache! Deshalb bin ich zu Mars. Und weißt du, wen ich dort getroffen hatte?! Die Missgeburt persönlich! Genau der, nachdem ich gesucht hatte! Und trotzdem waren mir die Hände gebunden! All die Zeit!!! Aber jetzt… Jetzt nicht mehr. Jetzt kann ich-“ Jack nahm all das gar nicht wahr. Er sackte auf den Boden. Genauso wie damals. Das Zittern seines Körpers glich einem Erdbeben. Es war ein Erdbeben. Gläser klirrten, eine angebrochene Kekspackung stürzte vom Tisch, Krümel verteilten sich auf den Fliesen. Er meinte vor seinen Augen eine Blutlache zu sehen. So viel Blut, alles bestand aus Blut. Übelkeit. Keine Luft. Selbstvorwürfe. Selbsthass. Und ein tosender Schmerz. Warum hast du nichts gemacht?! Warum konntest du sie nicht retten?! Du warst es! Es war alles deine schuld! Wenn du nicht wärst, wäre sie noch am Leben! Wegen dir- „Ich hab sie nicht getötet!!!“, schrie er verzweifelt. Plötzlich ging das Licht an. „Was ist denn hier los?!?“ Entfernt nahm Jack wahr, wie Carsten das Zimmer betrat und kurz darauf auch schon neben ihm kniete. „Jack, was ist passiert?!“ „Ich war das nicht…“, versuchte Jack sich zu verteidigen, immer noch gefangen in der Vergangenheit. „Jack!“ Carsten hielt ihn an den Schultern, berührte dabei die Stelle mit der Schusswunde. Der Schmerz brachte ihn allmählich in die Gegenwart zurück. Jack atmete schwer, immer noch nicht in der Lage seine aufgebrachten Emotionen unter Kontrolle zu bringen. „Ach du Schande, was geht denn hier ab?!“, fragte Öznur schockiert. Anscheinend waren auch die anderen gekommen. „Was… was macht ihr hier?“ „Ich habe sie angerufen.“, hörte er eine unbekannte Frauenstimme, vermutlich eine Ärztin, die hier arbeitete. „Eigentlich wollte ich direkt die Polizei rufen, doch als ich erkannte aus welchem Zimmer es kommt, habe ich lieber Carsten und die Chefin informiert.“ Auch Carstens Stiefmutter schien anwesend. „Vielen Dank, Lakota.“ Derweil war Susanne zu dem großen Steinklotz gegangen, um zu schauen, wer der Verantwortliche dieses ganzen Lärms war und wen Jack da eigentlich eingesperrt hatte. Sie staunte nicht schlecht. „F-Frau Reklöv?“ „WAS?!“ Der Schock der anderen Mädchen war nicht zu überhören. „Jack, was soll das?! Lass sie raus! Das ist unsere Chemielehrerin!!!“, rief Öznur aufgebracht. Obwohl Jack sich inzwischen relativ beruhigt hatte, zitterten seine Hände immer noch wie Espenlaub. Er bekam die Aufforderung zwar mit, leistete ihr aber trotzdem keine Folge. Niemals würde er diese Frau rauslassen. „Verdammt, lass sie raus, du Vollidiot.“, zischte Anne. Keine Reaktion. Janine sagte irgendetwas auf Russisch, was entweder nach einem Fluch oder einer Beleidigung klang. „Frau Reklöv, ziehen Sie bitte den Kopf ein.“ Als sich Janine sicher war ihre Lehrerin nicht zu verletzen, zerschnitt sie die obere Hälfte des Brockens mit einer gelb schimmernden, gewaltigen Magiesichel. Susanne half der Frau fürsorglich dabei, über die untere Hälfte zu klettern. „Geht es Ihnen gut? Hat er Sie verletzt?“ Natürlich war Jack der Böse. Wie immer. Doch es war ihm egal. Er war es gewohnt. … Das redete er sich zumindest ein. Frau Reklöv druckste benommen irgendeinen Scheiß, den die Mädchen ihr natürlich direkt abkauften. Die meisten zumindest. Lissis Stimme war schon fast gruselig, als sie ihre Schwester aufforderte: „Susi, geh weg von ihr.“ „Was?“ „Sie ist nicht diejenige, um die du dich sorgen solltest.“ Spöttisch lachte Anne. „Wer dann? Jack?!“ Carsten half derweil Jack dabei auf die Beine zu kommen, so dass er sich auf die Bettkante setzen konnte. Das ganze war für seinen ohnehin schon angeschlagenen Zustand alles andere als hilfreich. Das gesamte Zimmer schaukelte und Jack spürte, wie einige der Verletzungen wieder zu bluten anfingen. Plötzlich kam von weiter hinten im Raum Arianes Stimme. „Carsten, was ist das?“ „Was?“ Carsten richtete sich auf und ging zu ihr rüber. Jack merkte, wie Ariane mit den Fingern unter dem Schrank tastete, wo zuvor… „Autsch!“ Erschrocken zog Ariane ihre Hand zurück. „Alles okay?!“, erkundigte sich Carsten direkt besorgt und betrachtete die Fingerkuppe, auf der ein kleiner roter Bluttropfen zu sehen war. Zumindest, bis Ariane die Hand schüttelte. „Ja, ja, da war nur was Spitzes, was mich gepikst hat.“ Carsten betrachtete den Boden vor dem Schrank, wo sich einige Tropfen von der Flüssigkeit ausgebreitet hatten, die sich zuvor in der Spritze befunden hatte. Er verstand direkt. „Janine, komm schnell her.“ „W-was?“ „Sofort!“ Bei Carstens strengem Ton zuckte sie zwar zusammen, kam aber direkt zu ihm und Ariane rüber. Carsten hielt inzwischen wieder Arianes Hand mit der kleinen Verletzung, die viel zu klein für seine viel zu große Besorgnis schien. Zumindest für Ahnungslose. „Du kannst sie ja inzwischen kontrollieren.“, meinte er nur und reichte Arianes Hand an Janine. Ihrem Blick nach zu urteilen verstand nun auch sie was los war. Ein gelbes Leuchten erfüllte den Raum, was Jack direkt den Abend ihrer Flucht aus der Unterwelt ins Gedächtnis rief. Ein Schaudern durchfuhr seinen Körper, der sich noch zu gut an dieses plötzlich lähmende Gefühl und den buchstäblichen Herzstillstand erinnerte. Die Verwirrung vom Rest hatte sich in keiner Weise verringert. „Was ist denn los?“, fragte Laura besorgt. Carsten richtete sich auf und ging zu Frau Reklöv rüber, wo er wortlos Susanne zur Seite schob, in Lissis Richtung, die ihre Schwester direkt außer Reichweite zog. „Neulich bei diesem Sturm… Wie konnte es dazu kommen, dass die Elfen behauptet haben, alle seien in Sicherheit, obwohl Sie genau wussten, dass Lissi losgegangen war, um Susanne und Anne zu suchen?“ Frau Reklöv schien verwirrt. „Wie meinst du das, Carsten?“ Carsten biss die Zähne zusammen als müsste er seinen Ärger mit aller Kraft in Zaum halten. „Verkaufen Sie mich nicht für dumm. Sie müssten unten bei den anderen Schülern gewesen sein, wo sich Susanne und Anne ohne Lissi befunden hatten, die ihnen davor noch gesagt zu haben schien, dass sie die beiden holen geht. Und trotzdem hieß es, alle wären in Sicherheit gewesen.“ „Carsten, worauf willst du hinaus?“ „Sie waren immer sehr nachlässig, was Privatgespräche im Unterricht betrifft. Könnte es sein, dass auch zufälliger Weise mal einige wie Lissi und Ariane über einen geplanten Besuch in Indigo gesprochen haben?“ Jack wusste nicht ob es Einbildung war, doch das Lila seiner Augen schien bedrohlich zu glühen. „Was haben Sie als Chemie-Lehrerin eigentlich sonst so in der Sammlung? Da waren zumindest sehr viele Gefahrenstoffe, die ich meinen Schülern eher weniger in die Finger drücken würde. Wobei ich vermute, dass Sie die ganz gefährlichen Mittel wie Eisblumenessenz eher in Ihren privaten Räumlichkeiten aufbewahren.“ Laura schreckte auf. „Eisblume?! Du meinst- du meinst das Gift?!“ Jack meinte sich zu erinnern. Stimmt, Benni war schon damals für Mars ein Dorn im Auge gewesen, da er ständig -wenn auch unbewusst- seine Pläne durchkreuzt hatte. Eines Tages, irgendwann im Februar, hatte Mars schließlich den Auftrag gegeben Benni zu- Anne verschränkte die Arme vor der Brust. „Du meinst, dieser Spion an der Coeur-Academy, das ist Frau Reklöv?“ „Was?!?“ Schock war in die Gesichter von Susanne, Öznur und nahezu allen anderen der Mädchen geschrieben. „Sie hatten damals Benni vergiftet?!“, schrie Laura aufgebracht. „Er hatte sie nie im Unterricht gehabt, weshalb er sie durch die Verkleidung nicht direkt hatte erkennen können. Aber Benni hatte schon damals gemeint, dass die eine Bedienstete ihm seltsam bekannt vorkäme.“, erklärte Carsten gezwungen ruhig. „Sie haben…“ Tränen sammelten sich in Lauras Augen. Tränen vor Zorn. Carsten wies auf die Stelle unterm Schrank, vor dem Ariane und Janine immer noch standen und nicht glauben konnten, was da gerade vor sich ging. „Mars scheint keine Gefangenen mehr machen zu wollen. Kann das sein?“ Frau Reklöv lachte los. Es war schrill, beinahe hysterisch, und ließ es in Jacks Ohren klingeln. „Wer weiß?! Vielleicht ist das so, vielleicht auch nicht? Vielleicht wollte ich auch einfach nur endlich Gerechtigkeit?!? Gib mir meinen Bruder zurück!!!“ Hätte Carsten sie nicht festgehalten, wäre sie direkt auf Jack losgestürmt. „Das ist alles deine schuld! Nur weil du da warst, hatten sie nicht genug Geld um über die Runden zu kommen!!! Nur wegen dir Drecksbalg lebten sie am Existenzminimum! Und kaum warst du weg, kaum wurde es endlich besser, da kommst du auf einmal zurück und bringst sie alle um!!!“ Jack wollte irgendwas erwidern. Sich verteidigen. Irgendwie! Er kniff die Augen zusammen. Ich war das nicht! Doch er wusste, er würde diese Worte niemals mit Überzeugung aussprechen können. Da er sie selbst gar nicht glaubte. Es ist nicht meine Schuld… Und warum war sie trotzdem nicht mehr da? Wenn er nicht aus der Anstalt rausgekommen wäre… Wenn er nicht zu ihr zurückgekehrt wäre… Wenn er nicht gewesen wäre… … Dann würde seine Mutter jetzt noch leben. Jacks Finger verkrallten sich in den Bettlaken, nicht wissend, wie er reagieren sollte. Wie er damit fertig werden sollte. Er nahm mit halbem Ohr wahr, wie Carsten meinte: „Wir sollten die Polizei rufen.“ Jack blickte auf, erwartete eigentlich einen Kommentar von wegen ‚Die sollten lieber jemand anderes holen.‘, doch stattdessen hörte er Frau Reklöv auflachen. „Das würde euch so passen!“ Hatte Jack schon erwähnt, dass sie Kampfkünstlerin war? Genauer eine Assassine? Und was für Nachteile Magier im direkten Nahkampf hatten? Man hörte Eagle „Pass auf!“ rufen, doch selbst der Besitzer des Grauen Adlers konnte bei seiner Entfernung nicht schnell genug handeln. Sie war zu nah, der Dolch all die Zeit zu gut versteckt gewesen. Unter diesen Bedingungen war es ihr ein leichtes, ihn direkt in Carstens Herz zu rammen. Er wäre hier und jetzt im Bruchteil einer Sekunde vor ihren Augen gestorben. Wenn Carstens Reflexe nicht gut genug wären, dass er ihn direkt mit dem rechten Arm zur Seite schlug. Dunkelrotes Blut sickerte aus dem Schnitt, als er den Angriff ableitete in genau die Richtung, mit der Frau Reklöv sich selbst blockierte und nicht weiter kontern konnte. Als Carsten ihr mit der Faust so einen gezielten Hieb in die Seite verpasste und sie zum Abschluss mit einem Roundhouse Kick zu Fall brachte, stand außer Frage, dass der Junge Kampfkunsterfahrung hatte. Carsten wich einen Schritt zurück, immer noch im Verteidigungsmodus. Doch er hatte Frau Reklöv so gezielt ausgeknockt, dass keine Gefahr mehr von ihr ausging. Erst, als er sich diesbezüglich ganz sicher war, ließ sein Körper den Schock auch zu ihm durch. Keuchend sackte Carsten auf den Boden, wo er kurz darauf auch schon von Eagle und Laura flankiert wurde. „Carsten, ist alles in Ordnung?! Bist du verletzt?! Sag was!!!“, schrie Laura panisch und ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, falls er dazu überhaupt im Stande war. Auch Susanne kam zu ihm rüber, um die Blutung des länglichen Schnittes zu stoppen. Doch Carsten fing sich überraschend schnell. Mit dem Blick auf den Dolch, der einen Meter von ihm entfernt lag, meinte er nur: „Mir geht es gut, keine Sorge…“ Eagle runzelte die Stirn, ganz offensichtlich traute er der Aussage seines kleinen Bruders nicht. „Dir geht’s gut? Keine Sorge?! Die spießt dich vor unseren Augen fast auf und wir sollen uns keine Sorgen machen?!“ „Eagle wirklich, es ist alles okay! Ich hatte mich nur erschreckt.“, verteidigte sich Carsten. Eigentlich war es schade, wie misstrauisch sie seinen Worten gegenüberzustehen schienen. Aber gleichzeitig auch wenig überraschend. Jack wollte nicht wissen, wie viel er ihnen all die Zeit schon verschwiegen hatte. Wie viele Geheimnisse sie bereits aufgedeckt hatten. Susanne prüfte ihn auf weitere Verletzungen, tastete vorsichtig die Brust ab, da sie mit bloßem Auge nichts erkennen konnte. Und auch mit ihrer Energie schien sie nach etwas zu suchen. Doch sie kam zu demselben Entschluss. Erleichtert atmete sie auf. Auf ihre Reaktion hin verschränkte Anne die Arme vor der Brust, schien aber selbst erleichtert. „Das nennt man wohl Glück im Unglück.“ Ariane legte eine Hand über ihr Herz. „Könntest du bitte aufhören uns ständig so einen Schrecken einzujagen?“ Derweil halfen Eagle und Laura ihm wieder auf die Beine. Wobei Laura dabei weniger eine Hilfe war, da sie sich die ganze Zeit an ihn klammerte. Offensichtlich hatte sie sich noch viel mehr erschreckt als der Angegriffene selbst. Anne runzelte die Stirn. „Aber Carsten, sag mal… Bist du ein doppelt Begabter?“ Stimmt, diese Schnelligkeit und Stärke waren eigentlich typisch für Kampfkünstler und nicht für Magier. „Was?! Nicht dein Ernst.“ Ungläubig starrte Öznur Carsten an, doch dieser schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nicht doppelt begabt.“ Auch Eagle betrachtete seinen kleinen Bruder irritiert. „Und wie willst du uns das eben dann erklären? Das waren definitiv Techniken aus Taekwondo und Karate.“ Laura, die sich so langsam wieder beruhigte, war von allen am wenigsten überrascht. „Benni hat dir Kampfsport beigebracht, oder?“ Sie kicherte. „Die Technik war viel zu sauber und effizient.“ Jack ging ein Licht auf. Oh ja, das ergab Sinn. Sehr viel Sinn. Anne schüttelte den Kopf. „Das erklärt immer noch nicht die Geschwindigkeit und Kraft eines Kampfkünstlers.“ Stimmt. Lachend schüttelte Carsten den Kopf und ging zu dem Dolch rüber, um ihn aufheben und genauer betrachten zu können. „Verstärkungsmagie.“, erklärte er. „Ich hatte euch doch erzählt, dass Benni und ich immer gemeinsam trainiert haben. Aber ständig ‚Magier gegen Kampfkünstler‘ war viel zu einseitig, weshalb wir ein bisschen improvisieren mussten. Benni hatte mit seiner Energie einen Magier darstellen können und da er mir sowieso ein bisschen Kampfsport beigebracht hat, habe ich mit diesem Wissen und Verstärkungsmagie so gut es ging versucht, einen Kampfkünstler nachzustellen.“ „Wow, nicht schlecht.“, kommentierte Jack. Immerhin war es eigentlich dauerfrustrierend Bennis Trainingspartner zu sein. Da musste man schon ein bisschen was draufhaben, damit sich das für ihn lohnte und man selbst nicht ständig auf die Schnauze bekam. Und noch eine Sache ergab für Jack endlich Sinn: „Das erklärt auch, warum Benni immer so aussieht als würde er zaubern, wenn er seine Energien einsetzt. Er ist diese Gesten von dir und eurem gemeinsamen Training gewöhnt.“ Eagle schnaubte. „Als hättest du Ahnung.“ „Doch, es stimmt.“, stellte sich Carsten direkt dazwischen. Jack verdrehte die Augen. „Ich hatte mir einige Monate beim Training regelmäßig von ihm die Fresse polieren lassen. So langsam sollte ich seinen Kampfstil kennen.“ Janine schien es zu stören, dass Jack so vertraut über Benni sprach. „Jetzt tu nicht so, als wärt ihr die besten Freunde.“ „Die besten vielleicht nicht, aber zumindest hat er mir nie den Kopf abgeschlagen, wenn ich seine Kekse weggegessen habe.“, kommentierte Jack achselzuckend. Autsch, da war was., erinnerte seine linke Schulter ihn direkt mit brennendem Schmerz an die Schusswunde. Mit einem bedrückten Seufzen hockte sich Carsten zu Frau Reklöv, die immer noch bewusstlos auf dem Boden lag. „…Wie konnte es überhaupt so weit kommen?“ Ob er mit den Gedanken bei Benni oder seiner Chemielehrerin oder Jack war konnte man nicht wirklich heraushören. Vielleicht war es auch die gesamte Situation. Ja, auch Jack fragte sich gelegentlich, wie man in so einer Scheiße landen konnte. Aber sein Leben war ja ohnehin ein einziges Trauerspiel. Da überraschte einen nicht mehr allzu viel. Während er die Frau betrachtete, von der er bis vor wenigen Minuten noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie eine entfernte Verwandte war, spürte er die Blicke der anderen auf sich ruhen. Er mochte es überhaupt nicht, so gemustert zu werden. „Wollt ihr ‘nen Striptease oder warum starrt ihr mich so an?“ Bei Eagles angeekeltem Laut lachten Carsten und Lissi auf. Schließlich meinte Janine: „Du scheinst wohl nicht nur die Familienmitglieder anderer Personen zu ermorden.“ Nicht schon wieder diese Anschuldigungen… „… Hast du wirklich deine Familie umgebracht?“, fragte Laura zögernd, ihre Stimme zitterte leicht. Nein! Anne schnaubte. „Frau Reklöv hatte das doch selbst gesagt, dass er alle ermordet hat.“ Nein!!! Jack kniff die Augen zusammen. Wieder konnte er das nicht aussprechen. Ich bin nicht schuld! Wieder konnte er das nicht sagen. Er hörte Ariane fragen: „Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen?“ Es war eine indirekte Aufforderung an ihn, davon zu erzählen. Doch Eagle meinte sofort: „Er ist ein Mörder, mehr müssen wir nicht wissen.“ „Jeder hat seine Gründe.“ Carsten hatte sich inzwischen aufgerichtet und Jack nahm wahr, wie einige Ärzte vorbeikamen und die Chemielehrerin aus dem Zimmer trugen. Er merkte, wie sich jemand neben ihn setzte. Als er aufblickte, fuhr er erschrocken zurück. (Aua, scheiß Verletzungen!) „Schon mal was von persönlichem Freiraum gehört?“, fragte er Lissi, deren Gesicht für seinen Geschmack deutlich zu nah an seinem gewesen ist. Lissi kicherte. „Sorry, Jackie-Chan. Aber du hast so hübsche grüne Augen! Und diese leichten Sommersprösschen auf der Nase sehen so süß aus!!!“ Ihr Gequietsche bereitete Jack schon wieder Kopfschmerzen. Zufrieden streifte sich Lissi die Schuhe von den Füßen und setzte sich Jack gegenüber in den Schneidersitz. „Darf ich raten?“ „Mir egal.“ „Häusliche Gewalt, oder?“ Jack hielt inne und betrachtete das Mädchen, was entspannt auf dem Bett saß. Er musste sich noch nicht einmal die Mühe geben, ihre Vermutung zu bestätigen. Sie wusste genau, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. „Stimmt das?“, fragte Laura betroffen. Als Jack nicht antwortete, meinte sie nur: „D-das… das tut mir leid…“ Er seufzte. „Ich will kein Mitleid. Ich will Kekse.“ Lissi kicherte. „Das lässt sich garantiert einrichten.“ „Aber was ist denn passiert, dass du-“, setzte Ariane an. Auch die anderen waren inzwischen nähergekommen. Jack setzte sich halbwegs normal aufs Bett, um sich gegen die Kissen zu lehnen. Weiche, flauschige Kissen. Wie gerne würde er einfach mal ne Mütze Schlaf bekommen. Richtigen Schlaf und nicht diese bescheuerten Albträume, die ihn jede Nacht aufs Neue hochfahren ließen. Schließlich fragte er auf das seltsame Schweigen hin: „Was denn? Wollt ihr, dass ich euch meine ganze Lebensgeschichte erzähle?“ „Na ja… vielleicht könnten wir dich so zumindest besser verstehen…“, meinte Laura zögernd. Jack atmete aus. „Sicher, dass ihr das wollt? Könnte ziemlich deprimierend werden. Da gibt es keinen Glitzerstaub, Feen und rosa Einhörner. Und erst recht kein Happy End.“ Laura senkte den Blick. „Das gibt es doch sowieso nie…“ Jack lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sollte er das wirklich? Wollte er das wirklich? Diesen Leuten von allem erzählen und ihnen damit nur noch mehr Angriffsflächen bieten? Tatsächlich gab es irgendeinen Drang in Jacks Innerem, der darüber sprechen wollte. Der sich einfach mal alles von der Seele schreien wollte, sich irgendjemandem anvertrauen. Aber um sich jemandem anzuvertrauen musste man diesem jemand vertrauen. Und das fiel Jack schwer. Extrem schwer. Spontan fielen ihm drei Personen ein, bei denen das in Frage käme. Der eine hatte alle Hände voll zu tun mit dem Wiederaufbau einer Schule. Der andere hatte jegliche Macht über sich und seinen Körper verloren. Aber der dritte… Jacks Blick fiel auf Carsten, der ihm schon wieder dieses liebe, aufheiternde Lächeln zuwarf. Wie zum Teufel hatte der Typ so eine Ausstrahlung, dass jeder ihm am liebsten von all den Qualen und Sorgen erzählen würde, von denen er geplagt wurde? Carsten schien zu merken, wie Jack schwankte. Er richtete sich auf und setzte sich neben Lissi auf die Bettkante. „Ihr hattet damals nicht viel Geld, oder?“ Es war nur eine Frage, sie wirkte fast schon nebensächlich. Und doch war es dieser kleine Schubs, der Jack von seinen Zweifeln losriss. „Nicht so viel, das stimmt.“, antwortete er und ohne darüber nachdenken zu können, begann er bereits zu erzählen. „Ich weiß nicht genau wie es früher war, aber mein Vater schien eine ziemlich gute Stelle gehabt zu haben und sorgte für das ganze Familieneinkommen. Vermutlich war das der Grund, warum meine Mutter ihr Studium nicht mehr zu Ende geführt hatte, als ich auf die Welt gekommen bin. Aber für sie war das okay, sie war gerne Hausfrau und Mutter. Aber… Irgendwie ist die Firma wohl pleite gegangen. Ich hab keine Ahnung, wie mein Vater ursprünglich war. Vor all dem. Wahrscheinlich nicht so ein Arschloch. Doch seitdem… Seit ich denken kann…“ Eine Gestalt tauchte vor Jacks innerem Auge auf. Dunkle Haare und helle Augen. Sie war groß und bedrohlich und hatte immer nach Zigaretten und Alkohol gestunken. Es war ekelerregend gewesen. „… Statt sich einen neuen Job zu suchen oder statt zu sparen… Er hat alles Geld für Saufen und Spaß auf den Kopf gehauen. Obwohl es meine Mutter war, die uns mit Minijobs versucht hat über Wasser zu halten, hatte er sich den Großteil vom Geld unter den Nagel gerissen. Häufig war gegen Ende des Monats nur noch genug für das Mittagessen übrig. Manchmal nicht einmal mehr das.“ Jack verschränkte die Arme vor der Brust, den Schmerz seines gebrochenen Arms und der blutigen Wunden ignorierend. Er bemerkte sie nicht einmal. Ihm war einfach nur noch kalt. Eiskalt. „Er… er ist häufiger mal ausgerastet, wenn meine Mutter oder ich etwas in seinen Augen falsch gemacht hatten. Also… Eigentlich war alles was wir taten falsch. Kein Essen kaufen war falsch, denn dann konnte er sich ja nicht vollfressen. Essen kaufen war falsch, denn dann hatte er weniger Geld, um es für seinen eigenen Scheiß herauszuwerfen. Wenn er mich aufgefordert hatte ihm Bier zu bringen bekam ich eine gewischt, weil ich zu langsam war. Wenn ich mich weigerte, dann… Dann hatte ich Glück, wenn ich es noch rechtzeitig geschafft hatte die Kinderzimmertür abzuschließen…“ Trotz zusammengebissener Zähne fiel es ihm schwer, das Zittern seiner Stimme unter Kontrolle zu halten. Seine Augen brannten. Er spürte, wie jemand eine Hand auf seinen Arm legte. Doch er selbst sah nur, wie sein Vater mit dem Gürtel ausholte. Bei dem imaginären Schlag zuckte Jack zusammen. „A-aber… Wieso seid ihr nicht weggelaufen?! Du und deine Mutter?!“, fragte Laura schluchzend. Susanne nickte betroffen. „Es gab doch sicher einen Ort, wo ihr einen Unterschlupf bekommen hättet. Bei Großeltern, oder auch in speziellen Einrichtungen, die genau dafür da sind.“ „Ich weiß es nicht… Ich weiß es einfach nicht.“ Er kniff die Augen zusammen. Sie brannten immer noch, schmerzten höllisch. Und das Salz der Tränen machte alles umso schlimmer. „Wir… wir hatten uns an den kleinen Momenten erfreut. Die Stunden, in denen er sich sonst wo in der Stadt rumgetrieben hatte. Wir hatten ein kleines Versteck gehabt, wo wir immer Kekse oder Schokolade gebunkert hatten, wenn es uns mal möglich gewesen war etwas von dem Geld abzuzapfen, ohne dass er es direkt gemerkt hatte…“ Traurig lachte Jack auf. Er hatte immer versucht, seine Mutter in diesen freien Momenten zu trösten, ihr Mut zuzusprechen. Doch in Wahrheit war immer sie es gewesen, die ihm Mut gemacht hatte. Die ihn aufgefordert hatte durchzuhalten, nicht aufzugeben… „War er es auch gewesen, der dich… dorthin geschickt hatte?“, erkundigte sich Ariane. Jack nickte. „Damals… Zu der Zeit wurden die Dämonenbesitzer noch gejagt. Ich wusste davon. Ich wusste, dass ich meine Kräfte geheim halten musste, wenn ich nicht sterben wollte. Aber… es war schwer. Es war schwer das alles zu kontrollieren, wenn… Wenn man hört wie im Raum nebenan…“ Er versuchte das Gebrüll, das Geschrei, die ganzen Schläge aus dem Kopf zu schütteln. „Ich glaube, er hatte Angst vor mir. Oder vor dem, was die Dämonenjäger alles tun könnten. Was sie ihm antun könnten. Eins von beidem. Oder beides. Zumindest hatte er dann nach einem Weg gesucht mich loszuwerden.“ Jack seufzte. „Und dieser Weg war das FESJ.“ „Und dieser Ort war nicht viel besser…“, vermutete Lissi. Nein, sie wusste es. „Im Gegenteil.“, erwiderte Jack nur. Er merkte sofort wie Fragen in der Luft lagen. Er wusste auch welche Fragen es waren. Doch bevor es jemand schaffte eine davon zu stellen, fragte Carsten: „Und Mars hatte dich mit Hilfe von Lukas schließlich rausgeholt, nicht wahr?“ Er nickte. „Und dann bist du also zurück zu deinen Eltern, um deine Rache zu bekommen.“, stellte Anne fest. Jack lachte auf. Traurig. Verbittert. „Rache?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin heim, um meine Mutter nach über acht Jahren endlich wiederzusehen.“ „Ja, aber wie… Wieso…“, stammelte Laura fragend, verwirrt. Tja… wieso? Eine Antwort darauf hatte er nie finden können. Den Blick auf die Bettdecke gerichtet erinnerte sich Jack daran. An das beklemmende Gefühl das Treppenhaus hochzugehen, in den neunten Stock. Die Aufgeregtheit, die mit jeder Etage zunahm. Wie ging es ihr? Wohnte sie eigentlich noch dort? Würde sie ihn überhaupt wiedererkennen? Er hatte gewusst, dass sein Vater zu dieser Zeit für gewöhnlich unterwegs gewesen ist. Er hatte gehofft, dass sich das nach all der Zeit nicht verändert hatte. Sein Herz klopfte unsagbar laut, unendlich schmerzhaft, als er die Klingel betätigte. Als er die Schritte hörte, die sich der Tür näherten. Der Riegel, der zurückgezogen wurde. Die Tür, die aufgerissen wurde. Und bevor Jack es überhaupt realisierte lag er auch schon in den Armen seiner Mutter. Nach mehr als acht Jahren. Jahre geprägt von Angst, Folter, Qualen und Misshandlung. Nichts von all dem hatte mehr eine Rolle gespielt. Gar nichts. Nur noch eines. Das hier und jetzt. Endlich wieder bei ihr sein zu können. Jack lächelte traurig. „Sie hatte immer noch dieses Versteck gehabt. Ich glaube, es war immer gefüllt falls ich… Sollte ich jemals wieder…“ Er hörte, wie Laura leise schluchzte und auch Carstens Lippen waren zu einer dünnen Linie gepresst, als versuchte er seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. „Aber was ist denn dann passiert?!“, fragte Ariane, drängend, verzweifelt und doch hoffend. Jack biss die Zähne zusammen und presste die Antwort nur mühsam hervor. „Er kam heim.“ Er ballte die Hände zu Fäusten. Obwohl er sich versuchte zu beherrschen, obwohl er dachte, seine Gefühle eigentlich unter Kontrolle zu haben, ließ ein schwaches Erdbeben den Raum vibrieren. „Er war sturzbesoffen und ist ausgerastet als er mich gesehen hat. Ihr kennt doch sicher diese Messerblöcke, die in vielen Küchen rumstehen… So einen hatten wir auch. Ich fand diese riesigen Küchenmesser schon immer gruselig, aber als er dann eines herausgezogen hatte… Als er damit auf mich zustürmte, da…“ Etwas schnürte seinen Hals zu. Ihm war als würde er an einem Strick baumeln. Als würde sein Körper verzweifelt um Luft ringen, um das letzte bisschen an Sauerstoff zu bekommen. „Ich… ich hatte mich nicht bewegen können. Ich sah nur dieses Messer, diese scharfe Klinge und wie spitz es war. Aber bevor er… Bevor ich… Da hatte sie…“ Jack verlor den Kampf gegen seine Gefühle. Leise schluchzte er auf. „… Sie hatte sich dazwischen gestellt… Nur weil ich… wegen mir…“ Schweigen breitete sich aus. Ob es wirklich still war oder er einfach nichts wahrnahm… Wer weiß. Er hörte nur noch ihre Schreie. Schreie vor Schmerz. Sah nichts weiter als Blut. Die spitze Klinge, die sich rot färbte. Immer roter und roter, je häufiger er zustach. ‚Lass sie in Ruhe!‘ Die Bilder wollten nicht aus seinem Kopf verschwinden. Er konnte ihnen nicht mehr Stand halten. Er hatte keine Kraft mehr. Jack merkte etwas Nasses, was über seine Wangen lief und eine Spur der Verbrennung hinterließ. Es tat weh. Es tat alles so weh. Er spürte, wie jemand die Arme um ihn legte. Ein sanfter und doch starker Griff. Die langen Haare, die leicht gelockt waren, erinnerten ihn an sie. Und selbst wenn Jack wusste, dass ihre Haare eigentlich kupferrot und nicht schwarz sein müssten… Selbst wenn er wusste, dass sie nicht mehr da war… Einen kurzen Moment, einen kurzen verzweifelten Moment stellte er sich die Frau vor, deren Gegenwart er sich eigentlich wünschte. Die nach all der Zeit endlich wieder bei ihm sein sollte. Kapitel 86: Zwischen Hass und Vertrauen --------------------------------------- Zwischen Hass und Vertrauen       Schweigend senkte Carsten den Blick, während Lissi Jack im Arm hielt. Es hatte sich viel angestaut die letzten Jahre. Sehr viel. Und doch war Carsten beeindruckt, wie er von all dem hatte berichten können. Wie er all das hatte in Worte fassen können, die ganzen Erinnerungen, trotz der überwältigenden Macht der Gefühle. Trotz des gesamten Schmerzes. Er warf einen Blick in den Raum und merkte, wie auch der gesamte Rest betroffen von dieser qualvollen Erzählung war. Laura schluchzte selbst, sodass Ariane sie hatte in den Arm nehmen müssen. Auch Susanne und Öznur wischten sich Tränen aus den Augen, während Janine und Saya betroffen den Blick gesenkt hatten. Anne presste die Lippen zusammen, als wollte sie das Mitleid nicht zulassen. Als wollte sie es nicht akzeptieren, dass sie so etwas ausgerechnet für Jack empfand. Und so locker Eagle auch an der Wand lehnte, die zitternden Fäuste konnte er auch mit den vor der Brust verschränkten Armen nicht verbergen. Nach einer Weile meinte Carsten schließlich: „Deshalb hast du deinen Vater letztlich umgebracht. Weil er…“ „Irgendwie, ja.“ Jack befreite sich aus Lissis Umarmung. Seine Stimme wirkte tonlos, fast schon als sei er damals innerlich mit ihr gestorben. „Als ich es endlich geschafft hatte mich zu fangen und ihn von ihr wegzustoßen, da… Da war es bereits…“ Er schüttelte den Kopf und atmete zitternd aus. „Eigentlich weiß ich gar nicht mehr, was danach geschehen ist. Als ich meine Mutter da liegen sah… Das ganze Blut, die ganzen Risse und Stiche, das alles… Da habe ich die Kontrolle verloren. Ich erinnere mich nur noch an diese Welle an Gefühlen. Besonders an den Hass. Und die Wut. Und… einfach dieser ganze Schmerz. Lukas hatte damals in der Nähe gewartet, da ich nach meinem Besuch bei meiner Mutter Mars treffen sollte. Als ich nicht wiederkam, kam er, um nachzuschauen. Muss wohl ein ziemlich krasses Bild abgegeben haben. Aber was genau passiert ist habe ich erst danach über die Nachrichten erfahren.“ Verbittert lachte er. „Die Medien waren sehr einfallsreich bei der Namensgebung. Aber der Inhalt war der gleiche. Die Gefahr, die von den Dämonen und den Dämonenverbundenen ausgeht, dass der Besitzer des Orangenen Skorpions ein Ehepaar ermordet hat, … Aber dass die Frau und der Mann ganz eindeutig ganz verschiedene Todesursachen hatten, das haben sie vollkommen ignoriert. Und keine Ahnung, ob die Polizei überhaupt nach Fingerabdrücken auf dem Messer gesucht hatte. Für sie stand das alles wohl schon fest.“ Bedrückt schluckte Carsten die Tränen hinunter. Schon wieder so eine Ungerechtigkeit. Schon wieder wurde jemand grundlos beschuldigt. „Obwohl du überhaupt nichts dafür kannst, dass deine Mutter…“ Doch Jack schüttelte den Kopf. „Ich kann sehr wohl was dafür.“ „So ein Unsinn!“, rief Laura auf. „Das war dein Vater, der sie- der sie…“ „Und trotzdem konnte ich es nicht verhindern. Und das, obwohl sie mich beschützt hatte!“ Zitternd ballte Jack die Hand zur Faust. Carsten fielen die Augenringe auf. Jack hatte immer Augenringe, bemerkte er, als er an die letzten Begegnungen dachte. Man könnte es auf seinen Hauttyp schieben, doch wenn man wusste, dass er regelmäßig Albträume hatte… Schließlich schüttelte Eagle den Kopf und fragte kalt: „Und du denkst, dass wir dir die ganze Scheiße einfach so glauben?“ Entsetzt schaute Carsten zu seinem Bruder. Was hatte er da gerade gesagt? Doch auch Anne nickte. „Ohne Zeugen kannst du uns eigentlich erzählen was du willst. Erfordert nur eine kleine schauspielerische Einlage.“ Carsten ballte die Hände zu Fäusten. Er wollte sie wegen ihrer absoluten Taktlosigkeit zur Rechenschaft ziehen, doch da meinte Jack nur seufzend: „War ja klar, dass ihr mir nicht glaubt.“ „Doch, natürlich glauben wir dir!“, rief Laura aufgebracht, die all das besonders stark mitnahm. Janine zuckte mit den Schultern. „Selbst wenn das alles stimmt, es rechtfertigt nicht deine Taten bei Mars. Es erklärt nicht, warum du anderen genau das antust, was du angeblich selbst hattest erleiden müssen.“ Bei ihrer eisigen verurteilenden Stimme stellten sich Carstens Nackenhärchen auf. Es war unheimlich, ausgerechnet Janine so zu erleben. Das wollte er nicht. Er wollte niemanden so erleben müssen! So getrieben von Hass und Rache! War es überhaupt Jack gewesen, der ihre Adoptivmutter umgebracht hatte? Oder dachte Janine das nur? Carsten wollte bereits zur Frage ansetzen, doch da meinte Jack: „Ich hatte nie vor mich für irgendwas zu rechtfertigen. Ihr wolltet meine Vergangenheit wissen und jetzt wisst ihr sie.“ Eagle lachte auf, alles andere als mitfühlend. „Für deine ach so dramatische Vergangenheit verhältst du dich ansonsten aber ziemlich entspannt.“ Carsten hatte selten dieses Bedürfnis. Sehr selten. Dafür verabscheute er Gewalt viel zu sehr. Aber gerade wollte er seinem Bruder einfach nur noch eine reinhauen. „Erwartest du von mir, dass ich mich jede Sekunde meines Lebens heulend in der Ecke verkrieche?“, erwiderte Jack gezwungen ruhig. „Zumindest sollte sich das irgendwie bemerkbar machen, findest du nicht?“, konterte Anne, „Und da ist es sehr unglaubwürdig, wenn du die Mutter von jemand anderem ermordest.“ „Ich habe Janines Mutter nicht umgebracht.“, verteidigte Jack sich direkt, schüttelte aber seufzend den Kopf. „Zumindest habe ich nicht den Abzug gedrückt.“ „Und selbst wenn, es ist egal! Es ist mir verdammt nochmal egal!!! Es macht keinen Unterschied, ob du es warst oder nur zugeschaut hast!“, schrie Janine. Erst jetzt bemerkte Carsten, wie sie mit den Tränen zu kämpfen hatte. Auch wenn ihre Fassade aus Hass bestand… Innerlich litt sie. In ihrem Inneren krümmte sie sich vor Schmerz. Nun mischte sich auch Laura ein. „Das macht sehr wohl einen Unterschied!“ „Nein, sie hat recht.“ Diese Aussage kam ausgerechnet von Jack selbst. Überrascht schaute der Rest ihn an, während er meinte: „Es stimmt, es macht keinen Unterschied. Ich konnte es nicht verhindern und darum geht es im Endeffekt.“ Sein Blick war ruhig und entschlossen, als seine grünen Augen in die blauen von Janine blickten. „Mir war all die Zeit nur wichtig, dass du die genauen Umstände kennst. Ich finde, du hast das Recht darauf genau zu wissen, wie und warum sie gestorben ist. Und ja, dazu gehört auch der Punkt, dass ich versucht hatte es zu verhindern. Wem du am Ende die Schuld geben möchtest bleibt dir überlassen. Und wenn du sie mir geben willst, habe ich nicht vor mich davon freizusprechen. Das würde ich nur, wenn sie überlebt hätte.“ Janines Fäuste zitterten, während Tränen über ihre Wangen liefen. „Tu nicht so verständnisvoll…“ Jacks Lächeln war traurig. „Wieso? Weil ich mir selbst die Schuld dafür gebe?“ „Als würdest du das wirklich tun!“ Janine machte auf dem Absatz kehrt und stürmte an Saya vorbei aus dem Zimmer. Schweigen breitete sich aus, bis Susanne schließlich unsicher fragte: „Gibst du dir wirklich die Schuld dafür?“ Seufzend betrachtete Jack seine linke Hand, fast so, als hätte er selbst die Mordwaffe gehalten. Schließlich ballte er sie zur Faust. „Die Zuschauer sind nicht besser als der Täter selbst. Jeder, der die Macht gehabt hätte es zu verhindern und es nicht verhindern konnte ist genauso schuldig. Egal aus welchem Grund.“ Er schaute zur Tür, aus der Janine kurz davor das Zimmer verlassen hatte. „Außerdem befürchte ich, dass sie sich selbst noch viel mehr Vorwürfe macht als mir. Obwohl sie wirklich überhaupt keine Schuld trifft.“ Carsten senkte den Blick. Es war gut möglich, dass Jack mit seiner Vermutung recht hatte. Nein, es war sogar sehr wahrscheinlich. Aber wie sollten sie Janine nur von ihren Selbstvorwürfen befreien? Eagle hatte immer noch die Arme vor der Brust verschränkt und meinte zerknirscht: „Noch so einen pseudo-einfühlsamen Kommentar von dir und ich schlag dir den Kopf ab.“ „Eagle!“ Carsten war vom Bett aufgesprungen. „Hör auf ihn in Schutz zu nehmen!“, schrie Eagle ihn an. „Ich hab ja kapiert, dass es dir scheiß egal ist! Ich hab kapiert, dass es dir am Arsch vorbei geht, was mit Vater geschehen ist! Aber mir nicht!!! Also hör auf mir Vorwürfe zu machen, wenn ich den Typen verurteile, der ihn ermordet hat! Wenn du dich auf die Seite von seinem Mörder stellst, dann bitte! Aber dann lass mich trotzdem so reagieren, wie es sich eigentlich für seinen Sohn gehören sollte!!!“ Bei Eagles Worten fühlte sich Carsten so, als hätte Frau Reklövs Dolch doch sein Herz durchbohrt gehabt. Als wäre da dieses eisige, spitze Metall, tief drinnen in seinem Körper. Sein Magen zog sich zusammen. War es denn falsch? Verhielt er sich falsch, nur, weil er Jack in Schutz nahm? War es falsch, dass er ihn nicht hasste? Saya berührte Eagle an der Schulter. „Eagle, du solltest wieder heim gehen und versuchen noch ein bisschen zu schlafen. Die letzten Wochen und noch dazu die Prüfungen haben ziemlich viel von dir abverlangt, du bist einfach übermüdet.“ Eagle schüttelte die Hand seiner Stiefmutter ab. „Und jetzt bin ich wieder der Böse, nicht wahr?! War ja klar. Nur so zur Info: Ich habe meinen Vater geliebt! Wenn das für euch beide so unmöglich erscheint, nur zu! Dann verhätschelt halt seinen Mörder!!!“ Carsten kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe, während Eagles Vorwürfe wie ein Hagelschauer auf ihn einschlugen. Nach all dem hatte er es ihm doch immer übelgenommen. Eagle hatte ja auch recht, es war falsch. Es war falsch, dass er nichts für seinen Vater empfand! Sayas Geduld schien am Ende. „Eagle, es reicht. Es ist genug! Du gehst jetzt sofort nach Hause, haben wir uns verstanden?!“ „Hör auf, dich wie meine Mutter aufzuspielen!!!“, schrie Eagle außer sich. Was zum- Entsetzen breitete sich in Carsten aus. Das hatte er nicht wirklich gesagt. Nach allem, was Saya für ihn getan hatte?! Für ihre gesamte Familie?!? Tränen schossen in Sayas Augen und dennoch zwang sie sich mit aller Kraft zur Ruhe. „Du solltest gehen. Jetzt.“ Eagle schnaubte, rührte sich aber nicht von der Stelle. Saya zeigte auf die Tür. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. „Matt Eagle Bialek, raus! Sofort!!!“ Carsten zuckte bei ihrer gebrochenen Stimme zusammen. Gleichzeitig begann Jack plötzlich loszulachen. Irritiert schaute Carsten zu ihm rüber, genauso wie der ganze Rest. Absolute Verwirrung. Doch Jack schaffte es nicht, sich einzukriegen. „N-noch mal… was… wie hast du…?“, gluckste er, konnte seine Frage aber kaum ausformulieren. Stattdessen kamen ihm die Tränen vor Lachen. Anne betrachtete ihn angewidert. „Was ist falsch mit dir?“ Jack nahm keine Notiz davon. Der Lachanfall war viel zu stark, er kam gar nicht mehr zur Ruhe. Eher das Gegenteil war der Fall. Ebenso nahm die Verwirrung von den anderen zu. Was war an dieser Situation lustig? „Sorry, aber… es ist…“, versuchte Jack sich zu erklären, ohne Erfolg. Carsten ertappte sich dabei, dass er selbst auflachen musste. Warum? Nichts daran war witzig! Ihm war überhaupt nicht zum Lachen zumute!!! Und trotzdem konnte er nicht anders als lächeln. Jacks Lachen hatte irgendetwas Ansteckendes. Es wirkte so heiter und sorglos. Auch Laura musste leise kichern. „Könntest du uns bitte mal erklären, was daran so witzig ist?!“, forderte Öznur ihn komplett von der Rolle auf. „Der… der Name!“, brachte Jack zwischen zwei Atemzügen vor und lachte direkt umso lauter. „Hä?“, war Lauras einzige Reaktion drauf. Doch so langsam verstand Carsten was er meinte. „Ach so, Eagle klingt genauso wie das deutsche Wort für Igel.“ Auch Lissi musste nun lachen. „Stimmt ja, wie süß!“ „Was zum- Na und?!“ Eagle war immer noch viel zu aufgewühlt. Er ging zum Krankenbett rüber und packte Jack am Kragen seines Patientenhemds. Dieser war alles andere als eingeschüchtert, beruhigte sich aber so langsam. Ganz langsam. „Kein Grund direkt die Stacheln auszufahren, Igelchen.“ Er streckte seine linke Hand aus. „Gebt mir mal ein Handy.“ „Ich geb dir gleich was ganz anderes!!!“, donnerte Eagle. „Ein Küsschen?“, fragte Lissi lachend und erzielte direkt den gewünschten Effekt, als Eagles Kopfkino dafür sorgte, dass er Jack angewidert losließ. Sie zwinkerte Jack zu und reichte ihm ihr Smartphone. „Ich würde auch eins als Dankeschön annehmen.“ „Glaube nicht, dass du das wirklich willst.“, meinte Jack nur, nahm aber das Handy entgegen. Ariane seufzte. „Oh doch, Lissi will sowas wirklich.“ Lissi warf Jack einen Luftkuss zu. „Dein Dämon ist der Skorpion? Also mich kannst du gerne mit deinem Stachel stechen.“ Das Blut schoss in Carstens Kopf. Was hatte sie-? Auch Laura war hochrot und schüttelte sich, als hätte jemand einen Eimer Wasser über ihr ausgekippt. Jack hielt beim Eintippen inne. „Ich tu mal so als hätte ich nichts gehört.“ Anne würgte. „Scheiße Lissi, das ist selbst für dich krass. Viel zu krass.“ „Ach, wieso denn?“, fragte Lissi mit ihrem fröhlichen Unschuldston. „Ich wette, Jackie-Chan ist absolut heiß im Bett.“ Lissi beugte sich vor, um Jack einen Schmatzer auf die Wange zu geben, doch dieser hob ohne aufzublicken das Smartphone, sodass Lissi ihr Display abknutschte. Seine stumpfe Reaktion auf diesen Annäherungsversuch brachte nicht nur Carsten, sondern auch den Großteil der Mädchen zum Lachen. Auch Anne. Und selbst Eagles Schnauben klang eher nach dem Versuch zu überspielen, dass der Anblick sogar ihn amüsierte. Lissi lachte von allen am lautesten, als sie das Smartphone in die Hände nahm. „Was ist das denn?!“ Jack grinste. „Ein Mettigel.“ Verwirrt legte Laura den Kopf schief. „Hä? Ein Matt Eagle?“ Auch Lissi kamen vor Lachen inzwischen die Tränen, als sie das Handy an Laura weitergab, die direkt miteinstimmte. Neugierig schaute Carsten Laura über die Schulter. Auf dem Handy waren mehrere Bilder von Fleischklumpen, die irgendwie mit Stacheln verziert waren. Und zwar immer in Form eines… Igels! Ein Mettigel! Während Jack sich also inzwischen endlich wieder so halbwegs eingekriegt hatte, bekam der ganze Rest einen Lachanfall als er die Bilder auf dem Handy sah. Alle außer Eagle, dessen Gesicht einen dunklen Rotton annahm, als er bemerkte, was ‚Mettigel‘ bedeutete. Öznur drückte ihm lachend einen Schmatzer auf die Wange. „Mein süßes Mettigelchen.“ „Das wird dich ab sofort ewig verfolgen.“, bemerkte Anne belustigt. Eagle gab irgendeinen verlegenen Laut vor sich. Ganz offensichtlich kam er gar nicht mit diesem seltsamen Witz auf seine Kosten klar. „Was soll der Scheiß? Ich wurde nach dem Grauen Adler benannt und nicht nach einem…“ „Partysnack?“, schlug Jack lachend vor. „Mmmm, zu schade, dass nur Özi-dösi ihn vernaschen darf.“ Lissi kicherte. „Ach du scheiße, da haben sich zwei gefunden.“, murmelte Eagle, eher zu sich selbst. Lachend umarmte Öznur ihn. „Ach komm, Liebling, es ist nur fair. Carstens offizieller Name wurde ihm wegen der Bedeutung ‚Todesbote‘ gegeben, und deiner klingt halt nach einem… Partysnack.“ Eagle fuhr zu Saya herum. „Was habt ihr euch dabei gedacht?! Es wäre alles besser gewesen als Matt!!!“ Saya lächelte schwach, dennoch standen immer noch Tränen in ihren Augen. „Ich hatte deinen Namen nicht ausgesucht, das waren deine Eltern gewesen…“ Allmählich ließ das Lachen nach. Eagle senkte den Kopf, als wolle er Sayas Blick ausweichen. „Können… wir das auf den Schlafmangel schieben?“ Seufzend ging Saya auf ihn zu. Sie reichte Eagle gerade mal bis zu den Schultern und dennoch hatte man den Eindruck, dass sie die größere der beiden war. Eagle blickte immer noch bedrückt auf den Boden, nicht dazu in der Lage seiner Stiefmutter in die Augen zu schauen. Schließlich schüttelte sie den Kopf und nahm ihn in die Arme. „Tut mir leid…“, brachte Eagle mit zitternder Stimme hervor und erwiderte die Umarmung so fest, dass man Angst hatte er könnte Saya damit zerquetschen. „Es… es tut mir so leid.“   Gedankenverloren knöpfte sich Carsten das schwarze Hemd zu. Er hatte nicht mehr viel Schlaf bekommen, nachdem sie vom Krankenhaus zurückgekehrt waren und entsprechend drückte die Müdigkeit auf seine Augenlider. Es klopfte gegen seine Zimmertür. „Bist du fertig?“ „Kannst reinkommen.“, antwortete er auf Lauras Frage. Seufzend betrat Laura den Raum und schob einige der rötlichen Haarsträhnen hinter ihr Ohr. Zwar trug sie wie sonst auch schwarz, doch dieses Mal war die Kleidung eleganter im Vergleich zu ihrem sonstigen Manga-Mädchen-Style. Es war ein hübsches Kleid, was ihre Figur und besonders die schlanke Taille sehr schön betonte. Aber leider trug sie es aus keinem sonderlich schönen Anlass… „Willst du wirklich mitkommen?“, fragte sie ihn, mit Blick auf sein schwarzes Hemd. „Immerhin war er… hatte er doch…“ Carsten lächelte traurig. „Das war nicht er, sondern Mars‘ Wille, der ihm aufgezwungen wurde.“ Er betrachtete sich im Spiegel. Es war ihm immer ein Rätsel, wie Benni dauernd nur schwarze Kleidung tragen konnte. Das wirkte so trostlos, so eintönig. Besonders mit Carstens schwarzen Haaren und der relativ dunklen Indigonerhautfarbe. Kichernd ging Laura zu ihm rüber und öffnete die oberen Hemdknöpfe wieder, die er eben zugemacht hatte. „Hey!“, empörte er sich. Zufrieden trat Laura einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während sie ihn betrachtete. „Damals, bei Eufelia-Senseis Trauerfeier ist mir das gar nicht aufgefallen, aber schwarz steht dir richtig gut. Irgendwie elegant und trotzdem rebellisch.“ Carsten lachte auf. „Ich und rebellisch?“ „Vielleicht hilft schwarze Kleidung ja dabei?“, vermutete Laura ebenfalls lachend. „Du meinst, das ist Bennis Geheimnis?“ Seufzend knöpfte Carsten einen der eben geöffneten Knöpfe wieder zu. Laura senkte den Blick und kaute betrübt auf ihrer Unterlippe herum. Ehe er die restlichen Knöpfe wieder schließen konnte, schnappte sie aber seine Hand und zog ihn aus dem Zimmer. „Auf, wir kommen sonst noch zu spät.“ Im Eingangsbereich angekommen, liefen sie Eagle, Öznur und Lissi über den Weg. „Da erfüllt eindeutig die falsche Person das Frauen-Klischee.“, kommentierte Eagle amüsiert. Lissi kicherte. „Heiß, Cärstchen. Bitte noch ein paar Knöpfe mehr öffnen.“ „Jetzt noch ein Choker und einen Nietengürtel und er sieht wie einer dieser K-Pop-Stars aus, für die Nane so schwärmt.“, stellte Öznur lachend fest. Direkt stieg die Hitze in Carstens Wangen. Begeistert klatschte Lissi in die Hände. „Stimmt, total!“ Laura lachte auf. „Bis auf die Hautfarbe, die ist ein bisschen zu dunkel.“ „Waren wir nicht spät dran?“, fragte Carsten sie leicht verbissen und total verlegen. Eagle, der neben der Garderobe stand, reichte den beiden jeweils ihre Jacke. „Denkt ihr, ihr schafft es noch rechtzeitig zurück für das Krisentreffen?“ „Denke schon.“, antwortete er, alles andere als motiviert. Bei den Regierungen ging gerade alles drunter und drüber und eigentlich hatte er keine Lust auf das ganze Chaos. Aber je mehr Augenzeugen von dem Angriff auf die Coeur-Academy berichten konnten, und je mehr versicherten, dass es ohne Eagles Dämonenkräfte alles andere als gut ausgegangen wäre, desto bessere Chancen hatten sie für das Gesetz, welches Dämonenverbundene endlich in ganz Damon schützen sollte. Eagle nickte nur. „Dann bis nachher.“ Gemeinsam verließen Carsten und Laura die Hauptstatt Indigos, um sich außerhalb der Magiebarriere nach Yami zu teleportieren. Carsten merkte, wie Laura trotz ihrer Jacke zu frieren begann, als sie zur Trauerhalle in einem Stadtteil Zukiyonakas gingen. „Willst du wirklich mitkommen?“, stellte er dieselbe Frage an sie, die sie zuvor an ihn gerichtet hatte. Zitternd atmete Laura aus. „Du hattest es doch selbst gesagt. Das damals… das war nicht Max. Und wenn Benni schon nicht dabei sein kann…“ Laura wischte sich über die Augen. Vor der Trauerhalle erblickten sie einen hochgewachsenen Mann, sicherlich zwei Meter groß, die langen rosaroten Haare zu einem lockeren Zopf gebunden, der sich mit einer Frau unterhielt. Als er die beiden erblickte, hob er zum Gruß die Hand. „Lange nicht mehr gesehen.“ „Herr Bôss, wie sieht es auf der Coeur-Academy aus?“, erkundigte sich Carsten, nachdem auch er und Laura die beiden gegrüßt hatten. Der Direktor seufzte. „Chaotisch. Aber nichts, was sich nicht wiederaufbauen lässt. Wie durch ein Wunder haben wir keine Toten zu beklagen. Es gibt einige mit kritischeren Verletzungen, die sich irgendwo anders auf dem Campus aufgehalten hatten, doch ihr Zustand ist stabil.“ Laura atmete erleichtert auf. „Zum Glück.“ „Einige besorgte Eltern haben ihre Kinder heim beordert, aber viele sind auch geblieben, um beim Aufräumen und Aufbauen zu helfen. Wobei ich nicht glaube, dass dieses Schuljahr noch normal zu Ende gehen wird.“ Carsten nickte langsam, mit den Gedanken automatisch bei Benni und Mars. Dennoch fiel ihm auf, dass auch Herr Bôss ziemlich übermüdet wirkte. Der Stress und all die Sorgen schienen wohl auch von ihm ihren Tribut zu fordern. „Laura, Carsten, lange nicht gesehen.“ Ein Junge in ihrem Alter verließ die Trauerhalle und grüßte sie mit einem schwachen Lächeln. Er hatte feuerrotes Haar, vermutlich gefärbt, und freundliche braune Augen. „Hallo, Jannik.“, grüßte Laura zurück und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln. Er stellte sich neben die Frau, die sich zuvor mit Herr Bôss unterhalten hatte. „Wie ich sehe, habt ihr meine Mutter schon kennengelernt?“ Laura schüttelte den Kopf. „Ähm nein, noch nicht.“ „Ach so, na dann: Das ist meine Mutter.“ „Ihr könnt mich Katharina nennen.“ Janniks Mutter lächelte die beiden an und reichte ihnen ihre Hand. Direkt war Carstens eigene schweißnass und er war froh, dass Laura das Vorstellen automatisch für ihn mit übernahm. Katharina hatte ebenso braune Augen wie ihr Sohn und dunkle kurze Haare. Carsten erinnerte sich, dass sie laut Janniks und Lauras Erzählungen Psychotherapeutin war und direkt fühlte er sich noch unwohler. Direkt fiel ihm das Atmen umso schwerer. Laura schaute verwirrt zwischen Katharina und Herr Bôss hin und her. „Ähm… Kennen Sie sich?“ Der Direktor zuckte lächelnd mit den Schultern. „Die Welt ist nun mal sehr klein.“ „Woher denn?“, fragte Laura neugierig. Er und Janniks Mutter tauschten einen Blick aus, was Carsten sofort seltsam vorkam. Und auch die Antwort „Man läuft sich einfach häufiger mal über den Weg.“ stimmte ihn nicht wirklich zufrieden. Dennoch fragte er nicht weiter nach. Zum einen, weil es unhöflich wäre, zum anderen, da er sich ohnehin niemals trauen würde. Dies waren wohl auch die Gründe, weshalb Laura schwieg. Jannik seufzte und deutete mit dem Daumen hinter sich auf das Gebäude. „Es fängt bald an…“ Schweigend betraten sie die Halle. Mehrere Stuhlreihen waren aufgestellt, das Mobiliar komplett aus hellem Holz. Die weißverputzten Wände wurden von länglichen Bogenfenstern unterbrochen, zwischen denen flackernde Kerzen hingen. Doch trotz der hellen Farben herrschte eine erdrückende Stimmung. Und trotz der gedämpften Gespräche und dem leisen Schluchzen war es eine bedrückte Stille. Der Grund dafür war der helle Eichensarg, umrahmt von unsagbar vielen Blumen und Kränzen. Auch, wenn der Deckel geschlossen war meinte Carsten zu sehen, wie Max da drinnen lag. Die Augen geschlossen bei seinem ewigen Schlaf. Vermutlich hatte man ihm edlere Kleidung angezogen als die schwarze Jeans und das schwarze blutdurchtränkte T-Shirt, welches er an jenem Abend getragen hatte. Schaudernd wandte Carsten den Blick ab. Leichen hatte er häufig genug zu Gesicht bekommen, schon alleine aus dem Grund, da Sakima ihn gelegentlich in der Gerichtsmedizin bei Untersuchungen hatte assistieren lassen. Aber wenn man die Arzt-Brille abnahm, wenn man sich bewusst machte, dass dieser Patient, diese Person, nie wieder bei ihnen sein würde… Übelkeit stieg in Carsten auf. Diesen Sarg zu sehen und all die Leute, die ihn ebenfalls betrachteten belastete ihn viel mehr als alles, was er in der Gerichtsmedizin jemals zu Gesicht bekommen hatte. Denn das hier war das Leben. Das Leben von allen anderen, das weitergehen musste. Und zwar ohne diese eine Person, die es in irgendeiner Form bereichert hatte. Alle Besucher waren in schwarz gekleidet, die meisten hatten ihre Blicke gesenkt, wenn sie nicht gerade auf den Sarg schauten. Carsten erkannte viele, die etwa in ihrem Alter waren. Max war wohl vor all dem ziemlich beliebt gewesen… Ein Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren kam auf sie zu. Er erinnerte sich, das war Mai, Janniks Freundin. Sie drückte sowohl Jannik als auch dessen Mutter und Laura kurz an sich, ehe sie Carsten und Herr Bôss mit einer höflichen japanischen Verneigung begrüßte. Jannik und Mai tauschten ein paar Worte auf Japanisch aus. „Wie geht’s ihm?“, fragte er. „Wie wohl?“ Sie seufzte und wies mit dem Kopf in die Richtung aus der sie gekommen war. Es war die zweite Reihe auf der linken Seite, wo zwei hagere junge Männer saßen. So schmal, dass es alles andere als gesund wirkte. Beide hatten sehr kurze Haare, die des einen waren braun, die des anderen schwarz. Der Schwarzhaarige schien eigentlich recht hochgewachsen, war aber so auf dem Stuhl zusammengekrümmt, dass man es nur erahnen konnte. Der andere hatte alle Mühe, seinen Freund zu beruhigen. Offensichtlich komplett ohne Erfolg. Laura hielt inne. „Sind das…“ Jannik lächelte traurig. „Kevin und Alex, ja. Sie sind vor etwa einem Monat endlich aus dem Koma aufgewacht.“ „Wir hatten endlich wieder Hoffnung und jetzt… das…“, ergänzte Mai und wischte sich eine Träne von der Wange. Ein Glockenschlag ertönte. Bedrückt atmete Jannik aus. „Wir reden später weiter, okay?“ Mit diesen Worten gingen er und Mai nach vorne zu ihren Freunden, während Laura, Carsten und Herr Bôss etwas weiter hinten Platz nahmen. Es wurde viel erzählt und je mehr sie von Max erfuhren, desto mehr wurden sich Laura und Carsten bewusst, dass diese Geschichte niemals hätte so enden dürfen. Obwohl auch die ‚dunkle Macht, die Max all diese schlimmen Dinge machen ließ‘ erwähnt wurde, gab es so viele gute Geschichten, so viel Gutes, was er in seinen jungen Jahren bereits getan hatte. Und so langsam realisierten sie auch, warum sich Benni so gut hatte in die Gruppe eingliedern können. Max schien eine Art Brücke gewesen zu sein. Mit seiner lockeren, offenen Art hatte er kein Problem gehabt in der Gesellschaft zurechtzukommen, und doch war er mit seinen idealistischen Vorstellungen ein Außenseiter gewesen. Einerseits war er mal Schulsprecher in der Mittelstufe gewesen, andererseits hatte er es geliebt mit seinen gefärbten Haaren, den Kontaktlinsen und der Rockband die Rolle des Elternschrecks zu spielen. Gerade konservative Familien konnten mit dem frechen, liberalen Gemüt nichts anfangen. Doch seine Mitschüler hatte er damit erreicht und auch viele der Lehrer hatten ihn für sein konsequentes Einstehen für seine Prinzipien respektiert. Bedrückt senkte Carsten den Blick. Wie gerne hätte er diese Seite von Max kennengelernt… Die restliche Zeit der Trauerfeier verlor er sich in seinen Gedanken und Vorstellungen. Malte sich Alternativen aus, eine Realität, in welcher Max überlebt hätte. Stellte sich das lachende, tränenreiche Wiedersehen mit all diesen Leuten hier vor. Das Ende, was er eigentlich verdient hätte und nicht das, was Mars ihm beschert hatte. Es war unfair. Es war alles so unfair! Carsten merkte, wie seine Hände zitterten, als er sie zur Faust ballte. Gleichzeitig fiel ihm auf, dass viele Leute bereits ihren Platz verlassen hatten und sich auf den Weg zu der Gaststätte machten, in welcher das Tröstermahl stattfinden sollte. Hatte er sich wirklich so lange in seinen Tagträumen verloren? Laura rüttelte an seiner Schulter. „Lässt du mich mal durch?“ „Hm? Oh, natürlich.“ Carsten stand auf und beobachtete, wie Laura tief durchatmete und nach vorne zu der Gruppe ging, wo auch Jannik und Mai inzwischen saßen. Eine der wenigen, die die Halle noch nicht verlassen hatten. Zögernd folgte Carsten ihr ein bisschen, blieb aber auf Abstand. Laura beugte sich zu dem dürren Schwarzhaarigen runter und meinte zögernd: „Hey, Alex… Lange nicht gesehen…“ Besagter Alex schaute auf und ein trauriges Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Hey, Püppchen. Wie schön, dass es dir gut geht.“ Carsten war verwirrt. Püppchen? Seltsamer Spitzname… Nachdem sowohl Alex als auch der andere, der wohl Kevin hieß, Laura an sich gedrückt hatten, drehte diese einen Stuhl aus der vorderen Reihe um, um sich mit den beiden gedämpft unterhalten zu können. Jannik war derweil aufgestanden und kam zu Carsten rüber. „Eine Porzellanpuppe.“, meinte er nur. „Wegen ihrer hellen Haut und weil sie immer so zerbrechlich gewirkt hat. Deshalb kam Max damals auf den Spitznamen Püppchen.“ Carsten lächelte traurig. Irgendwie passte das. Und selbst jetzt, nachdem der Schwarze Löwe ‚entschieden‘ hatte Laura nicht zu verlassen und sie ihre Energie und dadurch auch ihre Krankheit unter Kontrolle hatte… Man hatte immer noch Angst sie würde zerbrechen, wenn ihr irgendetwas Schlimmes widerfahren würde. Wenn sie fallen würde… Jannik seufzte und schaute nach vorne Richtung Sarg. „Die beiden waren zusammen…“ „Was?“ „Max und Alex, die beiden sind ein Paar gewesen.“, erklärte er ausführlicher und senkte den Blick. „Hatte ganz schön Aufsehen erregt, damals. Gerade hier in Yami wird Homosexualität von vielen noch als eine Art Krankheit betrachtet. Bei Alex kam schon ziemlich früh raus, dass er schwul ist. Im ersten Jahr der Mittelstufe hatte er ganz schön unter seinen Mitschülern deswegen leiden müssen und er war an sich schon immer ein sehr schüchterner Typ mit wenig Selbstvertrauen gewesen. Als die beiden schließlich zusammenkamen hatte er sich aber total verändert und ist richtig über sich hinausgewachsen.“ Jannik lachte auf. „Max hat die Beziehung nahezu Hemmungslos ausgelebt. Du weißt ja, dass wir eine Schülerband waren, oder? Na ja, bei Auftritten hatte er Alex manchmal vor aller Augen abgeknutscht. Gerade die Mädchen feierten sowas immer ab.“, erzählte er belustigt. „Aber Max wollte einfach, dass die Leute sehen, dass es normal ist. Dass ein Mann auch einen Mann in aller Öffentlichkeit küssen kann und nicht immer nur Mann und Frau.“ Carsten senkte den Blick. „Er stand wirklich sehr hinter seinen Idealen, oder?“ „Und wie.“ Jannik nickte. „Gerade was Mobbing betraf war er der Erste, der dazwischen schritt.“ Er wies auf den anderen Jungen, den mit den braunen Haaren. „Kevin hatte eigentlich nie etwas getan und ist trotzdem ständig von seinen Mitschülern schikaniert worden.“ Jannik seufzte. „Bennis Geschichte kennst du wohl besser als wir alle zusammen. Nun ja und ich… Ich litt eigentlich seit dem Tod meines Vaters unter Depressionen und selbst Therapien und Medikamente hatten kaum geholfen.“ Er lächelte traurig. „Erst Max‘ alberne Idee mit dieser Band.“ „Ihr wart also eigentlich eine kleine Selbsthilfegruppe.“, stellte Carsten fest. Jannik lachte auf. „Volltreffer.“ Er grinste Carsten an. „Du hättest auch sehr gut dazu gepasst.“ Carsten lachte schwach, schaffte es aber nicht etwas darauf zu erwidern. Und wie gut er dazu gepasst hätte… „Deswegen hatte Benni ihm auch so ein Vertrauen entgegen bringen können…“, sinnierte er betrübt. „Da er selbst so unter der Gesellschaft leiden musste, es sich aber ebenso wenig gefallen ließ.“ Jannik nickte. „Gut möglich. Gerade was Tierwohl betrifft waren die beiden auf einer Wellenlänge.“ Er stützte sich auf einer Stuhllehne ab. Carsten merkte, wie seine Hände sich anspannten als er mit gepresster Stimme hervorbrachte: „Und jetzt ist er nicht mehr da. Nach all dem, was er für uns getan hat… Und wir konnten nicht einmal mehr danke sagen.“ Beschämt senkte Carsten den Blick, als er sah wie Tränen über Janniks Wangen liefen während dieser weiterhin den Sarg betrachtete. Jannik biss die Zähne zusammen. „Gibt… Wenn es irgendetwas gibt, wo ich helfen kann… Irgendetwas… Ich weiß, meine Kampfkunstfähigkeiten werden euch nichts bringen, aber ansonsten… Wenn ich dazu beitragen kann, dass das Monster, was ihm das angetan hat… Was für all das verantwortlich ist…“ Carsten versuchte das beklemmende Gefühl herunterzuschlucken. Er konnte es so gut verstehen… Wie schlimm es war tatenlos mit anzusehen, wie jemand wichtiges leiden musste. Wie jemand einem weggenommen wird, ohne, dass man etwas dagegen unternehmen kann. Und ja, so sehr er dieses Gefühl auch verabscheute, er verstand, dass Jannik Rache wollte. Oder zumindest irgendeine Form der Gerechtigkeit. Alles, nur nicht diese gezwungene Tatenlosigkeit. Er hielt inne. Vielleicht… „Es… es könnte wirklich etwas geben.“, fiel ihm auf. Ein Problem, was er bisher gar nicht wahrgenommen hatte. Erst, als er die Lösung bereits gefunden hatte. „Wirklich?“, fragte Jannik hoffnungsvoll. Carsten nickte zögernd. „Es ist… Du… Weißt du, was mit… warum Benni nicht… da sein kann?“ Er versuchte das Stechen in der Brust zu ignorieren. „Herr Bôss hatte eine Vermutung.“, antwortete Jannik verbissen. „Auch wenn ich hoffe, dass sie falsch ist.“ Carsten hielt mit aller Kraft die Tränen zurück, als er den Kopf schüttelte. „Zumindest… Also, du bist doch eigentlich ein Kampfkünstler, oder?“ Jannik nickte. „Und du bist genauso wie ich vom Schwarzen Löwen gezeichnet.“ Ein weiteres Nicken. Carsten atmete aus. Einerseits fiel ihm erleichtert ein Stein vom Herzen, andererseits war da immer noch dieser qualvolle Schmerz. Dieser Druck und gleichzeitig dieses Ziehen, das Gefühl auseinander gerissen zu werden… Schon alleine, dass er diesen alternativen Weg wählen musste… „Also… du weißt von dem Bann, oder?“ „Dass ihr dieses Mistvieh ein für alle Mal aus der Welt schaffen wollt? Ja, davon weiß ich.“ „Wir… um den Zauber zu starten muss ein dämonenverbundener Kampfkünstler einen Blutzoll zahlen. Aber… Jetzt, da Benni…“ Zitternd atmete Carsten tief durch, versuchte irgendwie seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. „Es könnte einen Weg geben ihn zu retten. Aber wenn… Bisher sieht es nicht so aus, als würde dieser Weg leicht sein. Also… selbst wenn wir diesen Weg gehen, selbst wenn wir es schaffen, … Wird Benni sehr wahrscheinlich nicht dazu in der Lage sein, diese Rolle übernehmen zu können.“ Jannik verstand, was er meinte. „Der einzige Moment wo ein Dämon sich gezwungen sieht den Körper seines Dämonenbesitzers zu verlassen ist, wenn dieser dem sicheren Tod gegenübersteht… Wie bei meinem Vater damals…“ „… Genau…“ Betreten rief sich Carsten in Erinnerung, dass Janniks Vater Lauras Vorgänger gewesen ist. Und dass die Dämonenjäger damals Jannik entführt hatten, um seinen Vater mit ihm erpressen zu können. Kein Wunder, dass er eine so lange Zeit unter Depressionen gelitten hatte… „Du hattest Benni als dämonengesegneten Kampfkünstler in der Rolle für diesen Blutzoll gesehen, nicht wahr?“, unterbrach Jannik Carstens Gedanken, den Blick immer noch auf den Sarg gerichtet, in welchem sein Cousin lag. Carstens Nicken nahm er gar nicht wahr, stattdessen meinte er mit zusammengebissenen Zähnen: „Ich bin dabei.“ „Was?“ „Ich werde diese Rolle für deinen Zauber übernehmen. Es haben schon viel zu viele Leute mit ihrem Leben bezahlt. Dieses Monster muss endlich gestoppt werden.“ „W-wirklich?“, fragte Carsten und konnte nicht wirklich glauben, was er da hörte. „Du weißt, dass es … Es könnte ziemlich gefährlich werden und… und wir könnten trotzdem noch scheitern. Ich weiß nicht… Ich kann nicht garantieren, dass jeder das überlebt, also…“ Jannik schüttelte den Kopf, Entschlossenheit lag in seiner Stimme. „Ich will meinen Beitrag dazu leisten, genauso wie Max alles gegeben hatte, um das Blatt noch zu wenden. Das bin ich ihm schuldig.“ Er schaute zu Laura rüber, die sich immer noch mit Alex, Kevin und Mai unterhielt. „Das bin ich ihnen allen schuldig.“ Erleichterung breitete sich in Carsten aus, doch gleichzeitig war da auch noch das schlechte Gewissen. Die Gewissheit, jemanden mit dieser einen Bitte in Lebensgefahr zu bringen. Besonders, da Jannik kaum Kampferfahrung hatte, um sich selbst ausreichend verteidigen zu können. Er versuchte das schlechte Gewissen herunterzuschlucken, doch ohne Erfolg. „Es… es tut mir leid…“ Jannik lächelte ihn an. „Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen. Du zwingst mich zu nichts, das ist komplett meine Entscheidung.“ „Dann… Dann danke.“ Automatisch formten sich auch Carstens Lippen zu einem Lächeln. Eine Weile noch standen sie einfach nur da und hingen schweigend ihren Gedanken nach, bis Carsten plötzlich von der Seite angesprochen wurde: „Entschuldigen Sie, sind Sie der junge Mann, der meinen Sohn neulich… der bei ihm war, als… als das…“ Erschrocken zuckte Carsten zusammen und schaffte es nicht wirklich zu antworten. Doch dafür stand Herr Bôss plötzlich bei ihm und meinte: „Guten Tag, Frau Sasaki. Tut mir leid, Carsten ist nicht derjenige, von dem ich erzählt hatte.“ Sie senkte den Kopf. „Ach so, dann… Verzeihen Sie die Störung.“ So langsam dämmerte es Carsten, dass die Frau mit den dunklen Haaren und den braunen Augen wohl Max Mutter war, auch wenn sie sich kaum ähnlich sahen. Automatisch und alles andere als wohl in seiner Haut streckte Carsten die Hand aus. „M-mein… mein Beileid.“ Mit einem bedrückten Dank nahm sie kurz seine Hand, was Carsten sehr unangenehm war, so verschwitzt wie sie sich anfühlen musste. „Sind Sie ein Freund von diesem jungen Mann?“, fragte sie. Carsten nickte und zwang sich so gut es ging zu einer normalen Antwort. „Er ist immer noch stark verletzt, daher… Daher bin ich an seiner Stelle gekommen.“ „Verstehe… Könnten Sie… Könnten Sie ihm meinen Dank ausrichten?“ „Ähm… natürlich.“, antwortete Carsten, trotzdem etwas verwirrt. Sie tätigte eine japanische Verneigung. „Vielen Dank. Ich würde gerne persönlich mit ihm sprechen, aber wenn seine Verletzungen das noch nicht zulassen… Ich wollte einfach, dass er… Dass er weiß wie viel es mir bedeutet, dass er am Ende bei ihm war. Ich weiß nicht, wie all das passieren konnte… Ich will es auch gar nicht wissen. Mich beruhigt die Gewissheit, dass mein Sohn nicht er selbst war. Dass es nicht er war, der all das getan hat, sondern diese seltsame Macht. Und deswegen… Bitte richten Sie deswegen dem jungen Mann meinen Dank dafür aus, dass er bei meinem Sohn war, als er endlich wieder er selbst sein konnte. Dass er ihn trotz all dem nicht alleine gelassen hat.“ Betreten nickte Carsten. „Ich werde es ihm ausrichten.“ „Danke schön…“ Es war deutlich, wie schwer es ihr fiel das Schluchzen zu unterdrücken, als sie sich erneut verneigte und zu anderen Gästen der Trauerfeier davonging. Betrübt schauten Carsten, Jannik und Herr Bôss der Frau hinterher, die soeben zum zweiten Mal ihren Sohn verloren hatte… Erst als er von Mars‘ Einfluss gefangen wurde und jetzt… jetzt für immer… Carsten presste die Lippen zusammen. Und wieder dachte er es sich. Wieder kam der Gedanke auf wie unfair doch alles war… Herr Bôss berührte ihn vorsichtig an der Schulter und fragte schließlich: „Ich wollte zwar nachher vorbeikommen und nach Valentin schauen, aber… Stimmt es, dass seine Verletzungen immer noch so schlimm sind?“ Seufzend setzte sich Carsten auf den nächstbesten Stuhl und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab. „Er ist inzwischen zwar aufgewacht und es geht ihm etwas besser aber… Die Wunden heilen nicht so schnell, wie es normalerweise bei einem Dämonenverbundenen sein sollte. Ich hatte mich gefragt, ob es an Mars‘ Zerstörungs-Energie liegen könnte, aber… Zum Beispiel die Verletzung an seinem linken Arm sieht nicht aus als käme sie von Mars. Und trotzdem verheilt sie nicht schneller als der Rest.“ Herr Bôss senkte den Blick. „Verstehe…“ Er schaute kurz auf seine Armbanduhr und seufzte schließlich. „Mist, wir sollten uns langsam auf den Weg machen.“ Auch Carsten prüfte die Uhrzeit und tatsächlich, in nicht einmal mehr einer Stunde begann die Krisensitzung, die dieses Mal in Indigo stattfinden sollte. Jannik richtete sich auf. „Ich komme mit. Vermutlich ist es besser, wenn wir alle zusammenbleiben, um… Um für alles gewappnet zu sein.“ Carsten nickte seufzend. Ja, besser wäre das. Kapitel 87: Zwischen Angst und Verständnis ------------------------------------------ Zwischen Angst und Verständnis       Schwer atmend erreichten Laura und Carsten das Regierungsgebäude in Karibera und auch Herr Bôss und Jannik wirkten ziemlich k.o. Obwohl sie die gesamte Strecke gerannt waren, waren sie dennoch zu spät. Herr Bôss lachte auf. „Ach wie schön, das erinnert an die Schulzeit.“ „… Als Schüler oder als Lehrer?“, fragte Carsten. Dem Grinsen des Direktors nach zu urteilen gab es da keinen Unterschied. Laura blieb stehen. „Ich will da nicht rein…“ Sie mochte es gar nicht, zu spät zu kommen. Immer diese ganzen neugierigen, teils auch vorwurfsvollen Blicke… Da kam sie dann lieber gar nicht mehr. „Du musst nicht mit, wenn du nicht magst.“, versuchte Carsten sie zu beruhigen. „Mit Herr Bôss und mir haben sie eigentlich genug Leute, die erzählen können was dort geschehen ist.“ Laura betrachtete Carsten und sein schwaches Lächeln. Er fühlte sich doch mindestens genauso unwohl im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie atmete tief durch und schüttelte den Kopf. „Ist schon okay…“ Das Betreten des großen Raumes in dessen Mitte ein riesiger oval förmiger Holztisch stand um den alle möglichen wichtigen Leute saßen war genauso unangenehm, wie vorhergesagt. Laura machte sich noch kleiner als sie ohnehin schon war, als hoffte sie, dadurch nicht gesehen zu werden. Damit irgendwie diesen vorwurfsvollen Blicken zu entkommen. Aber natürlich gelang das nicht. Erst recht nicht ohne einen Kommentar seitens ihres Vaters. „Bedauerlich zu sehen, wie sich die jungen Leute heutzutage nicht einmal mehr an eine Zeitangabe halten können.“ „Entschuldigen Sie die Verspätung, die Trauerfeier hat sich mehr in die Länge gezogen als erwartet.“, erwiderte Herr Bôss ruhig. Dieser Satz kam ihm so locker von den Lippen, als hätte er dieses ‚Entschuldigen Sie die Verspätung‘ schon sehr häufig gesagt. So schnell es ging floh Laura auf den nächstbesten freien Stuhl und hoffte, dass sich die Blicke schon bald wieder auf jemand anderen richten würden. Derweil setzte sich Carsten neben seinen Bruder und schien genauso zu beten, dass es endlich weiter ging. O-Too-Sama räusperte sich. „Nun denn, Miss Sultana, verzeihen Sie die Unterbrechung. Fahren Sie doch bitte fort.“ Überrascht schaute Laura auf. Tatsächlich, ohne es zu merken hatte sie sich neben Anne gesetzt und neben dieser wiederum saß… Besorgt stellte Laura fest, dass Annes Mutter immer noch sehr mitgenommen aussah. Die indigonischen Ärzte hatten ihre Wunden wirklich gut versorgt und trotzdem… All die Bandagen, der müde Blick und… Laura schauderte, als ihr bewusst wurde, dass Annes Mutter die Augenklappe über dem linken Auge wahrscheinlich nicht nur zur Zierde trug. Diese Frau ist vor wenigen Tagen erst aus einer Gefangenschaft entkommen, in der man sie aufs brutalste gefoltert hatte… Ein eiskaltes Gefühl ließ Laura frösteln, als sie sich dessen bewusst wurde. Als sie realisierte, wie schlimm es all die Zeit um Annes Mutter gestanden hatte. Wie schlimm es immer noch um sie stand! Während Sultana ihre Erzählung fortsetzte, tauschte Laura einen ungewollten Blick mit Anne neben ihr aus. Die Ruhe in Annes Blick erinnerte sie an Benni. Dieser innerliche Zwang, Gefühle zu unterdrücken, die Kontrolle über sich und die gesamte Situation behalten zu wollen… War das schon die ganze Zeit so gewesen? Wahrscheinlich. Anne hatte ganz sicher gewusst, warum ihre Mutter nicht da war. Dass es keine Grippe war, die ihre Teilnahme an solchen Sitzungen verhindert hatte. … Aber woher? Fast automatisch wanderte Lauras Blick weiter zu Carsten. Es würde sie nicht wundern, wenn er ihr mit schwarzer Magie weitergeholfen hatte… Mal wieder. Schaudernd erinnerte sie sich an Konrads Erzählung neulich. Daran, wie ein Schwarzmagier zu verenden drohte… Schon wieder begann Laura zu frieren und die bedrückende Stille ließ all das umso unheimlicher wirken. Irritiert schaute sie auf. Stimmt, es war still. Sultana hatte mit ihrer Erzählung geendet… O-Too-Sama war es, der das Wort ergriff. „Verstehe ich das richtig, dass der Dämon nun zu jeder Zeit, wann immer ihm beliebt, die Unterwelt verlassen und Chaos und Zerstörung über Damon bringen kann?“ Laura senkte den Blick. Auch auf diese Aussage folgte Schweigen. Selbst Laura hatte bisher nicht realisiert, was für furchtbare Folgen das eigentlich für Damon und die Welt hatte… Doch ehrlich gesagt… Selbst jetzt, war ihr das eigentlich egal. Ihr ging es immer noch nur um Benni. Er war das einzige, was für sie zählte. Ihn zu retten und wieder bei sich haben zu können. Sie wollte, dass er sie endlich wieder in den Arm nehmen und küssen konnte. Sie hielt es nicht länger aus! Laura biss sich auf die Unterlippe beim Versuch, sich irgendwie zusammenzureißen. Am Rande nahm sie wahr, wie eine aufgebrachte Diskussion losgetreten wurde. Und wieder wurde nur geredet. Immer nur geredet. Wo waren die Taten? Wo war dieses blöde Gesetz, das sie und alle anderen Dämonenverbundenen vor den Dämonenjägern schützen sollte?! Genau das schien auch Konrad zu denken. „Haben Sie sich inzwischen entschieden, ob Sie das Gesetz unterzeichnen wollen? Gerade jetzt ist Damon auf die Dämonenverbundenen angewiesen.“ Die Vertreterin von Lumière schnaubte verächtlich. „Wieso? Damit ein Dämon gegen einen anderen Dämon kämpft? Was gibt uns die Gewissheit, dass die Dämonen sich anschließend immer noch so kooperativ mit uns verhalten? Denken Sie nicht, dass sie anstelle des Purpurnen Phönix dann für Chaos sorgen werden? So wie der Schwarze Löwe vor zwölf Jahren in Yami, wenn ich mich recht entsinne.“ Sie wandte sich an O-Too-Sama. „Wie viele Menschen sind dabei noch einmal ums Leben gekommen?“ Bedrückt atmete er aus. „253. Überwiegend ältere oder kranke Personen, aber auch sehr viele Kinder.“ „Und Sie wissen auch genau, warum er das getan hatte.“, erwiderte Florian zerknirscht. Laura merkte, wie er einen kurzen Blick mit Jannik austauschte. Der Vertreter von Eau verschränkte die Arme vor der Brust. „Und trotzdem. Das Leben eines Dämonenbesitzers rechtfertigt noch lange nicht solche Morde.“ „Muss ich Sie daran erinnern, wer mit dem Morden angefangen hat?“ „Von den Dämonen geht einfach eine viel zu große Gefahr aus.“, versuchte die Vertreterin von Monde die Tat der Dämonenjäger zu rechtfertigen. „Wenn wir sie nicht in Schach halten, dann-“ „Was ist daran denn ‚in Schach halten‘?!“, unterbrach Eagle sie. „Überlegen Sie einmal, in welchen Regionen von Damon es in der Geschichte schon Konfrontationen mit den Dämonen gab und wo eine friedliche Koexistenz besteht. Bis auf Ivory, Spirit und Indigo fällt mir nur noch Cor ein, wo nie etwas vorgefallen ist.“ „Na so ganz stimmt das aber nicht.“ Die Vertreterin von Lumière verschränkte die Arme vor der Brust. „Haben Sie etwa schon vergessen, von wem Ihr Amtsvorgänger ermordet worden ist, Häuptling?“ Laura ballte die Hände zu Fäusten. Diese Frau hatte Eagle damit eindeutig provozieren wollen. Vielleicht sogar mit dem Ziel, dass er die Kontrolle über seine Gefühle und dadurch auch über die Wind-Energie verlor, um so einen handfesten Beweis zu haben, welche Gefahr tatsächlich von den Dämonenbesitzern ausging. Und Eagles Blick nach zu urteilen würde er diese Frau auch am aller liebsten hier und jetzt mit seinen Windsicheln in kleine Einzelteile zerstückeln. Doch bevor es so weit kommen konnte, meinte Carsten hastig: „Aber das hatte nichts damit zu tun, dass er ein Dämonenbesitzer ist! Das… das war… Eine unglückliche Kombination vieler Zufälle…“ Der Vertreter von Eau schnaubte. „Der stärkste Kämpfer Damons wurde also ermordet, weil er Pech hatte?“ „N-nein, so meinte ich das nicht…“, widersprach Carsten eingeschüchtert, wusste aber nicht wirklich, was er sonst sagen sollte. „Befindet sich der Besitzer des Orangenen Skorpions nicht sogar hier im Krankenhaus?“, fiel O-Too-Sama auf. Er betrachtete die Brüder. „Nach all dem was er dieser Region angetan hat, wird er nun hier behandelt?“ Laura merkte, wie sich Carsten umso unwohler in seiner Haut fühlte. Nicht schon wieder dieses Thema. Bitte! Er musste doch schon genug unter Eagles Vorwürfen deswegen leiden! Carstens Gesicht wirkte direkt viel blasser, er atmete zitternd durch als er sich erneut dafür wappnete, sich erklären zu müssen. Doch davor ergriff Sultana das Wort. „Ich habe nicht vor Jacks Taten zu rechtfertigen, noch weniger möchte ich sie relativieren. Aber ich möchte, dass Sie sich dessen bewusst sind, dass selbst dieser Mörder auch seine guten Seiten hat. Wenn er nicht direkt erste Hilfe geleistet hätte, hätte ich den Aufenthalt in Mars‘ Kerker nicht überlebt. Ohne ihn würde ich jetzt nicht hier bei Ihnen sitzen.“ „Das rechtfertigt aber nicht-“ „Das sollte es auch gar nicht.“, unterbrach Sultana die Aussage des Vertreters von Eau direkt. „Ich bin nur der Meinung, dass beide Seiten hervorgehoben werden müssen. Ja, er hat mit der Erd-Energie Menschen getötet. Aber er kann damit auch Leben retten.“ Konrad nickte. „Und jetzt raten Sie mal was wahrscheinlicher in einer Welt ist, in der Dämonenverbundene gejagt werden, im Vergleich zu einer, in welcher man sie akzeptiert.“ Die Vertreterin von Monde seufzte. „Es stimmt schon, gerade bei Ihnen sieht man ja, wie gut eine Kooperation von Dämonen mit den Regionen gelingen kann. Aber woher können wir die Garantie nehmen, dass die Dämonen uns wirklich nichts Böses wollen? Was ist, wenn der Dämonenbesitzer verrückt ist?“ „Das stimmt, es geht einfach immer eine potenzielle Gefahr von den Dämonen aus.“, gab der Vertreter von Cor ihr bedrückt recht. Der König von Ivory schaute in die Runde. „Von den Menschen doch genauso. Und ebenso von Indigonern, Elben und Vampiren. Muss ich Sie an den Krieg vor zwanzig Jahren erinnern, der nur entstanden ist, da wir die ‚Blutsauger‘ als bedrohlich wahrgenommen haben?“ Der Senatsvorstand der Vampire nickte. „Und wir uns nicht in der Notwendigkeit sahen, die Beziehungen irgendwie zu verbessern.“ Er wies auf Florian und Konrad. „Und ist es nicht eigentlich ironisch, dass diejenigen, von denen eigentlich diese ‚potenzielle Gefahr‘ ausgeht, ausgerechnet die waren, die uns im Endeffekt vor uns selbst, vor unserer eigenen Dummheit beschützt hatten?“ „Und es waren auch nicht die Dämonenverbundenen, die beinahe einen Krieg mit den Drachen begonnen hätten.“, ergänzte der König. „Das waren die Menschen. Und auch hier war es eine Dämonenverbundene, die dies verhinderte und bei einem Abkommen zwischen Damonern und Drachen vermittelt hatte.“ Der Vertreter von Eau schüttelte den Kopf. „Das sind ja alles sehr hübsche Beispiele, aber das geht nun mal nicht immer so glücklich aus. Was ist mit der Diktatur in Mur? Die Gelbe Tarantel schien bisher wohl noch nichts dagegen unternehmen zu wollen. Der Amoklauf des Schwarzen Löwen vor zwölf Jahren ist dadurch auch nicht zu rechtfertigen und die ganzen Morde des Orangenen Skorpions ebenso wenig.“ „Und dennoch haben sie alle ihre Gründe, deren Ursprung zum Großteil in der Dämonenverfolgung liegt.“, meldete sich dieses Mal Herr Bôss zu Wort. „Und was ist der Grund der Menschen, um die Dämonenverbundenen zu jagen? Eine ‚potenzielle Gefahr‘?“ Die Vertreterin von Lumière lachte auf. „War ja klar, dass Sie das sagen.“ Laura schauderte, als sie merkte wie Herr Bôss die Zähne zusammenbiss. Dieses Mal schien er es zu sein, der diese Frau am aller liebsten in Einzelteile zerstückeln würde. Es war gruselig, den Direktor der Coeur-Academy so zu sehen. Es war der absolute Widerspruch zu seinem sonst so lockeren und heiteren Gemüt. Und dadurch wurde Laura umso deutlicher bewusst, wie sehr ihm das Thema der Dämonenverfolgung ein Dorn im Auge war. Herr Bôss wandte sich der Vertreterin von Monde zu. „Die damalige Besitzerin des Roten Fuchses. Was wissen Sie über sie?“ „Ähm…“ Eingeschüchtert von seinem verärgerten Blick senkte sie den Kopf und überlegte, brachte aber keine Antwort hervor. „Erinnern Sie sich nicht?“, hakte nun Florian nach. „Dabei ist es doch die Region, über die Sie nun den Vorsitz haben. Wissen Sie etwa nicht, wen genau die Dämonenjäger damals gejagt haben?“ „D-doch, doch, natürlich weiß ich das.“, stammelte sie. „Ein vierjähriges Mädchen.“ „Und das nennen Sie eine ‚potenzielle Gefahr‘?“ Florians Stimme klang absolut abschätzig, man konnte fast schon spüren, wie er auf diese Frau herabblickte. Wie er auf alle Leute hier herabschaute, die die Dämonenverfolgung immer noch indirekt unterstützten. „Ein Mädchen, das noch nicht einmal ihren ersten Tag in der Schule verbracht hatte, musste ins Exil flüchten, weil es vielleicht eine Bedrohung sein könnte?!“ Die Vertreterin von Monde schaffte es nicht, dem zu antworten. Dafür jedoch die von Lumière: „Wer weiß, was aus ihr geworden wäre.“ Geräuschvoll atmete Herr Bôss aus. „Das frage ich mich auch, beinahe jeden Tag. Was wäre aus ihr geworden, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte wie ein ganz normales Mädchen aufzuwachsen? Nun, eine Sache kann ich Euch versichern: Sie wäre ganz sicher nicht einer Bürgerwehr im zerstörten Gebiet beigetreten, um die dort immer noch unter grauenhaften Bedingungen lebenden Menschen vor den Monstern zu beschützen, die da nachts aus ihren Verstecken kriechen. Sie hätte sich nicht von ihren Eltern abgewandt, weil sie in Damon ohnehin keine Zukunft für sich sieht. Vermutlich wäre sie ganz normal zur Schule gegangen, vielleicht sogar auf die Coeur-Academy. Und danach? Das werden wir wohl nicht erfahren können. Aber eines steht fest: Sie hätte die freie Wahl gehabt. Hätte ihren eigenen Weg gehen können. Mit allen Möglichkeiten und nicht versteckt in einer Region, in welcher der Überlebenskampf an der Tagesordnung steht.“ Laura hielt inne. Moment… Kann es sein, dass… Herr Bôss‘ Blick ruhte immer noch auf der Vertreterin von Monde. Seine Stimme war kalt und dennoch konnte man den Schmerz deutlich hören als er fragte: „Sagen Sie mir: Waren die Taten der Dämonenjäger gerechtfertigt? Können Sie einem Vater ins Gesicht sagen, dass seine Tochter nicht das Recht hat zu leben, weil sie eine Bedrohung darstellen könnte?“ Ungläubig schaute sie den Direktor an. „Das Mädchen von damals, das war… das war Ihre Tochter?“ Laura hatte den Eindruck ihr Herz zerbrach in tausende Einzelteile, als sie Herr Bôss trauriges Lächeln sah. „Maria Bôss, geboren am neunten November 162 nach Kriegsende. Der Rote Fuchs hatte sie direkt ausgewählt. Er schien viel von ihr zu erwarten, da sie eine doppelt Begabte ist. Nur leider… hatten die Dämonenjäger wohl sehr gute Kontaktmänner.“ Betroffen senkte Laura den Blick. Das Mädchen, was Herr und Frau Bôss also damals in Sicherheit gebracht hatten… Das war ihre Tochter gewesen?! Nur wegen der Dämonenverfolgung ist diese Familie so zerrüttet worden? Nur deshalb?! Laura wollte danach fragen, doch sie wusste es bereits. Sie kannte die Antwort schon. Florian seufzte. „Und das ist kein Einzelfall. Sind Sie sich eigentlich bewusst, wie viele Menschen darunter leiden, weil es dieses Gesetz nicht gibt?“ Er wies auf Jannik. „Ich vermute mal, Sie erkennen ihn nicht wieder, oder? Wollen Sie diesem jungen Mann erzählen, man hat ihn als fünfjähriges Kind entführt und vor seinen Augen den Vater ermordet, weil dieser eine ‚potenzielle Gefahr‘ für Damon dargestellt hat? Können Sie das?“ O-Too-Sama schaute Jannik überrascht an. „Du bist der Sohn des damaligen Besitzers des…“ Jannik nickte und antwortete mit schwacher Stimme: „Mein Vater hatte nie etwas verbrochen. Im Gegenteil, Mutter hat immer nur erzählt, wie viel Gutes er getan hat. Gerade mit der Finsternis-Energie… Er war in der freiwilligen Feuerwehr und hatte seine Energie unbemerkt immer bei Löscharbeiten verwendet. Oder um Leute zu retten…“ Er senkte den Kopf. „Auch bei mir damals… Er… Das letzte, was er zu mir gesagt hatte, war: ‚Tut mir leid, Jannik, Papa wird wohl nicht so schnell nach Hause kommen…“ Er schluchzte. „… Da gibt es ein gewaltiges Feuer, so groß wie ganz Damon… Und viele Leben sind in Gefahr.“ Schweren Herzens beobachtete Laura, wie Jannik am Ende doch unter seinen Gefühlen zusammenbrach. Sie hatte sich schon versucht vorzustellen, wie tragisch das wohl gewesen sein musste… Aber dass Jannik die Verfolgung damals so direkt miterlebt hatte, in diesem Ausmaß… Das hätte sie sich doch niemals so vorstellen können. Im ganzen Leben nicht. Zum Glück saß Herr Bôss neben Jannik und legte eine Hand auf dessen Schulter, um ihn irgendwie zu beruhigen. Ihm irgendeine Geste des Trosts entgegenzubringen. Und doch wirkte diese Geste viel zu klein, viel zu schwach, gegen das, was sich Jannik gegenübersah. Diesem unbeschreiblich schmerzhaften Verlust. Nach einer Weile, in der sich Jannik immer noch nicht hatte beruhigen können, meinte Konrad: „Denken Sie immer noch, dass es richtig ist die Dämonenjäger zu schützen? Sie nicht dafür bestrafen zu wollen, was sie Dämonenverbundenen und ihren Angehörigen alles antun? Glauben Sie immer noch, dass Dämonenbesitzer keine Menschen sind? Oder Vampire, Elben oder Indigoner?“ Der Vertreter von Cor biss die Zähne zusammen, ganz eindeutig hin und her gerissen zwischen dem Vertrauen in die Dämonen und ihre Besitzer und der Angst, die seit jeher in den Herzen der Menschen regierte. „Sie haben ja recht, gerade die aktuellen Dämonenbesitzer halten sich stark bedeckt… Obwohl sie gute Gründe haben, die Menschheit zu hassen.“ Der Vertreter von Eau seufzte. „Und doch bestätigen die Ausnahmen die Regel.“ „Und selbst diese ‚Ausnahme‘ hat gezeigt, dass sie nicht grundlos mordet.“, warf Sultana ein. Jack hatte wohl so einen Eindruck bei ihr hinterlassen, dass sie ihn vollkommen vor der versammelten Gesellschaft verteidigte. Und das trotz ihrer Erschöpfung und ihres im Allgemeinen noch kritischen Zustandes. „Ich bin froh, dass dieses Gesetz inzwischen endlich im Gespräch ist.“, fuhr sie fort, „Und ich werde es ohne zu zögern unterzeichnen, sobald man mir den Zettel vorlegt.“ Der Vertreter von Cor war immer noch im Zwiespalt, schien aber kurz davor, sich Annes Mutter anzuschließen. Ebenso geriet die Vertreterin von Monde ins Schwanken. Herr Bôss merkte dies. „Wenn es nur am Besitzer des Orangenen Skorpions liegt: Bedenken Sie, dass er all die Zeit im Auftrag eines Wesens handeln musste, welches als Herrscher der Zerstörung bezeichnet wird. Jetzt, da Valentin dem Purpurnen Phönix endlich entkommen konnte, ist er nicht mehr gezwungen Leuten Schaden zuzufügen. Und er wird es auch nicht, dafür bürge ich. Und wenn Sie verlangen, dann auch gerne vertraglich.“ Überrascht betrachtete Laura den Direktor. Dass er so überzeugt davon war, dass Jack einen guten Charakter hatte… Damit hätte sie nun doch nicht gerechnet. Sie selbst setzte sich ja eigentlich nur so für Jack ein, da Benni ihm anscheinend vertraut hatte. Und sie vertraute Benni. Und ebenso Carsten, der sich sogar seinem Bruder entgegenstellte, um Jack in Schutz zu nehmen. Tatsächlich konnte Herr Bôss mit seinem Versprechen sowohl den Vertreter von Cor als auch die Vertreterin von Monde überzeugen. Laura schaute zu O-Too-Sama, der bisher noch nichts dazu geäußert hatte. Er erwiderte ihren Blick, wirkte aber nicht sonderlich hin und her gerissen. Bedrückt wandte sie sich wieder ab. Wie kam es eigentlich, dass ausgerechnet ihr Vater dem noch nicht zugestimmt hatte? Obwohl er damit sogar seine Tochter beschützen könnte… Unruhig tippte die Vertreterin von Lumière mit dem Zeigefinger auf den Tisch. Schließlich verschränkte sie kopfschüttelnd die Arme vor der Brust. „Beim besten Willen, ich kann mich damit nicht anfreunden. Wenn wir zumindest wüssten, wer die aktuellen Besitzer sind, dann…“ „… Dann was?“, fragte Florian kühl. „Dann können Sie entscheiden, ob diese Personen es Wert sind beschützt zu werden? Oder damit Sie sagen können ‚Nein, dieser eine Dämonenverbundene sieht mir nicht vertrauensvoll genug aus, den können die Dämonenjäger gerne töten‘?“ Der Vertreter von Eau schüttelte den Kopf. „Es ist schwierig, die Taten der Dämonen einzuschätzen, wenn man sich kein Bild von ihnen machen kann.“ „Aber Sie können sich ein Bild von ihnen machen.“, warf Eagle ein und wies in die Runde. „Sie kennen drei Dämonenbesitzer persönlich als solche. Und es ist wohl kein Geheimnis, dass Carsten, also Crow, ein Dämonengezeichneter ist.“ „Sehr viele junge Leute.“, bemerkte der Vertreter von Eau kritisch und lachte auf. „Und sehr patriarchalisch. Die Dämonen sollten über eine Frauenquote in ihren Reihen nachdenken.“ … Hielt der Typ sich damit wirklich für lustig? Auch Anne schien dieser Kommentar zu reizen. Mit einem geräuschvollen Quietschen ihres Stuhls richtete sie sich demonstrativ auf. „Wenn Sie so auf Gleichberechtigung aus sind, können Sie ja erst einmal für Gleichberechtigung innerhalb Damons sorgen, statt die Entscheidungen der Dämonen zu belächeln. Aber wenn Sie es genau wissen wollen: Hier haben Sie eine Person, die man töten könnte, ohne dass der Täter zur Rechenschaft gezogen würde.“ Laura klappte die Kinnlade herunter. Hatte sich Anne gerade im Prinzip vor aller Augen… als Dämonenbesitzerin geoutet?! Die bisher unwissenden der Regions-Vertreter staunten nicht schlecht. „S-Sultana, Ihre Tochter ist…“, stammelte die Vertreterin von Monde. Annes Mutter nickte. „Die Besitzerin der Grünen Schlange.“ „Das erklärt, warum Sie das Gesetz so unbedingt unterzeichnen wollen.“, stellte der Vertreter von Eau fest. „Auch, das stimmt. Aber es geht mir nicht alleine darum. In erster Linie geht es mir um Gerechtigkeit. Vor dem Gesetz ist jeder gleich, dies gilt für alle Bewohner Damons. Also warum sollten diese Leute eine Ausnahme sein, nur, weil sie neben Magie- oder Kampfkunstfähigkeiten auch noch eine weitere Kraft beherrschen?“ Herr Bôss nickte. „Seit dem Ende des Magischen Krieges und seit der Gründung Damons ging es uns doch darum, dass es keinen Unterschied gibt. Zwischen Menschen, Indigonern, Elben, Vampiren, … Zwischen antik Begabten und nicht antik Begabten, zwischen Kampfkünstlern und Magiern, … Also warum sollte es einen Unterschied zwischen uns und den Dämonenverbundenen geben?“ Auch Konrad bestätigte diese Aussage. „So viel Blut das vergossen wurde hätte vermieden werden können, wenn jeder die Einstellung ‚alle sind gleich‘ auch leben würde. Wir haben schon viele Schritte getätigt, um irgendwann komplett für diese Werte einstehen zu können. Das Ende des Krieges, die Gründung der Coeur-Academy, Gleichstellung von Mann und Frau, die Akzeptanz von Elben, Indigonern und Vampiren, … Ich finde es ist an der Zeit, den nächsten Schritt zu machen.“ „Sehr schön gesagt, junger Vampir.“, erwiderte der König von Ivory mit einem wohlwollenden Lächeln. Und endlich, endlich kam auch von O-Too-Sama ein bestätigendes Nicken. „Die Angst der Menschen vor den Dämonen hat in den letzten Jahren viel mehr Leid über Damon gebracht, als die Dämonen selbst uns zugefügt haben. Nach all dem, werden die Dämonenverbundenen niemals unsere Hand ergreifen können, wenn wir ihnen nicht unsere zuerst entgegenstrecken.“ Auch der Vertreter von Eau schien überzeugt. „Es stimmt, gerade in der kommenden Zeit sind wir auf die Dämonenverbundenen angewiesen.“ Er betrachtete Anne, die seinem kritischen Blick mit ihrer typischen entschlossenen Miene standhielt. „Und ich bezweifle, dass sie selbstlos in Aktion treten und ihr Leben für Damon riskieren werden, wenn sie in Sorge leben müssen, dass jemand ihnen in den Rücken fallen könnte.“ Auf seine Aussage hin nickte Anne zur Bestätigung. Seufzend schüttelte die Vertreterin von Lumière den Kopf. „Geben Sie uns etwas Zeit, um darüber nachzudenken.“ Zerknirscht verschränkte Eagle die Arme vor der Brust. „Das verlangen Sie immer und immer wieder aufs Neue. Und jetzt sind wir an dem Punkt angelangt, wo wir keine Zeit mehr haben. Bei allem, was jetzt folgt, müssen alle Dämonenverbundenen frei handeln können. Überlegen Sie, was aus der Coeur-Academy geworden wäre, wenn ich nicht die Gewissheit hätte das indigonische Gesetz hinter mir zu haben. Nahezu jeder andere Dämonenbesitzer würde in so einer Situation zögern und müsste abwägen, was ihm wichtiger ist. Die Sicherheit von sich, seiner Familie und seinen Freunden, oder die Sicherheit irgendwelcher anderer, eventuell wildfremder Leute.“ Geräuschvoll atmete die Vertreterin von Lumière aus. „Fein, von mir aus. Aber ich erwarte auch, die Dämonenverbundenen kennenzulernen. Wenn ich schon dieses Gesetz unterschreibe, möchte ich auch genau wissen, was das für Leute sind.“ Herr Bôss lächelte. „Ach wissen Sie, ganz normale Leute wie wir alle hier in diesem Raum.“   Laura streckte sich und gab ein langes, sehr genervtes Stöhnen von sich, als sie endlich wieder unter sich im Wohnzimmer vom Häuptlingsanwesen waren. Ariane lachte auf. „Ich glaube, das fasst alles zusammen.“ „Aber kamt ihr nun endlich zu einer Einigung?“, fragte Susanne neugierig. Der nächste, mit einem noch längeren, noch genervteren Stöhnen war Eagle. „Das war wohl die Antwort.“, stellte Lissi kichernd fest. Seufzend schüttelte Anne den Kopf. „Zumindest lief es heute deutlich besser als die ganzen Sitzungen zuvor.“ „Apropos, das war ziemlich leichtsinnig von dir, dich vor aller Augen als Dämonenbesitzerin der Grünen Schlange zu enttarnen.“, merkte Florian an. „Was ist in dich gefahren?“ „Du hast was?!“, fragte Öznur erschrocken. Anne verschränkte die Arme vor der Brust. „Der Standpunkt der Vertreterin von Lumière ist durchaus nachvollziehbar. Wir haben nun einmal besondere Kräfte, der einer normaler Person hilflos ausgeliefert wäre. Und gerade das Unbekannte ist es doch, was Menschen immer so eine Angst macht.“ „Das stimmt. Und wenn auch wir mal einen Schritt auf sie zugehen, merken die Leute, dass man keine Angst vor uns zu haben braucht.“, gab Susanne ihr recht. „Ich finde das einen schlauen Schachzug von Anne. Sie ist als Tochter von Sultana noch am ehesten auf der sicheren Seite und kann gleichzeitig als Exempel dienen, dass man wirklich keine Angst vor uns haben muss.“ Anne brachte ein überraschend verlegenes Danke über die Lippen, während Eagle auflachte. „Anne als Exempel dafür, dass man keine Angst zu haben braucht? Das ist ein genauso gutes Beispiel wie wenn Lissi für Keuschheit stehen würde.“ Sein Kommentar brachte nahezu alle Anwesenden zum Lachen, außer Anne, die leicht gereizt meinte: „Oder du für gesunden Menschenverstand, nicht wahr?“ „Hey.“ Auch Jannik schien amüsiert. „Kein Wunder, dass sich Benni bei euch so wohl fühlt. Ihr geht genauso liebevoll miteinander um wie wir damals in unserer Gruppe.“ „Aaaaw, das ist ja süß von dir. Dann wirst du dich hier auch pudelwohl fühlen!“ Direkt fiel Lissi dem Neuzugang um den Hals. „Offensichtlich…“ Irgendwie mühte sich Jannik aus dieser Umarmung wieder heraus und wandte sich an Carsten. „Sagt mal… Seid ihr euch immer so… nahe?“ „Ähm…“ Eagle lachte auf. „Sexuelle Belästigung steht bei denen an der Tagesordnung.“ Öznur schnaubte. „Jetzt übertreib mal nicht.“ Er hob eine Augenbraue. „Also so häufig, wie ihr Carsten, Benni und mich schon abgecheckt habt, solltet ihr euch eigentlich nicht beschweren, wenn wir mal jemandem von euch auf den Hintern schauen.“ Lissi kicherte. „Tun wir doch gar nicht.“ „Also jetzt hör mal-“, setzte Anne empört an, wurde aber direkt von Lissis mahnendem Zeigefinger unterbrochen. „Na na na, Banani. Wer hatte denn hier damals dem süßen Cärstchen einen Schmatzer auf die Wange gegeben?“ Eagle, Florian und Konrad prusteten direkt los und auch Laura und einige andere der Mädchen mussten lachen, während Anne und Carsten alles andere als belustigt reagierten. „Anne und Carsten?! Kommt, ihr hattet doch ne Wette am Laufen, oder?“, fragte Eagle, immer noch lachend. Anne zischte gereizt, während Lissi zufrieden erklärte: „Jap, Banani hatte gegen BaNane verloren.“ Jannik betrachtete Carsten kritisch. „Hatten sie dich zumindest eingeweiht?“ „… Im Nachhinein.“, antwortete dieser, immer noch etwas verlegen. Lissi überlegte. „Eigentlich hätte BaNane die Wette verlieren müssen…“ „Du bist doch diejenige, die das vorgeschlagen hatte.“ Seufzend schüttelte Ariane den Kopf. „Und die in letzter Zeit alle möglichen Leute abknutschen will.“, ergänzte Öznur und lachte auf. „Wenn man es so sieht, ist Carsten derjenige, der von uns Mädchen hier am häufigsten geküsst wurde.“ „Stiiiimmt!“, rief Lissi, viel zu begeistert dafür, dass der arme Carsten immer verlegener wurde. Jannik atmete auf. „Dann weiß ich ja, wen ich als Schutzschild verwenden kann.“ „Wenn das so ist, kannst du dir auch gute Tipps von Jack holen.“, bemerkte Laura und erinnerte sich belustigt, wie Jack Lissis Smartphone zur Abwehr verwendet hatte. Zu spät fiel ihr auf, dass dieser Name ja immer noch etwas war, was von einigen Leuten hier konsequent vermieden wurde. Zum Glück führte Konrad das Gespräch auf sachlicher Ebene weiter. „Herr Bôss ist eben hin, um ihn zu besuchen, nicht wahr? Wie geht es ihm denn?“ Jannik wandte sich an Carsten. „Du meintest vorhin, dass seine Wunden besorgniserregend langsam verheilen“ Dieser nickte seufzend. „Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis er wieder fit ist.“ „Ist es wegen der Zerstörungs-Energie?“, erkundigte sich Susanne. Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Ich habe aber eine Vermutung, warum seine Regenerationsfähigkeiten so viel schlechter scheinen als beim Rest von uns…“ „… Und die wäre?“, fragte Ariane, nachdem Carsten nicht von sich aus begonnen hatte zu erklären. Seufzend setzte er sich auf das Sofa. „Nun, der Heilprozess geht am schnellsten vonstatten, wenn man schläft…“ Laura sowie viele andere nickten zur Bestätigung. „… Aber… wer im Prinzip immer Albträume hat, hat wohl alles andere als einen erholsamen Schlaf.“ Ungläubig schaute Susanne ihn an. „Albträume?“ „Er hatte kein einziges Mal ruhig geschlafen, wenn ich nach ihm geschaut habe.“, bestätigte Carsten. Geräuschvoll atmete Öznur aus. „Wow, das ist krass. Dann belastet ihn die Vergangenheit wohl doch noch stärker als es scheint.“ Carstens verärgerter Blick richtete sich direkt auf Eagle, dennoch sprach er alle an als er fragte: „Glaubt ihr immer noch, dass er sich für seine ‚ach so dramatische Vergangenheit‘ ziemlich entspannt verhält?“ Betreten schauten sie auf den Boden und auch Laura fühlte sich bei Carstens vorwurfsvollem Ton alles andere als wohl, obwohl sie noch nicht einmal annähernd so etwas gedacht hatte. Schließlich versuchte Öznur zu rechtfertigen: „Es fällt halt schwer ihm zu vertrauen, nach all dem, was passiert ist.“ Carsten sprang auf. „Und dennoch ist das kein Grund direkt so herzlos zu reagieren!“ Anne schnaubte. „Jetzt hör mal, so beeindruckend es auch ist, dass du so gut wie nie nachtragend bist: Denkst du nicht, dass du ein bisschen zu naiv an die Sache rangehst? Müssen wir dich immer wieder daran erinnern, was er alles getan hat?“ „Aber das war doch, weil Mars ihm diese ganzen Aufträge gegeben hat.“, mischte sich auch Laura ein. „Umso mehr ein Grund, kritisch zu sein.“, widersprach Anne ihr. „Wer sagt, dass diese ganze Aktion nicht auch ein Auftrag von Mars ist, um uns zu infiltrieren?“ Carsten ballte die Hände zu Fäusten. „Willst du ihm unterstellen, immer noch für Mars zu arbeiten?! Nachdem er sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, um alle da rauszuholen?! Alle?! Selbst die, die eigentlich nicht für den Zauber nötig sind?!“ Überraschend ruhig erwiderte sie seinen aufgebrachten Blick. „Es könnte ein Teil der Farce sein, mit dem Ziel, uns gegeneinander aufzuspielen. Die Gruppe zu spalten gelingt ihm jedenfalls jetzt schon ziemlich gut. Egal ob das Mars‘ Auftrag war oder nicht.“ „Wieso fällt es euch so schwer ihm zu vertrauen?!“ „Und wieso bist du so naiv?!“, erwiderte Eagle Carstens verärgerten Ton. Janine nickte. „Gerade du hast doch schon dafür bezahlen müssen, dass du ihm vertraut hattest. Sogar zweimal, wenn ich mich richtig erinnere.“ Nachdenklich verschränkte Florian die Arme vor der Brust. „Ich kann verstehen, dass es euch schwer fällt zu glauben, dass Jack vom einen auf den anderen Moment die Seiten gewechselt haben soll. Aber vergesst nicht, dass er davor wahrscheinlich ziemlich viel Zeit mit Benni verbracht hat, der ihn unter Garantie bei dieser Entscheidung beeinflusst hat. Und außerdem… Wenn diese Verletzungen wirklich so gravierend sind wie von Carsten beschrieben, ist es sehr unwahrscheinlich, dass all das nur eine Farce sein soll.“ Auf den fragenden Blick der Mädchen hin meinte er: „Kennt ihr die Schwachstellen von Magiern und Kampfkünstlern? Also wie man sie am besten in Gewahrsam nehmen kann?“ Ariane nickte. „Das hatten wir bei einem gemeinsamen Training mal durchgesprochen. Ein Kampfkünstler ist machtlos, wenn er Arme und Beine nicht mehr verwenden kann…“ „… Und bei einem Magier muss man irgendwie verhindern, dass er sprechen kann.“, ergänzte Öznur. „Und Arme und Hände, falls er auch mit Gesten zaubert.“ „Genau.“ Auffordernd schaute Florian in die Runde. „Und nun sagt mir, was muss man bei jemandem tun, der Energie beherrscht? Jemand, der einfach nur seine Gedanken braucht, um aktiv zu werden.“ „Man… man muss verhindern, dass er denken kann.“ Nachdenklich legte Laura den Kopf schief. „Aber… wie?“ „Simpel. Durch Folter.“ Florians Aussage war so direkt, dass Laura bei diesem Wort automatisch zusammenzuckte. „Wenn der Körper des Dämonenbesitzers geschwächt ist und von Schmerzen geplagt, hat auch das Gehirn nicht mehr ausreichend Kapazität. So ist selbst ein einfacher Gedanke auf einmal viel schwerer zu fassen. Und der Einsatz von Energie zehrt unglaublich stark an den Kräften, die eigentlich nicht mehr vorhanden sind. Nur, wenn der Körper unsagbare Qualen erleidet, kann man einen Energie-Beherrscher wirklich gefangen nehmen.“ „Du… redest aus eigener Erfahrung, nicht wahr?“, fragte Lissi zögernd. Bedrückt atmete Florian aus. An seiner Stelle antwortete Konrad. „Versteht ihr nun so langsam, warum uns dieses Gesetz so wichtig ist? Und warum ihr euch bis dahin unter allen Umständen nicht verraten dürft?“ Schon wieder wurde Laura eisig kalt. Also hatten die Dämonenjäger damals, als sie Florian erwischt hatten… Sie hatten ihn wirklich… gefoltert? Allmählich verstand sie, weshalb er bei den Sitzungen immer so ungewohnt bissig beim Thema Dämonenverfolgung reagierte. Wie konnten die Regions-Vertreter ihm in die Augen schauen und ihren ganzen Mist von ‚potenziellen Gefahren‘ erzählen, wenn sie genau wussten, was die Dämonenjäger ihm damals angetan hatten?! Schließlich meinte Florian: „Mars hatte ihm beide Beine gebrochen, nicht wahr?“ Carsten nickte. „Und du meintest, all die anderen Verletzungen scheinen aus Kämpfen zu kommen.“ Florian wandte sich dem Rest zu. „Ich habe Jack bisher nicht persönlich getroffen. Aber alleine, dass er irgendwie mit zwei gebrochenen Beinen zu einer Flucht mit all den Gefangenen imstande war, zeugt für mich von extremer Willensstärke. Ich kann einfach nicht erkennen, wie er da noch hinterlistige Absichten verfolgen könnte.“ Ariane seufzte. „Es stimmt schon… Meine Schwester nimmt ihn auch konsequent in Schutz. Er war es, der sie alle mit Essen versorgt hatte und ihnen anscheinend auch immer Spiele oder Comics oder so gegeben hat, damit ihnen nicht langweilig wird.“ „Klingt für mich stark nach Stockholm-Syndrom.“, meinte Eagle nur. „Kannst du endlich mal aufhören, alles was er tut so negativ darzustellen?!“, fragte Carsten seinen großen Bruder verärgert. „Vielleicht solltest du erstmal die rosarote Brille absetzen!“, erwiderte dieser genauso bissig. Bevor Carsten etwas sagen konnte, stellte sich Ariane zwischen die Brüder. „Das kann doch nicht wahr sein! Nach all der Zeit sollte eure Beziehung endlich mal so sein, wie es sich eigentlich für Geschwister gehört, und jetzt geht ihr euch ständig wegen Jack gegenseitig an die Kehle?!“ Verbissen atmete Eagle aus. „Ariane, dieser Typ hat meinen Vater ermordet. Schön und gut, dass er den Alleinunterhalter für deine Schwester gespielt hat, aber meine Familie hatte nicht dieses Glück.“ „Warum stimmen wir nicht einfach ab?“, schlug Anne plötzlich vor. „Können wir ihm vertrauen? Ja oder nein. Ganz demokratisch.“ Eagle verdrehte die Augen. „Dafür brauchen wir keine Demokratie.“ Er ging auf die eine Seite des Zimmers. „Meine Antwort lautet ‚Nein‘.“ Janine nickte und gesellte sich zu ihm auf die Seite und kurz darauf trat auch Anne zu den beiden. Auch Carsten verdrehte die Augen. „Sehr demokratisch, so eine Abstimmung öffentlich zu machen.“ Dennoch stellte er sich auf die gegenüberliegende Seite. Nach kurzem Zögern ging Laura zu ihm, ebenso gesellte sich Lissi dazu. Die übrigen Mädchen in der Mitte wirkten leicht verunsichert. Schließlich seufzte Öznur. „Sorry, aber nach allem, was er getan hat…“ Sie ging zu Eagle rüber, wobei sich Laura automatisch fragte, was sie gemacht hätte, wenn die Abstimmung tatsächlich geheim gewesen wäre. Denn es war eigentlich klar, dass Öznur dieselbe Seite wählen würde wie Eagle. Doch auch Susanne schloss sich dieser Gruppe an. Konrad nahm das von allen noch am meisten mit Humor. „Jetzt wird’s interessant.“ Florian schüttelte nur den Kopf. „Das ist so albern. Als würde eine Abstimmung etwas an der Situation ändern.“ Dennoch kamen die beiden zu Carsten, Laura und Lissi. Und wieder waren die Seiten ausgeglichen. Es fehlten nur noch… „BaNane, Jannik, nun hängt alles von eurer Stimme ab.“, trällerte Lissi zu ihnen in die Mitte. Seufzend verschränkte Ariane die Arme vor der Brust, blieb aber auf dem Sofa sitzen. „Ehrlich… Ihr führt euch auf wie kleine Kinder.“ Florian atmete auf. „Danke. Zumindest einer, der auch so denkt.“ Eagle schnaubte. „Immerhin wissen wir jetzt, wo wir beim jeweils anderen dran sind.“ Lissi kicherte. „Also ich bin Team Jackie-Chan.“ „Lissi, das ist nicht lustig!“, wies Susanne ihre Schwester zurecht. Janine nickte. „Du kannst doch nicht Jack in Schutz nehmen, nur, weil du ihn attraktiv findest.“ „Du meinst abgesehen davon, dass er wunderschöne grüne Augen hat?“ Belustigt zwinkerte Lissi Janine zu. „Wahre Attraktivität kommt letztendlich von innen. Und so eine Entscheidung fälle ich erst recht nicht aufgrund von Äußerlichkeiten. … Aber… Hach, diese Augen…“ Anne stöhnte auf. „Ja, ja, okay. Wir haben’s verstanden. Lissi steht aufgrund Jacks wunderschöner Augen auf der anderen Seite.“ Jannik schüttelte den Kopf. „Ich kenne ihn zwar nicht, aber wenn sich Carsten, Herr Bôss und allem Anschein nach auch Benni für ihn aussprechen, übernehme ich einfach mal Bennis Stimme hierfür.“ Damit gesellte er sich zu Laura und Carsten. „Was macht ihr da? Wird das eine Wall of Death?“ Überrascht bemerkte Laura, wie Sakura in der Wohnzimmertür stand und die Fronten verwirrt betrachtete. „Sowas in der Art.“, erwiderte Eagle. „Kannst eigentlich direkt rüber kommen.“ Sakura zuckte nur mit den Schultern, stellte sich aber neben ihren Halbbruder. „Ich war aber noch nie auf einem Metal-Konzert, keine Ahnung, wie das geht.“ „Ernsthaft, ich hab die Schnauze voll!“ Ariane stand auf und schaute verärgert auf beide Seiten. „Im Endeffekt ist es doch vollkommen egal, ob wir Jack vertrauen oder nicht. Wir müssen mit ihm zusammenarbeiten, damit der Bann funktioniert. Also statt sich dauernd in die Haare zu bekommen, warum der eine so nett und der andere so asozial ihm gegenüber ist, sollten wir uns lieber fragen, wie wir ab sofort vorgehen sollten! Es ist schon seltsam genug, dass Mars nicht schon längst mit seiner Armee Unterweltler in Damon einmarschiert ist. Wir sollten uns glücklich schätzen, dass wir noch Zeit haben, um uns darauf vorzubereiten! Also wo ist er? Wie kommen wir zu ihm? Auf welche Gegner werden wir treffen? Wenn ihr endlich beschließt euch mit diesen Fragen zu beschäftigen, könnt ihr mich gerne holen. Aber auf so ein unnötiges Drama wie gerade verzichte ich dankend. Da verbringe ich viel lieber die letzten ruhigen Minuten mit meiner Schwester.“ Mit diesen Worten verließ Ariane den Raum und, dem Zuschlagen der Tür nach zu urteilen, auch das Haus. Kapitel 88: Zwischen Akzeptanz und Verdrängung ---------------------------------------------- Zwischen Akzeptanz und Verdrängung       Verärgert schnappte sich Ariane ihre Jacke und verließ das Häuptlingsanwesen, um sich auf den Weg zu Ituhas Bar zu machen. Dort hatten inzwischen die jüngeren der Gruppe ihre Herberge und auch Arianes Schwester verbrachte den Großteil ihrer Zeit dort. Seufzend schaute sie in den kalten grauen Herbsthimmel und wünschte sich den Sommer zurück. Und zwar nicht nur, weil sie Sonnenschein und Wärme viel lieber hatte, als Schnee und kalter Wind. Auch die Ausstrahlung dieser Jahreszeit, diese Unbeschwertheit, vermisste sie. Und sich die Zeit mit Schlittschuhlaufen zu versüßen war momentan auch alles andere als eine gute, sinnvolle Idee. Noch während Ariane ihren Weg fortsetzte, hörte sie hinter sich jemanden ihren Namen rufen. „Ist was?“ Verwirrt drehte sie sich um, als Carsten bereits zu ihr aufgeholt hatte. „Nein, also… Eigentlich…“ Verlegen fuhr er sich über den Nacken als wüsste er selbst nicht, warum er ihr gefolgt war. Schließlich seufzte er. „Es tut mir leid. Ich weiß, dass diese Diskussionen eigentlich unnötig sind, aber irgendwie…“ Ariane schüttelte den Kopf. „Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen.“ Seinem Blick nach zu urteilen schien Carsten dennoch nicht wirklich überzeugt von seiner Unschuld. Sie wies in die Richtung, in die sie eigentlich gerade gehen wollte. „Möchtest du mitkommen?“ Tatsächlich nahm er die Einladung mit einem verunsicherten Nicken an. Während sie ihren Weg fortsetzten, erklärte Ariane betrübt: „Dich trifft wirklich keine Schuld. Nicht direkt, zumindest. Ich bin vorhin einfach ausgerastet, weil es mich so frustriert, dass du und Eagle… Dass ihr euch nun deswegen ständig streitet.“ Carsten lachte auf. „Wir streiten uns doch dauernd.“ „Nicht so. Ich verstehe ja, dass bei eurem Temperament Diskussionen gerne in einem Streit enden. Passiert mir und meiner Schwester immerhin auch gelegentlich. Aber… Ihr führt kaum mehr ein normales Gespräch.“ Bedrückt senkte Carsten den Kopf. „Du hast ja recht, aber… Ich kann doch nicht einfach tatenlos mitansehen, wie er alles in ein schlechtes Licht rückt, was Jack macht. Wie er jede Gelegenheit nutzt, um irgendetwas Abfälliges über ihn zu äußern oder ihn zu beleidigen…“ „Na ja, aber es ergibt schon Sinn, warum er das macht.“, nahm Ariane Eagle in Schutz. „Und auch bei Janine… Es… Jack war halt in viele Dinge verwickelt, die uns Schaden zugefügt haben. Natürlich fällt es da schwer ihm zu vertrauen. Das kannst selbst du nicht abstreiten.“ „Nein, natürlich nicht…“ Ariane merkte, wie Carsten die Hände zu Fäusten ballte. „Aber… Aber er hatte doch seine Gründe…“ „Gründe, die so viele Morde rechtfertigen?“ „Was hätte er denn anderes machen sollen?!“, fragte Carsten verzweifelt. „Du hast doch gehört, was er erzählt hat. Du hast gesehen, wie er nach sechs Jahren immer noch darunter leidet! Es… Wenn so viel zusammenkommt… Wenn das Leben so von Gewalt und Leid geprägt ist und einem am Ende die einzige Stütze genommen wird… Was… was würdest du dann machen?“ Zitternd wandte Carsten den Blick ab, dennoch entging es Ariane nicht, wie er gegen die Tränen ankämpfen musste. Sanft berührte sie seinen Arm, wusste aber nicht wirklich, was sie darauf erwidern sollte. Sie verstand beide Standpunkte, den von Carsten, aber auch den von Eagle. Und es war unsagbar schwierig, die beiden gegeneinander abzuwägen. Sich für eine Seite entscheiden zu müssen und der anderen Seite dadurch automatisch zu widersprechen. Irritiert betrachtete Ariane die braun-graue Herbstlandschaft. Sie waren wohl von ihrem ursprünglichen Weg abgekommen und befanden sich nun am Rande Kariberas bei dem rauschenden Fluss. Ariane schaute sich um und entdeckte neben einem Baum eine Holzbank für Spaziergänger, wenige Meter entfernt. Da sie nun ohnehin nicht mehr auf dem Weg zur Bar waren, entschied sie sich eine kleine Pause zu machen. Ariane ging zur Holzbank rüber, setzte sich und klopfte auf die Bretter, um Carsten aufzufordern sich zu ihr zu gesellen. Dieser schien entweder immer noch zu aufgebracht oder zu verunsichert, um sich vom Fleck bewegen zu können. Ariane seufzte. Wie sollte sie ihn denn auch unter solchen Bedingungen besser kennenlernen können? Carsten folgte mit seinem Blick dem Flusslauf in die Ferne. Er schien sich wirklich alles andere als wohl in seiner Haut zu fühlen… War das nun wegen der Schüchternheit oder wegen der Sache mit Jack? Schließlich atmete er tief durch und Ariane fiel das Zittern in seiner Stimme auf als er fragte: „Weißt… also… was weißt du so über… dort?“ Dort? Überrascht betrachtete Ariane ihn. „Das FESJ?“ Direkt zuckte Carsten zusammen als habe man ihn geschlagen. Doch bevor sie sich erschrocken entschuldigen konnte, nickte er als Antwort. „Eigentlich…“ Nervös strich sich Ariane einige Strähnen ihres Ponys aus der Stirn. Sollte sie ihn einfach so direkt mit Lissis Vermutung konfrontieren? Und das, obwohl er alleine beim Namen der Schule schon so reagierte? „… Ehrlich gesagt… Weiß ich nichts. Nur Vermutungen.“ Carsten erwiderte ihren Blick, er war deutlich im Zwiespalt. Hin und her gerissen zwischen dem Versuch alles zu erklären und dem Schmerz, den diese Erinnerungen auszulösen schienen. Ein Schmerz, bei dem man fast schon denken konnte, dass er sich sogar körperlich bei ihm bemerkbar machte. Betreten schaute Ariane auf das gelb-braune Laub. „Du… Du hast uns ja so gut wie nie etwas davon erzählt…“ „Stimmt…“, erwiderte er lediglich und schaute erneut in die Ferne. In den tristen, grauen Himmel. „Es sieht genauso aus wie dort…“ „Hm?“ „Der Himmel, die Wolken… Der Wald und das Wasser… Alles wirkt grau, leer und trostlos. Und kalt.“ Arianes Griff um die Holzbretter der Bank wurde angespannter. Bei Carstens gebrochener Stimme wollte sie eigentlich zu ihm rüber gehen, in der Hoffnung, ihm irgendwie Trost spenden zu können. Aber irgendwie… Sie hatte den Eindruck, als bräuchte er gerade diesen Abstand. Diesen Abstand zu alles und jedem, so wie… wie damals. „Ich… hielt es immer für eine ziemlich strenge Schule.“, erzählte Ariane ihm von ihren eigenen Vorstellungen. „So wie früher, als unsere Großeltern noch zur Schule gegangen sind und wo Schüler mit dem Rohrstock geschlagen wurden und so… Und wo Mobbing an der Tagesordnung steht…“ Bedrückt atmete Carsten aus und setzte sich im Schneidersitz auf die kalte, teils mit Laub bedeckte Wiese. „… Ich glaube, das dachte auch der Rest die ganze Zeit…“, ergänzte sie verunsichert. „… Dachte?“ Ariane biss sich auf die Unterlippe. Sie schaffte es trotzdem nicht, ihn damit zu konfrontieren. Mit der Frage, die in ihrem Herzen brannte. Stimmt Lissis Vermutung? Haben sie dich dort gefoltert? Die Angst war zu groß. Gerade jetzt, wo Carsten schon so stark unter den Folgen der Schwarzmagie litt, wo er schon Halluzinationen von vergangenen Ereignissen hatte… Sie hatte Angst, mit dieser Frage irgendetwas zu triggern. Ihn schon wieder in so einem verzweifelten Zustand erleben zu müssen. Sie spürte einen Windhauch und merkte, wie Carsten die Hand ausgestreckt hatte und mit seiner Magie das Wasser in kleinen Spiralen tanzen ließ. Fast so, als wolle er sich damit ablenken. „Es… Es gibt da einen Spruch. Etwas, was die Schüler von dort immer und immer wieder sagen. Eigentlich ist es das erste, was ein Neuankömmling von ihnen zu hören bekommt.“ Ariane schwieg, wartete, bis Carsten von selbst weitersprach. Sie wollte ihn zu nichts drängen. Schon gar nicht jetzt, wo er endlich mal von sich aus darüber redete. Tatsächlich atmete Carsten tief durch und sagte: „Es gibt zwei Wege hier raus zu kommen. Entweder als Verbrecher, oder als Toter.“ Mit einem Schlag schien Arianes Herz stillzustehen. Zeitgleich fielen die Wasserspiralen in sich zusammen. „Als… Wie… wie meinst du…“ „Ich weiß nicht wie sich die Schule in den Medien so präsentiert, aber… Die Dunkelziffer der Selbstmordrate ist dort extrem hoch.“ Schaudernd rieb sich Ariane die Oberarme. Selbstmordrate?! „A-aber… Aber du bist nichts von beidem! Und du bist rausgekommen!“, widersprach sie ihm verzweifelt. „Nur wegen Benni…“ Carsten winkelte die Beine an und schaute weiter in die Ferne, in das triste Grau, was ihn so an damals erinnerte. „Wenn er nicht gewesen wäre… Ich weiß nicht, ob ich ein Jahr lang durchgehalten hätte.“ Ariane schluckte schwer und trotzdem wurde sie das beklemmende Gefühl in der Kehle nicht los. Sie brachte kaum mehr als ein Flüstern zustande. „War… es wirklich so schlimm?“ Carsten antwortete nicht. Er saß einfach nur weiter da und so langsam bekam Ariane die Sorge, dass die Schwarzmagie ihn schon wieder in die Vergangenheit zerren würde. Dass er schon wieder kurz davor war irgendeine Situation erneut durchleben zu müssen. Vorsichtig richtete sie sich auf und ging zu ihm rüber, um sich neben ihn in das feuchte Laub zu setzen. Die nassen Blätter fühlten sich alles andere als angenehm an, doch viel unwohler war ihr, als sie Carstens leeren Blick sah. Der Spruch der Schüler des FESJ hallte immer noch nach. Es gibt zwei Wege hier raus zu kommen… Vorsichtig legte sie eine Hand auf seinen Rücken. „Und trotzdem hast du dadurch das Gegenteil bewiesen.“, meinte sie schließlich. „Dass es auch einen anderen Weg gibt, da raus zu kommen. Nicht nur… nicht nur diese beiden.“ „… Manchmal bin ich mir da nicht ganz sicher.“ Eine imaginäre Kraft zerquetschte Arianes Herz. „Jetzt sag doch sowas nicht!“ Wieder erwiderte Carsten nichts darauf und so langsam musste sie gegen die Tränen ankämpfen. „Das… das ist sicher wegen der schwarzen Magie. Die verstärkt das alles, die negativen Emotionen, die Erinnerungen, …“ „… Ich weiß nicht…“ Vorsichtig lehnte sich Ariane gegen ihn. Sie hatte keine Ahnung, was sie ansonsten machen konnte. Was sie sonst darauf erwidern könnte. Gerade da diese Erzählung von Konrad vor wenigen Tagen noch so präsent war. Und diese Gewissheit, dass jemand mit einer schwachen mentalen Gesundheit viel anfälliger für die Folgen der schwarzen Magie war. Verzweifelt suchte Ariane nach einer Lösung. Nach irgendeinem Weg, Carsten helfen zu können. Aber wie? Die einzige Idee die sie hatte war eine Therapie und so entschieden, fast schon panisch, wie Carsten sich immer gegen diesen Vorschlag zur Wehr setzte… Andererseits… Warum suchten sie an sich immer direkt nach einer Lösung? War nicht eigentlich der beste Weg einfach nur für ihn da zu sein und zuzuhören? Ariane merkte wie sich Carstens Körper anspannte und sie fragte sich, ob ihm diese Nähe gerade doch etwas zu unangenehm war. „Der Rohrstock…“, setzte Carsten an. „… Diese Strafe gab es zwar auch, aber… ziemlich selten.“ Nun verspannte sich auch Ariane. Kam er wirklich von sich aus auf dieses Thema zu sprechen? Auf die Strafen?! Lissis Vermutung, was sich da in Wahrheit abspielte?!? „… Stattdessen?“, fragte sie zögernd. Sie merkte, wie Carstens Ausdruck leicht verlegen wurde. „V-versteh das jetzt bitte nicht falsch…“ „Hm?“ Noch während sie sich fragte, was sie falsch verstehen könnte, begann Carsten das schwarze Hemd aufzuknöpfen, was er noch wegen der Trauerfeier von heute Vormittag trug. Ohne es zu wollen kam ihr der Gedanke auf, dass schwarz eigentlich sehr gut an Carsten aussah. Wobei ihr das rote T-Shirt von neulich trotzdem viel besser gefallen hatte. Ähm… Was? „Tschuldigung.“ Beschämt wandte Ariane den Blick ab als sie merkte, wie offensichtlich sie Carstens Oberkörper betrachtet hatte. Aber sie musste sich eigestehen, dass sie seine schlanke Figur und die trotzdem definierte Muskulatur ziemlich attraktiv fand. Dennoch wirkte er zurzeit auch besorgniserregend mager und Ariane fragte sich, wie viel er eigentlich aß. „… Schon okay…“, nuschelte Carsten schüchtern und drehte sich so, dass sie seinen Rücken sehen konnte. „Ich… ich weiß auch nicht, warum ich das gerade mache…“ Immer noch irritiert schaute Ariane nun doch wieder zu ihm. Carsten war so angespannt und saß so gekrümmt da, dass man meinen könnte irgendetwas bereitete ihm tatsächlich körperliche Schmerzen. So langsam realisierte Ariane, dass es ihm schon lange nicht mehr darum ging Jack in Schutz zu nehmen. Er wollte reden. Nach all der Zeit wollte er sich endlich mal jemandem anvertrauen. Erzählen, nein, sogar zeigen, was er tagtäglich mit sich herumtragen musste. Carsten atmete tief durch als würde er gleich von einer Klippe in eiskaltes Wasser springen. Dann, ohne jegliches weiteres Zutun, begann sich plötzlich etwas auf seinem Rücken zu verändern. Es bildeten sich Furchen, seltsam aussehende Unebenheiten und alsbald musste Ariane schaudernd feststellen, dass das nicht Teil des Zaubers war, was sie da sah. Das war ein Teil von Carsten selbst. Sie hatte nach Lissis Andeutung nicht mehr die Gelegenheit gehabt herauszufinden, wie Jacks Oberkörper tatsächlich aussah. Aber wenn er auch nur annähernd so wie Carstens war… Diese Erkenntnis, dieser Schock, trieb Ariane Tränen in die Augen, die sie nicht mehr unterdrücken konnte. Ihr Herz wurde schwer, fühlte sich wie zusammengepresst an. „Was haben sie mit dir gemacht?“, fragte sie schwach, fast schon schluchzend. Vorsichtig berührte sie einen der Striemen im unteren Rückenbereich, der heller war als Carstens sonstiges Hautbild. Diese seltsame Erhebung fühlte sich eigenartig an, um nicht zu sagen gruselig. Ihre Finger zitterten, als sie den Narben weiter nach oben folgte, zu der schockierendsten, unheimlichsten von allen. Im Vergleich dazu schienen die Verbrennungen von dem Ritual neulich nur noch halb so wild. Irgendetwas kreisförmiges, etwa auf Höhe der Schulterblätter, hatte einen großen Teil seines oberen Rückens so zerstört, sodass die Hautschicht absolut uneben und immer noch leicht gerötet war. Nun wurde sich Ariane erst wirklich bewusst, was das FESJ eigentlich für eine Anstalt war. Nichts, noch nicht einmal Carstens gequälte Erzählungen, waren im Stande gewesen ihr das zu zeigen. Zu verdeutlichen, wie grausam es dort vor sich ging. Wie viel Leid war mit diesen Narben verbunden? Wie viele Qualen hatte er dort täglich durchleben müssen? Schluchzend wischte sich Ariane eine Träne von der Wange. „Warum?“ „… Weil ich irgendetwas falsch gemacht habe.“, antwortete Carsten nur. Seine Stimme war schwach, emotionslos… tot. „So ein Blödsinn!“, entfuhr es Ariane. „Es gibt nichts, was man falsch machen kann, um so etwas zu rechtfertigen!“ „Anscheinend schon.“ „Aber… aber…“ Erneut wischte sich Ariane über die Augen. Diese Ungerechtigkeit zerbrach ihr das Herz. Warum auch noch ausgerechnet Carsten?! Sie wünschte so etwas niemandem, niemals! Doch Carsten von allen am wenigsten. Er tat so viel für andere, opferte sich regelrecht für sie auf. Er war eigentlich schon zu hilfsbereit, zu selbstlos. Wie konnte man ihm, ausgerechnet ihm so etwas antun? Ohne darüber nachzudenken legte sie die Arme um ihn. Lehnte sich gegen seinen Rücken, als hoffte sie damit irgendwie diese Narben, das ganze Leid verschwinden zu lassen. Es einfach auszulöschen. Eine Weile schwiegen sie, während Ariane versuchte diese Situation zu verarbeiten. All die Zeit hatte sie gewollt, dass Carsten endlich mal redete. Dass er sich ihr und den anderen endlich anvertrauen würde. Doch nun, wo er es getan hatte… Nun verstand sie, warum es ihm so schwerfiel. Weshalb er so verzweifelt versuchte all das zu verdrängen, einfach zu vergessen. Als wäre es nicht schon genug, dass seine Familie, besonders Eagle und sein Vater, nahezu sein ganzes Leben lang Carstens bloße Existenz nicht hatten wahrhaben wollen. Als hätte es nicht schon gereicht, dass er durch seine Schüchternheit noch nicht einmal in der Schule zurechtgekommen war. Nein, jetzt auch noch das! Als hätte er seelisch und körperlich nicht schon genug gelitten! Immer noch schluchzend fiel Ariane auf, wie fest ihr Griff um Carsten war. Betroffen fragte sie sich, ob sie ihm damit nicht eigentlich gerade auch wehtat und ob er deswegen nun schon wieder Schmerzen hatte. Oder ob sie wegen der Narben… Ariane lockerte den Griff und wollte die Umarmung lösen, als Carsten eines ihrer Handgelenke plötzlich festhielt. „Nicht loslassen…“, bat er sie zitternd, kurz vorm Zerbrechen. „Geh nicht weg…“ Schweren Herzens lehnte sie sich wieder gegen ihn. „Tu ich nicht.“ Sie spürte das Vibrieren seines Körpers, das Beben seiner Schultern, als Carsten seinen Griff um ihre Hand noch mehr verstärkte. Hin und hergerissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den inneren Qualen und der verzweifelten Sehnsucht nach Zuneigung. Das Rauschen des Flusses wandelte sich in das bedrohliche Knistern von Feuer. Ariane bildete sich ein zu sehen, wie dieses Etwas Carstens Rücken verbrannte. Sie glaubte ihn schreien zu hören, ein stummer Schrei, der umso lauter in ihrem Kopf hallte. Ein Schmerzensschrei und doch auch gleichzeitig ein Hilferuf. Wie kam es, dass sie ihn bis heute nicht gehört hatte? Ihn nach all der Zeit jetzt erst wahrnahm? Ariane verstärkte ihren Griff nochmal mehr. Jetzt hörte sie ihn. Jetzt würde sie das nicht länger einfach so zulassen. Nach einer Weile merkte sie, wie sich eine Gänsehaut auf Carstens Armen abzeichnete. Was nicht überraschend war, bei den 12°. „… Ist dir nicht kalt?“, fragte sie vorsichtig. Carsten zögerte deutlich, doch schließlich ließ er ihre Hand los und streifte sich das Hemd wieder über die Schultern, begleitet von einer schwachen, absolut verschämten Entschuldigung. Ariane schüttelte den Kopf. „Kein Grund sich zu entschuldigen. Ehrlich gesagt… bin ich froh, dass du endlich mal mit jemandem geredet hast.“ Carsten schwieg. Vorsichtig legte sie ihre Hand wieder auf seinen Rücken, wo sie selbst durch den Stoff die Unebenheiten der Brandnarbe zu spüren glaubte. „Versteck sie nicht schon wieder. Du kannst nicht ewig vor deiner Vergangenheit weglaufen.“ „Was soll ich denn sonst tun?“, fragte er matt. „Kämpfen.“, schlug Ariane vor. „Wehr dich dagegen, was sie mit dir macht. Du hast schon genug deswegen leiden müssen…“ Freudlos lachte Carsten auf. „Ich kann mich nicht wehren… Konnte ich nie.“ „Also ich finde schon.“ Sie zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. „Und sag mir nicht, dass du dich bei Frau Reklöv vor kurzem nicht gewehrt hast.“ Er seufzte bedrückt, als würde auch das ihn nicht sonderlich überzeugen. Ariane strich Carsten einige Strähnen seiner kinnlangen Haare aus dem Gesicht. „Und selbst wenn… Zusammen ist man eh viel stärker, nicht wahr?“ Zwar erwiderte er ihren Blick nicht, doch gerade aus der Nähe wurde Ariane bewusst, wie magisch seine lila Augen eigentlich waren. Es war fast so, als würde sie sie heute zum ersten Mal sehen. An sich… Hatte sie sich sein Gesicht eigentlich jemals richtig angeschaut? Die lila Augen umrahmt von schwarzen Wimpern, hohe Wangenknochen, eine gerade, leicht stupsige Nase mit den quer verlaufenden Narben vom Schwarzen Löwen, das schmale Kinn, die Lippen… Er war schon hübsch. Aber dieser trübe Ausdruck, immer noch gejagt von den Geistern der Vergangenheit… Ariane atmete tief durch und versuchte irgendwie diese Wand, die die Schüchternheit vor ihr aufbaute, zum Einsturz zu bringen. Stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Wenn Carsten schon bei etwas über seinen Schatten gesprungen war, was ihn seit einer gefühlten Ewigkeit bereits quälte… Ihren unsagbar lauten Herzschlag ignorierend beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange. Es war nur ein kurzer Moment, höchstens eine Sekunde. Und doch… Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie spürte die Hitze in ihr Gesicht aufsteigen, als sie verlegen auflachte. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht so überrumpeln.“ Der plötzliche Kuss schien Carsten in eine Art Schockstarre gebracht zu haben, was aber eigentlich ganz putzig war. Schließlich druckste er: „Schon okay… also…“ Mitleidig lächelte sie ihn an. „Aber nun hast du zumindest nicht mehr diesen traurigen Gesichtsausdruck.“ Verlegen wich er ihrem Blick aus, doch bevor er schon wieder so einen traurigen Ausdruck in den Augen bekommen konnte, strich Ariane ihm mit einem Finger über die Stelle, die sie zuvor unter dem Aufwand all ihrer Willenskraft geküsst hatte. „Aber den nächsten Schritt wirst du machen müssen. Mehr traue ich mich nicht.“ Ihr Kommentar ließ Carsten tatsächlich schwach auflachen, aber irgendwie klang er auch… erleichtert? „Müssen wir wirklich diskutieren, wer von uns beiden schüchterner ist?“ Auch Ariane atmete auf. Endlich kehrte sein Humor wieder zurück. Schulterzuckend meinte sie: „Das oder der Verlierer bei Schere, Stein, Papier.“ Tatsächlich half dieser alberne Kommentar Carsten, wieder zu sich selbst zu finden. Zumindest für diesen Moment, wo er ihr belustigt und auch leicht herausfordernd die geschlossene Hand hinhielt. Leicht amüsiert ließ sich Ariane darauf ein, auch wenn sie wusste, dass sie niemals jetzt schon den ‚nächsten Schritt‘ würde machen können, sollte sie verlieren. Die Sache hatte sich aber schnell geklärt. Papier-Papier Stein-Stein Papier-Papier Schere-Schere Stein-Stein Als sie nach dem sechsten Versuch wieder beide Papier gewählt hatten, konnten weder Ariane noch Carsten an sich halten und mussten loslachen. „Das wird ja nie was.“, seufzte Ariane. Die Situation war aber zu lustig, um wirklich frustriert zu sein. „Zwei hoffnungslose Fälle. Vielleicht haben uns Öznur und Lissi ja deshalb relativ in Ruhe gelassen.“, bemerkte Carsten amüsiert. „Schlimmer als Laura und Benni also? Oh Mann, das will was heißen.“ Wieder mussten sie beide lachen als sie realisierten, wie dämlich ihre Situation eigentlich war. Und dennoch war auch die Verlegenheit deutlich spürbar. Dieses komische Gefühl etwas machen zu wollen und doch nichts machen zu können, was absolut peinlich und beschämend war, und doch auch irgendwie… schön? Aber ja, so seltsam es klang. Obwohl Ariane diese Situation ziemlich unangenehm war, fühlte sie sich zeitgleich auch wohl in Carstens Gegenwart. Wenn er doch nur nicht so schüchtern wäre… Carsten senkte den Blick und klang ziemlich verunsichert, als er fragte: „Glaubst du wirklich, dass ich das kann?“ „Was?“ „… Kämpfen. Mich zur Wehr setzen.“ „Das tust du doch schon.“ Lächelnd legte sie ihre Hand wieder auf seinen Rücken, über die Stelle, wo sich diese grauenhafte Narbe befand. Die eine Stelle, die Carstens ganzes Leid der letzten sechs Jahre in dieser Anstalt repräsentierte. „Und du hast mehr als genug Leute um dich herum, die dir bei diesem Kampf helfen wollen. Du musst es nur zulassen.“ Carsten seufzte und überwand sich erneut dazu, ihr in die Augen zu schauen.  „Danke…“ Arianes Herzschlag beschleunigte sich, als er über ihre Wange strich. Was hatte er- „Was macht ihr hier?“, hörte sie eine vertraute tiefe Stimme hinter sich fragen. Erschrocken zuckten sie beide zusammen und schauten auf. Eagle kam auf sie zu, den Arm um Öznur gelegt, die ziemlich fertig wirkte. Sofort waren Ariane und Carsten auf den Beinen. „Ist etwas passiert?“ So langsam schien Eagle zu bemerken, dass er ein ziemlich blödes Timing hatte. Sein Blick fiel auf Carstens immer noch aufgeknöpftes Hemd, was er natürlich sofort falsch verstand. „Oh sorry, ich wollte euch nicht stören.“ „A-ach was, es ist nicht so, wie du denkst.“ Mit hochroten Wangen friemelte Carsten die Knöpfe durch die Knopflöcher. „Klingt umso verdächtiger.“, meinte Eagle leicht amüsiert, seufzte jedoch und wurde direkt wieder ernst. „Aber vielleicht könntet ihr wirklich helfen… Ich glaube nicht, dass Öznur jetzt den Teleport auf die Reihe bekommt.“ Besorgt nickte Carsten nur, während Ariane noch einmal fragte: „Was ist denn passiert?“ „Von der Coeur-Academy abgesehen gab es in den letzten Tagen wohl einige ‚Naturkatastrophen‘.“, erklärte Eagle und warf einen zerknirschten Blick auf seine schluchzende Freundin, die noch nicht einmal realisiert zu haben schien, dass Carsten und Ariane auch da waren. „Die letzte war vor kurzem erst. Ein Erdrutsch in Monde. Eben hat eine ihrer Schwestern angerufen…“ „Gibt… ist…“, stammelte Ariane, während sie und Carsten zu ihnen rüber gingen, um sich teleportieren zu können. Ist jemand gestorben? Eagle seufzte. „Keine Ahnung, Öznur bringt keinen vollständigen Satz raus.“ Ariane schluckte schwer, als sie Carsten ihre Hand gab und mit der anderen Öznurs Arm nahm, um den Kreis zu vervollständigen. Ohne weitere Fragen zu stellen teleportierte Carsten sie zu Öznurs Heimatdorf in der Bergregion Monde.   Höhenangst hatte Ariane zwar keine, aber so ganz schwindelfrei war sie bei solchen Größenordnungen auch nun wieder nicht. Und der Anblick machte die ganze Sache nicht gerade besser. Das Dorf hatte ziemlich steile Straßen und die Häuser reihten sich nebeneinander auf und sahen mit ihren Flachdächern fast schon wie eine riesige Treppe aus. Öznurs Familie wohnte am Dorfrand, wobei Rand auch wirklich meinte, dass sich dahinter überhaupt kein Dorf mehr befinden konnte. Denn es war eines der letzten Häuser, hinter deren abgezäunten Gärten die Klippe endete und der Berg steil abwärts ging. War. Ariane stockte der Atem, als sie die steinige Lawine sah, die mehrere Häuser unter sich begraben hatte. Instinktiv verstärkte sie ihren Griff um Öznurs Arm und Carstens Hand. Die Feuerwehr war bereits anwesend, ebenso viele Rettungssanitäter, die leicht erschraken als die vier aus dem Nichts auftauchten. Eagle entschuldigte sich knapp und fragte direkt, wo sich gerade die Familie Albayrak aufhielt. Der Blick eines Feuerwehrmannes fiel auf Öznur. Anschließend wies er auf eine Gruppe, wo sich mehrere dunkelhäutige Leute und auch ein paar Sanitäter befanden. Ariane versuchte das beklemmende Gefühl so gut es ging zu ignorieren, als sie auf diese Menge zugingen. Dennoch merkte sie, wie sich ihre Hand noch stärker an Carstens klammerte, als Öznur sich schließlich aus Eagles Griff wand und zu ihren Eltern rannte. Auch die Anspannung und Betroffenheit der beiden Brüder war deutlich zu spüren, während sie beobachteten, wie Öznur unter Tränen ihren Eltern um den Hals fiel, sich mit ihnen unterhielt und dabei vor Verzweiflung fast schon schrie. Einer der anderen dunkelhäutigen Anwesenden kam auf Eagle zu. Erst jetzt fiel Ariane auf, dass seine Hautfarbe einen anderen Teint hatte als die von Öznurs Familie. Und die langen schwarzen Haare und der muskulöse, hochgewachsene Körper ließen stark vermuten, dass es ein Indigoner war. Er verneigte sich und Ariane meinte, das indigonische Wort für ‚Häuptling‘ erkannt zu haben, als er Eagle die Situation schilderte. Fragend schaute sie zu Carsten. „Der Erdrutsch kam wohl ziemlich plötzlich.“, übersetzte dieser. „Sie konnten den Großteil der Familie rechtzeitig in Sicherheit bringen, aber eine ihrer großen Schwestern…“ Arianes Herz setzte aus. Was ist mir ihr?! Carstens Blick fiel erneut auf die Gruppe, wo Öznur inzwischen tränenüberströmt auf dem Boden kniete, die kleine und eine große Schwester an sich gedrückt. Als Ariane erkannte, dass hinter den Sanitätern eine Person auf dem Boden lag, wurde ihr direkt übel. Nein, bitte nicht… Carsten verstärkte kurz den Händedruck und ließ sie los. „Keine Sorge, sie schafft es.“ Etwas erleichterter aber gleichzeitig auch verwirrt beobachtete Ariane, wie Carsten sich die Haare mit dem Haargummi vom Handgelenk zurückband. Eigentlich waren sie dafür noch zu kurz, sodass die vorderen Strähnen ihm immer noch ins Gesicht fallen konnten. Aber es war wohl die Macht der Gewohnheit. Sie folgte ihm mit etwas Abstand und schaute zu, wie einer der Sanitäter Carsten irgendwie davon abhalten wollte der Gruppe und insbesondere der Verletzten zu nahe zu kommen. So langsam erkannte Ariane ein Muster, wann Carsten seine Schüchternheit immer abzulegen schien. Und es war eigentlich auch logisch. Wenn er in seine Arzt-Rolle schlüpfte konnte er sich so etwas wie Schüchternheit, Zurückhaltung und Unsicherheit einfach nicht erlauben. Und so erklärte er dieser fremden Person ruhig und bestimmt, dass er ein Sanitäter der Coeur-Academy sei und schon viel Erfahrung mit Heil-Magie habe. Das überzeugte wohl. Ariane fiel ein Stein vom Herzen als sie sah, dass Öznurs Schwester tatsächlich noch bei Bewusstsein war und sogar auf Carstens Fragen antworten konnte. Kurz darauf hielt Carsten eine Hand über ihr Bein. Offensichtlich war dort die schlimmste Verletzung. Ein farbenfrohes Leuchten ging von seiner Handfläche aus als er einen Heilzauber sprach. Ariane war erstaunt, wie sanft und mächtig zugleich doch so ein Zauber wirken konnte. Oder hatte sie es einfach nur vergessen? In der letzten Zeit brachte sie Carsten nur noch mit schwarzer Magie in Verbindung. Düster und bedrohlich und so unheimlich, dass Ariane das Gefühl hatte von innen zu erfrieren. Doch dieser Zauber war das absolute Gegenteil. Hell, klar und lebensfroh, dass sich Arianes Herz alleine bei dem Anblick mit Wärme und Liebe füllte. Irgendwie war sie davon so gerührt, dass ihr automatisch die Tränen kamen. Sie hörte Eagle neben sich seufzen. „Und der Depp behauptet schwarze Magie sei die mächtigere Magieform.“ Ariane erwiderte seinen Blick, der genau die Gefühle zeigte, die auch sie spürte. Er grinste herausfordernd. „Will ich eigentlich wissen, was ihr da getrieben habt?“ „E-es ist nicht so wie du denkst.“, antwortete Ariane genauso wie Carsten zuvor und wandte sich verlegen ab, was Eagle auflachen ließ. Seufzend betrachtete sie wieder das farbenfrohe Leuchten, was alle Umstehenden in seinen Bann zu ziehen vermochte. Obwohl ihre Erinnerungen zu der grauenhaften Brandnarbe abdrifteten, die sich direkt unter Carstens schwarzem Hemd befand, musste sie Lächeln. „Er schafft das. Er ist stärker als er glaubt.“ „Was?“ Belustigt stemmte sie die Hände in die Hüften. „So langsam verstehe ich, wie Benni das immer bei ihm gemacht hat. Man muss ihn nur ein paar mal daran erinnern, dass es sich lohnt zu kämpfen. Nicht zwingen, nur erinnern.“ Eagles Verwirrung amüsierte sie noch mehr. „Hab mal etwas mehr Vertrauen in deinen kleinen Bruder.“ Eagle schnaubte, wohl nicht ganz überzeugt. „Bei der ganzen Geheimniskrämerei?“ Er wies mit dem Kopf auf ein benachbartes Haus. Oder zumindest auf die Überreste dessen… „Glaube, die Feuerwehrleute würden die Hilfe von Kampfkünstlern dankbar entgegennehmen.“ Mit einem unwohlen Gefühl im Magen nickte Ariane und folgte Eagle zu den Trümmern, die eine Gruppe Feuerwehrleute erfolglos versuchte zu beseitigen. Ein paar Indigoner halfen ihnen bereits dabei, doch es waren einfach viel zu viele. Betreten fragte sich Ariane, wie viele Menschen wohl weniger Glück gehabt hatten als Öznurs Schwester… Eagle schien mit den Gedanken immer noch bei seinem kleinen Bruder. Mit gedämpfter Stimme fragte er: „Hat er mit dir geredet?“ Dieses Mal war es ein beklemmendes Gefühl, welches sich in ihrer Brust ausbreitete als sie an Carstens gequälte Erzählung und an seine gebrochene Stimme dachte. Die Narben auf seinem Rücken, wie sie sich anfühlten, das Zittern seines zerbrechlich wirkenden Körpers… Schließlich atmete sie tief durch und nickte. „Gib ihm Zeit. Zwing ihn nicht dazu, sich damit auseinanderzusetzen. Es ist… es ist viel und…“ Fröstelnd rieb sie sich den Arm und half dabei, einen schweren Stein aus dem Weg zu räumen, auf der Suche nach weiteren Überlebenden. Sie erwiderte Eagles kritischen und doch auch verunsicherten Blick und fügte hinzu: „Das beste was wir für ihn tun können ist einfach für ihn da zu sein. Und… hör auf, Jack ständig vor Carstens Augen fertig machen zu wollen.“ Mit einem Schnauben wandte sich Eagle ab und wollte sich an den nächsten, größeren Stein wenden, als Ariane ihn am Arm packte. „Denk dran, dass beide im FESJ waren. Selbst wenn sie grundverschieden sind, ist es doch klar, dass sich Carsten zum Teil mit Jack identifiziert. Und dass er seine Taten deswegen auch viel besser nachvollziehen kann, als es uns jemals möglich ist.“ Die Art wie Eagle die Zähne zusammenbiss verriet, wie wenig er von dieser Aussage hielt. Seufzend stemmte Ariane einen weiteren Trümmerbrocken zur Seite, der wohl eigentlich so schwer war, dass die in voller Montur bekleideten Feuerwehrleute mit aufgeklappten Mündern das Mädchen mit Hotpants und Strumpfhose beobachteten. „… Es gibt zwei Wege da raus zu kommen. Entweder als Verbrecher, oder als Toter.“, murmelte sie, eher zu sich selbst. Es fiel ihr immer noch unsagbar schwer, diesen Spruch zu verdauen. Oder gar zu akzeptieren, dass er so etwas wie das Lebensmotto der Schüler des FESJ war. Erst als sie Eagles absolut verwirrtes und herzzerreißendes „Was?“ hörte, merkte sie, dass sie das nicht nur gedacht hatte. Ariane schluckte schwer. „Anscheinend sagen die Schüler das dort immer. Und Carsten… er meinte, dass er nur wegen Benni eine Ausnahme ist. Ansonsten…“ Sie hörte ein knacksendes Geräusch und merkte, wie ein Stein durch Eagles festen, angespannten Griff Risse bekam. Seine Stimme zitterte so sehr, dass Ariane glaubte er stünde kurz davor loszuweinen, als er fragte: „Willst du damit sagen, ich hätte ihn damals fast in den Tod getrieben?“ Ariane überlegte, was wohl besser wäre. Eine schonende oder eine direkte Antwort? Doch bevor sie sich mit sich selbst einig werden konnte, rief ein Feuerwehrmann von weiter hinten: „Hey ihr beiden, kommt schnell rüber und packt mit an!“ Schnell richtete sich Ariane auf, in der Hoffnung, dass dort doch noch ein Überlebender gefunden wurde. Sie merkte Eagles Zögern, offensichtlich stand er immer noch unter dem Schock jener Erkenntnis. Und auch, wenn er ihr inzwischen sehr sympathisch geworden ist… Sie konnte ihn nicht von seiner Schuld freisprechen. Und sie wollte es auch gar nicht. „Verstehst du so langsam, was ich meine? Warum er Zeit braucht? Und Zuneigung, statt Ratschläge oder blöde Kommentare über denjenigen, der garantiert ein ähnliches Schicksal dort erdulden musste?“ Langsam nickte er und folgte Ariane zu dem Ort, wo der Feuerwehrmann mit einem Spürhund stand, der wohl irgendetwas oder -jemanden gefunden hatte. Während Ariane und Eagle mit einem weiteren Indigoner einen ganz schön schweren Trümmerklotz anpackten meinte Eagle schließlich: „Wenn es Carsten hilft, dann… versuche ich mich zusammenzureißen. Irgendwie.“ Aufmunternd lächelte sie ihn an. „Und wie ihm das helfen wird.“ Gemeinsam hoben sie den riesigen Stein an. Ariane unterdrückte ein Aufschreien, als sie erkannte, dass darunter tatsächlich jemand lag. Dieses Bild würde sich noch für eine lange Zeit in ihre Erinnerung brennen und sie würde noch häufig aus Träumen deshalb hochschrecken. Ein Körper, so verrenkt, dass es eher wie eine groteske Marionette wirkte. Der Hinterkopf schien von Trümmern getroffen worden zu sein und Ariane wusste nicht, ob es Einbildung war oder ob sie unter dem ganzen Blut wirklich das- „Sieh nicht hin.“, wies Eagle sie an. Ihr Magen verkrampfte sich, Übelkeit stieg in Ariane auf. Doch sie schaffte es nicht den Blick abzuwenden. Sosehr sie auch wollte, sie konnte nicht wegschauen. „Ariane!“ Eagle packte sie mit einer Hand an der Schulter, bis Ariane es endlich schaffte, gezwungen seinen Blick zu erwidern. „Nicht hinschauen.“, wiederholte er sich. Ihre Hände begannen zu zittern und die Übelkeit bekam sie auch nicht wirklich in den Griff. Sie versuchte sich auf Eagles bernsteinfarbene Augen zu fokussieren, um bloß nicht wieder nach unten zu schauen. Und dennoch wurde sie dieses grauenerregende Bild nicht los. Derweil hatten wohl die Feuerwehrmänner diesen Mann aus den Trümmern geborgen, zumindest hörte sie Carstens Stimme von weiter entfernt. „Habt ihr jemanden gefunden?“ Der Feuerwehrmann von vorhin meinte irgendwas von wegen sie könnten den Stein wieder runterlassen, doch Ariane war ohnehin gar nicht mehr dazu in der Lage dieses Gewicht halten zu können. Kraftlos sackte sie auf dem Trümmerhaufen zusammen und beobachtete immer noch gelähmt, wie sich Carsten zu diesem… Körper kniete, während einer der Sanitäter ihn fragte: „Können Sie etwas für ihn tun?“ Doch wie erwartet schüttelte Carsten nur betrübt den Kopf. Erneut spürte sie, wie Eagle ihre Schulter packte. „Geht‘s?“ Ariane versuchte die Übelkeit herunterzuschlucken, doch ohne Erfolg. Auch auf Eagles Frage konnte sie nicht reagieren. „Komm, wir bringen dich hier weg.“ Er stützte sie etwas an einem Arm und am Rücken und half ihr auf die Beine. Doch bevor sie von dort verschwinden konnten, riss eine panische Stimme aus der Menschenmenge ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Papa?! Papa!!!“ Eine junge Frau kam auf die tote Person zu gerannt, die braunen Haare wirr und die Schminke verlaufen durch die Tränen. Sie fiel auf die Knie, schluchzend und schreiend und doch nicht dazu in der Lage zu realisieren, dass ihr Vater nicht mehr bei ihr war. Eagle stieß einen Fluch aus. „Ist das nicht Rebecca?“ „Wer?“ „Lauras früheres Kindermädchen.“ Erschrocken zwang sich Ariane dazu genauer hinzuschauen und tatsächlich, sie meinte die junge Frau wiederzuerkennen, die sie damals in Yami zum ersten Mal getroffen hatte. Ihre Beine zitterten immer noch stark und würde Eagle sie nicht stützen, wäre sie direkt wieder zusammengesackt. Es war schon schlimm genug, dass so etwas passiert war. Aber wenn man dann auch noch Bezug zu so einer Person hatte… Ariane musste sich daran erinnern zu atmen. Doch bei dieser staubigen Luft fiel das so schwer… Es war wie als würden die aufgewirbelten Erdkörnchen verhindern, dass der Sauerstoff in ihre Lungen gelangen konnte. Anstelle dessen hatte sie ekliges, kratziges Gefühl in der Kehle. Befangen beobachteten sie und Eagle, wie Carsten eine Hand auf Rebeccas Schulter legte. „Es tut mir leid…“ Schniefend wischte sie sich über die Augen und erkannte schließlich den jungen Heil-Magier. „… Carsten?“ Carstens Mundwinkel formten sich zu einem Lächeln, doch der traurige Blick in seinen Augen war selbst von Arianes Standpunkt aus sichtbar. Rebecca schluchzte erneut und krümmte sich über den Leichnam ihres Vaters. „Wieso? Wieso?!?“ Immer noch nicht in der Lage zu atmen wandte sich Ariane von diesem herzzerreißenden Bild ab. Die Vorstellung, dass das ihr eigener Vater hätte sein können… „D-denkst du das war… Mars?“, fragte sie schwach. Eagle blickte nach oben in die Richtung, aus der die Steine sich gelöst hatten. Anschließend schaute er zu Öznurs Familie und den Trümmern, vor denen sie nun standen und die einst ihr Zuhause waren. „Ziemlich sicher…“ „Es ist eure Schuld…“ Irritiert beobachteten sie, wie Rebecca aufsprang und zurück stolperte. „Das ist alles eure Schuld!“ Einer der Sanitäter versuchte sie zu beruhigen und wollte eine Decke über ihre Schultern legen. „Es ist alles gut junge Dame, setzen Sie sich. Sie stehen unter Schock und brauchen-“ „Nichts ist mit mir!“, schrie Rebecca aufgebracht und zeigte in Öznurs Richtung, die inzwischen auch mitbekommen hatte, was ihrem Nachbarn widerfahren war. „Das ist wegen euch! Das passiert alles nur wegen euch, nicht wahr?!“ Ein unruhiges Raunen breitete sich bei den Beobachtern aus, doch weder Öznur oder Carsten, noch Eagle oder Ariane wussten etwas darauf zu erwidern. Wie zu Stein erstarrt blieb ihnen keine andere Wahl, als Rebeccas Anschuldigungen über sich ergehen zu lassen. „Das ist wie bei der Dämonenverfolgung damals! Immer sind es die Unschuldigen die leiden müssen! Die, die nichts für all das können! Mein Vater ist doch nur wegen euch gestorben! Nur, weil im Haus nebenan die Besitzerin des Roten Fuchses wohnt!!!“ Nicht in der Lage die Situation verstehen zu können, starrten Carsten, Eagle und Ariane Lauras ehemaliges Kindermädchen an. Das Raunen wurde lauter, aufgebrachter. Öznur stolperte einen Schritt zurück und doch hinderten Angst und Schrecken sie daran, irgendetwas machen zu können. Sich irgendwie zu verteidigen. Eagle fluchte. „Verdammte Scheiße, wir müssen hier weg.“ Er gab dem Indigoner neben ihm einige Anweisungen in seiner Muttersprache und rief anschließend Carstens Namen, damit dieser endlich aus seiner Schockstarre erwachte. Ebenso wie Ariane, die erst wieder laufen konnte als Eagle sie am Arm mit sich zu Öznur zog. Am Rande bekam Ariane mit, wie Carsten viel zu gutherzig war und trotzdem noch versuchte Rebecca zu beruhigen. „Rebecca, du weißt, dass das nicht stimmt. Denk an Laura und-“ „Sie ist genauso! Ihr seid alle so! Ihr verkriecht euch und lasst uns darunter leiden! Die, die sich am wenigsten wehren können!“ „Das sind nicht wir, das ist ein Wesen, was jedem Leid zufügen möchte, ein-“ „Ein Dämon! Ein Monster, genauso wie der ganze Rest von euch!!!“ Ariane zuckte zusammen als habe man sie geschlagen. Aus den umstehenden Menschenmengen kamen Rufe. Worte die vor Hass und Verachtung nur so trieften. Dämon. Monster. Teufel. Manche schrien sie sollten verschwinden, anderen war dies nicht genug. Ariane hatte bisher nie solche Erfahrungen machen müssen. Da sie ihre Identität als Dämonenbesitzerin vor allen geheim gehalten hatte, war sie noch nie so mit dieser Angst konfrontiert worden. Mit diesem Hass. Bei dem Stimmengewirr wurde ihr schwindelig. Die lauten Rufe bereiteten ihr Kopfschmerzen. Ariane hielt sich die Ohren zu, hoffte, dass es aufhörte. Und doch konnte sie sie hören. Öznur schluchzte. „Wir sind nicht…“ „Nein, aber die werden noch lange brauchen, um das verstehen zu können.“, erwiderte Eagle zerknirscht und rief Carsten irgendetwas Indigonisches zu. Kurz darauf spürte Ariane eine Hand auf ihrem Rücken, als Carsten seinen großen Bruder fragte: „Und jetzt?“ „Erstmal weg hier.“ „A-aber…“ Öznur war immer noch zu aufgelöst, um einen Satz zustande zu bringen. „Meine Familie… Unser Haus…“ Eagle ließ Ariane los, um einen Arm über Öznurs Schultern zu legen als wolle er sie damit vor den hasserfüllten Rufen ihrer Nachbarn und der anderen Dorfbewohner beschützen. „Lass das meine Sorge sein.“, meinte er nur und schob sie regelrecht zurück zu ihrer Familie, die immer noch bei der verletzten großen Schwester war und nichts anderes machen konnte als das Geschehen entsetzt zu beobachten. „Geht’s?“, hörte Ariane Carsten besorgt neben sich fragen. Sie nickte bedrückt und ließ endlich von ihren Ohren ab. Doch ihr entging nicht, dass auch Carsten unter den hasserfüllten Kommentaren litt. „Dir?“ Verbissen blickte er zurück, erwiderte aber nichts darauf. „Carsten, wie viele Leute kannst du gleichzeitig teleportieren?“, fragte Eagle seinen kleinen Bruder. „Zehn.“ „Okay, passt genau.“ Eagle forderte Öznurs Eltern und Schwestern dazu auf zu ihnen zu kommen und einen Kreis zu bilden. Einer der Indigoner half der verwundeten Schwester. Als Ariane realisierte was Eagle vorhatte, gab sie schnell ihm und Carsten ihre Hand, damit Carsten sie zurück nach Indigo teleportieren konnte. Weg von diesem ganzen Hass… Kapitel 89: Zwischen Gefühl und Vorurteil ----------------------------------------- Zwischen Gefühl und Vorurteil      Anne stützte ihr Kinn auf der einen Hand ab und trommelte mit den Fingern der anderen auf dem kleinen Krankenhaustisch neben dem sie saß. Der Aufruhr bei dem gestrigen Erdrutsch in Öznurs Heimatdorf war nicht ohne Folgen geblieben, die Medien waren voll davon. Dabei sollte heute eigentlich, endlich das Gesetz unterzeichnet werden, damit die Dämonenjäger mit den Dämonenbesitzern nicht mehr jeden Mist anstellen konnten, worauf sie Bock hatten. Tja, und jetzt diese beschissene Situation. Als hätten sie es nicht schon schwer genug. Doch egal wie sie es drehte und wendete, Mars auf eigene Faust zu bekämpfen war ein Ding der Unmöglichkeit. Zumindest, wenn der Bericht über die Unterweltler-Armee stimmte. Anne stöhnte auf. „Wir haben keinen Plan ob er sich momentan wirklich im Unterweltschloss befindet und selbst wenn, würden wir wahrscheinlich direkt in ein Nest blutsaugender Leichenfresser wandern.“ Ihre Mutter seufzte und strich sich die schwarzen Locken aus dem Gesicht, sodass die Augenklappe nicht mehr verdeckt wurde. „Aber jetzt noch mit einer Unterstützung Seitens Lumière, Eau oder Monde zu rechnen ist ziemlich unwahrscheinlich. Könnt ihr der Armee wirklich nicht alleine gegenübertreten? Jack hatte doch neulich ziemlich viele Unterweltler mit einem Schlag besiegt.“ „Kommt drauf an wie viele es sind. Und selbst wenn… Dann würden wir so viel Energie verbrauchen, dass für Mars am Ende nichts mehr übrig wäre. Und das wird nicht wenig sein, was wir für den Arsch benötigen. Immerhin muss sogar jeder für diesen Zauber seine Dämonenform haben.“ Bedrückt nickte Sultana. „Stimmt schon… Sag, wie geht es deiner Freundin und ihrer Familie? Das muss doch ein furchtbarer Schock für sie gewesen sein. Und jetzt stehen sie auch noch ohne ein Zuhause da…“ „Die sind erstmal in nem Hotel hier in Indigo untergekommen.“, antwortete Anne und driftete mit den Gedanken zu Öznur ab, die schon lange nicht mehr so viel Rotz und Wasser geheult hatte wie gestern. Und sie hatte die Zeit zuvor schon häufig geheult. Schnaubend lehnte sie sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und dann auch noch ausgerechnet ein Erdrutsch. Jeder wird direkt den Orangenen Skorpion in Verdacht haben.“ „Aber Jack ist hier im Krankenhaus und hat ein wasserdichtes Alibi.“ „Das weiß die Bevölkerung aber nicht. Und nachdem was er alles angestellt hat…“ Sultana schüttelte seufzend den Kopf. „Du vertraust ihm immer noch nicht, nicht wahr?“ „Niemals. Ich weiß, dass uns keine andere Wahl bleibt als mit ihm zusammenzuarbeiten. Aber wie zum Teufel soll das gehen, wenn man damit rechnen muss, dass er einem ein Messer in den Rücken rammt?“ „Das wird er nicht.“ Anne betrachtete ihre Mutter kritisch. Es war klar, dass sie sich so vehement für Jack einsetzte. Schließlich hatte Anne durch Carstens Observationszauber mit eigenen Augen gesehen, wie er sich um ihre Verletzungen gekümmert hatte. Und trotzdem… „… Es mussten schon zu häufig Leute darunter leiden, wenn sie ihm vertraut hatten.“ „Dieser Vorfall mit Crow bei der Abendgesellschaft damals?“, vergewisserte Sultana sich. Anne nickte. „Oder auch kurz darauf, als Janine außen mit ihm gesprochen hatte.“ Zähneknirschend ballte sie die Hand zur Faust. Das war die widerwärtigste Aktion von allen gewesen. Und die am wenigsten nachvollziehbarste obendrein. „Ob er wirklich Janines Adoptivmutter getötet hat oder nicht, können wir nach unserem Kenntnisstand nicht sicher sagen. Bei Chief hatte er angeblich ein Motiv. Und wenn man an seinen Ausraster denkt, als Carsten das ‚FESJ‘ überhaupt nur erwähnt hatte, lässt sich beides wahrscheinlich damit erklären. Und dann haben wir trotzdem noch den Mord an Bennis Großvater und vermutlich unzähligen anderen Leuten…“ „… Welcher ebenso wie die anderen sehr wahrscheinlich von Mars in Auftrag gegeben worden ist.“, beendete Sultana Annes Überlegungen. „Es mindert zwar nicht das Ausmaß, wie schlimm diese Taten sind, aber es gibt immer eine Erklärung. Insbesondere sind dies Gründe, die nicht so wirken als würde er euch in den Rücken fallen wollen.“ Anne gefiel es überhaupt nicht, wie überzeugt ihre Mutter Jack in Schutz nahm. „Und warum hatte er damals Janine damit erpresst ‚ihre Jungfräulichkeit für sein Stillschweigen‘ zu wollen?“ Sultana schien irritiert. „Das klingt überhaupt nicht nach ihm.“ „War er aber.“ Bedrückt atmete ihre Mutter aus. „Wer weiß? Vielleicht hatte er selbst dafür einen Grund?“ „Was sollte sowas rechtfertigen?“, fragte sie angewidert. „Selbst wenn es nur so etwas wie ein ‚Test‘ war, ist diese Aktion unter aller Sau.“ „Frag ihn doch.“, schlug Sultana vor. „Sein Zimmer ist nur wenige Meter entfernt.“ Anne verzog das Gesicht. Sie wollte mit diesem Volldepp nicht reden. Schon alleine das Wissen, dass sich dieses Arschloch im selben Gebäude aufhielt machte sie aggressiv. Ihre Mutter lächelte traurig. „So ganz bist du deine Vorurteile Männern gegenüber also nicht losgeworden. Aber zumindest scheinst du mit Crow und Eagle gut klar zu kommen…“ Zischend richtete sich Anne auf. „Dass Jack ein perverser Drecksack ist hat nichts mit mir zu tun.“ „Besonders, da du ihm noch nicht einmal die Gelegenheit gibst das Gegenteil zu beweisen?“ Diese Frage war eindeutig rhetorisch gemeint. Zorn kochte in Anne hoch und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu werden. „Weil gerade du ja auch ein so gutes Auge dafür hast, Perverse von normalen Leuten zu unterscheiden, nicht wahr?“ Direkt wurde Sultanas Blick ernst. „Anne, dieses Gespräch hatten wir häufig genug.“ „Nichts hatten wir!“, schrie Anne aufgebracht. „Du hattest mich damals sofort in ne Therapie abgeschoben und das war’s! Nie hast du dich mit mir mal hingesetzt, um zu reden! Immer hieß es nur Sitzungen hier, Konferenzen da, … Du hattest nie auch nur eine Minute Zeit gehabt für deine Tochter!!!“ „In der Zeit die ich mir für dich genommen hatte, hast du ja auch immer nur geschrien und Streit gesucht!“, erwiderte ihre Mutter aufgebracht. Doch plötzlich wurde sie ganz blass und hielt sich die linke Seite. Die Tür ging auf und ein Krankenpfleger trat ein. „Was ist denn hier los?“ Er warf einen kurzen Blick auf seine immer noch schwer verwundete Patientin und wandte sich anschließend an Anne. „Es ist besser, Sie gehen jetzt, Prinzessin. Ihre Mutter braucht Ruhe.“ Anne zischte. „Ich wollte eh gerade verschwinden.“ Verärgert stapfte sie an dem Pfleger-Typen vorbei aber natürlich nicht, ohne ihn ‚versehentlich‘ anzurempeln. Dennoch ertappte sich Anne dabei, wie sie auf der Türschwelle innehielt, um einen kurzen Blick über die Schulter zu werfen und zu beobachten, wie der Pfleger begann sich um die Verletzungen ihrer Mutter zu kümmern. Kopfschüttelnd schloss Anne die Tür hinter sich und machte sich auf den Weg zurück zum Rest. Doch nach wenigen Schritten verblasste ihr Ärger bereits wieder und wurde durch ein schlechtes Gewissen ersetzt. Seufzend blieb Anne stehen und fuhr sich durch die hellbraunen kurzen Haare. Sie würde es bei diesem Thema wohl nie schaffen ihr Temperament unter Kontrolle zu bekommen… Verärgert warf sie einen Blick auf die Tür links von ihr, neben der sie zufälligerweise stehengeblieben war. War das nun ihr gesunder Menschenverstand? Oder hatte sie ihre Vorurteile Männern gegenüber tatsächlich noch nicht überwunden? Verbissen erinnerte sie sich zurück an die Zeit in den Osterferien, wo sie gezwungenermaßen feststellen musste, dass Carsten wirklich kein so schlechter Typ war, wie sie gedacht hatte. Wie sie im Allgemeinen über Kerle dachte. … Also warum konnte es nicht auch bei einem anderen Kerl so sein? Würde sie nun mit ihrem ein Jahr jüngeren Ich sprechen, würde dieses einfach nur lachen und sie für verrückt erklären. Anne erklärte ja schon ihr gegenwärtiges Ich für verrückt. Doch bevor sie dazu kam wie der letzte Depp stundenlang vor der Tür zu stehen und sich zu überlegen, ob sie reingehen oder es doch lieber lassen sollte, atmete sie einmal tief durch und drückte die Klinke herunter. „Oh Shit, der dritte Reiter der Apokalypse.“, wurde sie ganz charmant vom Arschloch begrüßt. Entnervt schüttelte Anne den Kopf. Warum hatte sie sich nochmal für diese absolut bescheuerte Aktion entschieden? „Und wer sind die anderen?“ „Janine, Eagle und dieses ekelhafte Gesöff, was sich Medizin nennt.“ Jack wies auf den Tisch neben sich, mit einem kleinen brauen Fläschchen dessen Inhalt definitiv widerlich schmecken musste, aber wahrscheinlich hilfreich bei der Genesung war. Mit ausreichend Abstand lehnte sich Anne gegen die weißgestrichene Wand, die Hände in den Hosentaschen und betrachtete den Idioten. Er sah zwar deutlich fitter aus als die Tage zuvor, aber für die Verhältnisse eines Dämonenbesitzers war das erbärmlich. ‚Wer im Prinzip immer Albträume hat, hat wohl alles andere als einen erholsamen Schlaf.‘, erinnerte sie sich an Carstens Worte. „Und? Gut geschlafen?“, fragte Anne. Spöttisch verzog Jack das Gesicht. „Bin mir nicht sicher. Das gerade hat ziemlich gutes Traumpotenzial.“ Anne wusste nicht, ob der Vollidiot sie mit diesem Spruch tatsächlich provozieren wollte oder ob es einfach einer seiner typischen Vollidiot-Kommentare war. Ohne Hintergrundinfos hätte sie das wohl als die bescheuertste Anmache ihres Lebens verstanden. Aber mit dem Wissen, dass Jack vermutlich eher von Albträumen sprach… Ironischerweise besänftigte sie das ein bisschen. Jack legte sein Smartphone zur Seite, mit dem er zuvor wohl die Zeit totgeschlagen hatte. „Gibt’s einen Grund, warum ausgerechnet du zu Besuch bist?“ Zerknirscht verschränkte Anne die Arme vor der Brust. Ernsthaft, wieso war sie überhaupt so bescheuert und hatte dieses Zimmer betreten? „… Ist was mit deiner Mom?“, erkundigte er sich auf ihr Schweigen hin. Kritisch blickte Anne auf und für den Bruchteil einer Sekunde kam ihr der Gedanke, dass es eigentlich ziemlich nett war, wie er sich so um die Gesundheit ihrer Mutter sorgte. Aber nur für den Bruchteil eine Sekunde. Anne schüttelte schnaubend den Kopf. So ein Vollidiot. „Nichts ist mit ihr.“ … Aber irgendwie war es ja schon wegen ihr. „Ich versuche nur herauszufinden, was sie, Carsten und Herr Bôss dazu treibt dich dauernd vor alles und jedem in Schutz zu nehmen.“ „Vielleicht aufgrund meines reizenden Charmes?“, schlug Jack sarkastisch vor. Geräuschvoll atmete Anne aus. „Oh ja, reizen kannst du gut.“ Er lachte auf. „Punkt für dich.“ Genervt verdrehte sie die Augen, da fiel ihr eine Frage ein, die sie sich schon die ganze Zeit stellte. „Woher kennst du den Direktor eigentlich?“ „Wer weiß? Woher kennt Carsten ihn denn?“ Anne hob eine Augenbraue. „Aus der Coeur-Academy natürlich.“ Wollte der Typ daraus etwa ein bescheuertes Ratespiel machen? Oh Gott. Ja, reizen konnte er richtig gut. Jack erwiderte ihren Blick lediglich ruhig, als wartete er immer noch auf die Antwort. Aber Anne hatte doch schon gesagt, dass- „Nein halt, er hatte ihn im FESJ kennengelernt.“, berichtigte sie sich. Jack lehnte sich zurück in die Kissen. „Da hast du deine Antwort.“ Doch sofort stellte sich die nächste Frage. „Moment… Ich habe gerade den Namen deiner ehemaligen Schule genannt und du tickst nicht aus?“ Da fiel ihr auf, dass dieses Wort inzwischen schon häufiger in Jacks Gegenwart gefallen war und er wirklich nie auch nur Anstalten gemacht hatte, irgendjemanden in seiner Nähe umzubringen. „Keine Sorge, passiert nicht mehr.“, erwiderte er tatsächlich. „Wieso?“ „Wenn man ständig fast den Arm gebrochen bekommt, wenn man kurz davor ist auszurasten, überlegt man sich das irgendwann zweimal. … Und lässt es lieber bleiben.“ Anne konnte das Auflachen nicht unterdrücken. „Sag bloß, Benni hatte dir das abtrainiert.“ „Volle Kanne. Er wollte wahrscheinlich verhindern, dass sich die Geschichte mit Carsten wiederholt.“ Sie hielt inne. So wie sie Benni kannte war das tatsächlich sein Beweggrund gewesen, schließlich war er schon immer extrem vorausschauend. Aber das hieß auch, dass er wusste, dass… „Jetzt mal ehrlich, warum hilfst du uns?“, fragte sie kritisch. „Du kannst doch nicht von dem einen auf den nächsten Moment beschlossen haben dich gegen Mars zu wenden.“ „Oh, du glaubst inzwischen also, dass ich auf eurer Seite bin?“ „Das hab ich nicht gemeint.“ Herausfordernd lächelte Jack. „Also falls es dich so brennend interessiert: Im Prinzip hab ich das wirklich vom einen auf den nächsten Moment beschlossen.“ „Erzähl keinen Scheiß.“ „Ist kein Scheiß.“, erwiderte er schulterzuckend, wobei seinem Blick nach zu urteilen die Verletzungen diese Geste noch nicht ganz zuließen. „War im Prinzip ein Versprechen.“ „Jetzt im Ernst, komm nicht mit so ner Dramastory an.“ Wieder lachte Jack auf. „Glaub mir, das hätte verfilmt werden können.“ Doch tatsächlich wurde sein Ausdruck zum ersten Mal wirklich ernst, als er ergänzte: „Ich hab Benni versprochen euch zu helfen, sollte… irgendwas schiefgehen.“ „Also so etwas wie… neulich?“ Tatsächlich fühlte sich auch Anne bei dem Gedanken was mit Benni passiert war unwohl. Eigentlich waren sie beide mit ihrer Beziehung am Ende geprägt von professioneller Gleichgültigkeit sehr zufrieden gewesen. Und trotzdem, ein Schicksal, welchem man nur mit dem ‚sicheren Tod‘ entfliehen konnte, wünschte Anne selbst ihm nicht. Aber Jack vielleicht. Dieser nickte auf ihre vorige Frage hin und tatsächlich schien ihm zum ersten Mal die Lust an den blöden Kommentaren vergangen zu sein. Anne nutzte das Schweigen, um Jack genauer betrachten zu können. Die rotbraunen Haare, die auf seiner linken Seite deutlich kürzer waren als auf der rechten, waren leicht verstrubbelt und gaben ihm zusammen mit den Augenringen und dem Drei-Tage-Bart ein ziemlich ungepflegtes Aussehen. Aber gleichzeitig wirkte er mit den ganzen Verletzungen dadurch auch extrem fertig, sodass man fast schon Mitleid mit ihm haben könnte. Seufzend fuhr sich Jack mit der Hand durch die Haare. „Wirklich, was willst du?“ „Es geht um Janine.“, antwortete Anne direkt. „Ah, Reiter Nummer 1.“ „Echt? Sie und nicht Eagle?“ Jack lachte. „So überraschend?“ „Dachte irgendwie du kannst Eagle weniger ausstehen als Janine.“ …Warum unterhielt sich Anne überhaupt mit ihm über so einen Scheiß? „Janine ist immer die Nummer 1.“, erwiderte Jack nur. Gereizt schnaubte sie und ging einen Schritt auf ihn zu. „Merkt man, schließlich hattest du schon einmal vorgehabt sie zu vergewaltigen.“ „Hä?“ Diese planlose Aussage provozierte Anne noch mehr und der Ärger vom vorigen Gespräch mit ihrer Mutter kehrte zurück. „Du Drecksack erinnerst dich nicht einmal mehr daran?! Das passt ja! Warum hab ich mir überhaupt die Mühe gemacht dir eine Chance geben zu wollen? Verdammt, war ja klar. Durch und durch das perverse Schwein, genau wie erwartet. Na toll und damit müssen wir zusammenarbeiten?!“ „Jetzt mach mal halblang, wovon redest du überhaupt? Ich hatte sie nie-“ Es war deutlich sichtbar, wie sich Jacks Ausdruck veränderte als er verstand, von welcher Situation sie sprach. „… Oh. Das.“ Anne verschränkte die Arme vor der Brust, aber eher um ihren Körper halbwegs unter Kontrolle halten zu können. Sie würde diesem Schwein gerade nur zu gerne die Seele aus dem Leib prügeln. „Genau. Das.“ Jack gab ein schwer zu deutendes aber irgendwie gequält klingendes Stöhnen von sich, als er den Kopf in den Nacken legte. „Du weißt das ich das nie vorhatte? Sie zu- du weißt schon?“ Sie schnaubte. „Ich weiß nur noch, dass das irgendeine Scheiße von wegen Test und sonstiger Müll war. Und ich will wissen warum. Warum tust du jemandem so etwas an?! Schon alleine das Androhen einer solchen Gewalttat! Weißt du überhaupt, was es damit auf sich hat?! Wie sehr Leute darunter leiden?!? Ist dir das egal?!?“ Anne kochte vor Wut. Und dass Jack auf ihre Fragen nicht antwortete versetzte sie umso mehr in Rage. Wie konnte dieses verfluchte Arschloch da einfach sitzen und auf die Decke starren?! „Du verdammter-“ Zerknirscht ging sie zu dem Bett rüber und packte ihn am Kragen des Krankenhausoberteils. „Du verfluchter Wichser, hast du überhaupt eine Ahnung davon, was eine Vergewaltigung ist?!?“, schrie sie. Erst jetzt, wo sie Jack überhaupt eine reelle Möglichkeit zum Antworten gab merkte sie, dass er sich bisher gar nicht gegen sie gewehrt hatte. Er erwiderte noch nicht einmal ihren Blick. Stattdessen schaute er zur Seite, das Gesicht angespannt, und Anne meinte aus der Nähe sehen zu können, wie sich eine wässrige Schicht an den Augenrändern bildete. Was zum- „Lass mich los.“, meinte Jack nur, gezwungen ruhig. „Was?“ Anne spürte ein schwaches Erdbeben, welches das kleine Fläschchen auf dem Nachttisch zum Wackeln brachte. Jack biss die Zähne zusammen, als kostete es ihn viel Kraft, nicht die Beherrschung zu verlieren. „Lass. Mich. Los.“ Anne war diese seltsame Situation alles andere als geheuer, daher ließ sie von seinem Oberteil ab und wich vorsichtig einen Schritt zurück. Kurz darauf ließ das schwache Beben wieder nach und das Fläschchen stand still auf seinem Platz. Mit einem Durchatmen, als müsse er sich beruhigen, erwiderte er schließlich Annes Blick. „Ehrlich gesagt… Ich selbst wusste bis vor wenigen Wochen noch nicht einmal, warum ich das gemacht habe.“ Anne schnaubte. „Das macht es nicht gerade besser.“ Plötzlich ging die Tür auf und Carsten betrat hektisch den Raum. „Ist alles in Ordnung?“ Er schien etwas verwirrt Anne bei Jack zu sehen, welcher sich wiederum weiterhin an Anne wandte. „Um zumindest eine deiner Fragen zu beantworten: Wisst ihr eigentlich, wie häufig ihr euch schon fast verraten hättet? Seid ihr wirklich so gutgläubig oder wisst ihr es nur nicht besser?“ „Wie meinst du das?“ „Ich geh darauf jetzt lieber nicht ausführlicher ein.“, meinte Jack nur, immer noch gezwungen ruhig. „Was Janine betrifft: Gerade bei ihr wart ihr doch die ganze Abendgesellschaft am Zittern, ob sie sich durch irgendeinen dummen Zufall verraten könnte, nicht wahr? Warum habt ihr sie überhaupt mitgenommen?“ „Weil sie nicht außenvor gelassen werden wollte.“, antwortete dieses Mal Carsten. „Und du hattest sie doch sowieso erst im Nachhinein als Dämonenbesitzerin erkannt.“, ergänzte Anne, immer noch leicht gereizt. Jack lachte auf. „Schon vergessen, dass wir uns damals bereits in Spirit getroffen hatten? Bei dem Angriff der Unterweltler? Ich wusste schon längst wer die Besitzerin der Gelben Tarantel ist.“ „Stimmt, du und… Max, ihr hattet Lukas geholt.“, erinnerte sich Carsten. „Aber du hattest Janine damals überhaupt nicht aufgelistet, als du die Dämonenbesitzer durchgegangen bist.“ „Natürlich nicht! Wer weiß, wer hätte mithören können!“, rief Jack und verlor auf einmal seine ruhige Fassade. „Und obwohl ihr alle geglaubt habt ich weiß von nichts, kommt sie danach gänzlich unverkleidet zu mir nach draußen vors Krankenhaus, als wäre nichts gewesen?!“ „Du hast sie doch rausbeordert!“, erwiderte Anne verärgert. „Klar, weil ich sie warnen wollte!“ „Wovor denn?“, fragte Carsten, die einzige ruhige Person in diesem Raum. „Vor ihrer eigenen verfluchten Gutgläubigkeit!“ Er atmete geräuschvoll tief durch und fuhr ein bisschen ruhiger fort: „Sie kommt raus, setzt sich neben mich und redet, als wäre nichts gewesen. Sie hat sich vermutlich noch nicht einmal Gedanken darüber gemacht, dass sie sich spätestens in dem Moment eigentlich verraten hatte, wenn ich es nicht angesprochen hätte.“ Anne hatte sich immer noch nicht beruhigt, nicht im Geringsten. „Und deshalb wolltest du sie testen? Oder wolltest du ihr eine Lektion erteilen?! Indem du ihr gedroht hast sie zu vergewaltigen?!“ Jack senkte den Blick. Es dauerte eine Weile, und Anne wurde schon ungeduldig, bis er endlich antwortete: „… Ich wollte ihr Angst machen.“ „Was?“ Ungläubig starrte Carsten ihn an. Er lehnte sich seufzend zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Nun schien die Wut gänzlich wie weggeblasen, stattdessen wurde sein Ausdruck immer bedrückter, je ausführlicher die Erklärung wurde. „Dass… sie so gutgläubig war und irgendwie versucht hat das Gute in mir zu sehen… Das hat mir Angst gemacht. Ich wollte nicht, dass sie mir zu nahe kommt und deshalb… Deshalb habe ich einen Weg gesucht, sie von mir fern zu halten. Und da habe ich das erst-schlimmste genommen, was mir eingefallen ist.“ Anne verstand zwar die Worte, aber den Inhalt konnte sie überhaupt nicht nachvollziehen. Bitte was redete der Vollidiot da? „Du hast ihr mit einer Vergewaltigung gedroht, da du nicht wolltest, dass sie dir zu nahe kommt? Was für eine beschissene Entschuldigung soll das denn sein?!“ „Keine Entschuldigung. Der Grund.“, korrigierte Jack sie, den Blick immer noch gesenkt, mit den Gedanken in der Vergangenheit. „Ihr kennt meine Geschichte. Was meiner Familie, also meiner Mutter, widerfahren ist. Irgendwie… Mein Leben ist ein einziger Scherbenhaufen. Und ich hatte Angst, wenn Janine dem zu nahe kommt, dann…“ Carsten verstand ihn. „… Dann passiert auch ihr irgendetwas Schlimmes.“ Jack nickte betrübt. „Hat sich im Endeffekt ja auch bewahrheitet.“ Schweigen breitete sich aus, während jeder versuchte auf seine Weise zu verarbeiten, was Jack da gesagt hatte. Sogar die betroffene Person selbst. Und Anne fiel es schwer, sich daraus einen Sinn zusammenzubasteln. Der Kerl hatte ihr also mit dem erst-schlimmsten was ihm einfiel gedroht, um sie aus seinem Leben fern zu halten, weil er Angst hatte, dass ihr sonst etwas Schlimmes passieren würde? Hä?! Bevor sie ihm jedoch an den Kopf werfen konnte, was für eine absolut bescheuerte Scheiße er da von sich gab, setzte sich Carsten an den Bettrand und lächelte Jack mitfühlend an. „Du magst sie, oder?“ Jack lächelte traurig, seine einzige Antwort darauf. Moment, mögen im Sinne von… Anne platzte der Kragen. „Du hast ihr mit ner Vergewaltigung gedroht, weil du dich in sie verknallt hast?! Hast du sie noch alle?!?“ Sie wollte wieder auf Jack losgehen, doch Carsten stand auf und packte sie an den Schultern. „Anne, er hat ihr damit gedroht, um zu verhindern, dass irgendetwas derartig Schlimmes tatsächlich geschieht!“ „Was ist das für ne bescheuerte Erklärung?!“ „Sieh dich doch um.“, meinte Jack ruhig und zeigte das Smartphone-Display, auf das er geschaut hatte, bevor Anne das Zimmer betreten hatte. Es war ein aktueller Nachrichtenartikel aus dem Internet.   ‚Erdrutsch in Monde – Ist der Orangene Skorpion zurück?‘   Jack legte das Handy wieder zur Seite. „Sogar, wenn ich damit überhaupt nichts zu tun habe. Muss ich dich schon wieder an das Schicksal meiner Mutter erinnern? Sie ist gestorben, weil sie mir geholfen hatte. Weil sie mich beschützt hatte. Genauso wie Max neulich. Carsten wollte mir damals helfen und trotzdem habe ich mich nicht zusammenreißen können und ihn angegriffen. Und jetzt sag mir: Wenn du genau weißt was für kranke Leute sich in deinem Umfeld befinden, denen Janine mit etwas Nachlässigkeit und Pech in die Hände fallen könnte. Und wenn du ganz genau weißt, was für ein Unglück den Leuten widerfährt, die dir viel bedeuten und die sich für dich einsetzen… Würdest du da nicht irgendwann versuchen, sie mit aller Kraft auf Abstand zu halten?“ Anne holte Luft um irgendetwas zu erwidern, doch als sie zum Sprechen ansetzen wollte wusste sie nicht, was sie sagen sollte. So bescheuert seine Aktion auch war… Irgendwie konnte Anne sie nachvollziehen. Ohne es zu wollen erinnerte sie sich an den Abend, als die Coeur-Academy angegriffen wurde. Hatte das grauenerregende Bild vor Augen, als der Werwolf seine Zähne tief in Susannes Hals gebohrt hatte. Hörte ihren erstickten Schmerzensschrei. Das Gefühl wie sich ihr Herz zusammenzog kehrte zurück, wie ein unsichtbares Seil ihre Kehle abschnürte. Diese erdrückende Angst, dass Susanne jenen Abend nicht mehr überleben würde. Ihr Blick fiel auf Jack. Wenn jemand im Prinzip so aufgewachsen war, mit der ganzen Gewalt und dem Leid, welches Personen die einem wichtig waren ertragen mussten… War es nicht klar, dass man irgendwann sich selbst die Schuld dafür gab? Zerknirscht biss Anne die Zähne zusammen. Sie wollte diese scheiß Aktion von ihm nicht nachvollziehen können. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass diese Angst gerechtfertigt war. Das Bedürfnis alle erdenklichen Register zu ziehen, nur, damit sich die Geschichte nicht schon wieder wiederholte. Jack seufzte. „Vielleicht hätte es ja wirklich was gebracht, wenn ich’s durchgezogen hätte. Aber… Na ja, so ganz konnte ich wohl doch nicht in meiner Rolle als Bösewicht aufblühen.“ Direkt schüttelte Carsten den Kopf. „Du kannst nichts dafür, was passiert ist.“ „Lass gut sein.“ Jack wandte sich an Anne. „Beantwortet das deine Frage von vorhin?“ Sie wurde stärker aus ihren Gedanken herausgerissen als erwartet. „Was? Ähm… Ja…Tut es.“ Und doch wusste sie immer noch nicht, was sie von ihm halten sollte. Nein, sie musste sich berichtigen. Davor wusste sie, was sie von ihm halten sollte. Ein perverser Drecksack, der jeden ermordete, der sich ihm in den Weg stellte. Dem man nicht trauen konnte. Aber jetzt? Irgendetwas in Anne versuchte sich immer noch an dieser Vorstellung von Jack festzuhalten. Aber irgendeine andere Seite von ihr geriet ins Wanken. Viel mehr noch. Sie widersprach dem Bild, was sie sich bereits von Jack gemacht hatte. Versuchte es irgendwie zu übermalen. War er wirklich so ein rücksichtsloses Arschloch? Oder nicht doch ein im Herzen guter Mensch, dem viel zu viel Schlechtes passiert ist? Anne wusste es nicht. Carsten schaute auf die Uhr und seufzte bedrückt. „Wir sollten uns so langsam fertig machen, die Sitzung beginnt bald.“ Jack nahm wieder sein Smartphone in die Hand. „Dann viel Spaß euch.“ „… Du weißt schon, dass du mitkommen musst?“ Alles andere als begeistert blickte er auf. „Wieso denn das?“ Anne zuckte mit den Schultern „Im Prinzip findet heute das Kollektiv-Outing der Dämonenverbundenen statt, um die Regions-Vertreter zu überzeugen, dass wir keine so bösen Wesen sind wie sie denken.“ Jack schien leicht belustigt. „Sollte ich da wirklich mitkommen?“ „Gerade du.“, meinte Carsten. „Herr Bôss hat vor aller Augen für dich gebürgt, da wollen die natürlich erst recht wissen, wer das ist.“ Irritiert legte Jack die Stirn in Falten. „Er hat was?“ „Für dich gebürgt. Bür-gen! Weißt du was das ist?“, fragte Anne gereizt. Jack verdrehte daraufhin lediglich die Augen, während sie ergänzte: „Er wird den Vertrag heute sogar mit unterzeichnen, um für dich den Kopf hinzuhalten, falls du mal wieder Scheiße baust.“ „Es kann auch nur er auf so eine hirnrissige Idee kommen…“ Jack seufzte und legte das Smartphone beiseite. „Von mir aus, ich komme mit. Kann aber nicht versprechen lieb und nett mit Heiligenschein und Engelsflügeln in der Ecke zu sitzen und Harfe zu spielen.“ Carsten lachte auf. „Einmal freundlich grüßen reicht schon.“ Jack hob eine Augenbraue. „Okay, wo bekomme ich eine Harfe her?“ Das Bild in Annes Kopf war so bescheuert, dass sie es nicht schaffte ihr Lachen zu unterdrücken. Belustigt schüttelte Carsten den Kopf und kramte Kleidung aus einem Rucksack. „Hier, das haben wir dir vorhin noch geholt. Müsste passen.“ Jack betrachtete ihn kritisch. „Hast du mich im Schlaf ausgemessen?“ „Nein, ich habe bei deiner zerfetzen blutigen Kleidung geschaut was für eine Größe du normalerweise trägst.“, antwortete Carsten mit sarkastischem Tonfall und wandte sich zum Gehen. „Wir warten im Café, bis du fertig bist. Und rasiere dich endlich mal wieder.“ „Jaaaaa, Mami.“ Seufzend richtete sich Jack auf und begann die Schnur seines Oberteils zu öffnen. Noch während sie das Zimmer verließen erhaschte Anne ungewollt einen flüchtigen Blick auf seinen freien Rücken. Es war ein kurzer Schreck, fast so wie ein plötzlicher Herzstillstand. Unzählige helle Striemen zogen sich über den gesamten Rückenbereich, kreuz und quer, manche breiter und länger, manche schmaler und kürzer. Anne kannte so Wunden bisher nur aus blutigen Filmen oder irgendwelchen geschichtlichen Dokumentationen, die etwas zu viel Liebe fürs Detail hatten. Da wurde die Person immer an irgendetwas festgebunden und dann kam jemand mit einer Peitsche oder Geißel und… schlug zu. Mehrmals. Das Schaudern hielt auch auf dem Weg zum Café noch an. Als sie den Saal mit der hellen Holzeinrichtung betraten, hielt Anne es nicht länger aus. „Sag mal… Ist es für einen Dämonenbesitzer möglich Narben zu bekommen?“ Verwirrt schaute Carsten auf, während er einen Knopf der Kaffeemaschine betätigte. „Wieso?“ „Hast du… das bei Jack nicht gesehen? Auf seinem Rücken?“ „…Ach so.“ Sie konnte seinen Blick nicht wirklich deuten, während Carsten beobachtete, wie der schwarze Kaffee in die Tasse lief. Anne verschränkte die Arme und spürte die Gänsehaut an ihr hochkriechen. „Ich dachte, es sei unmöglich für Dämonenverbundene Narben zu bekommen, da wir so gute Regenerationsfähigkeiten haben.“ Carsten seufzte. „Es ist nicht unmöglich, nur… extrem unwahrscheinlich.“ „Wie meinst du das?“, fragte sie ihn irritiert, während sie sich Carsten gegenüber auf einen der weiß-gepolsterten Holzstühle setzte. „Na ja, für gewöhnlich werden die Verletzungen direkt versorgt und es stimmt schon, bei der Regenerationsfähigkeit eines Dämonenverbundenen dürfte danach alles wieder in Ordnung sein. So… wie bei Bennis Verbrennungen damals.“ Betrübt senkte Carsten den Blick. Ob wegen Jack oder Benni wusste Anne nicht. „Aber… stell dir mal eine Situation vor, in der die medizinische Versorgung nicht gegeben ist. Unter widrigen Bedingungen könnten die Wunden immer neu aufgehen, sie können sich entzünden, … Und selbst die Regenerationsfähigkeiten eines Dämonenbesitzers würden da nicht ausreichen.“ Anne hob eine Augenbraue. „Widrige Bedingungen? Aber Mars konnte er doch am Ende ziemlich schnell entkommen. Oder denkst du, in Wahrheit wurde Jack dort ständig gefoltert?“ Gedankenverloren betrachtete Carsten das Schwarz seines Kaffees und ließ mit seiner Magie einen kleinen Strudel entstehen. „Ich denke… Manchmal denke ich, dass die Menschheit bei weitem grausamer ist als Mars.“ Kapitel 90: Die Dämonenbesitzer ------------------------------- Die Dämonenbesitzer       Nervös spielte Laura mit einer Strähne ihrer langen, honigblonden Haare und versuchte erfolglos zu verbergen, wie aufgeregt sie in Wahrheit war. Nach und nach versammelten sich die Regions-Vertreter in dem Konferenzraum des Regierungsgebäudes in Indigo um den großen oval-förmigen Tisch. Aus ihrer Gruppe war bis auf Eagle noch kein weiterer anwesend, noch nicht einmal Carsten, was die Sache nicht gerade angenehmer gestaltete. „Lange nicht gesehen.“ Laura hatte so auf den indigoblauen Teppich gestiert, dass sie erschrocken zusammenzuckte, als eine männliche Stimme sie begrüßte. Als sie aufschaute und in die nachtschwarzen Augen von Jacob Yoru blickte, hatte sie wohl so einen dämlichen Ausdruck, dass dieser lachen musste. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Obwohl Laura vor Scham im Boden versinken wollte, war die Freude groß als sie erkannte, dass sich Jacob und Samira neben sie setzten. „Lange nicht gesehen!“, grüßte sie begeistert zurück, was das Ehepaar zum Grinsen brachte. Dennoch breitete sich auch Sorge in ihr aus. Das inzwischen allgegenwärtige beklemmende Gefühl, wenn sie mit den Gedanken irgendwie bei Benni war… „Wie… wie geht es euch?“, fragte sie zögernd. Jacob seufzte und richtete den Zopf, der seine weinroten Haare zurückhielt. „Den Umständen entsprechend würde ich sagen.“ Bennis Mutter antwortete gar nicht, doch Laura erhaschte einen kurzen Blick auf ihren Bauch, der inzwischen schon eine kleine Wölbung hatte. „Und… ähm… dem Baby?“, ergänzte sie deshalb. Samira lächelte. „Dem geht es gut.“ „Wisst ihr denn schon, was es wird?“, löcherte Laura weiter, sich an dem einzigen schönen Thema festklammernd, was diese Zeit zu bieten hatte. „Der Arzt scheint sich noch nicht ganz sicher zu sein. Was würdest du dir denn wünschen?“, fragte Samira amüsiert. „Hmmm…“ Laura überlegte. Eigentlich fände sie beides niedlich, sowohl einen kleinen Jungen, vielleicht sogar eine kleine Version von Benni, als auch ein Mädchen. Was sich Benni wohl wünschen würde? Bruder oder Schwester? Doch leider konnte das Gespräch nicht weiter fortgesetzt werden, da O-Too-Sama den Raum betrat, zu ihnen rüber kam und Bennis Eltern höflich begrüßte, um einen Smalltalk mit ihnen zu starten. Empört verschränkte Laura die Arme vor der Brust, schon wieder ganz auf sich allein gestellt. Und ihr erzählte O-Too-Sama immer so Kram von wegen höflich sein und nicht in Gespräche anderer reinplatzen. Pah. Kurz darauf kam Herr Bôss an ihrem Sitzplatz vorbei und klopfte ihr belustigt auf die Schulter. „Wo ist der Rest?“ „In alle Winde verstreut.“, antwortete sie. „Kommen aber noch.“ „… Valentin auch?“ „Carsten wollte ihn abholen.“ Laura fand es komisch, dass Herr Bôss Jack immer noch bei dessen früherem oder anderem Namen nannte, oder warum auch immer Jack sowohl Jack als auch Valentin hieß. Aber nach dem, was Laura inzwischen so über ihn erfahren hatte… Da passte es schon, dass er seinen Namen geändert haben könnte. Vielleicht war das ja sowas wie ein Weg für ihn gewesen, mit der Vergangenheit abzuschließen? Ihr und Herr Bôss‘ Blick fiel auf den Vertreter von Eau, als dieser meinte: „Die Dämonenbesitzer sind aber nicht gerade pünktlich.“ Die Vertreterin von Lumière schnaubte verächtlich. „Vielleicht müssen sie ja erst einmal wieder den Orangenen Skorpion einfangen.“ „Valentin hat mit dem gestrigen Vorfall nichts zu tun.“, nahm Herr Bôss ihn direkt und auch leicht verärgert in Schutz. „Und woher wollen Sie das wissen?“ „Weil ich ihn zu genau dem Zeitpunkt im Krankenhaus besucht hatte.“, antwortete er schulterzuckend. Kopfschüttelnd setzte er sich hin, sodass zwei Plätze zwischen ihm und Laura frei blieben. Vermutlich für Carsten und Jack. Kurz darauf ebbten alle Gespräche ab, als die Tür erneut aufging und nach und nach der Großteil ihrer Gruppe eintrat. Lissis überschwängliches „Hallo zusammen!“ ließ die Blicke umso kritischer werden und obwohl keiner davon auf Laura gerichtet war, wollte sie gerade am liebsten unter dem Tisch verschwinden. Janine war hinter Lissi und betrachtete die Menge nur kurz, während sie fast schon schützend die Hand über Kito legte. Wobei das Dryadenmädchen gar nicht mehr die oliv-grüne Hautfarbe hatte, wie Laura überrascht feststellte. Durch Magie oder Farbe hatte man ihr den typischen dunklen Ton der Indigoner verpasst. Vermutlich um zu vermeiden, dass sie alleine mit ihrem Aussehen verriet, dass die Dryaden doch nicht durch den magischen Krieg ausgerottet worden sind. Danach kam Susanne, die einen Arm um Öznur gelegt hatte, welche alles andere als ausgeschlafen und ruhig wirkte. Was nicht verwunderlich war, wenn man an das dachte, was gestern passiert war… Ariane, Jannik und Johannes bildeten das Schlusslicht, wobei Johannes genauso sorglos wie Lissi die Runde begrüßte. Die erste die etwas sagte war die Vertreterin von Monde. „… Kinder?“ Konrad lachte auf. „So überraschend?“ Er und Florian beobachteten belustigt, wie die unwissenden Regions-Vertreter vollkommen von der Rolle zuschauten, wie sich diese Kinder nach und nach auf die andere Seite von Herr Bôss an den Tisch setzten. Nur Öznur ging als erstes zu Eagle, welcher wohl beschlossen hatte die Adels-Etikette ganz in den Wind zu schießen, als er sie auf seinen Schoß zog und ihr vor aller Augen einen sanften Kuss auf die Lippen gab. O-Too-Sama gab einen seiner typischen Kommentare auf Japanisch von sich und nahm selbst endlich platz. Weitere zehn Minuten verstrichen, in welcher absolutes Schweigen herrschte und man die Ungeduld vieler Regions-Vertreter deutlich spüren konnte. Schließlich öffnete sich die Tür erneut. „Zocker-Onkel!!!“, rief Johannes erfreut und winkte, als er sah wie Jack den Raum betrat. Und dadurch wieder für absolute Verwirrung sorgte. Belustigt winkte Jack zurück und hielt die Tür offen, damit Carsten und Anne Sultana weiterhin stützen konnten und ihr auf den nächstbesten freien Platz halfen. „Entschuldigt…“, setzte Annes Mutter schwer atmend an. „Ich… hatte etwas länger gebraucht…“ Direkt winkte der Vertreter von Cor ab. „Überhaupt kein Problem. Wie geht es Ihnen?“ So wie sie nach Luft rang und noch nicht einmal antworten konnte offensichtlich nicht sonderlich gut, bemerkte Laura betroffen. Das dachte wohl auch Anne. Sie warf einen Blick auf Carsten. „Kannst du ein Auge auf sie werfen?“ Dieser nickte und setzte sich auf den freien Stuhl daneben, sodass es nun Anne und Jack waren, die sich zwischen Laura und Herr Bôss setzten. Überrascht bemerkte Laura, dass Jacks rechter, ursprünglich gebrochener Arm gar nicht mehr geschient war, er aber auch nicht diese Lederschiene mit den Metallklauen trug, die er ansonsten immer anhatte, wenn sie ihn getroffen hatte. Es war irgendwie seltsam, ihn so unbewaffnet zu sehen… Wären die Bandagen an seinem linken Arm sowie die Pflaster für die restlichen Verletzungen nicht, würde er mit der schwarzen Jeans, seinen Biker-Boots und dem schwarz-grau-karierten Flanellhemd fast schon wie ein normaler Teenager aussehen. … Wobei er mit 20 noch nicht einmal mehr ein Teenager war. Nachdem eine Weile immer noch keiner etwas gesagt hatte, räusperte sich der König von Ivory und ergriff das Wort. „Vielen Dank, dass Sie alle heute gekommen sind. Es bedeutet uns sehr viel, dass Sie sich dazu bereit erklärt haben an dem heutigen Treffen teilzunehmen. Dabei gilt mein Dank natürlich insbesondere den jungen Dämonenbesitzerinnen und Dämonenbesitzern. Danke, dass Sie trotz der geläufigen Situation beschlossen haben diesen Schritt auf uns, auf ganz Damon zu zugehen. Seien Sie versichert, dass es sich lohnen wird. Einige von Ihnen kennen mich vermutlich noch nicht: Mein Name ist Alradon, ich bin das, was ihr ‚König‘ von Ivory nennen würdet.“ Er wies auf die junge Elbin neben sich, die mit ihrer hellen Haut und den dunklen gelockten Haaren genauso gut Schneewittchen sein könnte. „Meine Tochter Selen dürften Sie vielleicht bei dem Amtsantritt des Häuptlings zumindest gesehen haben.“ „Es freut mich.“ Mit einem wunderschönen Lächeln, wie es sich für eine Prinzessin gehörte, schaute Selen in die Runde. Der König wies auf die Person links neben sich, ein Vampir mit alterslosem Gesicht, umrandet von langen, weiß-silbernen Haaren. „Dies ist Nicolae, der Senatsvorstand der Vampire aus Spirit.“ „Sehr erfreut.“ Er nickte, wirkte durch sein strenges Gesicht aber eigentlich nicht sonderlich froh. „Ich nehme an, die Besitzer des Türkisen Einhorns und der Petrolen Fledermaus kennen Sie alle bereits.“, fuhr der König fort und verwies auf Konrad und Florian, welche ebenfalls nickten, sonst aber nichts dazu erwiderten. Der König der Elben bedachte die Mädchen mit einem warmen Lächeln. „Ich kann mir vorstellen, dass es einigen von Ihnen schwerfallen wird, sich uns gegenüber vorstellen zu wollen. Doch wäre es möglich, wenn Sie ein bisschen über sich erzählen würden? Das würde es allen hier erleichtern die zukünftigen Retter Damons besser kennenzulernen.“ Bestätigend nickten die Regions-Vertreter, auch wenn einige davon immer noch sehr kritisch dreinblickten. Während Laura bei der Vorstellung sich vor all den Leuten vorstellen zu müssen innerlich bereits starb, war sie froh, dass es auch weniger verschüchterte Leute aus ihrer Gruppe gab. So ergriff fast schon automatisch Lissi das Wort, die aber gar nicht so wirkte wie… Lissi. „Vielen Dank, Ihre Majestät. Es freut mich sehr, dass Damon endlich beschließt an einem Strang zu ziehen und dadurch den Dämonenverbundenen die Hand entgegenstreckt. Ich denke, ich kann auch im Namen meiner Freunde reden, wenn ich sage, dass wir uns dies schon lange gewünscht haben. Und wenn man bedenkt, dass der Großteil von uns noch nicht einmal in den Zwanzigern ist, können Sie sich vorstellen, dass ‚lange‘ für uns eigentlich ‚unser Leben lang‘ bedeutet. Wenn Sie gestatten, würde ich ganz gerne den Anfang machen und mich vorstellen: Mein Name ist Larissa, ich komme aus der Region von Eau und bin die Besitzerin des Blauen Wolfes, dem Herrscher über das Wasser. Sie können mich aber gerne Lissi nennen.“ Laura klappte die Kinnlade herunter. Wo konnte sie Lissi als zukünftige Leiterin des Siebenerrats in Yami eintragen lassen? Sie wäre dafür tausendmal besser geeignet als Laura! Auch O-Too-Samas Blick nach zu urteilen schien er zu überlegen, ob er Lissi würde adoptieren können. Ebenso wirkte die Vertreterin von Monde beeindruckt. „Hatten Sie nicht bei dem Amtsantritt des Häuptlings eine Kür in rhythmischer Sportgymnastik vorgetragen?“ Lissi nickte. „Die war wirklich wunderschön gewesen. Sehr beeindruckend wie talentiert Sie bereits in Ihren jungen Jahren sind.“, warf der Vertreter von Eau ein. Lissi lächelte dem Vorstand ihrer Region zu, wissend, wie sie sich von ihrer attraktivsten Seite zeigen konnte. „Vielen Dank, aber ich habe Ihnen zu verdanken, dass ich überhaupt an diesem Programm teilhaben durfte.“ Der Vertreter von Eau erwiderte das Lächeln. „Sehr gerne. Es wäre eine Verschwendung, wenn ein solches Talent untergehen würde.“ Wow. Laura hatte ja schon häufiger gesehen, dass Lissi gerade was Menschen und ihre Beziehungen zueinander betraf, ein extrem gutes Auge hatte. Aber sie war höchstens eine Viertelstunde in diesem Raum und hatte jetzt schon all die Verbindungen dieser Leute erkannt. Konnte bereits das Geflecht, das Netzt sehen, wie alle miteinander zusammenhingen. Und wusste genau, wo sie bei wem ansetzen musste, um das zu bekommen was sie wollte. Das war der Wahnsinn. Der Vertreter von Eau wandte sich an Susanne. „Ich nehme stark an, Sie sind ihre Zwillingsschwester?“ Diese nickte. „Ich bin Susanne, die Besitzerin des Pinken Bärs, dem Herrscher der Heilung.“ Sie wies auf Janine neben sich, die scheu den Blicken aller auszuweichen versuchte und genauso wie Laura am liebsten gar nichts sagen würde. Den Wunsch erfüllte Susanne ihr. „Das ist Janine, die Besitzerin der Gelben Tarantel.“ Der Vertreter von Cor verstand als erster die Andeutung. „Sie sind aus Mur?“ Janine nickte. „Wie sind die Lebensumstände dort?“, erkundigte sich die Vertreterin von Lumière. „Man hört nicht viel aus dem Inneren dieser Region…“ „Es ist… schwierig.“, war das Einzige, was Janine dazu sagte. Mitleidig nickte die Vertreterin von Monde. „Ich möchte es mir gar nicht erst vorstellen müssen… Es… es ist schön zu sehen, wie Sie es trotzdem geschafft haben die Grenzen passieren zu können. Wie haben Sie das gemacht?“ „Ich… Meine… Mit Hilfe von Bekannten.“ Janine ballte die Hände zu Fäusten und auch den Augenkontakt vermied sie noch immer. Ganz offensichtlich war ihr dieses Gespräch alles andere als angenehm. „Ich bin Ariane.“, stellte sich Nane schnell vor, damit die Regions-Vertreter Janine nicht noch weiter löchern konnten. „Die Besitzerin des Weißen Hais.“ „Aus Lumière, nehme ich an.“, merkte die Vertreterin ebendieser Region kritisch an. Ariane blickte ihr fest in die Augen. „Ganz genau.“ Eine unangenehme Spannung lud sich in den Blicken zwischen den beiden auf. Die Vertreterin von Lumière war Laura noch nie sympathisch gewesen. Aber dass Ariane sie direkt jetzt schon aus dem Fenster katapultieren wollte, kam trotzdem überraschend. „Ich bin Johannes!“, warf Johannes dazwischen, unbeeindruckt von der geladenen Atmosphäre. „Beherrscht vom Eis und besessen von Willi!“ Hä? Hatte er das mit Absicht so gesagt? Zwei Sitze entfernt unterdrückte Jack erfolglos ein Lachen und auch Herr Bôss und einige andere von ihnen mussten schmunzeln. Der Vertreter von Cor nahm dies zum Glück genauso mit Humor. „Willi ist der Lila Killerwal?“ „Ganz genau!“ Johannes hielt den Daumen nach oben. „Er findet es cool, dass wir nun endlich alle Freunde werden können.“ Die Vertreterin von Lumière verdrehte genervt die Augen, während der König von Ivory auflachte. „Ja, das finden wir auch, junger Mann.“ Er wandte sich an Kito. „Und Sie, kleines Fräulein?“ Das indigonisch aussehende Dryadenmädchen hatte sich zu Eagle gesetzt und war direkt aufgesprungen, um sich hinter dessen Stuhl zu verstecken, kaum als man sie angesprochen hatte. Selen lächelte sanft. „Keinen Grund schüchtern zu sein, meine Liebe.“ Laura wusste, dass das keine Schüchternheit war. Den Elben würde sich Kito wahrscheinlich noch anvertrauen können, aber gegenüber Vampiren und Menschen… Da war sie trotzdem vorsichtig. Kito kannte die Geschichten vom magischen Krieg und da war es klar, dass sie große Angst um ihr Dryadenvolk hatte. „Ich… man nennt mich Kito…“, stammelte sie. O-Too-Sama runzelte die Stirn. „Aber die Besitzerin des Grauen Adlers bist du nicht, also was…“ Eagle wuschelte Kito durch die Haare und übernahm für sie die Antwort. „Die des Farblosen Drachen.“ Ein Raunen ging durch den Raum. „Eufelias Nachfolgerin?“, fragte O-Too-Sama erstaunt. Eagle nickte. Er hatte sich wohl mit Ituha und den anderen schon eine glaubwürdige Geschichte ausgedacht, die das Dryadenvolk weiterhin beschützen sollte. Denn er erklärte: „Anscheinend gibt es noch einige Nomadenstämme unseres Volkes, die in Obakemori leben. Kito kam vor kurzem hier her, um uns im Kampf gegen Mars zu unterstützen.“ „Ganz alleine?“, fragte die Vertreterin von Monde erstaunt. Kito nickte. „Das war sehr mutig von dir.“, lobte Selen sie freundlich. „Hattest du denn keine Angst?“ Kito schüttelte den Kopf und traute sich so langsam wieder zurück auf ihren Stuhl. Der Blick der Vertreterin von Monde fiel derweil auf Öznur, die ihren Kopf gegen Eagles Schulter gelehnt hatte und immer noch ziemlich mitgenommen wirkte. „Der Rote Fuchs?“ „Öznur.“, antwortete Eagle, fast schon als wolle er diese Aussage berichtigen. Mitleidig betrachtete die Vertreterin von Öznurs Region sie. „Der gestrige Vorfall…“ Eagle verstärkte seinen Griff um ihre Schulter und Taille. Sein Blick sprach so eine deutliche Warnung aus, dass auch die Regions-Vertreter einsahen, dass dieses Thema lieber nicht angesprochen werden sollte. Schaudernd verschränkte Laura die Arme vor der Brust. Sie wollte es sich gar nicht vorstellen müssen, mit einem Schlag kein Zuhause mehr zu haben. Die ganze Lebensgrundlage verloren zu haben… Und dann waren auch noch die Dorfbewohner so ausgerastet! Wie hatte es nur so weit kommen können? Obwohl Carsten, Ariane und Eagle ihnen doch sogar geholfen hatten… Als nächstes fiel der Blick vom Vertreter von Eau auf Jannik. „Wenn Ihr Vater der vorige Besitzer des Schwarzen Löwen war… Darf ich dann annehmen, dass Sie sein Nachfolger sind?“ Direkt bekam Laura eine Gänsehaut als sie erkannte, wer als nächstes an der Reihe war. Natürlich schüttelte Jannik den Kopf. „Ich wurde nur vom Schwarzen Löwen gezeichnet, genauso wie Carsten… oder eher Crow.“ Die Vertreterin von Lumière runzelte die Stirn. „Wer ist dann…?“ Verschüchtert hob Laura die Hand. „D-das… das bin ich…“ Natürlich fiel den Unwissenden dabei alles aus dem Gesicht. „Prinzessin Lenz?!“ Die Vertreterin von Monde schaute O-Too-Sama erstaunt an. „Wussten Sie das? Dass Ihre Tochter…“ Dieser nickte. Herr Bôss legte die Stirn in Falten. „Warum haben Sie gestern eigentlich nicht genauso wie Sultana der Unterzeichnung des Gesetzes sofort zugestimmt?“ Laura sank etwas weiter in ihren Stuhl hinein, in der Hoffnung verschwinden zu können. Da antwortete O-Too-Sama: „Wäre es nicht verdächtig gewesen, wenn gerade ich sofort dem Gesetz zugestimmt hätte, nachdem der Schwarze Löwe vor zwölf Jahren erst 253 Bürger aus Yami getötet hat?“ … Stimmt, das wäre es. Überrascht blickte Laura auf, in O-Too-Samas blaue Augen. Tatsächlich warf er ihr ein schwaches, dafür aber umso aus der Bahn werfenderes Lächeln zu, als er erklärte: „Hätte ich meiner Tochter damit nicht einer unnötigen Gefahr ausgesetzt, wenn die Unterzeichnung des Gesetzes doch nicht eingeleitet worden wäre?“ Tränen schossen in Lauras Augen. O-Too-Sama hatte sie mit seinem Zögern… beschützen wollen?! Schuldgefühle kamen in ihr hoch. Warum hatte sie das nicht gestern schon vermutet? Warum hatte sie direkt gedacht, dass es ihm wohl egal wäre was mit ihr passierte? Und dabei hatte er doch nur… Schlechten Gewissens senkte Laura den Blick. Der Vertreter von Cor nickte betroffen. „Das ist durchaus nachvollziehbar. Und es macht noch einmal mehr deutlich, wie überflüssig es eigentlich ist, über das Gesetz noch diskutieren zu wollen.“ Konrad lächelte. „Schön, dass Sie inzwischen auch zu dieser Ansicht gekommen sind.“ Die Vertreterin von Monde seufzte. „Damit fehlt nur noch…“ Alle Augen richteten sich auf Jack. Dieser hatte eigentlich seit er sich hingesetzt hatte schon sein Smartphone außen gehabt und schien überhaupt nicht wirklich an den Gesprächen interessiert. Und genau so klang auch seine Vorstellung. „Jack, Orangener Skorpion, Erde.“ Damit erntete er direkt kritische, um nicht zu sagen abfällige Blicke. Laura biss sich auf die Unterlippe und überlegte, wie sich diese angespannte Situation lösen ließe. Jannik kam da wohl eine Idee. „Wie kommt es eigentlich, dass du Jack heißt und Herr Bôss dich immer Valentin nennt?“, fragte er, vermutlich in der Hoffnung, Jack damit etwas aus der Reserve zu locken. „Weil ich früher Valentin hieß und jetzt Jack.“ Wow, er zeigte sich wirklich überhaupt nicht kooperativ. Etwas verwirrt war Laura schon, wie er jetzt auf einmal gar keinen mehr an sich ranließ. Immerhin hatte er auch in ihren Reihen noch genug Leute, die gegen ihn waren. Und trotzdem hatte er ihnen von sich erzählt. Von seinem Leben und wie schwer er es seit seiner frühen Kindheit bereits hatte… „Der gestrige Vorfall…“, setzte die Vertreterin von Monde an. „War ich nicht.“, erwiderte Jack, ohne vom Smartphone aufzublicken. Laura verrenkte den Hals, nur um zu erkennen, dass es Tetris war, was er da spielte. Herr Bôss seufzte. „Valentin, bitte.“ Er klang wie ein genervter Vater, der seinen pubertierenden Sohn an dessen Manieren erinnern musste. Jack biss die Zähne zusammen und legte widerwillig das Handy zur Seite, als er zum ersten Mal wirklich in die Runde blickte. „Noch mehr Anschuldigungen?“ O-Too-Sama betrachtete ihn mindestens genauso kritisch wie der Rest. „Anschuldigungen keine, aber Fragen. Viele Fragen.“ „Gibt’s zumindest was zu gewinnen?“ „Akzeptanz und Freiheit vielleicht.“, schlug der Vertreter von Eau zerknirscht vor, woraufhin Jack auflachte. Ganz eindeutig glaubte er ihm kein Wort. O-Too-Sama seufzte. „Denk dran, Junge. Trotz all dem bist du immer noch ein Verbrecher.“ Laura entging es nicht, wie die Regions-Vertreter direkt alle Formen der Höflichkeit bei Jack fallen ließen. Doch er selbst machte sich auch nicht gerade die Mühe, den gesellschaftlichen Normen Folge zu leisten. „Soll das hier ne Gerichtsverhandlung werden?“, fragte er stumpf. Die Regions-Vertreter tauschten einen Blick aus, bis die Vertreterin von Lumière schließlich sagte: „Eigentlich wäre es genau das, was du verdient hättest.“ Genervt stöhnte Jack auf. „Wie auch immer. Können wir das abkürzen? Schickt mir doch einfach ne Liste mit allen Anschuldigungen und ich hake ab, was ich gemacht hab. Was davon von Mars beauftragt war wird euch vermutlich gar nicht erst interessieren.“ „Was war denn von Mars beauftragt?“, fragte der Senatsvorstand der Vampire geduldig. „Diese Liste ist zu lang.“, antwortete Jack mit einem schiefen Lächeln. Der König von Ivory nickte. „Gut, dann fragen wir, welche nicht von Mars beauftragt wurden. Welche Morde haben Sie von sich aus begangen, ohne den Auftrag eines Drahtziehers im Hintergrund?“ Tatsächlich fiel diese Antwort überraschend kurz aus. „Mein Vater und der ehemalige Häuptling.“ „Der Mord an Chief war kein Auftrag des Purpurnen Phönix?“, fragte O-Too-Sama ungläubig. „Nope, der geht auf meine Kappe.“ Eagle biss die Zähne zusammen. „Sag mal… bist du noch ganz dicht im Kopf?“ „Natürlich nicht. Dachte, das weißt du schon.“ Jacks Ruhe schien Eagle nur noch mehr zu provozieren. Er schob Öznur von sich runter, fast schon so, als würde er jeden Moment auf ihn losgehen wollen. Eagle richtete sich auf und wiederholte noch einmal, umso langsamer, als könnte er seine eigenen Worte nicht verstehen: „Du hast meinen Vater umgebracht. Und jetzt sitzt du hier und redest darüber als sei das keine große Sache?!“ „Das jetzt auch nun wieder nicht.“, erwiderte er, immer noch sehr gelassen. Innerhalb eines Wimpernschlags hatte Eagle den Raum durchquert und packte Jack am Kragen des Karohemdes, um ihn vom Stuhl zu heben und gegen die Wand zu stoßen. In seiner Stimme hallte das Echo des Grauen Adlers, als er schrie: „Du bringst meinen Vater um, sagst, dass das von dir selbst ausging und-“ „Eagle, lass ihn los!“, rief Carsten aufgebracht. „Sag du mir nicht, was ich zu tun habe!“, brüllte Eagle zurück. Jack war immer noch überraschend gelassen. Er hatte sogar die Arme vor der Brust verschränkt als er fragte: „Ey, willst du wirklich ‘nen Kuss oder warum dringst du ständig in meinen persönlichen Freiraum ein?“ Angewidert stieß Eagle ihn noch einmal gegen die Wand, ließ ihn aber schließlich los. „Du bist absolut gestört.“ Jack bewegte probehalber den linken Arm und verzog leicht das Gesicht. Eagle hatte wohl die immer noch nicht verheilte Wunde an seiner Schulter erwischt. Laura atmete auf und legte die Hand auf ihr rasendes Herz. Dieser plötzliche Angriff hatte sie wohl mehr erschreckt, als den Angegriffenen selbst. Auf einmal lachte die Vertreterin von Lumière los. Jeder schaute sie verwirrt an, bis sie sich schließlich beruhigt hatte und mit einem abfälligen Blick zu den beiden jungen Männern sagte: „Und dafür sollen wir dieses Gesetz unterzeichnen? Um Damons Schicksal in die Hände von pubertierenden Kindern zu legen, die sich wegen alles und jedem an die Kehle gehen? Wie sollen sie so einen Krieg verhindern?“ „Was-“ Nicht sehr begeistert blickten Eagle und Jack zu der Frau rüber. Das gemeinsame Feindbild schien zumindest vorerst den Streit beigelegt zu haben. Dieses Mal lachte Florian auf. „Tja, wie? Eine gute Frage. Vielleicht beantworten Sie alle hier das? Die erwachsenen Leute, die sich bei jeder Sitzung aufs Neue aufführen wie Kindergartenkinder, die sich um ein Spielzeug streiten.“ Die Vertreterin von Lumière war aufgesprungen. „Wie können Sie es wagen?!“ Auch O-Too-Sama war verärgert. „Das ist unerhört!“ Missbilligend schüttelte der Vertreter von Eau den Kopf. „Eine Frechheit.“ Und direkt wurde Florian das Ziel aller Empörungen. Laura kam diese Situation immer bescheuerter vor und sie hörte, wie sowohl Herr Bôss als auch Bennis Eltern neben ihr erfolglos versuchten ein Kichern zu unterdrücken. Auch das Ziel der Anschuldigungen selbst, also Florian, wirkte sichtlich amüsiert. Jack machte sich gar nicht erst die Mühe das Lachen zu verbergen. „Okay, jetzt versteh ich, warum du ständig so austickst.“ Er klopfte Eagle auf die Schulter. „Ich würde auch die Krise kriegen, wenn ich mir dauernd dieses Geschrei anhören müsste.“ Verärgert schlug Eagle Jacks Arm zur Seite und traf genau die Stelle, wo sich vor wenigen Tagen noch eine tiefe Wunde befunden hatte. Und Jacks Blick nach zu urteilen immer noch befand. Sein Kommentar ließ jedoch ihn wieder zum Magnet aller Blicke werden. Verstimmt schüttelte die Vertreterin von Lumière den Kopf. „Das ist mir zu bunt. Ich gehe. Hier unterzeichne ich gar nichts.“ Der Vertreter von Cor seufzte. „Madame Mam, beruhigen Sie sich. Wir haben doch schon festgestellt, dass uns keine andere Wahl bleibt. Es bleibt uns nichts anderes übrig als diesen jungen Leuten zu vertrauen, dass sie den Herrscher der Zerstörung werden besiegen können.“ „Genau. Und dafür brauchen sie unsere Rückendeckung.“, gab der König von Ivory ihm recht. „Alle haben ihre Streitpunkte, auch wir. Und trotzdem waren wir immer in der Lage zusammenzuarbeiten, wenn es darauf ankommt. Bei den jungen Herrschaften wird das nicht anders sein.“ Die Madame war alles andere als begeistert, dennoch musste sie sich eingestehen, dass der Elbenkönig recht hatte. Und somit setzte sie sich widerwillig zurück auf ihren Platz. Eagle warf noch einen hasserfüllten Blick auf Jack, ließ ihn aber in Ruhe, um selbst zu seinem Platz zurückzukehren und auch Jack setzte sich wieder hin. Bennis Vater schüttelte den Kopf und holte schließlich eine feste, weinrote Mappe hervor. „Hier ist das Gesetz. Wenn Sie es alle unterzeichnen, werden die Dämonenverbundenen ab sofort genauso behandelt wie alle anderen Bewohner Damons.“ Bis auf das Schnauben der Vertreterin von Lumière wurde bestätigend genickt. Nach und nach wurde die Mappe herumgereicht, und jeder der Regions-Vertreter unterschrieb auf dem dicken Papier. Es war ein seltsames Gefühl, während Laura dies beobachtete. Beinahe unwirklich. Brauchten sie ab sofort tatsächlich keine Angst mehr haben, sich zu verraten? Waren sie nun wirklich sicher? So ganz glauben konnte sie das immer noch nicht… Jacob hielt Laura eine weitere Mappe hin, dieses Mal in dunklem blau. „Reiche die bitte an Herr Bôss weiter.“ Mit einem flauen Gefühl im Magen nickte sie. Diese Bürgschaft wurde also wirklich ganz offiziell gemacht. Wollte sie wissen, was genau da drinnen stand? Sie nahm die Mappe und gab sie an Anne, welche sie Jack neben sich reichte. Doch bevor Herr Bôss sie nehmen konnte, zog Jack seine Hand zurück. „Nein.“ Der Direktor seufzte. „Valentin, es ist alles in Ordnung.“ „Ich will wissen, was da drinnen steht.“ „Eine Rückversicherung, nichts weiter.“, antwortete Herr Bôss und öffnete die Hand, um die Mappe anzufordern. Zähneknirschend erwiderte Jack seinen Blick… und öffnete sie schließlich selbst. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, als er den Inhalt dessen durchlas. Herr Bôss kniff die Augen zusammen und rieb sich den Nasenrücken. „Valentin… Gib mir einfach diesen Zettel.“ „NEIN!“ Erschrocken zuckte Laura zusammen und beobachtete, wie Jack vom Stuhl aufsprang und zurückwich. „Was soll der Mist?!“, rief er aufgebracht. „Sie wollen meine Todesstrafe übernehmen, sollte ich ab sofort irgendeine Scheiße bauen?!?“ Lauras Herz setzte aus. Er würde… was? „Etwas, was du ohnehin nicht tun wirst. Also gib mir den Zettel.“ Erneut streckte Herr Bôss die Hand danach aus, doch Jack blieb stur. „Einen Scheiß werd‘ ich!“ „Valentin!“, donnerte Herr Bôss und mit Laura zuckte auch Jack selbst zusammen. Geräuschvoll atmete der Direktor aus. „Du wirst keine Scheiße bauen. Und deshalb kann ich das auch ohne etwas zu befürchten unterzeichnen.“ Jacks Hand um die Mappe verkrampfte sich und Laura merkte wie er zitterte, als er noch einen Schritt zurückwich. „Ich will das nicht… Ich will nicht, dass schon wieder jemand sein Leben für mich aufs Spiel setzt…“ So sehr wie seine Stimme bebte bekam sie automatisch Mitleid mit ihm. Bei seinem gebrochenen Ton brach auch ihr das Herz. Jack hatte einfach nur Angst um ihn… Er hatte Angst, durch Pech schon wieder jemanden zu verlieren… Seufzend richtete sich Herr Bôss auf und legte eine Hand auf seine Schulter. „Ich setze mein Leben nicht für dich aufs Spiel.“ „Und was ist das dann?“ Jack hielt die Mappe hoch, zog sie aber fast schon nebensächlich aus Herr Bôss‘ Reichweite, als dieser danach greifen wollte. Der Direktor lächelte. „Ein nerviges Formular was unterzeichnet werden muss, wie viele andere Zettel auch.“ Jack lachte schwach auf und schüttelte den Kopf. „Nix da, ich bin raus.“ Anne stöhnte auf. „Jack, du kannst nicht einfach so ‚raus sein‘. Wir müssen uns alle mit dieser Situation abfinden, ob wir wollen oder nicht.“ „Nein, ich hab die Schnauze voll. So knapp die Zeit für euch auch ist, der Orangene Skorpion findet garantiert jemanden, der besser dazu geeignet ist gegen Mars zu kämpfen. Jemanden, der nicht jeden um sich herum in den Untergang reißt.“ Auch Carsten war von seinem Stuhl aufgesprungen. „Jack, lass den Mist! Du reißt nicht jeden um dich herum in den Untergang!“ Jack lachte, fast schon hysterisch. „Nicht?“ Dennoch war der Blick den er Carsten zuwarf traurig. „Es gibt zwei Wege, nicht wahr? Den einen hab ich ausprobiert, der ist nichts für mich.“ Verwirrt beobachtete Laura, wie Carsten zitternd die Hand zur Faust ballte. „Es gibt auch einen dritten Weg!“, warf Ariane ein, was Lauras Verwirrung nicht minderte. Betrübt lächelte Jack. „Für Carsten vielleicht.“ „Nein, für jeden!“, widersprach Ariane ihm bestimmt. „Es… es ist nur der schwerste von allen.“ „Genau!“, gab Carsten ihr direkt recht. „Außerdem… Jeder hat eine zweite Chance verdient!“ Er wandte sich an Eagle. „Nicht wahr?“ Dieser schien ziemlich irritiert, plötzlich in der Diskussion mit drinnen zu stecken, erwiderte aber Jacks Blick. Ein Blick verzerrt von Verzweiflung und gleichzeitig wirkte er trotzdem so, als habe er sich mit seinem Schicksal schon längst abgefunden. Schließlich verschränkte Eagle seufzend die Arme vor der Brust. „Stimmt.“ … Das hätte Laura nun wirklich nicht erwartet. Dass sich Eagle im Prinzip für Jack aussprechen würde… Jack selbst hatte damit wohl am aller wenigsten gerechnet. Und dennoch… Die Vergangenheit schien zu stark. Langsam schüttelte er den Kopf. „Ich hatte meine zweite Chance. Hab sie schon längst verspielt.“ „…Sicher, dass das nicht eigentlich erst deine erste war?“, fragte Carsten vorsichtig. Laura merkte, wie das Zittern von Jacks Händen plötzlich aufhörte. Gleichzeitig biss er die Zähne zusammen. Ein unheimlicher, leerer Blick lag in diesen grasgrünen Augen, als er mit viel zu ruhiger Stimme antwortete: „Sicher.“ Sie schauderte bei dem Ton, der ohne Klang war. Diese Kälte, diese Leere… In Herr Bôss giftgrünen Augen blitzte Zorn auf. „Verdammt noch mal Valentin, noch ein Wort und du fängst dir eine.“ Einen Moment lang hielt Jack dem Blick des Direktors stand. Doch dann lachte er schwach auf. „Versuchen Sie erst gar nicht in die Rolle meines Vaters zu schlüpfen. Wird Ihnen nicht gelingen.“ Innerlich hatte sich Laura bereits für einen Schlag gewappnet, doch irritiert stellte sie fest, dass dieser ausblieb. Stattdessen wandte sich Jack ab und reichte Jacob beim Vorbeigehen die Mappe. „Entsorge den Scheiß, ihr werdet ihn nicht brauchen.“ Niemand wagte es, etwas zu sagen. Es traute sich ja noch nicht einmal jemand zu atmen. War es das? War das Jacks Antwort auf die ganze Sache? Das Ende? Aber irgendwie… Erfolglos schluckte Laura die Tränen herunter. Nein, das wollte sie nicht! Nicht dieses Ende! Als er an Carstens Platz vorbei kam dachte Laura für einen Moment, zumindest er würde versuchen Jack aufzuhalten. Sie hoffte es. Jedoch… So wie er die Hände auf dem Tisch abgestützt hatte, zu Fäusten geballt und zitternd, selbst den Tränen nahe, schien er nicht dazu in der Lage. Dachte Laura zumindest, bis sich Carsten plötzlich umdrehte und Jack am Arm packte. „Lass das… Bitte…“ Seine gebrochene Stimme sorgte für ein trauriges Lächeln, als Jack meinte: „Keine Sorge, mein Nachfolger wird euch garantiert nicht so viel Drama machen.“ Carsten fletschte die Zähne und bei seinem zornigen Ton bekam es Laura mit der Angst zu tun, als er schrie: „Ernsthaft Jack, noch ein Wort und ich hau dir eine rein!“ Dieser lachte auf. „Bist du zumindest konsequenter als Herr Bôss?“ Und wieder… Es geschah nichts. Was nicht nur Jack deutlich verwirrte. Bedrückt lächelte Carsten, als er meinte: „Zweite Chance vertan. Dabei will ich dir doch eigentlich keine reinhauen…“ So langsam realisierte Jack, was für ein Spiel die beiden mit ihm gespielt hatten und auch in Lauras Kopf begannen sich die Rädchen zu drehen. Diese ausbleibenden Reaktionen von Herr Bôss und Carsten schienen symbolisch für die Chancen zu stehen, die sie ihm ermöglichen wollten. Der Direktor ging zu den beiden Jungs rüber. „Tja, und jetzt?“ Konrad grinste. „Klingt nach noch einmal versuchen.“ Jack biss die Zähne zusammen, als versuchte er das Zittern seiner ohnehin schon schwachen Stimme zu verbergen. „Ihr verdammten…“ Herr Bôss wuschelte ihm durch die Haare, ein trauriges Lächeln auf den Lippen als er meinte: „Noch ein Wort…“ Doch von Jack kam kein Wort mehr. Nur noch ein Schluchzen. Laura wischte sich die Tränen von der Wange, während sie beobachtete wie Herr Bôss ihn locker aber bestimmt an sich drückte und Jack den Kampf gegen seine Gefühle komplett verlor. Das Gesicht in Herr Bôss‘ Schulter vergraben und doch konnten sie die Tränen sehen und den herzzerreißenden Schmerzensschrei hören. Betreten senkte Laura den Blick, schaute auf den indigoblauen Teppich und fragte sich, wie viel Ungerechtigkeit einer einzigen Person widerfahren konnte. Wo war da das Glück? Der Hoffnungsschimmer? „Er gibt sich wirklich für alles die Schuld…“, hörte sie Anne neben sich murmeln. „Für jeden noch so kleinen Scheiß.“ Traurig nickte sie. Beobachtete, wie sich Jack an das Hemd des Direktors klammerte, Hände und Schultern bebten durch das bittere Schluchzen. Wieder fiel ihr auf, wie seltsam es war ihn unbewaffnet, ohne seine Armschiene zu sehen. Wie verletzlich er dadurch wirkte… Das war kein eiskalter Mörder. War er nie gewesen. Laura merkte, wie die anderen an diesem großen Tisch Blicke austauschten. Blicke, die sie nicht zu deuten vermochte, bis Bennis Vater plötzlich die Mappe mit der Bürgschaft öffnete. Er hielt den Zettel hoch. „Denken Sie, wir brauchen das noch?“ Überrascht beobachtete Laura das einstimmige Kopfschütteln. Selbst die kritischeren Vertreter wie die Vorsitzende von Lumière lächelten schwach. „Gut.“ Wieder reichte Jacob den Zettel an Laura, begleitet von einem kleinen Augenzwinkern. Laura verstand was er wollte und dieses Mal war es ein erleichtertes Gefühl, als sie das Papier entgegennahm. Ohne es zu wollen fiel ihr Blick auf das Wort ‚Todesstrafe‘. Doch als sie ihre Finsternis-Energie freisetzte verschwand es, löste sich einfach so im Nichts auf. Genauso wie der ganze Rest vom Papier. Lächelnd wandte sich der König von Ivory in Jacks Richtung. „Nutzen Sie ihre dritte Chance, junger Mann. Leben Sie sie.“ Kapitel 91: Lagebesprechung --------------------------- Lagebesprechung       Seufzend verschränkte Eagle die Arme vor der Brust und betrachtete die große Karte Damons an der Wand, welche für die heutige Sitzung im Fokus aller Aufmerksamkeit stehen sollte. Da gestern das Gesetz unterschrieben worden ist, konnten nun auch endlich die restlichen Dämonenbesitzer an den Sitzungen teilnehmen. Deren Begeisterung sich genauso arg in Grenzen hielt wie die von denjenigen, die schon regelmäßig bei dem Mist dabei waren. Sonderlich angenehmer gestaltete dies die Sitzungen zwar nicht, aber so konnten die Regions-Vertreter immerhin die Gelegenheit nutzen die Dämonenbesitzer besser kennenzulernen und zu realisieren, dass dieser verrückte Haufen zwar ein verrückter Haufen war, aber nichts, wovor man sich fürchten musste. Zumindest wenn… Verärgert warf Eagle einen Seitenblick auf Jack, der wieder nur an seinem Smartphone saß und sich für nichts zu interessieren schien. So sehr sich Eagle Carsten zuliebe zusammenriss… Er konnte den Typen einfach nicht ausstehen. Er konnte ihm nicht verzeihen, was geschehen ist. Und trotzdem… Zähneknirschend erinnerte sich Eagle an den Anblick vom Vortag. So einen heftigen Gefühlsausbruch hätte er ihm eigentlich nicht zugetraut. Und ja, Eagle musste sich eingestehen… in diesem Moment war Mitleid aufgekommen. Als er sich bewusst geworden ist, wie verzweifelt Jack doch in Wahrheit war. Wie am Ende er mit sich und der Welt war, dass er tatsächlich keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte als… Es gibt zwei Wege da rauszukommen. Entweder als Verbrecher oder- Kopfschüttelnd wandte er sich wieder der Karte zu und meinte schließlich: „Das bringt nichts, Mars könnte Damon von allen Seiten angreifen.“ „Ein Vier-Fronten-Krieg also…“, meinte der König von Ivory nachdenklich. „Noch mehr Fronten, wenn man an die ganzen Portale zur Unterwelt denkt, die in Damon verstreut sind.“, ergänzte der Senatsvorstand der Vampire. „Aber damit haben wir zumindest einen Anfang.“, stellte Leon Lenz fest und richtete sich auf, um zwei blaue Kreuzchen auf der Karte zu machen. „Wir kennen die Positionen der Portale von Yami und Spirit.“ Johannes meldete sich fingerschnipsend, als sei er in der Schule. „Oh, oh, oh, in Jatusa ist auch eins! In einem Parkteich!“ „Stimmt, aber das hatte Benni wieder verschlossen, nachdem er mit dir in die Oberwelt zurückgekehrt ist.“, erinnerte sich Konrad. „Die anderen Standorte der Portale kenne ich zwar auch, aber viel wird uns das nicht bringen, da sie für gewöhnlich immer verschlossen sind. Ausgenommen Yami und Spirit natürlich.“ „Aber mit Energie lassen sie sich öffnen, nicht wahr?“, vergewisserte sich der Vertreter von Cor. Konrad nickte. „Aber dafür müssten Mars und seine Leute trotzdem erst am entsprechenden Ort der Unterwelt sein, damit sie dieses Portal nutzen können. Einen so großen Aufmarsch würden die Einheimischen in der Unterwelt niemals übersehen können.“ „Aber wo kamen dann die Unterweltler her, die die Coeur-Academy angegriffen hatten?“, fragte Sultana irritiert. Trotz ihres immer noch kritischen Zustandes konnte niemand sie dazu bringen sich im Krankenhaus zu erholen, während der Rest Kriegsvorbereitungen traf. Anne schnaubte. „Die schienen wie aus dem Nichts aufgetaucht.“ Genervt stöhnte Jack auf. Irritiert schauten sie zu ihm rüber und vermutlich fragte sich jeder, ob er bei Tetris irgendetwas verkackt hatte. Doch überrascht mussten sie feststellen, dass sein Blick nicht auf das Display gerichtet war, sondern er in die Runde schaute als er fragte: „Noch nie was von Spalten gehört?“ „Doch, natürlich wissen wir, was ein Spalt ist.“, erwiderte der Vertreter von Eau irritiert. „Spalte zwischen Unter- und Oberwelt?“ Jack hob eine Augenbraue, da aber sonst nichts kam schüttelte er den Kopf. „Na schön.“ Er hob die rechte Hand, den Handrücken seinen Zuhörern zugewandt. Direkt fiel Eagle der goldene Ring mit dem orangenen Edelstein am Mittelfinger auf. „Das da ist ein Portalring. Mit ihm kann man sich ein Portal erschaffen, um an einen Ort zu gelangen, wo sich ein Spalt befindet.“ „Ah, so konntest du immer vor unseren Augen in einem Portal verschwinden.“, fiel Ariane auf. „Exakt. Der Ort wo man ein solches Portal erschafft ist egal. Aber der Zielort ist immer bei einem Spalt.“ Laura legte den Kopf schief. „Wie meinst du das?“ Jack seufzte, erklärte aber ausführlicher: „Okay, angenommen ich bin in der Unterwelt und möchte in diesen Konferenzraum. Direkt komme ich hier nicht hin, da sich hier kein Spalt befindet. Ich muss mir also denjenigen suchen der am nächsten liegt und die restliche Strecke zu Fuß oder sonst wie überbrücken.“ „Und wo wäre der?“, fragte Eagle kritisch. „Am Rand von Karibera, etwa auf Höhe des Teiches.“ „Ah, ich verstehe!“, rief Johannes aus. „Als wir also in Cor angekommen sind, hatten wir deshalb die ganzen Halloween-Monster vor der Nase, weil sie durch denselben Spalt gekommen sind.“ Jack nickte. „Ich würde ja sagen war wohl ein blöder Zufall, dass ich uns ausgerechnet zur Coeur-Academy bringen wollte, die Mars in dem Moment angegriffen hat, aber im Nachhinein… Eigentlich war’s klar gewesen.“ „Wusstest du von dem Angriff?“, erkundigte sich Susanne. Jack schüttelte den Kopf. „Max hatte etwas von einer großen Sache erzählt, die am Laufen war, weshalb wir diese Gelegenheit nutzen konnten. Aber wo das war… das haben wir erst vor Ort herausgefunden. Aber wie gesagt, eigentlich war’s vorhersehbar.“ Die Vertreterin von Lumière betrachtete ihn kritisch. „Und wie viele gibt es? Von diesen… Spalten?“ „Ähm…“ Jack dachte einen Moment nach, richtete sich schließlich auf und nahm einen der schwarzen Marker in die linke Hand. Schweigen breitete sich aus, lediglich das leicht quietschende Geräusch des Stiftes auf dem Papier war zu hören, als Jack ein Kreuz nach dem anderen auf der Karte setzte, fast schon so als würde er Schiffe versenken spielen. Irgendwann hielt er inne und schien zu überlegen, wobei jeder insgeheim hoffte, dass er nicht noch mehr Kreuzchen setzen würde. Denn die Anzahl war erschreckend. Dennoch kamen noch fünf weitere hinzu. „Das sind alle, an die ich mich erinnern kann.“ „… Toll.“, kommentierte Anne. Konrad seufzte. „Das heißt, dass du über Ivory und Spirit gar nichts weißt?“ „Ne, Ivory und Spirit haben keine Spalte.“ „Wie ‚haben keine Spalte‘?“, fragte die Vertreterin von Monde irritiert. „Es gibt Regionen wie Lumière, Terra und Mur, die platzen aus allen Nähten und Ivory und Spirit haben einfach gar nichts?“ „Indigo hat auch nur den einen bei Karibera.“, bemerkte Eagle. „Oder hat dich der Rest nie interessiert?“ „Das ist der einzige.“, meinte Jack direkt. „Ich wollte mal ne Erkundungstour durch Indigo machen. War ziemlich frustrierend, ihr hättet eure Straßen zumindest motorradfreundlicher gestalten können.“ „Wie sicher bist du dir, dass das alle sind?“, fragte Herr Bôss. „Jedenfalls nicht zu hundert Prozent. Im Großen und Ganzen bleiben die Spalte dieselben, aber sie können sich trotzdem über die Zeit verändern. An einem Ort kann ein neuer auftauchen, am anderen einer verschwinden… Wie Verletzungen, die entstehen und verheilen.“ Irgendwie war es leicht makaber, dass Jack die Spalte direkt mit einer Verletzung verglich. Das dachte wohl auch Sultana. „Verletzungen?“ „Kommt, ein bisschen könnt ihr auch mitdenken.“, meinte Jack genervt. „Vergleicht einfach mal die Regionen mit vielen und die mit wenigen Spalten und überlegt, womit das zusammenhängen könnte.“ „… Der Anzahl antiker Begabter?“, vermutete die Vertreterin von Monde. Jack gab einen Laut von sich, der wie ein Falsche-Antwort-Ton aus einer Ratesendung klang. Mit vor der Brust verschränkten Armen wartete er auf weitere Ideen. Eagle glaubte das Muster erkannt zu haben. „Mit den Dämonen.“ „Bingo! Punkt für die Mettigelchen-Fraktion!“ …Ich will ihn umbringen. Dennoch kicherten die meisten Mädchen belustigt. Verräterinnen. „Es hängt also mit dem Ausmaß der Dämonenverfolgung zusammen.“, schlussfolgerte Florian. „Im Prinzip. Oder eher, wie sehr die Dämonen dadurch gezwungen waren sich zu verstecken.“ Eagle konnte nicht anders als auflachen. „Was für eine Ironie. Die Dämonenverfolgung in den menschlichen Regionen Damons ist also im Prinzip die Ursache, warum gerade diese Regionen beim nahenden Krieg besonders am Arsch sind.“ „Jop.“ Zwar wurden einige Stimmen laut, die sich über Eagles Ausdrucksweise empörten, aber er wusste, dass die Betroffenen nur irgendwie den Frust rauslassen mussten, was für ein herber Rückschlag das für sie war. Daher nahm Eagle die Beschwerden gerne zusammen mit leichter Schadenfreude entgegen. Er warf einen Seitenblick auf Öznur. Auch, wenn es ihr inzwischen besser ging, musste er besorgt feststellen, wie ihr Gesicht bei diesem Thema direkt wieder an Farbe verlor. Wie sie dadurch wieder an den grauenhaften Erdrutsch in ihrer Heimat und die erdrückenden, hasserfüllten Rufe ihrer Nachbarn erinnert wurde… Seufzend legte er einen Arm um ihre Schultern und betrachtete die Karte erneut. „Yami, Cor und Dessert sind dafür aber ziemlich gut davon gekommen.“ „Da dort die Dämonen trotz der Verfolgung insgeheim aktiver waren als in den anderen Regionen.“, meinte Jack. „Es kommt im Prinzip darauf an, wie viel Energie in der Region ist. Sie ist so eine Art Schicht zwischen Ober- und Unterwelt.“ Susanne verstand ihn. „Also wie die Haut. Und wenn die Energie, also die Oberfläche schwach ist, dann entstehen Risse. Die Spalte.“ Jack nickte. Konrad runzelte die Stirn. „Ich nehme mal an, nur Energie-Beherrscher können diese Spalte nutzen, oder? Wie die Portale.“ „Genau genommen nur die, die so einen Ring besitzen. Der kann dann die entsprechende Energie in ein Portal formen.“ Wieder hielt Jack die Hand hoch. „Dieser hier lässt sich nur mit Erd-Energie aktivieren.“ „Also kannst nur du ihn benutzen.“, folgerte Susanne, woraufhin Jack wieder nickte. Anne stöhnte auf. „Also hat Mars einen für die Zerstörungs-Energie.“ „Nein…“ Verbissen lehnte sich Jack neben der Karte an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber Benni einen für Finsternis-Energie.“ Schweigen breitete sich aus. Eagle entging es nicht, wie Carsten betrübt den Blick senkte und Laura sich auf die Unterlippe biss, als bliebe ihr keine andere Möglichkeit als so ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Auch Herr Bôss klang deprimiert als er meinte: „Also kann Mars jeden dieser Spalte mit Hilfe von Bennis Energie für sich nutzen.“ Florian seufzte. „Bei dieser Anzahl macht es die Sache nicht gerade einfacher. Besonders, da wir nur schwer einschätzen können, welchen der Spalte er verwenden wird, um seine Armee loszuschicken.“ Der König von Ivory nickte bestätigend. „Es ist sogar gut möglich, dass er die Legionen aufteilen wird, so wie einige bereits die Academy angegriffen hatten.“ „Es ist an sich seltsam, dass bisher noch nichts passiert ist.“, bemerkte Anne irritiert. „Jetzt, da er den Bann gebrochen hat, hätte doch eigentlich absolutes Chaos ausbrechen müssen.“ Wieder richteten sich alle fragenden Augen auf Jack. Er würde die Pläne des Dämons wohl am besten kennen, also vielleicht wusste er noch mehr. Dieser betrachtete die Karte neben sich und schien gar nicht zu merken, dass man eine Erklärung von ihm erhoffte. Oder eher verlangte. „Er macht das mit Absicht…“, meinte Jack, mehr zu sich selbst. „Was du nicht sagst.“, erwiderte Anne spöttisch. „Als würde jemand ausversehen die Welt zerstören.“ Jack schüttelte den Kopf. „Er wartet mit Absicht. Er will zusehen. Schauen, wie sich die Sache entwickelt.“ Auf die fragenden Blicke hin meinte er: „Okay. Wer von euch isst gerne?“ Eagle verzog das Gesicht. Was zum Henker ist mit dem Typen falsch, dass er jetzt an Essen denken kann? Wieder hob Johannes wie in der Schule die Hand und auch Ariane meldete sich auf seine Frage hin. Carsten schloss sich ihr leicht belustigt an, ebenso Jack selbst und nach und nach… ach eigentlich meldete sich am Ende im Prinzip jeder, auch Eagle. Zu einem guten Stück Fleisch würde er immerhin niemals nein sagen können. Jack lachte auf. „Okay, nächste Frage: Selbst kochen oder sich von jemandem bedienen lassen, zum Beispiel in einem Restaurant?“ „Bedienen lassen!“, rief Johannes direkt. Das wäre auch Eagles Antwort, er ließ sich definitiv lieber bekochen als selbst was machen zu müssen. „Ich mag beides.“, meinte Ariane. „Kochen und besonders Backen macht halt einfach Spaß. Aber wenn zum Beispiel Carsten mal wieder was richtig Leckeres macht, dann esse ich das auch mega gerne.“ Belustigt stellte Eagle fest, wie Carsten daraufhin verlegen den Blick senkte. Aber er konnte nun mal wirklich gut kochen. Jack klopfte auf die Karte. „Und jetzt bezieht das mal auf Mars.“ „Mars mag Essen?“ Öznur schien leicht verwirrt, woraufhin die anderen Anwesenden loslachen mussten. Eagle verstärkte seinen Griff um ihre Schultern und gab ihr einen kurzen Kuss auf den Scheitel. Wahrscheinlich hatte sie den Großteil des Gespräches gar nicht wirklich mitbekommen. „Im Prinzip.“, gab Jack ihr amüsiert recht. „Nur, dass seine Mahlzeit aus Leid, Chaos, Hass und Zerstörung besteht.“ Nun verstand Eagle, worauf er hinauswollte. Und er musste sich eingestehen, die Metapher war gar nicht mal so blöd. „Er liebt es also sich zurückzulehnen und zuzusehen, wie alles im Chaos versinkt. Und wenn es ihm nicht genug ist, dann setzt er mit seiner Energie oder mit einem Angriff der Unterweltler noch einen drauf. Wie als würde er nachwürzen müssen.“ „Hey, man kann ja richtig gut mit dir zusammenarbeiten, Mettigelchen.“, bemerkte Jack erfreut. Eagle ballte die Hand zur Faust. „Ich arbeite hier gleich was ganz anderes zusammen, wenn du mich noch einmal so nennst!“ Die anderen lachten auf, bis Florian nachdenklich meinte: „Das erklärt zumindest die ‚Naturkatastrophen‘ und warum Mars bisher noch nicht anderweitig in Aktion getreten ist.“ „Das stimmt.“, bestätigte Leon Lenz. „Die Katastrophen könnten das Ziel haben, den Hass der Bevölkerung auf die Dämonen noch weiter anzustacheln.“ Die Vertreterin von Monde warf einen Blick auf Öznur, sagte aber nichts dazu. Stattdessen meinte der Vertreter von Cor: „Weiterhin gestaltet das unsere Situation deutlich schwieriger. Wir können nicht öffentlich mitteilen, dass die Dämonenverbundenen als ‚normale‘ Bewohner Damons akzeptiert werden, wenn genau jetzt…“ Jacob Yoru lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das würde zu einem Bürgerkrieg führen. Genauso wie damals beim magischen Krieg. Alle Vermittlungsversuche meiner Ahnen schienen die Situation nicht bessern zu können. Eher war das Gegenteil der Fall gewesen…“ „… Weil jemand im Hintergrund die Fäden in der Hand hatte und Magier und Kampfkünstler immer weiter gegeneinander aufgestachelt hatte.“, führte Konrad seine Überlegungen fort. Geräuschvoll atmete Anne aus. „Also können wir doch nicht so öffentlich und sorglos agieren, wie wir wollen.“ Florian nickte. „Mit Pech würden wir dadurch eine zweite Welle der Dämonenverfolgung hervorrufen, die sehr bald in einen Bürgerkrieg übergehen würde, wenn die Bevölkerung erfährt, dass die Dämonenverfolgung plötzlich als verboten gilt.“ „Also die ganzen letzten Wochen Diskussion fürn Arsch.“, stellte Eagle genervt fest. Und genaugenommen war das für sie gerade nur ein Problem, da diese bescheuerten Regions-Vertreter nicht schon früher die Eier in der Hose hatten, dieses Gesetz zu unterzeichnen. Doch Herr Bôss schüttelte den Kopf. „Würde ich nicht so sagen. Selbst, wenn die Bevölkerung momentan nicht sicher auf unserer Seite steht, haben wir nun die Garantie, dass die Dämonenverbundenen ab sofort rechtlich wie alle anderen behandelt werden. Im Kampf gegen Mars wird das vielleicht auf kurze Sicht nichts mehr bringen, das mag sein. Aber in Zukunft, wenn all das vorbei ist, habt ihr nicht mehr solche Dinge wie die Dämonenverfolgung zu befürchten.“ Lissi nickte. „Stimmt, wir müssen dann keine Angst mehr haben, uns versehentlich zu verraten. Und noch dazu wissen wir ja jetzt zumindest, wie Mars tickt und dass er uns immer gegeneinander ausspielen will.“ „Definitiv, er hat die ganze Zeit schon sehr viel im Hintergrund agiert.“, bestätigte Jack. Fragend schaute Susanne ihn an. „Das, was du uns neulich erzählt hattest, mit… mit deinem Vater… Denkst du nicht, dass das in Wahrheit auch Mars war?“ Stimmt, die Vermutung war naheliegend, bemerkte Eagle. Schließlich war es doch unmöglich, dass einer einzigen Person- Jack schüttelte den Kopf. „Hatte ich auch schon gedacht. Hab ihn mal gefragt, er hatte damit nichts zu tun.“ Laura war verwirrt. „Gefragt? Du bist einfach so hingegangen und hast gefragt: ‚Hey Mars, hast du was damit zu tun, was mit mir damals passiert ist?‘“ „Klar.“ „Und das glaubst du ihm einfach? Dass er damit nichts zu tun hat?“, fragte Ariane ebenso irritiert. Seufzend legte Jack den Kopf in den Nacken und betrachtete die Decke, als er schließlich antwortete: „Deshalb kam ich überhaupt auf die Idee, wie er so drauf ist. Ich… Wenn andere aus seinem Gefolge Mist gebaut haben, dann haben die das immer bitter zu spüren bekommen. In den ersten Jahren hab ich viel Mist gebaut, hab ihm viel Ärger bereitet. Aber irgendwas an mir war anders, weshalb er seinen Frust nicht an mir ausgelassen hatte…“ „… Und… was war das?“, fragte Sultana vorsichtig. Lissi kannte die Antwort. „Deine Vergangenheit. Und ihre Folgen.“ Jack nickte, erwiderte aber sonst nichts darauf, sondern schaute einfach nur weiter zu den Lampen an der Decke, während der Rest ihn wiederum mitleidig betrachtete. „… Psychische Probleme?“, vermutete Jannik. Jack zuckte mit den Schultern. „Depressionen, Panik- und Schlafstörungen, PTBS und so weiter. Ich war gefundenes Fressen für ihn. Das hat es dann wohl ausgeglichen, dass ich mit meinen Versuchen damit fertig zu werden seinen Plänen eher im Weg stand als zu helfen.“ Okay wow, das war wirklich krass. Eagle konnte diesen Arsch immer noch nicht ausstehen. Und trotzdem kam er nicht drum herum sich eingestehen zu müssen, dass der Typ so viel Schmerz und Leid einfach nicht verdient hatte. Gleichzeitig war es beeindruckend, wie offen er inzwischen darüber reden konnte. Verglichen mit… Eagle warf einen Seitenblick auf Carsten und merkte, wie dieser den Kopf gesenkt hatte. Wie viele Punkte die Jack aufgelistet hatte trafen wohl auf ihn zu? Wie viele waren der Schwarzmagie verschuldet? Jacks Anspannung nach zu urteilen schienen ihn diese Themen trotzdem noch zu belasten. Wieder hatten seine Augen diesen leeren, toten Blick… Auch der König von Ivory sah dies und meinte seufzend: „Ich denke, es ist Zeit für eine Mittagspause, finden Sie nicht? Wir sind auf jeden Fall einen großen Schritt weitergekommen, dies sollten wir erst einmal setzen lassen.“ Die anderen Regions-Vertreter stimmten dem zu und der Senatsvorstand ergänzte: „Ihre Informationen waren sehr hilfreich junger Mann, vielen Dank dafür.“ Jack betrachtete den Vampir so verwirrt, als habe dieser irgendetwas in einer ihm unbekannten Sprache gesagt. Die Versammlung löste sich auf und Lissi hüpfte nach vorne, um Jack um den Hals zu springen, hätte er sie nicht mit ausgestrecktem Arm von sich ferngehalten. „Persönlicher Freiraum, schon vergessen?“ Lissi seufzte. „Och Jackie-Chan, nimm doch zumindest ein bisschen Dankbarkeit von anderen entgegen.“ Ah, sie hatte diesen Blick von ihm wohl deuten können. Kopfschüttelnd wandte sich auch Jack zum Gehen, als Laura ihn zögernd von der Seite ansprach: „Ähm Jack… Was… was waren das denn für Versuche, damit umzugehen?“ Sein Blick fiel auf Carsten, welcher sich auf der anderen Seite des Raumes mit Herr Bôss unterhielt. Der vermutliche Grund, warum Laura sich dazu durchgerungen hatte diese Frage überhaupt zu stellen. Nun wurde auch Eagle unwohl bei der Sache. Besonders, als Jack antwortete: „Willst du gar nicht wissen.“ Auf Lauras umso betroffeneren Blick hin wuschelte er ihr lächelnd durch die Haare. „Hey, er ist nicht ich.“ „Und was ist, wenn wir das wegen dir fragen?“, erkundigte sich Susanne plötzlich. „Weil wir uns Sorgen um dich machen und dir helfen wollen?“ Jack lachte auf. „Dann wollt ihrs erst recht nicht wissen.“ Mit diesen Worten verließ er den Konferenzsaal, während der Rest ihm betreten nachschaute. Eagle seufzte. „Und noch ein Sorgenkind.“   Gedankenverloren schaute Eagle auf den Monitor seines Computers, und haute ein paar Monster platt, ohne sich wirklich auf das Onlinespiel zu konzentrieren. Nach dem Mittagessen war die Diskussion über die Spalte weitergegangen. Und besonders wurde thematisiert, wie man am flexibelsten auf spontane Angriffe reagieren konnte. Eagle musste sich eingestehen, dass sich Jack als überraschend große Hilfe herausstellte und man besser mit ihm zusammenarbeiten konnte als er es je für möglich gehalten hätte. So wurden, abgesehen von den Spalten, aus den vier möglichen Fronten der Grenzen Damons nur noch zwei oder eher eine große, als Jack erklärte, dass das Dämonische Meer und Obakemori keine Bedrohung für sie darstellen würde, sondern nur die Grenzen zu Rutoké. Also dem zerstörten Gebiet, welches schon immer nachts von gefährlichen Monstern heimgesucht wurde. Insgesamt war es beeindruckend, wie schnell sich die Regions-Vertreter auch mal einig werden konnten. Am Ende gab es eigentlich nur noch einen Streitpunkt: Mur und Terra. Da diese beiden Regionen im Prinzip unter Mars‘ Kontrolle standen und kein Teil der neu gegründeten Damonischen-Allianz waren, konnte man nicht wirklich aktiv etwas für deren Sicherheit tun. Und dass diese beiden Regionen so mit Spalten überquollen, dass man sie eigentlich als jeweils einen einzigen großen Spalt betrachten konnte, machte die Sache auch nicht leichter. Aber trotzdem… Was war mit den Zivilisten? All den einfachen Leuten, die nichts dafür konnten, was ihre Regierung für einen Mist baute? Jack war es wohl ziemlich egal, dass man seiner Region nicht wirklich helfen konnte und wollte, wobei ihm ja ohnehin alles egal zu sein schien. Aber bei Janines trübem Blick hatte man deutlich erkennen können, wie sehr ihr das zu schaffen machte. Auch Öznur, die auf Eagles Bett lag und zur Decke starrte, ging dieser traurige Blick wohl nicht aus dem Kopf. „Jacks Idee Kontakt zu den Rebellen aufzunehmen finde ich eigentlich ziemlich gut.“ Eagle nickte. „Besonders, da diese ‚Bekannten von ihrer Adoptivmutter‘, die ihr damals geholfen hatten über die Grenze zu kommen, ziemlich sicher Rebellen gewesen sind.“ „Trotzdem gefällt es mir nicht, dass sie jetzt nur mit Lissi und Susi zusammen nach Mur ist, um mal beim Waisenhaus zu schauen, ob die was wissen…“ „Nicht nur dir.“, erwiderte er zerknirscht. „Nach ihrem letzten Ausflug dorthin…“ „Ja… Ich kann ja verstehen, dass sie nicht wollte, dass du, ich, Carsten oder Anne mitkommen. Wir fallen dort viel zu sehr auf mit unserer Hautfarbe. Aber trotzdem…“ Seufzend richtete sich Öznur auf und kam zu ihm rüber, um die Arme um seine Schultern zu legen. „Apropos, ist dieser Dunkelritter eigentlich wieder aufgetaucht, der eure Gilde vor ner Woche so mies hat hängen lassen?“ Schnaubend bewegte Eagle seinen Chara an einen sicheren Ort, wo er sich ausloggen konnte. „Nichts. Hat sich einfach nicht mehr gemeldet der Sack. Und das, obwohl er für den einen Raid vor ner Woche auch noch zugesagt hatte. Wir standen ziemlich blöd da.“ „Ich hoffe es ist nichts passiert… Bei den ganzen Katastrophen…“ „Wär schade um ihn, es gibt selten so gute Tanks.“ Eagle lehnte sich im Stuhl zurück, um Öznur einen Kuss zu geben. „Hey, der hat uns schon am Abend vor dem Angriff auf die Coeur-Academy sitzen lassen. Mit Monde hat das also eher weniger etwas zu tun.“ Dennoch half dieser Versuch nicht, ihren trüben Blick zu erhellen. Er richtete sich auf, um Öznur hochzuheben, wobei sie leicht erschrocken aufquietschte. Eagle lächelte sie an. „Und hör du endlich mal auf so ein Gesicht zu ziehen. Deiner Familie geht’s gut, das ist doch die Hauptsache.“ Öznur seufzte und legte wieder die Arme um ihn. „Ich weiß. Und das hab ich alleine dir zu verdanken…“ Als er merkte, wie sich ihr Griff anspannte und ihr Atem zittriger wurde, trug Eagle sie zum Bett rüber und legte sich neben sie. Er wusste nicht, was ihr mehr zu schaffen machte. Die Ungewissheit über die Zukunft ihrer Familie oder die Tatsache wie asozial sich die Nachbarschaft verhalten hatte? „Das wird schon wieder.“ Mehr wusste Eagle darauf nicht zu sagen, während er Öznur über die Haare strich, die schluchzend ihr Gesicht in seiner Brust vergrub. Wie so häufig in letzter Zeit… „… Danke…“, meinte Öznur plötzlich mit schwacher Stimme. Eagle runzelte die Stirn. „Wofür?“ „Für… Weil… weil nur wegen dir… Wäre die Leibwache nicht gewesen, dann… dann hätten sie es wohl nicht …“ Eagle verstärkte den Griff und schaute schweigend zur Wand, die sein Zimmer von Carstens trennte. Wobei dieser sich schon wieder im Krankenhaus aufhielt. Schließlich meinte er: „Kein Grund sich zu bedanken, ist doch selbstverständlich.“ Öznur schüttelte den Kopf. „Eben nicht. Wenn… Wenn du sie nicht dorthin geschickt hättest, dann…“ So langsam verstand Eagle, was Öznur von all dem am meisten zu schaffen machte. Es war die Tatsache, wie unverschämt viel Glück sie und ihre Familie gehabt hatten. Wenn man an Rebeccas Vater dachte, welcher niemanden hatte, der schnell genug reagieren und helfen konnte… Sie hatte schon recht. Ohne die Leibwache wäre es definitiv nicht nur bei einer verletzten Schwester geblieben. „… Fühlst du dich schuldig?“, fragte er sie vorsichtig. So heftig wie Öznur plötzlich in Tränen ausbrach hatte er wohl genau den wunden Punkt getroffen. Zerknirscht legte er ihre Brille zur Seite, die eher hinderlich war, wenn man sich komplett aufgelöst die Augen aus dem Kopf heulte. … Mal wieder… Und wieder blieb Eagle nichts anderes übrig als sie im Arm zu halten und zu warten, bis der Gefühlsausbruch vorüber war. Und dabei war er doch eine alles andere als geduldige Person. Er versuchte ein bisschen auf sie einzureden, irgendwelche beruhigenden Worte die vermutlich noch nicht einmal zu ihr durchdrangen. „Ist ja gut, Süße. Das wird schon wieder…“ Ja. Das wird schon wieder. Irgendwann. Inzwischen hatte er standardmäßig eine Packung Taschentücher in greifbarer Nähe, sodass er ihr direkt eins geben konnte, kaum dass sich ihre Gefühle wieder beruhigt hatten. Schluchzend und schniefend richtete sich Öznur auf und meinte schließlich: „Tut mir leid…“ Eagle seufzte. Die Entschuldigung machte es auch nicht besser. „Schon gut, lass einfach raus.“ Doch Öznur schüttelte den Kopf. „Ich… ich komm mir so mies vor. Ich heule hier die ganze Zeit rum und dabei… dabei bist doch du derjenige, der… der es viel schlechter hat als ich…“ Einen Moment lang hielt Eagle inne und versuchte den plötzlich aufkommenden Schmerz zu verdrängen, als er gezwungen an seinen Vater erinnert wurde. Kopfschüttelnd lehnte er sich gegen die angrenzende Wand und zog Öznur wieder an sich. „Özi, es macht keinen Sinn zu vergleichen wer es besser und wer schlechter hat. Deine Gefühle gehören dir und wenn die Situation schlimm ist, dann ist sie das halt. Abgesehen davon…“ Er lächelte verbittert. „Abgesehen davon kannst du wohl kaum behaupten, dass ich sonderlich besser damit umgegangen bin, kurz nach dem er… nach dem Ganzen.“ Traurig lachte Öznur. „Stimmt auch. Aber…“ „Nichts aber.“ Er seufzte bedrückt. „Ist halt einfach alles scheiße zurzeit.“ „So ein Unsinn!“ Abrupt richtete sich Öznur auf. „Wir haben uns, zählt das nicht?!“ Dieser plötzliche Umschwung verwirrte Eagle kurz, aber ihr immer noch verheulter und trotzdem hoffnungsvoller, entschlossener Blick, dieser Widerspruch in ihren Augen, ließ ihn auflachen. „Doch, hast ja recht.“ Er zog Öznur zu sich um sie zu küssen, die ihre Lippen sofort öffnete und den Kuss leidenschaftlich erwiderte. Sein Herz hämmerte wie bekloppt, als Öznur auf ihn kletterte und ihren Körper so eng gegen seinen presste als versuchte sie damit auszugleichen, dass sich nach wie vor eine dünne Stoffschicht zwischen ihnen befand. Das reichte ihr wohl immer noch nicht. Ungeduldig öffnete Öznur die oberen Knöpfe, um sobald es ging kurz den Kuss abzubrechen und Eagle das Hemd über den Kopf ziehen zu können. Ebenso befreite sie sich von ihrem eigenen Oberteil und dem BH in einem. „Özi…“ Eagle war leicht verwirrt von dieser plötzlichen Stimmungsänderung, doch Öznur ließ ihn mit einem weiteren Kuss nicht zu Wort kommen. Er unterdrückte ein Stöhnen, als sie sich wieder gegen ihn presste als wäre ihr selbst das noch nicht genug. Schwach lächelte Eagle und drehte den Schlüssel mit seiner Wind-Energie um, damit niemand einfach so reinplatzen konnte. So lange sie ihre Leidenschaft noch hatte, waren seine Sorgen wohl unbegründet. Kapitel 92: Eine weitere Chance ------------------------------- Eine weitere Chance       Unruhig wälzte Jack sich im Schlaf hin und her. Es waren die üblichen Bilder, alles wie gehabt. Und doch war es unmöglich sich daran zu gewöhnen. Das Zittern, der Schweiß, das Herzrasen, … Nie wurde es weniger. Schlaftrunken öffnete er die Augen und richtete sich auf, um sich in dem dunklen Zimmer mit den steinigen Wänden umzuschauen. Es klopfte gegen die Tür, die kurz darauf geöffnet wurde. Die Silhouette eines jungen Mannes betrat den Raum, dessen platinblonden Haare bei dem Flackern der Kerzen auf dem Gang eher orange schienen. „Alles in Ordnung?“ Jack lehnte sich seufzend gegen die Kissen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ja, ja, alles wie immer.“ Einen Moment lang wurde er geblendet, als Benni das Deckenlicht einschaltete und zu ihm rüberkam, um die Verpackung der Schlaftabletten auf dem Nachttisch zu betrachten. „Wirken sie überhaupt noch, wenn du sie so regelmäßig nimmst?“ Jack schnaubte. „Selbst wenn nicht, lass mir doch zumindest den Placeboeffekt.“ Wortlos setzte sich Benni auf die Bettkante. Jack versuchte derweil immer noch etwas wacher zu werden, während er beobachtete, wie der fast erwachsene Teenager ausdruckslos zur gegenüberliegenden Wand schaute. Eigentlich verhielt sich Benni so wie immer und doch wirkte irgendetwas seltsam… Schließlich erwiderte Benni seinen Blick. „Danke.“ Jack hatte keine Ahnung, was er dazu sagen sollte. Leicht perplex starrte er einfach nur in Bennis Augen, das linke schwarz wie die Nacht, das rechte rot wie Blut. Das einzige Wort was er schließlich über die Lippen brachte war: „Wofür?“ „Wegen gestern.“ Etwa zeitgleich betrachteten sie Bennis Samuraischwert, was seit neustem in einer Ecke in Jacks Zimmer untergebracht war, um zu verhindern, dass Benni damit ganz dumme Sachen anstellte. Seufzend schüttelte Jack den Kopf. „Kein Grund sich zu bedanken. Ich sag‘s doch, ihr seid mir alle zu aufopferungsvoll.“ „Denkst du, du bist da anders?“, fragte Benni und wirkte irgendwie leicht amüsiert. „Ich find’s einfach nur hirnrissig sich umbringen zu wollen, nur, um das Leben von jemand anderem zu retten.“ Er zog die Beine an und warf dem blöden Schwert einen verärgerten Blick zu. „Damit fügt man dem Geretteten doch viel mehr Schaden zu, als dass es helfen würde.“ Benni schien eine Weile über Jacks Worte nachzudenken, bis er sich schließlich aufrichtete. „Trotzdem könntest du den Dank doch einfach annehmen.“ „Wieso?“, wiederholte Jack seine Frage. Bennis Frage wiederum war eine rhetorische. „Weil du mir das Leben gerettet hast?“ Jack lachte auf. „Gerettet? Du willst gar nicht, dass ich überhaupt versuche, dir das Leben zu retten.“ Dieses Mal war es Benni der fragte: „Wieso?“ Er ging zum Schreibtisch und betrachtete seine Pistole, die neben den beiden Monitoren lag. Jack seufzte. „Ich… bin nicht sonderlich gut darin Leuten zu helfen. Und schon gar nicht sie zu retten.“ „Und noch jemand mit unbegründeten Selbstzweifeln.“ Benni seufzte ebenfalls und streckte die Hand nach der Pistole aus. Sofort verspannte Jack sich. „Hey, Pfoten weg.“ Benni erwiderte seinen Blick nur kurz, mit einem schauderhaften schiefen Lächeln auf den Lippen, als er seiner Aufforderung natürlich keine Folge leistete. „Benni, lass den Scheiß!“ Hastig richtete sich Jack auf, doch ein stechender Schmerz in seinen Schienbeinen ließ ihn aufschreien. Schwer atmend sackte er auf den Boden, nicht in der Lage sein Gewicht tragen zu können. Ihm wurde schwummrig. Er wusste nicht, ob die rötliche Färbung seines Sichtfeldes von ihm aus kam, oder… Bennis Bild verschwamm, die Haare wurden länger und bekamen dieselbe Purpur-Färbung wie die Iris, welche von einem düsteren Schwarz umgeben war. Genauso schwarz wie der Pistolenlauf, der dunkle Abgrund in die Hölle. Die Angst schnürte Jacks Kehle zu und ließ seine Hände zittern. Er bekam keine Luft. „Jack, wach auf!“ Mars lachte. „Noch jemand, den du nicht beschützen konntest, nicht wahr?“ Er kniff die Augen zusammen, spürte etwas Nasses über seine Wangen laufen. Nicht schon wieder… „Denkst du wirklich, sie würden dich akzeptieren? Dich? Denkst du sie würden dir verzeihen, wenn du dir noch nicht einmal selbst verzeihen kannst?“ „… Sei still…“ Jack biss die Zähne zusammen und konnte sich nicht einmal mehr auf seinem rechten Arm abstützen. Er spürte die Schnitte, das warme Blut. Das Brennen war fast schon angenehm, lenkte ihn zumindest ein bisschen von dem viel zu starken Schmerz in seiner Brust ab. „Valentin, es ist alles gut. Du musst nur die Augen aufmachen.“ Und doch drang Mars‘ tiefe Stimme bis in seine Knochen. „Glaubst du wirklich, du hättest eine weitere Chance verdient?“ „Jack!“ Ein lauter Knall, ein Schuss. Etwas explodierte in Jacks linker Schulter, irgendwas zerriss ihn von innen. Jack wollte schreien, den ganzen Schmerz irgendwie loswerden, aber…   … Er spürte eine angenehm kühle Hand auf seiner überhitzten Stirn. Das Atmen fiel ihm immer noch unsagbar schwer, aber dennoch schaffte er es mühsam die Augen zu öffnen. Es war wie die letzten Tage immer das verschwommene Bild eines Jungen mit schwarzen Haaren und einem dunklen Hautton, der für die Verhältnisse eines Indigoners trotzdem ziemlich blass war. Doch am auffälligsten waren immer die lila Augen mit ihrer magischen Ausstrahlung. Erschöpft fuhr sich Jack übers Gesicht und wischte sich etwas vom Schweiß weg. „… Geht’s?“, erkundigte sich Carsten besorgt. Wortlos nickte er, immer noch nicht ganz wach, und stützte sich auf dem linken Arm ab mit der Absicht sich aufzurichten. Wobei der höllische Schmerz ihn zu spät daran erinnerte, dass er ihn noch immer kaum belasten konnte. Mit einem erstickten Laut sackte Jack zur Seite und merkte erst bei dem stützenden und doch behutsamen Griff, dass auch hinter ihm jemand kniete, der ihn mit ruhiger Stimme dazu aufforderte langsam zu machen. Verwirrt versuchte Jack seine Umgebung wahrzunehmen. Dem harten Boden nach zu urteilen lag er in keinem Bett. Weder in seinem eigenen im Unterweltschloss, noch in dem vom Krankenhaus. „… Wo…“ „Alles ist gut, du bist immer noch im Krankenhaus.“, meinte Carsten und fügte zögernd hinzu, „Entschuldige, dass wir dich geweckt haben… Wir hatten nur Sorge, dass du dich verletzen könntest.“ Irritiert stellte Jack fest, dass das Bett etwa einen Meter hinter ihm stand. „Kannst du aufstehen?“, erkundigte sich Herr Bôss. Wortlos nickte Jack und versuchte sich aufzurichten, was ohne Herr Bôss‘ und Carstens stützenden Griff aber nicht ganz so gelungen wäre. Nachdem er halbwegs sicher auf den Beinen stand, fragte der Direktor direkt: „Schlafwandelst du häufiger?“ Immer noch benommen schüttelte er den Kopf und betrachtete das Bett, in das er sich nur zu gerne wieder reinlegen würde. Jemand der an der Tür lehnte seufzte genervt. Es war Anne, wie er feststellen musste als sie sagte: „Ich misch mich ja ungern ein, aber ehrlich: Du brauchst ne Therapie. Und zwar besser gestern als heute.“ „Hatte ich schon. Einer von Mars‘ Leuten ist Psychotherapeut.“ „Dann noch eine.“, erwiderte Anne direkt. „Ohne den Einfluss eines geisteskranken Dämons.“ Gerne würde Jack ihr jetzt widersprechen und sagen er käme schon klar, aber die Wahrheit war leider eine ganz andere. „Ich… hatte das eigentlich inzwischen ziemlich gut unter Kontrolle bekommen.“ Seufzend ging er zurück zum Bett und ließ sich auf die weiche Matratze sinken. Er war immer noch hundemüde und konnte kaum die Augen offenhalten. „Die letzten Tage waren hart, nicht wahr?“, fragte Carsten mitfühlend. Ohne es zu wollen lächelte Jack. Und trotzdem fiel ihm kein blöder Spruch ein, der die Situation auflockern konnte. Er erinnerte sich an das letzte Gespräch, was er mit Benni hatte. Und wie beeindruckt Jack war, dass er sich auf eigene Faust wegen seiner Persönlichkeitsstörung Hilfe geholt hatte. Dazu gehörte viel mehr als der Mut zur Einsicht, dass man ein Problem hatte. Dazu gehörte auch der Wille, etwas verändern zu wollen. Die Stärke, so eine Therapie auch wirklich durchzuziehen, selbst in Phasen, wo man am liebsten aufgeben würde, da es gefühlt einfach nichts brachte. Er warf einen Blick auf Herr Bôss, welcher ihn wiederum besorgt betrachtete. Er wusste über Benni bescheid. Und so wie Jack ihn kannte, hatte er die Therapie auch so gut er konnte unterstützt. Die Lippen des Direktors der Coeur-Academy formten sich zu einem warmen Lächeln, was Jack von früher kannte und ihn auch damals schon beruhigt hatte. „Niemand zwingt dich zu etwas, ich hoffe das weißt du.“ „Außer, dass du dich gefälligst mal duschen und anziehen solltest.“, ergänzte Anne genervt und schaute ungeduldig auf die Uhr. „Bevor wir schon wieder zu spät kommen.“ Mit einem langgezogenen Stöhnen ließ sich Jack zurück ins Bett fallen. „Nicht schon wiiiieder.“ Carsten lachte auf. „Ach komm, gestern war es doch sogar schon ziemlich nett.“ „Du hattest ja auch überhaupt kein Wort gesagt. Ich durfte mir die ganze Zeit den Mund fusselig reden.“ Und das ganze Stehen hatte seinen immer noch gebrochenen Beinen auch nicht gerade gut getan. „Und das hat unglaublich geholfen.“ Herr Bôss klopfte ihm auf die rechte Schulter. „Ich glaube es gab noch nie eine Sitzung, in der so viele Entscheidungen getroffen worden sind.“ Grummelnd drehte sich Jack auf die Seite, alles andere als motiviert. Er war immer noch viel zu müde und ohne Kaffee brachte er nach dem Aufwachen eh nichts zustande.   Und trotzdem schlurfte Jack wenige Minuten später Anne, Carsten und Herr Bôss hinterher, die Hände in der Lederjacke vergraben, gerade mal so am Existieren. „Wir gehen davor noch an Ituhas Bar vorbei und holen den Rest ab.“, erklärte Carsten, als sie nicht den direkten Weg zum Regierungsgebäude einschlugen. Das wurde ja immer besser. „Schon vergessen, dass ihr nen Invaliden mit euch rumschleppt?“ Wäre er halbwegs wach, würde ihm wohl auffallen, dass der zweite Invalide fehlte. Aber unter diesen Umständen war es erst durch Herr Bôss‘ Frage. „Hat sich der Zustand deiner Mutter verschlechtert, Anne?“ Diese seufzte. „Die letzten Sitzungen waren einfach extrem anstrengend für sie. Eigentlich wollte sie wieder mitkommen, aber die Ärzte haben bereits angedroht sie ans Bett zu fesseln.“ Carsten unterdrückte ein Lachen. „Ja, ich habe vorhin mit dem Krankenpfleger geredet. Ich bin froh, dass Jack da pflegeleichter ist.“ „Und mich zerrst du aus dem Bett raus.“, grummelte Jack. Inzwischen betraten sie die Bar, wo der Rest bereits wartete. „Carsten, endlich bist du da!!!“, grüßte ein kleines Mädchen mit rotbraunen Strubbel-Haaren und Sommersprossen freudig und kam auf sie zu. „Ähm… Guten Morgen, Risa.“, begrüßte auch Carsten sie und nahm sie leicht unbeholfen auf den Arm. Lissi quietschte begeistert, doch Jack nahm keine Notiz davon und platzierte sich abseits der Gruppe auf einem Barhocker. „Könnte der Morgenmuffel noch schnell einen Kaffee von Ihnen bekommen?“, fragte Herr Bôss die Barbesitzerin belustigt. Die muskulöse Indigonerin mit den langen Rasterlocken lachte auf. „Kein Problem.“ Sie ging an Jack vorbei und klopfte ihm auf den Rücken. „Vielleicht schafft der junge Mann es ja dann auch, sein Hemd richtig herum anzuziehen.“ „Hä?“ Unter lautem Gelächter vom Rest schaute Jack verwirrt an sich herunter und tatsächlich, das Karohemd war links rum. Noch genervter stöhnte er auf und befreite sich von der Jacke, um das Hemd über den Kopf zuziehen. „Das T-Shirt auch.“, stellte Öznur kichernd fest, was das Lachen der anderen nicht minderte. „Ja, ja, ich hab’s kapiert. Ihr bekommt euren Striptease.“ „Mit Musik?“, fragte Lissi begeistert. Wäre Jack nicht so grottig im Werfen, hätte er ihr das Hemd nun ins Gesicht gepfeffert. …Wobei Lissi wahrscheinlich sogar darauf stehen würde… Auch Laura lachte. „Da braucht jemand wirklich dringend einen Kaffee.“ Jack zog das schwarze T-Shirt ebenfalls über den Kopf. Noch während er ziemlich ungelenk versuchte es auf die richtige Seite zu drehen -er brauchte verdammt dringend einen Kaffee- merkte er, wie das Lachen aus irgendeinem Grund verstummt war. Irritiert schaute er sich um und suchte den Ort instinktiv nach einer Bedrohung ab. „Ist was?“ Susanne schob sich eine Strähne hinters Ohr und fragte verunsichert: „Kommen die… wirklich von dort?“ Jack musste sie wohl ne ziemliche Weile ziemlich planlos angeschaut haben, bis die Barbesitzerin mit einem Klackern eine Kaffeetasse auf den Tresen stellte. „Trink erstmal, Junge.“ Während schon alleine der angenehme, leicht bittere Geruch Jacks Lebensgeister wiedererweckte, nahm Herr Bôss ihm das T-Shirt aus der Hand und drehte es rechts herum, woran er selbst zuvor gescheitert war. Mit einem schwachen Dank schlüpfte Jack wieder hinein und nachdem der erste Schluck vom heißen, schwarzen Getränk begann ihn von innen zu wärmen, spürte er auch, dass endlich wieder normale Denkprozesse und Handlungen möglich waren. Mit einem erleichterten Seufzen stützte er sich auf den Tresen ab. „Das tut gut.“ „Du schuldest ihr noch ne Antwort.“, erinnerte Anne ihn an Susannes Frage. Jetzt verstand Jack auch direkt, dass die plötzlich ernste Atmosphäre den Narben auf seinem Oberkörper zu verschulden war. „Ach so. Ja, tun sie.“ Die Antwort half nicht gerade dabei, das betroffene Schweigen vom Rest zu brechen. Nach ein paar weiteren Schlucken vom Kaffee hatte Jack zumindest wieder genug Energie, sich zu ihnen umzudrehen und zu beobachten, wie im Prinzip jeder betreten den Kopf gesenkt hatte. „Echt jetzt? Überrascht euch das so sehr?“ Florian betrachtete ihn und Carsten mitfühlend. „Ihr beiden habt dort ziemlich viel durchgemacht, nicht wahr?“ Jack warf einen Blick auf den anderen Angesprochenen, welcher ihm jedoch nur ganz kurz in die Augen schaute und es dann bevorzugte den Dielenboden zu betrachten. So langsam dämmerte es ihm. Wenn Carsten an sich schon eher der Typ war, der versuchte alles zu verdrängen… Woher sollte dann der Rest wissen, wie es in dieser Höllenanstalt vor sich ging? Das kleine Dryadenmädchen fragte ziemlich unverblümt: „Hat man euch gefoltert?“ Betreten zuckten einige wie Laura zusammen und bei Eagles verbissenem Blick war sich Jack nicht sicher, wer der beiden eher losheulen würde. Die Stimme des Häuptlings klang zumindest stark danach, als er fragte: „Hast du meinen Vater deshalb…“ Zerknirscht fragte sich Jack, wie er den besten Ausweg aus dieser Situation finden könnte. Besonders den besten für Carsten, der vermutlich direkt wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen würde, womit er bekanntlich alles andere als gut klarkam. Aber die Tatsache war: Es gab keinen guten Ausweg. Alle waren scheiße. Er atmete aus und beantwortete alle Fragen auf einmal. „Ja.“ Insgeheim hatte er eigentlich mit einem absoluten Chaos gerechnet, aber diese betretene Ruhe war viel unheimlicher. Viel angespannter. Jack selbst machte sie nicht allzu viel aus, aber Carstens Zittern nach zu urteilen wartete er eigentlich nur noch auf den Sturm, der darauf folgen müsste. Jack fragte sich, was ihn mehr belastete. Die Erinnerungen an damals oder wie der Rest ihn immer wieder damit konfrontierte. Und so impulsiv wie insbesondere ein gewisser großer Bruder drauf war… Leicht belustigt beobachtete er, wie Carsten erschrocken zusammenzuckte als Ariane ihre Hand auf seinen Rücken legte, als wolle sie ihm Mut zusprechen. Ebenso ihr aufheiternder Blick, als er sich endlich dazu überwand ihr in die Augen zu schauen. Ob die zwei inzwischen eigentlich offiziell ein Pärchen waren? Wünschen würde Jack es ihnen aber so verhalten und zögerlich ihre Interaktionen noch waren… Ach Mann. „Aber… aber wie kann das sein?!“, fragte Öznur verzweifelt. „Es ist immer noch eine Schule!“ „Stimmt, die Behörden hätten doch irgendwas davon mitbekommen müssen und etwas dagegen unternehmen sollen.“, gab Susanne ihr befangen recht. Seufzend verschränkte Herr Bôss die Arme vor der Brust und schien zu beschließen, ihnen zumindest einen kleinen Einblick in diesen ganzen Mist zu geben. „Ja und nein. Diese ‚Schule‘ ist eine spezielle Einrichtung. Man kann sie weder mit einer staatlichen Schule noch mit einer Privatschule wie die Coeur-Academy es ist vergleichen. Da herrschen spezielle Regeln und selbst bei diesen haben die Behörden ihre Probleme, sie auch überprüfen zu können.“ „Sprecht Sie vom Steingefängnis?“, fragte Kito den Direktor. „Man kann es zumindest als solches bezeichnen.“, bestätigte Jack bei der Erinnerung an die ganzen erdrückenden, grauen Steinwände. Während er den Rest seines Kaffees inhalierte, erzählte Kito: „Sakim sprach oft vom Steingefängnis. Im Krieg wurden wir dort gefoltert und getötet.“ „Im FESJ wurden die Dryaden umgebracht?!“, entfuhr es Laura schockiert, Tränen glitzerten in ihren Augen. „Wie kann so etwas überhaupt als Schule durchgehen?!“ Seufzend zuckte Herr Bôss mit den Schultern. „Keine Ahnung. Es war zuerst ein Gefängnis, dann eine Einrichtung für das Militär. Und schließlich wurde daraus ein Mix aus beidem für nicht volljährige Jungs.“ „Woher wissen Sie eigentlich von all dem?“, fragte Konrad überrascht. „Ich war früher mal in der Schulaufsicht tätig.“ Anne ging ein Licht auf. „Dadurch haben Sie dort auch Jack kennengelernt, nicht wahr?“ Herr Bôss nickte und erwiderte kurz Jacks Blick. Die Gruppe schien sich immer noch nicht ganz sicher, wie die Beziehung der beiden zu deuten war, bis Susanne sich schließlich zur Frage überwand: „Ist… ist damals etwas vorgefallen?“ Herr Bôss antwortete nicht darauf, was den Rest ziemlich zu verwirren schien. Und der für den ansonsten gut gelaunten Schuldirektor ungewohnt deprimierte Gesichtsausdruck sorgte dafür, dass sich auch niemand mehr traute weitere Nachfragen zu stellen. Letztlich wich er dem Thema tatsächlich aus und meinte mit einem Blick auf die Uhr: „Tja, jetzt kommen wir tatsächlich zu spät.“ Jack schlüpfte wieder in sein Hemd -dieses Mal richtig rum- aber ihm entging nicht, dass die anderen ziemlich verzweifelt schienen. Während Herr Bôss für Jacks Kaffee zahlte, überwand er sich also dazu die Situation zumindest halbwegs zu erklären. Ansonsten würden die ja eh bei jeder noch so bescheuerten Gelegenheit versuchen etwas aus dem Direktor heraus zu kitzeln. Und darauf konnten sowohl er als auch Jack dankend verzichten. „Er musste ein Verschwiegenheitsgelübde leisten.“ Jannik runzelte die Stirn. „Wofür denn das?“ Er versuchte das unangenehme Ziehen im Magen zu ignorieren und stieg vom Barhocker ab. „Wollt ihr gar nicht wissen.“ „Wird das nun deine Standardantwort auf so Fragen, Jackie-Chan?“, erkundigte sich Lissi. Dem mitfühlenden Ton in ihrer Stimme nach zu urteilen, schien sie ohnehin schon eine ziemlich konkrete Ahnung zu haben. Obwohl Jack immer noch leicht übel war, kam er nicht drum herum davon beeindruckt zu sein. Sie hatte einen ziemlich guten Blick für Details. Mit einem schiefen Lächeln zog er seine Lederjacke an. „Vielleicht sollte ich mir für die Zukunft ein Schild basteln.“ Er begab sich zum Ausgang der Bar, wobei ihm nicht entging, dass hinter seinem Rücken besorgte Blicke ausgetauscht wurde. „Risa, hol deinen Schulranzen, sonst kommst du noch zu spät.“, forderte Ituha derweil ihre Tochter auf. „Jahaaa!“, rief Risa brav und ging in den schmalen Gang die Treppe nach oben, wo sich die Wohnung der Familie befand. Wie eine Indigonerin sah das kleine Mädchen eigentlich nicht aus. Wer wohl der Vater war? Jack öffnete die Tür der Bar und trottete nach außen. Die Erinnerungen an damals hielten ihn immer noch gefangen und er wusste, dass er dem so leicht nicht entkommen konnte. Daher blieb Jack nichts anderes übrig als sich ihnen zu beugen. Dem erdrückenden Gefühl in seinem Herzen, das Auswringen seines Magens, der Eindruck die Kehle würde einem zugepresst werden, … Er kannte all dies zur Genüge und trotzdem war es immer wieder aufs Neue schmerzhaft. Es tat immer noch weh… Er war bereits kopflos einige Schritte gegangen, bis er durch seine Energie die Präsenz einer Person wahrnahm, einige Meter entfernt vor ihm. Irritiert blickte er auf, in zwei verschiedenfarbige Augen. Das linke schwarz wie die Nacht, das rechte rot wie eben jenes Blut, welches in Jacks Adern gefror. Ruckartig erstarrte sein Körper, er betrachtete den fast erwachsenen Teenager mit den hellblonden, nahezu weißen Haaren. Dieser hatte die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte an einem Baumstamm und beobachtete die Gruppe ruhig, die eben gerade die Bar verlassen hatte. Nicht nur Jack war zu Stein erstarrt, niemand war dazu in der Lage sich zu bewegen. Oder etwas zu sagen. Fast niemand. Zögernd trat Laura einige Schritte vor. Sie zitterte und es war gerade so mehr als ein Flüstern, als sie diesen einen Namen aussprach. „Benni?“ „Lange nicht gesehen.“, antwortete er. Und es war Bennis eigene Stimme. Die Stimme, die Jack vor einer Woche erst so verzweifelt versucht hatte rauszuhören. Konnte das sein? War es wirklich Benni? Eigentlich verhielt er sich so wie immer und doch wirkte irgendetwas seltsam… Carstens Stimme klang schwach, kurz vorm Zerbrechen. „Bist… bist du es wirklich?“ Benni entfernte sich vom Baum. Kam auf sie zu. Erst jetzt bemerkte Jack das Samuraischwert an seinem Gürtel. Und noch etwas fiel ihm auf. „Wer hat dir erlaubt meine Lederjacke zu tragen?“ Benni trug nie Leder. Er hörte Laura aufschluchzen und merkte, wie Carsten die Zähne zusammenbiss, als sie alle schmerzhaft realisierten, dass diese Person vor ihnen nicht Benni war. So sehr sie es sich auch wünschten, das war nicht… Bennis Lippen formten sich zu einem gefälligen Lächeln. Seine Stimme veränderte sich, wurde tiefer. „Was ist los? Freut ihr euch nicht, mich zu sehen?“ Instinktiv trat Jack einige Schritte vor, nicht wissend, was Mars von ihnen wollte. Aber eines stand fest: Auf diese Konfrontation war niemand vorbereitet gewesen. Und viele wären nicht dazu in der Lage zu handeln, sollte es zu einem Kampf kommen. Dieser plötzliche Schock… Jack spürte das Zittern hinter sich. Wie Porzellanpuppen bei einem Erdbeben. Ein Schlag, eine zu starke Erschütterung, und sie würden fallen. Zerbrechen. Und er wusste ganz genau, wer die erste Puppe war, die dabei zersplittern würde. „Was willst du hier?“, fragte er zerknirscht. Eine Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen, als Mars sadistisch kicherte. Benni hatte selten große Veränderungen in der Mimik gezeigt. Und so wirkte dieses Lächeln, dieser abgrundtief bösartige Blick, umso falscher. Er passte überhaupt nicht zu ihm. „Ich wollte eigentlich nur schauen, wie es dir geht.“, antwortete Mars mit verräterisch falscher Fürsorge und blieb neben Jack stehen. Benni war eigentlich nur wenige Zentimeter größer als er aber trotzdem hatte er den Eindruck, dass Mars ihn wie in seiner eigentlichen Menschengestalt um einen Kopf überragte. Mit einer vermeintlich freundschaftlichen Geste legte der Dämon die Hand auf Jacks linke Schulter. Und drückte zu. Jacks Körper verspannte sich und er biss die Zähne zusammen, als die Schmerzen seine Schulter erneut zum Explodieren brachten. Es war wie vor einer Woche. Er hörte den Schuss, spürte die Qualen. Verbissen stierte Jack gerade aus, während Mars mit samtener, tiefer Stimme sagte: „Du hattest doch immer so Schwierigkeiten, Freunde zu finden. Da habe ich mir Sorgen gemacht. Und das zurecht, wie ich sehe.“ Sein Griff wurde noch einmal fester, noch einmal schmerzhafter. „Denkst du über die Mitleidsschiene kannst du sie für dich gewinnen? Sie dazu bringen dir zu vertrauen?“ Der Boden begann zu wanken, die plötzliche Hitze löste Schwindel aus. Mars tiefe Stimme war ganz leise, nahezu sanft, als er ihm ins Ohr flüsterte: „Ich verrate dir mal ein kleines Geheimnis: Sie werden dich niemals akzeptieren.“ Jack kniff die Augen zusammen, versuchte trotz der Schmerzen ruhig zu atmen. Hinter sich hörte er eine fast genauso tiefe Stimme. Sie gehörte zu Herr Bôss. „Lass den Jungen gehen.“ „Tu ich doch.“ Mars lachte auf und stieß Jack leicht zur Seite. Taumelnd kam er zum Stehen und hielt sich die Schulter. Ein ekelhaftes Pochen hämmerte gegen seine Hand. Belustigt blickte der Dämon in die Runde. In all die entsetzten Gesichter, die sich ihrem Freund gegenübersahen. Ein Freund, der gleichzeitig der Feind war. „Was ist los? Wolltet ihr mich nicht bekämpfen?“ Gehässig lachend breitete er die Arme aus, als wolle er sie alle in Empfang nehmen. „Da seid ihr nun alle, endlich vereint, und doch wollt ihr diese Gelegenheit nicht nutzen?“ Elender Mistkerl, er wusste doch, warum niemand von ihnen dazu im Stande war zu handeln. Jack wagte einen flüchtigen Seitenblick auf die restliche Gruppe. Der Schreck war ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Mars wusste ganz genau, warum er sich ihnen so auf dem Silbertablett präsentieren konnte. Aber warum war er hier? Erneut lachte der Dämon. Es war schauderhaft, wie ein Unwetter. „Wie schade. Dabei habt ihr doch jemanden, der sogar dazu in der Lage wäre.“ Belustigt wandte er sich wieder Jack zu. „Vatermord ist schließlich nichts Neues für dich, oder, mein Lieber?“ Zerknirscht ballte Jack die Hände zu Fäusten, insgeheim schon darauf vorbereitet sich verteidigen zu müssen. „Zwing mich nicht dich Papa zu nennen, wenn du wie jemand aussiehst, der drei Jahre jünger als ich ist.“ Gespielt bedrückt seufzte er. „So ist das mit den Kindern. Man tut alles für sie und selbst ein kleiner Dank ist schon zu viel verlangt.“ In dem einen Moment noch hatte Jack Mars‘ diabolisches Lachen vor Augen, in dem nächsten stand der Dämon direkt vor ihm. Automatisch blockte Jack den Schlag mit seinem rechten Arm. Erst bei dem grauenvollen Schmerz des noch nicht verheilten Knochens erinnerte er sich daran, dass er wegen dieser scheiß Sitzungen seine Armschiene nie tragen durfte. Jack unterdrückte einen Schmerzenslaut und wehrte instinktiv den Dolch ab, den Mars in seine Seite rammen wollte. Unter dem lautstarken Protest seiner linken Schulter schlug Jack zu, viel schwächer als es ihm sonst möglich wäre. Er hatte gerade so ein bisschen Abstand zwischen sich und den Dämon bringen können, als dieser das Samuraischwert zog. Der Abstand war nicht groß genug. Jack meinte schon zu spüren, wie die Klinge ihm die Kehle aufschlitzte, als ein metallisches Aufeinanderprallen das Schwert in seiner Bewegung erstarren ließ. Schwer atmend wich Jack zurück und hielt sich den rechten Arm. Er erkannte gerade so einen immer noch von schwarzer Aura umgebenen Fächer in der Wiese stecken, als Laura auch schon mit einem kraftvollen Schlag ihrer in Finsternis gehüllten Handfläche den Dämon in die Knie zwang. Aber nur kurz. „Pass auf!“, schrie Ariane eine erschrockene Warnung, als Mars nun auf Laura zustürmte. Schwer beeindruckt von ihren Reflexen beobachtete Jack, wie das Mädchen dem Schwerthieb zur Seite auswich und die plötzliche Feuerfront direkt im Keim erstickte. Erneut landete sie einen Treffer mit ihrer Finsternis-Energie, doch wieder war die Kraft des Dämons zu unerschöpflich. Tränen rannen über Lauras Wangen, als sie erneut zuschlug. „Lass Benni gehen!“ Wie vom Blitz getroffen erstarrte Jack. Bilder suchten ihn heim. Bilder, die Mars selbst vor einer Woche noch in sein Gehirn gepflanzt hatte. Die Vorstellung, wie Laura kämpfen würde. Wie sie alles tun würde, nur um… Es ging zu schnell. Es ging alles viel zu schnell. Niemand konnte so schnell reagieren. Und schon gar nicht aus dieser Entfernung, mit dieser notwendigen Präzision. Ohne es zu wollen sah Jack genau die Situation vor sich. Sah, wie Laura schreiend auf Mars zustürmte. Sie wollte doch nur ihren Benni zurück. Doch Mars hatte damit gerechnet, hatte diesen Angriff kommen sehen. Und hatte immer noch die Macht über Bennis Kampftalent. Er blockte ihren Schlag und selbst, wenn Laura in einer runden Bewegung in einen Tritt überging, war sie nicht schnell genug, um Mars‘ Hieb gegen ihr Kinn abzuwehren. Sie schaffte es zwar irgendwie beim Sturz auf beiden Beinen zu landen, aber da war die Spitze des Schwertes bereits kurz davor ihr Herz aufzuspießen. Es blieb ihnen noch nicht einmal die Zeit, Lauras Namen zu rufen. Und trotzdem… trotzdem hatte Jack den Eindruck, dass für einen kurzen Moment die Zeiger auf der Uhr stillstanden. Wie sich das das Ticken des Sekundenzeigers ein kleines bisschen verzögerte, als Laura ihrem Gegenüber in die Augen blickte. Dann kam das Ticken. Und Laura schlug das Schwert zur Seite weg, um es mit der Finsternis-Energie aus Mars‘ Händen zu reißen. Erst als Jack hörte wie sein Name gerufen wurde, wachte er aus diesem seltsamen, trance-ähnlichen Zustand auf. Laura kam zu ihm rüber gerannt und warf ihm das Schwert zu. Leicht überrascht fing er es am Griff auf, während sie ihren metallenen Fächer hochhob, der immer noch in der Erde gesteckt hatte. Schwer atmend versuchte Jack die ganze Situation zu verdauen, doch viel Zeit würde ihm wohl nicht bleiben. Mit einem amüsierten Lachen richtete sich Mars wieder auf. Jack warf einen Blick auf die restliche Gruppe. Niemand von ihnen hatte so schnell reagieren können wie Laura. Der Großteil schien noch nicht einmal wirklich verarbeitet zu haben, was gerade Sache war. Aber eines stand fest. „Haltet ihn von Carsten fern!“ Diese Aufforderung brachte sie wieder zurück, raus aus der Schockstarre. Jeden bis auf Carsten selbst zumindest. ‚Glaubst du, er würde auch nur irgendeine Form der Gegenwehr zeigen? Ich denke ja, man könnte sehr leicht mit ihm spielen. Wie mit einer leblosen Puppe.‘ Eine leblose Puppe, die zerbrechen würde, wenn man sie fallen ließ. Die jetzt schon auf der Kante lag. Laura begab sich erneut in eine Angriffsposition, wie eine Katze, die auf der Lauer lag. Als Mars merkte, wie sich der Rest endlich ebenfalls kampfbereit machte, wurde sein Lachen stärker. „Das wird ja sehr interessant. Und wenn ihr mich besiegen solltet? Was dann?“ Sein Blick fiel auf Carsten, dem Schwarzmagier, welcher der Schlüssel für den Bann war. Er stand einfach nur da, kaum mehr in der Lage sich aufrecht zu halten. Die magischen lila Augen waren weit aufgerissen vor Entsetzen, vor Angst. Konfrontiert mit der Tatsache, dass sein bester Freund nicht mehr er selbst war. Es war, wie als hätte man einem Verletzten seine Krücke weggenommen. Seine einzige Möglichkeit, wieder aufstehen zu können. … Verdammt. Jack wandte sich wieder dem Dämon zu. Trotz des Protestes in seinem linken Arm hob er das Samuraischwert über den Kopf und zwang sich zu einem schiefen Lächeln, als er sowohl Mars als auch Benni ansprach: „Wer weiß? Du kennst mich doch. Ich denke viel zu wenig nach.“ Damit hatte er die Aufmerksamkeit des Dämons wieder auf sich richten können, welcher von dieser Aussage sehr belustigt schien. „Noch jemand, den du nicht beschützen kannst, nicht wahr?“ Jacks Griff um das Schwert verspannte sich. Mars lächelte. Grausam. „Wer ist wohl der nächste, der wegen dir sterben wird?“ Er biss die Zähne zusammen, seine Hände begannen zu zittern. „… Sei still…“ „… Wollen wir es herausfinden?“ ‚Glaubst du wirklich, du hättest eine weitere Chance verdient?‘ „Sei still!“ Mit einem irren Grinsen warf Mars die Hand zur Seite, als würde er etwas wegwerfen wollen. Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ die Erde erschüttern. Fenster zersplitterten, Holz zerbarst, Steine brachen. Über all dem lag Ituhas Schrei, ein verzweifelter Ruf nach ihrer Tochter. „RISA!“ Jacks Herz blieb stehen, als er an das kleine Mädchen von vorhin dachte, das Carsten in die Arme gesprungen war. Er hatte sich doch nur ein einziges Mal mit ihr im selben Raum aufgehalten und trotzdem… Nein… nicht schon wieder… „Versuchst du immer noch zu leugnen, was du in Wahrheit bist?“ Er hörte Mars auflachen und spürte, wie ein Portal aus Finsternis-Energie entstand. „Komm zurück, wenn du aus deiner rebellischen Phase wieder draußen bist, mein Junge.“ Wie gelähmt stand Jack da. War das wirklich alles nur wegen ihm? War das schon wieder alles seine Schuld? Das Durcheinander von aufgebrachten Stimmen war wie ein Wirbelsturm in Jacks Kopf. Er hörte, wie Öznur irgendetwas meinte von wegen „Wir müssen nach ihr suchen!“ Eagle ging bereits auf die Überreste der Bar zu. Die Zerstörung, verursacht durch tausende Risse in der Erde. Erd-Energie, die er eigentlich hätte aufhalten können. Wenn er nur rechtzeitig reagiert hätte… Eigentlich war all dies auch nur geschehen, weil Mars ihm diese Lektion erteilen wollte. Wenn er nicht gewesen wäre… Nicht schon wieder. Nicht schon wieder! Warum konnte er nicht ein einziges Mal etwas richtig machen?! Verbissen ballte Jack die zitternden Hände zu Fäusten und kniff die Augen zusammen. Es war schon wieder nur wegen ihm. Es war schon wieder seine- Ein seltsames Gefühl ließ Jack hochschrecken. Es war eine Bewegung, die er wahrnahm. Irgendetwas, nein, irgendjemand, der sich im Inneren dieser Trümmer versuchte voranzutasten. War es möglich? Aber dieses ganze Konstrukt war viel zu- „Rühr dich nicht vom Fleck!“, schrie Jack zu Eagle rüber, bevor er den unebenen Boden betreten konnte. Eigentlich hätte Jack erwartet, dass der Häuptling ihn knallhart ignorieren würde. Doch tatsächlich hielt er inne und drehte sich verärgert um. „Verdammt, du Arsch hast hier gar nichts zu melden, ist das klar?! Das alles ist nur wegen dir passiert!“ „Das weiß ich doch selbst…“ Zähneknirschend reichte Jack das Samuraischwert an Laura und ging auf den Häuptling zu, der größer war als Jack selbst, weshalb er den Kopf leicht in den Nacken legen musste um den hasserfüllten Blick von Eagles bernsteinbraunen Augen zu erwidern. „Aber wenn du einen falschen Schritt auf diesem Minenfeld machst, wird alles einstürzen und sie überlebt das definitiv nicht.“ „Glaubst du, sie lebt noch?“, fragte ihre Mutter hoffnungsvoll, woraufhin er nickte. „Tatsächlich, ich höre ein schwaches Schluchzen.“, gab Susanne ihm recht. Eagle schnaubte. „Toll und jetzt? Wenn alles kurz vorm Einstürzen ist…“ „… Solltest du Trampel da wohl am wenigsten rein.“ Jack schob ihn zur Seite und wollte den instabilen Bereich betreten, wurde aber direkt von Eagle am Unterarm gepackt. Dem rechten, der nach dem Kampf gegen Mars ohnehin schon wieder was abbekommen hatte. Schmerzverzerrt funkelte Jack ihn an. „Wer denkst du bekommt das eher auf die Reihe? Jemand, der Sachen durch die Luft fliegen lassen kann, oder jemand, der durch die Erde spürt, was davon alles zum Einsturz bringen könnte?“ Eagles Zögern machte mehr als deutlich, dass Jack der letzte war dem er das Leben dieses Mädchens anvertrauen wollte. Und er hätte ihn vermutlich auch nicht gehen lassen, wenn die Barbesitzerin selbst nicht Eagles Arm packte und dafür sorgte, dass er Jack losließ. „Risa heißt sie, oder?“, vergewisserte sich Jack. Ituha nickte. Er atmete noch einmal tief durch und erschuf mit seiner Erd-Energie einen Weg, mit dem er zumindest ungehindert bis zum Beginn des ganzen Trümmerchaos kommen konnte. Er konnte Eagle nicht verübeln, dass er ihn zurückgehalten hatte. Ehrlich gesagt… insgeheim hatte Jack gehofft, dass Eagle ihn daran hindern würde. Dass jemand anderes eingeschritten und mit einer besseren Idee angekommen wäre. Irgendwas, was Jack nicht im Plan involvieren würde. ‚Glaubst du wirklich, du hättest eine weitere Chance verdient?‘ Jack schüttelte sich. Er versuchte diese Worte auszublenden, die aus irgendeinem Grund dauernd in seinem Kopf hallten. Nicht ablenken lassen. Jetzt bloß nicht ablenken lassen. Er spürte die Blicke der anderen auf sich ruhen, teils hoffnungsvoll, teils ungläubig und vor allem kritisch. Niemand traute ihm das zu. Jack sich selbst am allerwenigsten. Nach kurzer Suche fand er eine Öffnung, die groß und sicher genug war, um in das Innere der Zerstörung zu gelangen. So instabil wie das alles war, konnte er nicht einfach so seine Erd-Energie verwenden, ohne das Mädchen dabei in Gefahr zu bringen. Wenn er sie gefunden hatte wäre rauskommen leicht. Aber der Hinweg… Kaum befand sich Jack im Inneren der Bar, konnte man nicht einmal mehr die eigene Hand vor Augen sehen. Was ihm ironischer Weise dabei half, die Umgebung besser erkennen zu können. Vorsichtig tastete sich Jack voran, zwängte sich durch heruntergestürzte Steinwände und schob Hindernisse aus dem Weg, die nicht gleich das ganze eingestürzte Haus erneut zum Einsturz bringen würden. Nach einer Weile hörte auch er, was Susanne zuvor durch ihr verbessertes Gehör hatte wahrnehmen können. Ein leises, verängstigtes Schluchzen, etwa in der Mitte des Raumes. „… Risa?“, fragte Jack vorsichtig in die Dunkelheit. „W-wer ist da?“, fragte das kleine Mädchen mit zitternder Stimme. „Jack.“ Auch, wenn diese Information wahrscheinlich nicht sonderlich hilfreich war. Immerhin kannten sie sich eigentlich gar nicht. „Der, der das Hemd vorhin falschrum anhatte.“, versuchte er sich irgendwie näher zu beschreiben, während er durch einen weiteren Spalt hindurchkroch. Bloß nicht gegen die linke Seite kommen. Sicherheitshalber schirmte er diesen instabilen Bereich mit einer dünnen Erdwand ab. Er konnte immerhin manchmal ziemlich tollpatschig sein. Diese ‚Beschreibung‘ von ihm sorgte zumindest dazu, dass Risa schwach kicherte. „Du bist ein Freund von Carsten, oder?“ Jack hielt inne. War er das? Betrachtete Carsten ihn wirklich als Freund? Es war ein seltsames Gefühl. Genauso wie damals, als Benni ihn aufgefordert hatte seinen Spitznamen zu verwenden. Und dennoch formten sich Jacks Lippen automatisch zu einem Lächeln, als er antwortete: „Ja.“ Nach diesem Spalt bot sich ihm etwas mehr Platz. Genug, dass er gebeugt durch einen freien Raum kam, an dessen Ende… Jack biss die Zähne zusammen. Shit, das Mädchen hatte wirklich Glück im Unglück gehabt. „Okay, halt noch einen Moment durch. Wir holen dich da schon irgendwie raus.“ Ein gewaltiger Stein hielt sie unterhalb der Hüfte am Boden fest. Jack hoffte, dass zumindest Heilmagie dafür sorgen könnte, dass Risa danach noch im Stande wäre zu laufen. Ansonsten… Blöderweise war natürlich genau dieser beschissene Stein einer der stützenden Pfeiler, der dieses ganze instabile Konstrukt noch aufrechterhalten konnte. Würde Jack ihn wegbewegen, sei es auch nur ein kleines bisschen… „… Jack?“ Bei Risas verunsichertem Ton merkte er, wie sie mit den Fingern um sich tastete, als suche sie etwas. Oder eher jemanden. „Keine Angst, ich bin hier.“ Zögernd streckte Jack die Hand aus, sodass ihre Finger seine eigenen finden konnten. Belustigt stellte er fest, dass wohl auch Risa Linkshänderin war, während sie mit ebendieser Hand seine rechte ertastete. Fast schon so, als könne sie sich dadurch ein Bild von ihm machen. Allmählich ließ das Zittern ihres Körpers nach und während Jack sich den Kopf darüber zerbrach, wie er sie wohl am sichersten und wenigsten schmerzhaft da rausbekommen könnte, schaffte sie es sich überraschend schnell zu beruhigen. Ganz schön taff, die Kleine. Sie schien ziemlich viel wegstecken zu können. Jack seufzte. „Okay, ich hab ne Idee wie wir dich da raus bekommen. Aber das könnte ziemlich chaotisch und sehr, sehr laut werden. Bist du bereit?“  Er merkte, wie Risa nickte. „Alles klar.“ Um sie nicht zu erschrecken meinte er noch: „Ich pack‘ dich jetzt an den Armen, okay?“ Wieder nickte sie. Er nahm ihre Oberarme und spürte, wie sich Risas kleinen Hände an ihn festklammerten. „Wir zählen jetzt gemeinsam hoch und bei drei ziehe ich dich dort raus. Verstanden?“ Ein erneutes Nicken. Jack verlagerte sein Gewicht etwas und atmete tief durch. Wenn das mal nicht schief gehen würde. „Okay. Eins, …“ „… zwei, …“, stimmte Risa mit ein. „Drei“ Jack hob den Trümmerbrocken mit seiner Energie an und zog das Mädchen gleichzeitig zu sich. Direkt brach die Welt über ihren Köpfen zusammen. Ein ohrenbetäubendes Krachen und Poltern, als das Haus erneut zusammenstürzte. Staub und Erde trieben Jack die Tränen in die Augen, bevor er sie zusammenkneifen konnte. Und doch sorgte der Lärm für ein Pfeifen in seinen Ohren. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis alles verstummte und nur noch kleine Steinchen herunterrieselten. Schwer atmend und hustend verstärkte Jack den Griff um den zierlichen Körper des Mädchens. Sein Herz pochte wie wild, während er ganz langsam realisierte, dass die kleine Erdkuppel die er um sie erschaffen hatte, dem Einsturz hatte Stand halten können. „Alles okay?“, fragte er mit rauer Stimme, als sich sein Atem so halbwegs normalisiert hatte. Risa hatte ihr Gesicht in seiner Halsbeuge vergraben und nickte lediglich. Trotz all dem war sie immer noch erstaunlich ruhig, ruhiger als Jack selbst. Besorgt fragte er sich, ob sie wohl einen Schock davon bekommen hatte. Dennoch atmete er erleichtert auf. „Gut, dann bringen wir dich mal hier raus.“ Ihr begeistertes Nicken irritierte Jack umso mehr. Also doch kein Schock. Verdammt nochmal war die Kleine hart im Nehmen. Sie ließ ganz entspannt zu, dass Jack sie hochhob als er die Kuppel vergrößerte, um sich aufrichten zu können. Seine eigenen Knie zitterten dagegen immer noch wie Wackelpudding. Das war alles viel zu glatt gelaufen. Er traute dem Frieden nicht. Dieser Ruhe. Entsprechend kritisch war Jack, als er sich auf dem Weg nach draußen mit seiner Erd-Energie eine Höhle erschuf. Bei dem Krachen und Grollen erschrak Risa kurz, als die Trümmer woanders in sich zusammenfielen. Doch sie beruhigte sich sofort wieder, als sie merkte, dass Jack ungehindert seinen Weg fortsetzte. Das Licht der Sonne blendete ihn, als er schließlich den Ausgang erreichte. Doch da er Risa immer noch im Arm hielt, konnte er seine Augen nicht mit der Hand schützen. Im Prinzip weiterhin blind ging Jack mit Hilfe seines Tastsinns den Weg zurück, während verschiedenste Stimmen wild durcheinander redeten. „Risa!“ „Ist alles okay?“ „Bist du verletzt?“ „Ist alles in Ordnung mit dir?“ „Wie geht’s dir?“ Allmählich gewöhnten sich Jacks Augen wieder an das Licht und er trug das Mädchen direkt zu seiner Mutter. „So, da wären wir.“ Er wollte sie an Ituha geben, doch das kleine Äffchen klammerte sich viel zu sehr an ihn fest. Jack seufzte. „Endstation, die Reise ist vorbei.“ Auch das brachte nichts. Er musste feststellen, dass er Risa noch nicht einmal festhalten musste. So wie sie die Arme um Jacks Hals geschlungen hatte -was ihn halb erwürgte- konnte sie sich auch blendend von selbst halten. Belustigt legte die muskulöse Indigonerin eine Hand auf den Kopf ihrer Tochter. „Risa, lass den jungen Mann los. Er bekommt ja überhaupt keine Luft.“ Daraufhin vergrub sie ihr Gesicht aber nur noch mehr in Jacks Halsbeuge. Zumindest bis sie leicht verunsichert und schüchtern fragte: „Darf… darf ich mich zumindest bedanken?“ Kopfschüttelnd versuchte Jack erneut, die Klette von sich loszureißen. „Nicht nötig.“ Ituha wirkte leicht amüsiert, während Risas Griff noch fester wurde. „Bitte…“ Mann, hatte das Mädchen eine Kraft. Dabei war sie noch nicht einmal antik begabt. „Von mir aus, so lange du mich danach endlich los lässt…“, brachte Jack halb erdrosselt hervor. „Jippie!“, rief Risa erfreut und ehe sich Jack versah, drückte sie ihm auch schon einen Kuss auf die Wange. „Danke schön!“ Es war wohl keine Überraschung, dass Jack daraufhin nur noch leicht perplex mitbekam, wie sich Risa von ihrer Mutter aus seinen Armen nehmen ließ. Das war ihr Weg, sich zu bedanken? Er nahm am Rande wahr, wie sich Ituha bei Risa erkundigte ob alles in Ordnung sei, während Eagle bereits Carsten und Susanne dazu aufforderte, sich ihre Verletzungen anzuschauen. Susanne ließ sich dies nicht zweimal sagen, doch Carsten schien einen Moment zu brauchen, um zu realisieren, dass seine Hilfe benötigt wurde. Jack wuschelte sich durch die längere Seite der Haare, aus denen Staub und kleinere Steinchen rieselten und drehte sich zu den Trümmern der Trümmer um. Die Erd-Energie-Höhle wirkte absolut fehl am Platz und er konnte es immer noch nicht glauben, dass er und das Mädchen kurz davor tatsächlich lebend dort rausgekommen sind. Er merkte, wie Herr Bôss neben ihn trat. „Das war ein ziemlicher Schreck, nicht wahr?“ Jack nickte nur. Allmählich ließ die Anspannung nach und seine Beine beschlossen, ihn nicht länger halten zu wollen. Erschöpft sank er auf den Boden, wobei weder der linke noch der rechte Arm viel von seinem Gewicht stützen konnten. Wenn das so weiter ging, würden seine Verletzungen noch länger brauchen um zu verheilen als normalerweise. Herr Bôss kniete sich vor ihn und hielt ihm die Hand entgegen. „Darf ich mir das mal anschauen?“ Etwas zögernd reichte Jack ihm den rechten Arm, der im unteren Bereich leicht gerötet und geschwollen war. Vorsichtig nahm Herr Bôss seine Hand und hielt die andere über die Stelle mit dem gebrochenen Knochen. Eine helle, grünliche Aura leuchtete von seiner Handfläche auf, gleichzeitig fuhr ein ekelhaftes Kribbeln durch Jacks Arm, wie wenn man zu lange darauf gelegen hatte und er eingeschlafen war. Doch so widerlich das Gefühl auch war, er musste feststellen, dass der pochende Schmerz tatsächlich ein bisschen nachließ. Jack verzog leicht das Gesicht als der Direktor seinen Arm umdrehte, um auch die Innenseite heilen zu können. Er merkte, wie sich Herr Bôss für einen kurzen Moment verspannte als ihm die ganzen schmalen, hellen Streifen auf seinem Unterarm auffielen. Überreste von unzählig vielen Schnitten, als Jack in seiner schwersten Phase keinen anderen Ausweg mehr gefunden hatte als dem seelischen Schmerz mit körperlichem zu entfliehen. Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in Jacks Magen aus. Er fühlte sich gar so beschämt, dass er den Blick abwenden musste, in der Angst Herr Bôss ansonsten in die Augen zu schauen. „… Das bist nicht du.“, meinte dieser plötzlich. Jack war verwirrt. „Wie meinen Sie das?“ „Dieses Bild, was Mars dir zu vermitteln versucht. Das bist nicht du.“ Gedankenverloren betrachtete er die Gruppe, die sich um das achtjährige Mädchen versammelt hatte. Mars‘ Worte an jenem Abend bekam er immer noch nicht aus dem Kopf. „Weißt du, ich habe immer gedacht, dass wir uns ähnlich sind. Wo wir auch hingehen, Zerstörung und Leid ist unser steter Begleiter.“ Automatisch richtete sich sein Blick auf die zerstörte Bar. „Ich finde, es passt ziemlich gut.“ „Nein Valentin, er will doch, dass du genau das denkst.“, widersprach Herr Bôss ihm bestimmt. Von weiter entfernt hörte er Risas Stimme fragend rufen: „Valentin?!“ „So hieß ich früher mal.“, antwortete Jack nur. Risas blassblaue Augen begannen zu leuchten. „Das ist ja ein schöner Name! Darf ich dich auch so nennen?“ „Ähm… Wenn du magst…“ „Jippie!“, rief das kleine Mädchen erfreut. Er hörte Herr Bôss auflachen und auch Ituha wirkte amüsiert, als sie sich aufrichtete und ihre Tochter den beiden Heilern überließ, um zu Jack rüber zu kommen. Er fühlte sich etwas unwohl, als die muskulöse Indigonerin sich vor ihm aufbaute und das Gefühl wurde auch nicht besser, als er selbst sich schließlich aufrichtete. Indigoner waren im Durchschnitt halt größer als normale Menschen. Trotzdem war ihr Blick sanft, um nicht zu sagen liebevoll, als sie meinte: „Ich schulde dir was.“ Jack schüttelte den Kopf. „Nicht nötig.“ Immerhin war er für den ganzen Mist hier überhaupt verantwortlich. „So einfach kommst du mir nicht davon, junger Mann.“ Das klang eher nach einer Drohung als einem Dank. „Schließlich hast du meiner Tochter gerade das Leben gerettet.“ … Mit unverschämt viel Glück und nachdem ich sie überhaupt erst in diese Situation gebracht hatte. Aber so, wie die durchtrainierte Riesin die Hände in die Hüften gestemmt hatte, war sich Jack nicht sicher, ob er mit ihr darüber diskutieren wollte… Im Endeffekt würde sie sonst noch versuchen ihm die ‚Einsicht‘ einzuprügeln. Seufzend gab er sich geschlagen. „Wenn‘s sein muss… Dann gib mir nen Whisky aus, sobald die Bar wieder steht.“ Auf Ituhas kritischen Blick hin fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu: „Aber bloß nicht den billigen Standardkram. Ich bin extrem wählerisch.“ Bei diesem Kommentar hoben sich auch ihre Mundwinkel ein bisschen. „Ein Mann von Kultur, wie ich sehe. Ich nehme dich beim Wort, Junge. Sobald die Bar wieder steht.“ „Kommt Valentin uns dann häufiger besuchen?!“, fragte Risa begeistert. „Wer weiß? Vielleicht tut er das.“ Ituha warf einen belustigten Seitenblick auf Jack, welcher seufzend den Kopf schüttelte. „Oh jaaa, bitte! Ich wollte schon immer einen großen Bruder haben!“ Zum ersten Mal schaute Risa ihm direkt in die Augen. Bei ihrem Lachen entwich Jack der Atem. „Was soll das denn heißen?! Hängst du lieber mit Jack rum als mit Carsten oder mir?“, empörte sich Eagle und schien tatsächlich ein bisschen beleidigt. Risa zuckte mit den Schultern. „Ich mag Valentin halt, er ist witzig.“ Kritisch verschränkte Anne die Arme vor der Brust. „Wie kann sie jetzt schon wieder so munter sein, obwohl sie immer noch verletzt und vor wenigen Minuten erst knapp dem Tod entronnen ist?“ Die Indigonerin lachte auf. „Dieses beeindruckende Durchhaltevermögen hatte sie schon immer. … Und diesen Starrsinn.“ Ebenso amüsiert wuschelte Herr Bôss Jack durch die Haare. „Da kenne ich noch jemanden.“ Jack bekam keine Luft. Irgendetwas zerquetschte sein Herz, so schmerzhaft, dass er sich krümmen musste, während er gepresst versuchte einzuatmen. Besorgt legte Herr Bôss eine Hand auf seine unverwundete Schulter. „Valentin? Ist alles in Ordnung?“ Er konnte nicht antworten. Er konnte nicht atmen. Nur eine einzige, schwache Frage brachte er über die Lippen. „Ituha… Ist… ist Risa deine leibliche Tochter?“ Die Indigonerin war verwirrt. „Nein, ich habe sie adoptiert. Davor war sie in einem Kinderheim in Rolexa.“ Er spürte ein Brennen in seinen Augen, die salzigen Tränen machten es umso schlimmer. Lissis Stimme war leise, klang vorsichtig und sanft und doch konnte sie die Härte nicht aus den Worten herausnehmen. „Ihr seht euch ziemlich ähnlich, denkst du nicht auch?“ Jack war kurz davor sich zu übergeben. Einzig die Tatsache, dass er noch nichts im Magen hatte, bewahrte ihn davor. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Laura verstand die Andeutung. „Moment einmal, Lissi, willst du damit sagen Risa ist…“ Jack biss die Zähne zusammen und zwang sich dazu, sich aufzurichten, obwohl ihn alles zu Boden reißen wollte. „Nein.“ Lissi betrachtete ihn mitfühlend. „Aber Jack…“ Er schüttelte den Kopf. „Sie ist Ituhas Tochter, schon vergessen? Sie lebt hier in Indigo.“ Er wandte sich an Ituha, senkte die Stimme, in der Hoffnung, dass Risa ihn nicht würde hören können. „Sie hat dieses Leben. Ein Leben, was ich mir immer gewünscht habe. Das will ich ihr nicht wegnehmen.“ „Du nimmst es ihr nicht weg.“, erwiderte die Indigonerin genauso leise. Sie ging einen Schritt auf Jack zu, doch er wich zurück. „Sollte sie sich jemals auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern machen, kannst du sie zu mir schicken. Dann erzähle ich ihr, was passiert ist. Aber ansonsten… Lass sie im Segen der Unwissenheit.“ „Valentin…“, setzte Herr Bôss an, doch Jack schüttelte ihn ab, brachte Abstand zwischen sich und dem Rest. Nur durch den angespannten Kiefer schaffte Jack es, das Schluchzen zu unterdrücken. „Sie muss nicht wissen, wie abgefuckt diese Familie ist.“ Er wandte sich ab, meinte auf die ganzen besorgten Äußerungen nur noch: „Die anderen auf der Sitzung fragen sich garantiert schon wo wir bleiben.“ Er war froh, dass niemand Anstalten machte ihm zu folgen. Er brauchte diesen Moment für sich. Diese paar Minuten, um seine Gedanken zu sammeln. Um zu verarbeiten. Immer noch hatte er Risas Lachen vor Augen. Dieses Lachen hatte irgendetwas Ansteckendes. Es wirkte so heiter und sorglos. Dasselbe Lachen, was ihn auch damals zum Lächeln gebracht hatte. Was ihm Mut gemacht hatte. Was ihm die Kraft gegeben hatte all das zu ertragen, was sie ihm in dieser Anstalt angetan hatten. Jacks Griff um seinen rechten Arm verstärkte sich. Da war wieder dieser Drang, der Wunsch, den Schmerz in seiner Seele irgendwie anders rauszulassen. Ihm irgendwie Herr werden zu können, obwohl er wusste, dass dieser Weg der falsche war. Und trotzdem, trotz dieser lähmenden Qualen, obwohl er die Tränen nicht mehr unterdrücken konnte, hatte er immer noch dieses Lachen vor seinen Augen. Heiter und sorglos. Bedrückt lächelte Jack. Und ließ seinen Arm wieder los. Kapitel 93: Kartenhäuser ------------------------ Kartenhäuser       Mitfühlend schaute Lissi ihm hinterher, dem attraktiven Typen mit den hübschen grünen Augen, dessen Narben nur von wenigen Schichten Stoff und Leder verdeckt wurden. Es war eindeutig, was Mars mit seinem Angriff bezweckt hatte. Besonders … Lissis Blick fiel auf Carsten, der sich zwar gemeinsam mit ihrem Schwesterherz um Risas Verletzungen kümmerte, dabei aber extrem abwesend wirkte. Er war für sie schon immer wie ein Kartenhaus gewesen. Ein Luftzug, eine schwache Erschütterung, und es würde einstürzen. Alles, was er sich die letzten Monate mit Vorsicht aufgebaut hatte, sein ganzer Weg zurück ins Leben nach der grausamen Zeit im FESJ, war viel zu instabil. Und nun, genauso wie Mars mit dem Beben Ituhas Bar zerstört hatte, ebenso war jetzt auch dieses Kartenhaus in sich zusammengefallen. Unter diesen Bedingungen würde er dem Dämon niemals in einem Kampf gegenüberstehen können. Und ob er dazu in der Lage wäre den Zauber zu sprechen… „Sollten wir ihm nicht lieber folgen?“, hörte sie Laura verunsichert fragen. „Immerhin… Bevor er… Wie neulich, meine ich.“ Lissi schüttelte den Kopf und schaute erneut zu Jack. „Lass ihm etwas Zeit für sich, Lauch. Er kommt schon klar.“ Laura wirkte nicht sonderlich überzeugt und sie es konnte ihr nicht übelnehmen. Gerade nach dem Vorfall vorgestern, wo er wirklich die Absicht hatte sich umzubringen, war die Angst einfach zu groß, dass er sich tatsächlich etwas antun könnte. Aber nicht Jack. Nicht mehr, zumindest. Er wusste, wie instabil sein eigenes Kartenhaus war. Und meistens wusste er auch, wie er es vor Erschütterungen beschützen und notfalls wiederaufbauen konnte. Lissi konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie sah, wie Jackie-Chan seinen rechten Arm wieder losließ, den er zuvor verkrampft gehalten hatte. Obwohl sie sich eigentlich sicher war, dass er einen sehr starken Charakter hatte, war sie erleichtert. Dennoch gab es diesen einen anderen, der ihr viel mehr Sorgen bereitete. Der nicht wusste, wie er sein Kartenhaus nun wiederaufbauen sollte. „BaNane, ich glaube, Cärstchen muss mal ganz dolle geknuddelt werden.“, meinte Lissi mit ihrer Singsang-Stimme an Ariane gewandt. Doch statt BaNane, stöhnte Banani auf. „Lissi, ernsthaft, benutze wieder den anderen Spitznamen. Bitte.“ Einige von ihnen lachten schwach auf und auch Lissi kicherte amüsiert. „Hast du dich schon wieder angesprochen gefühlt, Banani? Du kannst Cärstchen natürlich auch gerne kuscheln, aber ich glaube, über BaNanes Liebe würde er sich doch ein bisschen mehr freuen.“ „Pass auf, dass du nicht gleich meine Liebe zu spüren bekommst.“, grummelte Anne. Lissi warf ihr einen belustigten und auch leicht herausfordernden Blick zu, doch da fragte Janine plötzlich: „Wie geht es Risa?“ Anscheinend waren die beiden Heiler inzwischen fertig. Zumindest kamen Susi, Cärstchen und auch Eagle-Beagle mit Risa auf dem Arm zu ihnen rüber. „Sie hatte wohl extrem viel Glück im Unglück.“, meinte Eagle-Beagle zerknirscht und gab das kleine Mädchen an ihre Adoptivmutter. Lissis Schwesterherz nickte. „Wir konnten ihre Verletzungen gut genug behandeln, sodass bleibende Schäden sehr unwahrscheinlich sind. Aber es wird leider trotzdem etwas dauern, bis sie wieder laufen kann.“ „Und immer noch ist das ein deutlich besserer Ausgang als man sich vorstellen kann.“, erwiderte Ituha und küsste ihre Ziehtochter auf die Wange, woraufhin Risa kicherte. Özi-dösi seufzte. „Trotzdem…“ Ihr Blick fiel auf das eingestürzte Haus, was sie viel zu sehr an den Anblick ihrer Heimat erinnerte. Natürlich wusste Ituha, was vor wenigen Tagen erst in Monde vorgefallen ist. Sie klopfte ihr auf die Schulter. „Häuser lassen sich wiederaufbauen. Viel wichtiger ist doch, dass alle gesund sind, nicht wahr?“ Dösi nickte. „Ja, natürlich…“ Auch über ihre Gewissensbisse schien Ituha bestens informiert. Ihr Griff um Öznurs Schulter verstärkte sich. „Und dass man sich Vorwürfe macht, wie viel Glück man selbst im Vergleich zu anderen hat, wird der Bedeutung von Glück alles andere als gerecht. Findest du nicht auch?“ Traurig lächelte sie. „Du hast ja recht…“ „Hab ich immer.“ Ohne etwas zu sehen, blickte Risa in der Runde herum. „Ist Valentin schon gegangen?“ „Ja, er wollte schon einmal auf der Sitzung bescheid sagen, warum wir uns verspäten.“, meinte Lissi unverzüglich. Beagle verdrehte die Augen. „Die paar Minuten hätte der Sack auch noch warten können.“ Im Gegensatz zu den Brüdern hatte Lissis Schwesterherz das Gespräch durch ihr verbessertes Gehör mitbekommen und meinte ausweichend: „Wir sollten uns auch so langsam auf den Weg machen, findet ihr nicht auch? Vielleicht können wir ihn sogar noch einholen.“ Auch Ituha befürwortete dieses Vorhaben. Nicht zuletzt aus dem Grund, da sie Risa ins Krankenhaus bringen wollte, um sie so schnell wie möglich richtig behandeln zu lassen. Nach einem kurzen Abschied, wo das süße Mädchen den beiden Heilern und Eagle-Beagle zum Dank nochmal ein Küsschen auf die Wange gab, machte sich somit auch der Rest auf den Weg. Zufrieden beobachtete Lissi, wie BaNane ziemlich nahe neben Cärstchen lief, während sie ihm und Eagle-Beagle erklärte, warum Jackie-Chan schon vorgegangen war. Die Brüder schienen wirklich nichts mitbekommen zu haben und reagierten entsprechend überrascht. „Risa ist was?!“, fragte Eagle-Beagle ungläubig. Obwohl Mutter und Tochter inzwischen außer Hörweite waren, hielt Ariane warnend den Zeigefinger vor die Lippen. „Seine Schwester. Aber nach dieser ganzen Geschichte, da hält er es für besser, wenn sie gar nicht erst auf die Idee kommt, nach ihren leiblichen Eltern suchen zu wollen.“ Immer noch nicht in der Lage das zu glauben verschränkte Eagle-Beagle kopfschüttelnd die Arme vor der Brust. „Das kann nicht sein, das ist ein viel zu großer Zufall.“ Florian atmete aus. „Zufall hin oder her, nachdem, was schon alles passiert ist…“ Anne nickte. „Er wird definitiv wieder sich selbst die Schuld dafür geben, dass sie fast gestorben wäre. Wie bei allem anderen auch.“ „Ja, es ist eindeutig, was Mars damit beabsichtigt hat…“ Fröstelnd rieb sich Laura die Oberarme bei der Erinnerung an die Konfrontation mit jenem Monster, was ihr einfach so ihren Benni weggenommen hatte. „Denkt ihr, er wusste es?“, erkundigte sich Jannik. „Dass die beiden Geschwister sind, meine ich.“ „Überraschend wäre es zumindest nicht.“, meinte Konrad nur und zog sich die Kapuze seines Umhangs noch tiefer ins Gesicht, um besser vor den Sonnenstrahlen geschützt zu sein. „Mars hat viele Kontakte und ich kann mir gut vorstellen, dass er auch entsprechend viel in Erfahrung bringen ließ, als er Jack aufgenommen hat.“ „… Um dieses Wissen notfalls gegen ihn verwenden zu können.“ Bedrückt atmete Florian aus. „Wenn man daran denkt, was er Benni angetan hat, um ein wirkungsvolles Druckmittel gegen ihn zu haben, ergibt das durchaus Sinn.“ „Unser Volk spricht immer, wenn man wirklich verletzen verlangt, dann greift man den Geist an, nicht den Körper.“, erklärte die kleine Kito. „Da ist was Wahres dran.“, gab Eagle ihr verbissen recht. Fast gleichzeitig fiel der Blick von jedem auf Carsten, welcher jedoch gar nicht reagierte. Selbst wenn Mars es nicht geschafft hatte ihn körperlich zu attackieren, der psychische Angriff war ihm umso besser gelungen… „Jackie-Chaaaan!“, rief Lissi erfreut und rannte auf den hübschen Typen zu, der mit den Händen in den Taschen an der Fassade lehnte. Tatsächlich hatte er vor dem Regierungsgebäude auf sie gewartet. Doch da Jack direkt, wenn auch versucht unbemerkt, eine Abwehrhaltung einnahm, fiel Lissi ihm lieber nicht um den Hals und winkte ihm nur fröhlich zu. „Hättest die anderen ja zumindest informieren können, warum wir zu spät sind.“, beschwerte sich Eagle, nicht sonderlich mitleidsvoll dafür, was sie ihm zuvor berichtet hatten. „Wollte ich.“, erwiderte Jack tonlos und kam ihnen ein bisschen entgegen. „Dann fiel mir ein, dass es wohl ne blöde Idee wäre, wenn ausgerechnet ich alleine in einen Raum voller Regierungsmitglieder gehe.“ Schnaubend ging Eagle auf das Gebäude zu und stieß ihn beim Vorbeigehen unfreundlich zur Seite.   Natürlich durften sie sich beim Betreten des Konferenzraumes erst einmal anhören, dass es eine Unverschämtheit wäre sich so zu verspäten. Viele der Regions-Vertreter sahen nun mal im Großteil von ihnen immer noch nichts Anderes als eine Horde dummer Schulkinder. Doch zum Glück gab es auch andere, die sich direkt erkundigten ob was vorgefallen sei. Und bei allen war der Schock groß, als sie von der Konfrontation mit Mars erfuhren. Der Senatsvorstand verschränkte die Arme vor der Brust. „Dass er sich euch so offen zeigt… Da muss er sich wirklich sicher gewesen sein, dass ihr ihn nicht werdet bekämpfen können.“ Bedrückt atmete Bennis Papa aus. „Ist das so überraschend?“ Nein, natürlich war es das nicht. Obwohl Jackie-Chan ihnen inzwischen sogar schon erzählt hatte, was genau in der ‚tiefsten Schlucht der Unterwelt‘ passiert war, war bisher niemand darauf vorbereitet gewesen. Und noch nicht einmal jetzt, nachdem sie gesehen hatten, dass Benni nicht mehr er selbst war, konnte Lissi der Wahrheit ins Auge zu blicken. Sie wollte es einfach nicht wahrhaben. Es ging nicht. Die Vertreterin von Lumière schnaubte. „Diesen provokativen Auftritt kann man fast als Kriegserklärung verstehen.“ „Dann ist es umso besser, dass wir ab dem heutigen Sonnenuntergang an jedem Ort wo sich ein Spalt befindet Späher haben, die bei einem Angriff der Unterweltler die Truppen kontaktieren können.“, stellte der Vertreter von Cor fest. Der von Eau schüttelte den Kopf. „Und trotzdem sind wir nicht gut genug vorbereitet, sollte es zu einem Krieg kommen. Der Tsunami gestern an den Küsten von Eau hat viele Opfer gefordert. Die breite Bevölkerung betrachtet die ganzen Naturkatastrophen immer mehr als Rachefeldzug der Dämonen und entsprechend unruhig werden sie.“ „… Sodass wir noch nicht einmal die Möglichkeit bekommen, ihnen helfen zu können.“, stellte Banani verbissen fest. Konrad seufzte. „Nicht über diesen direkten Weg zumindest, das stimmt. Es ist und bleibt am sinnvollsten, so schnell wie möglich die Wurzel allen Übels zu beseitigen.“ „Schon, aber…“ Nahezu automatisch fiel Susis Blick wieder auf Cärstchen, ebenso wie der vom Rest. Und wieder schien er noch nicht einmal zu merken, dass alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war. Jackie-Chan schaute von seinem Smartphone auf. „Gibt es wirklich keinen anderen außer Carsten, der diesen albernen Zauber fertig schreiben kann?“ Viele aus der Gruppe waren für einen kurzen Moment irritiert, doch dann verstand BaNane, wo das Problem lag. „Der Zauber ist schon längst fertig, Jack.“ Er legte die Stirn in Falten. „Seit wann denn das?“ „Seit dem Tag, an dem die Akademie angegriffen wurde.“, erklärte Susi, „Entschuldige, wir haben wohl vergessen dich einzuweihen.“ Geräuschvoll atmete Jackie-Chan aus. „Okay, mal ne ganz unverbindliche Frage: Seid ihr eigentlich absolut bescheuert?“ „Jetzt stell dich nicht so an.“, erwiderte Banani seinen vorwurfsvollen Ton gereizt. „Du brauchst dich nicht zu wundern, warum ausgerechnet du nichts von so einer vertraulichen Information wusstest.“ „Darum geht es doch gar nicht. Ihr habt seit einer Woche schon diesen verdammten Zauber fertig und sitzt immer noch hier rum und dreht Däumchen?“ „Was sollen wir denn anderes tun?!“ Verärgert war Ninie aufgesprungen und funkelte ihn an. „Müssen wir dich daran erinnern, wer die ersten drei Tage nicht bei Bewusstsein war?! Und wer der Hauptgrund ist, warum dieses Gesetz beinahe nicht unterzeichnet wurde?! Und wer für den Zwietracht in unserer Gruppe verantwortlich ist?!“ Jack erwiderte ihren Blick und war verletzter als er es sich anmerken ließ. Aber bevor er etwas dazu sagen konnte, meinte Florian: „Wir hatten doch schon die Diskussion und sich schon wieder deshalb zu streiten bringt uns alles andere als voran. Tatsache ist, dass wir durch Jacks Verletzungen nicht direkt in Aktion treten konnten. Aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass wir mit jeder weiteren Sitzung kostbare Zeit verlieren, in welcher wir uns schon auf den Weg zu Mars hätten machen können.“ „Aber wir wissen doch noch nicht einmal, wo er ist!“, rief Özi-dösi frustriert aus. Mit einem Fingerschnipsen meldete sich Johannes und wippte auf seinem Stuhl rum. „Ich weiß es, ich weiß es! Er ist in seinem Grusel-Schloss mit den ganzen Halloween-Monstern und dem Abenteuer-Kerker!“ Eagle-Beagle betrachtete ihn kritisch. „Du bist ganz schön munter dafür, dass du selbst in so einem Kerker gefangen gehalten wurdest.“ BaNane senkte den Blick. „Kommt, wir sollten ehrlich zu uns sein. Selbst wenn Mars sich wirklich dort aufhält… Wir wissen alle, warum wir uns bisher nicht getraut haben ihn anzugreifen.“ Bedrückt musste Konrad ihr recht geben. „Wir wissen einfach immer noch nicht, wie wir Benni mit Sicherheit retten können…“ Nach und nach kam von den anderen ein bestätigendes Nicken und selbst Banani und Eagle-Beagle fühlten sich alles andere als wohl bei dem Gedanken, dass sie für Bennis Tod verantwortlich sein könnten. Missbilligend verschränkte die Vertreterin von Lumière die Arme vor der Brust. „Das Leben aller Bewohner Damons steht auf dem Spiel und Sie zögern immer noch wegen dieses Jungen, dem ohnehin nicht mehr zu helfen ist?“ Natürlich trafen diese Worte viele aus ihrer Gruppe hart. Allen voran Lauch, die sich auf die Unterlippe biss, um krampfhaft die Tränen zurückzuhalten. „Er ist nun mal unser Freund!“, rief Özi verärgert. „Und für manche sogar viel mehr als das!“ Jannik seufzte. „Und doch finden wir keinen anderen Weg Mars aus seinem Körper zu jagen, als…“ „Das stimmt.“, bestätigte Flo deprimiert. „Selbst wenn Susannes Fähigkeiten ihn heilen können, ist es immer noch ein Tanz auf dem Vulkan. Eine lebensbedrohliche Verletzung, woraufhin Mars ihn verlässt, die ihn aber nicht sofort umbringt… Selbst wenn wir uns nicht in einem Kampf befinden würden, wäre das unsagbar schwer umsetzbar.“ Jackie-Chan spielte gedankenverloren mit dem Piercing an seiner linken Augenbraue. „Wir bräuchten also jemanden, der stark genug ist, um gegen Mars kämpfen zu können, der die nötige Präzision besitzt, einen Angriff tödlich wirken aber nicht sofort tödlich sein zu lassen und der über ausreichend medizinische Kenntnisse verfügt, um genau zu wissen, wo er überhaupt zuschlagen muss.“ Banani stöhnte auf. „Wer zum Henker sollte alle diese Punkte-“ Sie brach ab. Gleichzeitig mit Anne realisierte auch der Rest, dass es tatsächlich jemanden gab, auf den alle diese Punkte zutrafen. Und dieses Mal merkte dieser Jemand, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Carstens Gesicht hatte jegliche Farbe verloren, seine Stimme jegliche Kraft. „Ihr wollt was?“ „Du bist der einzige, der reelle Chancen hat, Carsten.“, meinte Jack verbissen. Anne nickte. „Als Bennis langjähriger Trainingspartner kennst du seinen Kampfstil am besten.“ „Deine Angriffe sind extrem zielsicher. Man hatte bei den Kämpfen gegen dich nie die Angst, versehentlich verletzt zu werden.“, bestätigte Janine den zweiten Punkt. Susi lächelte traurig. „Und als Arzt kannst du bestens einschätzen, welcher Schwachpunkt der richtige ist.“ Wie gelähmt betrachtete Carsten sie. Das Kartenhaus eingestürzt, den Kampfgeist verloren. „Das… das kann ich nicht…“ Bedrückt atmete Konrad aus. „Wenn du es nicht kannst, dann niemand… Selbst wenn wir alle zusammen gegen Mars kämpfen werden, muss es einen geben, der den finalen Schlag ausführt.“ „Und Jack hat recht, in diesem Moment brauchen wir alle drei Punkte in einer Person vereint. Stärke, Präzision und Wissen.“ Florian dachte laut nach. „Ariane und Laura hätten mit Licht und Finsternis noch am meisten Kraft dem Herrscher der Zerstörung die Stirn zu bieten, doch sie werden es nicht schaffen Benni in einen Zustand zwischen Leben und Tod zu bringen. Dies gilt auch für die Lebenskräfte von Konrad, Susanne und Janine. In allen Fällen hätten wir ganz oder gar nicht.“ Konrad nickte. „Leider. Die Herrscher der Naturelemente und abgewandelten Naturelemente hätten da bessere Chancen, doch spätestens beim Wissen scheitert es auch hier.“ Das stimmte, bis auf Cärstchen und Susi kam Lissi niemand in den Sinn, der über ausreichend medizinische Kenntnis für so etwas verfügen könnte. „Nein…“, widersprach Carsten schwach. Er wollte das nicht. Er konnte das nicht. Anne biss die Zähne zusammen. „Sieh es ein. Du bist der Einzige, der so einen Angriff erfolgreich ausführen kann.“ „Nein!“ Er war aufgesprungen und stolperte mehrere Schritte zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Er wollte fliehen, weglaufen. Und doch konnte er es nicht. „Carsten…“ Vorsichtig ging Laura einen Schritt auf ihn zu, aber Carsten wirkte so zurückgedrängt, zitterte so sehr, dass sie sich nicht näher traute. Sie wollte ihm nicht noch mehr Angst machen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Vor Panik überschlug sich seine Stimme. „Wie könnt ihr so etwas von mir verlangen?! Wie könnt ihr verlangen, das Leben meines besten Freundes aufs Spiel zu setzen?!“ „Das verlangen wir doch gar nicht!“, widersprach Laura verzweifelt. „Aber außer dir-“ „Ich kann das nicht!!!“ Es war wie eine Explosion. Irgendeine Macht, die diesen Schrei zu einer Druckwelle werden ließ. Die sie alle zurückstieß. Weg von ihm. Gegenstände wurden von Möbeln geworfen, Fensterscheiben zersplitterten. Instinktiv hielt Lissi ihre Schwester fest und kniff die Augen zusammen. Auch ohne zu sehen, konnte sie es riechen. Das Blut, das auf den indigoblauen Teppich tropfte, als sich die Fingernägel etwas zu sehr ins Fleisch schnitten. „Doch, du kannst das!“, widersprach Laura ihm bestimmt. Sie hatte sich noch rechtzeitig mit ihrer Finsternis-Energie schützen können. Wurde als einzige nicht zurückgestoßen. Lissi verstärkte ihren Griff um Susanne, zog sie noch näher an sich. Die Bluttropfen zu Carstens Füßen begannen sich zu bewegen, nahmen irgendeine Form an. Fast so, als würde er- Plötzlich waren sie weg. Gleichzeitig spürte Lissi Blut-Energie von der anderen Seite des Tisches. „Reiß dich zusammen, Carsten.“, wies Konrad ihn ruhig an. „Lass dich nicht davon besiegen.“ „Ich kann nicht…“ Carstens Körperhaltung verspannte sich noch mehr. Er kniff die Augen zusammen, seine Stimme war kaum hörbar. „Ich habe schon längst verloren…“  „Nur, wenn du aufhörst zu kämpfen.“ Nach einem kurzen Zögern richtete sich auch Ariane auf und trat neben Laura. „Wehr dich.“ „Ich sagte doch schon, dass ich das nicht kann!“ „Gib nicht auf Carsten, bitte! Du musst weiterkämpfen!“, schrie Laura unter Tränen. „Ich kann nicht!!!“ Eine weitere Druckwelle. Doch dieses Mal breitete sich schlagartig eine schwarze Atmosphäre aus, ehe sie irgendjemanden erreichen konnte. „Hör auf damit… Bitte…“ Schluchzend biss Laura die Zähne zusammen, ihr Körper zitterte genauso wie Carstens eigener. Würde sie hier und jetzt gegen ihn kämpfen müssen? Gegen ihn und die schwarze Magie? Gab es denn keinen Weg, ihn aus diesem Kreislauf zu retten? „Doch Carsten, du kannst das.“, widersprach Ariane ihm ruhig. Sie tauschte einen kurzen Blick mit ihrer besten Freundin aus und wagte sich einen weiteren Schritt vor. Und noch einen, bis sie nahe genug war, um vorsichtig die Hand nach Carsten ausstrecken zu können. Doch dieser war so in seiner Panik gefangen, dass er unvermittelt zurückzuckte. Sein zitternder Atem ging schnell und flach, sodass Lissi die Sorge bekam, er könnte hyperventilieren. Zum Glück schaffte es Ariane die Ruhe zu bewahren und sich nicht von ihren eigenen Gefühlen übermannen zu lassen. „Carsten, dieser Kampf, dieser… Angriff, den du ausführen sollst. Das ist doch im Prinzip nichts anderes als eine Operation. Und Mars ist der Tumor, der entfernt werden muss. Und da sagst du, du kannst das nicht?“ Endlich schaffte er es ihren Blick zu erwidern. Er wirkte gejagt, in die Enge getrieben. Eingekesselt von einem Rudel Wölfe. „Wie… wie kannst du das mit so etwas vergleichen?“ „Weil es genau so etwas ist.“, erwiderte Ariane ruhig. „Stell dir mal vor wir könnten Benni jetzt fragen. Was denkst du? Wem würde er sein Leben anvertrauen wollen?“ Verbittert lachte Carsten auf. Verbittert, verzweifelt, jegliche Kraft verloren, die er einst hatte. „Wir können Benni nicht fragen. Nicht mehr. Er… er ist…“ Er schluchzte. „Er ist nicht mehr da…“ Carsten kniff die Augen zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Versuchte das Beben seiner Unterlippe zu verhindern, indem er darauf biss. Und doch waren es die Gefühle, die ihn unter Kontrolle hatten und nicht umgekehrt. Auch aus Lauras Augen stahlen sich weiterhin Tränen. „So ein Unsinn, Carsten! Du kennst Benni! Als würde er sich so leicht geschlagen geben! Er ist immer noch hier, er kämpft immer noch!“ „Wie kannst du so etwas überhaupt noch glauben?!“ „Ich weiß es!“ Schluchzend und doch entschlossen schaute sie ihm in die Augen. „Ich weiß es…“ Jack verstand ihre Andeutung. „Dieses Zögern von Mars als er dich angegriffen hatte… Das war also wirklich keine Einbildung.“ Laura schüttelte den Kopf und obwohl immer mehr Tränen über ihre Wangen liefen, musste sie lächeln. Traurig und doch hoffnungsvoll. „In dem Moment… Das war nicht Mars.“ Ihre Stimme war sanft, die Liebe nicht zu überhören, als sie schließlich meinte: „Das war Benni.“ „Bist- bist du dir da wirklich sicher?“, fragte Konrad ungläubig. Sie nickte und erwiderte weiterhin Carstens verzweifelten Blick. „Ganz sicher.“ Nur ein kleiner Teil dessen kam jedoch bei ihm an. Irgendetwas verhinderte immer noch, dass diese Hoffnung auch Carsten erreichte. Eine Macht, die ihn gefangen hielt. Der er nicht entkommen konnte. Oder zumindest nur sehr schwer. Inzwischen war die Panik weitgehend abgeschwächt, sodass Ariane behutsam seine Wange berühren konnte. „Wenn selbst Benni nach alldem immer noch nicht aufgegeben hat… Was denkst du, ist der Grund dafür?“ Carsten wich ihrem Blick aus, aber sie ließ den Zweifeln keinen Raum. „Er glaubt an dich, Carsten. Er glaubt an uns alle. Dass wir das schaffen. Deshalb kämpft er. Deshalb kann er sich immer noch wehren.“ Susi lächelte traurig. „Deine Selbstzweifel sind hinfällig.“ Auch auf Jacks Lippen breitete sich ein schwaches Lächeln aus als er fragte: „Wozu bist du Magier?“ Plötzlich sackte Carsten auf die Knie und so wie er in Tränen ausbrach, war es eindeutig, dass die beiden ihre Worte nicht per Zufall so gewählt hatten. Ariane kniete sich neben ihn und legte vorsichtig eine Hand auf seinen Rücken. Eine Geste des Trostes und doch wünschte sich Lissi, dass es mehr als nur das wäre. Dass die Schüchternheit und Unsicherheit der beiden nicht genau jetzt diese Mauer zwischen ihnen aufbaute. Und tatsächlich, nach einem weiteren Zögern zog sie ihn in eine sanfte Umarmung. „Du kannst das.“ Schluchzend vergrub Carsten sein Gesicht in ihrer Schulter und klammerte sich an ihren dunkelroten Pulli. Doch so erleichtert Lissi auch war, dass sich die Sache vorerst geklärt hatte, es war immer noch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Gerade jetzt, wo er sogar schon unbewusst schwarze Magie wirkte… Lissi wandte sich ab, um Carsten und seine aufgebrachten Gefühle Ariane zu überlassen. Ebenso ihr Schwesterherz, die einen fragenden Blick auf Jackie-Chan warf. „Wozu bist du Magier?“ „Als wir damals beide… dort waren, hatte ich ein Telefonat zwischen ihm und Benni mitbekommen. Carsten hat früher sehr viel einfach nur über sich ergehen lassen und sich nicht dagegen gewehrt. Und Benni hatte ihm da anscheinend so ein bisschen die Leviten gelesen.“, erklärte er. Laura nickte und warf einen traurigen Seitenblick auf ihren besten Freund. „Er erwähnte mal, dass er früher alles getan hatte, um einen Streit zu vermeiden.“ „Ich erinnere mich, da hatte er gemeint, dass du ihn damals so ein bisschen in Schutz genommen hast. Stimmt das, Jack?“, fiel Özi wieder ein, was Carsten ihnen einst erzählt hatte. Eagle schien kritisch. „Inwiefern?“ Geräuschvoll atmete Jack aus. „Ihr müsstet doch inzwischen eine Vorstellung davon haben, was dort vor sich geht.“ Betroffen senkten viele von ihnen den Blick und nickten. Zerknirscht strich sich Lissi eine Strähne hinters Ohr. Sie konnte den anderen nicht übelnehmen, dass sie ursprünglich so harmlose Vorstellungen von dem FESJ hatten. Irgendwie hatte man ja doch immer diese Hoffnung, dass die Menschen nicht so böse waren wie befürchtet. Sie warf einen Seitenblick auf Jack. Außer natürlich, man kannte sie bereits von ihrer grausamsten Seite. Der König von Ivory verschränkte die Arme vor der Brust und schaute zu Carsten und Ariane. „Florian hat durchaus recht, jeder weitere Sitzungstag hindert euch daran, den Angriff gegen Mars auszuführend. Doch wann denkt ihr…“ „Die wichtigsten organisatorischen Punkte sind eigentlich abgehandelt.“, sinnierte Konrad, „Und über Jack haben wir viele nützliche Insider-Informationen erhalten, um auf mögliche Angriffe reagieren zu können.“ „Also können wir dem Arsch doch nun ein für alle Mal ein Ende bereiten.“, meinte Eagle und richtete sich auf. „Der Zauber ist fertig, das Gesetz für den Schutz der Dämonenbesitzer ist unterzeichnet, die Truppen zur Verteidigung Damons stehen und selbst zu den Rebellen von Mur hat Janine Kontakt herstellen können. Das einzige was noch fehlt ist, dass wir endlich in Aktion treten.“ Florian seufzte. „Wir können doch nicht einfach so kopflos in sein Hauptquartier einmarschieren.“ „Wieso eigentlich nicht?“, fragte Jack schulterzuckend. „Pläne werden ohnehin immer durchkreuzt und je länger wir warten, desto wahrscheinlicher ist es, dass Mars auf den Angriff von uns vorbereitet ist.“ „Stimmt, zumal er vermutlich noch nicht einmal weiß, dass der Zauber fertig ist und denkt, er hätte uns mit seinem Auftauchen vorhin genug Steine in den Weg gelegt.“, bestätigte Banani. Susi seufzte. „Aber…“ „… So ganz weggeräumt sind diese Steine leider trotzdem nicht.“, beendete Lissi ihren Satz. Bedrückt schaute sie zu Carsten rüber, dessen Schluchzen zwar inzwischen an Kraft verloren hatte, doch gleichzeitig hatte auch er selbst keine Kraft mehr. Es war das, was sie all die Zeit befürchtet hatte. All die Aufgaben die Cärstchen übernommen hatte, die Verantwortung die auf seinen Schultern lastete, all das begrub ihn letztlich unter sich. Genau dann, wenn es darauf ankam, brach er zusammen. Ausgerechnet jetzt. Ariane hatte das Gespräch mit halbem Ohr mitbekommen und verstärkte ihren Griff um Carstens Schultern. „Aber wie sollen wir…“ „Durch Warten werden die Steine nicht weniger.“, meinte Eagle verbissen. „Eher noch mehr.“ Wie als wäre dies ein Zeichen, wurde die Tür aufgerissen und ein Indigoner kam hereingeeilt. Lissi erinnerte sich an ihn, es war einer der Stammesoberhäupter, die sie auf Beagles Amtsantritt gesehen hatte. Das Stammesoberhaupt sprach direkt Eagle an, doch da es Indigonisch war, konnte kaum jemand verstehen was er sagte. Der aufgebrachten Stimme nach zu urteilen waren es jedoch alles andere als gute Nachrichten. Eagle stieß einen Fluch aus. „Ich komme gleich.“ „Was ist denn?“, fragte Özi ihn besorgt. „Du verdammtes Arschloch!“, fuhr er plötzlich Jack an. „Hast du uns das mit Absicht verschwiegen?!“ Dieser legte fragend den Kopf schief. „Könntest du vielleicht erstmal die Situation erklären, statt mich sofort zu beleidigen?“ Womit er Eagle jedoch noch mehr provozierte. „Tu nicht so unschuldig du scheiß Hurensohn! War ja klar, dass man Leuten aus Terra nicht trauen kann!“ „Liebling, was ist denn los?!“, bat Öznur ihn aufgebracht um eine Erklärung. „Was los ist?!“, donnerte Eagle und zeigte auf Jack. „Der Wichser hielt es wohl nicht für nötig zu erwähnen, dass Mars auch Terras Militär unter Kontrolle hat!“ „Das Militär?!“, rief der König von Ivory schockiert. Eagle biss die Zähne zusammen, kaum in der Lage seine Impulsivität unter Kontrolle zu halten. Ruckartig wandte er sich ab und ging zur Tür. „Eagle, gerade jetzt sollten wir alle zusammenbleiben!“, rief Susi zu ihm rüber. „Und genau das kommt nun davon!“, herrschte er sie an. „Warum greift Terras Armee wohl Indigo an und nicht Lumière oder Cor?!“ Erschrocken durch seinen schroffen Ton zuckte Susi zusammen, doch bevor noch irgendjemand etwas darauf erwidern konnte, hatte er bereits den Raum verlassen. Perplex schaute der Rest auf die offene Tür. „Das klingt gar nicht gut…“, meinte die Vertreterin von Monde betroffen. Leon Lenz biss die Zähne zusammen. „Es geht los.“ „Wir müssen hinterher!“ Özi sprang auf und wandte sich dem Stammesoberhaupt zu. „Welcher Ort wird angegriffen?! Wo müssen wir hin?!“ Das Stammesoberhaupt erwiderte ihren Blick verwirrt. Offensichtlich verstand er kein Wort. In ihrer Verzweiflung zeigte Öznur auf die Karte von Damon, die an der Wand hing und sagte ein einziges indigonisches Wort. „Wo?!“ Nun schien er sie zu verstehen. Er ging zur Karte rüber und deutete auf einen Ort, ganz im Norden Indigos. „Tahi?“, vergewisserte sich Jackie-Chan, woraufhin der Indigoner nickte. Es war wohl der Ortsname. „Okay, dann los!“, rief Özi aufgebracht und packte das Stammesoberhaupt, um ihn mit sich zu zerren. „Özi, was hast du vor?!“, rief Ariane ihr hinterher, während Öznur bereits wie Eagle zuvor aus dem Raum stürmte. „Was wohl?! Wir müssen uns dorthin teleportieren!“ Hastig richteten sich auch die anderen auf und selbst Cärstchen schien sich weit genug gefangen zu haben, um ihr genauso wie der ganze Rest zu folgen. Als sie durch den modernen Eingangsbereich rannten, hatte er zu Öznur aufgeholt und meinte: „Das sind zu viele, wir können uns nicht alle gleichzeitig teleportieren.“ „Ist doch egal, wir haben zwei Indigoner, die sich Tahi vorstellen können!“, erwiderte Öznur, jetzt schon außer Atem. „Du kannst zehn Leute teleportieren und Ninie acht, das sollte also reichen.“ Carsten hielt inne. „Öznur ich… Bis auf Karibera habe ich keine andere Stadt Indigos gesehen.“ Auch Özi blieb stehen und fluchte leise, nicht weniger verzweifelt. Da schob Jackie-Chan beide weiter Richtung Ausgang. „Erkundungstour, schon vergessen? Ich kenne Tahi.“ „Du hattest echt nichts Besseres zu tun als in Damon herumzureisen, oder?“, kommentierte Banani trocken. „Erdkunde ist halt mein Spezialgebiet.“ Er grinste und meinte, während sie das Gebäude verließen: „Außerdem wollte Mars, dass ich mich in Damon bestens auskenne. Was denkt ihr, warum ich sonst jeden Ort dieser beschissenen Spalte weiß?“ Lissi kicherte. „Gut, dass er so viel Wert auf deine Allgemeinbildung gelegt hat.“ Vor dem Regierungsgebäude blieben sie stehen und schauten in die Richtung, in welcher am ehesten die Magiebarriere aufhören würde. „Rennen oder sucht jemand nach Eagles und Carstens Oma?“, fragte Öznur, wenig erfreut. Da der Rest aber bereits begann in Richtung Stadtrand zu rennen, musste sie sich seufzend der Mehrheit beugen. Wie immer war es BaNane, die das Rennen für sich entscheiden konnte, dicht gefolgt von dem indigonisch aussehenden Dryadenmädchen und dem wieder in einen Umhang gehüllten Vampir, sodass Banani ihren Frust nicht ganz verbergen konnte, als sie nur Platz vier wurde. Lissi, Jackie-Chan und Lauch kamen nach ihnen an und schauten, wo der Rest und besonders die Magier ihrer Gruppe abblieben. Als Cärstchen mit Jannik, Florian und dem Stammesoberhaupt sie erreichten meinte er: „Wir teleportieren uns schon einmal vor. Jack, du wartest auf die anderen und stellst dir bei Janines Teleportzauber den nördlichsten Punkt von Tahi vor, den du kennst.“ Jackie-Chan nickte bloß, aber Lissi kam nicht drum herum zu kichern, als sie sich vorstellte, wie Ninie gezwungen sein würde seine Hand zu nehmen. Während Cärstchen dem Stammesoberhaupt auf Indigonsich erklärte, was er zu tun habe, bildeten sie bereits den Kreis und bevor die restliche Gruppe sie erreicht hatte, verschwanden sie in dem bunten Lichtermeer des Teleportzaubers. Kapitel 94: Ein Traum von Gerechtigkeit --------------------------------------- Ein Traum von Gerechtigkeit       Ariane hatte keine Ahnung, was sie erwarten würde. Noch während das bunte Licht von Carstens Teleportzauber erlosch, wappnete sie sich innerlich, einem Ort von Chaos und Zerstörung gegenüber zu stehen. Sie hatte sich gewappnet. Aber nicht genug. Das erste was ihr auffiel war nicht das Durcheinander aufeinandertreffender Krieger. Das Chaos, der dunkle Dunst über dieser Menschenmenge, bei der man nur spärlich unterscheiden konnte, wer Freund und wer Feind war. Es war auch nicht der ohrenbetäubende Lärm. Die Schüsse während ein Magazin nach dem nächsten geleert wurde, das Aufeinandertreffen von Metall auf Metall, die Kampf- und Schmerzensschreie, … Selbst ihren vor Aufregung und Angst pochenden Herzschlag bemerkte sie nicht als erstes. Nein. Das erste, was ihr auffiel, war der Geruch. Ein beißender Gestank, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Eine ekelerregende Mischung aus Schweiß, Blut und Tod gepaart mit Schießpulver, Erbrochenem und anderen Ausscheidungen. Es war schwer all diese Eindrücke zu verarbeiten. Und noch schwerer konnte sie es in Worte fassen, das grausame Niedermetzeln von Menschenleben. Ariane würgte und hielt sich die Hand vor Nase und Mund. Versuchte irgendwie zu atmen. Luft, sie brauchte Luft. Doch alles was sie bekam war die Essenz des Krieges, verstärkt durch ihren ohnehin schon übermenschlichen Geruchsinn. „Nane?“, hörte sie Carstens besorgte Stimme neben sich, konnte aber nicht darauf antworten. Ihr war übel. Speiübel. Sie spürte, wie jemand zögernd eine Hand auf ihren Rücken legte. Als sie merkte, wie Carstens Körpergeruch dem widerwärtigen Gestank tatsächlich entgegenwirken konnte, vergrub sie ihr Gesicht in seiner Brust. Sog die Mischung aus Desinfektionsmittel und Lavendel in sich ein, dankbar, wieder atmen zu können. „Was… was geht hier vor sich?“, hörte sie Laura befangen fragen. Ariane wagte einen Blick zur Seite und beobachtete, wie Konrad zerknirscht eine Hand auf ihre zitternde Schulter legte. „Das ist der Krieg. Das, was wir euch eigentlich versucht hatten zu ersparen.“ „Aber warum?!“, rief Laura verzweifelt, kurz davor in Tränen auszubrechen. „Warum machen Menschen so etwas?!“ Anne zischte. „Eine Antwort auf diese Frage wird uns jetzt auch nicht weiterhelfen.“ Dennoch zögerte auch sie, einen Schritt auf diesen Pulk bestehend aus Tod und Gewalt zuzugehen. Ohne sich von Carsten zu entfernen, schaute sich Ariane um. Zivilisten schienen keine mehr anwesend. Die Indigoner hatten den Angriff wohl rechtzeitig genug bemerkt, sodass das Militär aus Terra noch nicht einmal den Stadtrand von Tahi erreicht hatte, der so wirkte, als würde er sich hinter ihrer kleinen Gruppe verstecken wollen. Erschrocken wich Jannik zurück, als einige Schüsse in ihre Richtung abgefeuert wurde. Ein paar Soldaten hatten sie wohl bemerkt, doch bevor Konrad und Florian sich darum kümmern konnten, wurden die Angreifer von einem metallenen Glänzen in zwei Teile geteilt. Ariane würgte erneut, konnte den Blick aber nicht schnell genug abwenden, um dem Anblick von Blut zu entfliehen. „Was macht ihr hier?!“, hörte sie eine tiefe Stimme über den Kampflärm hinweg rufen, die ganz eindeutig zu Eagle gehörte. „Dasselbe könnten wir dich fragen!“, erwiderte Anne verärgert. „Taktisches Vorgehen ist wohl ein Fremdwort für dich, was?!“ Florian seufzte. „Streiten bringt uns jetzt auch nicht weiter. Wir sollten-“ „Liebling!“, erklang auf einmal Öznurs Stimme, die direkt auf Eagle zu rannte. Offensichtlich war nun auch die zweite Gruppe angekommen. Grob schüttelte Eagle sie ab, als sie sanft seinen Arm berührte. „Mir nicht im Weg rumstehen. Das solltet ihr.“, meinte er gereizt und wandte sich wieder der Schlacht zu. Erst jetzt fiel Ariane das gewaltige Großschwert auf, welches Eagle in der Hand hielt. Ein Schaudern fuhr durch ihren Körper, als ihr bewusst wurde, was die rötlichen Flecken und Striemen darauf zu bedeuten hatten. Bedrückt atmete Florian aus. „Jetzt wo wir hier sind, können wir auch helfen. Wie ist die Lage?“ „Na wie wohl?“, erwiderte Eagle bissig. „Wir haben uns auf Unterweltler vorbereitet, nicht auf Verräter.“ Mit diesen Worten warf er einen hasserfüllten Blick in Jacks Richtung. Doch vermutlich hatte dieser Eagles Anschuldigung gar nicht erst mitbekommen, so wie er mit teilnahmslosem Blick das Schlachtfeld betrachtete. Eine gewaltige Explosion ließ Ariane zusammenschrecken. Etwa zeitgleich stieg der Geruch von Rauch und verbrannten Körpern in ihre Nase. Wieder kam die Übelkeit in ihr hoch. Wieder vergrub sie ihr Gesicht in Carstens Brust, versuchte zitternd zu atmen. Sie spürte, wie er seinen Griff um sie verstärkte und meinte, seinen rasenden Herzschlag zu fühlen. Eagle stieß einen indigonischen Fluch aus. „Wenn du unbedingt Pläne machen willst nur zu, Hauptmann. Aber ich hab nicht vor mit anzusehen, wie derweil mein Volk niedergemetzelt wird!“ Und schon war er wieder auf und davon, mitten im Blutbad. „Uns bleibt wohl keine andere Wahl.“, meinte Anne zerknirscht und während Florian und Konrad bereits beschlossen hatten Eagle zu helfen, überwand auch sie ihr Zögern. Anderen fiel dies weniger leicht. „Ich kann das nicht…“, meinte Laura schwach, wobei der Kampflärm ihre zitternde Stimme und das leichte Schluchzen verschlang. Janine seufzte bedrückt, jedoch deutlich weniger eingeschüchtert. „Trotzdem, Eagle hat recht. Wir können nicht rumsitzen, während grundlos andere sterben müssen.“ „Aber…“, setzte Susanne an, wusste jedoch nichts darauf zu erwidern. In Arianes Kopf war das reinste Durcheinander. Ihr wurde schwindelig von diesen ganzen Eindrücken. So vieles passierte gleichzeitig. Während sie sich versuchte aus Carstens festem Griff zu befreien, der schon fast schmerzhaft war, meinte Lissi kritisch: „Da stimmt was nicht.“ Und während Jannik sie irritiert fragte „Wie meinst du das?“, stieß Jack einen Fluch zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er packte Ninie am Arm, die sich gerade dazu überwunden hatte Eagle und die anderen zu unterstützen. „Was soll das?! Lass mich los!“, rief sie verärgert und versuchte sich loszureißen. Zeitgleich ließ eine weitere Explosion die Erde erschüttern. Instinktiv vergrub Ariane ihr Gesicht erneut in Carstens Brust, die Angst vor dem Gestank ließ sie kaum mehr klar denken. Wieder fiel ihr auf, wie sehr sein Herz raste. Anscheinend hatte auch er Angst… Auch ihn belasteten diese ganzen Eindrücke. Plötzlich hörte sie Öznur schreien. „Ray!“ Ariane blickte auf. Ihr Herz setzte aus. Ein junger Indigoner, blutüberströmt, versuchte sich in Sicherheit zu bringen. Weg, einfach nur weg vom sicheren Tod. Öznur rannte ihm entgegen, erschuf mit ihrer Energie eine Feuerfront, die ihn vor Verfolgern beschützen sollte. Doch Metall ließ sich nicht so einfach aufhalten. Eine Kugelsalve drang durch die lodernde Wand und zwang den Indigoner in die Knie. Öznur wurde knapp am Arm gestreift, der plötzliche Schmerz riss ihre Aufmerksamkeit weg vom Feuer. Die Wand war verschwunden. Wenige Meter dahinter stand ein nicht sonderlich hochgewachsener Soldat in grauer Uniform, das Sturmgewehr am Anschlag. Er zielte erneut. „Özi, pass auf!“, hörte sie Anne von irgendwoher schreien. Janine setzte zu einem Angriffszauber an, doch Jack hatte sie immer noch gepackt und hielt ihr den Mund zu, bevor sie den Zauber vollenden konnte. Ein schwaches Beben brachte den Soldaten ins Wanken, wenig später wurde sein Gewehr von einem Sandpfeil durchbohrt. „Verdammt, was soll das?!“, herrschte Janine Jack an, welcher sie endlich losließ. „Wenn du auch nur einen davon umbringst, wirst du dir das nie verzeihen können.“, meinte er nur, nicht den leisesten Hauch Sarkasmus in seiner Stimme. Während nun auch er zum Schlachtfeld eilte, rief er zu Lissi: „Pass auf, dass sie nichts Dummes machen!“ Verwirrt schaute Ariane zwischen Lissi und Jack hin und her, was ihr kaum möglich war, so erdrückend Carsten sie immer noch im Arm hielt. „Was ist denn los?“, fragte Laura verunsichert. Lissi biss die Zähne zusammen. Zeitgleich war Anne zu Öznur gerannt, um ihr und dem schwerverletzten Indigoner Rückendeckung geben zu können. Ebenso rannte Susanne plötzlich los. Auch Eagle hatte den Ernst der Lage erkannt. Eine Aura aus Energie umgab seinen Körper und für den Bruchteil einer Sekunde leuchteten seine bernsteinbraunen Augen auf. Ein graues Lodern tauchte die Klinge seines Großschwertes in ein unheimliches Licht. „Eagle, nicht!“, schrie Susanne zu ihm rüber. „Ich kann-“ Eagle schlug zu. Ein Schlag, der die Luft zerschnitt. Ebenso wie den zierlichen Körper des Soldaten. Das Entsetzen presste Ariane die Luft aus den Lungen. Oder war es Carsten, der seinen zitternden Griff noch mehr verstärkte? „Verdammt, kannst du nicht einmal mitdenken?!“, rief Anne wütend. Sie packte den nächstbesten Soldaten in grauer Uniform mit einer Sand-Energie-Hand und zog ihn zu sich. Es wirkte fast schon wie einstudiert. Kaum hatte Susanne den röchelnden, nach Luft ringenden Indigoner erreicht, hielt Anne den Soldaten in einem erwürgenden Griff gefangen. Sofort wurde der dunkle Dunst der Schlacht durch ein rosa Strahlen vertrieben, als Susanne die Hände über die Herzen der beiden Kämpfer legte. „Das muss aufhören! Sofort!“, rief Lissi plötzlich. Ihre Stimme klang ungewohnt verzweifelt, was Ariane noch panischer werden ließ. Fast gleichzeitig hörte sie Jack rufen. „Es reicht!“ Trotz des rosa Leuchtens konnten sie beobachten, wie eine Steinmauer aus dem Boden schoss, die unter lautem Krachen eine weitere Windsichel von Eagles Großschwert blockte und die Soldaten vor dem sicheren Untergang bewahrte. „Aus dem Weg!“, brüllte Eagle. Gerade so wich Jack einem Schwerthieb aus. Noch eine Steinmauer stoppte den Kugelhagel, der auf ihn und Eagle regnete. Verwirrt betrachtete Ariane das Bild, was sich ihr bot. Jack stand buchstäblich zwischen den Fronten. Aber warum? Sie wusste es nicht. Sie wusste gar nichts. Diese ganze Situation überforderte sie viel zu sehr. Es war fast schon spürbar, wie ihr Gehirn überlastet wurde. Eine einzelne, verzweifelte Frage, mehr konnte sie sich nicht stellen. Was sollen wir tun? „Alleine schafft er das nicht.“, meinte Lissi nur zerknirscht. „Laura, ich brauche deine Hilfe!“ „Hä?“ Zumindest war Laura mindestens genauso verwirrt wie Ariane selbst. Doch Lissi ließ ihr nicht die Zeit zum Nachdenken, sondern schnappte ihre Hand und zog sie mit sich. „Janine, pass auf Kito, Johannes und Jannik auf!“, rief sie über die Schulter, woraufhin Janine nur leicht perplex nickte. Zum Abschluss trafen Lissis blau-grüne Augen die von Ariane. „Kümmere dich um Carsten!“ Kümmern? Irritiert schaute Ariane nach oben, soweit das bei Carstens erdrückendem Griff möglich war. Es fiel ihr schwer, seine Reaktionen zu deuten. Den wie zu Stein erstarrten Blick, mit dem er das Schlachtfeld betrachtete, der beschleunigte Atem, … Ihre Fähigkeit zu denken war wie benebelt. Wie als hätte sich der gräulich-schwarze Rauch der Schlacht auch in ihrem Gehirn ausgebreitet. Die Panik. „Eagle, lass den Scheiß!“, hörte sie Jack rufen. „Du wirst das noch bereuen!“ „Sag mir nicht was ich zu tun hab, Verräter!“, brüllte Eagle zurück. Ariane blinzelte. Panik. Der rasende Herzschlag, der flache Atem, … „Carsten, sieh mich an.“, wies sie ihn an, so ruhig sie konnte. Doch Carsten hörte nicht. Er war ganz und gar gefangen in einer Panikattacke. „Carsten!“ Nur durch ihre Kampfkünstlerstärke schaffte es Ariane schließlich, sich aus seinem Griff zu befreien. Am Rande bekam sie mit, wie Jack alle Mühe hatte, Eagle davon abzuhalten sich an dieser Schlacht zu beteiligen. Was der Rest machte, wusste sie überhaupt nicht. Viel zu sehr gewannen Gewissheit und Sorge die Oberhand, verdrängten die anderen Wahrnehmungen. Den Gestank hatte Ariane schon längst vergessen. „Carsten, komm zu dir!“, rief sie seinen Namen erneut. Berührte vorsichtig seine Wange, in der Hoffnung, dass er irgendwie darauf reagierte. Das war die Schwarzmagie. Zweifellos. Aber was sollte sie tun?! Sie kannte ja noch nicht einmal die Ursache von- Carsten biss die Zähne zusammen. Sein zuvor noch versteinertes Gesicht war verzerrt von Schmerz. „Was hast du?!“, fragte Ariane verzweifelt. Was soll ich tun?! Wieder beschleunigte sich ihr Herzschlag vor Angst. Suchend schaute sie sich um, in der Hoffnung, die Antworten würden sich irgendwo auf diesem Schlachtfeld finden. Inzwischen hatten Laura und Lissi Jack und Eagle fast erreicht. Durch seine Verletzungen konnte Jack sowieso nur einen Bruchteil seiner Kräfte nutzen und dann auch noch gegen Eagle und die Soldaten aus Terra… „Eagle, hör auf!“, schrie Laura aus vollem Halse und zog ihren Fächer. Eagle war so gefangen in seiner Wut, dass er Jack inzwischen ebenfalls als Gegner betrachtete. Es schien ihm gänzlich egal, dass er eigentlich auf ihrer Seite war. Er wollte ihn töten. Er wollte ihn einfach nur noch töten. Mit seinem Großschwert holte Eagle zum Schlag aus. Ariane stockte der Atem, als es mit einem schneidenden Geräusch auf Jack herab zischte. Und plötzlich, eine schwarze Welle. Ein Energie-Impuls. Die gewaltige silberne Klinge, gestoppt durch einen kleinen, metallisch glänzenden Fächer. „Hör auf…“, wiederholte sich Laura schwer atmend. Lissi ließ derweil eine Welle auf die Front des Schlachtfeldes los. Eine Flut, die alles überschwemmte und sowohl Terras Soldaten als auch indigonische Krieger von den Füßen riss. Ein schwacher Schmerzenslaut richtete Arianes Aufmerksamkeit unverzüglich wieder auf Carsten, der kraftlos auf die Knie sackte. Verzweifelt beugte sie sich zu ihm runter und strich ihm über das verschwitzte Gesicht. „Carsten bitte, komm zu dir!“ „Was ist mit ihm?“, hörte sie Janine besorgt neben sich fragen. „Ich- ich weiß es nicht!“, rief Ariane aus und schaute Carsten an, als hoffte sie er selbst könne ihnen diese Antwort liefern. Doch natürlich konnte er das nicht. Er kniete einfach nur da, gekrümmt, als würde irgendetwas ihm tatsächlich physische Schmerzen bereiten. Sein ganzer Körper zitterte, die Finger bohrten sich wie Klauen durch den Stoff in seine Oberarme. Auch Kito war zu ihnen gekommen. „Eine Illusion?“, vermutete sie. Ariane hielt die Luft an. Das war es! Ganz sicher, es war genauso wie damals bei dem Sturm! Aber wovon?! Woher?! Was war die Ursache?!? Und noch wichtiger: Welche Illusion?! Was war es, was Carsten gefangen hielt? Welche Erinnerung? Wie konnten sie ihn da rausholen?! Ihre Gedanken überschlugen sich. Es musste irgendetwas mit diesem Schlachtfeld zu tun haben, so viel stand fest. Aber was?! Warum?!? „Warum nehmt ihr ihn in Schutz?!“, hörte sie Eagle von weiter entfernt rufen. Ariane blickte auf. Sie wusste, wer die Antworten kannte. Ein frischer, eisenhaltiger Geruch stieg in ihre Nase, doch sie hatte nicht die Kraft, dem auch noch Beachtung schenken zu können. „Eagle, du begehst einen großen Fehler!“, erwiderte Lissi, während Laura sich inzwischen auch den Soldaten zugewandt hatte und mit ihrer Finsternis-Energie weitere Angriffe abschirmte. „Der einzige Fehler ist, dieses Arschloch bisher am Leben gelassen zu haben!“, brüllte Eagle, außer sich vor Zorn. Jack biss die Zähne zusammen. „Könnt ihr mir nicht zumindest einmal im Leben vertrauen?“ Er wusste es. Zweifellos. „Jack!“, schrie Ariane seinen Namen. Er musste ihr helfen, irgendwie! Jack hörte sie. Und verstand direkt. „Du bist der letzte, dem man vertrauen kann!“, brüllte Eagle, packte ihn an der Kehle und drückte ihm die Luft ab. Grob riss sich Jack los und stolperte schwer atmend einige Schritte zurück, bis Lissi ihn am Rücken stützte. Die beiden tauschten einen kurzen Blick aus, ehe Jack verbissen zu Eagle schaute. „Du hast wirklich keine Ahnung, oder? Bist du so blind, dass du nicht einmal die Uniform erkennst, die dein kleiner Bruder selbst sechs Jahre lang tragen musste?!“ Ariane verlor den Atem. Uniform? Sie blickte in das Chaos. Da waren die Indigoner, hochgewachsen, mit langen schwarzen Haaren und dunkler Hautfarbe. Ihre Gegner wirkten insgesamt kleiner. Manche nur ein bisschen, aber andere… andere hatten eher einen zierlichen Körperbau, genauso wie Laura oder Janine. Und sie alle trugen eine graue Uniform. Wieder erregte der seltsame Eisengeruch ihre Aufmerksamkeit. Es roch nach… Blut. Hastig drehte sich Ariane um. „Carsten, ist alles-“ Sie stockte. Ein schwaches Lodern umgab seine zitternden Hände in dunklem lila, fast schon schwarz. Ariane konnte nicht sagen ob es nur die Fingernägel waren, oder die Magie. Irgendetwas hatte sich so tief in Stoff und Haut der Oberarme geschnitten, dass die Ärmel eine dunkle Rotfärbung hatten. Eine rote Lache breitete sich auf der einst braunen Erde aus. Carsten atmete schwer, gepresst, als bekäme er keine Luft. Eine eisige Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen aus, während sie beobachtete, wie sich das Blut in schlangenartigen Linien immer weiter auf dem Boden ausbreitete. Als hätte es einen eigenen Willen, als würde es irgendwelche tückischen Absichten verfolgen. „… Carsten?“ Vorsichtig streckte Ariane die Hand nach ihm aus, traute sich aber nicht ihn zu berühren. Sie hatte Angst. Angst vor dem, was passieren könnte. Und dann auch noch dieses Blut… Es kostete Ariane alle Kraft, nicht zurück zu weichen. Diese Ausstrahlung, diese Macht. Unheimlich. Bedrohlich. Arianes Instinkte schrien sie an. Sie musste verschwinden, sie musste wegrennen. Weg von hier, weg von dieser erdrückenden Kraft. Aber… Aber was war mit… Carsten schrie. Heiser, markerschütternd. Ein Schmerzensschrei und doch auch gleichzeitig ein Hilferuf. Ein Schrei, der sich über das gesamte Schlachtfeld legte. Und mit ihm das Blut. Ohne nachzudenken hatte Ariane die Arme um ihn gelegt. Als könnte sie ihn so vor dem beschützen, was ihn von innen her auffraß. Sie kniff die Augen zusammen. Ihre Lunge schien zu explodieren, als sie die finstere Macht einatmete. Das Blut. Fast so als würde sie ertrinken.   Hustend und zitternd klammerte sich Ariane noch fester an Carsten, bis ihr die Grabesstille auffiel. Die Schreie, der Kampflärm, … Alles war verschwunden. Sogar der ekelerregende Gestank. Stattdessen nahm Ariane eine Mischung aus Stein, Erde und Regen wahr. Blinzelnd öffnete sie die Augen und blickte in den grauen, wolkenverhangenen Himmel, der sich kaum von der dunklen, steinigen Landschaft abhob. Alles wirkte grau, leer und trostlos. Und kalt. Ariane blinzelte erneut. Das schien nicht mehr Indigo zu sein, aber was… Schaudernd wich Kito einen Schritt zurück, die Augen weit aufgerissen vor Staunen und Entsetzen. „Ist… ist das… das Steingefängnis?“ „Was?“ Irritiert schaute sich Ariane um, immer noch an Carsten geklammert. Automatisch verstärkte sich ihr Griff. Mehrere Meter entfernt ragte eine gewaltige Mauer in die Höhe. Der Stacheldraht an der Spitze schien alles von der Außenwelt absperren zu wollen. Ein schweres, eisernes Tor war der einzige Ein- und Ausgang. Ansonsten gab es nichts. Keine Freude. Keine Hoffnung. Keine Gerechtigkeit. Nur Gewalt. Leid. Verzweiflung. Janine zitterte. „Du meinst, das ist…“ Am Rande bekam Ariane mit, wie Stimmen laut wurden. Verzweifelte Rufe. Schreie. Verwirrt blickte sie hinter sich. Es waren nicht nur sie, die dieser Anblick gefangen hielt. Auch Susanne war da, ebenso Öznur, Anne und der inzwischen geheilte Indigoner, die allesamt ungläubig die steinerne Fassade betrachteten. Mindestens genauso erstarrt schienen Eagle, Laura und Lissi und selbst Florian und Konrad meinte Ariane unter den ganzen Indigonern und Soldaten erkennen zu können. Alle Indigoner und Soldaten. Ungläubig schaute Ariane zu Carsten, der immer noch schwer atmete. Hatte er etwa sie alle… Die Panik unter den Soldaten wuchs, schien sie blind zu machen. Die Schreie wurden lauter, verzweifelter. Viele griffen plötzlich wahllos irgendwelche anderen an, vollkommen gleich ob Freund oder Feind. Als wäre Mord der einzige Ausweg… Oder der Tod. ‚Es gibt zwei Wege hier raus zu kommen…‘ „Was geht hier vor sich?!“, fragte Janine verzweifelt, schien genauso wie Ariane nach einer Erklärung zu suchen. „Carsten, was hast du gemacht?!?“ „Das war Schwarzmagie, oder?“ Erschrocken zuckte Ariane zusammen. Als sie aufblickte sah sie einen Mann im schwarzen Mantel, mit rosaroten, langen Haaren und giftgrünen Augen. „H-Herr Bôss?“ Verwirrt betrachtete sie den Direktor der Coeur-Academy, welcher inzwischen neben ihr kniete und vorsichtig die Hand auf Carstens immer noch vor Schmerz gekrümmten Rücken legte. „Was machen Sie denn hier?“, fragte Janine, mindestens genauso irritiert. Mit einem bedrückten Seufzen schaute er von der kopflos mordenden Menge zu der gewaltigen grauen Mauer. „Nachdem ihr weg wart haben wir den Angriff in einer Liveübertragung im Internet gesehen. Ich… hatte da eine Vermutung.“ Er seufzte erneut. „Diese wollte ich überprüfen und deshalb habe ich mich hier her teleportiert. Aber ein gewisser jemand war wohl schneller.“ So langsam verstand Ariane, was er meinte. Was die Ursache von all dem war. Das waren keine einfachen Soldaten. Das waren Schüler. Mitschüler, Ehemalige, … Allesamt von derselben Schule. Einer Anstalt für schwererziehbare Jugendliche. Einem Militärinternat. Dem FESJ. … Die ausgerechnet gegen Indigoner kämpften. Carstens Volk. „Eigentlich hätten wir uns ja denken können, dass Mars‘ Einfluss bis hier hin reicht.“, meinte Herr Bôss nur zerknirscht und warf einen Blick in Richtung Janine, Kito, Johannes und Jannik. „Wir müssen sie irgendwie aufhalten.“ Die vier wirkten genauso ratlos wie Ariane. Während sie sich den Kopf darüber zerbrachen, wie sie das ganze grundlose Abschlachten beenden konnten, versuchte Herr Bôss mit seiner Stimme Carsten zu erreichen. Doch das blieb genauso erfolglos. Johannes zupfte Janine am Ärmel ihres etwas zu kleinen Pullis. „Du, Tantchen, wollen die Rache? So wie du damals?“ „Nein…“ Bedrückt schüttelte Ninie den Kopf. „Ich glaube…“ Ihr Blick fiel auf Jack. Er stand abseits der Gruppen, ursprünglich auf dem Weg zu ihnen um Carsten zu helfen und nun doch gefangen von dem Anblick jenes Ortes, der für ihn die Hölle repräsentierte. „Ich glaube, sie wissen einfach nicht mehr weiter.“, meinte Janine schließlich. „Also wollen sie das gar nicht?“, vergewisserte sich Johannes. Erneut schüttelte sie den Kopf. „Aber warum machen sie das dann?“ Bedrückt schaute Janine auf die triste, gräuliche Erde. „Weil sie keinen anderen Ausweg finden.“ Johannes blies die Backen auf. „Die sind ja blöd.“ Traurig lachte Janine auf, wusste aber nichts darauf zu erwidern. „Was zum Teufel geht hier vor sich?!“, hörte sie Anne fragen. Inzwischen waren sie, Öznur, Susanne und Ray wieder bei ihnen, offensichtlich noch vollkommen ahnungslos. Ariane wollte zu einer Erklärung ansetzten. Vielleicht wussten sie ja weiter, hatten eine Idee, wie sich all dies aufhalten ließe. Doch ein lautes, dröhnendes Quietschen hinderte sie daran. Es war so ein gellendes Geräusch, dass sich Ariane die Ohren zuhalten musste und ihr Kopf trotzdem zu schmerzen begann. Sprachlos betrachtete sie die schwere Eisentür, die sich ganz langsam und träge öffnete, als würde sie das nur sehr selten machen. Zeitgleich verstummte der Kampflärm plötzlich. Es war wie als hielte alle Welt die Luft an. Als wartete jeder nur gespannt darauf, was sich hinter dieser Tür verbarg. Welches Monster innerhalb dieser erdrückenden, steinigen Wände hauste. Entsprechend fehl am Platz wirkten die Männer, die nach außen traten. Es fiel Ariane schwer, ihre Verwirrung und zu einem gewissen Grad auch die Enttäuschung zu verbergen. Sie hatte mit einem grauenerregenden Ungeheuer gerechnet, irgendeine Kreatur aus der Unterwelt. Oder ein Dämon. Aber das… das war nur eine Hand voll Menschen! Und doch hatten sie auf viele eine ganz andere Wirkung. Ariane erschrak, als Carstens sich plötzlich an sie klammerte. Er zitterte immer noch am ganzen Leib. Doch nun war nicht mehr klar, ob es die Vergangenheit oder die Gegenwart war, die all dies auslöste. Die Soldaten in den grauen Uniformen reagierten ähnlich. Viele setzen sich gar nicht mehr zu Wehr, andere wichen verängstigt zurück. Niemand war in der Lage sich zu verteidigen. Niemand schien dem entkommen zu können, dem Grauen, was sich in ihrem Inneren ausbreitete. Einer der Männer trat vor. Kaum erklang seine Stimme, zuckte Carsten zusammen. „Dürfte ich erfahren, was das zu bedeuten hat?!“ „Dasselbe könnte ich Sie fragen!“, erwiderte Herr Bôss darauf hin. An Ariane gewandt flüsterte er: „Pass auf, dass er nicht schon wieder sowas macht.“ Dann entfernte er seine Hand von Carstens Rücken und richtete sich auf. Ariane hatte sich schon häufig gedacht, wie riesig der Direktor eigentlich war. Aber jetzt, jetzt kam er ihr noch größer vor als sonst. Er stand aufrechter, war mental bereits darauf vorbereitet, dass es zu einer blutigen Konfrontation kommen könnte. „Herr Bôss, was machen Sie denn hier?“, fragte der Mann irritiert. Nun erkannte Ariane ihn. Sie hatte ihn nur kurz zu Gesicht bekommen, damals auf der Abendgesellschaft. Der Direktor des FESJ. Kein Wunder, dass Carsten alleine beim Klang der Stimme so reagierte. So panisch nach Luft rang, dass er eigentlich schon längst hätte hyperventilieren müssen. Herr Bôss ging einige Schritte auf das geöffnete Tor und die Männer zu. „Ich hatte gehofft, dass Sie mir diese Antwort geben könnten. Wie kommt es, dass Schüler und Ehemalige des FESJ plötzlich Indigo angreifen?“ „Was?!“, rief Öznur schockiert aus. „Ich wüsste nicht, was Sie das zu interessieren hat.“, meinte der Direktor ebendieser Anstalt und lachte auf. Instinktiv drückte Ariane Carsten stärker an sich. Herr Bôss bis die Zähne zusammen, doch bevor er etwas erwidern konnte, erklang ein weiteres Lachen. Noch ein Mann trat hervor. Obwohl er in die Jahre gekommen war und der grau-melierte Vollbart sowie die dunklen, fettigen Haare das hagere Gesicht zum Großteil verbargen, bekam Ariane eine Gänsehaut. Trotz einiger Meter Entfernung hatte sie das Gefühl, der stechende Blick alleine reichte schon aus, Leuten ein qualvolles Ende zu bereiten. Wer war das? Herr Bôss war jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. „Was haben Sie hier zu suchen? Sie sollten…“ Wer auch immer dieser Mann war, er war grausam. Er hatte eine so einschüchternde Ausstrahlung, dass sich Ariane automatisch fragte ob er es ihr überhaupt gestattete zu atmen. Doch er lächelte einfach nur sardonisch, vollkommen zufrieden mit der momentanen Situation. „Was sollte ich?“ Herr Bôss‘ Blick verfinsterte sich. „Im Gefängnis sein.“ Ariane schauderte. Es war nicht so, dass sie diese Aussage nicht nachvollziehen konnte. Im Gegenteil, alleine beim Anblick dieses Mannes würde sie dem sofort zustimmen. Aber… warum war er dann hier? Das Lächeln wurde breiter. Unheimlicher. „Nun, ich wurde um einen Gefallen gebeten. Und deshalb bin ich nun hier.“ Er betrachtete die Menge. Die Indigoner, aber besonders die Soldaten in grauer Uniform. Überwiegend Jugendliche und junge Männer, wie Ariane realisierte. Allesamt erstarrt vor Schreck. Einigen fehlte sogar die Kraft, auf ihren eigenen Beinen stehen zu bleiben. Selbst Unverwundete brachen auf dem Boden zusammen. Doch sein Blick blieb auf niemandem in grauer Uniform haften. Sondern… Die Augen des Mannes weiteten sich. „Valentin?“ Irritiert schaute Ariane zu Jack. Er stand einfach nur da und erwiderte den Blick seines Gegenübers. Keine Reaktion. Doch sein Ausdruck war nicht der neutrale, teilnahmslose, den sie sonst von ihm kannte. Nein, dieser Ausdruck zeigte Angst. Grenzenlose Angst. „Was ist denn, mein Junge? Erkennst du mich nicht mehr?“ Es lag eine ekelerregende Freundlichkeit in der Stimme dieses Mannes. Es klang fast schon nach… nach… Er ging auf Jack zu, streckte die Hand nach ihm aus. „Kein Grund schüchtern zu sein, mein Lieber. Komm her.“ Ein schwaches Wimmern drang aus Jacks Kehle, als er einen Schritt zurückwich. Und noch einen, bis er über einen Stein stolperte und fiel. Der Mann schien gar nicht erst zu bemerken, was seine bloße Existenz in Jack auslöste. Er war wie besessen, kam immer näher auf ihn zu, während sich Jacks zitternde Hände in den steinernen Boden krallten. Bei der liebevollen Stimme stellten sich Ariane die Nackenhärchen auf. „Es ist alles gut, mein Süßer. Alles gut.“ Jack kniff die Augen zusammen. Sein Atem ging flach, war panisch. Und in dem Moment erkannte Ariane ihn, den kleinen Jungen. Sie erkannte Valentin. Verletzlich, verängstigt, verzweifelt, gefangen in der Dunkelheit. Er konnte dem nicht entkommen. Er konnte nicht kämpfen. Er war- „Rühr ihn nicht an!!!“ Eine gewaltige, giftgrüne Magiesichel fuhr zwischen die beiden, begleitet von dem Ruf einer tiefen, zornigen Stimme. Der ekelhafte Mann erwiderte Herr Bôss‘ verärgerten Blick. „Und wieder mischen Sie sich in meine Angelegenheiten ein.“ Herr Bôss‘ Antwort war eine lodernde Säule Feuer-Magie, doch der Typ sprang rechtzeitig zur Seite. Er rannte los, setzte zum Angriff an, weichte den Magiepfeilen und -sicheln spielerisch aus. Er war schneller als man es aufgrund seines Alters vermuten würde. Und stärker als man seinem Körperbau zutraute. Ariane wusste, was er vorhatte. Er versuchte so nah wie möglich an Herr Bôss heran zu kommen. Denn im direkten Nahkampf waren Kampfkünstler durch ihre Schnelligkeit und Stärke den Magiern klar im Vorteil. Doch Herr Bôss war nicht grundlos der Direktor der Coeur-Academy. Sein Atem war ruhig, der Blick konzentriert. Er war fokussiert, aber nicht verbissen. Die Angriffe zahlreich aber nicht wahllos. Selbst als der Typ drohte ihm zu nah zu kommen, teleportierte sich Herr Bôss einfach einige Meter hinter ihn. Ariane erschrak beim Auftauchen einer leuchtend grünen Barriere, die sie, Carsten und die anderen fast schon nebensächlich vor dem Angreifer beschützte. Janine machte Anstalten dem Direktor im Kampf zu unterstützen, doch sie erkannten sehr bald, dass er keine Unterstützung brauchte. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit. Die schneller kam als erwartet. Einen Moment noch hatte Ariane die Sorge, Herr Bôss würde dem einen Schlag nicht rechtzeitig genug ausweichen können. Im nächsten Moment erkannte sie die falsche Sicherheit, in der sich der Gegner gewogen hatte. Grünliche Magieblitze zuckten durch die Luft, stießen den Angreifer zurück und spießten ihn an Armen und Beinen auf dem Boden auf. Beeindruckt betrachteten Ariane und die anderen den Direktor ihrer Schule, der zu seinem besiegten Gegner trat und hasserfüllt zu ihm herabschaute. „Sag, warum bist du hier?!“ Doch der unheimliche Typ lachte nur, woraufhin er mit einem Tritt in den Solarplexus zahlte. Ariane schüttelte sich beim knacksenden Geräusch. „Jackie-Chan, komm zu dir!“ Diese Aufforderung richtete ihre Aufmerksamkeit auf Lissi. Sie war vor Jack in die Hocke gegangen, welcher immer noch hektisch atmete und vor Panik die Augen zusammengekniffen hatte. Lissi streckte die Hand nach ihm aus, hielt in der Bewegung jedoch inne. „Jack, es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit.“ Doch auch das konnte ihn nicht beruhigen. Er wandte sich ab, zitterte nach wie vor am gesamten Körper. „Jack! Es ist vorbei!“, versuchte Lissi ihn irgendwie zu erreichen. … Aber warum hielt sie dabei so viel Distanz zu ihm ein? War es in so Fällen nicht eigentlich besser, wenn- Lissis Lippen formten sich zu einem bedrückten Lächeln, ihre Stimme klang traurig und doch sanft. „Valentin…“ Darauf reagierte er. Blinzelnd öffnete Jack die Augen, leichenblass und nach Luft ringend. Schweiß rann ihm über die Stirn. Sein Blick traf Lissis, die vorsichtig fragte: „Geht’s?“ Benommen nickte er und versuchte sich auf die Beine zu mühen. Die Erschöpfung und der Schmerz seiner ganzen Verletzungen ließen ihn jedoch wieder kraftlos auf den Boden sinken. Ariane war noch verwirrter. Warum half Lissi ihm nicht einfach? Doch irgendwann schaffte Jack es, sich aus eigener Kraft aufzurichten. Er wollte einen Schritt auf Herr Bôss und diesen unheimlichen Mann zugehen, doch da versperrte Lissi ihm den Weg. „Jack, du musst das nicht.“ Er zögerte nur kurz. Und ging an ihr vorbei. „Ich sollte aber.“ Jack hatte schon immer eine ziemlich raue Stimme, aber so rau und so tief klang sie noch nie zuvor. Zitternd rieb sich Ariane den Arm, während sie beobachtete wie er zu den beiden Männern ging. Die Haltung, der Blick, alles wirkte kalt und bedrohlich. Das war der Jack, den sie kennengelernt hatten. Der Mörder, der im Auftrag des Purpurnen Phönix handelte. „Valentin…“, setzte Herr Bôss an, doch auch er machte keine Anstalten ihn aufzuhalten. Erst auf Höhe des am Boden liegenden älteren Mannes blieb Jack stehen. Ariane fiel es schwer den Blick zu deuten, welcher in seinen grasgrünen Augen lag. War es Hass? Trauer? Schmerz? Rache? Egal was es war, innerlich bereitete sie sich schon darauf vor, dass Jack ihm seine Faust durch das Herz rammen würde. Sie wappnete sich für die Schmerzensschreie, die dieser Mann von sich geben würde. Sie erwartete bereits das Blut, sobald Jack ihn zu Tode folterte. Denn genau das würde er tun. Genau das wollte er tun. So schwer es ihr fiel seinen Blick beschreiben zu können, seine Gefühle kamen bei ihr und den anderen an. Fast schon so als wären es ihre eigenen. Ariane ertappte sich bei dem Gedanken, bei dem Wunsch, dass auch sie diesen furchtbaren Menschen tot sehen wollte. Er hatte nichts anderes verdient. Er hatte es nicht verdient zu leben. Jacks Hände begannen zu beben als er sie zu Fäusten ballte. Mit ihnen spürte Ariane die Erde vibrieren. Eine orangene Aura loderte um seinen Körper. Der Mann lachte heiser. „Der Besitzer des Orangenen Skorpions… Wer hätte das gedacht.“ „Halt die Fresse.“, stieß Jack zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Und jetzt? Willst du Rache? Denkst du wirklich, du-“ „Halt die Fresse!“ Schnell wandte sich Ariane ab, kniff die Augen zusammen. Erwartete die Schreie, das Blut, … Doch nichts dergleichen geschah. Irritiert schaute sie auf. Die Erde bebte immer noch und jedermanns Blick war auf die Ursache dessen gerichtet. Jeder wartete auf… irgendwas. Jack ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Die Indigoner, die Soldaten worunter sich wahrscheinlich viele ehemalige Mitschüler von ihm befanden, und nicht zuletzt Herr Bôss und ihre Gruppe. Er verweilte für einen kurzen Moment bei Carsten, aber nicht lange. Jack lachte schwach auf und schüttelte den Kopf. „Das ist so falsch.“ Seine Stimme klang leise, gebrochen. Und dennoch war die Bitterkeit nicht zu überhören, mit der er diese Worte aussprach. „Diese ganze Welt ist so falsch.“ Er wandte sich ab, weg von diesem fürchterlichen Menschen. Ging auf die gewaltige steinerne Mauer zu. Das orangene Lodern wurde stärker. Mit ihm das Beben. Ein tiefes Grollen hallte über die gesamte Ebene. Anne zischte. „Der will doch nicht ernsthaft…“ Schließlich hatte er den Fuß der Mauer erreicht. Legte die Hand auf den kalten, unerbittlichen Stein. Die Äderchen auf seinem Handrücken stachen leuchtend orange hervor. „Das erfordert viel zu viel Energie!“, bemerkte Susanne schockiert. Das Beben hörte auf. Er ballte die Hand zur Faust. „Jack, nicht!“, schrie Janine. Es krachte. Gewaltige Risse zogen sich die Mauer hoch, breiteten sich immer weiter aus. Tiefe Furchen schlugen sich in die Erde, bahnten sich ihren Weg in das Innere des Komplexes. Ein Pfeifen schrillte in ihren Ohren, während selbst das unnachgiebige Eisentor aus seinen Angeln gerissen wurde. Kolossale Brocken regneten auf den Boden herab. Noch während der unüberwindbare Wall in sich zusammenstürzte, konnten sie die Gebäude im Inneren der Anstalt sehen. Graue, erdrückende Bauten. Sie alle wurden zerrissen, brachen ein, fielen in sich zusammen. Eine gewaltige dunkle Wolke breitete sich aus, tauchte die gesamte Umgebung in einen Nebel aus Staub. Ariane hustete, als sie sich an den winzigen Körnchen verschluckte, ebenso einige andere, die die aufgewirbelte Erde einatmeten. Schützend hielt sich Ariane die Hand vors Gesicht, aber dafür war es ohnehin schon zu spät. Nur schwach konnte sie das orangene Leuchten noch erkennen. Allmählich legte sich der Staub, gab ihnen die Sicht auf den wolkenverhangenen Himmel frei. Langsam nur, ganz langsam, als würde die Natur ihnen die Zeit geben wollen, sich auf diesen Anblick vorzubereiten. Die lodernde Aura der Erd-Energie wurde schwächer. Aus den Augenwinkeln bemerkte Ariane, wie Janine einen Schritt nach vorne gehen wollte, jedoch in der Bewegung innehielt. Mit angehaltenem Atem betrachteten sie den jungen Mann, welcher vor dem Zentrum der Verwüstung stand. Kein Stein stand mehr auf dem anderen, nichts war mehr intakt. In diesem Moment, in diesen wenigen Sekunden… hatte das FESJ aufgehört zu existieren. Langsam, wie in Zeitlupe, drehte sich Jack zu ihnen um. Die Energie pulsierte noch immer durch seine Adern, gab seinen grünen Augen einen dämonischen Blick. Ariane hörte, wie Sachen auf den Boden fielen. Verwirrt schaute sie hinter sich. Sah, wie im Prinzip alle Soldaten in grauer Uniform ihre Waffen fallen ließen. Unglauben regierte die Gesichter vieler. Manche brachen unvermittelt in Tränen aus, andere begannen aus heiterem Himmel zu lachen. Es war ein seltsames Gefühl, fast schon unwirklich. Und doch war sie da, diese Freude. Diese Freiheit. Einige Indigoner wurden vollkommen überfordert, als sie von ihren Feinden plötzlich überschwänglich in die Arme geschlossen wurden. Andere begannen schluchzende Soldaten zu trösten, die erst im Alter von Arianes Schwester sein dürften. Solche Leute waren einst dort gefangen? Solche Leute hatte Mars gegen sie in den Krieg geschickt?! „Danke…“ Hastig wandte sich Ariane Carsten zu, als sie seine zitternde Stimme hörte. Tränen hatten sich in seinen Augen gesammelt und doch war auf seinen Lippen ein schwaches Lächeln, während sein Blick auf Jack gerichtet war. Es war dieses eine Wort, was jeder der ehemaligen Schüler dieser grauenhaften Anstalt gerade im Herzen trug. „Danke“ Kapitel 95: Narben ------------------ Narben       Es war ein eigenartiges Gefühl. Erleichterung und Freude breitete sich in Laura aus, während sie die Reaktionen dieser ganzen Leute beobachtete. Diese Ausgelassenheit, diese Freiheit, … Obwohl das strahlende Blau des Himmels noch immer hinter der dichten Wolkendecke schlummerte, war ihr als käme die Sonne raus. So sehr strahlten die Gesichter dieser jungen Männer, so sehr konnte man spüren, wie das Licht zu ihnen zurückkehrte. Freudentränen stahlen sich aus Lauras Augen und doch war sie zur selben Zeit auch verwirrt. Waren das nicht eigentlich alles Verbrecher gewesen? Jugendliche, die irgendwas Schlimmes gemacht hatten, weshalb sie in dieser Anstalt gelandet waren? Sie dachte, Carsten wäre die einzige Ausnahme. Aber bei diesem Anblick begann sie daran zu zweifeln. Bei wie vielen davon handelte es sich tatsächlich um Verbrecher? Wie viele sind zu Unrecht dort eingesperrt worden? Und spielte das überhaupt eine Rolle? Sie hatte vorhin erst die ganzen Narben auf Jacks Oberkörper gesehen. Und trotzdem, obwohl sie wusste was er in seiner Zeit bei Mars alles getan hatte, hatte es sich falsch angefühlt. Hatte sich ihr Herz zusammengepresst. Niemand wünschte jemandem solche Qualen. Lauras Blick fiel auf Carsten, der auf dem Boden kniete und sich immer und immer wieder Tränen aus den Augen wischen musste. Und trotzdem lachte er. Er hatte schon lange nicht mehr so sorglos gewirkt. Es schien eine Ewigkeit her, dass seine lila Augen dieses Strahlen hatten. Obwohl er diese Gemäuer vor acht Monaten bereits verlassen hatte, schien er jetzt erst wahrhaftig frei zu sein. Wie als wäre sein Herz all die Zeit noch in der Steinmauer gefangen gewesen. Gefangen in den erdrückenden, kalten Wänden. Von denen nun keine einzige mehr stand. Nicht ein Pfeiler hatte den Einsturz überlebt, alles war dem Grund und Boden gleich gemacht worden. War vollkommen zerstört. „Was bei den Dämonen…“ Anders schien Eagle die Situation nicht beschreiben zu können. Es war der einzige Weg, wie er seine Verwirrung in Worte zu fassen vermochte. Lissi schaute kurz zu ihm und ging anschließend zu dem Rest der Gruppe, der sich inzwischen um Carsten versammelt hatte und ebenso sprachlos schien. Laura folgte ihr und nach einigem Zögern auch Eagle. Vorsichtig kniete sich Laura neben ihren besten Freund und berührte sanft seinen Arm. Sie musste ihn nicht fragen, wie es ihm ging. Er musste nicht antworten. Dieser eine Blick, den sie austauschten, reichte schon aus. Ein Stein fiel ihr vom Herzen, beinahe als hatte diese gewaltige, kalte Mauer auch sie im innersten eingesperrt. Als wäre auch sie nun endlich frei. Erleichtert und schluchzend legte Laura die Arme um Carsten, drückte ihn so fest an sich, dass sie ihn damit eigentlich zerquetschen müsste. Lachend erwiderte Carsten diese feste Umarmung. Kurz schaute sie zu Ariane, die sich ebenfalls lächelnd die Tränen von der Wange wischte. „Aaaaaw, kommt her ihr Süßen!“ Plötzlich legte Lissi die Arme um die Schultern der beiden Mädchen, umarmte sie alle gleichzeitig. Diese stürmische Aktion überraschte Ariane so sehr, dass sie ungebremst auf Carsten fiel, was nun auch den Rest auflachen ließ. Laura hatte den Eindruck fast erdrückt zu werden, während die anderen dieses Umarmungsknäuel vergrößerten und Öznur selbst Anne und Eagle dazu zog, sodass sie aufpassen musste, dass Carsten nicht zu sehr unter ihnen allen begraben wurde und noch irgendwie an Sauerstoff kam. Glücklicherweise hielten sich zumindest Florian, Konrad und Jannik zurück, denn Laura wusste nicht, ob sie überhaupt noch eine Fliege würde aushalten können. Während sie um Luft und Gleichgewicht kämpfte, konnte sie aus einem schmalen Spalt zwischen dieser Masse hindurch beobachten wie Herr Bôss zu Jack ging, welcher immer noch vor den Überresten des FESJ stand. Bedrückt bemerkte Laura, dass das orangene Leuchten der Adern kaum nachgelassen hatte. Und selbst aus ihrer Entfernung konnte sie seinen leeren Blick erkennen. Auch dem Rest schien dies nach und nach aufzufallen und allmählich richtete sich jedermanns Aufmerksamkeit auf den Besitzer des Orangenen Skorpions, den man wahrlich als Herrscher der Erde bezeichnen konnte. Denn so groß, so gewaltig wie dieses Areal war, welches er zum Einsturz gebracht hatte, war es wie ein Wunder, dass er überhaupt noch am Leben war. Oder gar immer noch auf beiden Beinen stehen konnte. Besonders wenn man im Hinterkopf hatte, dass die Verletzungen nach wie vor nur langsam verheilten. Insgeheim rechnete eigentlich jeder damit, dass Jack das Bewusstsein verlieren würde als Herr Bôss ihn mit gedämpfter Stimme fragte, ob alles in Ordnung sei. Doch nichts geschah. Weder bekam der Direktor eine Antwort auf seine Frage, noch brach Jack zusammen. Er reagierte überhaupt nicht. „Wir sollten ihn besser zum Krankenhaus zurückbringen.“, meinte Susanne, während sich Lissi bereits aus dem Knäuel befreit hatte und zu Jack und dem Direktor ging. Gerührt bemerkte Laura, wie Johannes schon bei den beiden stand und den ‚Zocker-Onkel‘ fragte, ob es ihm nicht gut ginge. Allmählich bekam sie genug Platz, um wieder normal atmen und sich aufrichten zu können. Und auch Carsten ließ sich von ihr auf die Beine ziehen. Trotz ihrer Sorge um Jack beobachtete Laura belustigt, wie Carsten schließlich Ariane hoch half, die durch Lissis Überfall und die Kuschelrunde noch mehr erdrückt worden ist als Laura oder gar Carsten selbst. Bei dem scheuen Lächeln der beiden musste sie sich arg zusammenreißen, nicht plötzlich los zu quietschen. Gleichzeitig ärgerte sie sich, dass dieser Moment zwischen ihnen gezwungener Maßen in aller Öffentlichkeit stattfand. Denn Laura war sich ziemlich sicher, dass es zumindest einen von beiden geben würde, der die Schüchternheit und Zurückhaltung überwunden hätte, wenn sie unter sich gewesen wären. … Ach Mann! „Sag mal Ray, was zum Henker machst du eigentlich hier?“, fragte Eagle plötzlich den Indigoner, welcher vor kurzem nur dank Susanne dem Tod entronnen war. Schaudernd erinnerte sich Laura, ihn unter anderem bei Eagles Geburtstag gesehen zu haben. Ray seufzte. „Nach den Prüfungen wollte ich doch meine Großmutter besuchen, da sie seit dem Tod meines Großvaters ganz alleine lebt.“ „… Ach stimmt, die wohnt in Tahi.“, erinnerte sich Eagle. Verbissen klopfte er seinem Kumpel auf die Schulter. „Immerhin bist du mit dem Leben davongekommen.“ Ray lachte auf. „War ja klar, dass dir nichts Liebevolleres einfällt.“ Dafür wurde er von Öznur umarmt. „Ich bin echt froh, dass es dir gut geht.“ Laura merkte, wie er das Zittern seiner Stimme nicht ganz verbergen konnte als er erwiderte: „Wem sagst du das…“ Rays Blick fiel auf Susanne und Anne. „Danke euch.“ Susanne lächelte sanft und selbst Annes Nicken wirkte weniger kalt und distanziert im Vergleich zu sonst. „Aber echt, das war richtig gutes Teamwork!“, bemerkte Öznur begeistert. „Woher wusstest du was Susi vorhat, Anne?“ Anne fuhr sich durch die Haare und wirkte ungewohnt verunsichert. „Na ja, das ist doch eigentlich logisch. Wenn ausgerechnet Susanne mitten ins Massaker rennt, dann nicht ohne Grund. Also…“ Susanne kicherte. „Trotzdem, du hast wirklich schnell reagiert. Danke.“ Laura fragte sich, ob es Einbildung war oder ob Annes dunkle Haut tatsächlich noch einen dunkleren Ton annahm, als Susanne ihr das für sie typische, liebevolle Lächeln zuwarf. „Ist doch nichts dabei.“ Anne zuckte gleichgültig mit den Schultern und Laura kam zu dem Entschluss, dass es wohl doch nur ein Schatten war. Als würde irgendetwas oder -jemand Anne in Verlegenheit bringen können. Herr Bôss informierte den Rest der Versammlung telefonisch was geschehen war und wenig später kamen auch schon der König von Ivory sowie weitere Vertreter der Regionen an. Sie staunten nicht schlecht bei dem Anblick der sich ihnen bot. O-Too-Sama warf einen Blick auf Jack, den Laura nicht ganz deuten konnte. „Ihr solltet euch ausruhen.“ Der König von Ivory nickte. „Das ist eine gute Idee. Wir kümmern uns um alles weitere hier, seid unbesorgt.“ Dem stimmten auch die Vertreterin von Lumière und derjenige von Cor zu. „Dann sehen wir uns nachher.“, meinte Eagle an ihre Gruppe gewandt, woraufhin Öznur die Hände in die Hüften stemmte. „Was heißt hier ‚nachher‘?! Du kommst schön mit, mein Lieber!“ „Aber-“ „Nichts aber!“, widersprach seine Freundin ihm empört. „Wir sind dir gefolgt, weil wir gerade auf keinen Fall zu weit weg voneinander sein sollten!“ „Falls du es vergessen hast: Ich bin der Häuptling.“, erinnerte Eagle sie verärgert an seine Pflichten. „Und meine Region ist eben gerade aus heiterem Himmel angegriffen worden! Weißt du, wie viele von meinem Volk dadurch gerade ihr Leben lassen mussten?! Ich muss hierbleiben und klären, wie es jetzt weiter geht!“ „Und trotzdem ist das gefährlich!“, widersprach Öznur verzweifelt. Tränen bildeten sich in ihren Augen, was Eagle jedoch nur noch wütender werden ließ. Bevor er aber etwas sagen, oder eher brüllen, konnte, meinte Ray plötzlich irgendwas auf Indigonisch. Daraufhin erwiderte das Stammesoberhaupt noch was. Nun entstand zwischen den dreien eine Diskussion, die der Großteil von ihnen jedoch überhaupt nicht mitverfolgen konnte. Laura schaute fragend zu Carsten aber statt ihnen die Situation zu schildern, meinte er nur: „Eagle, bitte…“ Kurz erwiderte Eagle den Blick seines kleinen Bruders und gab sich schließlich seufzend geschlagen. „Na gut.“ Er betrachtete Ray und das Stammesoberhaupt. „Ich verlass‘ mich auf euch.“ Auf die irritierten Blicke hin erklärte er: „Die beiden kümmern sich um alles. Ray spielt den Dolmetscher.“ Öznur atmete hörbar auf und auch Laura kam nicht drum herum erleichtert zu sein, dass Eagle mit ihnen mitkommen würde. Tatsächlich fühlte sie sich inzwischen deutlich sicherer, wenn ihre Gruppe zusammenblieb.   Somit waren es auch ausnahmslos alle, die Herr Bôss und Jack zurück zu Kariberas Krankenhaus begleiteten. Obwohl letzterer sichtlich einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte, während der Rest gerade ihn am aller wenigsten vorhatte alleine zu lassen. Nach dem Vorfall vorhin… Wer weiß, was sonst passieren könnte. „Ich brauche keine Aufpasser.“, meinte Jack nur, der genervte Ton verlor sich jedoch völlig bei seiner erschöpften Stimme. Laura war immer noch überrascht und auch beeindruckt, dass er sogar nach der Teleportation weiterhin auf beiden Beinen stehen konnte. Sie selbst wäre schon längst zusammengebrochen. „Valentin, wir sind keine Aufpasser. Ruhe dich einfach etwas aus, in Ordnung?“, meinte Herr Bôss beschwichtigend. Mit einem Seufzen ließ sich Jack auf dem Bettrand nieder, wirkte aber nicht so als würde er sich ausruhen wollen. Mitfühlend betrachtete Laura den gesenkten Blick. Vermutlich war es die Angst vor den Träumen, die ihn vom Schlafen abhielt. Die Angst vor den Bildern, die sich vor seinem inneren Auge abspielen würden. Denen er nicht entkommen konnte… „Wirklich Jack, du brauchst den Schlaf.“, mischte sich auch Susanne ein, woraufhin er jedoch keine Reaktion zeigte. „Jack…“, setzte Carsten an, wusste aber nicht was er sagen sollte. Kurz schaute Jack auf. Als er die Sorge und Zuneigung in Carstens Augen sah, huschte ein bedrücktes Lächeln über seine Lippen. „Andernfalls lasst ihr mich ja eh nicht in Ruhe, oder?“ Betreten schaute Carsten auf den Boden, während sich Jack von Biker Boots, Lederjacke und Hemd trennte, um sich in Jeans und T-Shirt auf das Bett zu legen. Er schien deutlich erschöpfter als er es sich anmerken lassen wollte. Ein betretenes Schweigen entstand, während der Rest beobachtete, wie Jack zur Decke hochschaute. Das Orange der Äderchen stach immer noch deutlich hervor und hielt die Erinnerungen an die vorigen Geschehnisse wach. Rief ihnen erneut ins Gedächtnis, was all das ausgelöst hatte. … Und auch wer. Wer ist das gewesen? Dieser Mann, dessen Anblick allein einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, bei dessen Stimme sich Laura direkt hatte verstecken wollen. Irgendwo verstecken, egal wo. Hauptsache er würde sie niemals finden. Alleine diese Erinnerung ließ Laura schaudern. Mit einem genervten Stöhnen drehte sich Jack auf die rechte Seite. „Ernsthaft, so werde ich erst recht nicht einschlafen können, wenn ihr mich alle anstarrt.“ „Soll… ich dir Tabletten holen?“, bot Carsten zögernd an. „Bringt doch eh nichts…“, murmelte er, so erschöpft, dass man ihn kaum verstehen konnte. Mitfühlend überlegte Laura, ob es nicht irgendeinen Weg gab, diese Albträume von ihm fernzuhalten. Irgendetwas, um ihm den Schlaf zu ermöglichen, den er so dringend brauchte. Es war doch eindeutig! Man konnte doch sehen, wie die Angst ihn wachhielt, obwohl sein Körper um Ruhe bettelte! Laura schaute hilfesuchend zu Carsten. Es gab doch unter Garantie einen Zauber. Wenn nicht einmal Magie helfen konnte, was dann? Sie merkte, wie Carsten bedrückt den Blick senkte. Fast so, als befände er sich im Zwiespalt zwischen… Zwischen was? Plötzlich trat Kito ans Bett und sprach das aus, was jeder sich dachte: „Du hast Furcht vor bösen Träumen.“ Jack lachte schwach. „Wie kommst du denn auf so eine Idee?“ Sie schien seine Ironie nicht herausgehört zu haben, zumindest antwortete sie ernst: „Du zitterst und dein Herz schlägt schnell. Und Eagle sprach du bist ein Sorgenkind.“ „… Was du nicht sagst.“, erwiderte Jack stumpf. Kito lächelte ihn freundlich an. „Soll ich helfen?“ „Kein Gutenachtkuss.“ Laura unterdrückte ein Kichern bei Jacks bestimmtem Tonfall. Nach Lissis Versuch und da er vorhin auch noch von Risa überrumpelt worden ist, war diese Sorge sogar irgendwie berechtigt. Aber so erschöpft und kratzig wie seine Stimme klang… Da kam selbst der für ihn typische Sarkasmus kaum durch. Kito schüttelte den Kopf und Jacks Erleichterung war so deutlich sichtbar, dass der Großteil von ihnen jetzt doch auflachen musste. Für einen Moment vergaßen sie sogar, in was für einem besorgniserregenden Zustand er sich eigentlich gerade befand, als Kito süß unschuldig meinte: „Ein Gutenachtlied.“ Und Jack trocken „Das wird ja immer besser.“ erwiderte. Laura versuchte ihr Lachen einzudämmen, während Kito ihn besorgt anschaute. „Aber du hast doch Furcht vor den bösen Träumen.“ Jack schien irgendetwas erwidern zu wollen, hielt beim Einatmen jedoch inne. Schließlich schloss er seufzend die Augen. Fast so, als würde er der Erschöpfung endlich nachgeben. Einer Müdigkeit, die schon seit Jahren auf ihm lastete. „Mach was du willst…“ „.… Und was willst du?“ Laura kam nicht drum herum zu denken, dass Kitos Frage tiefgründiger war als man erwarten würde. Für jemanden, der sein Leben lang eigentlich immer nur unterdrückt oder kontrolliert worden ist, der sich in den Händen von irgendwelchen abscheulichen Autoritäten oder überirdischen Mächten befunden hatte… Gab es da überhaupt mal jemanden, der ihn nach seinem Willen gefragt hatte? Tatsächlich kam diese Frage so unerwartet, dass sie Jack sogar ein bisschen ins Straucheln zu bringen schien. ‚Was willst du?‘ War es so schwer, darauf eine Antwort zu finden? Schließlich seufzte er. „Ruhe… Ich will einfach nur Ruhe.“ Vorsichtig streckte Kito die kleine, bräunlich gefärbte Hand aus. „Also soll ich?“ Man merkte, wie Jack schon wieder zu ‚Mach was du willst‘ ansetzen wollte. Doch schließlich vergrub er sein Gesicht etwas im Kissen und meinte schwach: „Von mir aus.“ Kito lächelte nur und begann zu singen. Sie hatte eine schöne zarte Stimme, bei der man das Kindliche noch deutlich heraushören konnte und doch wirkte sie zugleich erwachsen. Die Melodie war sanft und beruhigend. Sie war in solcher Harmonie mit den dryadischen Worten, dass Laura selbst eine Müdigkeit überkam und sie sich gegen Carsten lehnte. Sie glaubte schwache Wellen in dem Raum schimmern zu sehen, doch es könnte genauso gut die einlullende Wirkung sein, die dieses Lied auf sie hatte. Noch während die letzten Töne verklangen, schloss Laura die Augen. Als jemand sie sanft an der Schulter berührte, blickte sie irritiert auf und blinzelte schlaftrunken, woraufhin Carsten sich belustigt abwandte. Auch Lauras Blick fiel auf das Bett. Dem ruhigen, gleichmäßigen Atmen nach zu urteilen, hatte das Schlaflied tatsächlich gewirkt. „Das war Illusionsmagie, nicht wahr?“, fragte Carsten gedämpft, woraufhin Kito nickte. Florian hob anerkennend die Augenbrauen. „Wirklich beeindruckend.“ „Wieso? Was hat es damit auf sich?“, fragte Ariane irritiert, aber dennoch leise. „Illusionsmagie wird als eine der kompliziertesten Formen der Magie angesehen.“, erklärte Susanne, „Da sie auf den Geist wirkt und nicht auf etwas Körperliches.“ „Aber das ist ja der Wahnsinn!“, staunte Öznur und schaute Carsten empört an. „Warum hast du uns sowas nicht auch beigebracht?!“ „Weil sie sehr schwer zu kontrollieren ist.“, antwortete dieser verbissen und deutete an, etwas leiser zu sein. „Eufelia hatte dich damals Illusionsmagie gelehrt, nehme ich an.“, vermutete Konrad. Carsten nickte, doch so, wie er den Blick gesenkt hatte… „Ich… nur ein bisschen. Irgendwann hatte ich mich dem Unterricht verweigert.“ Irritiert betrachtete Laura ihren besten Freund. Carsten hatte sich dem Unterricht verweigert? Er hatte sich gegen Eufelia-Sensei gestellt? Einer respektablen Autoritätsperson?! „Ich will so etwas nicht können.“, meinte er schließlich. „Ich will nicht die Macht über den Geist von anderen Leuten haben…“ „Klingt so als hättest du keine guten Erfahrungen damit gemacht.“, stellte Eagle fest. Laura merkte, wie sich sein Kiefer anspannte, als Carsten meinte: „Nicht wirklich… Ich… Ihr wisst ja: Bei den Zaubersprüchen der Dryaden hängt viel vom Klang der Stimme ab. Eine kraftvolle, laute Stimme ermöglicht gewaltige Angriffszauber, während sie für Heilzauber freundlich und zuneigungsvoll sein sollte.“ Er wies auf Kito. „Deswegen erzielen Lieder so eine große Wirkung, da ihre Melodie den Zauber unterstützt.“ Bedrückt fuhr sich Carsten über die drei Narben auf seiner Nase. „In einem Trainingskampf hatte ich mal einen Illusions-Zauber testen wollen…“ Lauras Herz blieb stehen. In einem Trainingskampf… gegen Benni? „Du hast ihn genauso ausgesprochen wie einen normalen Angriffszauber, nicht wahr?“, hakte Florian nach. „Ja…“ Carstens Körper verspannte sich merklich. Diese Erfahrung schien immer noch schmerzhafte Spuren in ihm hinterlassen zu haben. „Ich…“ Er schluckte schwer. „Ich habe Benni noch nie so schreien hören…“ „… Was?“, fragte Laura, jegliche Luft war ihren Lungen entwichen. Einatmen schien eine unmögliche Zumutung zu sein. „Aber wie… was…“ „Aber es ist alles gut ausgegangen, nicht wahr?“, vergewisserte sich Ariane hastig. „Eufelia-Sensei war zum Glück in der Nähe und konnte sofort reagieren, aber… Auch, wenn Benni sich schnell erholt hatte und kurz darauf wieder ganz der Alte war… Dieser Moment… zu sehen wie…“ Zitternd atmete er aus. „Ich kann das nicht beschreiben…“ „Musst du nicht…“ Bedrückt senkte Laura den Blick, ebenso der Rest. Das, was Carsten nicht in Worte fassen konnte, war eben dieses Grauen, was sie bei ihm selbst vor kurzem erst wieder hatten mitansehen müssen. Gefangen in einer anderen Realität. Szenarien, die einem im Geist quälten. Schmerzen, die über die Grenzen der Psyche hinausgingen. All dies, so schwer nachvollziehbar, nicht fassbar und gefühlt genauso unbesiegbar. „Carsten…“, setzte Laura an, doch er schüttelte den Kopf. „Wir sollten rausgehen, Jack braucht Ruhe.“ „Nicht nur er…“, hörte sie Ariane seufzen, doch Carsten hatte sich bereits mit einem dankbaren Lächeln an Kito gewandt. „Vielen Dank, du hast ihm damit mehr geholfen als du ahnst.“ Kito erwiderte das Lächeln wissend. Zeitgleich drehte sich Jack etwas im Bett und gab einen schwachen Laut von sich. Laura kicherte in sich hinein. Dieser ruhige, friedliche Ausdruck beim Schlafen erinnerte sie an Benni und sie kam nicht drum herum zu realisieren, dass Jack eigentlich ein ganz Süßer war. Erleichtert stellte sie fest, dass allmählich auch das Orange in den Adern verblasste. Erstaunlich, was für eine Wirkung Schlaf doch haben konnte. „Los, komm.“, meinte Carsten, doch es war nicht Laura, die er damit aus den Gedanken holte und Richtung Tür schob. Janine warf einen Blick zurück über die Schulter. „Diese Narben an seinem rechten Unterarm…“ Narben? Verwirrt schaute Laura genauer hin. Direkt verstand sie, was Janine meinte. Waren das… Hatte er… Betreten biss sie sich auf die Unterlippe. Anne seufzte. „Der Typ ist total hinüber.“ Lissi zuckte mit den Schultern, doch ihre Stimme klang deutlich weniger entspannt als die Geste. „Er meinte ja, wir wollen gar nicht wissen, wie er versucht hat mit alldem fertig zu werden.“ „… Weißt du es? Was da vorgefallen ist?“, fragte Janine zögernd, während sie das Zimmer verließen. Schaudernd verschränkte Laura die Arme vor der Brust, als sie schon wieder an diesen unheimlichen Mann erinnert wurde. Lissi wiederum warf Janine einen leicht herausfordernden Blick zu. „Dafür, dass du ihn so zu hassen scheinst, machst du dir aber ziemlich viele Sorgen.“ … Stimmt. Irritiert betrachtete Laura Janine, die auf Lissis Aussage jedoch nichts zu antworten wusste.  Kopfschüttelnd ließ Lissi das Thema ruhen und meinte auf die ursprüngliche Frage hin: „Eigentlich will ich es gar nicht wissen.“ Betrübt merkte Laura, dass sie damit im Prinzip Jacks Worte verwendet hatte, als sie ihn selbst heute früh auf das FESJ angesprochen hatten. Das war ganz sicher kein Zufall. Inzwischen waren sie in dem Café angekommen und setzten sich schweigend an einen großen Tisch in die Ecke. „Es ist so leer hier…“, stellte Susanne schaudernd fest. Bis auf ihre Gruppe war keine andere Person anwesend. Eagle verschränkte die Arme vor der Brust. „Haben vermutlich jetzt alle Hände voll zu tun…“ Laura fiel auf, wie Carsten einen Blick auf die Tür warf. Sein großer Bruder ebenso, der verbissen meinte: „Du bleibst sitzen.“ „Aber-“ „Zwing uns nicht dich an den Stuhl zu fesseln.“, unterbrach Eagle ihn und erstickte die kommende Diskussion direkt im Keim. Und wieder brach Schweigen aus. Wieder kam diese unheimliche Stille hoch. Diese bedrückte Atmosphäre… Die sich in keiner Weise besserte, als Susanne zögernd fragte: „Sag mal, Lissi… Als du Jack vorhin beruhigt hast, warum… Warum bist du da so auf Abstand geblieben?“ Sofort wusste Laura, was Susanne damit meinte. Also hatte nicht nur sie das eigenartig gefunden. Dass Lissi so lange für die Antwort brauchte gefiel ihr ganz und gar nicht. Und der ungewohnt bedrückte Blick noch viel weniger, als sie schließlich sagte: „Weil er ziemlich viel Wert auf seinen persönlichen Freiraum legt.“ Diese Aussage verwirrte Laura noch mehr. Besonders als Anne meinte: „Er hat ganz schöne Berührungsängste, kann das sein?“ „Ey jetzt ernsthaft, was wollt ihr damit sagen?!“, fragte Öznur entsetzt. „Könnt ihr euch das nicht denken?“ Lissi schaute in die Runde, doch als keine Reaktion kam, wandte sie sich an Herr Bôss. „Dieses Schweigegelübde das Sie leisten mussten… Das war bei einer Gerichtsverhandlung, nicht wahr?“ Gerichtsverhandlung? Etwa… Etwa von diesem… Mann? Herr Bôss erwiderte Lissis Blick, wissend, dass sie es wusste. Und obwohl er nicht darauf antwortete, obwohl noch nicht einmal ein Nicken von ihm kam, sagte irgendetwas in seinen Augen, dass sie recht hatte. „Er war davor im FESJ. Ein Lehrer? Oder… was Größeres?“, hakte sie nach. Schaudernd verschränkte Laura die Arme vor der Brust. Worauf lief das hinaus? Dieses Mal bekam Lissi eine Antwort. Seufzend senkte Herr Bôss den Blick. „Der Direktor.“ Bei seinen Worten fiel ihnen alles aus dem Gesicht. „Dieser Typ?!“, fragte Ariane entsetzt. „Jetzt mal im Ernst, ich versteh kein Wort!“, rief Öznur verzweifelt aus. „Wovon redet ihr?!“ So langsam realisierte Laura es. Sie wusste, was Jack mit seiner Aussage gemeint hatte. Und ja, sie wollte es gar nicht wissen. Ohne etwas dagegen machen zu können kamen ihr die Tränen. Carstens Blick nach zu urteilen verstand auch er, was Lissi damit sagen wollte. Und so wie sich Janine über die Augen wischte und Susanne sanft Annes Arm berührte, die ungewohnt empathisch wirkte, schien allmählich auch der Rest zu begreifen. Eagle legte die Stirn in Falten. „Du willst uns jetzt nicht ernsthaft sagen, dass er dort damals vergewaltigt worden ist, oder?“ Zitternd atmete Lissi aus. „Wenn die Schulaufsicht einschreitet, obwohl sie in dieser speziellen Einrichtung so gut wie nichts zu melden hat? Das klingt mir immer mehr nach organisiertem Kindesmissbrauch.“ Eine unbeschreibliche Schwere breitete sich in ihnen aus. Es war unmöglich sie in Worte zu fassen, diese Starre. Fast schon apathisch saßen sie da, eingenommen vom Gefühl zu Stein erstarrt zu sein. Obwohl Laura sie gehört hatte, obwohl sie wusste, dass dies die Wahrheit war, weigerte sich irgendetwas in ihr das zu verstehen. Zu akzeptieren, dass etwas derartiges tatsächlich passiert sein könnte. Und doch… insgeheim… Lissi biss die Zähne zusammen. „Können Sie bitte sagen, dass ich mich irre? Dass ich zu viel in all das hineininterpretiere?!“ Laura wusste nicht, wann sie Lissi jemals hatte weinen sehen. Wann ihre Stimme so verzweifelt klang, wie bei diesem einen Wort: „Bitte!“ Nicht nur in Lissis Augen lag dieses Flehen. Somit war es Herr Bôss unmöglich all den entsetzten Blicken Stand zu halten, als er schließlich antwortete: „Ich wünschte, ich könnte es.“ Also hatte sie recht. Sie hatte mit allem recht. Laura schluchzte. „Wieso? Wie kann ein Mensch sowas machen?!“ „Das werden wir wohl nie verstehen können…“, meinte Anne nur verbissen. Nach einigem Zögern fragte Konrad: „Wann war das?“ Herr Bôss fuhr sich durch die langen, rosaroten Haare und seufzte. „Ihr wisst, dass ich nicht darüber reden darf.“ „So ganz stimmt das nicht.“, warf Florian nachdenklich ein, „Da Terra nicht zur Damonischen-Allianz gehört, hat das neue Gesetz dort keine Wirkung. Wir werden von dieser Region nach wie vor nicht als normale Bewohner Damons anerkannt, also…“ „Also gibt es nichts, was vertraglich eine Verschwiegenheit uns gegenüber rechtfertigen würde.“, beendete Susanne seine Gedanken. „Stimmt…“ Der Direktor nickte, doch so wie er den Blick abwandte, schien es ihm trotzdem schwer zu fallen sie in all das einzuweihen. Darüber zu reden, was einst vorgefallen war. Was nur zu verständlich war, wenn es wirklich… Wenn dort… „Herr Bôss, bitte. Ich muss es wissen. Wann war dieser Prozess? Bis wann war dieser… Mensch dort der Direktor?!“ Konrads Stimme hatte etwas ungewohnt Drängendes und auch Lauras Angst wuchs. Sie warf einen besorgten Seitenblick auf Carsten. Ihr blieb die Luft weg, als die Frage in ihrem Kopf Form annahm. Hatte Carsten das noch miterlebt?! Ist das noch etwas, was er uns all die Zeit verschwiegen hat?!? Herr Bôss merkte, wie nicht nur in Laura die Panik bei dieser Befürchtung hochkam. Daher meinte er schließlich beschwichtigend: „Das war vor zehn Jahren.“ Ein Aufatmen. Nur Carsten selbst ballte die bebenden Hände zu Fäusten, als würde er erst jetzt realisieren, was beinahe ihm selbst widerfahren wäre. Sanft legte Ariane ihre Hand auf seinen Rücken, um ihn zu beruhigen. Doch Carsten bekam dies gar nicht mit. Stattdessen meinte er zitternd: „Der Vorfall mit den Kampfkünstlern liegt zwölf Jahre zurück…“ Laura war als wäre sie vom Blitz erschlagen worden. Er war mit den Gedanken gar nicht bei sich selbst gewesen, sondern… „Leon Lenz hatte Benni damals verbannt, obwohl es eigentlich geläufig war, dass in solchen Fällen…“ Kopfschüttelnd verscheuchte Konrad den Rest der Gedanken. Die sich dafür in ihren Köpfen fortsetzten. Die Todesstrafe, das FESJ, … Es hätte keinen Unterschied gemacht. Wenn O-Too-Sama Benni damals nicht verbannt hätte, dann… Hätte ihn dann dasselbe Schicksal erwartet, wie das, was Jack hatte ertragen müssen?! Frierend verschränkte Laura die Arme vor der Brust. „Und dadurch hatten Sie in dieser Zeit Jack kennengelernt, nicht wahr?“, vergewisserte sich Anne, kam zum ursprünglichen Thema zurück. Herr Bôss nickte und warf einen prüfenden Blick in den Raum, doch bis auf ihre Gruppe war immer noch niemand anwesend. „Es kann gut sein, dass auch Leon Lenz Gerüchte erreicht hatten, wer weiß.“, begann er schließlich zu erzählen. „Wir in der Schulaufsicht hatten damals einen Tipp von der Polizei bekommen. Es gab wohl einige Prozesse, wo die Täter im Verhör haben durchblicken lassen, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend mehrfach missbraucht worden sind. Als die Polizisten dem genauer nachgegangen sind, haben sie festgestellt, dass ein signifikant hoher Anteil dieser Täter einst das FESJ besucht hatte…“ Jannik schluckte schwer. „Und Sie sind hin, um das zu überprüfen?“ Bedrückt nickte er. „Ich werde es nie vergessen, erstmals durch dieses eiserne Tor gegangen zu sein. Direkt herrschte eine gedrückte Atmosphäre. Das Atmen fiel schwer und am ersten Tag war mir so elend, dass ich den Eindruck hatte krank zu werden, bis ich realisierte, dass es an diesem Ort lag.“ Er seufzte. „Man hat sofort gemerkt, dass diese Anstalt eine lange Geschichte hat, bei der es fast ausschließlich um Gewalt geht. Eine Geschichte, die von Tag zu Tag länger wurde.“ Zitternd versank Laura etwas tiefer in dem hellen Polster der Bank, auf der sie saß und hatte die gewaltige, graue Steinmauer vor Augen. Kein Wunder, dass man sich dort krank fühlte… Sie meinte es sehen zu können, die leblosen Gesichter der Jungs mit ihren grauen Uniformen, während Herr Bôss die Erzählung fortsetzte: „Es war eindeutig, was den Schülern dort angetan wird. Und doch… Es schien wie als hätte man den Kindern eine Gehirnwäsche unterzogen. Ich hatte mit vielen von ihnen gesprochen. … Zumindest hatte ich es versucht. Aber immer hatte ich den Eindruck gegen eine Wand zu reden. Manche stritten alle meine Fragen ab, andere brachten überhaupt kein Wort über die Lippen. Es war vollkommen gleich, was ich versuchte. Vorsichtig oder über den direkten Weg… Niemanden konnte ich damit erreichen. Es war hoffnungslos…“ Laura senkte den Blick. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Arzt betrat das Café. Schweigen breitete sich aus, lediglich die Kaffeemaschine arbeitete, während sie versuchten Herr Bôss‘ Worte zu verarbeiten. Kaum war der Arzt mit seinem Kaffee wieder davongeeilt, fragte Ariane gedämpft: „Aber schließlich ist es doch zu dem Prozess gekommen, also wie…?“ Traurig lächelte der Direktor. „Weil es am Ende einen gab, der geredet hat.“ Lauras Herz quetschte sich zusammen, als sie die Andeutung verstand. Und noch mehr, als Lissi seinen Namen aussprach. „Jack.“ Herr Bôss nickte. „Ich… Ehrlich gesagt hatte ich schon aufgegeben. Ich war gerade mal fünf Tage da und hielt es bereits nicht mehr aus. Fünf Tage lang keinen einzigen Schritt weiter gekommen zu sein… Und gleichzeitig die Gewissheit zu haben, dass alle Befürchtungen der Wahrheit entsprechen… Es ging einfach nicht mehr. Dieser Ort macht einen krank, anders kann man es nicht sagen. Ab dem vierten Tag habe ich kein Essen mehr zu mir nehmen können, ohne mich wenig später zu übergeben.“ Sein Blick fiel auf Carsten. „Ich bewundere jeden, der das eine so lange Zeit aushalten konnte.“ Mit einem mulmigen Gefühl im Magen betrachtete Laura ihren besten Freund, doch Carsten stierte lediglich auf seine zitternden Fäuste. Wenn schon sie diese Übelkeit spürte… Vorsichtig beugte sie sich über den Tisch, um Carstens Hände in ihre eigenen zu nehmen. Selbst ohne Schwarzmagie wäre dieses Thema für ihn schon belastend genug. Das dachte sich wohl auch Ariane, die ein bisschen näher an ihn rückte und dabei fast nebensächlich Körperkontakt herstellte, während Herr Bôss weiterredete. „Nach einem Telefonat mit meiner Frau musste ich einsehen, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich konnte meine eigene Gesundheit nicht noch länger aufs Spiel setzen aber gleichzeitig… Gleichzeitig war da dieser Selbsthass. Das Gefühl nichts wert zu sein, wenn ich die Jungs weiterhin einfach so ihrem Schicksal überlasse. Und während ich dastand und diese trostlosen, grauen Bauten betrachtete, hin und her gerissen zwischen dem drängenden Wunsch zu helfen und der Befürchtung daran selbst zugrunde zu gehen…“ Er seufzte bedrückt, dennoch formte sich auf seinen Lippen ein Lächeln. Wenn auch ein trauriges. „Da wurde ich dann von einem der Knirpse angesprochen. Wie er hieß wusste ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht. Wenn man die Schüler dort nach ihrem Namen fragt, antworten sie mit der Nummer, die man ihnen gegeben hat und die sie auf einer Erkennungsmarke um den Hals tragen. Fast schon wie Hunde…“   „Gehen Sie schon wieder?“ Überrascht wandte sich Herr Bôss der kindlichen Stimme zu. Sie gehörte einem Jungen, der zu zierlich war, um tatsächlich zehn Jahre alt sein zu können. Das strubbelige rotbraune Haar fiel ihm etwas in die Augen, die trotz ihrer schönen grünen Farbe denselben leeren Blick hatten wie der seiner Mitschüler. Herr Bôss schaute auf die Ziffern des Metallplättchens. 3629 Zahlen hatte er sich noch nie gut merken können, Gesichter dafür aber umso besser. Und dieses Gesicht hatte er definitiv schon einmal gesehen. Der Junge war ziemlich hübsch und hatte irgendetwas an sich, weshalb er aus der Menge herausstach. Irgendetwas Außergewöhnliches, Besonderes. Und gleichzeitig auch stark und unbeugsam. Vielleicht war es deshalb, dass Herr Bôss bei seiner Befragung besonders viel Hoffnung in ihn gesetzt hatte. Er war unter Garantie eines der Opfer dieser widerwärtigen Bande. Und doch schien er einen felsenfesten Willen zu haben. Stark genug, um reden zu können. Um zu berichten, was hier in Wahrheit vor sich ging. Aber seine Hoffnungen sind enttäuscht worden. Während Herr Bôss den Blick dieser grasgrünen Augen erwiderte, fiel ihm auf, dass er dem Jungen noch eine Antwort schuldig war. Mit einem bedrückten Lächeln ging er vor ihm in die Hocke. „Na ja, es gibt nichts, was ich noch tun könnte.“ „Können… Sie nicht noch ein bisschen länger bleiben?“ Bei dem traurigen, flehenden Blick des Jungen brach ihm das Herz. Er konnte doch nicht einfach so aufgeben! Andererseits… bei der Befragung hatte er kein Wort gesagt. Wenn er Herr Bôss nun von sich aus ansprach… Vielleicht… „Warum soll ich denn bleiben?“, fragte er. Vorsichtig, um ihn nicht direkt einzuschüchtern. Die grünen Augen des Jungen richteten sich auf den Boden. „Weil… Seit Sie hier sind… tun die uns nicht mehr weh.“ Er hatte ihn! Er redete! Herr Bôss musste sich zusammenreißen, weiterhin vorsichtig zu bleiben. Ihn nicht zu sehr in Bedrängnis zu setzen. „Und ansonsten tun sie euch weh?“ Der Junge ballte die Hände zu Fäusten und überwand sich schließlich zu einem Nicken. Herr Bôss atmete tief durch. „Und deshalb bin ich hier. Ich versuche dafür zu sorgen, dass sie damit aufhören euch so schlimme Dinge anzutun. Aber…“ „… Dafür brauchen Sie Zeugenaussagen.“ Er war etwas verwirrt, als er direkt so ein Wort verwendete. Doch im Grunde genommen hatte er ja recht. Der Junge warf einen verunsicherten Blick hinter sich. Als Herr Bôss aufblickte erkannte er ihn. Den Mann mittleren Alters, hochgewachsen und muskulös. Sehr wahrscheinlich ein Kampfkünstler. Er stand am Fenster und beobachtete sie. Der Blick hatte etwas Bedrohliches, Einschüchterndes und machte mehr als deutlich, weshalb keines dieser Kinder es wagte, eine Aussage zu tätigen. Wer weiß, was er gedroht hatte ihnen anzutun. Da wurde Herr Bôss klar, dass er den Jungen erst einmal hier rausholen musste. Innerhalb dieser erdrückenden Steingemäuer würde er es nicht schaffen darüber zu reden. Vielleicht mit Hilfe der Polizei? Herr Bôss lächelte. „Ich kenne da jemanden, der helfen könnte. Aber zuallererst: Wie heißt du eigentlich?“ Der Junge hielt die Kette mit der Nummer hoch, doch Herr Bôss schüttelte den Kopf. „Nicht diese dämliche Zahl. Ich meine deinen Namen. Deinen richtigen Namen.“ „Ach so…“ Es tat im Herzen weh mitansehen zu müssen, wie der Junge einen Moment überlegte. Fast so, als müsse er sich erst einmal wieder an seinen wahren Namen erinnern. „Valentin.“ Herr Bôss lächelte. „Freut mich dich kennenzulernen, Valentin.“ Tatsächlich schaffte er es über einen aufwändigen Sonderantrag und mit Hilfe der Polizei, Valentin zumindest außerhalb dieser Gemäuer befragen zu können. Herr Bôss konnte sich kaum das Grinsen zu verkneifen, als er beobachtete, wie der Junge das grün-weiße Polizeiauto erblickte, welches sie zur Dienststelle bringen sollte. Der leere, trostlose Blick war mit einem Schlag verschwunden, ersetzt durch ein begeistertes Leuchten, während er mit kindlicher Neugier den Wagen bis ins kleinste Detail betrachtete. Die diensthabende Polizistin konnte das Lachen nicht unterdrücken, während sie dem Kleinen die Tür aufhielt, der aber viel zu fasziniert von ihrer Uniform war, um auch nur auf die Idee zu kommen, auf den Hintersitz zu steigen. Während Herr Bôss diesen kleinen Jungen immer weiter beobachtete, wie er sich erst im Polizeiauto und anschließend in der Dienststelle umschaute, wurde ihm immer schmerzhafter bewusst, dass er vollkommen zu Unrecht in dieser Anstalt eingesperrt war. Je mehr Valentins grüne Augen strahlten, umso größer wurde die Angst vor der Befragung. Vor dem, was er ihm gleich erzählen würde. Herr Bôss zwang sich zu einem Lächeln und setzte sich Valentin gegenüber, der begeistert einen der Kekse nahm, die in einer Glasschale auf dem Tisch zwischen ihnen lagen. „Magst du die Polizei?“, fragte er den Jungen schließlich, als dieser den ersten Heißhunger gestillt hatte. Valentin nickte. „Polizisten sind toll! Sie jagen Leute, die Böses getan haben und beschützen die Unschuldigen!“ Herr Bôss lachte auf. Da hatte er sich ja genau den richtigen Ort für die Befragung ausgesucht. „Willst du später selbst einmal Polizist werden?“ Das euphorische Leuchten in den Augen erlosch plötzlich. Stattdessen trübte sich sein Blick, während Valentin den Keks in seinen Händen betrachtete. Und schließlich den Kopf schüttelte. „Ich kann nicht…“ „Wieso denn nicht?“ „Weil…“ Seine jungenhafte Stimme brach ein bisschen, als er sich zur Antwort durchrang: „Ich will jemanden wiedersehen, deshalb darf ich nicht sterben…“ Diese Aussage verwirrte Herr Bôss umso mehr. Insbesondere, als Valentin ergänzte: „Und darum muss ich zu jemandem werden, den die Polizisten einsperren wollen. Zu einem Verbrecher.“ Eine eisige Kälte fuhr durch seinen gesamten Körper, als er die Endgültigkeit in der Stimme dieses Jungen hörte. Den hoffnungslosen Ton als habe er sich mit seinem Schicksal schon längst abgefunden. Herr Bôss zwang sich zu einem Lächeln. „Was redest du denn da, Valentin? Du musst doch nicht zu einem Verbrecher werden, nur, weil du jemanden wiedersehen möchtest.“ „Doch.“, war das Einzige, was er dazu sagte. „… Und warum?“ „Weil ich nicht sterben will.“ Valentin merkte, dass seine Aussage Herr Bôss‘ Verwirrung in keiner Weise minderte. Als Erklärung hob er die Kette mit seiner Erkennungsmarke. „Es gibt zwei Wege hier raus zu kommen. Entweder als Verbrecher oder als Toter.“, meinte er mit solcher Ruhe und Bestimmtheit, dass Herr Bôss einen Moment lang brauchte, um sich der eigentlichen Bedeutung dieser Worte bewusst werden zu können. Entsetzt betrachtete er den Jungen, der mit den Schultern zuckend ergänzte: „Und da ich nicht sterben will, bleibt mir nur noch dieser eine Weg.“ Langsam, wie gelähmt schüttelte er den Kopf. „Nein Valentin, das redest du dir nur ein.“ „Jeder sagt das.“ „… Jeder?“ „Alle Schüler. Und die Lehrer und Aufseher… Denen ist das egal.“ „Inwiefern?“   „Valentin erzählte so einiges über die Umstände, unter denen die Jungs in dieser Anstalt leben mussten und erst zu dem Zeitpunkt wurde mir bewusst, wie machtlos wir eigentlich sind…“ Seufzend schüttelte Herr Bôss den Kopf. „Entschuldigt, ich bin abgeschweift.“ Irritiert blinzelte Laura. Ihr war, als hätte sie sich in einem Traum befunden. Als hätte sie das Gespräch zwischen Herr Bôss und Valentin tatsächlich mitverfolgt. Sie schaute sich um und merkte, wie auch der Rest leicht perplex war, bis sich Jannik zu der ursprünglichen Frage überwand: „Und am Ende hatte er wirklich eine Aussage gemacht?“ Herr Bôss nickte. Ein deprimierter Blick trübte seine Gesichtszüge, als er antwortete: „Wenn ein… Wenn ein Zehnjähriger einem erzählt, was man ihm alles angetan hat… Da…“ Bedrückt schüttelte er den Kopf, als versuchte er irgendwie diese schmerzhaften Erinnerungen zu vertreiben. „Ihr wisst ja, Kinder können manchmal ziemlich direkt sein.“ Schaudernd drückte Laura Carstens Hand, die genauso schweißnass war wie ihre eigene. Und dennoch fror sie am ganzen Körper. Wieder tauchte das Bild dieses ekelhaften Mannes vor ihren Augen auf. Und jetzt, da sie wusste wer das war, wurde ihr umso schauriger bewusst, wem Jack in dem Moment gegenübergestanden hatte. Wem er da in die Augen geblickt hatte… „Sie meinten das wären mehrere gewesen…“, setzte Susanne an. „Ja, aber… Gegen die anderen Lehrer und Aufseher konnte Valentin nicht aussagen.“ Auf die Verwirrung hin ergänzte er: „Ihr wisst doch, dass Dämonenverbundene immer eine besondere Ausstrahlung haben. Es ist schwer in Worte zu fassen, aber auf alle Fälle stecht ihr immer positiv aus der Masse heraus, jeder auf seine Art. Nur… positiv aufzufallen kann auch manchmal ein Fluch sein.“ Anne verschränkte die Arme vor der Brust. „Zum Beispiel, wenn man in der Anstalt eines Kinderschänders landet.“ Laura schüttelte sich bei dieser direkten Aussage, die von Herr Bôss auch noch mit einem verbissenen Nicken bestätigt wurde. „Für den damaligen Direktor war Valentin folglich so etwas wie… sein Privatbesitz. Nur er durfte sich an ihm vergreifen.“ Das machte es trotzdem nicht besser… „… Und die anderen?“, fragte Eagle nach einer Weile. „Valentin hat uns die Namen genannt. Sowohl von den weiteren Tätern, als auch von Schülern, die aussagen konnten. Der Rest verlief überraschend einfach. Ich glaube, die Jungs hatten lediglich jemanden gebraucht, der den ersten Schritt macht. Um zu sehen, dass ihnen nichts passieren würde, wenn sie redeten. Und als Vermittler hat Valentin sicherlich auch einen großen Beitrag dazu leisten können.“ „Und am Ende wurden alle verurteilt?“, fragte Ariane hoffnungsvoll. „Ja. Die meisten haben eine Freiheitsstrafe von drei bis zehn Jahren bekommen. Der Direktor 15 Jahre.“ „Also sind inzwischen alle wieder draußen…“, stellte Laura schaudernd fest. Lissi biss die Zähne zusammen. „Sogar der Direktor.“ „Und wie lange wurde… war das… bei Jack?“, erkundigte sich Öznur. „Wollen wir das wirklich wissen?“, meinte Ariane trüb. Herr Bôss seufzte. „Um die vier bis fünf Jahre… Beinahe täglich.“ Schniefend wischte sich Laura über die Augen. So lange? So… häufig?! Janine schaute auf den Tisch, kämpfte wie Laura gegen die Tränen an als sie fragte: „Denken Sie, … dass er sich damals dessen bewusst war? Was das alles überhaupt zu bedeuten hat?“ Herr Bôss schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht… Vielleicht ein bisschen. Doch für ihn schien es eine Strafe wie jede andere auch zu sein. Nur, dass er bei den anderen Bestrafungen zumindest den Grund kannte. Aber hier…“ „Also wie, als würde man ihn dafür bestrafen, dass er überhaupt existiert…“, stellte Laura bedrückt fest, einige Tränen tropften auf das helle Holz. Sie hatte sich schon so häufig gedacht, dass Jack extrem viel hatte ertragen müssen. Aber… Dass er durch so viel durch musste… Schluchzend rieb sie sich erneut über die Augen, doch die Flut an Tränen wollte nicht stoppen. „Warum hat ihn da niemand rausgeholt?! Dann wäre all das nie passiert! Er wäre nie bei Mars gelandet, hätte nicht diese ganzen Leute umgebracht… Und vielleicht wäre seine Mutter sogar noch am Leben!“ Herr Bôss Antlitz war nur undeutlich zu sehen, als sie verzweifelt schrie: „Warum?!“ Der Direktor wandte den Blick ab. „Das habe ich mich auch schon häufig genug gefragt…“ „Gab es denn keinen Weg?“, erkundigte sich Konrad bedrückt. „Immerhin hatte er doch sogar einen essenziellen Beitrag zur Klärung des Falles geleistet.“ „Es gibt drei. Der einfachste ist der Schulabschluss, aber… den macht man wie in jeder anderen Region erst mit 18. Der zweite Weg ist eine spezielle Prüfung, die alle acht Jahre stattfindet. Jedoch behandelt diese Themen aus allen Jahrgängen. Je näher du also dem Abschluss bist, desto wahrscheinlicher ist es, dass du die höchste Punktzahl erzielst.“ Herr Bôss wies auf Carsten. „Dass jemand diese als Bester besteht, der nicht aus dem Abschlussjahrgang ist, ist somit eine große Ausnahme.“ Laura entging nicht, wie auch Eagle bei dieser Aussage gegen seine Gefühle ankämpfen musste. „Und der dritte?“, fragte Öznur, während sie Eagles Hand nahm. „Wenn der Antragsteller den Aufnahmeantrag zurücknimmt.“, antwortete Herr Bôss. „Nachdem all das vorbei war hatte ich versucht, Kontakt zu Valentins Eltern aufzunehmen. Ich wusste, dass es sein Vater war, der ihn auf das FESJ geschickt hatte. Daher hoffte ich, ihn in einem Gespräch dazu bewegen zu können, den Antrag zurückzuziehen.“ Anne schnaubte. „Mit einem normalen Gespräch wären Sie bei dem wohl nicht weit gekommen. Oder meinten Sie ein ‚Gespräch‘.“ Lächelnd schüttelte Herr Bôss den Kopf. „Mir war durchaus bewusst, dass ich überzeugende Argumente brauchte. Ich… Valentin hatte mich an meine Tochter erinnert. Jetzt im Nachhinein… Vielleicht hatte ich es mir nur eingebildet, da beide Dämonenbesitzer waren und sie deshalb eine ähnliche Ausstrahlung hatten. Aber die rötlichen Haare, die Sommersprossen und besonders diese grünen Augen…“ Herr Bôss lachte auf. „Und noch dazu sind beide unglaublich stur und können rotzfrech sein. Aber sie haben das Herz am rechten Fleck und können so viel Gutes tun, wenn man ihnen nur die Möglichkeit dazu gibt…“ „Sie wollten ihn adoptieren…“ Lauras Herz wurde noch schwerer als es ohnehin schon war. Herr Bôss nickte betrübt. „Vielleicht war es auch einfach nur ein egoistischer Wunsch, zumindest für ihn ein guter Vater sein zu können, wenn ich schon bei dem eigenen Kind versagt habe… Wer weiß das schon. Aber letztlich hatte ich auch dabei versagt. Selbst über Polizei und Jugendamt konnte ich die Eltern nicht ausfindig machen, dem Datenschutz sei Dank. Die in der Akte angegebene Adresse war natürlich eine falsche, ebenso die Namen. Und auch, wenn ich von Valentin den eigentlichen Nachnamen erfahren konnte…“ Er seufzte. „Im Anbetracht der Dämonenverfolgung ergibt es schon Sinn, dass der Vater alle Fäden gezogen hat, um unauffindbar zu bleiben.“ Ariane runzelte die Stirn. „Aber Jack konnte sich doch garantiert noch an seine-“ Herr Bôss schüttelte den Kopf. „Er hatte bei seiner Aussage schon lange genug überlegen müssen, ob der Nachname wirklich wie angegeben Müller lautet. Die Adresse zu prüfen war ein Ding der Unmöglichkeit.“ „Da wird einem ja die ganze Identität geklaut…“, stellte Susanne zitternd fest. „Und was hielt deine Frau davon?“, erkundigte sich Florian. „Nun ja, du weißt ja, dass sie noch ziemlich lange unter den Folgen der Dämonenverfolgung gelitten hat. Da war sie natürlich nicht so erfreut, dass ich einen Jungen aufnehmen wollte, bei dem psychische Krankheiten durch diese traumatisierenden Erlebnisse garantiert sind. Doch sie meinte, solange es mir hilft mit mir selbst ins Reine zu kommen… Aber nach einem erfolglosen Jahr lang Suchen war sie der Meinung, dass ich endlich damit abschließen solle.“ Bedrückt senkte Laura den Blick. Sie konnte verstehen, warum Frau Bôss ihn dazu gedrängt hatte. Aber… Was, wenn er Jacks Eltern doch noch gefunden hätte? Was, wenn all das irgendwie doch noch gut ausgegangen wäre? „Weiß Jack, dass Sie vorhatten ihn zu adoptieren?“, fragte Carsten. „Nein, ich kam erst im Nachhinein zu diesem Entschluss. Es… hatte sich einfach falsch angefühlt, ihn an diesem Ort zurückzulassen. Aber so konnte ich es zumindest vermeiden, falsche Versprechen zu machen.“ Susanne schob sich eine schwarze Strähne hinters Ohr. „Ich nehme an, dann ist es Ihnen auch lieber, wenn er erst gar nichts davon erfährt.“ Herr Bôss nickte. „Aber Valentin Bôss klingt ziemlich cool.“, stellte Lissi fest, vermutlich ein Versuch, die Stimmung irgendwie noch aufzulockern. „Und Jack Bôss erst! Kann man mit zwanzig noch adoptiert werden?“ Der Direktor lachte auf. „Ich glaube nicht, dass er das will.“ Fragend legte Lissi den Kopf schief. „Wieso nicht? Sie haben doch jetzt schon total das Vater-Sohn-Verhältnis.“ Oh ja, da musste Laura ihr sofort recht geben. Schon allein, wenn sie an die Szene heute Morgen in Ituhas Bar dachte. Kichernd erinnerte sie sich daran, wie verschlafen Jack noch war, dass er sogar Hemd und T-Shirt linksherum getragen hatte. Auch Herr Bôss musste bei dieser Erinnerung lachen, schüttelte jedoch schließlich den Kopf. „Es geht mir nicht darum, ob Valentin einen Vater braucht oder nicht. Sondern eher… Schon damals, als Benni gezwungen war zu Mars zu gehen, hatte ich die Hoffnung, dass er Valentin da rausholen könnte. Dass er ihn irgendwie… in dieser Dunkelheit erreichen würde, in der er all die Zeit gefangen war.“ Er blickte in die Runde. „Ich glaube, inzwischen hat Valentin realisiert, dass er nicht alleine kämpfen kann.“ Ein schwaches Lächeln stahl sich von Carstens Lippen. „Das muss er auch gar nicht.“ Kapitel 96: Erwachen -------------------- Erwachen       Schlaf. Eines der grundlegenden Dinge, die irdische Wesen benötigen, um zu überleben. Jemand der diese Erholung, diese Form der Ruhe nicht erhielt, konnte auch nicht funktionieren. Die Konzentrationsfähigkeit ließ nach, der Körper war nicht vollständig leistungsfähig, Wunden heilten langsamer. Und nicht zuletzt spielte Schlaf eine essentielle Rolle bei der Verarbeitung von Erlebnissen. Hieß es zumindest. Doch vollkommen gleich, welche Bedeutung man dem Schlaf zuschrieb, ob rationaler oder spiritueller Natur, diese Tatsache konnte man nicht leugnen. Irdische Wesen brauchten Schlaf. Eine Erkenntnis, die letztlich auch ein überirdisches Wesen machen musste. Mars wusste über die Folgen von fehlendem Schlaf. Schließlich hatte er sie bei Jack etwa sechs Jahre lang tagtäglich beobachten können. Und doch schien sich der Dämon dieser Notwendigkeit nicht bewusst gewesen zu sein. Trotz der Dämonenform, trotz der geballten Ladung an Zerstörungs-Energie in dem Körper dieser menschlichen Waffe, war sie am Ende doch nur ein Mensch. Und Menschen brauchten Schlaf. Diese Erfahrung hatte Benni vor einem halben Jahr bereits machen dürfen, als die Vorahnung von Eufelia-Senseis Tod sich regelmäßig in Albträumen Zugang zu seinem Unterbewusstsein verschafft hatte. Der Anflug an Schwäche und die Reizbarkeit, die Gedanken verloren sich im Nichts und der Blick trübte sich. Benni seufzte und doch kam kein Laut über seine Lippen. Mars hatte ihm, genauer seinem Körper, die letzte Woche nahezu keine Ruhe gegönnt. Hatte ihm nicht die Erholung gegeben, die er eigentlich benötigen würde. Unter normalen Bedingungen würde man das wohl als Folter bezeichnen. Und unter diesen? Eine Gelegenheit. Der Dämon war es, der die Kontrolle über seinen Körper hatte. Und folglich war es auch der Dämon, der schlief. Nicht Benni. Es war ein albernes Unterfangen. Man könnte es getrost als das Aufbegehren eines trotzigen Kindes bezeichnen, welches jeder Erwachsene belächeln würde. Den Versuch, irgendetwas an dieser aussichtslosen Situation ändern zu wollen. Benni konzentrierte sich auf seinen Atem. Auf jeden Teil seines Körpers, der ihm doch nicht gehorchen wollte. Aber das verlangte er auch gar nicht. Eufelia-Sensei hatte ihm nicht nur das Kämpfen gelehrt. Sie war sich dessen bewusst, dass der Geist ebenso stark sein musste wie der Körper. Das war nicht verwunderlich, schließlich war sie bei den Dryaden aufgewachsen. Einem Volk, welches im Einklang mit der Natur lebte, sowohl Meister der Kampfkunst als auch Meister der Magie. Niemand wusste besser, welche Macht der Geist haben konnte. Oder welche Macht andere über ihn haben könnten. Benni konzentrierte sich weiterhin auf seinen Körper. Versuchte loszulassen. Als Kind hatte er Meditationsübungen und das Erlernen von Entspannungstechniken einfach über sich ergehen lassen, schließlich war seine Lehrmeisterin der Meinung, es war notwendig so etwas zu beherrschen. Nachdem Carsten ihn einst versehentlich stark mit einem Illusionszauber angegriffen hatte, hatte Benni sie zum ersten Mal zu schätzen gelernt. Und noch mehr, als sich Laura ihren Ängsten während der Prüfungsphase dadurch deutlich besser entgegenstellen konnte als erwartet. Verbissen schob Benni die Gedanken an Laura und Carsten beiseite, als er merkte, wie sie ihn von seinem Vorhaben abgehalten hatten. Und wieder von vorne. Kapitel 97: Nur ein kleiner Augenblick -------------------------------------- Nur ein kleiner Augenblick       Schweigend setzte sich Carsten auf die kühle, hölzerne Bank und schaute in den strahlend blauen Himmel. Die Sonne tauchte die Blätter der Bäume in leuchtende gelb- und orange-Töne, der See lag ruhig davor und spiegelte die Landschaft. Es war wie eine Pause. Ein kurzes Durchatmen, beinahe, als würde die Natur wissen, dass sie diesen einen Moment des Friedens brauchten. Diese paar Lichtstrahlen, bevor sich alles in tiefste Finsternis hüllen würde. Eine neue Melodie begann, drang durch die Kopfhörer in seine Ohren. Laura hatte ihm das Lied vor wenigen Tagen begeistert gezeigt und obwohl Carsten eigentlich kein großer Fan von Gesang war, hatte es irgendetwas Herzergreifendes. Vermutlich, weil es ihn so sehr an jemanden erinnerte…   ‘There's gotta be another way out I've been stuck in a cage with my doubt I've tried forever getting out on my own But every time I do this my way I get caught in the lies of the enemy I lay my troubles down I'm ready for you now’   Carsten betrachtete Jacks schlafendes Gesicht. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, die rotbraunen Haare waren wie sonst auch leicht verstrubbelt und auf der linken Seite extrem kurz im Vergleich zur rechten. Auch die Piercings gaben ihm ein eigentlich rebellisches Aussehen, aber eben gerade wirkte er einfach nur wie ein Junge, der nach einer ewigen, kräftezehrenden Zeit endlich die Ruhe bekam, die er so dringend brauchte. Bei der Erinnerung an Herr Bôss‘ Erzählung senkte Carsten bedrückt den Blick. Überrascht war er eigentlich nicht und trotzdem traf ihn diese Gewissheit härter als erwartet. Vier bis fünf Jahre lang, beinahe täglich war er… Hatte man ihn… Carsten biss die Zähne zusammen und versuchte die Gedanken daran aus dem Kopf zu schütteln. So ruhig und entspannt hatte er Jack bisher nie schlafen gesehen. Kitos Illusionszauber schien also tatsächlich zu wirken. „Carsten? Hast… du einen Moment Zeit?“ Überrascht schaute Carsten bei der verunsicherten Stimme auf, in Janines helle, blaue Augen. „Ja klar.“ Sein Blick fiel auf die linke Schulter, die sie sich hielt als würde sie ihr Schmerzen bereiten. „Brauchst du Tabletten?“ Janine schüttelte den Kopf, ihr Griff um die Schulter verspannte sich. „Es geht schon…“ So ganz konnte Carsten ihren Worten keinen Glauben schenken. Er betrachtete sie eingehender, Janines Blick jedoch war auf Jack gerichtet. Es fiel ihm schwer ihre Gedanken zu erahnen. Und dennoch meinte er die Zuneigung zu spüren. Irgendetwas in ihren Augen, neben Gewissensbissen und Mitgefühl, was ihm sagte, dass da noch viel mehr in ihrem Herzen verborgen war. Nicht wissend, wie sie es schaffen sollte das zum Vorschein zu bringen. Lächelnd legte Carsten seine Hand auf ihre unverwundete Schulter. „Was brauchst du denn?“ Erschrocken zuckte Janine zusammen, als er sie aus ihren Gedanken riss. „Ich… ähm… Ich wollte wissen, ob… ob du mich begleiten könntest…“ „Klar.“, erwiderte Carsten, leicht verwirrt. Gemeinsam verließen sie das Krankenzimmer, wobei ihm nicht entging, dass Janine noch einmal einen flüchtigen Blick zurückwarf, ehe die Tür sich schloss. Carsten hatte schon eine Vermutung um was, oder genauer um wen es ging. Und so verunsichert wie Janine wirkte, wollte er sie nicht auch noch in Bedrängnis bringen, indem er ein Verhör startete. Er hatte das Gefühl, dass sie das richtige tun wollte und würde. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Während sie die Straßen Kariberas entlangliefen, driftete Carsten mit seinen Gedanken ab.   ‘Bring me out Come and find me in the dark now Every day by myself I'm breaking down I don't wanna fight alone anymore Bring me out From the prison of my own pride My God I need a hope I can't deny In the end I'm realizing I was never meant to fight on my own’   “Was ist das?” “Hm?” Erst jetzt merkte Carsten, dass er die Melodie des Refrains vor sich hin gesummt hatte. „Ach, das Lied. Laura hört es zurzeit rauf und runter und ich bekomme den Ohrwurm gar nicht mehr aus dem Kopf.“ Janine kicherte. „Ach dieses.“ Sie betrachtete Carsten belustigt. „Du kannst es gerne auch richtig singen, du hast eine wirklich schöne Stimme.“ „So ein Unsinn, ich treffe ja nicht einmal die Töne.“, stritt Carsten das Kompliment verlegen ab. „Ach was.“ Doch alsbald starb Janines Lächeln, als sie den Zielort erreichten. Ein Supermarkt, wie Carsten verwundert feststellte. Sehr interessant. Frierend hauchte sie in ihre Hände und blickte schließlich zu Carsten hoch. „Kannst du mit reinkommen? Ich… Ich traue mich nicht alleine, da ich kein Indigonisch verstehe und…“ Carsten unterdrückte das Lachen und nickte ihr lediglich lächelnd zu. „Kein Problem.“ Janine war schon immer extrem schüchtern und introvertiert gewesen. In einen Supermarkt einer unbekannten Region mit einer noch unbekannteren Sprache zu gehen… Carsten konnte nur zu gut nachvollziehen, wie unwohl sie sich dabei fühlen musste. Er folgte ihr in das Innere des Ladens und betrachtete Janine, wie sie sich planlos umschaute. Die Schilder mit der indigonischen Schrift an der Decke konnten ihr dabei natürlich überhaupt keine Orientierung verschaffen. Schmunzelnd beobachtete er, wie sie wahllos in einen der Gänge abbog und schließlich unbeabsichtigt vor den Hygieneartikeln stand. In den letzten Wochen hatte er schon fast vergessen, wie süß sie eigentlich war. „Was suchst du denn?“, stellte er schließlich die erlösende Frage. „Ähm… Die Süßwarenabteilung.“ Carsten schaute sich selbst um und deutete schließlich auf eines der Schilder. „Da hinten.“ Er führte Janine zu besagten Regalen und schaute zu, wie sie unruhig eine ihrer blonden Strähnen um den Finger wickelte, während ihr Blick die Reihen entlangwanderte. Schließlich fand sie, wonach sie gesucht hatte. Kekse. Carsten lächelte in sich hinein. Trotz all dem war sie immer noch so aufmerksam und sensibel wie damals, als er sie kennengelernt hatte. Das war die Janine, die er in letzter Zeit so bitter vermisst hatte. Und die sich offensichtlich nicht entscheiden konnte, welche Marke sie wohl am ehesten nehmen sollte. Carsten beschloss ihr so gut es ging zu helfen. Die Situation war ihr vermutlich ohnehin schon unangenehm genug. Er wies auf eine der Packungen. „Diese hier isst Benni immer am liebsten, falls dir das die Entscheidung erleichtert.“ Dankbar lächelte Janine ihn an und nahm sie aus dem Regal. „Wie gut, dass man sich auf Bennis Urteil immer so gut verlassen kann.“ Carsten nickte, schaffte es jedoch nicht den Anflug an Schmerz gänzlich zu unterdrücken. Was auch Janine nicht entgangen war. Sanft berührte sie seinen Arm. „Wir werden ihn retten. Ganz sicher.“ Er seufzte. „Leichter gesagt als getan…“ „Tut mir leid…“ Bedrückt senkte Janine den Blick. „Ich weiß… Worte holen ihn nicht zurück.“ Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, bis Janine sich eine Strähne aus dem Gesicht strich und meinte: „Mehr… mehr wollte ich nicht.“ Carsten nickte nur und begleitete sie zur Kasse. Eigentlich war er vollkommen überflüssig. Den Betrag konnte Janine an dem Display ablesen und die Verabschiedung des Kassierers erwiderte sie mit einem scheuen Lächeln. Und trotzdem… Als sie draußen waren atmete Janine erleichtert durch. „Danke.“ Carsten lachte auf. „Ich habe doch gar nichts gemacht.“ „Oh doch, mehr als du glaubst…“ Ihr Blick fiel auf die Kekse, wirkte trotz allem verunsichert. „Er wird sich darüber freuen, garantiert.“, sagte Carsten aufmunternd.   ‘In the end I'm realizing I was never meant to fight on my own’   Seufzend schaltete er die Musik aus und summte den letzten Abschnitt des Liedes noch einmal vor sich hin. Den Ohrwurm war er trotzdem nicht losgeworden. Bei der nächstbesten Gelegenheit würde er sich deshalb mal bei Laura beschweren müssen. Carsten richtete sich von der Bank auf und streckte sich. Nachdem er Janine zurück zum Krankenhaus begleitet hatte, war er selbst einfach kopflos in der Gegend rumgelaufen und hatte sich plötzlich an diesem Ort wiedergefunden. Ob das wirklich nur ein Zufall war? Seine Gedanken wanderten zum letzten Mal, als er hier gewesen ist. Und besonders zu der Person, die damals bei ihm war… Mit einem bedrückten Seufzen setzte sich Carsten wieder hin. Fragte sich, was Ariane nach den jüngsten Ereignissen wohl nun von ihm hielt. Ob sie wirklich so zuversichtlich war, wie sie sich gab. Ob sie ihm immer noch zutraute, dass er das schaffen würde. Ob er sie tatsächlich besiegen könnte, die… Kaum machte sich die schwarze Magie in seinem Kopf breit, begannen seine Hände zu zittern. Carsten biss die Zähne zusammen, versuchte das Gefühl irgendwie loszuwerden. Dieses eigenartige Drängen. Bilder zuckten durch seinen Kopf. Finsternis. Blut. Irgendetwas raubte ihm den Atem. Versuchte ihn in die Dunkelheit zu zerren. Er schüttelte sich. Nein. Nein! Er musste dagegen ankämpfen! Er musste- „Carsten?“ Erschrocken fuhr Carsten zusammen. Als er aufblickte sah er, wie Arianes braungrüne Augen ihn besorgt musterten. „Alles okay?“ Und sofort war Leere in seinem Kopf. Gähnende Leere, die ihn noch nicht einmal einen klaren Satz formulieren ließ. „Ähm… ja, klar.… Alles… Ich… Mir… okay.“ Ariane erwiderte darauf lediglich ein bedrücktes Lächeln und setzte sich schließlich neben ihn. Ein unangenehmes Schweigen entstand, was Carsten umso mehr verunsicherte, je mehr Minuten verstrichen. Vorsichtig wagte er einen Blick zur Seite. Ein beklemmendes Gefühl zog seinen Magen zusammen. „Nane?“ Auch wenn die hellbraunen Haare ihr Gesicht verbargen, konnte Carsten vereinzelte Tränen sehen, die auf ihre schwarze Strumpfhose tropften. Schniefend wischte sich Ariane mit dem Handrücken über die Augen und meinte schließlich mit zitternder Stimme: „Sag mal… Du hattest doch mal gemeint, wir haben unseren eigenen Willen…“ Betreten erinnerte sich Carsten an ihre Diskussion, kurz bevor die Coeur-Academy angegriffen wurde. Zögernd nickte er. „Ich wollte das nicht… Nichts von all dem. Ich will keine Kriegerin sein, die die Welt vor dem Bösen beschützt!“ Carsten versuchte den Schmerz in seinem Herzen zu unterdrücken, als Ariane endgültig in Tränen ausbrach. Vorsichtig legte er die Arme um sie. Verstärkte seinen Griff, als sie schluchzend ihr Gesicht in seiner Brust vergrub. Vollkommen aufgelöst, übermannt von Gefühlen, die sie vermutlich all die Zeit in ihrem Herzen unter Verschluss gehalten hatte. „Der Weiße Hai hat mich nie gefragt, ob ich seine Besitzerin sein will!“, schrei sie. „Er war plötzlich da und meinte, ich solle mit niemandem darüber sprechen! Noch nicht einmal mit meiner Schwester! Er überredete mich, dass es besser wäre die Academy zu besuchen, damit ich meine Familie beschützen kann! Dabei… dabei…“ Was Ariane eigentlich sagen wollte, erfuhr Carsten nicht. Brauchte er auch gar nicht, er konnte es sich schon denken. Den Wunsch, ein normales Leben zu führen. Ein normaler Mensch mit einer ganz normalen Familie, eine gewöhnliche Schule, … Nichts Besonderes zu sein. Nicht für das Schicksal der Welt verantwortlich sein zu müssen. Nicht… sowas. Einen Moment lang kamen Zweifel in ihm auf. Zweifel, ob er wirklich der Richtige war, der Ariane ausgerechnet jetzt zur Seite stehen konnte und sollte. Schließlich war auch er ‚nicht normal‘. Ganz und gar nicht. Doch so, wie sie sich an ihn klammerte, blieb ihm ohnehin keine andere Wahl. Er konnte nur gebrochenen Herzens warten, bis ihr Gefühlsausbruch vorüber war. Ohne darüber nachzudenken, küsste er sie auf den Scheitel, legte bedrückt seinen Kopf auf ihren. Hielt sie im Arm… und wartete. „… Tut mir leid…“, meinte Ariane schließlich schniefend und befreite sich aus der Umarmung. Verwirrt betrachtete Carsten sie. „Wieso?“ „Weil…“ Sie wischte mit der Hand über die Augen, suchte in ihrer Jacke nach einem Taschentuch. Als sie sich weitestgehend gesammelt hatte, seufzte sie. „Ich wollte mich eigentlich bei dir entschuldigen. Und nicht… mich ausheulen.“ Entschuldigend lächelte sie ihn an. „Aber anscheinend musste es einfach mal raus.“ Carsten war umso verwirrter. „Es gibt nichts, weshalb du dich entschuldigen müsstest.“ „Doch und im Prinzip… ist es genau das.“ Sie lehnte sich gegen die Holzbank und zog die Beine an. „Es tut mir leid, dass ich vorhin nichts machen konnte, als du… bei der Schlacht halt. Ich wollte, aber… es ging nicht. Nichts ging in dem Moment. Und jetzt schon wieder. Ich heule hier rum und dabei bist du doch derjenige, der Unterstützung braucht. Der von uns allen am meisten darunter leidet.“ Allmählich verstand er was sie meinte. Und dennoch… „Ariane, wie es mir geht kann noch lange nicht das relativieren, was du fühlst. Und das sollte es auch überhaupt nicht.“ Sanft legte er die Hand auf ihre Wange, die immer noch etwas feucht war, und strich mit dem Daumen die Überreste einiger Tränen weg. „Wir alle leiden darunter, jeder auf seine Weise. Und wenn deine Gefühle dir sagen es geht nicht mehr, dann geht es nicht mehr.“ Aufmunternd lächelte er sie an. „Oder hast du etwa vor noch eine Bahn zu schwimmen, wenn du dich kaum mehr über Wasser halten kannst?“ Schwach lachte Ariane auf und schüttelte den Kopf. Schließlich erwiderte sie seinen Blick amüsiert. „Wie immer. Diejenigen mit den besten Ratschlägen können sie am wenigsten selbst befolgen.“ „Ähm…“ Erst jetzt fiel Carsten auf, was er da gerade tat. Beschämt zog er seine Hand zurück und vermied es, ihr in die Augen zu schauen. Stattdessen betrachtete er den See, wenige Meter von ihnen entfernt. Die Hitze stieg in seine Wangen als er merkte wie Ariane näher an ihn rückte, sodass sie sich nun ohne jegliches Zutun bereits berührten. Es kostete etwas Zeit und noch mehr Überwindung, bis er es schließlich schaffte seinen Arm um ihre Schultern zu legen. Er konnte nicht sagen, wer sich hier eigentlich gegen wen lehnte. Nur, dass sich eine ungewöhnliche Ruhe in ihm ausbreitete. Ein Moment des Friedens und der Zweisamkeit, den er nie für möglich gehalten hätte. Selbst die schwarze Magie erschien machtlos. Sogar Mars wirkte bezwingbar. Carsten schloss die Augen und legte wie zuvor seinen Kopf auf den von Ariane. Diese beruhigende Wirkung und das Gefühl von Geborgenheit erinnerte ihn an Kitos Illusionszauber. Ließ alle Sorgen und Ängste verschwinden. Ariane kuschelte sich noch näher an ihn. Sie zitterte leicht und dennoch konnte er ihre Körperwärme durch die Jacke hindurch spüren. Carsten konnte sich nur zu gut vorstellen, dass die vorige Situation ihr den Rest gegeben hatte. Er hatte schon bei dem Erdrutsch in Öznurs Heimatdorf die Sorge gehabt, dass dieses Erlebnis sie noch eine ganze Weile beschäftigen würde. Und jetzt Zeuge einer solchen Schlacht zu werden… Und was auch immer sie ansonsten noch erwarten würde… Kein Wunder, dass es irgendwann zu viel wurde. Ihr Schluchzen echote immer noch in seinen Ohren, ließ Carstens Herz nach wie vor schwer werden. Gab es denn nichts, womit er sie aufheitern könnte? Blinzelnd öffnete er die Augen wieder, betrachtete den See, der sich vor ihnen ausbreitete. Ein verstohlenes Lächeln huschte über seine Lippen. „Komm mal mit.“ Er richtete sich auf und zog die etwas verwirrte Ariane mit auf die Beine. „Was ist denn?“ „Schlittschuhe hast du nicht zufälligerweise dabei, oder?“, fragte er, während er mit ihr runter an den Rand des Sees ging. „Nein, wies-“ Ariane stockte, als sie verstand, was er meinte. „Wir haben erst Oktober, es ist noch viel zu warm.“ Grinsend erwiderte Carsten ihren Blick. „Wozu bin ich Magier?“ Erst jetzt als er sie losließ, war ihm überhaupt aufgefallen, dass er Arianes Hand gehalten hatte. Er schüttelte den Anflug an Verlegenheit und Unsicherheit ab und betrachtete den See, der ruhig vor ihnen lag und im Sonnenlicht glitzerte. Carsten streckte seine Hand aus und sprach den Zauber. Ein eisiger Wind fuhr durch ihre Haare, wirbelte heruntergefallene Blätter auf. Frost legte sich über die Grashalme vor ihren Füßen, es begann zu knacksen. Kleine Eisschollen entstanden, wurden immer größer und größer. Ihr helles, kaltes Blau breitete sich immer weiter über den See aus, bis die glatte Oberfläche ihn komplett bedeckte. Vorsichtig ging Carsten einen Schritt vor. Kaum berührte er das Eis, verwandelten sich seine Schuhe und eiserne Kufen bildeten sich an den Sohlen. Er drehte sich zu Ariane um. „Und?“ „Der Wahnsinn!“ Ihre Begeisterung, dieses Strahlen in ihren Augen, ließ Carstens Herz leichter werden. So blöd war die Idee wohl tatsächlich nicht. Grinsend schaute sie ihn an. „Vom wandelnden Erste-Hilfe-Kasten zu Tiefkühltruhe und Kleiderschrank in einem. Echt praktisch.“ „Na ja…“ Beschämt lachte Carsten auf und streckte ihr nach einigem Zögern die Hand hin. Ariane seufzte. „Dabei sollte ich eigentlich dich aufmuntern…“ „Tust du doch.“ Belustigt erwiderte sie sein schüchternes Lächeln, ergriff die Hand und trat ebenfalls aufs Eis. Automatisch wandelten sich ihre Schuhe in weiße Schlittschuhe. Carsten ließ sich ein bisschen zurück rutschen. Es war ein ungewohntes Gefühl nach langer Zeit wieder auf dem Eis zu stehen. Angst und Unsicherheit kroch in ihm hoch. Er hatte mindestens sechs Jahre lang keine Schlittschuhe mehr getragen, also was, wenn… Ein Ruck fuhr durch seinen Körper, als Ariane plötzlich losfuhr und ihn hinter sich her zog. Erschrocken suchte er sein Gleichgewicht zurück, während sie lachend meinte: „Ich dachte du wolltest Eislaufen und nicht Eisstehen.“ Beschämt lächelte er. Als Ariane merkte, dass er sich gefangen hatte, ließ sie seine Hand los und düste voraus, deutlich sicherer auf den Beinen. War ihr Hobby nun Eiskunstlauf oder Eissprint? Langsam wagte sich auch Carsten mehr in die Mitte des Sees. Er war selbst überrascht, wie schnell die Unsicherheit verschwand und das vertraute Gefühl zurückkehrte. Es brauchte vielleicht zehn Minuten und schon hatte er den Eindruck, die sechsjährige Pause wäre nie gewesen. Oder zumindest nicht so lange. Etwas selbstbewusster traute er sich nun auch ein paar einfachere Figuren. Ariane hatte sich in der Zeit schon längst wieder eingelaufen und testete bereits die ersten Sprünge aus. Bei ihrer Geschwindigkeit und mit der Kraft, mit der sie sich abstieß, flog sie problemlos mehrere Meter. Aufgewirbelte Eiskristalle glitzerten im Sonnenlicht als sie nach einer zweifachen Drehung auf dem rechten Bein landete. Ein begeistertes Strahlen entstand in ihren Augen als sie bemerkte, dass ihr der Sprung gelungen war. Ein süßer Freudenruf begleitet von einer enthusiastischen Geste brachte sie für einen Moment aus dem Gleichgewicht, ehe sie sich zu Carsten umschaute, als hoffte sie er habe den Sprung mitbekommen. Blut schoss in seine Wangen als er realisierte, wie offensichtlich er sie beobachtet hatte. Grinsend kam Ariane zu ihm rüber. „Ich hatte ewig daran geübt und selbst letzten Winter habe ich ihn so gut wie nie hinbekommen! Hätte niemals gedacht, dass der direkt jetzt schon klappt!“, erzählte sie begeistert. Carsten brachte lediglich ein Lachen zustande, vollkommen überfordert wie süß sie ihre Begeisterung zeigte. Und noch überforderter, als Ariane ihn am Rücken etwas nach vorne schob. „Jetzt bist du dran! Den Axel habe ich bisher kein einziges Mal geschafft, ich will sehen, wie du das machst!“ „W-was? Aber… aber ich…“, stammelte er. Aufmunternd lächelte Ariane ihm zu. „Es muss ja nicht direkt der zweifache sein, nach einer so langen Pause. Einfach reicht völlig.“ „Ähm…“ „Na los!“, feuerte sie ihn an und schubste ihn erneut etwas nach vorne. Carsten gab sich geschlagen, irgendwie zumindest. Wenn er sich da mal nicht blamieren würde… Dennoch war es ein schönes Gefühl, diese Geschwindigkeit, diese Freiheit. Der eisige Wind befreite seinen Kopf. Er hatte schon ganz vergessen, warum ihm Eislaufen früher so viel Spaß gemacht hatte. Erst jetzt, wo er sich daran erinnerte, wie schön es war ungehindert über die weißen Weiten fahren zu können, wurde ihm bewusst, wie sehr er das eigentlich vermisst hatte. Nachdem er eine Zeit lang rückwärts gefahren war, um sich zu sammeln drehte er sich um, trat nach vorne, holte Schwung und sprang. Eine kurze Schwerelosigkeit ließ seinen Magen flattern, bis er nach über einer Umdrehung rückwärts auf dem rechten Fuß wieder landete. Schwer atmend wurde er langsamer, bemerkte jetzt erst das Zittern seiner Hände, die ohne die Handschuhe langsam taub wurden. Hatte er den Sprung gerade tatsächlich geschafft? Ohne hinzufallen? „Woooow, das war der Wahnsinn!“, jubelte Ariane begeistert. Direkt stieg die Röte in Carstens Gesicht. Er kam sich wie ein blöder Angeber vor. „A-ach was…“ „Nein, wirklich! Wie hast du das gemacht?!“ Schon war Ariane bei ihm und schaute ihn erwartungsvoll an. „Ich… ähm…“ Sie merkte, wie ihre Neugier ihn nur noch mehr verunsicherte, daher ließ sie das Thema kichernd ruhen. „Das wird noch in einigen Trainingssessions enden. Ich hoffe das weißt du, Sensei.“ Carsten lächelte schüchtern, aber etwas erleichterter. „Ist das eine Drohung?“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Kommt darauf an, wie geduldig du bist.“ „Nicht so geduldig wie Benni zumindest.“ „Ach, so schlecht wie beim Messerwerfen werde ich mich dabei hoffentlich nicht anstellen.“, merkte sie kichernd an. „Aber du bist doch richtig gut geworden.“, stellte Carsten irritiert fest. „Ja, weil Benni das Bedürfnis unterdrückt hat, mich bei den dämlichsten Fehlwürfen meinem Schicksal zu überlassen.“, erzählte sie lachend und deutete an, wie ein Messer ihr senkrecht auf den Kopf fiel. Nun musste auch Carsten lachen. „Wie gnädig von ihm.“ Gut eine Stunde verbrachten sie damit, sich auf dem Eis zu verausgaben. Carsten war überrascht, wie viele der Sprünge er trotz allem noch direkt auf Anhieb schaffte, selbst zweifache bekam er nach einigen Versuchen wieder hin. Dennoch schaffte es Ariane regelmäßig, ihn mit irgendwelchen Aktionen aus der Bahn zu werfen. Mindestens dann, wenn ihm bei ihrer Geschwindigkeit allein beim Zusehen schon schwindelig wurde. Entsprechend waren ihre Sprünge auch deutlich kraftvoller und weiter als seine eigenen. Nach einer Weile wagte sich Carsten irgendwann an einen zweifachen Axel. Mit aller Kraft sprang er ab und zog die Arme an. Doch bei der Landung rutschte er zur Seite weg. „Alles okay?“, hörte er Ariane besorgt fragen, die kurz darauf auch schon neben ihm kniete. Carsten rieb sich die kalten Hände, die er sich bei dem Sturz etwas aufgescheuert hatte. „Ja, alles in Ordnung. Ich hatte wohl nicht genug Schwung.“ Ariane betrachtete die leichte Rotfärbung kurz und klopfte ihm schließlich etwas Eis vom Jackenärmel. „Nächstes Mal denkst du bitte an mehr Schutzausrüstung, Herr Kleiderschrank.“ Carsten lachte beschämt. „Zu Befehl.“ „Danke.“ Ein liebevolles Lächeln bildete sich auf Arianes Lippen. Sie hatte schöne, volle Lippen. „Ähm… W-was? Wo-wofür?“, fragte Carsten geistlos, als er ihr wieder in die Augen schaute. Schwach lachte Ariane auf und wies auf die Eisfläche. „Dafür. So falsch es sich anfühlt, einfach zu lachen und Spaß zu haben… Es hilft wirklich.“ „Warum fühlt es sich falsch an?“ „Weil…“ Sie seufzte. „Weil um uns herum gerade eigentlich die Welt untergeht… Und wir… Gerade wir…“ „… sollten deshalb diese Möglichkeit haben.“, beendete Carsten bestimmt ihren Satz. Lächelnd zuckte er mit den Schultern. „Es heißt nicht umsonst, Lachen sei die beste Medizin.“ Ariane kicherte. „Und hier haben wir wieder den Erste-Hilfe-Kasten.“ „Hey, warum eigentlich nur Gegenstände?“ Carsten hatte keine Ahnung, warum er diese sinnlose Frage eigentlich stellte, bevor sie überhaupt in seinen Kopf kommen konnte. Doch zumindest brachte sein eigenartiger Kommentar Ariane wieder zum Lachen. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Einen kurzen langen Moment, bei dem Carsten das Herz bis zum Hals schlug. Würde sie… Oder… Oder sollte er… Plötzlich hielt Ariane die zur Faust geballte Hand zwischen ihnen. Irritiert blinzelte er. Bei dem Kurzschluss in seinem Kopf war es ihm unmöglich, diese Geste zu verstehen. „Es steht noch eine Revanche aus, schon vergessen?“, sagte sie, leicht amüsiert aber irgendwie auch ein bisschen… Die Verlegenheit ließ Carstens Gesicht tiefrot werden, als er die Andeutung verstand. Gleichzeitig konnte er sich das Lachen nicht verkneifen. Ariane kam jetzt doch nicht ernsthaft auf das Schere-Stein-Papier-Spiel von neulich zurück? Dieses Mal war er es, der sich mit einem Schulterzucken darauf einließ. Doch die Sache hatte sich schnell geklärt. Sie hatte Papier. Er Stein. Carsten gab ein gequältes Stöhnen von sich und ließ sich aufs Eis fallen, während Ariane zeitgleich ein Jauchzen ertönen ließ und aufsprang. Obwohl er den Eindruck hatte die Hitze in seinem Kopf könnte das Eis zum Schmelzen bringen, musste er lachen, während Ariane die Arme hob und einen kleinen Siegestanz vollführte. In was hatte er sich da nur schon wieder reinbefördert? „Ich sagte ja, dass du den nächsten Schritt machen musst.“, meinte sie triumphierend, was Carstens Situation in keiner Weise besserte. Als nach einer Weile immer noch keine Reaktion von ihm kam, beugte sich Ariane besorgt über ihn. „Alles okay?“ „… Das fragst du mich nicht im Ernst.“, nuschelte er beschämt. Sie kicherte. „Komm, steh auf. Es ist doch garantiert kalt.“ Tatsächlich merkte Carsten die Kälte in seinem Rücken überhaupt nicht, sosehr wurde sie von der Hitze in seinen Wangen überschattet. Dennoch setzte er sich wieder auf. Lächelnd schüttelte Ariane den Kopf. „Tut mir leid, das war fies von mir.“ „A-ach was…“ Oder was auch immer er sonst darauf erwidern sollte. Er ließ sich von Ariane auf die Beine ziehen, jedoch half dies auch nicht, um das beschämte Schweigen zu brechen. Carsten schaute zurück zum Festland, wo die ersten Häuser Kariberas in der Ferne sichtbar waren. Doch auch dort fand er nichts, was ihm ermöglichte seine Schüchternheit zu überwinden. Stattdessen nahmen Zweifel und Unsicherheit weiter und weiter zu. „… Carsten?“ Erschrocken zuckte er zusammen als Ariane ihre Hand auf seinen Rücken legte. Betroffen murmelte sie eine Entschuldigung und fragte: „Ist… es schon wieder die Schwarzmagie?“ Verwirrt betrachtete Carsten sie. Wie kam sie… Verbissen wandte er den Blick ab als er verstand. „Nein.“ Eigentlich war es klar, dass Ariane so dachte. Es war nachvollziehbar, dass sie direkt die Befürchtung hatte, die schwarze Magie könne ihn wieder in die Finsternis reißen, kaum, dass sich sein Blick trübte. Er konnte es verstehen, ihre Sorge. Wenn es jemand anderen betreffen würde… Er hätte auch diese Angst. Aber… „Willst… du das überhaupt?“, fragte er zögernd. Er spürte Arianes irritierten Blick auf sich ruhen, schaffte es jedoch nicht, ihr in die Augen zu schauen. Stattdessen betrachtete er das leicht verkratzte Eis zu seinen Füßen. „Du meintest vorhin, dass… du nichts von alldem willst. Also…“ Er ballte die kalten, zitternden Hände zu Fäusten, versuchte nicht so deprimiert zu wirken, wie er sich fühlte. „Also was ist dann mit…“ Ariane schien einen Moment zu brauchen, bis sie es schaffte den Inhalt seiner Worte zu interpretieren. Schließlich realisierte sie, was er meinte und gab einen Mix aus Seufzen und Stöhnen von sich. „Ach Mann, Carsten! Warst du eigentlich schon immer so pessimistisch?! Oder ist das wegen Benni und Laura nur nie aufgefallen?“ „Ich meine das ernst, Nane.“ „Deshalb ja!“ Demonstrativ stellte sie sich in sein Blickfeld und schaute empört zu ihm hoch. „Nur weil es Situationen gab, die ich so nicht geplant hatte, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht dankbar dafür bin, dass es so gekommen ist, wie es kommen musste.“ „Aber vorhin, da… du meintest doch…“ „Du bist ja noch schlimmer als Laura.“, sagte Ariane trocken, aber auch ein bisschen bedrückt und zeitgleich vorwurfsvoll. „Es kann doch nicht sein, dass du dich davon direkt verunsichern lässt.“ Was Carsten jedoch umso mehr verunsicherte. „Na ja, aber… was… Wenn du meintest, dass du nichts von alldem wolltest… Dann…“ Ariane seufzte. „Okay, ein Beispiel. Wolltest du auf das FESJ?“ Er schüttelte den Kopf. Nein, natürlich nicht. „Aber du warst dort. Und nur deshalb konnte Herr Bôss dich zu uns an die Coeur-Academy bringen.“ Aufmunternd lächelte sie ihn an. „Verstehst du, was ich meine?“ Wie betäubt nickte er. Ja, er verstand es. Aber trotzdem… „Und… Aber… Was willst du dann?“ Ariane stöhnte auf, offensichtlich komplett überfordert mit seiner Begriffsstutzigkeit. „Vielleicht, dass du mich endlich küsst?“ „W-was?“ Carstens Herzschlag setzte aus. Sie hatte doch gerade nicht wirklich… Was… Wie… Ihre Wangen waren ohnehin durch das Eislaufen leicht gerötet, doch nun ließ es die Verlegenheit umso deutlicher erscheinen, als sie meinte: „Ich… ich sagte doch schon, dass ich mich sowas nicht traue.“ Das Blut in seinem Kopf schien zu kochen. Hatte sie… hatte sie das wirklich so gemeint? Wollte sie wirklich, dass… Aber… Ariane merkte, wie er mit dieser Situation überhaupt nicht klarkam. Bedrückt lächelte sie. „Ist schon gut, tut mir leid. Ich will nicht, dass du dich irgendwie zu irgendwas gezwungen fühlst…“ Seufzend wandte sie sich ab, schaute in die Ferne zu den leuchtenden Blättern der Bäume und dem blauen Himmel. Das Licht der Sonne ließ ihre grünbraunen Augen umso strahlender erscheinen und die herbstliche Landschaft verlieh ihren Haaren einen leichten Rotton. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Sanftes, Elegantes und zugleich wirkte sie durch die Sommersprossen und die stupsige Nase süß und frech. Die Aufregung beschleunigte seinen Herzschlag. Sollte er wirklich einfach… Konnte er… Wieder wanderte sein Blick zu ihren Lippen. Erschrocken schüttelte Carsten den Kopf. Verwirrt wandte sich Ariane ihm zu. „Was ist?“ Zitternd atmete er durch, versuchte das Pochen in seiner Brust zu ignorieren. Er strich ihr mit den Fingern über die leicht gerötete Wange. Zögerte… Doch bevor die Unsicherheit siegte, beugte er sich vor und küsste sie. Es war nur ein Moment. Ein kurzer, langer Moment, in welchem sich ihre Lippen berührten. Er kam Carsten unwirklich, beinahe nicht real vor und dennoch belehrten seine Sinne ihn eines Besseren. Ihre Gesichter waren sich immer noch näher als unter normalen Umständen üblich, als Carsten seine Augen öffnete und Arianes Lächeln schwach erwiderte. Bevor sein Kopf die Situation überhaupt verarbeiten konnte, zog er Ariane noch näher an sich und küsste sie erneut. Kapitel 98: Entkommen --------------------- Entkommen       Es war ein langwieriges Verfahren. Er brauchte Geduld, obwohl die Zeit drängte. Konzentration aber keinen Zwang. Er musste im Einklang mit seinem Körper sein, und ihn doch als ein separates Gefäß betrachten. Die Prozedur zog sich unter Garantie über einige Stunden. Doch irgendwann meinte Benni zu spüren, wie er in der Lage war sich bewegen zu können. Vorsichtig richtete er sich auf, stand von dem Kanapee auf, auf welchem der Dämon nach wie vor lag und schlief. Auf welchem er selbst nach wie vor lag und schlief. Benni schaute sich in dem herrschaftlich hergemachten Zimmer um, welches lediglich von einer einzigen flackernden Kerze erhellt wurde. Auf dem prunkvollen Beistelltisch lag seine Pistole. Würde er sie in diesem transzendenten Zustand überhaupt anfassen können? Vorsichtig streckte er die Hand danach aus. Doch das erwartete Gefühl von kaltem Metall blieb aus, als seine Fingerspitzen eigentlich auf Widerstand treffen sollten. Offensichtlich nicht. Na wunderbar. Würde er dann überhaupt etwas ausrichten können? Energie vielleicht… Einen Moment lang betrachtete Benni den Körper, welcher eigentlich sein eigener war und ihm doch fremd vorkam. Es wäre eine Option. Er hätte die Möglichkeit. Ein Gedanke und alles könnte vorbei sein. Es wäre so einfach. Mars hatte bereits genug angerichtet. Er selbst hatte bereits genug angerichtet. Irgendwie musste er dem ein Ende setzen. ‚Du hast ernsthaft vor, dich umzubringen und dafür zu sorgen, dass all ihre Mühen umsonst waren?!‘, schrie eine Stimme aus seiner Erinnerung ihn an. Könnte er damit wirklich etwas an der Situation ändern? Bilder von heute Vormittag zuckten durch seinen Kopf. Laura, dieser elende Sturkopf, wie sie sich einem Dämon entgegenstellte ohne realistische Aussicht auf Erfolg. Carsten, ein gutmütiger Trottel, und doch war er mit seinen Kräften am Ende, nicht in der Lage zu reagieren. Sich zu wehren. Ebenso der Rest, ein verrückter Haufen. So verrückt, dass sie selbst Benni letzten Endes einfach so akzeptiert hatten wie er war. In ihm einen Freund sahen. Wäre wirklich alles vorbei, nur, wenn er sich umbringen würde? Könnte das alleine tatsächlich Mars aufhalten? Oder würde er dem Rest dadurch nur unnötig weitere Steine in den Weg legen? ‚Du empathieloser Sturkopf!‘ Benni wandte sich ab, verließ das Zimmer so lautlos wie ein Schatten. Lediglich eine leicht durchscheinende Gestalt mit einem schwachen schwarz-purpurnen Schimmer um den Körper, die durch die verschlossene Tür nach außen trat. Mars wachte nicht auf. Als er die Gemächer des Purpurnen Phönix verlassen hatte, konnte er das Schaudern nicht ganz unterdrücken. Er hatte mit Rationalität und Logik schon immer viel mehr anfangen können als mit Emotionen und Gefühlen. Gerade Spiritualität und alles, was in die Richtung ging, war für ihn seit jeher am wenigsten greifbar. Entsprechend unwirklich kam ihm diese Situation nun vor. Wie kam es, dass er nichts berühren konnte und doch mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand? Konnte man ihn überhaupt hören? War er für andere unsichtbar oder konnten sie ihn sehen, so wie er selbst sich sah? Benni schüttelte den Kopf, versuchte sich nicht weiter mit diesen Fragen zu befassen. Sie lenkten ihn nur vom Wesentlichen ab. Der Tatsache, dass diese eigenartige Situation ihm die Gelegenheit bot die Geschehnisse zu beeinflussen. Irgendwie zumindest. Aber wie? Das Handy, welches er sich damals besorgt hatte, damit Carsten während seiner Zeit im FESJ die Möglichkeit hatte ihn anzurufen, lag nach wie vor in seinem Zimmer hier in der Unterwelt. Über Jack hätte er sogar die Nummer von jemandem, um Kontakt zum Rest herstellen zu können. Doch all dies half herzlichst wenig, wenn er noch nicht einmal dazu in der Lage war die Tasten zu drücken. Wieder kam ihm der Gedanke auf mit Energie zu improvisieren. Doch Benni verwarf diesen sofort wieder. Das Risiko war zu hoch, dass Mars es bemerken könnte. Selbst bei so einer geringen Menge. Er musste so lange wie möglich unentdeckt bleiben, damit sich der Dämon weiterer potenzieller Gefahren nicht bewusst war. Sollte er also einfach nur tatenlos warten und hoffen? Ein seltsames Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit. Es klang wie eine große Menge durcheinanderredender Leute, so wie in einem Zelt auf dem Jahrmarkt. Benni schob weitere Gedanken beiseite und machte sich ungesehen auf den Weg zur Treppe, die in die nächst-tiefere Etage des Schlosses führte. Kapitel 99: Schuld ------------------ Schuld       Nach und nach bildete sich eine Masche nach der anderen, doch so schnell wie sonst war Janine nicht. Eigentlich hatte sie gehofft durch das Stricken wie sonst auch den Kopf frei zu bekommen. Doch sie war viel zu sehr darauf bedacht das metallische Geräusch aufeinandertreffender Nadeln zu vermeiden, um ganz in ihrer Arbeit aufgehen zu können. Bedrückt ließ sie die Hände sinken und schaute auf, doch Jack lag nach wie vor im Bett und war seelenruhig am Schlafen. Beschämt wandte sie den Blick ab. Nach einiger Zeit im Café und unendlich vielen irritierten Blicken der indigonischen Ärzte hatte sie es dort nicht länger ausgehalten und sich stattdessen in Jacks Zimmer geflüchtet. Dort blieb sie zwar ungesehen, kam sich dafür jedoch selbst wie ein unheimlicher Stalker vor. Verunsichert schaute Janine zur Tür und zog es in Erwägung, ihn lieber in Ruhe zu lassen. Doch wo sie dann hinsollte, wusste sie noch weniger. Zumindest, wenn sie in der Nähe bleiben wollte… Mit einem bedrückten Seufzen wandte sich Janine wieder ihrer Handarbeit zu. Ohne es zu merken begann sie die Melodie jenes Liedes zu summen, welche sie seit ihrem Gespräch mit Carsten nicht mehr aus dem Kopf bekam.   Als sie sich auf dem Rückweg zum Krankenhaus befanden, konnte sich Janine das Lachen nicht verkneifen. „Du machst es schon wieder!“ Carsten betrachtete sie verwirrt. „Was?“ „Das Lied summen!“ „… Echt?“ Janine kicherte. „Wenn ich jetzt einen Ohrwurm bekomme, bist du daran schuld.“ „Hey, ich kann nichts dafür!“, empörte er sich, musste aber selbst lachen. Seufzend verstärkte Janine ihren Griff um die Kekse etwas. Sie spürte Carstens mitfühlenden Blick auf sich ruhen. „Aufgeregt?“ „Na ja…“ Bedrückt schaute sie auf den Weg, den sie entlanggingen. „Wie würdest du dich fühlen, wenn du… nach allem…“ Es dauerte eine Weile, bis Carsten schließlich meinte: „Ich finde das eine schöne Geste. Was du vorhast. Und Jack wird sie ganz sicher auch zu schätzen wissen.“ „Trotzdem…“ „Was hat dich eigentlich dazu bewogen?“, fragte er. „Das war nicht erst durch Herr Bôss‘ Erzählung, oder?“ „Nein…“ Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in ihrem Magen aus, als sie sich daran erinnerte, was der Direktor ihnen anvertraut hatte. Und an die anderen vergangenen Geschehnisse… „Ich… Es… ist schwer zu beschreiben.“ Weitere Nachfragen stellte Carsten nicht mehr. Insgesamt war Janine überrascht und zugleich auch beeindruckt, wie er ihr einfach so seine Hilfe zugesagt hatte, ohne überhaupt zu wissen, was sie von ihm wollte. Er hatte ihr einfach vertraut. Was keine Selbstverständlichkeit war, besonders in Anbetracht der jüngsten Ereignisse. Genaugenommen seit… Ein Schaudern fuhr durch Janine, als sie sich an Jacks Schmerzensschreie erinnerte. Sie schüttelte sich. Doch den Schock, das Entsetzen über sich selbst, zu was sie fähig war, wurde sie nicht so einfach los. „Alles okay?“, erkundigte sich Carsten besorgt. Sie blickte hoch, in seine magischen lila Augen, die dieses für Carsten typische Leuchten hatten. Diese Freundlichkeit, um nicht zu sagen Nächstenliebe. Und auch dieses Mitgefühl. Sein Blick war so anders im Vergleich zu dem kalten, damals auf der Lichtung des Westwaldes. Diese unerbittliche Strenge, in der auch ein Hauch Enttäuschung gelegen hatte. Alleine die Erinnerung an diesen Blick sorgte für ein Unwohlsein. Schnell wandte sie sich ab, damit Carsten die Tränen nicht sehen konnte, die sich in ihren Augen sammelten. Doch selbstverständlich bemerkte er es trotzdem. „… Janine?“ „Ich… es… es tut mir leid…“, brachte sie schwach hervor. Womit sie ihn natürlich verwirrte. „Es gibt keinen Grund, sich bei mir zu entschuldigen.“ „Doch, den gibt es… Denkst du wirklich, es ist mir nicht aufgefallen? Dass du seitdem versucht hast zu vermeiden, auch nur ein Wort mit mir zu reden?“ Genau genommen hatte es nur eine einzige Situation gegeben, in der Carsten Janine von sich aus angesprochen hatte. Und da blieb ihm keine andere Wahl, schließlich hing in dem Moment nichts Geringeres als Arianes Leben davon ab. Dieses Mal war es Carsten, der den Blick abwandte. Vermutlich war er ihr unbewusst all die Zeit so gut wie möglich aus dem Weg gegangen, doch abstreiten konnte er es trotzdem nicht. „Entschuldige…“ „Nein Carsten, nicht du musst dich entschuldigen, sondern ich mich bei dir.“, sagte sie, bestimmt und bedrückt zugleich. „All die Zeit hast du dich in Jack hineinversetzen können und hast im Prinzip immer mit ihm mitgefühlt. Alles Negative, was wir über ihn gesagt haben… Jeder Hass, der gegen ihn gerichtet war… Das alles hast du indirekt mit abbekommen.“ Als Carsten nichts darauf erwiderte, meinte Janine noch: „Wirklich Carsten, es tut mir so leid…“ „Ich weiß doch.“ Seufzend überwand er sich endlich dazu, ihr in die Augen zu schauen, mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. „Wieder Freunde?“ Janine wusste nicht, ob es die Frage oder sein liebevoller Blick war, was dafür sorgte, dass sie in Tränen ausbrach. Schluchzend warf sie sich in seine Arme.   Janines Summen wurde jäh unterbrochen, als sie ein schwaches Geräusch hörte. Erschrocken schaute sie auf und merkte, wie Jack sich etwas im Bett herumdrehte. Panik stieg in ihr hoch, sie warf einen Blick auf die Tür. Sie hätte doch im Café warten sollen! Was würde er nur von ihr denken?! Vielleicht konnte sie ja noch schnell- „… Janine?“ Die verschlafene Stimme ließ sie zusammenzucken. Zu spät. „Guten Morgen…“ Sie wagte sich zu einem Lächeln, während Jack gähnte und immer noch am Aufwachen war. Er wollte sich aufrichten, stützte sich dabei auf seinem linken Arm ab. Plötzlich zuckte er zusammen. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Janine und legte das Strickzeug zur Seite. Immer noch schlaftrunken doch zugleich auch verwirrt, setzte Jack sich auf und bewegte probehalber die linke Schulter. Aber der erwartete Schmerz blieb aus. Auch von der tiefen Schnittwunde des Werwolfs war keine Spur mehr zu sehen und es musste wohl nicht erwähnt werden, dass ebenso die restlichen Verletzungen komplett verschwunden waren. Die Überraschung zeichnete sich auf seinen Gesichtszügen ab, als auch er dies realisierte. Erschrocken schaute er Janine an, mit einem Schlag hellwach. „Wie lange hab‘ ich…?“ „Alles ist gut, du hast vielleicht so sechs Stunden geschlafen.“, antwortete sie beruhigend. Erleichtert atmete Jack auf. Anscheinend hatte er eher mit mehreren Tagen gerechnet, vielleicht sogar einigen Wochen. Und doch schien ihn ihre Aussage nicht gänzlich zufrieden zu stellen. Wieder bewegte Jack die linke Schulter. „Dämonenverbundene haben doch nicht ernsthaft so gute Regenerationsfähigkeiten, oder?“ „Nein, also…“, setzte Janine an, wusste aber nicht, wie sie es ihm am besten erklären sollte. „Das… war Heil-Energie.“ „Was?“ Der Ton von Jacks Stimme klang so ungläubig, als wäre es das letzte, was er erwartet hätte. Nervös zwirbelte Janine eine Haarsträhne. „Na ja… Susi war der Meinung, dass du schon genug gelitten hast.“ Er hob eine Augenbraue, nach wie vor kritisch. „Also… unter den Verletzungen, meine ich.“, ergänzte sie. „Immerhin haben sie dich sogar schon mehrmals in Lebensgefahr gebracht und- und da meinte Susanne, es wäre besser, wenn du für das Kommende auf deine volle Stärke zurückgreifen kannst. Daher hat sie beschlossen dich zu heilen.“ Geräuschvoll atmete Jack aus. „Janine, verarsch mich nicht. Ich weiß, wie Susannes Heil-Energie funktioniert.“ „Ist das so abwegig für dich?“ Sie strich sich die Strähne hinters Ohr, an der sie zuvor nervös herumgespielt hatte. Er erwiderte nichts darauf. Stattdessen tastete er seinen rechten Unterarm ab, als müsste er den Knochenbruch suchen, der sich zuvor irgendwo dort befunden hatte. Nachdem er feststellen musste, dass dies ohne Erfolg blieb, schlug Jack die Decke zur Seite und stand auf. Doch entgegen seiner Erwartungen war das Belasten der Beine nicht schmerzhaft. Schließlich erwiderte er Janines Blick, immer noch lag Unglauben in seinen Augen. Traurig lächelte sie. „Ist es wirklich so schwer vorstellbar, dass wir dir helfen möchten?“ Jack schien nichts darauf antworten zu können und doch war dies zugleich Antwort genug. Er sah sich nicht als jemand, dem man helfen wollte. Und noch weniger sah er sich als Teil ihrer Gruppe. Irgendwie war das traurig… Seufzend setzte er sich auf die Bettkante, die Arme auf den Oberschenkeln abgestützt. „Jack…“ Zögernd richtete Janine sich auf und ging einen Schritt auf ihn zu. Doch Jack reagierte nicht auf sie. Eher schien er in seiner Gedankenwelt verloren, so wie er geistlos mit dem Portalring an seiner rechten Hand spielte. „Nur Susanne?“, fragte er schließlich. Nach einigem Zögern schüttelte Janine den Kopf. Obwohl er diese Geste nicht gesehen hatte, hatte er sie irgendwie mitbekommen. Zumindest merkte sie direkt, wie sich seine Hände anspannten. Durch die Aufregung beschleunigte sich Janines Herzschlag. Dennoch überwand sie sich dazu, die paar Meter zwischen ihnen zu überbrücken und setzte sich vorsichtig neben ihn aufs Bett. Er reagierte wieder nicht darauf, doch auch Janine wusste nicht, was sie sagen sollte. Irgendwie schienen jegliche Worte überflüssig. Weiterhin in Schweigen gehüllt betrachtete sie Jack. Lissi hatte schon recht, seine grünen Augen waren wirklich wunderschön. Und erst aus der Nähe sah man die schwachen Sommersprossen, die seine Nase zierten. Man konnte Jack mit dem hübschen Gesicht und dem athletischen Körper durchaus als attraktiv bezeichnen und doch war er irgendwie zur selben Zeit auch süß, was man bei der Frisur und den Piercings eigentlich nicht erwarten würde. Dennoch war sein Blick getrübt, mit den Gedanken woanders. Vermutlich in der Vergangenheit. Vermutlich an jenem Ort, den er vor wenigen Stunden erst zunichte gemacht hatte. Janine wurde das Herz schwer. Sie wollte ihn nicht so sehen, mit diesem traurigen, hoffnungslosen Blick. Sie wollte ihn irgendwie da rausholen. Zögernd streckte sie die Hand nach ihm aus, hielt aber in der Bewegung inne. Nach alldem, was man ihm angetan hatte… Wollte er da überhaupt, dass man ihn berührte? Oder würde es die Sache gar noch schlimmer machen? Immerhin hatte es auch Lissi vermieden, ihm bei seiner Panikattacke zu nahe zu kommen… ‚Weil er ziemlich viel Wert auf seinen persönlichen Freiraum legt.‘ Betreten zog Janine ihre Hand zurück. „Er hat es euch erzählt, nicht wahr?“, fragte Jack mit tiefer und doch tonloser Stimme in das Schweigen hinein. Ohne es zu wollen erinnerte sich Janine an das, was Herr Bôss ihnen berichtet hatte. Daran, wie Jack dort behandelt worden ist, so viele lange Jahre… Sie erinnerte sich an den kleinen Jungen mit den grünen leblosen Augen, den sie in dieser Art Illusion gesehen hatte… Janine presste die Lippen zusammen und zwang sich zu einem Nicken. „Als Dämonenverbundene fallen wir in Terra im Prinzip immer noch in eine Grauzone, weshalb das Schweigegelübde…“ „Stimmt. Gar nicht mal so blöd.“, stellte Jack fest. Bedrückt senkte Janine den Blick. „Tut mir leid… Es wäre dir vermutlich lieber, wenn wir nichts davon wüssten…“ „Ließ sich wohl kaum vermeiden.“ „Aber…“ Sie wusste nichts darauf zu erwidern. Das Bild dieses unheimlichen Mannes tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Groß, mächtig, bedrohlich. Ihr Puls beschleunigte sich, ihr Atem wurde flacher. Und doch war dieses Grauen was sich in ihrem Inneren ausbreitete nur ein Bruchteil dessen, was Jack damals gespürt haben müsste. Ihre Panik nichts im Vergleich zu der, die ihn nach wie vor zu quälen vermochte. Als sie merkte wie Jack ihren Blick erwiderte, wollte sich Janine eigentlich abwenden. Es war ihr unangenehm, ihm in die Augen zu schauen. Diesen Widersprüchen begegnen zu müssen. Ruhig und ebenso verloren. Gebrochen aber trotzdem stark. Der Wunsch nach Nähe und zugleich die Angst davor. Und noch während dieses strahlende Grün Janine gefangen hielt, während sich nach wie vor sämtliche Gefühle in ihr bekämpften, wurde ihr bewusst, warum sie eigentlich hier war. Warum sie all die Zeit nicht wusste, wie sie ihm gegenübertreten sollte und es bei jeder Konfrontation dadurch nur noch schlimmer gemacht hatte. „Lissi hat’s doch ohnehin gewusst.“, meinte Jack plötzlich und befreite sie aus seinem Blick. „Was? Ähm… ja.“, stammelte Janine, als sie sich wieder gefasst hatte. „Sie… sie hatte trotzdem gehofft, dass ihre Vermutungen falsch sind…“ Seufzend lehnte sich Jack zurück und schaute zur Decke hoch. „Ich sollte mich wohl bei Herr Bôss bedanken, dass er mir diese komische Situation erspart hat.“ Bedrückt betrachtete sie den Boden vor ihren Füßen. „Hättest… du uns das überhaupt erzählt?“ „Was? Dass es jemanden gab, dessen größte Freude es war seine perversen Fantasien an mir auszuleben?“ Betroffen zuckte Janine zusammen. Mit so einer direkten Antwort hatte sie nicht gerechnet. „Wie kannst du so einfach darüber reden?“ Jack lachte auf. „Einfach?“ Kopfschüttelnd richtete er sich auf, ging zum Fenster und lehnte sich gegen die Wand, während er mit vor der Brust verschränkten Armen in die Ferne schaute. Doch als sie genauer hinsah fiel Janine auf, dass er seine linke Hand auf die Innenseite des rechten Unterarms gelegt hatte. Die Stelle, wo… „Weil es ein Teil von mir ist.“, antwortete er schließlich. „Ob es mir gefällt oder nicht, ich muss es akzeptieren und lernen als Teil meines Lebens anzuerkennen. Andernfalls…“ Er zuckte mit den Schultern. „Einfach ist daran gar nichts.“ „Trotzdem ist es beeindruckend…“, meinte Janine nur und rief sich schweren Herzens ins Gedächtnis, dass es noch viel mehr gab, was Jack als Teil seines Lebens anerkennen musste. „Hat auch lang genug gedauert.“ „… Wie lange denn?“ „Um die drei Jahre etwa? Wobei viele der Erinnerungen ziemlich verschwommen sind.“ Nach einem kurzen Zögern fügte er hinzu: „Zumindest, bis ich aus dem Gröbsten raus war.“ Janine schluckte schwer. Ein imaginärer Windzug ließ sie frieren als sie realisierte, dass Jack eigentlich kaum die Möglichkeit hatte, das Leben welches er bisher hatte auch wirklich zu genießen. Sein Vater, das FESJ und alles, was damit zusammenhing, und schließlich wurde seine Mutter auch noch vor seinen Augen umgebracht… Er war noch keine 15 und hatte schon mehr durchmachen müssen, als andere in ihrem gesamten Leben. Hatte zu dem Zeitpunkt schon gegen die Folgen von all dem kämpfen müssen. Musste es immer noch… Eine unsichtbare Kraft quetschte ihr Herz zusammen. Tränen sammelten sich in ihren Augen, als Janine zitternd meinte: „Es tut mir leid…“ „Ich will kein Mitleid.“, erwiderte Jack kopfschüttelnd und wandte sich zu ihr um. Bedrückt lächelte sie. „Ich weiß.“ Sie wies auf den Nachttisch. Es war deutlich sichtbar, dass Jack erst jetzt die Packung bemerkte, die darauf lag. „Kekse!“ Janine unterdrückte ein Kichern, als sie die Begeisterung in seiner Stimme hörte und sah, wie seine Augen zu leuchten anfingen. Wer hätte gedacht, dass er so süß sein könnte… Mit einem Schlag deutlich besser gelaunt kam Jack zum Bett zurück und setzte sich neben sie, um die Kekspackung zu öffnen und sich einen herauszunehmen. Vorm Abbeißen hielt er jedoch inne. „Die sind aber nicht vergiftet, oder?“ Sie konnte nicht heraushören, wie ernst er das tatsächlich gemeint hatte. Doch obwohl dieser Kommentar Janine härter traf als gedacht, musste sie bei seinem kritischen Tonfall auflachen. Verschämt strich sie sich eine Strähne hinters Ohr. „Nein, sind sie nicht.“ Nach einem kurzen Zögern hielt Jack ihr plötzlich die Kekspackung hin. Verwirrt schaute sie ihn an, verstand nicht, was er mit dieser Geste meinte. Jack zuckte mit den Schultern. „Dich vorkosten zu lassen bringt eh nichts. Aber wenn du magst, nimm dir ruhig.“ Schwach lächelte Janine, holte sich schließlich einen Keks heraus und biss ab. Sie waren wirklich lecker! Auf Bennis Meinung konnte man sich einfach immer verlassen. Aus den Augenwinkeln merkte sie, wie Jack selbst den Keks in seiner Hand lediglich betrachtete. Dabei hatte sie eigentlich damit gerechnet und insgeheim auch gehofft, dass er sich sofort über die ganze Packung hermachen würde. „Warum?“, fragte er schließlich. „Na ja, weil…“ Vor Aufregung und Sorge schaffte es Janine kaum, den Bissen herunterzuschlucken. „Ich… wollte mich bei dir entschuldigen.“ Das erdrückende Gefühl in ihrem Brustkorb wurde nicht weniger. Eher das Gegenteil war der Fall, als sie Jack schließlich in die Augen schaute. Die Distanz und Zweifel sah, die darin lagen. Sie wollte das nicht… Sie wollte nicht, dass er sie so skeptisch anschaute, so kalt und unnahbar. Und doch schaffte Janine es wieder nicht den Blick abzuwenden. Irgendetwas in diesem strahlenden Grün sorgte dafür, dass sie gänzlich versteinerte. „Entschuldigen?“ Janine nickte langsam, wie gelähmt. „Ja, wegen… Wegen dem was ich getan hatte. Auf der Lichtung. Und auch… alles andere. Was ich sagte… Ich…“ Sie versuchte so gut es ging die Tränen zurück zu halten, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Sie wollte stark klingen. Wollte, dass er wusste, wie ernst sie es meinte. Und doch brachte sie nur ein schwaches Flüstern zustande. „Es tut mir leid…“ Seufzend wandte Jack sich ab, betrachtete wieder den Keks in seinen Händen. Mehr Reaktion bekam sie nicht. Janine krallte sich mit den Fingern in die Bettdecke, fühlte sich vollkommen hilflos. „Es… es ist okay, wenn du mir das nicht verzeihen kannst. Ich… verstehe das…“ Trotz ihrer Mühen verlor sie allmählich die Macht über ihre Gefühle. Nach und nach rannen immer mehr Tränen über die Wangen. Die Vorstellung war schon schlimm genug gewesen. Aber es auszusprechen… Die Vermutung, dass er ihr niemals würde verzeihen können in Worte zu fassen… Janine schluchzte und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. „Ich wollte zumindest, dass du weißt wie leid es mir tut…“ Jack zuckte mit den Schultern, fast so als kämen ihre Worte nicht bei ihm an. Als wären sie bedeutungslos. „Kein Grund sich zu entschuldigen. Ich hab’s schließlich verdient.“ … Was hatte er da gesagt? „… Verdient?“ Entsetzt schaute Janine ihn an. „Jack, niemand verdient so etwas! Und… Und du erst recht nicht.“ Kopfschüttelnd richtete er sich auf und ging wieder zum Fenster. Janine schaute ihm hinterher, konnte immer noch nicht fassen, was sie da gehört hatte. Und dennoch… So langsam dämmerte es ihr. Allmählich verstand sie, was in ihm vor sich ging. Wo das Problem lag und wie tief verwurzelt es bereits war. Seine Ansichten, seine Gefühle, … Es war schon immer so gewesen, sein ganzes Leben lang. Immer hatte er nach diesem Prinzip leben müssen. Bis es ein Teil von ihm geworden ist… „Du bist nicht schuld, Jack.“ „Was?“, fragte er verwirrt, als hätte er sie nicht verstanden. „Du bist nicht schuld.“, wiederholte sie sich. Plötzlich lachte er los, fast so als hätte sie ihm irgendeinen Witz erzählt. Und doch war der verbitterte Tonfall deutlich herauszuhören als er ihren Blick erwiderte und sagte: „Muss ich dich daran erinnern, wer die ersten drei Tage nicht bei Bewusstsein war? Und wer der Hauptgrund ist, warum dieses Gesetz beinahe nicht unterzeichnet wurde? Und wer für den Zwietracht in eurer Gruppe verantwortlich ist?“ Janines Lippe begann zu beben, als sie die Worte wiedererkannte. „Jack, das war nicht… Ich meinte nicht…“ Sie merkte, wie er den Griff um seinen rechten Unterarm verstärkte. „Nicht? Ich dachte es macht keinen Unterschied, ob ich es war oder nur zugeschaut habe.“ „Doch! Doch, es macht einen Unterschied. Du bist nicht schuld.“, widersprach sie ihm verzweifelt und traf trotzdem nur auf eine Wand. „Selbst wenn, es rechtfertigt nicht meine Taten bei Mars. Es erklärt nicht, warum ich anderen genau das antue, was ich angeblich selbst hatte erleiden müssen.“, meinte er kühl. Seine Stimme war hart wie Stein und genauso unnachgiebig. Doch Janine entging nicht wie sich seine Fingernägel neben den ganzen anderen Narben ins Fleisch schnitten. „Jack, nein! Du bist nicht schuld!“, schrie Janine unter Tränen. „Bitte… Ich will dir doch nur helfen…“ Er biss die Zähne zusammen. „Wie kannst du mir nach all dem noch helfen wollen? Wenn ich doch nichts anderes kann, außer Leuten zu schaden oder sie direkt umzubringen!“ „Jack, du bist nicht schuld!“ Janine stand auf und ging zum Fenster. Doch bevor sie überhaupt dazu kam ihn zu berühren, wich er instinktiv vor ihr zurück. Stieß dabei mit dem Rücken gegen die Wand. Die Panik ließ ihn nach Luft schnappen. Traurig lächelte sie ihm zu. „Du bist nicht schuld. Hör auf, dir so etwas einzureden.“ „Sei still…“ Jack wich ihrem Blick aus, schaute stur zur Seite. Versuchte mit aller Kraft die Mauer aufrechtzuerhalten, die er um sich herum errichtet hatte. „Nein Jack, ich werde es immer und immer wieder sagen, bis es auch in deinem Dickschädel angekommen ist. Du bist nicht schuld.“ „Sei still!“ Eine schwache Erschütterung ging durch den Raum. Und doch konnte Janine aus der Nähe das Zittern umso deutlicher sehen. Das Beben seines Körpers, den angespannten Kiefer, das wässrige Glänzen an den Augenrändern… Sie konnte sehen, wie die Fassade Risse bekam. Wie sie zu bröckeln anfing. „Du bist nicht schuld. Weder an dem was mit Annalena passiert ist, noch an dem, was deiner Mutter widerfahren ist. Und erst recht nicht daran, was diese Leute dir damals alles angetan hatten.“ Sanft legte sie ihre Hand auf diejenige, mit der Jack nach wie vor das Blut in seinem Unterarm abdrückte. „Sieh‘ mich an.“ Fast schon trotzig wandte Jack den Blick noch weiter ab. Bis die Zähne zusammen, als eine der Tränen seiner Kontrolle entwich. „Jack, sieh mich an.“, wiederholte sie sich bestimmter. Als er wieder nicht hörte, legte Janine ihre andere Hand auf seine Wange und drehte seinen Kopf so, dass ihm keine andere Wahl mehr blieb als ihr in die Augen zu schauen. Janine musste sich selbst mit aller Kraft zusammenreißen als sie bemerkte, wie sehr er eigentlich gegen seine Gefühle ankämpfte. Wie tief ausgerechnet die Narben waren, die niemand sehen konnte. Und doch fiel ihr das Lächeln leicht, während sie in seine grünen Augen blickte. „Du bist nicht schuld.“ Die Fassade brach. „Warum?!“, schrie er. „Warum will mir jeder ständig helfen, obwohl ich nur Leid und Zerstörung verursache?!“ „Weil du das nicht tust.“, widersprach Janine ihm ruhig. Vorsichtig legte sie die Arme um ihn und drückte ihn an sich. „Weil du nicht schuld bist.“ Ob Jack ihre Worte noch wahrnahm wusste sie nicht. Viel zu sehr hatten die Gefühle ihn in ihrer Gewalt. Der gesamte Schmerz, all die Verzweiflung, die er glaubte besiegt zu haben und die sich doch all die Zeit nur in seinem Herzen angestaut hatte. In einem steinernen Gefängnis, welches er nicht mit seiner Erd-Energie hatte zum Einsturz bringen können. Ein schmerzhaftes Stechen zuckte durch Janines linke Schulter, als Jack sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergrub und sich an sie klammerte als wäre sie die einzige Stütze, mit der er sich noch auf den Beinen halten konnte. Ohne die er auf dem Boden zusammenbrechen würde. Doch sein herzzerreißendes Schluchzen ließ den Anflug von Schmerz vergessen. „Ich wollte das nicht!“, schrie er heiser. „Ich wollte ihnen helfen! Annalena und… Max und… und Benni…“ „Ich weiß.“ Sanft strich Janine ihm über die längere, verwuschelte Seite der Haare. „Du bist nicht schuld.“ Jack brach endgültig zusammen. Janine konnte sich nicht daran erinnern, jemals eine Person so aufgelöst erlebt zu haben. Nicht einmal in ihren Träumen hätte sie geahnt, dass jemand so viele Dinge in sich tragen konnte, die mit einem Mal hochkochten. Wie viel in dem Herzen eines einzigen Menschen brodeln konnte. Wie viel so plötzlich aus ihm heraussprudelte. Die Liste war lang. Manches verstand Janine noch nicht einmal, weil Jack so durcheinander war, dass er kaum ein richtiges Wort herausbrachte. An viele Dinge würde sie sich in Zukunft gar nicht mehr erinnern können, da es einfach viel zu viel war. Andere Sachen wiederum wollte sie eigentlich gar nicht verstehen, würde sie lieber vergessen. Wie sein Vater ihn wegen irgendwelchen Kleinigkeiten anschrie und zusammenschlug… Für was man alles im FESJ bestraft wurde… Und noch so vieles mehr. Sogar die Geschehnisse auf der Abendgesellschaft nahm sich Jack nach wie vor noch stark zu Herzen. So stark, dass er direkt wieder die Selbstbeherrschung verlor, kaum nachdem er sich zumindest ein bisschen gefasst hatte. Janine hielt ihn einfach nur im Arm und drückte ihn so fest sie konnte an sich. Als wäre das, wovor sich Jack am meisten fürchtete eigentlich das, was er insgeheim all die Zeit gebraucht hatte. Nähe. Das und dieser eine Satz, den Janine beinahe wie ein Mantra wiederholte. „Du bist nicht schuld.“ Irgendwann saßen sie auf dem Boden, da Janine kaum mehr die Kraft hatte sein Gewicht zu halten. Jack klammerte sich weiterhin an sie, zitterte am ganzen Körper. Doch zumindest das Schluchzen ließ allmählich nach… Sanft strich sie ihm wieder über die Haare, als sie schließlich fragte: „Geht’s wieder?“ Das Gesicht immer noch in ihrer Halsbeuge vergraben schüttelte er den Kopf und nuschelte kaum verständlich: „… Erst wenn ich nen Keks bekomme.“ Erleichtert lachte Janine auf als sie merkte, wie er langsam wieder zu sich zurückfand. „Kriegst du.“ Sie wollte aufstehen, doch dieses Mal ließ sich der stechende Schmerz in ihrer Schulter nicht so einfach ausblenden. Unbeabsichtigt drang ein schwaches ‚au‘ aus ihrer Kehle. „Sorry…“ Direkt ließ Jack sie los. Bedrückt lächelte Janine, als sie die vom Weinen geröteten Augen sah. „Schon gut, es ist nicht so schlimm.“ Doch natürlich konnte sie ihn damit nicht überzeugen. Immerhin wusste er selbst, wie sich diese Wunde anfühlte. Dass die Schmerzen verursacht durch eine Kugel jener Pistole deutlich qualvoller sind als sie im Normalfall ohnehin schon wären. Vorsichtig, um nicht zu sagen sanft, berührte Jack Janines linke Schulter. So leicht, dass sie es kaum spürte und er ihr somit auch keine Schmerzen bereitete. „Du hättest das nicht machen müssen…“ Janines Lächeln wurde überzeugter. „Doch.“ Verbissen wich er ihrem Blick aus. „Nein, wirklich. Ich-“ „Du bist nicht schuld.“, unterbrach sie ihn direkt. Jack kniff die Augen zusammen. Seiner Reaktion nach zu urteilen hatte er es tatsächlich gerade gedacht. Er hatte sich schon wieder die Schuld für etwas geben wollen. Dabei konnte er doch gar nichts dafür… Dabei… „Es war meine Entscheidung, Jack. Und du hättest mich nicht davon abbringen können, egal was du dir jetzt schon wieder einreden willst. Du bist nicht schuld.“ Mit einem genervten Stöhnen lehnte er sich nach hinten gegen die Wand. „Und ich dachte schon Lissi kann ätzend sein.“ Janine lachte auf. „Steter Tropfen höhlt den Stein, nicht wahr?“ „… Weiß nicht, ob mir das gefällt.“ Amüsiert teleportierte sie die Kekspackung in ihre Hand und hielt sie ihm entgegen. Tatsächlich nahm sich Jack ohne weitere Aufforderung einen Keks heraus und begann ihn zu essen. Ansonsten wurde es still. Doch Janine wagte es nicht, das Schweigen zu brechen. Sie hatte den Eindruck, dass Jack noch Zeit brauchte um alles zu verarbeiten. Um mit dieser Flut an Emotionen fertig zu werden. Und noch wichtiger, um ihre Worte auch wirklich aufnehmen zu können. Doch Janine bezweifelte, dass dies vom einen auf den anderen Tag möglich war. Eine über Jahre gefestigte Einstellung ließ sich nicht so einfach durch ein paar Worte und Gefühlsausbrüche aus dem Weg räumen. Er würde es immer und immer wieder denken. ‚Es ist meine Schuld.‘ Und sie würde ihn immer und immer wieder daran erinnern müssen, dass dies nicht stimmte. Doch irgendwie war diese Erkenntnis nicht abschreckend. Im Gegenteil, Janine wollte ihn immer wieder daran erinnern. Sie wollte immer für ihn da sein und zur Stütze werden, wenn er eine brauchte. Janine schluckte schwer. „Jack…“ Fragend schaute er auf. Er sah immer noch so fertig aus und sein verunsicherter Blick brachte sie aus dem Konzept. Wie konnte sie ihm so etwas überhaupt sagen? An sich, was dachte er eigentlich von ihr? Heute Vormittag noch hatte sie ihm jeglichen Hass entgegen geschleudert und jetzt… Als Janine nicht weitersprach, oder eher nicht weitersprechen konnte, wandte sich Jack wieder ab. Betrachtete stattdessen den Keks, den er eigentlich essen wollte. „Sag mal… Warum ausgerechnet jetzt? Fandest du mich mit einem Schlag so bemitleidenswert, nachdem Herr Bôss euch das alles erzählt hat?“ Betreten spielte Janine mit einer Strähne. Sie hatte schon befürchtet, dass Jack das vermuten würde. Aber wie sollte sie… „Nein… Also… versteh mich nicht falsch, natürlich finde ich es schlimm, was alles passiert ist. Natürlich habe ich Mitleid mit dir. Aber… aber das war nicht der Grund, weshalb ich…“ Fragend legte er den Kopf schief. „Nicht?“ „Nein, wirklich nicht. Ich… es…“ Sie seufzte. „Es ist schwer zu erklären.“ Unsagbar schwer. Wie sollte sie das in Worte fassen, was sie fühlte? Wie sollte sie etwas erklären können, was sie selbst nicht wirklich verstand? Janine atmete tief durch und schaute ihm in die grünen Augen, deren Ränder nach wie vor leicht gerötet waren. Nach allem, was geschehen war, brauchte Jack eine Antwort. Und sie wollte, dass er es wusste. „Ich hasse dich nicht, Jack.“ „Hä?“ Traurig lächelte sie bei dem irritierten Ton. „Ich habe dich nie gehasst, es ist nur… Ich war… Verwirrt.“ Jack stöhnte auf. „Toll, danke. Das bin ich jetzt auch.“ „Bitte Jack, ich… ich will ja versuchen es zu erklären.“, brachte Janine mühsam über die Lippen. Nun war sie es, die gegen ihre Gefühle ankämpfen musste. „Ich… im ersten Moment hatte ich wirklich geglaubt du wärst es gewesen. Du hättest geschossen. Deshalb… Ja, ich habe dir die Schuld gegeben, die ganze Zeit über. Obwohl Benni mir mehrmals versichert hat, dass du es nicht warst. Ich habe ihm das auch geglaubt! Aber… aber…“ Janine wischte sich mit der Hand über die Augen. „Es war leichter wütend auf dich zu sein, als…“ Jack seufzte. „Ist schon gut, ich glaube ich verstehe, was du meinst.“ „W-wirklich?“, fragte Janine verunsichert. „Wirklich.“ Aufmunternd lächelte er sie an. „Hey, ich bin wohl der letzte der nachtragend sein sollte, wenn die Gefühle mit einem durchgehen und man vollkommen austickt.“ Bedrückt lachte Janine auf. „Trotzdem… Ich… ich wollte das nicht. Aber irgendwie… Egal was war… Ich habe immer nur alles noch schlimmer gemacht. Deshalb…“ Sie unterdrückte ein Schluchzen und schob ihm die Kekspackung etwas entgegen. „Deshalb wollte ich mich bei dir entschuldigen. Zumindest das. Irgendwie…“ Jack schien zu merken, dass es noch mehr gab, was sie auf dem Herzen hatte. „… Aber?“ Janine wischte sich noch eine Träne aus den Augen. „Aber… Irgendwie reicht mir das nicht. Ich… ich würde es so gerne wiedergutmachen.“ Lachend schüttelte Jack den Kopf. „Du brauchst nichts wiedergutzumachen, Janine.“ „Aber…“ „Ehrlich.“ Jack legte seine Hand auf ihre unverwundete Schulter. Janine hatte noch nie jemand mit so einem schönen Lächeln gesehen wie in diesem Moment, als Jack sagte: „Ich verzeihe dir.“ Irgendetwas an dieser Reaktion löste einen Kurzschluss in ihr aus. Dieses Mal war sie es, die in Tränen ausbrach. „Es tut mir so leid…“ Er seufzte. „Hey, ich sagte doch schon, dass ich dir verzeihe. Kannst es auch gerne schriftlich bekommen.“ „Aber… aber…“, schluchzte sie. „… Ich werde dieses Psycho-Spielchen nicht bei dir wiederholen, das kannst du vergessen.“, konterte er stumpf. Sein trockener Kommentar sorgte dafür, dass sich unter das Schluchzen irgendwie auch ein Lachen mischte, sodass Janine plötzlich auch noch Schluckauf bekam. Das wiederum sorgte dafür, dass Jack das Lachen nicht mehr unterdrücken konnte. Janine hatte keine Chance mehr, ihre Gefühle irgendwie noch einzuordnen. Obwohl ihr die Tränen in Strömen über das Gesicht liefen, konnte sie nicht wirklich traurig sein. Obwohl die Gewissensbisse weiterhin an ihr nagten, fühlte es sich auf einmal nicht mehr so schlimm an. Jacks Lachen hatte irgendetwas Ansteckendes. Es wirkte so heiter und sorglos. Sie konnte einfach nicht anders. Sie musste in dieses Lachen miteinstimmen. Als sie sich irgendwann so halbwegs wieder beruhigt hatten, strich Jack ihr belustigt eine Strähne aus dem Gesicht. „Geht’s wieder?“ „J-ja, es geht schon. Ich-“ Ein Hicks unterbrach Janines Worte, woraufhin Jack wieder fast losprustete. Doch er hielt sich gerade noch so zurück. Janine wischte sich mit der Handfläche über die Wangen, versuchte irgendwie die Tränen wegzubekommen. „Tut mir leid…“ Jack zuckte mit den Schultern. „Auge um Auge.“ „… Und die ganze Welt wird blind.“, erinnerte sie sich mit einem bedrückten Lächeln an Carstens Worte vor einer Woche. „Okay, das wird mir jetzt echt zu symbolisch.“ Schwach lachte Janine auf, wurde jedoch erneut von ihrem Schluckauf unterbrochen. „Trotzdem… Ich würde das irgendwie gerne wiedergutmachen.“ Er seufzte. „Du wirst eh nicht lockerlassen, oder?“ Janines Antwort war, wenn auch unbeabsichtigt, ein weiteres Hicksen, was es Jack umso schwerer machte ernst zu bleiben. Bedrückt schaute sie ihn an. „Wirklich Jack, ich will es irgendwie wiedergutmachen. Egal wie.“ Jack hob eine Augenbraue, seine Lippen formten sich zu einem schiefen Lächeln als er fragte: „Egal wie?“ Erst als er dieses Wort hervorhob, wurde Janine bewusst, was für einen Spielraum sie ihm damit eigentlich bot. Er könnte weiß-Gott-was von ihr verlangen, von Geld bis hin zu anderen Dingen, wie er damals auch schon nach der Abendgesellschaft verlangt hatte. Auch wenn das nicht ernst gemeint war. Tatsächlich entstand für einen Moment ein flaues Gefühl in ihrem Magen. Doch Janine schluckte es herunter. „Egal was.“ „Hehe, na dann…“ Jack hob den Zeigefinger, ein spitzbübisches Lächeln auf den Lippen. „Ein Date.“ „W-was?“ Entgeistert starrte sie ihn an. Ihre Verwirrung brachte Jack wieder zum Lachen, dennoch wirkte er leicht verlegen, als er sich durch die längeren Haare auf der rechten Seite wuschelte. „Wenn wir es tatsächlich schaffen lebend aus diesem ganzen Mist rauszukommen… Dann würde ich zumindest einmal gerne mit dir ausgehen. Danach lass ich dich auch in Ruhe, versprochen.“ Janine konnte immer noch nicht glauben, was sie da hörte. Das war die Wiedergutmachung, die Jack von ihr verlangen würde? Er wollte mit ihr… ausgehen?! Trotz allem, was sie ihm angetan hatte?! Nach wie vor regierte Unglauben Janines Gedankenwelt. „Ist das wirklich… dein Ernst?“ „Absolut.“, antwortete er. Noch nicht einmal der ansonsten so typische sarkastische Tonfall war zu hören. Ein ungewohntes Kribbeln breitete sich in ihrer Magengegend aus. Sie fühlte sich mit einem Schlag so beschwingt und gleichzeitig doch so verunsichert, dass ihre Stimme unter Garantie einen ganz seltsamen Klang hatte, als sie schließlich antwortete: „… Okay.“ Jack betrachtete sie verwirrt. „Wie jetzt? Okay? Du katapultierst mich nicht aus dem Fenster?“ Es war unmöglich, dabei nicht zu lachen. Sein Ton ließ vermuten, dass er so etwas in der Art tatsächlich erwartet hatte. „Ich bin doch nicht Anne!“ Seine verlegene Reaktion sorgte dafür, dass sich Janines Lachen nur noch mehr verstärkte. Er war einfach zu süß! Dennoch merkte sie auch den Funken Unsicherheit in seinem Blick, weshalb sich Janine so gut es ging zusammenriss und meinte: „Es ist wirklich okay.“ „… Echt?“ Immer noch war der Unglaube in seiner Stimme deutlich zu hören, sodass Janine erneut lachen musste. Irgendwie war es süß, dass Jack nicht so überzeugt von sich selbst war, wie er auf den ersten Anblick wirkte. Aber gleichzeitig auch traurig, wenn man sich dessen bewusst war, woher das kam… Kapitel 100: Entdecken ---------------------- Entdecken       Tatsächlich war das Loch in der Wand immer noch vorhanden, welches Jack vor etwa einer Woche mit seiner Erd-Energie erschaffen hatte. Benni überlegte, ob er diesen Durchgang überhaupt benötigen würde. Doch es war schon seltsam genug gewesen die Türen der Gemächer des Purpurnen Phönix durchschreiten zu können, ohne sie öffnen zu müssen. Somit war er dankbar, solch eine Erfahrung nicht erneut machen zu müssen. Benni sprang auf die Treppe etwa einen Meter unter der Öffnung. Wieder fragte er sich, wieso er nicht einfach durch den Boden hindurch fiel. Und wie es dazu kam, dass er trotzdem in der Lage war die eisige Kälte dieser bodenlos wirkenden Schlucht zu spüren. Zumindest verhalf ihm das schwache Leuchten seines transzendenten Körpers zu einer spärlichen Sicht, sodass er die Stufen vor seinen Füßen erkennen konnte. So musste er nicht auf Feuer-Energie zurückgreifen oder den Weg in tiefster Finsternis erahnen. Während er die Ewigkeit des Abstieges verstreichen ließ, fragte sich Benni, ob er in dieser Geister-Form einen Sturz überleben würde und wenn nicht, welche Auswirkungen dies auf seine menschliche Hülle hätte. Konnte er überhaupt verletzt werden? Sein Vorhaben war so unlogisch. Genau genommen dieses gesamte Unterfangen, seit er sich von seinem Körper abgespalten hatte. Nichts davon ergab Sinn. Und doch geschah es. Benni begann zu spekulieren, ob er wohl durch Mars inzwischen seinen Verstand verloren hatte. Ob er einfach glaubte, all das zu erleben und in Wahrheit doch nur träumte. Das war die einzige Erklärung, die ihm irgendwie möglich erschien. Nur ein Traum, der sich seltsam real anfühlte. Es gab viele Fragen und Gedankenspiele mit denen Benni sich beschäftigen konnte, sodass ihm die Zeit dieses Mal deutlich kürzer vorkam, bis er den Grund der Schlucht erreicht hatte. Nicht nur die Kälte, auch der ekelerregende Gestank von Verwesung und Schimmel ließ sich von Bennis geisterhaftem Zustand nicht beeindrucken. Doch zumindest funktionierten alle seine Sinne einwandfrei. Dadurch konnte er nach wie vor die Stimmen deutlich hören, obwohl die Finsternis ihn nahezu orientierungslos machte. Ohne sich dessen bewusst zu sein, ging Benni auf die gewaltige Tür zu, die er der Dunkelheit zum Trotz meinte sehen zu können. Ein riesiges Tor, verziert mit wirren Symbolen. So massiv und schwer, dass kein noch so starkes Wesen in der Lage schien, es öffnen zu können. Benni blieb vor der gigantischen Pforte stehen. Die eigenartigen Muster hatten wie schon damals eine seltsam hypnotische Wirkung. Schienen ihn regelrecht zu rufen. Automatisch streckte Benni seine Hand danach aus. Als könne er ergreifen, was auch immer ihn rief, obwohl er sonst nichts anfassen konnte. Und doch waren die Furchen der Muster deutlich zu spüren, als seine Fingerspitzen auf kalten, unerbittlichen Stein trafen. Zeitgleich waren die Stimmen verstummt. Einige Sekunden herrschte absolute Stille. Nichts geschah. Und dann, plötzlich, ein purpurnes Leuchten. Ein Strahlen, an genau der Stelle wo Benni die Tür berührte. Es blendete ihn und doch war es unmöglich, die Augen davor zu verschließen. Das Licht breitete sich immer weiter aus, wanderte die Muster entlang, bis es die gesamte Tür einnahm. Den gesamten Raum erhellte. Und wie von selbst begann sich das Tor schließlich zu öffnen. Ganz langsam und doch still und lautlos. Der Raum vibrierte nicht, kein tiefes Grollen, nichts. So gewaltige Flügel und doch wirkten sie mit einem Mal federleicht. Benni rührte sich nicht, er wagte es nicht zurückzuweichen. Er konnte es nicht. Er konnte nur beobachten. Zuschauen, wie der Spalt größer und größer wurde und das purpurne Leuchten allmählich einen Raum erhellte, den die Tür hinter sich freigab. Wie angewurzelt verharrte Benni in seiner Position, selbst die Hand war noch ausgestreckt, obwohl die Tür sich schon längst geöffnet hatte. Sein Verstand konnte nicht erfassen, was seine Augen ihm zu sehen vorgaben. Es waren Personen. Hauptsächlich Menschen, aber auch Elben, Vampire und Indigoner, die allesamt seinen ungläubigen Blick erwiderten. Tausende von Augenpaaren, die auf ihn gerichtet waren. Was geht hier vor sich? Noch während Benni versuchte eine Antwort auf diese Frage zu finden, trat eine der Personen nach vorne. Eine junge Frau, etwa in seinem Alter mit langer silberner Haarpracht, die von einer mit einem Drachen verzierte Haarnadel zum Teil hochgesteckt war. Sie war in einen edlen roten Kimono gekleidet und ein Katana steckte an der Seite des Obi. Vergleichbar zu Bennis Aura war auch ihr gesamter Körper von einem durchschimmernden Leuchten umgeben. Ihre grauen Augen hatten einen vertrauten Glanz und es war unmöglich die Stimme nicht wiederzuerkennen, als sie fragte: „Benedict?“ „… Sensei?“ Nun war sich Benni ganz sicher, dass all dies nur ein Traum sein konnte. Kapitel 101: Vereint -------------------- Vereint       Zögerlich setzte sich Susanne neben ihre Zwillingsschwester an die lange Tafel im Häuptlingsanwesen und wandte instinktiv den Blick ab, als sie merkte wie Anne ihr gegenüber Platz nahm. Eigentlich freute sie sich darüber. Und doch wusste sie nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Wie sie mit diesem seltsamen Gefühl klarkommen sollte, was seit dem Angriff auf die Coeur-Academy ihr Herz übernahm, sobald sie Anne in ihrer Nähe wusste. Doch Anne selbst schien mit den Gedanken woanders. Bei etwas deutlich naheliegenderem. „Nachher ist es also soweit.“, sagte sie, als wolle sie ein Gespräch mit Susanne starten. Diese brachte lediglich ein Nicken zustande. Die Aufregung auf das Kommende schnürte ihr die Kehle zu. Nach dem plötzlichen Angriff auf Indigo hatten sie erkennen müssen, dass Mars nun wohl nicht mehr vorhatte einfach nur mit ihnen zu spielen. Er würde diese Nacht noch seine Unterweltler auf Damon loslassen, da waren sie sich ganz sicher. Folglich mussten sie schnell handeln, im Idealfall dem Dämon zuvorkommen. Sie durften keine Zeit mehr verlieren. „Ist ansonsten alles okay?“, erkundigte sich Anne, vermutlich mit Anspielung auf die Verletzungen, die sie zuvor mit ihrer Heil-Energie von Jack übernommen hatte. Susanne nickte erneut. „Ja, alles bestens. Ich hatte mich noch einmal schlafen gelegt und inzwischen ist alles wieder verheilt.“ Anne schien leicht belustigt. „Schon beeindruckend, dass bei dir die Verletzungen in nicht einmal einem halben Tag verheilt sind, an denen Jack bereits ne Woche zu beißen hatte.“ „Ich finde es ja beeindruckend, dass du ihn ganz normal bei seinem Namen nennst, Banani.“, warf Lissi ein. „Mitleidsbonus?“ Die mit einem Schlag geladene Atmosphäre zwischen den beiden ließ Susanne schaudern, als Anne antwortete: „Nach der ganzen Scheiße wohl nicht überraschend.“ Ihr Blick fiel auf Janine, die sich just in diesem Moment links neben Susanne setzte. „Und ich bin wohl nicht die Einzige, die dadurch begonnen hat ihre Meinung zu ändern.“ Ihrem bedrückten Blick nach zu urteilen schien Janine das Gespräch mitbekommen zu haben. Dennoch schaffte sie es nicht, etwas auf Annes Kommentar zu erwidern. „Das ist etwas ganz Anderes, Anne.“, versuchte Susanne sie irgendwie in Schutz zu nehmen. Anne zuckte mit den Schultern. „Klar ist es das. Immerhin hatte ich mir all die Zeit nur vorgestellt, Jack die Seele aus dem Leib zu prügeln. Jemand anderes hat da eher Taten für sich sprechen lassen.“ „Anne!“ Natürlich trafen ihre Worte Janine hart. Schließlich nahm sie sich stark zu Herzen, was sie die jüngste Zeit gesagt und getan hatte. Sehr stark. „Aber ihr habt euch doch vorhin ausgesprochen, oder?“, versuchte Susanne das Positive hervorzuheben und Janine die Gewissensbisse auszureden. „Und er hat dir ja auch verziehen. Ihr könnt ganz von vorne anfangen, als wäre nichts gewesen.“ Ninie nickte schwach, nach wie vor verunsichert. Und Annes spöttisches Lächeln machte die Situation nicht gerade besser. „Als könnte man nach sowas mit einem Schlag neu anfangen.“ Susanne warf ihr einen warnenden Blick zu, mit der unausgesprochenen Aufforderung etwas taktvoller zu sein. Doch Lissis spitzer Kommentar goss noch mehr Öl ins Feuer. „Da redet jemand aus eigener Erfahrung, nicht wahr?“ „Halt die Fresse.“ „Was ist denn los mit euch?!“, fragte Susanne verzweifelt. Natürlich war ihr aufgefallen, dass Lissis und Annes Verhältnis seit einiger Zeit ziemlich unterkühlt war. Eine Gewissheit, die sie mehr belastete als gedacht. Aber warum?! Was war passiert, dass die beiden regelrecht einen kalten Krieg ausfochten? Doch bevor sie eine Antwort bekommen konnte, riss der Schrei einer Mädchenstimme aus dem Flur ihrer aller Aufmerksamkeit auf sich. „Warum muss ausgerechnet der dabei sein?!“ Kurz darauf tauchte Eagle in der Tür auf, deutlich genervt von dem Gezeter seiner kleinen Halbschwester. „Sakura, ich hab dir schon tausend Mal gesagt, dass es nicht anders geht. Das ist die letzte Möglichkeit, die wir haben, um uns absprechen zu können. Und da muss jeder dabei sein. Auch Jack. Egal, ob uns das gefällt oder nicht.“ „Ich will das nicht!!!“, kreischte Sakura unter Tränen, sodass sich Eagle die Ohren zuhielt. „Warum muss ausgerechnet der Mörder von Papa hierher kommen?! Hier, nach Hause, wo Papa mit uns gewohnt hat?! Das ist nicht fair!!!“ „Du musst ja nicht dabei sein.“, erwiderte Eagle gereizt. „Na und?! Er hat hier trotzdem nichts zu suchen! Er soll verschwinden! Sofort!!!“ Geräuschvoll atmete Anne aus. „Das hat uns gerade noch gefehlt.“ Carsten war es derweil noch weniger möglich seine kleine Halbschwester zu beruhigen. Schon alleine aus dem Grund, da offensichtlich er derjenige war, der gemeinsam mit Jack das Haus betreten hatte. Die Ursache für den Streit zwischen den Geschwistern, bei dem der Rest lediglich zuschauen konnte. „Das ist alles deine schuld!!!“, schrie Sakura plötzlich Carsten an. „Seit du wieder hier bist, passieren nur noch schlimme Dinge! Eagle ist gemein zu mir, Papa stirbt… Du hast unsere Familie kaputt gemacht!!!“ „Sakura!!!“ Eagles wütende Stimme klang wie ein Donnerschlag, bei dem nicht nur seine kleine Schwester zusammenzuckte. Schluchzend schaute Sakura zu ihm hinauf. Vom großen Bruder auch noch angeschrien zu werden hatte ihr wohl den Rest gegeben. „Es ist doch so!“ Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte weinend die Treppe hoch in ihr Zimmer. Eagle stieß einen indigonischen Fluch aus und schien zu überlegen, ob er ihr folgen oder sie lieber in Ruhe lassen sollte. Derweil ging Carsten an ihm vorbei und betrat den Raum, sichtbar am Versuchen den Schmerz zu unterdrücken, den Sakuras Worte hinterlassen hatten. „Hey…“ Jack tippte ihm auf die Schulter. Was er sagte und Carsten erwiderte, konnte Susanne jedoch nicht verstehen. Dafür waren ihre Deutschkenntnisse nicht ausreichend genug. Fragend schaute sie Janine an, die durch den Unterricht an der Coeur-Academy mehr Erfahrung mit dieser Fremdsprache hatte. Janine strich sich eine der blonden Strähnen hinters Ohr. „Er… er sagte, dass er auch gehen kann. Nicht damit wegen ihm der… ähm… der Haussegen schief hängt, oder so. Carsten meinte dann so etwas wie ‚Der Haussegen hing noch nie gerade‘.“ Bedrückt beobachtete Susanne, wie sich Carsten gegenüber von Ariane und Laura hinsetzte, welche wie der Rest Janines Übersetzung mitbekommen hatten. Während die beiden Mädchen betroffen versuchten ihn aufzuheitern, kommentierte Jack: „So viel zum Thema Deutsch ist eine so schwere Sprache, dass niemand sie lernen möchte.“ Hastig und komplett verschüchtert wich Janine seinem leicht spöttischen Blick aus. Offensichtlich waren es Worte, die ansonsten keiner hatte verstehen sollen. Derweil schaute sich Jack im Raum um. „Ist Herr Bôss nicht mehr da?“ Leicht belustigt schüttelte Jannik den Kopf. „Nein, er wollte noch ein paar Vorbereitungen für das Kommende treffen und meinte, dass wir schon alleine mit dir fertig werden. Irgendwie zumindest.“ „Was soll das denn heißen?“ Jacks deutlich empörter Ton gepaart mit dem beleidigten Blick heiterte die Stimmung zumindest ein bisschen auf. Und noch mehr, als er sichtlich erschrocken zusammenzuckte als Eagle plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. „Halt einfach die Klappe und pflanz deinen Arsch auf einen der Stühle.“, meinte der Häuptling nach wie vor verärgert. Jack biss die Zähne zusammen. Er hatte sich wohl ganz schön erschreckt. „Du forderst es echt heraus mit dem Kuss, oder?“ Eagle schnaubte und schubste ihn etwas in Richtung des großen Tisches. „Als würdest du das wirklich durchziehen.“ „Willst du’s herausfinden?“ Bei Jacks provokativem aber auch leicht schelmischem Grinsen war sich Susanne inzwischen nicht mehr sicher, ob er tatsächlich nur bluffte. Anstelle von Eagle antwortete Lissi: „Oh ja, bitte!“ Sie klang viel zu begeistert für den Geschmack der anderen und erntete entsprechend warnende Blicke, insbesondere von Eagle selbst. Jack lachte auf, als er das Grauen in Eagles Augen sah. „Hey, alles in Ordnung, Mettigelchen. Du bist eh nicht mein Typ, ich stehe mehr auf Blondinen.“ Belustigt stellte Susanne fest, wie Janines Wangen bei diesen Worten einen leichten rosa-Ton bekamen. Lissi fragte derweil verschwörerisch: „Blondine im Sinne von Ninie oder Blondine im Sinne von Benni?“ Als sie Benni als ‚Blondine‘ bezeichnete, konnte niemand mehr an sich halten und alle prusteten lauthals los. Selbst Carsten kamen nun vor Lachen die Tränen, die verletzenden Worte seiner Halbschwester rückten in weite Ferne. Amüsiert aber irgendwie auch nachdenklich verschränkte Jack die Arme vor der Brust. „So abwegig wär das gar nicht, er ist ziemlich süß. Aber ich werde wohl kaum Laura den Freund ausspannen wollen, die zwei passen einfach viel zu gut zusammen.“ Belustigt zwinkerte er Laura zu, die nicht wirklich wusste, ob sie nun lachen oder verlegen sein sollte, was einen ziemlich süßen und witzigen Gesichtsausdruck hervorrief. Eagle schien diese Aussage jedoch zu verwirren. „Wie jetzt, du bist schwul?“ „Ist bei dir alles so schwarz-weiß?“, konterte Jack und zuckte mit den Schultern. „Die Hauptsache ist doch, dass man den jeweils anderen liebt. Also warum sollte da das Geschlecht eine Rolle spielen?“ „… Das hast du schön gesagt…“, stellte Susanne fest und versuchte, das eigenartige Kribbeln herunter zu schlucken, als ihre Gedanken automatisch zu Anne abdrifteten. Er hatte recht, diese Gefühle, die sie hatte… Warum sollte sie das seltsam finden? Nichts war falsch daran! Während Susanne weiterhin versuchte, seine Worte zu verarbeiten und dabei nicht in Richtung Anne zu schauen, seufzte Lissi theatralisch verliebt. „Oh Jackie-Chan, du bist ein richtiger Romantiker, kann das sein?!“ „Ich find das zwar eher pragmatisch, aber nenn es wie du willst. Wäre doch blöd, die eine Hälfte von vorneherein auszuschließen, wenn sich genau dort der oder die Richtige befindet.“ Eagles Blick nach zu urteilen teilte er diese ‚pragmatische‘ Sichtweise jedoch ganz und gar nicht. Belustigt tätschelte Jack ihm die Wange. „Alles gut, Schnucki, ich werde dich schon nicht küssen. Bin ja nicht lebensmüde.“ Er hielt einen Moment inne. „Shit, okay. Sollte ich doch mal wieder Selbstmordgedanken haben, haltet mich von Eagle fern. So ein Abgang wäre zu verlockend.“ Nun konnte sich der Großteil vor Lachen gar nicht mehr auf dem Stuhl halten. Susanne wusste, dass diese Aussage eigentlich Besorgnis hervorrufen sollte. Aber sie kannten Jack inzwischen gut genug, um seinen Galgenhumor zu schätzen zu wissen. Und wie wertvoll es war, nicht immer alles so ernst zu nehmen. Schon gar nicht sich selbst. Dennoch gab es auch eine Person, bei der diese Aussage ein unwohles Gefühl im Magen hinterließ. Während sich also Jack zwischen Lissi und Carsten setzte, Eagle nach wie vor leicht verstört am Tischende neben Öznur und Ninie Platz nahm und der Rest allmählich versuchte sich zu beruhigen, legte Susanne ihre Hand auf Janines, die sie unter dem Tisch zu einer zitternden Faust geballt hatte. Gefühle, die sie vor jedem zu verbergen versuchte, vollkommen gleich ob dies beabsichtigt war oder nicht. Nur Susanne wusste, was in ihr vor sich ging.   Irritiert schaute Susanne zu Janine, die nervös an einer Haarsträhne zwirbelte und Jacks schlafendes Gesicht betrachtete. Als Susanne Jacks Verletzungen mit ihrer Heil-Energie übernommen hatte, hatte Ninie darauf bestanden jene Wunde auf sich zu nehmen, mit der sie ihm auf der Lichtung solch unermessliche Schmerzen bereitet hatte. Und selbst Susannes logische Argumentation was die Regenerationsfähigkeiten betraf, hatte ihre Meinung nicht ändern können. Janines Blick war schwer zu deuten und doch meinte Susanne zu sehen, wie neben Mitleid und Gewissensbissen auch Zuneigung in diesen himmelblauen Augen lag. Es erinnerte Susanne daran, wie Carsten immer Ariane anschaute, während diese es noch nicht einmal mitbekam. „… Magst du ihn?“, fragte Susanne vorsichtig. „I-ich- es…“, stammelte sie, unsicher wie sie ihre Gefühle in Worte fassen sollte. Susanne wusste immer noch nicht, was sie denken sollte. Bis auf vorhin war Janines Verhalten das absolute Gegenteil gewesen. Konnten sich unter dem ganzen Hass tatsächlich romantische Gefühle verbergen? Vorsichtig legte sie eine Hand auf Janines unverwundete Schulter, die leicht zitterte, wie Susanne nun feststellte. Besorgt fiel ihr auf, wie sehr sie eigentlich gegen die Tränen ankämpfen musste. Schließlich meinte Janine: „Sag mal, Susi… Du kennst doch sicher diesen Spruch. Man merkt erst, wie wichtig jemand ist, wenn er- wenn er…“ Ihre letzten Worte waren nur noch ein schwaches, zittriges Flüstern. „… nicht mehr da ist…“ Sofort schloss Susanne sie in die Arme, als Janine leise zu schluchzen begann. Auch, wenn sie es niemals würde in Worte fassen können, verstand Susanne was sie meinte und worauf sie hinaus wollte. Durch die Dämonenform war ihnen eine unbeschreibliche Menge an Energie vergönnt. Doch ob sie diese in ihrem vollen Ausmaß nutzen konnten, war eine ganz andere Frage. Denn neben der Menge an Energie gab es eine weitere entscheidende Variable: Die Widerstandsfähigkeit des eigenen Körpers. Nur antike Begabte konnten Dämonenverbundene werden, da nur sie die nötige Kraft hatten, um diese gebündelte Menge an Energie von den Dämonen aufzunehmen. Doch auch sie hatten ihre Grenzen. Würde zu viel Energie auf einmal freigesetzt werden, würde ihr Körper dem nicht mehr standhalten. Und genau das war ihre Befürchtung gewesen, als Jack vorhin das FESJ zum Einsturz gebracht hatte. Das Areal war viel zu groß. Die erforderliche Energie viel zu viel. Vermutlich hatte keiner damit gerechnet, dass er dies überleben könnte. Jeder hatte gedacht, dass er sich in diesem Moment vor ihren Augen umbringen würde. Auch Susanne hatte diese Sorge gehabt. Genau. Diese Sorge. Aber Janine… Janine hatte in dem Moment Angst gehabt. Unsagbare Angst. Die Angst, Jack für immer verloren zu haben. Erst in diesem Moment hatte sie es realisiert. Hatte erkannt, wie wichtig er ihr in Wahrheit war. Genau dann, als alles bereits verloren schien.   Susanne verstärkte ihren Griff um Janines Faust. Wahrscheinlich wusste Jack noch nicht einmal, was sein eigentlich lustiger Kommentar in ihr ausgelöst hatte. Dass er dadurch wieder diese Angst geweckt hatte. Sie überlegte, ob sie es ihm irgendwie würde mitteilen können, ohne Janine und ihre Gefühle direkt vor allen zu offenbaren. Doch der Moment verstrich zu schnell und als die Gruppengespräche losgingen, war die Chance bereits vertan. „Du weißt, dass er das nicht ernst gemeint hat.“, meinte sie, so leise und beiläufig wie möglich, um Janine irgendwie zu beruhigen und nicht die Aufmerksamkeit vom Rest auf sich zu ziehen. Ninie brachte lediglich ein Nicken zustande, brauchte jedoch einen Moment, um ihre Gefühle zu sortieren. Susanne versuchte sich derweil so normal wie möglich mit Anne, Öznur und Eagle zu unterhalten, während Lissi Jack in ein Gespräch verwickelte. Janines Seitenblick nach zu urteilen fiel wohl auch ihr auf, dass die beiden überraschend schnell ein sehr vertrautes Verhältnis entwickelt hatten. Was sie unter den gegebenen Umständen natürlich umso mehr verunsicherte. Als Jenny mit weiteren Bediensteten das Essen brachte und sich alle Aufmerksamkeit darauf lenkte, meinte Laura leicht verstört: „Das fühlt sich ja an wie das letzte Abendmahl.“ Verstohlen kicherten einige von ihnen, als Jannik auch noch sein Glas hob. „Was sagt man da? Das ist mein Blut, das ich für euch hingegeben habe.“ Nun musste auch Laura loslachen. „Fast, das Blut wird für alle vergossen zur Vergebung der Sünden, Jesus.“ Jannik grinste amüsiert. „Da merkt man, dass du häufiger in die Kirche gezerrt wurdest als ich.“ „Ich hoffe aber, dein Blut besteht nicht aus Orangensaft.“, witzelte Ariane. „Womit wir beim eigentlichen Thema wären.“, warf Florian ein und hemmte die ausgelassene Stimmung etwas. Aber nur etwas, ehe Eagle noch meinte: „Bei Orangensaft? Bier wär mir lieber.“ Das brachte den Rest direkt wieder zum Lachen, während Florian missbilligend den Kopf schüttelte. „Wir müssen unsere Strategie durchsprechen, bevor es nachher noch zu einem bösen Erwachen kommt.“ Mit einem mulmigen Gefühl gaben sich nun auch die anderen dem Ernst der Lage geschlagen und wurden ruhig. Der Elb wandte sich an Carsten zu seiner linken. „Wir sollten den Ablauf vom Ende bis zum Anfang durchsprechen. Du hast den Bann entwickelt. Also worauf müssen wir achten?“ Es war mehr als eindeutig, wie Carsten mit der plötzlichen Ladung an Aufmerksamkeit zu kämpfen hatte. Dennoch erklärte er so gefasst wie möglich: „Na ja, also… Abgesehen davon, dass wir Benni irgendwie von Mars befreien müssen, brauchen wir viel Platz für das Ritual, um uns trotz der Größe des Purpurnen Phönix‘ noch irgendwie positionieren zu können. Eufelia, Coeur und Leonhard hatten damals eine weite Ebene, aber wenn er wirklich nach wie vor im Unterweltschloss ist, müssten wir ihn irgendwie nach außen locken.“ „Oder in die tiefste Schlucht…“, sinnierte Konrad und wandte sich an Jack. „Du hattest doch mal erwähnt, dass sich direkt unter Mars‘ Gemächern eine gewaltige Schlucht befindet. Denkst du, sie wäre groß genug für das Ritual?“ Nachdenklich nickte Jack. „Ich erinnere mich auch noch an ein Muster mit einigen riesigen Kreisen im Boden.“ „Das wäre perfekt!“, rief Carsten plötzlich. „Da Mars in die tiefste Schlucht verbannt worden ist, könnten das noch Überreste von dem damaligen Ritual sein. Weißt du, wie viele Kreise es sind?“ Sein Enthusiasmus schien Jack leicht aus der Bahn zu werfen. „Ähm nein, ich war viel zu sehr damit beschäftigt nicht zu sterben, sodass ich leider nicht dazu kam Striche zu zählen.“ „Versuche dich zu erinnern! Gerade in Kombination mit der riesigen Tür von der du erzählt hast, wären das die perfekten Orientierungspunkte.“ Seufzend schüttelte Jack den Kopf. „Es könnten vier gewesen sein. Alle Angaben ohne Gewähr.“ „Vier wären ideal.“, stellte Konrad fest. „Stimmt.“, gab Carsten ihm recht und drehte sich um. Mit seiner Magie erschuf er vier lila leuchtende Kreise, sodass jeder sie sehen konnte. Nach und nach erschienen insgesamt 15 in verschiedenen Farben strahlende Punkte. Es war unschwer zu erkennen, dass es sich dabei um ihre Aufstellung für das Ritual handelte. „Ihr müsst euch eure Position gut merken. Wenn nicht jeder das gesamte Ritual über auf seinem Platz steht, wird es fehlschlagen.“, erklärte Carsten. Eagle schnaubte. „Toll. Öznur erinnert sich doch noch nicht einmal daran, wo sie ihre Brille hingelegt hat.“ „Ey!“, empörte sich Öznur. „Ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, ob ich mir das bei der ganzen Aufregung werde merken können…“, meinte Laura verschüchtert. „Dabei hast du doch sogar herausgefunden, wo du und Ariane stehen werdet.“, merkte Konrad belustigt an. „Und so schwer zu merken ist eure Position auch nun wieder nicht.“ Lauras Wangen färbten sich leicht rötlich. „J-ja, aber in dem Moment…“ „Wir sollten mit Magie oder Energie nachhelfen und die Positionen markieren, wenn die Kreise ohnehin schon da sind. So wird zumindest das nicht dem Zufall überlassen.“, schlug Florian vor. Konrad nickte. „Carsten oder ich können uns darum kümmern, wir haben die Aufstellung wohl am besten im Kopf. Die Tür ist vermutlich nach Norden ausgerichtet?“ Jack zuckte mit den Schultern. „Was fragst du mich? Ich bin doch kein wandelnder Kompass.“ Florian seufzte. „Denkt ihr, ihr könnt das spontan ausfindig machen?“ Sowohl Carsten als auch Konrad nickten daraufhin. „Gut. Dann stellt sich trotzdem die Frage, wie wir Mars dorthin locken können.“ Überraschender weise war es Janine, die sich daraufhin zu Wort meldete, wenn auch wie immer schüchtern und verunsichert. „Könnten wir ihn nicht dorthin teleportieren, solange Benni noch sein Dämonenbesitzer ist?“ „… Und ihn danach aus Bennis Körper jagen, sobald wir in der tiefsten Schlucht angekommen sind. Das könnte klappen.“, vervollständigte Konrad ihre Gedanken. „Aber wir sind viel zu viele, um alle gleichzeitig teleportieren zu können.“, warf Eagle ein und wandte sich mit einem warnenden Blick an Carsten. „Und bevor du überhaupt auf die Idee kommst das vorzuschlagen: Deinen verfluchten Trick von heute Vormittag kannst du dir in den A-“ „Hey, es sind Kinder anwesend.“, unterbrach Öznur ihn und stieß ihm in die Rippen. „Aber pro Teleport brauchen wir mindestens eine Person, die sich den Ort vorstellen kann. Und bis auf Jack und Benni war noch keiner in der tiefsten Schlucht, oder?“, vergewisserte sich Susanne. Der Rest schüttelte den Kopf, bis Kito sich zögernd aufrichtete. „Euer Körper mag sich dort nie aufgefunden haben. Aber ich kann euren Geist hinführen, wenn ihr bestattet.“ „… Gestattet.“, korrigierte Eagle sie. „Und befunden oder aufgehalten, aber nicht aufgefunden.“ Jack beschäftigte sich mit einer für ihn weitaus bedeutsameren Thematik. „Nicht noch ein Schlaflied. Bitte.“ Der Rest lachte auf, nur Kito schaute ihn mit ihrem mysteriösen Lächeln an. „Du hast dich dort auf… gehalten, oder? Kannst du ihn in deinen Geist rufen? Wie für eine Teleport.“ Jack nickte und schloss die Augen, um sich die Schlucht vorzustellen. Kurz darauf verschwand das Esszimmer und ihnen war, als würden sie wie in einem Film die Szenerie beobachten können.   „Herzlichen Glückwunsch, Sie haben Ihr Ziel erreicht.“, meinte eine inzwischen vertraute Stimme tonlos. „Der kälteste, stinkendste Ort in der gesamten Unterwelt.“ Die Finsternis erhellte sich mit dem warmen, rötlichen Flackern mehrerer Flammen und Susanne wurde das Herz schwer, als sie die beiden jungen Männer erkannte, die am Fuße der riesigen Treppe standen. Der Raum, der sich vor ihnen auftat, war in der Tat gigantisch. Nach oben hin verlor sich das Feuer im Nichts und das Licht der Flammen tanzte an steinernen Wänden, die weniger gebaut und mehr Natur-geschaffen schienen. Im Boden des runden Turms waren Furchen vier gigantischer Kreise, die nach Innen hin immer kleiner wurden und trotzdem noch riesig waren. Sie schienen irgendein Muster zu ergeben, was bei der Größe aber mit bloßem Auge nicht erkennbar war. Jack ging die letzten Stufen der Treppe hinunter und folgte einem Weg des Musters, über die Kreise hinweg auf die Mitte zu. Auf der anderen Seite des Raumes ragte eine überdimensional große Steintür in die Höhe, mit wirren Symbolen verziert. Sie wirkte so massiv und schwer, dass niemand in der Lage schien sie öffnen zu können. Noch während sie beobachteten, wie sich Jack und Benni im Raum umschauten, ließ eine tiefe, samtene Stimme Susanne erschaudern. „Eine Familienzusammenführung, wie ich sehe. Wie schön!“ Eine kochende Hitze breitete sich schlagartig in ihrem Körper aus, Schwindel übernahm ihre Wahrnehmung. Susanne war, als befände sie sich in einem Fiebertraum. Ein purpurnes Lodern benebelte ihre Sicht. Das gellende Kreischen eines Phönix‘ hallte durch den gesamten Turm, laut und dröhnend. Susanne versuchte sich die Ohren zuzuhalten, doch erfolglos. Ein brennender Schmerz vereinnahmte ihre Sinne. Sie wollte schreien und doch kam kein Ton über ihre Lippen. Nichts von all dem drang nach außen. Alles wurde von der Zerstörung eingefangen und verschlungen. Alles.   Schwer atmend öffnete Susanne ihre Augen. Sie brauchte einen Moment, bis sie realisierte, dass sie sich allesamt nach wie vor im Speisesaal des Häuptlingsanwesens befanden. „Alles okay?“, fragte Anne ihr gegenüber, war jedoch selbst leichenblass. Irgendwie brachte Susanne ein Nicken zustande, als Laura mit zitternder Stimme fragte: „Was war das?“ Seufzend fuhr sich Jack über die Stirn, die leicht verschwitzt schien. „Sorry, sich nur an den Ort zu erinnern war schwerer als gedacht.“ Allmählich realisierte Susanne, was dieser plötzliche Umschwung zu bedeuten hatte. Welche Erinnerungen in dem Moment die Kontrolle übernommen hatten… „Nicht immer kann unser Verstand beherrschen, was wir in unserem Herzen tragen.“, meinte Kito, was wohl irgendwie ein Aufmunterungsversuch sein sollte. Doch den betrübten Blicken der anderen nach zu urteilen, war er nicht ganz geglückt. Schon gar nicht bei Laura, die sich gegen Ariane lehnte und zu versuchen schien, das Schluchzen zu unterdrücken. Jack stöhnte auf und lehnte sich im Stuhl zurück. „Lass gut sein, Mini-Hulk. Solange das mit dem Teleport nun bei jedem klappt…“ Kito nickte, Eagle legte jedoch irritiert die Stirn in Falten. „Mini-Hulk? Nicht dein Ernst. Du kannst sie doch nicht nur wegen ihrer Hautfarbe mit Hulk vergleichen.“ „Wieso denn nicht? Hulk ist doch cool.“, fragte Jack verwirrt. Eagle schnaubte. „Ein Marvel-Fan also. War ja klar.“ Jack lachte auf. „Aaah, jetzt versteh ich, wo dein Problem liegt. Dieser DC gegen Marvel Krieg ist doch nicht ernsthaft immer noch am Laufen.“ Leicht perplex beobachtete der Rest diese eigenartige Situation, die eigentlich überhaupt nichts mit ihrer aktuellen Lage zu tun hatte und entsprechend fehl am Platz wirkte. Doch Jack ließ sich gar nicht davon beirren, dass es ursprünglich seine Erinnerungen waren, die für die bedrückte Stimmung gesorgt hatten, als er mit sehr tiefer, rauer Stimme meinte: „Seit seiner Kindheit ist der junge Häuptling ein Fan von mir. Sein großer Traum ist es, eines Tages ein Kämpfer für die Gerechtigkeit zu werden, verborgen im Schatten der Nacht, so wie ich einer bin. Ich bin Batman.“ „Jetzt reicht‘s aber!“, empörte sich Eagle. Bei seiner deutlich verlegenen Reaktion konnte Susanne nicht an sich halten und musste loslachen, genauso wie die anderen. Jack hatte wohl tatsächlich ins Schwarze getroffen, was Eagles Kindheitshelden betraf. „Den typischen Batman-Witz sollte ich mir jetzt wohl besser verkneifen, oder?“, stellte Jack fest, woraufhin Eagle plötzlich aufsprang, sodass das Geschirr klapperte. „Ich sagte, jetzt reicht’s!!!“ Erschrocken zuckte Susanne zusammen. Sie wusste nicht, was dieser ‚typische Batman-Witz‘ war. Aber es war nicht zu verkennen, dass Jack damit einen Nerv getroffen hatte. Sanft legte Öznur eine Hand auf Eagles Arm. „Liebling, beruhige dich wieder.“ „Erst wenn ich dem Arsch den Hals umgedreht habe!“ Dennoch setzte sich Eagle widerwillig wieder hin. Jack beachtete ihn schon längst nicht mehr und hatte stattdessen Kito zu sich rüber gewunken. „Komm, ich stelle dir Hulk mal vor.“ Neugierig beugte sich das Dryaden-Mädchen über das Smartphone-Display, auf dem sich kurz darauf eine Zusammenstellung von Szenen mit Hulk abspielten. Susanne hatte keinen dieser Filme gesehen und war entsprechend schockiert, wie Jack das süße Mädchen mit einer muskulösen, grünen Kreatur vergleichen konnte, welche einen Großteil Zeit nur am Brüllen war und Menschen, Autos oder andere Dinge in der Gegend herumschleuderte. Kitos Augen begannen zu leuchten. „Das ist Hulk?!“ „Jepp, das ist Hulk.“ Begeistert schaute das Dryaden-Mädchen zu Jack hoch. „Hulk ist cool!!!“ Ihr strahlender Blick sprach Bände, sodass es niemandem möglich war, das Lachen zu unterdrücken. „Der Vergleich kam nicht nur wegen der ähnlichen Hautfarbe, oder?“, fragte Jannik amüsiert. Jack grinste. „Nicht nur, das stimmt. Hauptsächlich dachte ich mir, wenn sie unseren geliebten Mettigel schon so sehr mag, dann garantiert auch Hulk.“ Das Lachen wurde nur noch stärker, besonders, da Eagle förmlich vor Ärger zu kochen begann. „Ich. Bring. Ihn. Um.“ Doch der Rest war viel zu eingenommen von Kitos süßen Schwärmereien von Hulk, um ihm groß Beachtung schenken zu können. Häufig wirkte das Dryaden-Mädchen durch ihre ruhige Art sehr erwachsen. Aber so, wie sie nun begann mit Johannes herumzualbern und ‚Hulk‘ zu spielen, war mehr als deutlich, dass sie nach wie vor ein Kind war. Ein Kind, was wohl nun ein großes Idol für sich entdeckt hatte. „Wenn du Marvel-Fan bist war dein Kindheitsheld vermutlich Spiderman, oder Jackie-Chan?“ Belustigt stieß Lissi Jack in die Seite und zwinkerte ihm zu. Irgendetwas daran schien wohl sehr witzig, denn plötzlich lachte Jack los und antwortete: „War er tatsächlich.“ Eigenartigerweise fanden ausgerechnet Carsten und Anne diese Aussage genauso amüsant und schienen zu versuchen, sich das Schmunzeln zu verkneifen. Verstimmt schüttelte Florian den Kopf, woraufhin nun auch Konrad lachen musste. „Tja Flo, mit so Leuten musst du in deiner Armee wohl nicht fertig werden.“ „So Leute werden bei mir in hohem Bogen rausgeworfen.“, erwiderte Florian leicht genervt. „Was fehlt denn jetzt noch?“, fragte Eagle und schien dankbar, endlich wieder das Thema wechseln zu können. Der Elb wies die beiden Kinder mit unangenehm strenger Stimme dazu an sich wieder hinzusetzen und meinte schließlich: „Einfacher wäre zu beantworten, welche Punkte wir bereits abgehakt haben. Und das ist kein einziger.“ Laura legte den Kopf schief, klang aber etwas verunsichert als sie meinte: „Wieso denn? Wir haben die Aufstellung und wissen, wo wir gegen Mars kämpfen müssen und wie wir dorthin kommen.“ Florian seufzte. „Wissen wir auch, wie das Ritual abläuft? Haben wir eine Taktik für den Kampf? Und wie gelangen wir zu Mars selbst, damit wir uns mit ihm in die tiefste Schlucht teleportieren können? Wer führt alles den Teleport aus?“ Eingeschüchtert wandte Laura den Blick ab, als sich Florians vorwurfsvolle Stimme direkt gegen sie richtete. Doch eine Antwort brachte sie nicht über die leicht zitternden Lippen. Laura schien diese Zurechtweisung wohl persönlicher zu nehmen als sie sollte. Und das, obwohl sie noch nicht einmal etwas für dieses Abschweifen konnte. Zum Glück beantwortete Carsten direkt die erste Frage und rettete Laura dadurch aus dieser unangenehmen Situation. „Im Idealfall schaffen wir es, Mars in der Mitte des Raumes einzukesseln und dass jeder bereits auf seinem Platz steht, sobald wir Benni befreit haben, damit das Ritual direkt beginnen kann. Wenn Jannik für die Einleitung den Blutzoll gezahlt hat, sollte für Mars ohnehin kein Entkommen mehr sein.“ „Es wird schwer, ihn während des Kampfes an einem einzigen Ort festzuhalten.“, sinnierte Susanne. „Besonders, wenn er weiß, was wir damit bezwecken.“ „Das stimmt, und wenn er seine Zerstörungs-Energie gegen uns einsetzt, haben wir ohnehin ein Problem. Da werden dann auch Magiebarrieren nicht viel bringen.“, gab Anne ihr recht. „Könnten Laura und Ariane seine Energie nicht aufhalten?“, schlug Jack plötzlich vor. „Was?!“ Der größte Unglauben und Schock kam von den beiden Mädchen selbst, deren Gesichter mit einem Schlag jegliche Farbe verloren hatten. „W-wie meinst du das?“, fragte Laura kleinlaut. „Gerade bei euch hatte Mars besonders große Angst, dass ihr euer gesamtes Potenzial entfalten könntet. Deswegen hatte er zum Beispiel auch bei dir versucht zu verhindern, dass du deine Dämonenform-Prüfung machst.“, erklärte Jack. „Finsternis-Energie kann Angriffe absorbieren, Licht-Energie kann sie reflektieren. Selbst die Zerstörungs-Energie dürfte davon nicht ausgenommen sein.“ „Das ist geisteskrank.“, warf Eagle ein. „Aber es ergibt Sinn.“, widersprach Lissi ihm. „Bennlèy hatte doch selbst mal gesagt, dass Lauch von uns allen ihre Energie am besten kontrollieren kann. Wenn sie die Angriffe der Zerstörungs-Energie rechtzeitig abfängt, dürfte uns also nichts passieren.“ „Und heute Vormittag hat sie das sogar unter Beweis gestellt.“, bestätigte Konrad. „A-aber…“, stammelte Laura, absolut verunsichert und von allen am wenigsten von sich und ihren Fähigkeiten überzeugt. Aufmunternd lächelte Jack sie an. „Hey, du bist die letzte, die daran zweifeln sollte. Selbst dein Schatz hat schon von deinem Beschützerinstinkt geschwärmt.“ Dieser Kommentar sorgte nicht nur dafür, dass Lauras Wangen einen tiefen Rotton annahmen, sondern auch, dass der Rest ein kollektives, gerührtes „Oooooh“ von sich gab. Mitfühlend lächelte Konrad Laura an. „Du und Ariane, ihr packt das schon. Ihr steht auch im innersten der Kreise, das heißt, ihr seid perfekt dafür geeignet Mars dort drinnen einzukesseln, bis Carsten es schafft Benni zu befreien und das Ritual beginnen kann.“ Dennoch halfen diese ganzen Argumente nicht, den beiden Mädchen Mut und Zuversicht zu geben. Besorgt fiel Susanne auf, dass Ariane sogar gegen die Tränen ankämpfen musste. Sie schien diesen Erwartungen noch weniger standhalten zu können als Laura und das sollte bekanntlich etwas heißen. Doch Florian nahm keine Rücksicht auf die Angst und Unsicherheit beider Mädchen. „Dann sollten wir darauf achten, dass Laura und Ariane möglichst aus den Kämpfen herausgehalten werden, die davor auftreten könnten. Ansonsten laufen sie in Gefahr nicht mehr genug Energie für das Ritual zu haben.“ Der Rest nickte, bis auf die beiden eigentlich Betroffenen. Doch auch Carsten wirkte noch eingeschüchterter als zuvor. Vermutlich, da er daran erinnert wurde, von wem der finale Schlag um Benni zu retten abhing. Nämlich von ihm. Bedrückt stellte Susanne fest, wie sehr diese Sachen eigentlich über ihre Köpfe hinweg beschlossen wurden. Und wie wenig Rücksicht der Rest dabei auf die Gefühle der drei nahm. Susanne hatte für sich selbst entschieden, Benni nach dem Ritual zu heilen. Und sie wusste, dass sie es konnte, solange sie einen von Mars‘ Untergebenen hatte, den sie an Bennis Stelle würde opfern können. Aber Carsten, Ariane und Laura? Niemand dieser drei ging davon aus, diese Fähigkeiten tatsächlich zu besitzen, die die anderen ihnen zusprachen. Niemand sagte von sich aus: ‚Es ist okay, ich kann das machen.‘ Man ließ ihnen einfach keine Wahl. Florian diskutierte derweil mit Konrad, Eagle und Anne, dass es sinnvoll wäre kleinere Gruppen für den Notfall einzuteilen. „Das ist absoluter Schwachsinn!“, erzürnte sich Anne. „Wir sollen auf eigene Faust einen Präventivschlag durchführen, um einen Krieg zu verhindern und den Dämon bannen?! Am Ende hat keiner von uns mehr die Energie für Carstens Zauber!“ „Banani hat recht, Mars wird alle Unterweltler auf uns loslassen, sobald er merkt, dass wir da sind.“ Lissi wandte sich fragend an Jack. „Gibt es irgendwelche Geheimgänge ins Schloss?“ „Wenn du durch den Abwasserkanal krabbeln willst, bitte. Ich nehme aber lieber den Vordereingang.“, erwiderte Jack sarkastisch. „Es kann doch nicht sein, dass es nur diesen einen einzigen Weg gibt. Oder willst du uns schon wieder Informationen verschweigen?“, meinte Eagle kritisch und nicht zuletzt auch vorwurfsvoll. „Ich habe euch keine Informationen verschwiegen.“, erwiderte Jack ruhig. „Natürlich gibt es alternative Wege, aber denkt ihr ernsthaft Mars ist so blöd und lässt die unbewacht? Über die oberen Etagen ins Schloss kommen zu wollen ist hirnrissig, da rennen wir erstrecht in alle Unterweltler hinein, weil dort so Sachen wie Kantine, Trainingsräume und Unterkünfte für sie sind.“ „… Eine Kantine in der Unterwelt stelle ich mir sehr komisch vor.“, kommentierte Laura schaudernd. „Ach, es geht. Aber einen Blick auf die Speisekarte willst du trotzdem nicht werfen.“, meinte Jack belustigt. „Du hast das Zeug aber nicht gegessen, oder?!“, fragte Öznur angeekelt, mit einem Hauch Hysterie in der Stimme. „Igitt, niemals. Ich hab nicht grundlos kochen gelernt.“ „Und was ist mit Geheimgängen die nicht an Menschenfressern vorbeiführen?“, kehrte Anne zum eigentlichen Thema zurück. „Wenn man es genau nimmt, gibt es sowas nicht.“, antwortete Jack. „Ich bin diesen Dingern zum Glück nie begegnet, aber Mars hat Viecher unter seiner Kontrolle, die man lieber nicht zum Feind hätte.“ „Noooch gruseligere Halloween-Monster?!“, fragte Johannes mit großen ungläubigen Augen. Jack antwortete daraufhin mit tiefer Schauer-Stimme: „Die schlimmsten von allen. Sie kriechen nur in der Finsternis aus ihren Löchern, auf der Suche nach Frischfleisch. Es heißt, wenn diese Kreaturen dir auch nur eine Verletzung zufügen, einen einzigen Kratzer, dann war es das für dich und du wirst eines elenden Todes sterben. Wenn sie nicht schon angefangen haben dich bei lebendigem Leib aufzufressen.“ Mit offenen Mündern schauten Kito und Johannes ihn an. Susanne konnte das Schaudern ebenso wenig unterdrücken und auch andere bekamen es mit der Angst zu tun. Seufzend verschränkte Konrad die Arme vor der Brust. „Das klingt genauso wie die Erzählungen über jene Monster, die nachts im zerstörten Gebiet ihr Unwesen treiben. Überraschend wäre es also tatsächlich nicht, wenn Mars auch solche Wesen unter seinem Kommando hat.“ „Sti-stimmt das?“, fragte Janine zitternd. „Ehrlich gesagt will ich’s nicht herausfinden.“, antwortete Jack wahrheitsgetreu. Das plötzliche Klingeln ließ einige von ihnen zusammenzucken, die ohnehin schon angespannt und eingeschüchtert waren. Während Jenny zur Tür eilte, meinte Öznur: „Okay, also ich bin auch für den Vordereingang.“ Viele nickten daraufhin, nur Laura erwiderte frierend: „Ich will überhaupt nicht da rein gehen…“ Aufheiternd klopfte Konrad ihr über Ariane hinweg auf die Schulter. „Diese Option haben wir leider nicht. Aber zumindest bekommen wir etwas Unterstützung.“ Lächelnd schaute er in Richtung Flur, der Rest folgte seinem Blick. Überrascht stellte Susanne fest, dass drei Personen den Raum betraten, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie hatte jemanden wie Ituha oder Herr und Frau Bôss erwartet, oder vielleicht, dass Saya ihre Schlüssel vergessen hatte. Aber diese drei… An der Spitze stand eine junge Frau, die etwa in ihrem Alter sein müsste. Sie war, man konnte es nicht anders sagen, eine atemberaubende Schönheit. Rotes Haar fiel in wallenden Locken über ihre Schultern, ihre Figur war so kurvig wie die von Öznur, wirkte jedoch auch genauso athletisch wie Anne und selbst der schwarze eher pragmatisch und weniger figurbetont geschneiderte Kampfanzug gab dem keinen Dämpfer. Ihr Gesicht war sehr hübsch und doch wirkte ihr Blick ernst, was Susanne instinktiv an Benni erinnerte. Genauso strahlte sie eine gewisse Form der Ruhe und Stärke aus. Doch am auffälligsten waren ihre Augen, deren strahlendes Giftgrün die Macht zu haben schien, jeden Blick gefangen zu halten. So konnte Susanne nur mit Mühe wegschauen, um ihre beiden Begleiter genauer zu betrachten. Zu ihrer Rechten stand eine weitere junge Frau, die etwa Mitte zwanzig sein könnte aber durch ihre jugendliche Ausstrahlung deutlich jünger wirkte. Dies lag nicht zuletzt daran, dass ihr kurzer Bob blau gefärbt war und sie die Gruppe mit einem frechen aber gleichzeitig süßen Lächeln begrüßte. Doch der stechende Blick ihrer himmelblauen Augen machte deutlich, dass sie eigentlich eine eiskalte Kämpferin war. Sie hatte eher einen zierlichen Körper, wie Laura und Janine, wirkte aber um einiges größer, da sie alles andere als schüchtern einen Arm auf die Schulter der Rothaarigen gelegt hatte. Irgendwie war Susanne sofort klar, dass die beiden jungen Frauen ein Paar sein mussten. Der einzige männliche Begleiter schien im selben Alter wie das blauhaarige Mädchen. Er könnte ein Indigoner sein, zumindest ließ die dunkle, ledrige Haut vermuten, dass er sehr viel in sengender Hitze unterwegs war und die schulterlangen Haare waren pechschwarz. Ebenso der Vollbart, was ihn insgesamt eher rau und unfreundlich erscheinen ließ. Und doch wirkte der Blick in seinen bernsteinbraunen Augen eigentlich ganz nett, um nicht zu sagen liebevoll. Nachdem Susanne und die anderen für eine Zeit lang die Neuankömmlinge lediglich sprachlos angegafft hatten, ergriff die Rothaarige das Wort. „Ich bin Ria.“, stellte sie sich vor. „Und das sind Tatjana und Amarth. Es freut uns, euch kennenzulernen.“ Florian lächelte die drei an. „Schön, dass ihr es euch einrichten konntet zu kommen.“ Kapitel 102: Erklären --------------------- Erklären       „… Sensei?“ Ungläubig erwiderte Benni den ruhigen Blick dieser grauen Augen. Das war Eufelia, ohne Zweifel. Auch, wenn sie deutlich jünger aussah als er seine Lehrmeisterin in Erinnerung hatte. „Was geht hier vor sich?“, fragte er und war überzeugt, dass die Antwort ‚du träumst‘ lauten würde. Die junge Eufelia lächelte auf Bennis Verwirrung lediglich, doch ihre Gesichtszüge hatten eine melancholische Ausstrahlung. Auf seine Frage antwortete sie nicht. Aber dafür erklang eine männliche Stimme. „Es ist also wie befürchtet, der Bann wurde gebrochen.“ Ein junger Mann trat vor, schätzungsweise Mitte zwanzig. Auch sein Körper war schwach durchscheinend, leuchtete jedoch nicht. Ob er auch älter war als er aussah? Benni betrachtete den Mann mit den weinroten längeren Haaren, der in fernöstlicher, edler Tracht gekleidet war. Er erinnerte ihn ein bisschen an seinen Vater, bis auf die Augen, die nicht nachtschwarz, sondern blutrot waren. Es dämmerte ihm. „Leonhard?“ Der Angesprochene lächelte sanft. „Freut mich, Urenkel.“ „Da fehlen aber ein paar ‚Ur’s.“, kommentierte eine weitere Person, eine junge Frau mit schokoladenbraunen Augen, deren honigblonde Haare leicht gelockt waren. Neben ihr stand ein junger Mann mit einem ähnlichen Aussehen, nur die Haare waren etwas dunkler. Lucia und Luciano waren also auch hier. „Kann mir bitte jemand erklären, was das hier zu bedeuten hat?“, verlangte Benni, dem die Anzahl bekannter Gesichter verstorbener Personen allmählich zu viel wurde. „Wer weiß? Vielleicht hast du den Verstand verloren?“, vermutete Lucia mit einem leicht sarkastischen Lächeln. „So langsam glaube ich das auch.“, erwiderte er trocken. Leonhard tauschte mit der jungen Version seiner Lehrmeisterin einen belustigten Blick aus. Schön, dass sich ansonsten wohl jeder Anwesende an Bennis Verwirrung erfreuen konnte. „Es ist der Bann.“, ließ sich sein Ahn schließlich zu einer Antwort herab. „Oder eher eine Nebenwirkung, die wir bei der Erstellung des Zaubers damals nicht hatten vorhersehen können.“ Eufelia fuhr fort: „Als wir den Herrscher der Zerstörung hier wegsperrten, wollten wir auch jeglicher Zerstörung Einhalt gebieten, die sich über Rutoké ausbreitete. Der Purpurne Phönix hatte seine Spuren hinterlassen, diese versuchten wir zu beseitigen. Doch dabei berücksichtigten wir nicht, dass die Zerstörungs-Energie ebenso ein Teil von ihm ist.“ Allmählich verstand Benni, worauf seine Meisterin hinauswollte. „Also wurden folglich auch diejenigen, die durch Zerstörungs-Energie zu Tode gekommen sind, in die tiefste Schlucht der Unterwelt eingesperrt.“ Eufelia und Leohnard gaben ein bestätigendes Nicken. Bennis Blick fiel auf Lauras Geschwister. „Aber bei euch war es doch die Finsternis-Energie des Schwarzen Löwen.“ Die beiden nickten und es war nicht übersehbar, wie sich ihre Blicke trübten. Vermutlich unbewusst griff Lucia an den Saum ihres grünen Kimonos, direkt über dem Herzen. Der Gedankennebel lichtete sich. Mit einem Schlag wurde Benni bewusst, warum die beiden hier waren. Und auch, warum sie sich einst so verhalten hatten. Warum der Schwarze Löwe keine andere Möglichkeit gesehen hatte, als ihnen den Tod zu bringen. Jacks Erklärung klang immer noch deutlich in seinem Gedächtnis nach. ‚Das Fluchmal ist Mars‘ Zeichen. In ihm liegt eine gewisse Macht inne, mit der er seinen Opfern seinen Willen aufdrängen kann. Meistens handelt es sich um einen Befehl und wenn dieser erfolgreich ausgeführt wurde verschwindet das Mal auch wieder. Aber es gibt auch Befehle die für einen langen Zeitraum, wenn nicht gar für eine Ewigkeit aktiv sein können.‘ „Er hatte euch all die Zeit kontrolliert. Sogar über euren Tod hinaus.“ Lucia biss sich auf die Unterlippe, eine Geste, die er so häufig schon bei Laura gesehen hatte. Doch ansonsten erwiderten die Geschwister nichts. Schließlich setzte Eufelia zu einer Antwort an. „Der Purpurne Phönix wollte allem Anschein nach über Yami eine ähnliche Kontrolle erlangen wie über Terra, oder gar wie über Mur. Als er feststellen musste, dass Lukas doch nicht der Erbe des Titels wird, hat er seine Macht auf die Kinder von Leon Lenz ausgeweitet.“ „‘Doch nicht‘?“ „Stimmt, du, Laura und Lucia, ihr hattet davon überhaupt nichts mitbekommen.“, stellte Luciano fest und überwand sich verbissen zu einer Erklärung: „Es ist bereits einige Jahre her, ich selbst war erst neun und Lukas entsprechend nur ein Jahr älter, als mein Onkel und dessen Ehefrau bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. So heißt es zumindest offiziell.“ „Lukas‘ Eltern wurden also ermordet.“, folgerte Benni. Das erklärte auch, warum Leon Lenz schon immer solch eine Angst vor möglichen Anschlägen auf sich und seine Familie hatte. Wenn der Bruder bereits so zu Tode gekommen war… Luciano nickte. „Lukas hatte den Unfall damals überlebt und war der festen Überzeugung, dass mehr dahintersteckte als ein betrunkener Autofahrer. Als er älter war, hat er somit auf eigene Faust Nachforschungen angestellt.“ „Das klingt so, als wäre das nicht Mars‘ Werk.“, fiel Benni auf. „Nein, es war…“ Bedrückt atmete Luciano aus. „Der Drahtzieher hinter alldem war unser eigener Großvater gewesen. Lukas hatte mich in seine Recherchen eingeweiht. Sein Vater war der Erstgeborene und hätte somit der Erbe sein müssen, doch O-Jii-Sama schien dies unter allen Umständen verhindern zu wollen.“ Benni hob eine Augenbraue. Er hatte Lauras Großvater nie sympathisch gefunden, doch einen so intriganten Umsturz hätte er ihm nicht zugetraut. „Warum konnte er nicht einfach direkt euren Vater als Erben benennen?“ „Das hätte eine Änderung des Gesetzes erfordert. Und für O-Jii-Sama war das Ansehen der Familie schon immer die oberste Priorität. Zugeben zu müssen, dass er seinem Sohn dies nicht zutrauen würde, war ein Ding der Unmöglichkeit, wenn er sein Gesicht wahren wollte.“ „Und deswegen hat er ihn direkt umbringen lassen?“ Lucia seufzte. „Das Ansehen der Familie halt. Ein tragischer Unfall hat da eine deutlich bessere Wirkung als den Sohn als inkompetent zu bezeichnen.“ „Und dabei stimmt das noch nicht einmal. Aber unser Onkel war so furchtbar schüchtern und hat sich so gut wie gar nichts zugetraut…“ Traurig lächelte Luciano. „Also genauso wie die jetzige Erbin.“ Allmählich wurde Benni mehr und mehr klar, was Leon Lenz‘ Beweggründe für alle seine Taten waren. „Deswegen hat euer Vater auch bis vor wenigen Monaten noch versucht, Laura mit Eagle zu verheiraten. Laura möchte diese Position noch nicht einmal und als Ehefrau des Häuptlings von Indigo hätte sie sich aus der Erbfolge heraus retten können. Und noch dazu wäre es dann möglich, die Erbschaft demjenigen zu überlassen, der sie ursprünglich hätte antreten sollen.“ Lucia lachte auf. „Ja, das klingt absolut nach O-Too-Sama.“ Auch Luciano schien belustigt. „Nur die Rechnung hat er wohl oder übel ohne Lauras Gefühle für eine gewisse andere Person gemacht.“ Ein flaues Ziehen breitete sich in Bennis Magengegend aus, als er die Blicke der Geschwister bemerkte. Lucia seufzte. „Hör mal… Inzwischen ist es vielleicht zu spät aber… Es tut uns leid.“ „Uns beiden.“, betonte ihr großer Bruder. „Wir wissen, wie viel du für unsere Schwester getan hast. Und wir möchten auch, dass du weißt, wie sehr wir das schätzen und wie dankbar wir dir dafür sind.“ Das Ziehen wurde stärker und verursachte ein unangenehmes Gefühl, was Benni nicht zu deuten vermochte. Ebenso wenig wusste er etwas auf die Worte der beiden zu antworten. Lauras Zwillingsschwester schien leicht belustigt, als sie die Arme vor der Brust verschränkte. „Du hast hiermit die offizielle Erlaubnis, dich nicht von unserer Schwester fernzuhalten.“ „Wobei du trotzdem wissen solltest, dass es mir nach wie vor nicht passt, dass du was mit ihr anfängst.“ Luciano lachte auf. „Aber das würde ich zu jedem sagen, ist wohl die großer-Bruder-Krankheit.“ „Wie großzügig.“, kommentierte Benni lediglich, musste aber feststellen, dass dieses eigenartige Gefühl anscheinend in der Tatsache begründet war, dass diese Situation ihn mehr überforderte als gedacht. Die Geschwister schienen das zu merken und erwiderten darauf lediglich ein belustigtes Kichern. Grinsend ging Leonhard einen Schritt nach vorne. „Da das nun endlich geklärt ist, sollten wir uns vielleicht mal Gedanken darüber machen, wie wir hier rauskommen und dafür sorgen, dass mein Urenkel wieder zu seiner Zukünftigen kommt.“ Luciano warf ihm einen warnenden Blick zu. „Großer-Bruder-Krankheit, schon vergessen?“ „Großvater-Krankheit. Die wollen ihre Enkel erst recht in guten Händen wissen.“, erwiderte Leonhard lachend. „Mit genaugenommen fünf ‚Ur’s, du kannst dir also vorstellen, wie stark ausgeprägt das Bedürfnis ist.“ Während ausgerechnet Eufelia-Sensei dieser Kommentar amüsierte, wusste Benni nicht, was er davon halten sollte. Doch gerade hatten sie ohnehin andere Sorgen. Er schaute in Richtung Decke, wo sich entfernt Mars‘ Gemächer befanden. „Also hat jemand Ideen?“ Kapitel 103: Aufbruch --------------------- Aufbruch       Verwirrt schaute Laura zwischen Florian und dem rothaarigen Mädchen namens Ria hin und her, die sich ganz eindeutig kannten. „Und ähm… wer seid ihr?“, wagte sie schließlich die neuen Bekannten zu fragen. Ria verdrehte die Augen. „Habe ich das nicht gerade gesagt? Oder hast du geschlafen?“ Beschämt senkte Laura den Blick, direkt eingeschüchtert. Belustigt schüttelte Konrad den Kopf. „Die drei sind gekommen, um uns etwas unter die Arme zu greifen.“ „Inwiefern?“ Kritisch hob Anne eine Augenbraue. Dieses Mal meldete sich das blauhaarige Mädchen Tatjana zu Wort. „Na im Kampf gegen den Dämon. Außer ihr wollt das Unterweltschloss auf eigene Faust stürmen, da werden wir euch natürlich nicht aufhalten.“ „Ihr seid also unsere Unterstützung?“, fragte Susanne. Sie schien genauso wenig wie die anderen zu glauben, dass drei Leute mehr etwas an der Situation würden ändern können. Die Verwirrung vieler amüsierte Florian und die Gäste wohl ein bisschen. Doch zumindest war der Elb so freundlich, ihnen die Umstände genauer zu erklären: „Die drei gehören zu einer Art Bürgerwehr des zerstörten Gebiets. Diese Kreaturen, von denen Jack erzählt hat. Solche zu bekämpfen ist für sie in gewisser Hinsicht Alltag.“ Jetzt wurde Laura klar, warum die drei alleine tatsächlich eine Unterstützung waren. Das war ja schon fast eine Drei-Mann-Armee! „Ihr kämpft täglich gegen solche Grusel-Monster?!“, fragte Johannes ungläubig und beeindruckt zugleich. „Eher nächtlich.“, korrigierte Tatjana ihn amüsiert und zwinkerte dem Jungen zu, der ein staunendes „Woooooow!“ von sich gab. Laura beobachtete, wie sich die drei zum Rest an den Tisch setzten, neben Johannes und Kito. Wobei Ria fast schon automatisch wie eine Anführerin Eagle gegenüber am anderen Tischende platznahm. Laura stockte. Moment einmal, diese grünen Augen… Und eine Bürgerwehr im zerstörten Gebiet? Ria wie… wie Maria?! Während die beiden Kinder fragten, ob es tatsächlich stimmte, dass man bei einem Kratzer dieser Monster dem Tode geweiht war, kam Laura nicht drum herum immer mehr Ähnlichkeiten zu erkennen. Doch sie war bereits viel zu eingeschüchtert von diesem Mädchen, um ihre Gedanken aussprechen zu können. Jannik zum Glück eher weniger. „Entschuldige, sag mal Ria… Ist dein vollständiger Name…“ „Ria.“, meinte sie direkt. „Vollständiger geht nicht.“ Florian verstand, worauf Jannik ursprünglich hinauswollte. „Viele im zerstörten Gebiet sind Personen, die ins Exil flüchten mussten. Entsprechend legen die meisten von ihnen ihre alte Identität ab.“ Tatjana nickte und strich sich eine blaue Haarsträhne hinters Ohr. „Bitte versucht gar nicht erst, uns nach unserer Vergangenheit zu fragen. Wir alle haben unsere Gründe, warum wir sie hinter uns gelassen haben. Und auch, warum wir heute gekommen sind um euch zu helfen.“ „Das verstehen wir… Entschuldigt, dass…“ Tatjana winkte bei Susannes versuchter Entschuldigung ab. „Schon gut, ihr konntet es ja nicht wissen.“ Betreten senkte Laura den Kopf. Sie war wirklich neugierig, aber sie verstand auch, warum die drei gar nicht erst darauf angesprochen werden wollten. Und trotzdem… War sie es wirklich? War Ria tatsächlich die ehemalige Besitzerin des Roten Fuchses? Herr und Frau Bôss‘ Tochter?! Und was waren die Gründe von Tatjana und Amarth? Warum wollten sie sie im Kampf gegen Mars unterstützen? Nur, um die Welt vor dem sicheren Untergang zu bewahren? Florian erklärte ihnen derweil die Strategie, woraufhin Ria lächelte. „Wir gehen also einfach durch den Vordereingang rein? Mit dem Kopf durch die Wand? Gefällt mir.“ Der Elb seufzte. „War ja klar, dass du dem direkt zustimmen wirst.“ Er wandte sich an den Rest. „In Ordnung, fassen wir noch einmal alles zusammen. Jack wird uns mithilfe des Portalrings in die Unterwelt bringen. Wir betreten das Schloss durch die Vordertür, wobei wir dabei so wenig wie möglich Aufmerksamkeit auf uns ziehen sollten. Auf dem Weg zu Mars versuchen wir insbesondere größere Kämpfe zu vermeiden und lassen Ria, Tatjana und Amarth den Vortritt. Sollte jemand von uns doch in einen Kampf verwickelt werden, müssen wir darauf achten, dass wir keine Energie einsetzen. Ansonsten würde Mars unser Vorhaben sehr schnell durchschaut haben. Wenn wir ihn gefunden haben, was hoffentlich mithilfe von Jacks Tastsinnfähigkeiten recht schnell geschieht, nutzen wir aus, dass er sich nach wie vor in einem menschlichen Körper befindet und teleportieren uns mit ihm in die tiefste Schlucht der Unterwelt. Haltet euch dabei hauptsächlich an Susanne, Janine und Öznur. Konrad, Kito und ich passen auf, dass niemand zurückbleibt. Für den Notfall stehen auch Ria und Amarth zur Verfügung, wobei sie und Tatjana den Fokus eher auf die Rückendeckung legen sollten.“ „Und was ist mit Carsten?“, fragte Laura verwirrt. „Er ist von den Magiern am besten dazu geeignet, Mars selbst zu teleportieren.“, antwortete Florian. Bedrückt bemerkte Laura, wie Carsten daraufhin den Blick senkte. Doch etwas dagegen sagen konnte er nicht. „Das ist doch lebensmüde!“, rief plötzlich Ariane aus. „Selbst wenn Carsten ein bisschen Kampfsport-Erfahrung hat, ist das immer noch Bennis Körper! Und es ist doch eindeutig, dass Mars seine Kampffähigkeiten übernommen hat!“ „Da hast du recht, aber diese Gefahr besteht für jeden Magier.“, erinnerte Konrad sie an die Schwächen der Magier im Nahkampf. „Florian oder ich stehen nicht besser da und Kito ist als Dryade zwar Magierin und Kampfkünstlerin aber…“ „Ich kann das.“, sagte Kito plötzlich. „Was?“ „Ihr sprecht von dem Jungen mit dem roten Auge, liege ich wahr?“ „Richtig.“, antwortete Eagle, wobei es auch ein Korrektur-Versuch sein könnte. „Ich kann ihn in die Schlucht der Erinnerung teleportieren.“ Überrascht betrachtete Laura das Dryaden-Mädchen. Kito wirkte so süß, klein und hilflos, sodass sie ihr diese Aktion automatisch ausreden wollte. Und doch brachte der entschlossene, zuversichtliche Blick in diesen heterochromen Augen sie ins Wanken. Ebenso den Rest. Florian warf einen prüfenden Blick auf Carsten, dessen Ausdruck das genaue Gegenteil von Kitos war. Schließlich seufzte er. „Dass Carsten derjenige ist, der in Aktion tritt, könnte Mars vermutlich sogar erwarten. Kito hat da wohl eher das Überraschungsmoment auf ihrer Seite… In Ordnung. Wenn du meinst, du schaffst das… Aber wir haben nur den einen Versuch.“ „Wir haben doch immer nur einen einzigen Versuch.“, meinte Laura betrübt. Zumindest Kito schien sich über ihre Aufgabe zu freuen, so begeistert wie sie rief: „Mini-Hulk Angriff!“ Das erheiterte die Stimmung immerhin ein bisschen. Florian ließ jedoch nicht zu, dass sie wieder abschweifen konnten. „Nun gut. Sobald wir es in der tiefsten Schlucht geschafft haben, dass sich Mars etwa in der Mitte des Raumes befindet, sorgen Laura und Ariane dafür, dass er aus dem inneren Ring nicht mehr herauskommt. Am sinnvollsten wäre es, wenn Carsten den finalen Part des Kampfes alleine ausführt, sodass der Rest bereits auf seinem Platz steht und das Ritual direkt begonnen werden kann, wenn Carsten Benni befreit hat. Konrad wird sich also darum kümmern, dass ihr euren Standpunkt findet. Habt ihr das verstanden?“ Automatisch nickte Laura, kam aber nicht drum herum, sich wie ein dummes, kleines Kind zu fühlen, dem man jeden Schritt bis ins kleinste Detail erklären musste. Sie wusste, dass Florian das nicht so meinte. Immerhin durften sie sich ja wirklich keine Fehler erlauben. Aber so, wie mal wieder alles über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde… Sie kam sich tatsächlich so vor, als würde der Elb ihnen nichts von alldem zutrauen. Entscheidungen treffen am aller wenigsten. „Oh, und noch etwas.“ Florian schaute in die Runde, ein warnender Unterton lag in seiner Stimme, als er sagte: „Eigentlich ist es klar aber ich möchte es trotzdem noch einmal erwähnen. Das wichtigste von allem. Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir auf unerwartete Gegner treffen oder uns gar in ungeplanten Situationen wiederfinden. Bleibt zusammen. Egal was passiert.“ Bedrückt kaute Laura auf der Unterlippe herum. Sie verstand, worauf er hinauswollte. Einzeln hätte Mars ein sehr leichtes Spiel mit ihnen und würde aus egal welchem Grund auch nur eine einzige Person für das Ritual fehlen, wäre alles vorbei. Sie hätten direkt verloren. Aber… Irgendwie glaubte Laura nicht, dass es so einfach war diese Anweisung zu befolgen. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen versuchte sie sich den Pessimismus aus dem Kopf zu schütteln. Doch ohne Erfolg. Plötzlich richtete sich Eagle auf. „Auf jetzt, wir sollten nicht noch mehr Zeit verlieren.“ Dem stimmten auch Konrad und einige andere zu. Seufzend betrachtete sie den Essensrest auf ihrem Teller. Viel runterbekommen hatte Laura nicht, dafür war die Nervosität zu groß. Auch der Rest hatte nicht so zugeschlagen wie sonst und Carstens Teller schien noch nicht einmal benutzt worden zu sein. Laura schüttelte erneut den Kopf und versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass er die gesamten letzten Wochen extrem wenig gegessen hatte. Oder eher Monate. Genaugenommen, seit Benni sie hatte verlassen müssen… Sie atmete tief durch und richtete den Gürtel ihres Rockes, an dem der Fächer hing. Jene Dämonenwaffe, die sie von Benni zu ihrem Geburtstag bekommen hatte. Ein Tag, der inzwischen so lange her wirkte, fast schon so als wäre er ein Traum. Ein Traum, dessen Erinnerungen allmählich verblassten. Mit einem unwohlen Gefühl im Magen nahm sie Bennis Samuraischwert, welches sie seit dem Kampf gegen Mars mit sich rum trug und folgte dem Rest in den Flur. „Hier, die wirst du vermutlich brauchen.“ Überrascht beobachtete Laura, wie Konrad Jack zurückhielt, um ihm die Armschiene mit den Metallklauen zu reichen. „Und ich dachte schon, ich seh‘ sie nie wieder.“, kommentierte Jack lediglich und schnallte sie sich an den rechten Arm. Offensichtlich hatte der Rest nach wie vor so wenig Vertrauen in ihn, dass man dem Vampir Jacks Hauptwaffe zur Aufbewahrung gegeben hatte. Fast so, als würde ihn noch nicht jeder als Teil ihrer Gruppe anerkennen. Irgendwie war das traurig… Im Flur erregte eine Stimme aus dem Wohnzimmer ihre Aufmerksamkeit. Neugierig linste Laura um die Ecke. Öznur tat es ihr gleich, als Eagle an den Mädchen vorbeiging und den Raum betrat. Sakura saß auf der Couch, ein Kissen an sich gedrückt und schien die Nachrichten oder so etwas ähnliches zu schauen. „Seit wann interessierst du dich denn für sowas?“, fragte Eagle seine kleine Halbschwester. Irgendwie war Laura direkt zu Tränen gerührt, als sie beobachtete wie Eagle Sakura über die Sofalehne von hinten umarmte und ihr einen Kuss auf den Scheitel gab. Sie hatte ihn so gut wie nie mit seiner Schwester interagieren gesehen und diese liebevolle Zuneigung erinnerte sie automatisch an Luciano, was ihr das Herz schwer werden ließ. „Die bezeichnen euch dort als Monster…“, meinte Sakura bedrückt, woraufhin Eagle seinen Griff um ihre Schultern verstärkte. „Wer?“ „Die Menschen.“ In dem Moment wechselte das Bild und Liveaufnahmen eines Protestmarsches wurden gezeigt. Laura schauderte, als sie die Plakate sah, auf denen Sachen wie ‚Tötet die Dämonen‘ oder ‚Zu viele mussten sterben“ standen, während der Nachrichtensprecher berichtete: „Die Polizei versucht weiterhin die Demonstration aufzulösen, doch bislang ohne Erfolg. Aufgrund jüngster Ausschreitungen wurde nun der Einsatz von Wasserwerfern angekündigt. Wir schalten zu unserer Korrespondentin in Kara, wo nach wie vor auch noch Verunglückte des Tsunami geborgen werden. Frau Freijedo, gibt es inzwischen eine Erklärung für dieses gewaltvolle Vorgehen der Polizei?“ Eine schwarzhaarige Dame tauchte auf, die Karas Oberbürgermeister zu interviewen begann. Anne verschränkte die Arme vor der Brust. „Schöne Scheiße. In nicht mal mehr einer Stunde geht die Sonne unter und die Deppen demonstrieren gegen uns. Wenn Mars das nicht für sich ausnutzt fress‘ ich ‘nen Besen.“ „In Kara selbst dürfte zumindest kein Spalt sein.“, meinte Jack. „Aber wenn die Armee der Allianz es nicht schafft die Unterweltler aufzuhalten, gibt’s wohl ein Festmahl.“ Allem Anschein nach gab es auch in den anderen Regionen Proteste, in denen Mars für ‚Naturkatastrophen‘ gesorgt hatte. Je mehr dieser Schilder Laura sah, je mehr hasserfüllte Rufe sie hörte, umso übler wurde ihr. Im Prinzip riefen diese Leute dazu auf, dass man sie umbringen solle, ihre ganze Gruppe. Einfach nur, weil sie die vermeintlichen Schuldigen für diese Unglücke waren… „Es ist alles ihre Schuld! Den Dämonen ist es doch egal, was mit uns passiert! Für die sind wir Menschen nichts weiter als Spielfiguren, die man wegwerfen kann, wenn sie zu langweilig werden!“ Laura blieb der Atem weg. Die junge Frau die nun in Monde interviewt wurde… „Was sagen Sie zu der Meinung, dass man den Dämonenbesitzern nicht schaden sollte, da sie trotz allem noch Menschen sind?“, fragte die Reporterin und hielt ihr das Mikrofon wieder entgegen. „Was soll ich davon halten?!“, erzürnte sie sich. „Die Dämonen haben meinen Vater umgebracht! Sie haben nichts getan, um all das zu verhindern! Wegen ihnen mussten schon so viele Menschen sterben! Warum haben wir sonst die Todesstrafe, wenn nicht gerade für solche Fälle?!“ Laura stand wie angewurzelt da, nur noch ein schwaches Zittern war möglich. Sie konnte nichts gegen die Tränen machen, die ihr in die Augen stiegen. War das wirklich… warum… „Ich weiß, wer diese Leute sind. Ich kenne sie!“, rief Rebecca aufgebracht. Sie blickte in die Kamera, genauso wie bei Laura rannen auch über ihre Wangen Tränen. Doch es waren Tränen aus Hass. „Ich hatte ihnen vertraut! Ich hatte geglaubt, dass sie es schaffen, dass sie wirklich nicht so sind, wie die Dämonenjäger es uns weismachen wollten. Ich wollte es glauben! Aber es ist falsch. Das sind-“ Mit einem Schlag brach der Ton ab, gleichzeitig wurde der Bildschirm schwarz. Eagle legte die Fernbedienung zur Seite und wandte sich an den Rest, der sich inzwischen komplett im Wohnzimmer versammelt hatte. Als Carsten Laura vorsichtig in den Arm nahm, konnte sie ihre Tränen überhaupt nicht mehr zurückhalten. Warum Rebecca?! Wieso dachte sie auf einmal so schlecht über sie und die anderen?! Sie kannte sie doch! Sie wusste doch, was in Wahrheit vor sich ging!!! „Warum?!?“, schrie Laura schluchzend und vergrub ihr Gesicht in Carstens Brust, der seinen Griff noch mehr verstärkte. Ria seufzte. „So viele Jahre und doch scheint sich nichts verändert zu haben.“ Laura bekam gar nicht mit, wie Tatjana einen Arm um die Taille ihrer Freundin legte. Zu sehr hallten Rebeccas Worte in ihrem Herzen nach. Auch, wenn sie auf dem Papier eigentlich nur Lauras Kindermädchen gewesen ist, für Laura selbst war sie viel mehr. Gerade nach Lucias und Lucianos Tod hatte sie in ihr eine große Schwester gesehen. Jemand, mit dem man über alles reden konnte. Die alle ihre Sorgen und Geheimnisse kannte. War sie das immer noch? War das immer noch die Rebecca von damals?! „Wir müssen uns beeilen, bevor noch mehr Unschuldige ihr Leben lassen.“, meinte Susanne drängend, doch zu viele von ihnen zögerten. „Warum sollten wir für jemanden kämpfen, der uns am liebsten tot sehen will?“, fragte Öznur bedrückt. „Wir dürfen uns davon nicht aufhalten lassen!“, rief Janine, ungewohnt selbstsicher für ihre sonst so schüchterne Art. „Mars will doch, dass wir genau das denken! Dass wir mehr und mehr ins Schwanken geraten, bis es schließlich zu spät ist!“ Lissi biss die Zähne zusammen. „Und leider gelingt ihm das ziemlich gut.“ „Also wenn wir jetzt nicht losgehen, war’s das mit dem Überraschungsangriff für heute.“, sagte Jack trocken und wandte sich vom Fernseher ab. Als er an Laura vorbeikam, die immer noch von Carsten im Arm gehalten wurde, klopfte er ihr auf die Schulter. „Vielleicht sollte euch das Schicksal von Damon und dem Rest dieser beschissenen Welt auch mal egal sein. Es gibt Wichtigeres, für das man kämpfen sollte.“ Ein plötzliches Klingeln ließ Laura aufblicken. Irritiert holte Jack sein Smartphone aus der Hosentasche, sein Blick zeigte absolute Verwirrung als er abhob und sich meldete mit: „What the fuck?“ „Wie weit seid ihr?“, konnte man vom anderen Ende der Leitung hören, als Jack den Anruf auf Lautsprecher stellte. Ungläubig blinzelte Laura noch mehr Tränen weg, als sie meinte die Stimme zu erkennen. „B-Benni?“, fragte sie schwach, fast schon flüsternd. „Wir haben nicht viel Zeit, also wie weit seid ihr mit dem Bann?“, wiederholte der Anrufer seine Frage. Das war Bennis Stimme, ohne Zweifel! Aber wieso? Wie war das möglich?! Carsten klang genauso fassungslos wie Laura. „… Der Bann? Der-“ „Geht dich nichts an.“, unterbrach Anne ihn plötzlich schroff. „Woher wissen wir, dass das nicht schon wieder ein Spiel von Mars ist?“ „Stimmt, das könnte nur ein Trick sein.“, bemerkte Eagle. „Konntest du Mars entkommen? Wie?“, fragte Ariane neugierig und fasziniert zugleich. Benni seufzte. „Das erkläre ich euch später. Mars‘ Armee scheint sich auf einen Angriff vorzubereiten, einen deutlich größeren als jenen auf die Coeur-Academy.“ „Woher willst du das wissen?“ Anne blieb weiterhin kritisch. Am anderen Ende der Leitung meinte Laura einige Leute kichern zu hören. Anscheinend waren auch andere Personen anwesend, die so wie sie das Gespräch mitverfolgten. Was die Verwirrung nicht gerade minderte. Jack seufzte. „Okay, kürzen wir die Sache ab. Woher wissen wir, dass du der echte Benni bist?“ „Du siehst die Nummer. Mars weiß nicht, dass ich ein Handy besitze.“ Laura betrachtete Jacks Smartphone verwirrt. „Du hast ein Handy?“ Das hatte noch nicht einmal sie gewusst. „Mars könnte es gefunden haben.“, erwiderte Jack. Zumindest ließ er sich nicht so leicht überzeugen. „Warum besitzt du überhaupt eins?“, hakte Konrad nach, der genauso irritiert klang wie Laura. „Damit Carsten mich aus dem FESJ direkt erreichen konnte.“, antwortete er. Alle fragenden Augen richteten sich auf Carsten, der neben Jack als einziger nicht überrascht schien, dass Benni sie mit einem Handy anrief. Tatsächlich formten sich seine Lippen zu einem schwachen Lächeln als er nickte. Laura biss sich auf die zitternde Unterlippe, um das Schluchzen zu unterdrücken. Ihr Herz fühlte sich schmerzhaft zusammengequetscht und gleichzeitig federleicht an. Es war also tatsächlich Benni?! Das war keine Einbildung? Kein Traum?! Er war es wirklich?! „Sorry, aber so herzerwärmend das ganze auch klingt, sowas hätte sich Mars auch zurechtraten können.“ Anne war wohl immer noch nicht überzeugt. „Warum kannst du ihm nicht einfach glauben?!“, fragte Laura. Das war Benni, ohne Zweifel! Dafür würde sie ihre Hand ins Feuer legen. Aber auch Florian schien dieser Beweis nicht genug. Er warf einen prüfenden Blick in die Runde als hoffte er, jemand könne Benni tatsächlich etwas fragen, was nur der echte Benni beantworten konnte. Doch Laura regte sich viel zu sehr darüber auf, dass sie ihm nach wie vor nicht glaubten, um sich darüber auch noch Gedanken machen zu können. Carsten schaute kurz zu Eagle, was ihn wohl auf eine Idee brachte. „Wer ist mein Kindheitsheld?“ „Hä?!“ Der Rest gaffte ihn einfach nur fassungslos an, was in Carsten vermutlich direkt das Bedürfnis auslöste, im Boden zu versinken. Aber tatsächlich musste sich Laura eingestehen, dass sie es nicht sicher würde beantworten können. Eagle hatte wohl auch nur Vermutungen. „Saya oder einer der anderen Ärzte aus dem Krankenhaus hätte ich gesagt. Dieser Hotah vielleicht.“ „Sailor Moon.“, schlug Anne spöttisch vor. „Luffy aus One Piece.“, antwortete Benni schließlich und klang so nebensächlich als wäre das doch jedem klar. „Könnt ihr nun meine Fragen beantworten?“ „Echt?!“, rief Laura überrascht aus. „Ich hätte wenn überhaupt Choppa vermutet, da er der Arzt ist!“ „Du magst One Piece?“, fragte Jack belustigt. „Ihr wolltet einen Beweis, da habt ihr ihn.“, meinte Carsten nur. Jack konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, doch schließlich kehrte er zum eigentlichen Thema zurück. „Hey Benni, wie sieht es an sich im Unterweltschloss aus? Ich wollte Papa-Oberbösewicht meine neuen Freunde vorstellen, aber die haben ein bisschen Angst vor den Unterweltlern und dem Kantinenfraß.“ Laura unterdrückte ein Kichern, als Jack auf seine Art mitteilte, dass sie eigentlich vorhatten das Schloss zu stürmen. Auch Benni wirkte leicht amüsiert. „Ob sich etwas gegen die Kantine machen lässt weiß ich nicht, aber ein paar Stimmen haben mir versichert, dass sie die Unterweltler auch nicht leiden können.“ … Wer ist das und was hat er mit Benni gemacht? Direkt zweifelte Laura wieder daran, ob das tatsächlich der ‚echte Benni‘ war. Sie wusste, dass er seine witzige, sarkastische Seite hatte. Aber das kam jetzt doch zu plötzlich. Und was für Stimmen?! Jack lachte auf. „Alles klar, dann treiben deine Stimmen zumindest auch mal jemand anderes in den Wahnsinn. Bis nachher.“ Da von Benni nichts mehr kam, legte Jack schließlich auf. Der Rest betrachtete ihn fassungslos. „Du hast dem gerade nicht ernsthaft unseren Plan verraten, oder?“, fragte Anne ungläubig. „Das war nicht Mars. Das war Benni, ganz sicher.“ Anne zeigte ihm den Vogel. „Du telefonierst mit jemandem, der mit Technik nichts anfangen kann und willst uns dann weismachen, dass das tatsächlich dieser jemand ist?!“ „Hey, auch Benni kann ein paar Knöpfchen drücken.“ Jack zwinkerte ihr zu und machte Anstalten das Haus zu verlassen. „Wir sollten uns beeilen, die Stimmen werden vermutlich schon bald für genug Ablenkung und Chaos sorgen.“ „Was sind das für Stimmen?“, fragte Laura neugierig, folgte ihm aber direkt. „Die waren der eigentliche Grund, weshalb wir am Ende in dieser Scheiße gelandet sind. Also haben sie jetzt gefälligst was wieder gut zu machen.“, erklärte er. „Was auch immer das für Leute sind, sie schienen hinter der riesigen Tür gewesen zu sein. Vermutlich hat Benni sie rausgeholt.“ „Dieses gewaltige Tor in der Schlucht?“, hakte Jannik nach. Jack nickte. Auch der Rest verließ das Haus, aus den Augenwinkeln bekam Laura mit, wie Eagle Sakura noch einmal zum Abschied fest an sich drückte. Sie biss sich auf die Unterlippe. Niemand konnte sagen, ob sie tatsächlich Erfolg haben würden. Und es gab keine Garantie, ob sie es auch wirklich alle überlebten… Auch die anderen schienen etwas Derartiges zu denken. Jeder, wirklich jeder hielt noch einmal inne, um in die Gruppe zu schauen. Sandte ein stilles Gebet aus, dass es nicht der letzte Sonnenuntergang war, den sie gemeinsam betrachten würden. Es wirkte fast schon unwirklich als der Edelstein aufleuchtete und Jack das Portal in die Unterwelt erschuf. Orange und schwarz loderte es vor der untergehenden Sonne wie eine Sonnenfinsternis. Oder mehr noch, wie der Weltuntergang. Ein paar Schritte, mehr brauchte es nicht, um dieses Portal zu passieren. Doch sie wussten, wenn sie einmal durchgehen würden, dann gäbe es keinen Weg zurück mehr. Dann hieß es ganz oder gar nicht. Automatisch wich Laura einen Schritt zurück und wünschte sich, ihren Eltern zumindest noch eine letzte Nachricht hinterlassen zu haben. Ihnen mitgeteilt zu haben, wie lieb sie sie eigentlich hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie in Zukunft noch so eine Gelegenheit bekommen würde. Während sie überlegte, ihnen zumindest eine SMS zu schicken, ging Jack bereits durch das Portal und wurde von der Dunkelheit verschluckt. Florian, Konrad und die drei Gäste folgten ihm, genauso wie Anne und Janine nach einem kurzen Zögern. Johannes und Kito betrachteten das wohl eher als Abenteuerausflug, so wie sie hineinrannten. Aber auch Lissi atmete nur einmal tief durch, ehe sie grinsend die Hand ihrer alles andere als entspannten Zwillingsschwester nahm und gemeinsam mit ihr das Portal durchschritt. Noch während Laura den beiden zögernd mit Jannik folgte, bekam sie mit, wie sich Öznur deutlich verängstigt an Eagle klammerte. Wie jedoch Carsten und Ariane automatisch die Hand des jeweils anderen ergriffen, um sich gegenseitig Mut zuzusprechen, blieb vor aller Augen verborgen.   Laura brauchte einen Moment, um sich daran zu gewöhnen, dass es nicht mehr die Sonne war, die ihnen Licht spendete. Jack seufzte derweil wehmütig und streckte sich. „Home, sweet home.“ „Du hast dort wirklich gewohnt?“, fragte Jannik, leicht von der Rolle. Auch Laura konnte sich so langsam umschauen und staunte nicht schlecht. Obwohl sie nirgendwo eine Lichtquelle entdecken konnte, war die Umgebung deutlich zu erkennen, die genaugenommen nur aus kargem Stein bestand. Spitze Felsen zierten die düstere Landschaft, deren Kanten messerscharf erschienen. Und doch wirkten sie nur wie kleine Stachel im Vergleich zu dem gewaltigen Schloss, was sich vor ihren Augen emporhob. Eine steinerne Brücke führte über eine Schlucht zu dem Gemäuer mit Türmen, was von der sonst so braun-grauen Landschaft mit rötlichen Farbtönen herausstach. Die Wände waren aus dunkelrotem Stein, die atemberaubenden Bogenfenster mit purpurnem Mosaik verziert. Laura musste sich eingestehen, dass Mars schon irgendwie Geschmack hatte. Die Bauten waren edel und elegant, vielleicht auch leicht protzig, aber zugleich genauso einschüchternd und bedrohlich. Nur die ganzen Phönix-artigen Verzierungen ließen ihn ziemlich selbstverliebt erscheinen. Doch zumindest konnte niemand bestreiten, dass es sich hier um das Unterweltschloss des Purpurnen Phönix handelte. Laura blinzelte. Jack hatte dort tatsächlich… gewohnt? „Warum nicht?“, erwiderte dieser und ging auf die Brücke zu, vor der ein Werwolf Wache schob. „Warte Jack, wir müssen mit Bedacht vorgehen.“, erinnerte Konrad ihn an ihre Mission. Doch Jack ließ sich nicht davon beirren. „Jetzt mach mal halblang. Ich wohne schon seit Jahren hier, warum sollte ich da plötzlich einbrechen müssen?“ Sprachlos beobachtete der Rest, wie er einfach so an dem Werwolf vorbeigehen wollte, welcher ihm jedoch wie erwartet den Weg versperrte. „Oh, hey Phil.“, grüßte Jack ihn und ging weiter, woraufhin ‚Phil‘ leicht skeptisch hinterherschaute. Jack wandte sich dem Rest zu, der ihn nur mit aufgeklapptem Kiefer anstarrte. „Kommt ihr jetzt?“ Sie schafften es nur schleppend, sich in Bewegung zu setzen. Laura kam diese ganze Situation viel zu seltsam vor, was das alles nur noch gruseliger machte. Und wie erwartet gab Phil ein bedrohliches Knurren von sich, als sie ihm zu nahe kamen. „Ihr habt hier nichts zu suchen.“ Einige wichen eingeschüchtert zurück, aber Jack klopfte dem Werwolf nach wie vor entspannt mit der linken Hand von hinten auf die Schulter. „Hey Phil, das sind Freunde von mir. Lass sie einfach durch.“ „Sie dürfen nicht hier sein.“ Mit einem tiefen Grollen betrachtete er die Menge. Doch viel unheimlicher war der kalte Blick in Jacks Augen und die tiefe, raue Stimme, als er bestimmt sagte: „Lass sie durch.“ Der Werwolf erwiderte nichts mehr darauf. Seufzend winkte Jack sie zu sich. „Los, kommt endlich.“ Zögernd folgten sie seiner Aufforderung. Als Laura an dem Werwolf vorbeikam, schaute sie vorsichtig zu ihm hoch. Sie bildete sich ein zu sehen wie seine Augen ihr folgten und obwohl er sich keinen Millimeter rührte, beschleunigte Laura ihren Schritt. Erst nach der ersten Hälfte der Brücke erlaubte sich ihr Herzschlag, wieder etwas ruhiger zu werden. „Bist du wahnsinnig? Er wird Alarm schlagen!“, zischte Anne Jack zu. „Wird er nicht.“ Erst als er die Metallklauen in seiner Armschiene verschwinden ließ erkannte Laura, was geschehen war. Verwirrt drehte sie sich um, doch sie konnte keine Spuren einer Verletzung erkennen. Auch der Rest schaute fassungslos zwischen Jack und dem von ihm ermordeten Werwolf hin und her. „Was- Wie-“, stammelte Susanne und hielt sich die Hand vor den Mund, als müsse sie einen Würgereiz unterdrücken. „Erd-Energie. Keine Sorge das war so wenig, dass Mars garantiert nichts gemerkt hat.“ Jack schien die entsetzten Blicke der anderen gar nicht wahrzunehmen. Laura wusste nicht, was ihr mehr Angst machte. Dass er im Prinzip vor ihren Augen jemanden umgebracht hatte oder wie normal und entspannt er direkt danach darüber redete. „U- und… wieso bleibt er einfach stehen?“, fragte sie, wagte es aber nicht sich noch einmal umzudrehen. „Nach dem Zwischenfall mit Carsten solltet ihr eigentlich wissen, wie das funktioniert.“, erwiderte er und öffnete lautlos das blutrote Eingangsportal. Zumindest war Laura durch Jacks Aktion so durcheinander, dass ihre Aufregung keine Chance hatte noch größer zu werden als sie ohnehin schon war, während sie alle gemeinsam in das gewaltige Schloss gingen. Staunend betrachtete Laura den langgezogenen Gang mit mehreren Abzweigungen. Ihr war, als würde sie ein Labyrinth betreten. Ein riesiges Steinlabyrinth, lediglich erhellt von flackernden Kerzen, die mit Halterungen an den Wänden befestigt waren. Trotz allem was vorgefallen war musste sich Laura eingestehen, dass sie durch Jack nun einen riesigen Vorteil hatten. Wenn es niemanden gäbe, der einst zu Mars‘ Gefolge gehört hätte… sie hätten sich hoffnungslos verlaufen. Unruhig schaute sich Laura um, während sie Jack in einen Gang nach dem nächsten folgten. Es war verdächtig still. Sie traute diesem Frieden nicht. Wie konnte es sein, dass sie bisher nur einer einzigen Wache über den Weg gelaufen waren? Wo waren die anderen Unterweltler? Oder liefen sie geradewegs in eine Falle? Andere schienen ähnlich zu denken. „Wo bringst du uns hin?“, fragte Eagle so leise wie nur möglich. „Keine Ahnung, was war nochmal der Plan? Hab nicht zugehört.“, erwiderte Jack spöttisch und ignorierte das Misstrauen in der Stimme des Häuptlings. Nach einigen Metern wies er die Gruppe plötzlich an stehen zu bleiben. Lauras Herz schlug ihr bis zum Hals. War irgendjemand in der Nähe? Oder irgendetwas?! Sie konnte nichts hören doch das war kein Grund, sich in Sicherheit zu wägen. Bei der nächstliegenden Abzweigung meinte sie Schatten zu erkennen. Schwarze Silhouetten, die mit dem Kerzenlicht tanzten. Oder war es nur eine Einbildung? Laura wusste es nicht. Sie rührte sich nicht, wartete zitternd auf irgendwelche Hinweise. Hoffte auf irgendwelche Anweisungen. Hauptsache nicht noch länger dieser Ungewissheit ausgesetzt sein. Sie konnte kaum atmen, so stickig wie die Luft mit einem Schlag wirkte. Und auch vom Rest ging eine Anspannung aus, die beinahe greifbar schien. Ariane rümpfte die Nase, als nahm sie mit ihrem verbesserten Geruchsinn etwas wahr, was dem Großteil von ihnen verborgen blieb. Laura wollte sie fragen, traute sich aber nicht. Sie wagte es nicht auch nur einen Laut von sich zu geben. Als Jack ihnen plötzlich mit einer Geste andeutete weiterzugehen, setzte sich Laura erst in Bewegung als sie Carstens Hand auf ihrem Rücken spürte. Verunsichert schaute sie zu ihm hoch, stolperte dabei über ihre eigenen Füße. Immerhin brachte diese tollpatschige Aktion Carsten zum Schmunzeln, was auch sie zumindest etwas beruhigen konnte. Nun traute sich keiner mehr, den Weg den Jack sie entlangführte infrage zu stellen. Oder zumindest seine Zweifel auszusprechen. Niemand wusste, wer oder was sie würde hören können… Wieder meinte Laura Schemen an der Wand zu erkennen. Erschrocken wich sie zurück, stolperte dabei in Anne. „Kannst du nicht aufpassen?!“, zischte diese ihr verärgert zu. Zitternd zeigte Laura auf die flackernde Dunkelheit einige Meter von ihnen entfernt und wisperte: „D-da- da ist was…“ Anne betrachtete die Stelle ausdruckslos, hob schließlich die Hand und führte eine Bewegung aus, die einem Winken glich. Ein Teil des Schattens reagierte, bewegte sich ebenfalls. Weiter hinten schien Konrad ein Kichern zu unterdrücken, als Anne Laura genervt nach vorne schob. Mit aufgeheizten Wangen stapfte Laura weiter. War ja klar, dass sie sich vor ihren eigenen Schatten fürchten würde. Wieso konnte sie nicht einmal nicht der tollpatschige Angsthase sein?! Plötzlich rannte sie in Janine rein, die abrupt stehen geblieben war. „Da war was…“ Also doch?! Verängstigt schaute sich Laura erneut um, ihr Herzschlag hatte sich kaum beruhigen können. Anne verdrehte die Augen. „Ja, das sind eure Nerven, die den Abgang machen. Und jetzt weiter.“ „Nein, wirklich…“ Da nun auch Konrad und Jack innehielten, wurde Laura noch mulmiger. Wenn ausgerechnet der Vampir und der mit einem Gefühl für die Umgebung etwas wahrzunehmen meinten… Aus den Augenwinkeln glaubte sie einen Schatten vorbeihuschen zu sehen. Lauras Atem wurde flacher. Auch der Rest begab sich in eine lauernde Haltung, als wieder eine schwarze Gestalt kurz in der Finsternis auftauchte. Wer war das? Was war das?! Erneut zischte etwas an ihnen vorbei, dieses Mal ganz dicht. Lauras Griff um das Schwert verspannte sich. So wie ihr Körper zitterte würde sie es niemals rechtzeitig genug ziehen können. Ihre Gedanken kreisten, ein Wirbelsturm der Furcht. Es war unmöglich, sich aus dieser Starre zu lösen, sich gegen diese lähmende Angst zu stellen. Am aller wenigsten als jemand rief: „Weg da!“ Im nächsten Moment tauchte eine schwarze Kugel vor ihren Augen auf. Kurz darauf blitzten die Sternchen, ein explosionsartiges Gefühl, als sie unerwartet gegen die Wand stieß. Benommen hielt sie sich den dröhnenden Kopf und bekam nur halb mit, wie plötzlich eine Flut an Zaubern an ihr vorbeirauschte. Der Schwindel wurde stärker, als jemand sie auf die Beine und aus der Schussbahn zerrte. Erst als sie mitbekam wie sie hinter Carsten gezogen wurde, realisierte Laura, dass diese Kampfkünstlerstärke zusammen mit der gefühlten Lichtgeschwindigkeit charakteristisch für Ariane war. Instinktiv hielt Carsten einen Arm vor die beiden Mädchen und versuchte in der Dunkelheit zu erkennen, was oder wer das war. Die Angriffe hatten mehrere Kerzen gelöscht und Lauras Kopf pochte noch zu stark, dass sie selbst im Hellen nur verschwommen sah. Öznur schien die Ungewissheit nicht länger auszuhalten. „Wer ist da?!“ „Wer weiß?“, kam eine unverhoffte Antwort. „Wen wünscht ihr euch denn?“ Irritiert blinzelte Laura. Obwohl sich ihre Sicht wieder schärfte, hatte sie wohl nach wie vor irgendwelche Einbildungen. Ein junger Mann trat ins Licht, platinblonde Haare die im Kerzenflackern leicht orange wirkten. Gekleidet war er in schwarzer Jeans und T-Shirt. Das Gesicht, die Figur und auch Gestik und Mimik ließen keine Zweifel. Aber irgendwas… Ihr Gegenüber lächelte sanft. „Vermutlich einen alten Freund?“ Mars?! Sofort begab sich der Rest in Angriffsposition. Ein weiteres Mal würde dieser Trick nicht funktionieren. Dieses Mal waren sie bereit. Der Großteil zumindest. Laura blinzelte erneut, doch es schien tatsächlich keine Einbildung zu sein. Warum war das rechte Auge nicht blutrot? Das linke nicht so schwarz wie die Nacht? Warum waren sie ausgerechnet- „Ein Metamorpher.“, warf Kito plötzlich in den Raum. Der Rest schaute sie nur perplex und nicht zuletzt komplett verwirrt an. „Ein Meta-was?“, fragte Eagle. Andere warfen einen Blick auf Jack, der jedoch mit einem Kopfschütteln mitteilte, dass auch er keine Ahnung hatte wovon Kito sprach. Das Wesen, welches weder Benni noch Mars war, unterdrückte ein Lachen. „Wie? Ihr wisst nicht, was das ist?“ Da niemand etwas darauf zu antworten wusste, selbst Florian und Konrad nicht, begann Kito zu erklären: „Metamorpher gehören zur Abstammung von Dryaden und Menschen.“ „… Also Indigoner.“, folgerte Eagle. „Bei den Dämonen…“, murmelte dieser Metamorpher nur und schüttelte den Kopf. Er bedachte die Gruppe mit einem schiefen Lächeln und plötzlich, ohne jegliches Zutun, veränderte er sich. Noch während er auf sie zuging wuchs er um einige Zentimeter, gleichzeitig wurde der athletische Körperbau schmaler. Die Haare färbten sich schwarz, die Haut bekam den typischen Braunton der Indigoner. „Was soll das werden?“ Eagle richtete das Großschwert gegen seine Kehle, als er zu nahe zu kommen drohte. Doch die quer über die Nase verlaufenden Narben brachten auch ihn ins Stocken. „Was denn, willst du wirklich das Schwert gegen deinen eigenen kleinen Bruder erheben?“ Bei dem bekannten, liebevollen Lächeln waren nicht nur Eagle ganz plötzlich die Hände gebunden. Ungläubig schaute Laura zwischen dem Wesen was wie Carsten aussah und dem echten Carsten hin und her. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Und dieses Mal passte auch- Eine Explosion löste erneut ein schmerzhaftes Pochen in Lauras Kopf aus. Obwohl Carsten rechtzeitig reagierte und sie mit einer Magiebarriere schützte, drang ein Teil der Druckwelle zu ihnen hindurch. Erschrocken schaute Laura nach dem Rest. Zeitgleich mit Carsten hatten auch Amarth und Konrad reagiert und doch schienen einige zu Boden gestoßen worden zu sein. Ria startete als erste mit einem Gegenangriff. Noch während sie losrannte, ließ sie rotleuchtende Magieblitze auf ihren Gegner regnen. „Los, weiter!“, wies Florian den Rest an und zog Eagle auf die Beine, welcher nur knapp der vollen Stärke des Angriffs hatte ausweichen können. Laura jedoch hörte diesen Befehl gar nicht. Wie gefangen starrte sie zu diesem seltsamen Wesen, welches Rias Magie mit einer violetten Barriere blockte. Auch von dem Kugelhagel den Tatjana mit je einer Pistole pro Hand abfeuerte, ließ es sich nicht beirren. Ein Ruck fuhr durch ihren Körper, als sie an beiden Armen gepackt wurde. Offensichtlich hatten Carsten und Ariane gleichzeitig gemerkt, dass Laura ansonsten zurückbleiben würde. „Was ist das?!“, rief Eagle zu Kito, der durch den Zauber einige Prellungen abbekommen hatte. Während Jack sie um die nächste Ecke weg von der Schlacht lotste, erklärte das Dryaden-Mädchen ruhig: „Die Geschichte sprach, Metamorpher sind ein Stamm von Indigoner, die eine Einheit mit der Natur sind und ihre Gestalt mit Willensmacht verändern.“ „Gestaltwandler?“, folgerte Konrad erstaunt. „Es gibt sie wirklich?!“ „Hinter euch!“, erklang auf einmal Tatjanas Stimme. Sie feuerte noch einen Schuss ab aber der seltsame schwarze Schatten hatte sie bereits überholt. Ein Vogel, wie Laura nun erkannte. Schlitternd kamen sie zum Stehen als ihr Weg auch schon von einem violetten Magiefeuer versperrt wurde, kaum dass der Vogel wieder Menschengestalt angenommen hatte. Doch dieses Mal war es nicht das Aussehen von Carsten. Auch, wenn Laura es bei der Ähnlichkeit im ersten Moment glatt vermutet hätte. Nur das Geschlecht passte nicht und die Haare, die nun lange schwarze Locken waren. „Was soll der Scheiß?!“, rief Eagle, der seine und Carstens Mutter sofort erkannte. „Warum rennt ihr denn weg von mir?“, fragte dieser Metamorpher, Gestaltwandler oder wie auch immer man sonst solche Wesen nannte. „Ich wollte doch nur ein bisschen reden.“ „Du hast uns doch angegriffen!“, keifte Anne. „Was würdest du denn machen, wenn dir jemand ein Schwert an die Kehle hält?“, konterte sie, er, … es. Jack hatte wohl kein Problem, auf das Redeangebot einzugehen. „Wer bist du? Ich glaub ich hab dich nie zuvor hier gesehen.“ „Ich bin nie lange an einem Ort, im Gegensatz zu meinen armen Brüdern und Schwestern in Indigo.“ Das Lächeln wirkte schon fast traurig, als sie oder er erzählte: „Seit Jahrhunderten waren wir wie alle Indigoner Nomaden. Stolz auf unsere Freiheit. Unseren freien Willen. Dass sich einige unserer Brüder und Schwestern nach dem magischen Krieg in dieser Region haben einsperren lassen ist eine Schande. Wie wilde Tiere im Zoo. Sie verweichlichen, werden träge, schwach, …“ „Hör auf so einen Mist zu reden!“, rief Eagle verärgert. Der Blick des Gestaltwandlers in Form von Sisika wurde ernst. „Und der Häuptling unternimmt nichts dagegen. Er lässt das einfach mit seinem Volk machen, heißt es sogar für gut. Wie tief seid ihr nur gesunken.“ „Ich sagte halt die Fresse! Was weißt du schon?!“ Laura war sich ziemlich sicher, wenn der Gestaltwandler sich nicht ausgerechnet für das Aussehen seiner Mutter entschieden hätte, hätte Eagle ihm schon längst den Kopf abgeschlagen. Doch unter diesen Bedingungen… Der Gestaltwandler ging auf Carsten zu. „Ich weiß offensichtlich mehr als ihr. Viel mehr. Und das ist traurig. Es macht mich unsagbar traurig mit anzusehen, wie euer Volk meine Brüder und Schwestern in Käfige sperrt. Wie ihnen Halsbänder angelegt werden, nur, um aus ihnen gefügige kleine Haustiere zu machen.“ „‘Euer Volk‘? ‚Meine Brüder und Schwestern‘? Wovon redest du?!“ Öznur war ganz offensichtlich genauso verwirrt wie Laura und der gesamte Rest. Amüsiert blickte der Gestaltwandler in die Runde. „Ich rede davon, dass ich ihn befreien werde, meinen lieben Bruder. Er war lange genug euer Schoßhund.“ Laura hielt den Atem an, als ‚Sisika‘ die Hand nach Carsten ausstreckte. Dieser schien so überfordert mit der Situation, dass er gar nicht reagieren konnte. Falls es ihm überhaupt möglich war auch nur einen klaren Gedanken zu fassen… „Carsten!“, rief Laura seinen Namen und hoffte ihn so irgendwie zu erreichen. Aber nichts. „Lass ihn in Ruhe!“ Ohne darüber nachzudenken zog sie das Samuraischwert. Sie nahm wahr, wie Ariane Carsten am Arm packte und aus der Reichweite dieses Wesens zog. Dem es nicht zu gefallen schien, dass sich Laura direkt dazwischen stellte. Sie sah noch wie der Zauber seine Form annahm. Aber bevor ihre Reflexe sie schützen konnten, erinnerte sich Laura daran, dass sie ihre Finsternis-Energie nicht verwenden durfte. Angst breitete sich in ihr aus. Ein kurzes Gefühl, das sich in brennendem Schmerz verlor als der Zauber in Lauras Seite schlug. Die Luft entwich ihren Lungen, sie wurde von den Füßen gerissen. Ein schrilles Pfeifen ließ sie nicht hören wie Ariane und einige andere nach ihr riefen. Den Schmerz vom Aufprall nahm sie kaum wahr, so sehr betäubte der Angriff sie bereits. Laura sah schon eine weitere Magiekugel auf sich zukommen, als eine lila Barriere diese abfing. Gleichzeitig wurde der Gestaltwandler von rotschimmernden Ketten eingefangen, doch bevor Tatjana ihn mit ihren Kugeln durchlöchern konnte, war er bereits verschwunden. Die Ketten lösten sich auf, während sie zu Boden fielen. Nur noch einige schwarze und weiße Federn blieben zurück. Wo war er hin? Benommen versuchte sich Laura aufzurichten, was ihr ohne Arianes Hilfe jedoch nicht gelungen wäre. Taumelnd hielt sie sich an ihr fest und schaute sich um. Der Raum schwankte leicht. „Alles okay?“, hörte sie gedämpft Ariane fragen. Wie automatisiert nickte Laura, womit sich Ariane jedoch nicht zufriedengab. Carsten wohl genauso wenig, der zu den beiden rüber eilte und einen Heilzauber sprach. Für einen Moment wurde Laura noch schwummriger als ihr ohnehin schon war, im nächsten Augenblick ließ der Schmerz aber tatsächlich nach. Sie warf ihrem besten Freund ein schwaches, unbeholfenes Lächeln zu, der es bedrückt erwiderte und Laura an sich drückte. Offensichtlich erleichtert, dass es ihr ansonsten gut ging. „Verdammt, er ist garantiert los, um Mars zu warnen.“, zischte Anne und schaute sich weiter um, jedoch ohne Erfolg. Ebenso Susanne. „Und jetzt?“ „Erstmal weiter. Verhindern können wir es vermutlich ohnehin nicht mehr.“, meinte Konrad, was eine indirekte Aufforderung an Jack war. „Was sollte diese Aktion überhaupt?“, fragte Öznur irritiert. „Was meinte er damit, dass er Carsten befreien will? Ich dachte, er wollte uns einfach nur aufhalten.“ „Nicht zwingend.“, erwiderte Jack als sie sich in Bewegung setzten. „Viele schließen sich Mars an, weil sie eigene Ziele verfolgen und dafür seine Hilfe brauchen. Besonders was diejenigen aus der Oberwelt betrifft. Ich wollte Freiheit und ein möglichst normales Leben. Eure Chemie-Lehrerin Rache. Murs Diktator Macht. Lukas… ist einfach Lukas. Wer weiß, was ihn letztlich dazu geritten hat. Unser pseudo Chamäleon hat sicher auch seine Gründe und die haben allem Anschein nach mit Carsten zu tun.“ Laura warf einen beunruhigten Blick auf ihren besten Freund, ehe sie fragte: „Aber was hat es mit diesen Gestaltwandlern oder Metamorphern überhaupt auf sich?“ „Gestaltwandler können ihr Aussehen mit reiner Willenskraft verändern, im Gegensatz zu normalen Magiern, die dafür einen Zauber benötigen.“, erklärte Konrad und schaute sich erneut kritisch um, als könnte ihr Gegner doch noch in der Nähe sein. „Aber dass es sie wirklich gibt, hätte ich nicht gedacht.“ „Eigentlich ist es nicht verwunderlich, dass sie bisher nur in Legenden vorkamen. Durch ihre Fähigkeiten können sie sich ihrer Umgebung perfekt anpassen.“, sinnierte Florian. „Aber das scheinen ja trotzdem Indigoner zu sein.“, bemerkte Ariane verwirrt und schaute Carsten fragend an. Dieser fuhr sich durch den Ansatz der schwarzen, kinnlangen Haare. „Koja hatte mal erzählt, dass es Metamorph-Magie gibt. Aber das Wissen darüber sei schon lange verloren.“ „Offensichtlich nicht überall, wenn wir an unseren neuen Freund denken.“, stellte Konrad fest. „Es ist gar nicht mal so unwahrscheinlich, dass es irgendwo noch Indigonerstämme gibt, wo diese Fähigkeiten nach wie vor gelehrt werden. Die Dryaden halten sich ja auch in Obakemori verborgen, womit niemand gerechnet hat.“ Eagle seufzte. „Stimmt schon, aber dafür hat der Typ ganz schön viel Drama gemacht. Woher nimmt der sich überhaupt das Recht, Carsten als ‚Schoßhund‘ zu bezeichnen?!“ Es war eindeutig, dass ihm dieser Kommentar über seinen kleinen Bruder überhaupt nicht passte. Und die Tatsache, dass der Typ Carsten ‚befreien‘ wollte war besonders unheimlich. „Kann es nicht sein, dass Cärstchen auch ein Gestaltwandler ist?“, warf Lissi überraschend in die Runde. Der Rest starrte sie fassungslos an. Carsten ein Gestaltwandler?! Doch ob sie wollte oder nicht, Laura verstand, wie Lissi auf diese Idee kommen konnte. Es war das Einzige, was in der Gestalt von Benni nicht gepasst hatte, aber bei dem Aussehen von Carsten und Sisika alles andere als fehl am Platz wirkte. „Die Augenfarbe…“ Eagle legte die Stirn in Falten. „Koja meinte zumindest mal, dass diese lilafarbenen Augen charakteristisch für Magier aus einem speziellen Indigonerstamm sind. Aber deswegen direkt auf Gestaltwandler zu schließen ist ziemlich weit hergeholt.“ „Wirklich?“ Herausfordernd schaute Lissi ihn an und versperrte schließlich Carsten den Weg. Irritiert blieb auch der Rest stehen und beobachtete, wie sie die Hände in die Hüften stemmte. „Sag mal Cärstchen, als du die Verbrennungen von dem Ritual vor uns versteckt hattest, was für ein Zauber war das?“ „Ähm…“ Tatsächlich brachte ihre Frage ihn ins Stocken. Was ziemlich verwirrend war, immerhin musste er ja irgendetwas gemacht haben, um sie vor sich selbst und dem Rest zu verbergen. Irgendein Spruch, eine Geste, irgendwas. Laura betrachtete ihn verwirrt. „Als Kind hast du doch häufig bunte Haare gehabt, welcher Zauber war das denn gewesen? Oder wenn wir in Zukiyonaka herumgelaufen sind, da hattest du dich ja immer so unwohl unter den Blicken der Leute gefühlt, dass du dir eine helle Haut gezaubert hast, um nicht so aufzufallen.“ „Ich… ich weiß nicht, was für ein Zauber das ist.“, gestand Carsten schließlich, absolut verunsichert. „Ich hatte es mir einfach vorgestellt.“ „Vorgestellt? Wie meinst du das?“, fragte Konrad irritiert. „Na ja… Ich wünsche mir zum Beispiel blaue Haare zu haben, und dann habe ich sie. Vermutlich so ähnlich, wie ihr auch eure Energie einsetzt.“ Bei den erstaunten Blicken fragte Carsten kleinlaut: „Ist das nicht normal?“ Die anderen Magier schüttelten den Kopf. Janine strich sich eine Strähne hinters Ohr. „Ich hatte mir damals schwarze Haare und braune Augen gezaubert, als ich über Murs Grenze kommen wollte. Sodass man nicht weiß, wer ich wirklich bin, falls irgendetwas schief geht. Aber das war ein Zauberspruch gewesen. Ich habe nie davon gehört, dass so etwas mit Vorstellungskraft alleine gehen könnte.“ Es war nicht zu übersehen, wie diese Erkenntnis Carsten selbst am härtesten traf. Er hatte diese Fähigkeiten als selbstverständlich wahrgenommen. Hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, dass sie etwas Besonderes sein könnten. „Kannst du dein komplettes Aussehen so verändern?“, erkundigte sich Susanne. Mit einem Zögern und immer verunsicherter schüttelte Carsten den Kopf. „Ich… Nur so Sachen wie Haut- und Haarfarbe. Oder Verletzungen… Aber die Narben des Schwarzen Löwen oder das Mal des Schwarzmagiers lassen sich verbergen.“ „Und die Augenfarbe?“, fragte Laura und berührte vorsichtig seinen Arm, da sie bereits ahnte, welche Antwort sie bekommen würde. Somit spürte sie das Zittern unter ihren Fingern, als Carsten schließlich den Kopf schüttelte. „Dann wissen wir jetzt zumindest, warum dieser Typ so versessen von Carsten zu sein scheint.“, meinte Anne nur, als Jack plötzlich einen Fluch ausstieß. „Hinter euch!“ Erschrocken drehte sich Laura um. Sie erhaschte gerade so einen Blick auf etwas, als es auch schon wieder verschwand bevor einer von Arianes Dolchen ihr Ziel erreichen konnte. „Geräusche und Gerüche mit Magie zu manipulieren ist zwar ein Kinderspiel, aber dein Tastsinn ist ausgesprochen lästig.“ Wieder fuhr Laura herum, als sie eine unbekannte, weibliche Stimme hörte. Zeitgleich mit Jack erstarrte sie. Es war eine hübsche Frau mit kupferroten Locken, deren Nase und Wangen von leichten Sommersprossen geziert wurden. Trotz der verräterischen violetten Augenfarbe wusste Laura instinktiv, dass sie eigentlich grasgrün sein müsste. „Arschloch.“ Jack biss die Zähne zusammen. Und schlug wider Erwarten zu. Überraschung zeichnete sich auf ihrer aller Gesichter ab, als der Gestaltwandler sich nicht rechtzeitig schützen konnte und gegen die nächstliegende Wand krachte, die sogar leichte Risse bekam. Laura blinzelte. Hatte er gerade im Ernst… Der Gestaltwandler lachte auf und spuckte etwas Blut aus. „Du greifst deine eigene Mutter an? Der Apfel fällt also doch nicht weit vom Stamm.“ „Jack, ignorier sie!“, rief Lissi ihm zu, doch die Tatsache, dass es ausgerechnet das Aussehen seiner Mutter war, schien Jack nicht einfach ignorieren zu können. Eher das Gegenteil war der Fall. „Meine Mutter ist tot. Und wenn du verdammter Drecksack glaubst dich auch nur annähernd als sie ausgeben zu können, solltest du dir schon einmal überlegen, wie du zumindest den Teufel gnädig stimmen kannst!“ Ungläubig schaute Laura zu, wie er den Gestaltwandler packte und ihm mit dem Unterarm die Kehle abdrückte. Zeitgleich schossen spitze Steine aus der Wand und bohrten sich durch die Handflächen. Der Gestaltwandler rang verzweifelt nach Luft, konnte mit einem Schlag nicht mehr auf seine Magie zurückgreifen. „Verdammt, ich sagte doch, keine Energie!“, rief Florian verärgert. „Mars weiß doch sowieso schon bescheid!“ Als die Metallklauen aus Jacks Lederarmschiene schossen, rechnete Laura bereits damit, dass es vorbei war. Dass Jack ihn von Kopf bis Fuß aufschlitzen würde. Doch der Gestaltwandler lächelte nur. Und veränderte sich. Ein Schaudern fuhr durch ihren gesamten Körper als sie ihn wiedererkannte, diesen Mann. Groß, mächtig, bedrohlich. Ein Mensch, der heute Vormittag erst ein grausiges Entsetzen in ihnen allen ausgelöst hatte. Eine unbeschreibliche Angst, und doch war es noch nicht einmal ein Bruchteil jener Panik, die Jack mit einem Schlag übermannte. Zitternd wich er zurück, kaum in der Lage sich zu bewegen. Der Gestaltwandler formte die Lippen des ehemaligen Direktors des FESJ zu einem schaurigen Lächeln, als er merkte, wie er die Kontrolle zurückgewann. „Es gibt auch noch andere Gefühle, die uns machtlos machen können. Nicht wahr?“ „Jack, geh weg von ihm!“, hörte sie noch Carsten rufen, doch da hatte der Gestaltwandler den Zauberspruch bereits vollendet und löste eine Magieexplosion aus, die Jack gegen die gegenüberliegende Wand schleuderte. Noch während er auf dem Boden aufschlug, hielt sich Laura die Ohren zu als Tatjana weitere Schüsse auf ihren Gegner abfeuerte, die dieser entspannt mit einer Barriere blockte. Carsten hatte sich bereits zu Jack teleportiert, doch bevor er dazu kam nach ihm zu schauen, musste er sich selbst mit einem Magieschild vor messerscharfen Federn schützen. Verbissen konterte er mit einer reißenden Welle, die Ria auch noch mit rot leuchtenden Blitzen auflud. Als der Angriff auf die Feuerfront des Gestaltwandlers traf, ließ eine weitere Explosion ihre Umgebung erschüttern. Ariane wurde fast von den Füßen gerissen und klammerte sich gerade so an Laura, die im letzten Moment realisierte, dass es nun ohnehin egal war, ob sie ihre Energie verwenden würde oder nicht. So konnte sie zumindest sie beide noch vor dem Rest der Druckwelle beschützten. Janine und Lissi kamen derweil anscheinend gleichzeitig auf die Idee, den beiden Jungs zu Hilfe zu eilen, während Eagle die Deckung des Rauches für einen Überraschungsangriff nutzen wollte. Wovon der Gestaltwandler nicht überrascht war. „Runter!“, hörten sie noch Tatjana rufen, die Janine und Lissi zu Boden warf, bevor es zu einer weiteren Explosion kam. Dieses Mal reagierte Laura schneller. Sie streckte die Hand aus und absorbierte einen größeren Bereich mit der Finsternis. Aber nicht genug, sodass Eagle trotzdem zurückschlitterte und nur Carstens Zauber verhinderte, dass er schmerzhaft gegen die Wand stieß. Es war nur ein kurzer Moment der Ruhe, in welchem die weniger kampferprobten von ihnen es wagten durchzuatmen. Doch andere wie die drei Krieger aus dem zerstörten Gebiet wussten, dass es im Kampf keine Pause gab. So nutzten sie diese eine Sekunde, um sich zu formatieren. Nahezu automatisch und ohne sich abzusprechen stellten sie sich so auf, dass sie den Gegner einkesselten. Ria teleportierte sich auf die eine Seite des Ganges, um ihm den Weg zu versperren, Amarth war bei Carsten, Eagle und Jack, Tatjana lud ihre Pistolen auf der anderen Seite des Ganges nach, darauf bedacht Lissi und Janine hinter sich zu haben. Laura und Ariane konnten nur zuschauen, bei diesem einen tiefen Atemzug. Der mit einer Flut von Konrads Magiepfeilen endete. „Verdammt, seid vorsichtig! Das ist ein Schwarzmagier!“, rief der Vampir. Die Warnung hätte nicht später kommen dürfen. Blutrote Stacheln schossen aus der Staubwolke, griffen jeden an, der sich in der Nähe befand. Knapp schaffte es Laura, einige mit der Finsternis-Energie abzubremsen und doch hätte ihr einer vermutlich das Auge ausgestochen, wenn Ariane sie nicht weggezogen hätte. Die beiden Mädchen stolperten zurück, konnten nur atemlos beobachten, wie keine der Magiebarrieren in der Lage war, diesem Angriff standzuhalten. Sie hatten bei Carsten gesehen, wie überlegen ein Schwarzmagier war. Jetzt die Gewissheit zu haben, dass auch der Feind so eine Macht hatte… Erfolglos versuchte Laura Angst und Anspannung herunterzuschlucken. „Carsten, nicht!“, hörte sie Ariane rufen. Vermutlich der einzige Grund, warum Carsten zerknirscht das Taschenmesser wieder sinken ließ, bevor er sich damit in die Handfläche schneiden konnte. Ein Lachen erklang als der Gestaltwandler hervortrat. Er hatte wieder das Aussehen von Carsten angenommen. „Ihr habt euren Schoßhund wirklich gut trainiert, das muss man euch lassen.“ „Halt die Fresse und hör auf dich hinter anderen Gesichtern zu verstecken!“, brüllte Eagle verärgert. Der falsche Carsten lächelte ihn nur spöttisch an. Und schnitt sich in die Handfläche. Was danach passierte, blieb nur noch schemenhaft in Lauras Erinnerungen zurück. Der Gestaltwandler begann irgendeinen Zauberspruch, als Carsten schrie: „Hört auf!“ Wobei Laura nicht verstand, warum das gegen ihre eigenen Freunde gerichtet war. Sie verstand gar nichts mehr. Nur noch, dass absolutes Chaos um sie herum ausbrach. Instinktiv klammerte sie sich an Ariane, kniff die Augen zusammen. Und plötzlich war alles verschwunden. Kapitel 104: Zerstreute Hoffnung -------------------------------- Zerstreute Hoffnung       Eagle stieß einen Fluch aus und schlug gegen die Wand, viel zu wütend, um die Schmerzen des vorherigen Kampfes wahrnehmen zu können. Während er sämtliche Kraftausdrücke von sich gab, derer er in seiner Muttersprache mächtig war, lief er in der Küche auf und ab, in der er aus heiterem Himmel aufgetaucht war. So eine Scheiße, so eine verfluchte Scheiße! Es war ja klar, dass der Plan niemals so glatt gehen würde wie gehofft, aber das war jetzt der absolut beschissenste Supergau, den er sich vorstellen konnte. Er hatte keine Ahnung, wo er war und wusste noch weniger, wo sich der Rest von ihnen befand. Nur, dass Carsten plötzlich auf die geisteskranke Idee kommen musste, das Schwarzmagie-Ritual dieses Hurensohns mit irgendeinem anderen Schwarzmagie-Zauber zu unterbrechen. Selbst wenn er ihnen damit in dem Moment sehr wahrscheinlich das Leben gerettet hatte: So eine verfickte Scheiße! „Könntest du dich bitte ein bisschen leiser aufregen?“, bat eine tiefe, männliche Stimme ihn. „Wieso?!“ Verärgert fuhr Eagle herum und erwiderte den ruhigen Blick von Amarths braunen Augen. Dieser schüttelte nur seufzend den Kopf und wandte sich wieder Jack zu. Wie gesagt: Der absolut beschissenste Supergau, den sich Eagle vorstellen konnte. „Geht’s, Junge?“ Vorsichtig legte Amarth eine Hand auf Jacks Schulter, welcher daraufhin erschrocken zusammenzuckte. Als Eagle das nach Luft Ringen bemerkte und sah wie er erfolglos das Zittern seines Körpers zu unterdrücken versuchte, fühlte er sich automatisch an Carstens Panikattacken erinnert. Ein ungewollter Funken Mitleid kam in ihm auf. Geräuschvoll atmete Eagle aus. „Lass ihn einfach in Ruhe, der wird sich schneller fangen als dir lieb ist.“ Der Magier aus dem zerstörten Gebiet warf ihm einen kritischen Blick zu, ließ aber schließlich von Jack ab und kam zu Eagle rüber, der nach wie vor unruhig auf und ab lief. „Was ist mit ihm?“, fragte Amarth mit gedämpfter Stimme. „Im Prinzip Berührungsängste, also halt dich einfach von ihm fern, wenn du helfen möchtest.“, erklärte Eagle knapp und erinnerte sich daran, wie Lissi Jack vor nicht mal zwölf Stunden aus einer ganz ähnlichen Situation gerettet hatte. „Wenn du meinst…“ Amarth fuhr sich durch die etwas längeren schwarzen Haare und wirkte nicht sonderlich überzeugt. Wenn man daran dachte, dass Eagle gerade behauptet hatte ein eiskalter Killer leide unter sowas wie Berührungsängsten, war das sogar ziemlich nachvollziehbar. Zähneknirschend betrachtete er Jacks leichenblasses Gesicht und meinte schließlich: „Er ist mehrere Jahre von diesem Schwein missbraucht worden, in den sich der Arsch vorhin verwandelt hat. Eigentlich ist es klar, dass er Nähe in so Momenten wie gerade am wenigsten gebrauchen kann.“ „So ist das also…“ Auch Amarth warf ihm noch einmal einen mitfühlenden Blick zu, ehe er sich bedrückt abwandte und beschloss, das Thema zu wechseln. „Wir sollten erst einmal versuchen herauszufinden, wo wir sind und wie wir die anderen finden können.“ Vorsichtig öffnete er die Tür und schaute nach außen. Auch Eagle warf einen prüfenden Blick über seine Schulter, doch bis auf steinerne Wände und Kerzen war nichts zu sehen. Er stieß einen weiteren Fluch aus. Da hatten sie zumindest den Typen bei sich, der sich als einziger von ihrer ganzen Gruppe hier auskannte, und ausgerechnet der war gerade zu nichts zu gebrauchen.   ~*~   „Wach auf, verdammt. Susanne, wach auf.“ Ein leises aber zugleich drängendes Zischen, ganz nah an Susannes Ohr. Benommen gab sie einen schwachen Laut von sich, doch zumindest die Schmerzen waren bereits verblasst. Was war passiert? Was war das für ein Zauber gewesen? „Susanne.“ Wieder diese Stimme. Leise. Aber vertraut. „… Anne?“ Blinzelnd öffnete Susanne ihre Augen. Nur um festzustellen, dass sie sich in tiefster Finsternis befand. „Wo-“ Ein schauriges, tiefes Grollen unterbrach ihre Frage. Eingeschüchtert schaute sie sich um, hielt entsetzt den Atem an, als es wieder ertönte. Etwas lauter, dass sogar die steinerne Wand hinter ihr vibrierte. „W-was… was ist das?“, flüsterte sie verängstigt. „Etwas, dem wir unter keinen Umständen begegnen wollen. Komm.“, antwortete Anne nur. Doch so beherrscht ihre Stimme klang, Susanne konnte die Anspannung ihres Körpers spüren, als sie ihr auf die Beine half. So leise und schnell wie möglich tasteten sie sich an der Wand entlang, weg von diesem unheilbaren Geräusch. Susanne kam gar nicht auf die Idee in Verlegenheit zu geraten, obwohl Anne ihre Hand hielt, damit sie sich in der Finsternis nicht zu verlieren drohten. Viel zu sehr war ihre Aufmerksamkeit auf die Umgebung gerichtet. Erneut war dieses Grollen zu hören. Wieder spürte Susanne das Zittern der Steine unter ihren Fingern. Es könnte jedoch auch ihr Körper selbst sein, gelähmt von Angst und Unsicherheit. Und doch ahnte sie bereits, dass dies die deutlich bessere Alternative war als Gewissheit zu haben. Susanne meinte ein Schnauben zu hören, fast so wie ein tiefes Atmen, was sie zuvor noch nicht vernommen hatte. „Es kommt näher…“ Anne stieß einen leisen Fluch aus und verstärkte ihren Griff um Susannes Hand. Dann, plötzlich, ein Brüllen. Laut. Markerschütternd. Nah. Wie angewurzelt blieb Susanne stehen. Das schnaubende Geräusch wurde lauter, schneller. Genauso wie ihr eigener Atem. „Renn!“ Sie konnte diese Anweisung nur befolgen, weil Anne sie automatisch mit sich zog als sie losrannte. Wieder fuhr das Brüllen bis in Susannes Knochen. So schnell ihre Beine sie tragen konnte rannte sie weiter, doch es war eindeutig, dass sie Anne trotzdem ausbremste. „Teleportier uns raus, teleportier uns hier raus!“, rief Anne ihr zu, als sie auf eine Wand stieß und in der Dunkelheit herauszufinden versuchte, in welche Richtung die Abzweigung ging. Bei dem Grollen und Schnauben war es Susanne fast unmöglich, die Gedanken für den Teleport sammeln zu können. Als sie es schließlich schaffte den Zauber zu sprechen… „… Es geht nicht!“, rief Susanne keuchend, spürte den Schweiß über die Stirn laufen als sie weiterrannten. „Wie ‚geht nicht‘?!“ „Hier ist irgendeine Magiebarriere! Ich kann uns nicht teleportieren!“ „Fuck!“, stieß Anne aus, wurde jedoch vom ohrenbetäubenden Brüllen übertönt. Susanne wusste nicht ob es eine Einbildung durch den Schweiß war, doch sie meinte bereits einen Luftzug in ihrem Nacken zu spüren. Wie nah war das Ding? Wollte sie es überhaupt wissen? Wieder trafen sie auf eine Wand. Anne tastete die Steine ab, stieß einen weiteren Fluch aus. Eine Sackgasse. Sie packte Susanne an den Schultern, die nach wie vor schwer atmete. Susanne glaubte den Blick ihrer nachtblauen Augen trotz der Dunkelheit sehen zu können, als Anne sagte: „Teleportier dich weg von hier.“ Entsetzt schaute Susanne sie an. Durch die Erschöpfung war die Frage nicht mehr als ein Hauchen. „…Was?“ „Alleine können dämonenverbundene Magier doch so Barrieren überwinden, oder? Teleportier dich zurück ins Schloss und hol Hilfe. Suche irgendwie nach Jack, der wird am ehesten herausfinden können, wo dieser Ort ist.“ „Aber-“ Noch ein Brüllen. Ganz in ihrer Nähe. Zu nah. Die Erde bebte so stark, dass Susanne etwas ins Wanken geriet. Dann Stille. Bis auf dieses Schnauben. Diesen hörbaren Luftzug. Susanne schluckte schwer. Sie bezweifelte, dass es eine gute Idee war. Sie glaubte nicht, dass ihre Nerven dem standhalten könnten, was auch immer gleich geschah. Doch in der Finsternis waren sie ganz eindeutig im Nachteil. Susanne hob die Hand, ihre Stimme bebte, als sie den Zauber eher flüsterte statt sprach. Ein sanftes rosa Leuchten erhellte ihre Umgebung, eine Höhle, fast so wie in einem Bergwerk. Und ein Brüllen. Susannes gesamter Körper verspannte sich, als ihr der heiße, stinkende Wind entgegenschlug. Und doch konnte sie die Augen nicht abwenden, von diesem grauenerregenden Monster was sich vor ihnen auftürmte. Sie konnte nicht sagen was es war. Einerseits erinnerten sein Kopf und der Rumpf an einen Maulwurf, doch die Beine glichen eher denen einer Spinne, die sich bereit machte, ihr Abendessen einzufangen. Zitternd wich Susanne einen Schritt zurück. Was sollte sie nur tun? Lissi war schon immer die Kämpferin von ihnen beiden gewesen, die weder vor verbalen als auch wenn nötig körperlichen Auseinandersetzungen zurückschreckte. Aber Susanne? „Runter!“ Noch während das Ungetüm zum Schlag ausholte, wurde Susanne zu Boden geworfen. Ein Schaudern fuhr durch ihren Körper als sie die sichelartigen Klingen in den Innenseiten der acht Beine bemerkte. Anne hatte sich schon längst wiederaufgerichtet und befreite ihren Speer von einer Halterung am Rücken. Keine Sekunde später blockte sie zwei weitere Hiebe. Verängstigt zwang sich Susanne dazu nach hinten zu kriechen, um ihr zumindest nicht im Weg herum zu stehen. Anne versuchte irgendwie an den Corpus zu kommen, doch immer war ihr mindestens eines der Beine im Weg. Und für einen Angriff von oben war die Höhle zu niedrig. „Teleportier dich weg!“, brüllte sie, ohne das Monster aus den Augen zu lassen. „Dann bist du blind!“, widersprach Susanne ihr verzweifelt. Sie hörte einen zischenden Fluch, während sie sich selbst den Kopf darüber zerbrach, wie sie Anne nur helfen könnte. Susanne war noch nie wirklich gut in Kampfmagie, selbst im Training hatten so Situationen sie immer überfordert. Aber es musste doch irgendetwas geben! Sie konnte Anne doch nicht alleine lassen! Zitternd kniff Susanne die Augen zusammen, das schrille Geräusch wie der Speer auf eine der Klingen traf betäubte ihre Ohren. Verbissen wischte sie sich eine Träne von der Wange.   Bedrückt betrachtete Susanne die saftig grüne Wiese, auf die sie erschöpft gesackt war. „Alles in Ordnung?“, hörte sie Carsten fürsorglich fragen. Verbissen wischte sie sich eine Träne von der Wange und nickte. Eine Antwort, die ihren Teilzeit-Trainer natürlich nicht überzeugen konnte. Sie merkte, wie sich Carsten ihr gegenüber in den Schneidersitz setzte. Als Susanne aufblickte und dieses liebevolle, mitfühlende Lächeln sah, fühlte sie sich umso beschämter. „Entschuldige, ich…“, setzte sie an, wusste sich aber nicht zu erklären. Carsten schüttelte den Kopf. „Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Was denkst du wie lange ich gebraucht habe, bis ich bereit war Kampfmagie in einem Trainingskampf einzusetzen?“ „… Einen Monat?“, vermutete Susanne. „Eher ein Jahr.“, berichtigte er sie und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Jeder ist anders. Manchen fällt so etwas leichter, manche haben große Schwierigkeiten sich damit abzufinden. Wir können nicht alle Janine sein.“ Schwach lachte Susanne auf. Sie alle waren schwer beeindruckt gewesen, wie Janine direkt bei ihrem ersten Training bereits losgelegt hatte. Fast so als wäre die Kämpferin schon immer in ihr gewesen und hatte nur noch die Theorie gebraucht, um sie sofort in die Praxis umsetzen zu können. Doch Susanne selbst… sie konnte das nicht. Sie konnte nicht etwas lernen mit dem Ziel, anderen damit zu schaden. Betrübt wandte sie wieder den Blick ab. „Ich kann das nicht…“ „Was kannst du nicht?“ „Kämpfen. Andere verletzen. Ich…“ Zitternd atmete Susanne aus. Ohne es zu wollen erinnerte sie sich sofort wieder an ihre Prüfung. An Naoki. Krampfhaft versuchte sie die Tränen zurückzuhalten, doch ohne Erfolg. „Susi… Nicht jeder muss unbedingt an vorderster Front dabei sein. Besonders wenn man im Team kämpft.“ Belustigt richtete er sich wieder auf und hielt Susanne die Hand entgegen. „Wer sollte denn sonst darauf achten, dass so Berserkern wie Janine oder Eagle im Eifer des Gefechts nichts passiert?“ Schwach lachte Susanne und ergriff Carstens Hand.   Erneut wischte sich Susanne eine Träne weg und schaute auf. Ihr Körper bebte vor Angst, doch mit ein bisschen Abstand sah das Monster gar nicht mehr so schlimm aus, wirkte weniger bedrohlich. „Achtung!“, rief Susanne und beschwor ein rosa leuchtendes Magieschild, als eine der Klingen auf Annes ungeschützte rechte Seite zuschoss. Es war nicht zu übersehen, wie Anne erschrocken zusammenzuckte. Doch für Erleichterung oder gar einen Dank fehlte ihr die Zeit, da sie einem weiteren Hieb ausweichen musste. „Verdammt, scheiß auf unentdeckt bleiben.“, hörte Susanne sie murmeln, als sie eine Reihe Speere mit ihrer Sand-Energie beschwor und auf das Ungeheuer zischen ließ. Es brüllte vor Schmerzen und doch ließ es sich nicht zu Boden zwingen. Anne stieß noch einen Fluch aus. Susanne meinte zu erkennen, was ihr Ziel war. Durch die Klingen an den Beinen war es lebensmüde, es von unten zu attackieren. Die scharfen Zähne waren auch nicht zu unterschätzen, also versuchte Anne trotz der niedrigen Decke irgendwie von oben anzugreifen. Was schier unmöglich war, so wie sich das Ding vor ihnen auftürmte. Susanne ballte die Hände zu Fäusten. Es musste doch irgendeinen Weg geben um ihr zu helfen! Anne griff mit einem Schlag ihres Speeres und Sand-Energie mehrere Beine an, wollte es aus dem Gleichgewicht bringen. Aber es richtete sich viel zu schnell wieder auf und sie musste zurückweichen, um nicht von einer der Klingen aufgeschlitzt zu werden. Da kam Susanne endlich eine Idee. „Lass mich das machen!“ „Was?! Nein, bleib weg von hier!“ Anne blockte eine weitere Klinge, das unangenehme Metallgeräusch ließ Susanne zusammenzucken. Mit zusammengebissenen Zähnen streckte sie die Hand aus und sprach den erstbesten Zauber, der ihr in dieser Situation würde helfen können. Vermutlich war es Rias Angriff auf den Gestaltwandler gewesen, der sie diese acht Magieketten beschwören ließ, die sich um jeweils ein Bein des Spinnentiers wickelten. Und dann zog sie. Das Ungeheuer gab ein weiteres Brüllen von sich, als die Beine unter ihm wegrutschten und es zu Boden fiel. Anne reagierte sofort, tauchte sein Gesicht in eine Sandwolke um es abzulenken, als sie auf den Rücken sprang. Und den Speer in den Nacken stieß. Wieder brüllte das Monster vor Schmerzen, versuchte sich aus den Ketten zu winden. Als Anne ins Straucheln kam beschwor Susanne zwei größere Ketten, um auch Kopf und Körper zu fixieren. Anne stach erneut zu, mehrmals. So lange, bis das markerschütternde Brüllen ein Ende hatte. Und selbst danach noch, bis sie sich ganz sicher war, dass es sich nicht mehr rühren konnte. Schwer atmend sprang sie vom Rücken des Ungetüms und kam zu Susanne rüber. „Nicht schlecht…“ „Ist alles okay?“, erkundigte sich Susanne direkt besorgt und suchte automatisch nach Verletzungen. „Ja, ja… alles gut…“, antwortete Anne keuchend. Susanne stockte, als ihr ein Riss im Sweatshirt auf Höhe des linken Schlüsselbeins auffiel. Ihre Finger begannen zu zittern. Anne winkte ab. „Alles gut, ist nur ein Kratzer.“ Wie gelähmt hob Susanne den Blick, schaute in diese nachtblauen Augen in denen das Licht von ihrem Zauber fast schon wie ein Sternenhimmel wirkte. Etwas schnürte ihre Kehle ab, ließ sie nicht mehr zu Atem kommen. „Was ist?“, fragte Anne verwirrt, als sie bemerkte, wie die Tränen über Susannes Wangen liefen. Schluchzend legte Susanne ihren Kopf auf Annes Schulter, klammerte sich an den Riss des Sweatshirts als könne sie ihn so irgendwie verschwinden lassen, es irgendwie ungeschehen machen. Eine unbeschreibliche Angst stieg in ihr hoch, die selbst dieses Ungetüm nicht hatte auslösen können. Nicht direkt zumindest. Erst jetzt wusste Susanne wirklich, was Janine gemeint hatte. Nun verstand sie, wie sie sich gefühlt hatte. In dem Moment fühlte sie es selbst, diese Angst. Die Angst jemanden für immer verloren zu haben. „Susanne, was ist?“, fragte Anne erneut. Hatte offenbar vergessen, was Jack ihnen beim Abendessen erzählt hatte. Das leise, entfernte Grollen nahmen sie beide kaum wahr. „Bleib bei mir… Bitte, du darfst nicht…“ Susanne schluchzte. Sie spürte wie Anne zögernd die Umarmung erwiderte. So wie ihr Körper zu zittern begann hatte nun wohl auch sie verstanden.   ~*~   „Laura? Ist alles okay?“, fragte Ariane so leise wie sie konnte, sodass ihre Stimme nur ein verängstigtes Wispern war. In dem spärlichen Licht meinte sie zu erkennen, wie Laura nickte. „Wo sind wir? Warum ist es hier so kalt?“ „Ehrlich gesagt will ich es gar nicht wissen…“ Der eisenhaltige Geruch nach Blut war alles andere als beruhigend aber die Gerüche, die sie gar nicht erst zuordnen konnte, jagten ihr noch viel mehr Angst ein. Und noch dazu diese unangenehme Kälte, die sich in ihre Knochen fraß… Ariane schluckte schwer und schaute sich in der Finsternis um. Lediglich ein kleines Fenster in einer schwer wirkenden Eisentür auf der gegenüberliegenden Seite verschaffte ihnen eine schwache Sicht. Doch um ihre Umgebung zu erkennen, war es trotzdem zu dunkel. Für Ariane zumindest. Sie hörte, wie Laura eine Art Aufschrei mit ihrer Hand zu unterdrücken versuchte. Ariane konnte fühlen, wie sie nach ihrem Arm tastete, um sich an den Ärmel zu klammern. „Was ist?“ Lauras Atem beschleunigte sich vor Panik, die nun auch in Ariane hochkroch. Was konnte sie mit ihrer durch die Dämonenform verbesserte Sicht in der Dunkelheit erkennen?! Ihr gesamter Körper bebte, als sie es schließlich schaffte Arianes Frage zu beantworten: „D-da- da sind… Menschen…“ Arianes Herzschlag setzte aus. Da sind… was? Wie eine Maschine drehte sie sich um, warf einen erneuten Blick in die Dunkelheit. Sah bewegungslose Silhouetten, die sich kaum in der Finsternis hervorhoben und trotzdem da waren. Waren das wirklich… Ohne es zu wollen realisierte Ariane, wo sie gelandet waren. Die beißende Kälte, der Geruch nach Blut, … Übelkeit stieg in ihr hoch, ein widerwärtiger Geschmack, den sie nur mit Mühe runterschlucken konnte. Sie mussten hier raus, sie mussten sofort hier raus! „N-Nane…“ Bei Lauras verängstigter, schwach schluchzender Stimme zwang Ariane sich irgendwie zur Ruhe. Sie durften unter keinen Umständen beide in Panik geraten. Und bei dem was Laura vermutlich zu Gesicht bekam stand außer Frage, wer von ihnen bessere Chancen hatte sich zusammenzureißen. Ariane atmete tief durch, wobei ihr bei den Gerüchen direkt wieder schlecht wurde. „Wir müssen hier raus, sofort. Ansonsten erfrieren wir hier noch.“ Sie merkte, wie Laura schwach nickte. Viel zu benommen, um auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können. Ariane drückte ihre beste Freundin so fest sie konnte an sich, in der Hoffnung, dass diese Geste irgendwie hilfreich war. Dann deutete sie Laura an ihr zu folgen. Vorsichtig, auf allen Vieren, krochen die beiden Mädchen auf die andere Seite des Raumes geradewegs auf die Tür zu. Ariane kam nicht drum herum Jack um seine Tatsinnfähigkeiten zu beneiden, während sie unbeholfen mit der Hand in kreisförmigen Bewegungen irgendwelche potenziellen Hindernisse zu erfühlen versuchte. Ein kurzer Moment des Schocks zuckte durch ihren gesamten Körper, als sie plötzlich auf ihrer linken Seite etwas spürte, was sich wie Haut anfühlte. Ariane zwang sich dazu ihren Atem ruhig zu halten und wich ein bisschen nach rechts aus, wo sie etwas bemerkte, das ein Tischbein sein könnte. Sie brauchten ewig bis zur anderen Seite und Arianes Herz pochte so stark, dass ihre Brust bereits zu schmerzen anfing. Als sie schließlich bei der Tür angekommen war, vergewisserte sie sich zuerst, dass Laura auch tatsächlich noch bei ihr war. Erleichtert atmete Ariane auf. „Oke, ich schaue mir mal an, ob draußen die Luft rein ist.“ Sie merkte, wie Laura nach ihr greifen wollte, um sie zurückzuhalten. Doch Ariane hatte sich bereits aufgerichtet und spähte vorsichtig durch das Fenster. Im Nachhinein fragte sie sich, was sie eigentlich erwartet hatte zu sehen. Irgendwie hatte sie noch Hoffnung gehabt, den Glauben, dass es halb so wild wäre. Aber eigentlich war es klar gewesen. Sie hätte sich denken können, welcher Raum an dieser riesigen Tiefkühltruhe grenzte. Wie betäubt sackte sie zurück auf den Boden, ihre Hände auf dem eisigen Metall der Tür zitterten schon längst nicht mehr wegen der Kälte. „… Nane?“ Vorsichtig legte Laura einen Arm um ihre Schultern. Doch Ariane merkte es kaum, zu sehr ergriff die Gewissheit von ihr besitzt. Die lähmende Angst. Sie kniff die Augen zusammen, die Tränen rannen kochend heiß über ihre kalten Wangen. Wie sollten sie da nur rauskommen? Wie konnten sie das?! Wie konnten sie eine Küche durchqueren, wo Menschen wie sie zum Abendessen zubereitet wurden?! Ariane schaffte es nicht ganz, das Schluchzen zu unterdrücken. Und noch weniger konnte sie auch nur eine einzige Antwort auf diese ganzen Fragen finden. Carsten, wo steckst du?!   ~*~   Mit einem schwachen Schmerzenslaut mühte sich Janine auf, um sich umzuschauen. Ihr Kopf pochte immer noch nach dem Angriff des Gestaltwandlers, den ihre Magiebarriere kaum hatte abschirmen können. Doch es brauchte nur wenige Sekunden bis sie erkannte, wo sie sich befand. Es war seltsam, wie vertraut das Gefühl bereits war, als sie aufstand und zu den Gitterstäben trat. Das kalte Metall fühlte sich noch genauso an wie vor etwa einer Woche und selbst die Konturen und kleinen Dellen meinte Janine wiederzuerkennen. „Guten Morgen!“, wurde sie von einer gut gelaunten Singsangstimme begrüßt. Erst jetzt merkte Janine, wie Lissi es sich auf einem der schäbigen Holzbetten in der gegenüberliegenden Zelle bequem gemacht hatte und von einem Spiderman-Comic aufblickte. „Ähm… guten Morgen…“, grüßte sie verwirrt zurück. Bei einem weiteren Blick fiel ihr auf, dass auch Tatjana bei ihnen war. Zögerlich trat sie an die etwa zehn Jahre ältere Frau heran und strich ihr eine der kurzen blauen Strähnen aus dem Gesicht. Sie schien das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt zu haben. Sie hörte Lissi kichern. „So süß. Ich frage mich, ob das Jacks eigene Comics sind, oder ob er sie extra für Johannes und Johanna gekauft hatte, damit sie sich nicht langweilen.“ Janine richtete sich wieder auf und verließ die Zelle, deren Tür anscheinend seit ihrer Flucht offen war. Lissi kam derweil wohl nicht aus dem Schwärmen heraus. „Ach, er wäre so ein toller großer Bruder. Kein Wunder, dass sich Risa sofort in ihn verliebt hat.“ Ein einengendes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus, als sie sich in Erinnerung rief, dass Jack ja tatsächlich Risas großer Bruder war. Und wie hart diese Erkenntnis ihn getroffen hatte, dass man meinen könnte es hätte ihm sogar physische Schmerzen bereitet. Bedrückt spielte Janine mit einer ihrer Haarsträhnen, verunsichert von den ganzen Gefühlen, die alleine bei dem Gedanken an Jack in ihr hochkamen. Das beklemmende Gefühl wurde nicht weniger, als sie zu Lissi schaute. Sie verhielt sich ihm gegenüber ungewohnt offen. Brachte ihm innerhalb kürzester Zeit ein Vertrauen entgegen, was ansonsten nur ihrer Zwillingsschwester vorbehalten war. „Sag mal, Lissi…“ Janine fühlte sich unwohl, diese Frage auszusprechen. Doch die Ungewissheit belastete sie mehr als ihr lieb war. „Magst du Jack eigentlich?“ Verwirrt schaute Lissi sie an. „Was für eine Frage, natürlich mag ich ihm.“ Einladend breitete sie die Arme aus. „Ich hab euch alle lieb!“ „N-nein, so- so meinte ich das nicht…“ Janine wurde immer unwohler in ihrer Haut. Eigentlich ging sie das gar nichts an. Es war unhöflich, Lissi so über ihre Gefühle auszufragen. Und unfreundlich obendrein. Was dachte sie sich eigentlich dabei? Beschämt senkte sie den Kopf. „Entschuldige, ich wollte nicht…“ Lissis Grinsen nach zu urteilen hatte sie schon lange verstanden, was Janine eigentlich gemeint hatte. „Angst vor Konkurrenz?“ Die Hitze stieg ihr ins Gesicht. Wirklich, was hatte sie sich nur dabei gedacht?! „N-nein, Lissi, ich… es…“, stammelte sie unbeholfen. „Es tut mir leid, ich wollte nicht…“ Lissi unterdrückte ein Kichern und warf Janine ein wissendes Lächeln zu. „Keine Sorge Ninie, da ist nichts. Und aus uns würde ohnehin nie was werden. Jackie-Chan braucht eher jemand ruhiges, verlässliches, bei dem er sich geborgen fühlen kann. Der es notfalls aber auch versteht, ihm Feuer unter diesem Knackarsch zu machen.“ Bei Janines unbeholfener Reaktion konnte sie sich das Lachen nicht verkneifen. „Ich hätte aber kein Problem damit, wenn du ihn mir für eine Nacht mal ausleihen würdest, Süße.“   ~*~   Öznur rannte. Ahnungslos und planlos rannte sie in diesem riesigen Schloss herum, von einer Sackgasse in die nächste. Wo war sie?! Wo waren die anderen?! Ein frustriertes Schluchzen entfuhr ihr, als ihr Weg wieder vor einer Wand endete. Die Panik wurde größer. Sie drehte sich um. Rannte weiter. Bis sie eine Treppe fand. Endlich etwas Anderes außer Gänge, Abzweigungen und verschlossene Türen! Sie stieg die Stufen hoch, nahm den Weg nach rechts. „Hast du von dem Chaos unten gehört?“ „Was? Wovon redest du?“ „Na ja, bei-“ Schlitternd kam Öznur zum Stehen. Sie schaffte es nur, sprachlos in die zwei blutroten Augenpaare zu schauen, die genauso verwirrt zurückblickten. Zitternd wich sie einen Schritt zurück. Einer der Vampire erkannte sie. „Verflucht, das ist eine von denen! Los, hol Hilfe!“ Abrupt drehte sich Öznur um. So schnell sie konnte rannte sie weg. Weg, einfach nur weg von hier. „Hier geblieben!“ Öznur schrie auf, als etwas sie zu Boden warf. Sie hatte es noch nicht einmal zurück zur Treppe geschafft, als der Elementarzauber des Vampirs sie erwischte. Stolpernd mühte sich Öznur auf die Beine und drehte sich instinktiv zu ihrem Verfolger um. Zum Glück. Im letzten Moment noch beschwor sie ein Schild, das die auf sie zu rauschenden Meteoriten abfing. Öznur versuchte einen Konterzauber, lodernde Feuer-Magie, die der Vampir ohne mit der Wimper zu zucken löschte. Von weiter entfernt meinte Öznur Schritte zu hören. Viele Schritte. Mist, nicht noch mehr! Sie zauberte eine rot schillernde Magiewand und rannte weiter. Gegen so viele hätte sie erst recht keine Chance. Als sie die Treppe sah hörte sie ein splitterndes Geräusch, wie zerberstendes Glas. Öznur biss die Zähne zusammen, versuchte die Tränen herunterzuschlucken, die die Angst ihr in die Augen jagte. Sie hatte doch ihr Extra-Training gehabt! Sie hatte sich doch auf so Kämpfe vorbereitet! Wahllos feuerte Öznur einige rot zuckende Magieblitze hinter sich. Ob sie jedenfalls einen ihrer Verfolger traf konnte sie nicht sagen. Eilig rannte sie zur Treppe, wurde von den Stufen jedoch etwas ausgebremst. Scheiß Treppen! Sie hörte ein Zischen, dann traf sie etwas im Rücken. Öznur schrie auf. Sie verlor die Orientierung, als sie immer und immer wieder auf harten Stein traf, sich zigmal überschlug, bis sie schwer atmend liegen blieb. Ihr gesamter Körper schmerzte, etwas schien gegen ihren Kopf zu Hämmern. Benommen tastete sie nach ihrer rechten Stirnhälfte. Gerade auf Höhe der Augenbraue tat es besonders weh und sie meinte, etwas Blut zu spüren. „Hat das Weglaufen endlich ein Ende?“, hörte sie einen der Vampire von vorhin fragen. Mühsam versuchte sich Öznur aufzurichten. Alles drehte sich und sie sah nur noch verschwommen. Auf einmal erklang ein Kracken, wenig später begann eine tiefe, kratzige Stimme zu lachen. „Hey Schätzchen, ich glaube, du hast da was verloren.“ Noch mehr Lachen ertönte. Öznur atmete schwer. Die Panik wuchst, trotz der betäubenden Schmerzen. Sie drehte sich um. Obwohl ihre Sicht nur unscharf war, sah sie, dass die Unterweltler nahezu die gesamte Treppe eingenommen hatten. „Hey, das ist ja eine richtig Hübsche!“, hörte sie irgendeinen anderen sagen. Ein hochgewachsener, in schwarz gekleideter Vampir kam auf sie zu und packte Öznur am Haaransatz. Sie biss die Zähne zusammen, versuchte den Schmerzenslaut irgendwie zu unterdrücken. „Die Dämonen haben einen wirklich guten Geschmack, muss man denen lassen.“ Eine höhere, kratzige Stimme begann zu protestieren. „Geh weg von ihr, Léridas.“ Der Vampir lachte auf. „Wieso denn? Ist doch genug für alle da.“ Öznur wimmerte schwach, versuchte sich irgendwie zu befreien. Hatte aber kaum Kraft dafür. „Ihr zwei könnt auch immer nur ans Essen denken.“, grollte ein Werwolf verärgert. „Halt dich mal schön hier raus, Ergeb. Du würdest diese Schönheit doch nur verunstalten.“ Ihr Atem wurde flacher, Öznur musste nach Luft ringen, um irgendwie an Sauerstoff zu kommen. Sie kniff die Augen zusammen. Auch wenn Florian sie gewarnt hatte, sie wusste sich nicht anders zu helfen. Magie reichte nicht aus. Es war nur ein Gedanke. Nichts weiter als der Wunsch, dass dieser Typ sie endlich losließ. Und dann tat er es. Schreiend, unter Schmerzen. „Léridas!“, brüllte einer der Unterweltler. Dank einem unerwarteten Kraftschub kam Öznur auf die Beine, stellte sich den Feuerwall vor, der kurz darauf die Treppe überrollte. Einige Unterweltler konnten ausweichen. Ein Werwolf stürmte auf sie zu, den Öznur gerade so noch in Brand setzte. Wie ein Zombie im Schutz dahinter einen Zauber sprach realisierte sie aber erst, als sie von den Füßen gerissen und gegen die Wand geschleudert wurde. Ihr Kopf schlug hart auf, für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Schützend hielt sich Öznur die Hände vors Gesicht und hüllte ohne darüber nachzudenken ihren eigenen Körper in Flammen. Gleichzeitig mit ihr schrie ein Werwolf auf, der sich die Klauen versenkte als er diese in ihren Oberschenkel schlug. Sie spürte das warme Blut über ihr Bein laufen, während kalter Schweiß ihren Rücken hinabrann. Schmerzverzerrt öffnete Öznur die Augen, erinnerte sich gezwungenermaßen daran, dass sie nur noch unscharf sehen konnte. Mit ihrem Gehör und den undeutlichen Konturen konnte sie noch drei weitere Unterweltler erwischen, ehe es seltsam still wurde. Erschöpft lehnte sich Öznur gegen die Wand und ließ sich zu Boden gleiten. Das eine Bein fühlte sich taub an, ihr Kopf wie benebelt. Das Adrenalin war wie weggeblasen, ließ ihre Augenlider immer schwerer werden.   ~*~   Belustigt verschränkte Konrad die Arme hinter den Kopf und beobachtete seinen guten Freund dabei, wie er zerknirscht am Grübeln war. „Mit sowas hattest du wohl nicht gerechnet, oder?“ „Dein Sarkasmus ist nicht hilfreich.“, erwiderte Florian verbissen. „Still sein leider genauso wenig.“ Seufzend schaute der Elb den mit Kerzen beleuchteten Gang entlang. „Wer hätte auch gedacht, dass wir auf einen Gestaltwandler treffen, der noch dazu ein Schwarzmagier ist?“ „Was denkst du, wer ist er?“ Wieder seufzte Florian. „Ein Hindernis. Ein großes Hindernis, mit dem niemand gerechnet hat.“ „Und der es ausgerechnet auf Carsten abgesehen zu haben scheint.“ Konrad knirschte mit den Zähnen. Florian schaute ihn fragend an. „Hast du den Zauber erkennen können?“ „Welchen?“ Konrad merkte an Florians Verwirrung, dass er wohl überhaupt nichts von einem zweiten Zauber mitbekommen hatte. „Der von dem Gestaltwandler war kein Angriffszauber, falls du das denkst. Es war ein mieser Trick, aber ich habe ihn erst durchschaut als es zu spät war.“ Dem Blick in Florians grünen Augen nach zu urteilen war er umso verwirrter. „Kein Angriff?“ „Nein, eher das genaue Gegenteil. Er war zur Verteidigung gedacht. Ein Reflexionszauber, der alle Angriffe zurückwirft und sie auch noch verstärkt.“ „Was?!“ Es war nicht zu überhören, wie diese Information Florian schockierte. „Aber wie kommt es dann, dass wir…“ „Wegen Carsten. Er hatte den Zauber wohl sofort durchschaut, aber in dem Moment ließen sich unsere Angriffe auf den Gestaltwandler nicht mehr verhindern.“ „… Und die Reflexionen konnte er vermutlich auch nicht mehr rechtzeitig blocken.“, stellte Florian fest. Konrad nickte bedrückt. „Da war es wohl am einfachsten, uns alle irgendwie von dort wegzubekommen.“ „Und deshalb bin ich auch bei dir gelandet. Du hast erkannt was er vorhatte und wie bei einem Teleport dafür gesorgt, dass Körperkontakt besteht.“, bemerkte Florian und verdrehte mit einem bedrückten Lächeln die Augen. „Gern geschehen.“, erwiderte Konrad seinen leicht frustrierten Tonfall spöttisch. Geräuschvoll atmete Florian aus. „Na wunderbar. Und da er diesen Ort nicht kennt, sind wir alle irgendwo im Nirgendwo gelandet, insofern sich der gesamte Rest überhaupt noch im Schloss befindet.“ „Carsten ist nicht dumm, er hat den Teleportationsradius sicherlich so klein wie möglich gemacht, dass wir uns alle doch näher sind als wir denken.“ Konrad drehte sich um, als er in der Ferne Schritte hörte und eine Vielzahl an neuartigen Gerüchen bemerkte. „Ich möchte mir jedoch im Traum nicht ausmalen, welchen Gefahren die anderen ausgesetzt sein könnten.“ Florian machte sich ebenfalls kampfbereit. „Zumindest können wir einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass die Oberwelt ein paar Unterweltler weniger zu befürchten hat.“ „Hm, hab seit dem Krieg kaum mehr gekämpft und selbst die Schlacht vorhin war ungewohnt anstrengend. Ich hoffe ich bin nicht zu sehr eingerostet.“ Der Elb lachte auf. „Sicher, dass du nicht eher seit deiner Verlobung mit Rina so träge geworden bist? Zum Glück bist du ein Vampir.“ Für mehr als ein empörtes „Hey!“ reichte es leider nicht mehr, da in dem Moment die Horde Unterweltler um die Ecke geschossen kam. Er und träge. Pah. Mit einem Schnauben fuhr sich Konrad durch die stacheligen, dunkelroten Haare und begrüßte ihre neuen Bekannten mit einem Meteorschauer. Kapitel 105: Ein Wettlauf gegen die Zeit ---------------------------------------- Ein Wettlauf gegen die Zeit       Reiß dich zusammen. So etwas war leichter gesagt als getan. Auch, wenn man diese Worte gegen sich selbst richtete. Sich zusammenreißen. Wenn man so darüber nachdachte… Was für eine widersprüchliche Formulierung das doch eigentlich war. Zusammen und reißen. Und doch musste er genau das tun. Dieses Mal vermutlich mehr als all die Male zuvor. Sich zusammenreißen. Jacks Körper bebte. Eine unsichtbare Macht wrang seinen Magen aus und Luft bekam er sowieso kaum. Ohne es zu bemerken legte er seine zitternde Hand auf die Lederarmschiene, die die Narben auf dem rechten Unterarm verdeckte. All die Jahre hatte er so viele Wege ausprobiert, um mit solchen Gefühlen fertig zu werden. Den Schmerz herausbluten zu lassen, die Trauer in Alkohol zu ertränken, der Realität mit Drogen zu entfliehen… Es hatte sogar geholfen, er hatte sich besser gefühlt. Zumindest in diesen Momenten. Aber eigentlich… Jack vertrieb die verschwommenen Erinnerungen an diese Zeit aus seinem Kopf und warf einen frustrierten Blick zum Schrank. Warum zum Henker hatte er auch beide Kekspackungen leer essen müssen? „Fuck, das kann doch nicht wahr sein.“, stieß Eagle verbissen aus. Er hatte mit Überraschen feststellen dürfen, dass es hier Handyempfang gab. Aber viel brachte das nicht. Zumindest schlugen die Versuche Öznur oder Carsten zu erreichen fehl, und auch Laura hatte ihr Handy allem Anschein nach ausgeschaltet oder nicht dabei. Jack biss die Zähne zusammen und richtete sich auf. Er musste sich zusammenreißen. Doch sein Körper zitterte immer noch zu stark. Er schaffte es noch nicht einmal zu stehen, ohne sich auf dem Tisch abzustützen. Verzweifelt ballte er die bebenden Hände zu Fäusten. Zwang sich erfolglos dazu, ruhig zu atmen. Langsam ein, noch langsamer aus. Zeitgleich konzentrierte er sich auf seinen Tastsinn. Spürte den Boden und alles, was damit zusammenhing. Er war nicht an diesem Ort. Er war hier, in seiner Küche des Unterweltschlosses. Niemand hatte die Absicht, ihm etwas anzutun. … Okay, so mehr oder weniger. Einer würde ihn vermutlich schon ganz gerne tot sehen. Aber das war was Anderes. Das war nicht- „Geht‘s?“, hörte er Eagle plötzlich fragen, der seinen inneren Kampf mitbekam. Jack war davon so irritiert, dass er nicht mehr als einen verwirrten Blick zu erwidern wusste. Geräuschvoll atmete der Häuptling aus und fuhr sich durch den kurzen schwarzen Haaransatz. „Ich… hab mal gehört, Händewaschen kann bei sowas hilfreich sein.“, meinte er und wies mit einer knappen Kopfbewegung auf den Wasserhahn der Spüle. Was Jack noch mehr verwirrte. Eine Verwirrung, die diesen lähmenden Panikzustand zumindest weit genug überlagern konnte, dass er es schaffte sich in Bewegung zu setzen. Als das klare, kalte Wasser über seine Hände lief, glaubte Jack tatsächlich zu merken, wie sich dieser Nebel in seinem Kopf langsam lichtete. Als könnte das Wasser einfach fortwaschen, was ihn da überwältigen wollte. Er bildete sich sogar ein, den sanften Ton von Lissis Stimme zu hören. ‚Valentin.‘ Einen Moment lang glaubte er tatsächlich, dass sie hier bei ihnen in der Küche war. Doch Jacks Tastsinn belehrte ihn eines Besseren. Stattdessen fiel sein verwirrter Blick wieder auf Eagle. Ihm war klar, dass auch der Indigoner eine fürsorgliche Seite hatte. Aber nicht gegenüber Jack. Und den Grund dafür konnte er ihm wohl kaum verübeln. Ein Hauch schlechten Gewissens kroch in ihm hoch. „Hör mal… Das mit dem Batman-Witz vorhin…“, setzte er an, „Das war echt unter aller Sau, sorry. War mir einfach so rausgerutscht.“ „Ist das dein Ernst?“ Eagle klang nicht so als würde er die Entschuldigung annehmen wollen. „Es gibt ganz andere Dinge wegen denen du dich entschuldigen solltest und du kommst ausgerechnet damit an?! Was ist mit deinem Angriff auf Carsten?! Was mit meinem Vater?!“ Jack senkte den Blick, betrachtete das nach wie vor über seine Hände fließende Wasser. ‚Denkst du sie würden dir verzeihen, wenn du dir noch nicht einmal selbst verzeihen kannst?‘ Schließlich seufzte er und drehte den Hahn zu. „Bei sowas… Als würde ein ‚Tut mir leid‘ oder ‚Ich bitte um Entschuldigung‘ dem gerecht werden können.“ Eagle schnaubte. „Es wäre zumindest mal ein Anfang.“ Dennoch schien die Aussage ihn nachdenklich zu stimmen. „Bereust du es überhaupt, meinen Vater umgebracht zu haben?“ „Ob ich es bereue?“ Gedankenverloren ließ er die Metallklauen aus der Armschiene kommen und betrachtete das silberfarbene Glänzen. Meinte, das frische Blut zu sehen, das sich vor einem Monat erst dort befunden hatte. „Schon ironisch. Dieselbe Antwort auf im Prinzip die gleiche Frage. Eigentlich müsstest du mir jetzt dein Großschwert zwischen die Rippen rammen.“ Verbissen steckte Eagle das Smartphone weg und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Wand. Nach einer Weile meinte er: „Ob sich seine Antwort nun ändern würde? Wenn er wüsste, was das eigentlich für ein Ort war?“ „Wer weiß das schon?“, entgegnete Jack und betrachtete den jungen Häuptling mit mehr Empathie, als er für möglich gehalten hätte. „Tu dir selbst einen Gefallen und befass dich nicht zu oft mit so ‚Was wäre, wenn‘-Spielchen. Glaub mir, sie machen einen mehr kaputt als dass sie helfen würden.“ Eagle knirschte mit den Zähnen. „Trotzdem, nach allem… Und gerade, wenn sogar Gerüchte im Umlauf waren. Ich hätte zu gerne gewusst, warum. Warum war er überhaupt damit einverstanden gewesen, ihn dorthin zu schicken?“ „Warum?“ Jack lächelte traurig, driftete mit den Erinnerungen automatisch zu seiner Mutter ab. „Diese Frage stellt man sich selbst dann noch, wenn man die Antwort eigentlich kennt.“ Eagle blickte überrascht auf. „Wenn du nicht gerade ein Arschloch bist, kannst du echt weise sein.“ Jack konnte sich das Lachen auf diesen Kommentar kaum verkneifen. Zeitgleich stellte er fest, dass das Zittern seines Körpers tatsächlich nachgelassen hatte. Er gab sich einen Ruck. „Dann hoffen wir mal, dass ich zumindest ein nützliches Arschloch bin.“ Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Umgebung. Weitete sein Wahrnehmungsumfeld so weit aus wie nur möglich. Und stieß einen Fluch aus. „Was ist?“, fragte Amarth, der bisher nur schweigend danebengestanden hatte. Jack schaute in die Runde. „Okay, Pest oder Cholera?“ „Solange es nicht Karystma ist…“, erwiderte Eagle, konnte das Unbehagen jedoch nicht ganz übertönen. „Das hätten wir auch im Angebot.“ Nun stieß auch Eagle einen Fluch aus. Jack spielte mit dem Piercing an seinem Ohr und überlegte, wie sie diese beschissene Situation am besten lösen und so vielen wie möglich helfen könnten. Sein Blick fiel auf den jungen Magier mit den schwarzen Haaren und braunen Augen, der nur wenige Jahre älter als er selbst aussah. „Sag mal Amarth… Kann es sein, dass du Metal magst?“ „Was hat das damit zu tun?!“, erzürnte sich Eagle direkt. Trotz der gegenwärtigen Situation lächelte der Angesprochene schwach und erwiderte auf Jacks Frage ein Nicken. Bedrückt atmete Jack aus. „Okay, dann wirst du vermutlich mit mir mitkommen wollen.“ „Was? Warum?!“ Eagle war absolut verwirrt und schien auch nicht sonderlich glücklich darüber zu sein, dass er ganz offensichtlich der Einzige war, der nicht wusste, was damit gemeint war. Ihn ignorierend schloss Jack erneut die Augen. Er hatte vorhin ohnehin schon Erd-Energie verwendet, also musste er sich jetzt auch keine Mühe mehr geben vorsichtig zu sein. In seinen Gedanken formten sich Bilder, fast so wie ein großer Lageplan. Ein großer Lageplan von einem noch größeren Schloss, wie ein riesiges Labyrinth. Als Jack die Augen wieder öffnete, befand er sich an der Wand wie ein dreidimensionales Bild. Erhebungen für die Wände, kleine Treppen die mit einem Pfeil zum nächsten Bild in die nächste Etage führten, … Und schließlich ein großes Kreuz, vier Etagen über ihnen. „Was ist das?“, fragte Eagle argwöhnisch. „Eine Wegbeschreibung.“, antwortete Jack und wies auf die gestrichelte Linie, die von der Küche bis zum Kreuz reichte. „Merks dir oder fotografiere es dir ab. Aber beeil dich lieber, ich wette die Unterweltler finden sie ziemlich lecker.“ Das Schaudern, welches Eagle durchfuhr, war nicht zu übersehen. Entsprechend stellte er auch keine weiteren Nachfragen. Jack war derweil zur Tür gegangen und winkte Amarth zu sich. „Dann sehen wir uns hoffentlich nachher.“ Mit diesen Worten verließen sie die Küche und rannten los, begleitet von einem stillen Gedanken. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.   ~*~   Als sie das entfernte Grollen hörte, verstärkte Anne ihren Griff um Susannes Schultern, die nach wie vor an sie geklammert war und leise schluchzte. Nachdem sie mit ihrer Heil-Energie hatte feststellen müssen, dass der Kratzer eine ähnliche Wirkung wie Karystma hatte, war Susanne mit ihren Nerven nun komplett am Ende. Das erdrückende Gefühl in Annes Herz verstärkte sich, als sie daran erinnert wurde wie aussichtslos ihre Situation eigentlich war. Neben der Kälte kroch Panik in ihr hoch, verstärkt durch das unangenehm kribbelnde Gefühl in ihrer linken Schulter. So gut es ging versuchte Anne es zu verdrängen und möglichst normal zu klingen, als sie sagte: „Susanne, beruhige dich. Du musst dich sofort hier raus teleportieren.“ Schwach schüttelte sie den Kopf und vergrub ihr Gesicht noch mehr in Annes Sweatshirt. Anne biss die Zähne zusammen. Nach einem kurzen Zögern riss sie Susanne schließlich von sich los. „Susi, da sind noch mehr von diesen Dingern. Du musst hier weg und Hilfe holen, bevor es zu spät ist.“ „Nein! Nein!!!“, schrie sie panisch. „Ich kann nicht weg! Ich kann dich doch hier nicht alleine lassen!“ „Susi…“, setzte Anne an, wusste aber nicht, wie sie überhaupt noch mit logischen Argumenten punkten konnte. Als sie Susannes verweintes Gesicht sah, als sie die Tränen beobachten konnte die ihr über die Wangen liefen, fielen Anne auch keine weiteren Begründungen mehr ein. Aus einem einfachen Grund. Sie wollte das gar nicht. Sie wollte überhaupt nicht, dass Susanne ging. Selbst wenn es der sinnvollere Weg war… Dieses Mal konnte Anne die Angst nicht mehr so gut zurückhalten. War es das nun für sie? War das wirklich ihr Ende? Susanne erwiderte ihren Blick, machte sich gar nicht erst die Mühe ihre aufgebrachten Gefühle zu verbergen. Sie wirkte so traurig, so furchtbar traurig. Seltsamer weise machte Anne ausgerechnet das noch mehr zu schaffen als die Befürchtung, nie wieder lebend aus dieser Höhle herauszukommen. Sie wollte Susanne nicht so sehen müssen… Abrupt wandte sie sich ab, als sie den Eindruck hatte die Kontrolle über ihre eigenen Gefühle zu verlieren. Sie ging zur Höhlenwand und ließ sich auf den erdigen Boden sinken. „Im Endeffekt bin anscheinend ich der Klotz am Bein…“, meinte Anne eher zu sich selbst, während sie in das leicht rosa strahlende Licht schaute. Jetzt so im Nachhinein konnte sie es Laura gar nicht mehr verübeln, dauernd rumgeheult zu haben als sie täglich mit dem Gedanken leben musste an ihrem Geburtstag zu sterben. Anne ballte die zitternden Hände zu Fäusten und schluckte schwer. Versuchte sich irgendwie zusammenzureißen. Sie merke, wie sich Susanne neben sie setzte und sanft eine Hand auf ihre legte. „Anne…“ Anne biss die Zähne zusammen. Reiß dich zusammen. Und dennoch begannen ihre Augen zu brennen. Das Grollen wurde lauter. Dieses Mal klang es nicht nur nach einem dieser Viecher. Wie sollten sie hier überhaupt noch lebend rauskommen?! Reiß dich zusammen! „Hast du versucht jemanden mit dem Handy anzurufen?“, fragte Anne, suchte irgendwie nach einer Lösung. „Du warst doch dabei, als ich es vorhin versucht hatte… Hier haben wir keinen Empfang.“ „Ach so…“ Bei einem Brüllen zuckte Susanne erschrocken zusammen. Auch ihr Körper begann vor Angst zu zittern. Anne hätte sie gerne ermutigt, wollte ihr irgendwie Hoffnung machen. Doch sie selbst hatte noch weniger davon übrig. „Sag mal Susi… Wenn du noch einen letzten Wunsch hättest, was wäre das?“ „Was?!“ Entsetzt wich Susanne zurück, hinterließ dadurch eine eisige Kälte auf Annes linker Seite. „Was ist das für eine Frage?!“ „Na ja…“ Anne hob ihren Arm. Ein ekelhaftes Taubheitsgefühl breitete sich bereits darin aus, sodass sie die linke Hand nur noch schwach zur Faust ballen konnte. War es so auch Carsten nach Jacks Angriff ergangen? Hatte auch er kaum mehr atmen können, als er realisieren musste wie die Kraft nach und nach seinen Körper verließ? Anne lächelte traurig. „Wenn man es so sieht macht es keinen Unterschied, ob du fliehst oder nicht. Wenn auch nur einer von uns stirbt hat Mars gewonnen.“ Wieder versuchte sie die Hand zur Faust zu ballen. So fest wie möglich. Es wirkte so schwach. „Selbst wenn wir es irgendwie hier raus schaffen… Ich glaube nicht, dass meine Kraft dann noch für das Ritual reicht.“ „Hör auf so etwas zu sagen!“, rief Susanne weinend. „Wir haben noch nicht verloren, also warum gibst du jetzt schon auf?!“ „Weil es kein Heilmittel gibt.“, erwiderte Anne. Ihre Stimme brach, sie verlor die Kontrolle über ihre Gefühle. Konnte sich nicht mehr zusammenreißen. Verbissen musste sie spüren, wie sich die Tränen aus ihren Augen stahlen. „Es gibt hier keine Zauberquelle, die wie bei Carsten alles ungeschehen macht. Ich habe keinen Dämon, der mit Finsternis-Energie sowas aufhalten kann! Das ist kein Gift, was sich neutralisieren lässt! Verdammt, selbst deine Heil-Energie heilt mich nicht!!!“ Es war nicht zu übersehen, wie Susanne mehr und mehr zu weinen begann, je lauter Annes Stimme wurde. Direkt bereute sie ihren Gefühlsausbruch. Susanne konnte schließlich nichts dafür, im Gegenteil. Sie weigerte sich sogar stur Annes Seite zu verlassen und sich selbst in Sicherheit zu bringen. Nur, um bei ihr zu sein… „Entschuldige…“, brachte Anne zitternd hervor. „Es ist nur… ich weiß nicht…“ Ein Brüllen ließ die Erde vibrieren. Doch noch mehr bebte ihr eigener Körper. Diese Angst, diese unfassbare Angst. Anne biss die Zähne zusammen, versuchte zumindest das Schluchzen zu unterdrücken, wenn sie schon die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Sie spürte, wie Susanne die Arme um sie legte. Noch ein Brüllen ertönte. „Du solltest wirklich gehen…“, meinte Anne schwach. Doch Susanne schüttelte den Kopf. „Ich will bei dir bleiben. Und sollte das tatsächlich mein letzter Wunsch sein, dann ist es ein guter.“ Ihre Worte ließen Annes Herz umso schwerer werden. Warum wollte sie bei ihr bleiben? Warum ausgerechnet bei ihr?! „Warum nicht bei Lissi? Oder… deinem Freund?“ Sie merkte, wie sich Susanne anspannte. „Mein… Freund? Miguel und ich sind nicht zusammen, falls du das denkst… Wir waren es nie.“ Verwirrt schaute Anne auf. „Nicht?“ Susanne schüttelte den Kopf. „Ich… Als Lissi und ich gestern Ninie nach Mur begleitet haben da… Danach bin ich noch einmal nach Eau. Damit… Um ihm zu sagen, dass… Dass es sich falsch anfühlt. Ich wollte zumindest ein reines Gewissen haben wenn… Falls so etwas passiert wie… wie gerade.“ Susanne senkte den Blick. „Ich hatte Angst ihn damit zu verletzen, aber er war sehr verständnisvoll. Miguel meinte, dass er es so wie ich einfach mal probieren wollte, ich aber eigentlich auch nicht sein Typ bin.“ Schwach lachte sie auf. „Er steht anscheinend eher auf so lebendige Mädchen wie Lissi und hatte wohl nicht damit gerechnet, dass unsere Persönlichkeiten so verschieden sind. Daher…“ „Aber… wieso? Ich dachte…“ Anne war absolut verwirrt, bekam sogar noch nicht einmal mit, wie nah das Brüllen inzwischen war. „Na ja… Er… war nun mal nicht der Richtige.“ Susanne warf ihr ein schwaches Lächeln zu. „Es gibt da jemand anderes… Jemand, von den anderen 50%. Ich habe nur länger gebraucht, um es zu realisieren.“ Annes Herz setzte aus. Was… Wie hatte sie… Die Luft erhitzte sich. Als die beiden Mädchen aufblickten sahen sie mehrere von diesen Maulwurfspinnen-Monstern, die mit lautem Brüllen und Schnauben bekanntmachten, dass sie sie erreicht hatten. Sie waren kleiner als das Ungetüm, was nach wie vor einige Meter entfernt von ihnen lag. Doch das machte sie nicht minder gefährlich. „Bitte Anne, gib nicht auf.“ Susanne richtete sich auf, ging einige Schritte vor. Als die ersten der Viecher zum Angriff ansetzten sprach sie einen Zauber, der sie gegen eine rosa schillernde Magiewand prallen ließ. Weitere versuchten ihr Glück, doch die Mauer hielt auch ihnen stand. „Es tut mir leid, dass du so lange warten musstest.“ Susanne schaute über die Schulter zu ihr nach hinten. Dieses liebevolle Lächeln, der verlegene Blick in ihren blaugrünen Augen als sie sich eine Strähne der gewellten schwarzen Haare aus dem Gesicht strich, umrahmt von dem leicht rosa schimmernden Licht… Anne kam nicht drum herum zu denken, dass sie wie ein Engel aussah, als Susanne schließlich meinte: „Ich liebe dich.“   ~*~   Zitternd klammerte sich Laura an Ariane, während diese ihre Umarmung verstärkte. Ein verzweifelter Versuch sich gegenseitig Mut zu machen in einer Situation, die so aussichtslos erschien. Selbst wenn Laura es vermied in diese Richtung zu schauen, hatte sie dennoch die ganzen menschlichen Körper vor Augen, die mit Ketten an der Decke befestigt waren. Splitterfasernackt, übersäht mit Blutergüssen und an der Kehle aufgeschlitzt, leere Augen die überall und nirgends hinschauten. Dabei konnte sie noch nicht mal im Fernsehen hinsehen, wenn tote Schweine in Schlachthöfen gezeigt wurden… Lauras Atem wurde wieder panischer, erneut schossen ihr Tränen in die Augen. „Laura, wir müssen irgendwie hier raus…“, meinte Ariane schwach, genauso gelähmt von der Angst. „Ansonsten erfrieren wir hier noch und…“ Sie merkte, wie Ariane sich versuchte zusammenzureißen und das Schluchzen zu unterdrücken. Ihr selbst ging es nicht anders. Es war eiskalt, ihre Körper fühlten sich bereits taub an, obwohl sie versuchten sich zumindest gegenseitig etwas Wärme zu spenden. „Aber wie?“, fragte Laura hoffnungslos eher sich selbst. Ariane seufzte. „Wir wissen nicht, wie viele Unterweltler sich gerade in der Kantine befinden und sollte es zu einem Kampf kommen…“ Sie spürte Ariane schaudern, übermannt von einer Kälte die viel stechender war als jene um sie herum. Kein Wunder. Selbst wenn gerade sie mit ihrer Licht-Energie die Macht hätte, die Unterweltler innerhalb kürzester Zeit auszulöschen… Gerade diese Macht war es, die ihr so eine Angst bereitete. Wie schon damals, als sie nach dem Angriff in Spirit länger gebraucht hatte als sie es sich anmerken ließ, um das Geschehene zu verarbeiten. Und es vermutlich immer noch nicht hatte verarbeiten können. Bedrückt stellte Laura fest, wie ähnlich sie und Carsten sich in manchen Punkten doch waren. Kopfschüttelnd versuchte sie die Bilder vor ihrem inneren Auge zu vertreiben. Irgendwie auch nach einer Lösung zu suchen. Eine Lösung, die einen Kampf vermeiden würde. Krampfhaft zerbrach sich Laura den Kopf darüber. Sie wog alle erdenklichen Möglichkeiten ab, während die Kälte ihr Gehirn einfror und das Denken nur träge lief. „Mit der Finsternis-Energie könnten wir uns gut in Schatten verbergen, sie kann wahrscheinlich auch unseren Geruch und vielleicht sogar die Geräusche absorbieren, aber…“ „Weit kommen wir damit vermutlich trotzdem nicht…“, bestätigte Ariane betrübt. Dennoch half Lauras versuchter Lösungsansatz, dass auch sie sich etwas beruhigen und nachdenken konnte. „Wir müssten schon ganz unsichtbar werden können, um da unbemerkt rauszukommen.“ Laura blinzelte. „Ganz… unsichtbar? Vielleicht… vielleicht können wir das wirklich.“ Ihre Gedanken rasten. Licht und Finsternis, Absorption und Reflexion, Yin und Yang, Gut und Böse, … Das alles… Diese Gegensätze… „… Was?“ Verwirrt erwiderte Ariane ihren Blick. Je mehr Laura darüber nachdachte, desto überzeugter wurde sie. „Nane, das könnte wirklich klappen! Überleg mal, Licht und Finsternis waren schon immer die absoluten Gegensätze. Ohne das eine, kann das andere nicht existieren!“, erklärte sie erregt. „Was würde also passieren, wenn sie aufeinandertreffen und sich überlagern? Was würde übrigbleiben?!“ Auch Ariane begann zu verstehen. „Nichts… Sie müssten sich eigentlich im Nichts auflösen.“ „Das ist es!“ Aufgeregt packte Laura Ariane an den Schultern. „Wenn wir Licht und Finsternis in der gleichen Menge um uns herum freisetzen, müssten wir einfach verschwinden können! Wir wären unsichtbar, niemand würde uns bemerken! Vermutlich noch nicht einmal Mars!“ Sie merkte, wie auch in Arianes Augen die Hoffnung aufkeimte. Dennoch ließen sich die Zweifel nicht besiegen. „Aber dafür müssten wir uns perfekt abstimmen. Niemand kann seine Energie so gut kontrollieren… Oder hat so ein genaues Gespür dafür.“ „Nane… Benni hat sowas doch damals täglich mit mir trainiert. Und Leo hatte mir im Prinzip nie eine Pause gegönnt.“ Es war ein eigenartiges Gefühl, was in Laura hochkam. Sie fühlte sich noch nicht einmal beschwingt, sondern eher ruhig, als diese Sicherheit und Zuversicht sich ausbreiteten. Eine Überzeugung, die sie nie für möglich gehalten hätte. „Ich kann das.“ Es schien dieses für Laura so untypische Selbstvertrauen, was auch Arianes Optimismus wiedererweckte. „Wenn wir es nicht ausprobieren und noch länger auf Hilfe hoffen, wird es vermutlich sowieso zu spät sein.“ Laura nickte und warf einen Blick auf einen der Tische. „Okay, dann sollten wir vielleicht ein bisschen auf uns aufmerksam machen.“ Die Aufregung nahm zu. Als Laura sich aufrichtete und zu einem Tisch rüberging, versuchte sie dabei so gut wie möglich nicht nach rechts zu schauen. Sie warf einen prüfenden Blick zurück, sah, wie sich Ariane neben der Tür bereit machte. Laura atmete tief durch, trotz der Kälte waren ihre Hände schweißnass, als sie den Tisch packte. Und ihn mit ohrenbetäubendem Lärm umwarf. „Was war das?!“, konnten sie eine Stimme von außen hören. Schnell eilte Laura zurück zu Ariane und nahm ihre Hand, die sie direkt in Licht-Energie hüllte. Kaum spürte Laura dies, setzte sie auch ihre Finsternis-Energie frei. Da ging die Tür auf. Der Atem der Mädchen beschleunigte sich, als ein Werwolf den Tiefkühlraum betrat und sich umschaute. Erfolglos versuchten sie ihre Angst zu unterdrücken, irgendwie leise zu sein. Doch anscheinend hörte er sie gar nicht. „Komisch.“, grollte der Werwolf, ließ seinen Blick erneut durch den Raum schweifen. Aber es waren nicht die beiden Mädchen, die direkt neben ihm kauerten und beteten. Es war der Tisch, der ihm letztlich ins Auge fiel. Irritiert ging der Werwolf zu dem umgestürzten Tisch rüber. Lauras und Arianes Händedruck verstärkte sich. Und sie huschten nach außen. Den Mädchen blieb die Luft weg, ein schauriges Entsetzen fuhr durch ihre Körper, als sie sich in der Küche wiederfanden. Gerade rechtzeitig zog Ariane Laura aus ihrer Starre, weg von der Tür, als der Werwolf hinter ihnen den Raum wieder verließ. „Erst dieser Kampflärm einige Stockwerke weiter unten und jetzt das. So langsam wird’s mir mulmig.“, grummelte er, an einen der Zombies gewandt. Vorsichtig schlichen die beiden Mädchen an der Wand entlang. Obwohl sie sich immer sicherer waren, dass sie tatsächlich unentdeckt blieben, nahm das Grauen in ihrer Brust zu. Die Gewissheit, was das für eine Küche war, die sie da durchquerten. Dass sie genauso enden könnten wie diese Menschen im benachbarten Raum, wenn man sie bemerkte… Laura schluckte schwer, versuchte sich ganz darauf zu konzentrieren Arianes Licht-Energie perfekt zu kompensieren, während Nane sie den Weg entlang lotste, darauf bedacht, nicht versehentlich gegen irgendetwas oder -jemanden zu stoßen. Selbst wenn sie tatsächlich unsichtbar waren… Dieses Risiko wagten sie nicht einzugehen. „Hör auf zu maulen und geh zurück an die Arbeit.“, krächzte der Zombie genervt. „Der Boss hat alles unter Kontrolle, wirst schon sehen.“ Der Werwolf knurrte. „Wie könnt ihr das behaupten, wenn Phil noch nicht mal beim Küchendienst auftaucht, genau nachdem er Wachdienst hatte?“ „Wagst du es gerade, Mars infrage zu stellen?“ Bei der erbarmungslosen Stimme des Vampirs zuckten Laura und Ariane zusammen. Die Anspannung war kaum auszuhalten. Sie gingen weiter zur offenen Tür. Nur noch wenige Meter. Fast, sie hatten es fast geschafft. „Ich denke. Mehr nicht.“, erwiderte der Werwolf verärgert. Der Vampir kam bedrohlich direkt auf die beiden zu. Wie angewurzelt blieben Laura und Ariane stehen. Als er die Tür vor ihrer Nase zuschlug. Gefangen in ihrer Panik schaffte es Laura für einen kurzen Moment nicht, Arianes Licht-Energie komplett auszugleichen. Es war nur ganz kurz, Laura hatte sich direkt wieder fangen können. Und doch schaute der Vampir genau in ihre Richtung. Nicht nur das, er schaute sie an! Als könnte er sehen, was sich hinter dem Vorhang an Energie verbarg. Laura und Ariane hielten die Luft an. Doch so laut wie ihre Herzen pochten, machte das keinen Unterschied. Sie wagten es nicht zu blinzeln. Sie konnten sich nur mit vor Angst und Entsetzen geweiteten Augen darauf konzentrieren, ihre Energie aufrecht zu erhalten, während sie wie erstarrt den Blick des Vampirs erwiderten. Bis er sich wieder abwandte und zurückging. Die beiden Mädchen atmeten auf, merkten erst jetzt, wie sehr ihre Körper zitterten. Vermutlich hatte er nur ein schwaches Schimmern gesehen. Ein kurzer, leuchtender Schein zweier Mädchen, durchsichtig, mehr Fata Morgana als Realität. Der Vampir trat zum Werwolf, seine Stimme klang unnachgiebig hart, als er meinte: „Du weißt was mit dir passiert, wenn Mars erfährt, dass du Zweifel geäußert hast.“ Der Werwolf erwiderte ein Knurren, die Blicke die sie austauschten luden sich immer weiter auf. Und plötzlich schlug der Vampir ihm den Kopf ab. Laura versuchte das Kreischen mit ihrer Hand einzudämmen. Beim Zurückweichen stießen die Mädchen mit dem Rücken gegen die Wand, als der Kopf zu ihnen rüber rollte und der Werwolf sie mit leblosen Augen anschaute als könne er sie sehen. Und man konnte sie sehen. „Wer seid ihr?!“, rief ein Zombie krächzend. Ein Ruck fuhr durch Laura, als Ariane sie zur Tür zog und diese öffnete. „Schnell!“ „Bleibt stehen!“, schrie jemand hinter ihnen. Sofort setzte Laura auch ihre Finsternis-Energie frei, als sie Arianes Licht bemerkte. „Hier geblieben!“ Die Unterweltler eilten ihnen hinterher aus der Küche. Laura traute sich gar nicht zurück zu schauen, wollte gar nicht wissen, ob sie wirklich verfolgt wurden. Sie konzentrierte sich angestrengt auf ihre Energie, musste die Augen zusammenkneifen, um sich von ihrer Umgebung nicht zu sehr abzulenken. Sie machte sich keine Gedanken darüber, worauf und auf welche Hindernisse Ariane achten musste, während sie sie durch den großen Speisesaal des Unterweltschlosses zerrte. Sie ließ sich einfach blind von ihr leiten. Bloß nicht ablenken lassen. Plötzlich stieß Laura gegen etwas Großes, Weiches, was einen überraschten Laut von sich gab. „Was war das?“ Dieses Mal konnte sie den Schleier aufrechterhalten. Als Laura es endlich wieder wagte die Augen zu öffnen, hatten sie gerade erst den Ausgang des riesigen Raumes erreicht. „Leute, wir brauchen eure Hilfe!!! Da sind-“ Gerade als Laura und Ariane um die Ecke nach außen preschen wollten, stießen sie mit voller Wucht gegen einen Zombie. Ein Schmerzenslaut drang aus Lauras Kehle, als sie zu Boden stürzte und dabei den Griff um Arianes Hand verlor. „Da sind sie! Schnappt sie euch!!!“, hallte die Stimme des Vampirs durch den Raum. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf sie. Stolpernd mühte sich Laura auf die Beine, wurde teils von Ariane hochgezerrt. „Lasst sie nicht entkommen!“ Sofort wurde eine Flut an Magieangriffen auf sie losgelassen, die Laura mit einer Barriere aus Finsternis absorbierte. Die zweite Welle traf auf eine weiße Wand, welche alle Angriffe zurückschleuderte. Aus dem ganzen Durcheinander konnten nur Schmerzensschreie und Jaulen herausgehört werden, als Laura und Ariane ihnen bereits den Rücken zukehrten und den Gang runter rannten. Wieder nahmen sie sich an den Händen und setzten sie ihre Energien frei, um unsichtbar zu werden. Die Angst entdeckt zu werden war zu groß. Und wuchs ins erneut ins Unermessliche, als sich nach einer geraumen Weile vor ihnen Kampfgeräusche breitmachten. Verunsichert blieb Laura stehen, der Schock der letzten Minuten saß immer noch tief in ihren Knochen. Doch Ariane zog sie weiter. „Komm, wenn es einen Kampf gibt heißt das, dass eine Seite auf unserer sein muss!“ Als auch Laura dies verstand, beschleunigte sie ebenfalls ihre Schritte. Wagte sich, einen Funken Hoffnung zu erlauben. Vielleicht waren das ja Carsten und Eagle, oder Ninie und- Erschrocken warfen sich die Mädchen zu Boden, als ein Angriffszauber sie fast erwischt hätte. Vermutlich ein Querschläger. Schnell ließen sie ihre Energien verschwinden, bevor jemand aus ihrer Gruppe sie versehentlich verletzte. Schwer atmend blickte Laura auf, suchte zwischen den ganzen Unterweltlern nach irgendeinem vertrauten Gesicht. Doch was sie bekam, war eine vertraute Stimme. „Laura?“ Erschrocken wandte sich um, stieß beim Zurückweichen gegen die Wand. Er kam zu ihnen rüber, blockte fast schon nebensächlich einen Angriff und brachte den Vampir zu Fall, der glaubte das Überraschungsmoment nutzen zu können. Sowohl im blutroten als auch im nachtschwarzen Auge konnte sie deutliche Verwunderung sehen als Benni fragte: „Was macht ihr hier?“ Weder von Laura noch von Ariane bekam er eine Antwort, sie beide konnten ihn nur entgeistert anstarren. Irgendetwas an ihm wirkte anders, doch Laura vermochte nicht zu sagen, was es war. Denn es war Benni. Viel zu sehr ergriff diese Gewissheit von ihr besitz. Das war Benni! Nicht Mars, der seinen Körper kontrollierte. Nicht ein Gestaltwandler, der ihn nachzuahmen versuchte. Nein, das war ihr Benni, den sie so lange nicht mehr gesehen und so sehnlichst vermisst hatte. Den sie so sehr liebte. Tränen schossen in Lauras Augen, als sie sich mehr und mehr dessen bewusst wurde. Als sie stärker und stärker realisierte, dass sie ihn wiederhatte. Dass er endlich wieder bei ihr war. Endlich wieder. Benni rief irgendjemandem in dem Chaos des Kampfes etwas auf Japanisch zu, was Laura noch nicht einmal wahrnahm. Dann wandte er sich wieder an die beiden. „Los kommt, hier ist es zu gefährlich.“ Ohne es weiter zu hinterfragen, folgte Laura ihm um die nächstbeste Ecke, weg vom Kampf. Ebenso Ariane, wenn auch begleitet von deutlichem Zögern und Misstrauen. Als sie in Deckung waren, wandte sich Benni wieder ihnen zu. „Wieso seid ihr hier, ihr solltet-“ Laura konnte die Tränen nicht länger unterdrücken. Sie überraschte Benni wohl so sehr mit ihrer Umarmung, dass er etwas zurückstolperte, während Laura schluchzend irgendwelche unverständlichen Dinge von sich gab, nur weil sie ihm irgendwie mitteilen wollte wie sehr er ihr gefehlt hatte. Benni schien zu realisieren, dass er vorerst wohl keine Antworten bekommen würde. Laura merkte, wie er kurz zögerte. Und dann endlich, endlich, erwiderte er die Umarmung. Ihr Griff wurde fester, das Schluchzen stärker, als sich all die vergangenen Monate ohne ihn in Luft auflösten. Als sie plötzlich gar nicht mehr so lang erschienen, wie es Laura all die Zeit vorgekommen war. Fast so, wie als wäre Benni nur wenige Tage, höchstens ein paar Wochen weg gewesen. Und jetzt war er wieder da. Jetzt war er endlich wieder bei ihr, hielt sie endlich wieder seinen Armen. „Laura…“, setzte Benni an. Er hatte so eine schöne, sanfte Stimme. Die Freude darüber sie endlich wieder hören zu können sorgte nur dafür, dass noch weitere Tränen aus ihr heraussprudelten. „Du bist eiskalt, was ist passiert?“, fragte er ruhig. Laura schaffte es nicht zu antworten. Bei der Erinnerung an diesen unheimlichen Ort fröstelte es sie umso mehr, und doch wirkte es halb so schlimm. Schließlich war Benni wieder da. Da sie selbst bei der ganzen Flut an Emotionen es nicht schaffte zu antworten, übernahm schließlich Ariane das Wort. „Wir… wir sind im Tiefkühlraum der Kantine gewesen…“ Man merkte, wie Benni die beiden im Stillen fragte wie sie da bitteschön landen konnten. Doch statt diese Frage auszusprechen, spürte Laura wie er ihr durch die Haare strich und Feuer-Energie freisetzte. Sofort wurde ihr deutlich wärmer und auch in ihrem Inneren schwand die Kälte und ein wohliges Gefühl der Geborgenheit breitete sich aus. So angenehm, dass alle Anspannung von ihr abfiel und sie hier und jetzt in Bennis Armen einschlafen könnte. Sie merkte, wie Benni auch Ariane mit der Feuer-Energie aufwärmte, die ebenso am ganzen Leib geschlottert hatte. Hinter ihnen zischte ein Angriff vorbei, sodass Laura erschrocken zusammenzuckte. Benni führte sie noch mehr Meter vom Kampf weg um die nächste Ecke, wobei Laura seine Fähigkeit zu Laufen etwas behinderte, weil sie ihn einfach nicht loslassen konnte und wollte. Als er sie in Sicherheit wog, setzte sich Benni auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand, wo er die Arme um Laura legte. Während diese sich nach wie vor an ihn klammerte und einfach nur seine Anwesenheit in sich aufsog. Immer noch am Verarbeiten, dass er endlich wieder bei ihr war. Benni wandte sich an Ariane. „Was ist vorgefallen?“ „Woher wissen wir, dass es wirklich du bist?“ Zwar konnte Laura Arianes kritischen Ton deutlich heraushören, doch sie war immer noch viel zu sehr damit beschäftigt, sich an Benni zu kuscheln, um sich darüber jetzt aufregen zu wollen. Benni seufzte. „Soll ich jetzt alle Kindheitshelden durchgehen?“ Ariane lachte auf und setzte sich ihm gegenüber. „Nicht nötig.“ Während Laura weiterhin ihr Gesicht in Bennis Brust vergrub und sich ganz langsam wieder beruhigen konnte, erklärte Ariane ihm die gesamte Situation. Der Kampflärm war weiterhin im Hintergrund zu hören, bis Ariane schloss mit: „Aber wir hätten nicht gedacht, ausgerechnet dich hier zu treffen.“ „Als Jack meinte ihr wollt zu Mars, haben wir hier oben versucht die Aufmerksamkeit auf uns zu richten und für eine Ablenkung zu sorgen, damit euer Weg frei ist.“ Bennis Griff um Lauras Schultern verstärkte sich. „Aber mit diesem Gestaltwandler hatte offensichtlich keiner gerechnet.“ „Ich hoffe, die anderen sind okay…“ Ariane seufzte, doch als sie aufblickte, lächelte sie Benni an. „Aber ich bin froh, dass es immerhin dir gut geht.“ Sie wollte ihm auf die Schulter klopfen, musste aber mit Schreck feststellen, dass ihre Hand durch seinen Körper hindurchglitt wie durch Luft. „Was zum-!“ Schockiert wich Ariane zurück. Auch Laura blickte verwirrt auf. Hä? Sie konnte Benni doch berühren also was… „Weil es nicht mein Körper ist.“, erklärte er, was die Verwirrung der Mädchen nicht minderte. „Im Prinzip musste ich mich davon lösen, um euch helfen zu können.“ Das half ihnen auch nicht, die Sache besser zu verstehen. Da sagte eine weibliche Stimme plötzlich: „Ihr müsst seinen Geist, also die Seele berühren wollen. Nicht den Körper.“ Umso irritierter blickten sie auf, in die grauen Augen einer jungen Frau, deren Lippen sich zu einem Lächeln formten als sie ergänzte: „Deshalb ist es Laura direkt gelungen, dir aber nicht, Ariane.“ „M-moment…“ Die Rädchen in Lauras Kopf drehten sich, als sie die langen silbernen Haare und den roten Kimono sah. „Eufelia-Sensei?!“ Bennis und Carstens frühere Lehrmeisterin lächelte lediglich, während Laura komplett verwirrt herumdruckste. „Aber was… Wie… Wieso… Sie müssten… Und warum sehen Sie so… ähm…“ „So jung aus?“, erklang eine lachende männliche Stimme. Noch verwirrter bemerkte Laura den jungen Mann mit den weinroten, längeren Haaren, der sich ebenfalls zu ihnen gesellte. Der Kampflärm schien inzwischen verklungen. „Wir können unser Aussehen, also das Alter, zwar mit unserer Willenskraft beeinflussen aber für gewöhnlich nehmen Geister jene Gestalt an, in welcher sie am meisten geprägt wurden. An unseren Kampf gegen Mars kommt da natürlich nichts so leicht heran, weshalb wir deutlich jünger aussehen als zum Zeitpunkt unseres Todes.“, erklärte er. Lauras Gedanken überschlugen sich noch mehr. Könnte es sein, dass… War das vielleicht… Leonhard? Der Leonhard? Erneut lachte er auf und schaute Benni an. „Das ist deine Freundin? Was für eine Süße! Eufelia hat recht, ihr passt wirklich gut zusammen.“ Lauras Kopf nahm direkt einen tiefen Tomatenton an und als auch noch Eufelia mit einem verstohlenen Lächeln die Augen verdrehte, vergrub sie ihr kochendes Gesicht schnell wieder in Bennis T-Shirt. „Moment… Geister?“, fragte Ariane irritiert, die sich gedanklich noch mit anderen Dingen außer Benni beschäftigen konnte. „Wart ihr diese Stimmen, von denen Jack erzählt hatte?“ „Denkst du, wir sitzen die ganze Zeit da rum und schweigen uns an?“, hörte Laura eine weitere Person sagen. Es war seltsam, wie vertraut ihr diese Stimme erschien. Als sie irritiert wieder hochschaute, konnte sie ihren Augen kaum trauen. Laura meinte in einen Spiegel zu blicken, nur, dass ihr Gegenüber in einem eleganten grünen Kimono gekleidet war und die Haare leichte Wellen hatten. Ihr Herz zog sich zusammen. Kaum erst hatte sie die Flut an Gefühlen vom Wiedersehen mit Benni verarbeitet, schossen ihr erneut die Tränen in die Augen, als sie mit schwacher Stimme fragte: „Lu… cia?“ Lauras Zwillingsschwester lächelte lediglich traurig, als sie sich zu ihr kniete und ihr zögernd eine Hand auf die Wange legte, in der Angst Laura doch nicht berühren zu können. Doch Laura spürte diese Wärme. Eine lang vergessene Wärme, bei der sie sofort wieder in Tränen ausbrach, während Lucia sie vorsichtig in die Arme nahm. Als sie sogar noch eine Hand auf ihrer Schulter spürte, musste Laura gar nicht erst aufblicken, um zu wissen zu wem sie gehörte. Diese geballte Ladung an Gefühlen überforderte Laura vollkommen. Sie konnte nicht sagen, ob es nun absolute Glückseligkeit oder grenzenlose Trauer war, die ihr Herz schmerzen und gleichzeitig schwerelos erscheinen ließ. Ob sie nun lachen oder weinen sollte. Deshalb tat Laura beides, ließ irgendwie alle Emotionen gleichzeitig raus, während sie sich an ihre Geschwister klammerte und nach wie vor auch noch Bennis Hand auf ihrem Rücken hatte.   ~*~   Mit einem lang gezogenen Stöhnen richtete sich Lissi von diesem schäbigen Holzbett auf und streckte sich. „Ach Maaann! Wenn man sich verliert lautet die goldene Regel zwar warten bevor man dauernd aneinander vorbeirennt, aber ich will nicht mehr!“ Sie ging zu Ninie rüber, die bei der nach wie vor bewusstlosen Tatjana kniete. Die süße Blondine seufzte. „Sie wacht einfach nicht auf…“ „Nicht überraschend, schließlich hat sie uns vor dem letzten Zauber beschützt.“, entgegnete Lissi und setzte sich dazu. Janine senkte den Blick. „Ich wünschte, ich wäre besser in der defensiven Magie.“ „Man wünscht sich viel, wenn der Tag lang ist.“ „Stimmt wohl…“ Ninie seufzte. „Was denkst du, wer war sie früher?“ „Wer weiß.“, antwortete Lissi lediglich und betrachtete Tatjana. Vermutlich hatte Janine sogar insgeheim diese Vermutung. Wahrscheinlich hoffte sie, dass Lissi es bestätigen würde. Da gab Tatjana einen schwachen Laut von sich und öffnete träge die Augen. „Wo…“ „Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Janine und half ihr vorsichtig beim Aufrichten. Die Schützin betrachtete ihre Umgebung und strich sich dabei eine der blau gefärbten Strähnen hinters Ohr. „Schick hier, nicht wahr?“, kommentierte Lissi, als plötzlich ihr Handy zu vibrieren begann. Also gab es doch Empfang! Ihr Versuch Susi anzurufen war zuvor kläglich gescheitert, doch dafür hob Lissi umso begeisterter ab, als sie erkannte, dass die Nummer unterdrückt war. „Jackie-Chaaaaan! Wie geht’s dir?“ „Deutlich besser als manch‘ anderen zumindest.“, antwortete er. Seinem beschleunigten Atem nach zu urteilen war er am Rennen. „Ich beschreib dir jetzt ‘nen Weg zu dem Ort, an dem wir uns treffen werden, okay?“ „Okay.“ Schweigend lauschte Lissi seiner Wegbeschreibung, prägte sich alles so gut ein wie sie konnte. Jacks ernste aber gehetzte Stimme gefiel ihr ganz und gar nicht. Und noch weniger, dass er ausgerechnet sie anrief, um ihr einen Weg in die unteren Etagen des Schlosses zu beschreiben, wo sich die meisten jener Geheimgänge befanden. Bei seinem „Bis gleich“ hatte sich Lissi bereits aufgerichtet und Tatjana auf die Beine geholfen. „Los, wir sollten keine Zeit verlieren.“ Ohne weitere Nachfragen zu stellen folgten die beiden ihr, raus aus dem Kerker, in den mit Kerzen bestickten Gang nach links. Während Lissi sie um eine Abzweigung nach der nächsten führte, bis sie bei der ersten Treppe angekommen waren und diese heruntereilten, kam ihr der Gedanke wie gut es war, dass sie bis zu Jacks Anruf gewartet hatten. Denn Lissi hätte eher den Weg zurück gesucht, welcher vermutlich nach oben geführt hätte. „Hat er genaueres gesagt?“, erkundigte sich Tatjana. „Nein, aber ich hoffe, dass ihr wirklich so gut darin seid diese Monster zu bekämpfen, wie Florian behauptet hat.“ „Du meinst…“, setzte Janine atemlos an, als einzige Magierin kaum dazu in der Lage mit ihnen Schritt zu halten, sodass sie sie eher ausbremste. Lissi nickte. Sie und Tatjana tauschten einen kurzen Blick aus, dann blieben sie stehen. Tatjana streckte die Arme nach hinten. „Komm, ansonsten wirst du nachher viel zu erschöpft für den Kampf sein.“ Es war nicht übersehbar, wie unangenehm es Janine war, dieses Angebot anzunehmen. Als wäre es nicht genug, dass sie ohnehin schon so furchtbar schüchtern war. Dann auch noch…   „Schwester Vitoria, wie meinst du das, dass sie…“ Mit vor Entsetzen geweiteten Augen schaute Janine die Leiterin ihres ehemaligen Waisenhauses an. Die ältere Frau mit der schwarzen Kutte senkte bedrückt den Blick. „Es tut mir leid, meine Liebe. Ich weiß, all die Zeit im Glauben gelebt zu haben es wäre das Karystma gewesen und nun so etwas zu erfahren…“ Sanft legte Susi eine Hand auf die von Ninie, als sie zu zittern begann. Der Schock von der Erzählung der Schwester war ihr deutlich anzusehen, beinahe sogar spürbar. Kein Wunder, dass Jackie-Chan direkt das Waisenhaus vorgeschlagen hatte, als es darum ging Kontakt zu den Rebellen aufzunehmen. Wenn er wusste, dass sowohl ihre leibliche als auch die Ziehfamilie Rebellen gewesen sind… Aber dass diese liebe, unschuldig scheinende Nonne die Anführerin der Rebellen war, damit hätte wohl selbst er nicht gerechnet. So unter dem Deckmantel der Kirche zu agieren… Nicht schlecht Omi, nicht schlecht. „Und sie wurden wirklich alle… hingerichtet?“ Janines Frage war kaum mehr als ein Flüstern. Ihre Stimme zitterte, sie schien kurz davor in Tränen auszubrechen. „Nach unserem Kenntnisstand, leider ja.“ Sanft nahm Susi Ninie in die Arme, als sie zu schluchzen anfing.   Lissi vermied den Seitenblick zu Tatjana und lotste sie die nächste Treppe hinunter. Eigentlich war sie sich seit dem Moment sicher gewesen, als Tatjana gemeinsam mit Ria und Amarth das Zimmer betreten hatte. Das Aussehen, Gestik und Mimik und auch der Altersunterschied, alles passte perfekt. Offensichtlich hatte es neben Janine also eine weitere geschafft, das System auszutricksen und ihm zu entkommen. Kurz nach den dreien kamen auch Jackie-Chan und Amarth am vereinbarten Zielort an. Als Jack sofort und ohne Worte die Wand zum Einsturz brachte und einen dunklen, steinigen Gang freigab, wurde auch dem Rest bewusst, wie ernst die Situation tatsächlich war. So schnell wie möglich folgten sie ihm in die dunkle Höhle, welche kurz darauf nur von einem gelblichen Licht durch Janine erhellt wurde. Lissi betrachtete die unebenen steinernen Wände, die Unruhe nahm zu. Besonders, als sie meinte einen unangenehmen Geruch wahrzunehmen, der stärker und stärker wurde, je tiefer sie vordrangen. Die Angst und Sorge schnürte ihr die Kehle zu. „Jack, wer…“ Jack sagte nichts dazu, erwiderte ihren Blick nur kurz. Mehr Antwort bekam sie nicht und mehr brauchte sie auch nicht. Lissi biss die Zähne zusammen. Als sie das schwache rosa Leuchten hinter einer Ecke sah, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. „SUSI!!!“, schrie sie aus voller Kehle, bekam aber nur schauerliches Gebrüll und Gekreische als Antwort, was alles andere als menschlich klang. Auch Jack fletschte die Zähne, doch bevor er etwas machen konnte hielt Amarth ihn zurück. „Spart euch eure Kräfte.“ Mit diesen Worten schickte er zuckende Magieblitze in einem dunklen blau los, die kurz darauf für Explosionen und noch mehr Gebrüll sorgten. Die Wesen hatten sie wohl nun endlich bemerkt und wenig später tauchten einige von ihnen in ihrem Sichtfeld auf. Ein Schauder überkam Lissi als sie diese eigenartigen Kreaturen erblickte, die eine Mischung aus Maulwurf und Spinne zu sein schienen. Tatjana stellte sich vor die beiden Mädchen und schoss auf die ersten, die allesamt zu Boden gingen. „Seid wachsam! Wo die sind kann das Muttertier nicht weit sein!“ „Das scheint schon besiegt.“, erwiderte Jack. „Besiegt?!“, fragte Amarth ungläubig und sprengte weitere dieser Dinger mit einer ohrenbetäubenden Magieexplosion. Auch in Tatjana und dem Rest stieg Unbehagen auf. „Ist… jemand verletzt?“ Jack biss die Zähne zusammen. Und nickte. Der Schock dieser Erkenntnis ließ ausnahmslos jeden für einen Moment erstarren. Diese ekelerregenden Monster schienen sich vielleicht sogar schon ihres Sieges sicher gewesen zu sein. Doch dann fanden sie sich in der reinsten Hölle wieder. Sowohl Amarth als auch Janine machten diesen Wesen klar, was die wahre Bedeutung von Kampfmagie war. Und die, die den Zaubern durch Glück entkamen, hatten kurz darauf schon eine Kugel im Leib. Lissis gesamter Körper war angespannt, sie ballte die zitternde Hand zur Faust, Tränen machten ihre Sicht undeutlich. Doch bevor sie in Angst und Zorn dazu kam all dies in einer Welle zu entladen, spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Kaum merklich schüttelte Jack den Kopf. Obwohl das Lissi eigentlich beruhigen müsste, zog sich ihr Magen immer weiter zusammen. Selbst wenn es nicht Susi war… Es waren viele dieser Kreaturen. Extrem viele. Doch die meisten fielen den beiden Magiern zum Opfer, sodass es für Lissi und Jack unnötig war sich in Gefahr zu begeben, um sie zu unterstützen. Die Grabesstille die danach einkehrte war umso schauriger. Und als sie an den ganzen toten Körpern vorbeiliefen, die Amarth mit einem Zauber an den Rand geschoben hatte, begann Lissi automatisch zu zittern. Besonders, als ihr die glänzenden Klingen an den acht Innenbeinen dieser Biester ins Auge fielen. Als sie endlich die rosa Lichtquelle ausmachen konnten, beschleunigten sich ihre Schritte und Lissi rannte schon fast, sodass sich die schimmernde Magiewand genau dann auflöste, als sie sie erreicht hatte. „Susi!“ Ihr entwich der Atem als sie ihre Schwester sah, wie sie gekrümmt und tränenüberströmt dasaß. „Bitte nicht…“, brachte Janine schwach hervor. Innerhalb eines Wimpernschlags waren sie bei ihr. „Ich… ich habe alles versucht, wirklich!“, brachte Susanne schluchzend hervor und strich Anne einige hellbraune Strähnen aus der verschwitzten Stirn. Ihr Gesicht war gerade unter diesen Lichtverhältnissen beängstigend blass und der rasselnde Atem klang überhaupt nicht beruhigend. „Ich hatte sogar versucht, die Verletzung mit meiner Heil-Energie zu übernehmen, aber… aber irgendwie geht es nicht und…“ Bei Susannes heftigem Schluchzen brach Lissi das Herz. Vorsichtig kniete sie sich hinter ihre Zwillingsschwester und umarmte sie, während sie Annes vor Schmerz verzerrtes Gesicht wütend und unter Tränen anschaute. Du dumme Kuh, da siehst du, was du angestellt hast! Wenn dir meine Schwester schon ihr Herz schenkt, dann mach sie gefälligst auch glücklich!!! Auch Janine hatte sich zu ihnen gekniet, doch bei ihrem verzweifelten Blick stand fest, dass es tatsächlich kein Gift war, was sie neutralisieren könnte. „Das ist wie Karystma…“, erklärte Tatjana bedrückt. „Nur, dass es nach und nach den gesamten Körper zu zerstören droht und nicht nur ein spezielles Organ.“ „Aber…“, setzte Susanne schluchzend an. Ihr Körper bebte und es besserte sich auch nicht, als Janine eine Hand auf ihre Schulter legte. Auch ihr rannen die Tränen übers Gesicht. Amarth kniete sich neben Ninie. „Vielleicht verhindert der Dämon, dass du die Verletzung übernehmen kannst.“ Entgeistert schaute Susanne ihn an. „Aber wie- wieso?!“ „Sich solche Fragen bei einem Dämon zu stellen bringt dich nicht weiter.“, meinte Jack lediglich. „Antworten wird er dir eh nie.“ Vorsichtig berührte Amarth die Stelle an Annes linkem Schulterbereich, an der das Sweatshirt einen kleinen Riss hatte. Es wirkte so harmlos und doch… „Versuche es mal.“, forderte er Susanne auf, die ihm einen entgeisterten Blick zuwarf. „Was? Aber…“ „Hier ist eine Magiebarriere. Wenn wir jetzt erst versuchen einen von Mars‘ Unterweltlern zu bekommen, ist es sehr wahrscheinlich schon zu spät.“, erklärte er so ruhig, sodass man kaum glauben konnte, dass er gerade begründete, warum er sich selbst opfern sollte. „Amarth, du…“, setzte Tatjana an, wusste ihm aber auch nicht zu widersprechen. Lissi wurde das Herz schwer, als sie sah mit wie viel Zuneigung, um nicht zu sagen Liebe, diese braunen Augen Anne betrachteten. Und noch mehr, als sie bei einem leisen dryadischen Satz zu einem dunklen Blau wurden. Der Körper veränderte sich, das Gesicht wurde älter. Deutlich älter. Die pechschwarzen Haare grauten aus, ebenso der Vollbart. Nur die dunkle, ledrige Haut war noch genauso wie zuvor. „Eine neue Identität anzunehmen, um einfach mit der Vergangenheit abschließen zu können… Schön wäre es, wenn es so leicht wäre. Aber wem erzähle ich das.“ Traurig lachte er auf und wandte sich an Jack. „Danke, dass du mich mitgenommen hast, Valentin. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.“ Bedrückt wich Jack seinem Blick aus. „Du bist nicht schuld daran, was passiert ist.“ „Ich weiß. Aber dennoch trage ich die Verantwortung dafür.“ So wie Susanne die Luft einsog, hatte auch sie nun verstanden, wer Amarth in Wahrheit war. Mit einem schwachen Lächeln schaute er sie an, welches mehr an Anne erinnerte als ihnen lieb war. „Würdest du mir diesen Gefallen tun?“ Susanne senkte den Blick, doch eigentlich stand die Antwort ohnehin schon fest. Ihre Hand bebte noch stärker als zuvor, als sie noch einmal über Annes Gesicht strich und sie dann über Amarths Herz legte. Zitternd atmete Susanne durch. Ein strahlendes rosa Leuchten blendete sie alle, sodass Lissi die Augen davor verschließen musste. Obwohl es nach wie vor diese heilende Wärme verströmte, hatte es auch gleichzeitig irgendetwas Trauriges, Endgültiges. Und hinterließ eine erdrückende Leere, als es verschwand. Lissi biss sich auf die Unterlippe, kämpfte erfolglos gegen die Tränen an und doch gelang es ihr deutlich besser als Janine oder gar Susanne selbst, die ihre Hand sinken ließ und sich schluchzend über Anne beugte. „Danke…“, brachte sie schwach über die Lippen. „Ich habe zu danken.“ Amarth wuschelte ihr über den Kopf und strich Anne nach einem kurzen Zögern über die Wange. Ein letztes Mal betrachtete er seine Tochter, ehe er sich aufrichtete und an Jack wandte. „Die Unterweltportale funktionieren trotz Magiesperre, oder?“ Jack brachte lediglich ein Nicken zustande, musste selbst gegen seine Gefühle ankämpfen. Amarth seufzte. „Mars scheint uns zuvorgekommen zu sein und hat das bewölkte Wetter genutzt, um einige seiner Unterweltler-Legionen früher loszuschicken. Kannst du mich an einen Ort in der Nähe von Desserts Hauptstadt bringen? Ich möchte meinem Volk zumindest ein bisschen Beistand leisten.“ Schwach lächelte er. „Es kann ja nicht sein, dass in so einer Situation niemand aus dem Königshaus dort anwesend ist.“ Wieder nickte Jack. Der orangene Stein an seinem Ring leuchtete kurz auf, als das schwarz-orange lodernde Portal ihm den Weg öffnete. „Grüß Ria von mir.“ Amarth winkte Tatjana zu, die sich schluchzend die Tränen von der Wange wischte und nickte. Noch einmal kurz schaute er zurück zu ihnen und bei seinem dankbaren, liebevollen Blick war sich Lissi ziemlich sicher, dass es das beste war, was ihre Schwester jemals für jemanden getan hatte. Obwohl es sich wie das genaue Gegenteil anfühlte. Dann wandte er sich ab und verschwand im Portal. Eine erdrückende Stille breitete sich aus als das Rauschen verschwand. Niemand wusste, was er sagen oder denken sollte. Obwohl Lissi eigentlich gar nichts mit Amarth zu tun hatte, hinterließ dieser kurze Moment eine schmerzhafte Wunde. Als sie Revue passieren ließ, wer das eigentlich war. Wie man ihn zu Beginn noch für einen furchtbaren Menschen hielt, nur um zu erfahren, wie sehr er bis zum Ende darunter gelitten hatte, dass eine überirdische Kraft sich seines Willens bemächtigt hatte. Wie er alles in Kauf genommen hatte, um irgendwie noch Buße zu tun. Und um ein letztes Mal noch seine Tochter zu sehen… „Wir sollten Carsten suchen…“, meinte Janine leise, als traue sie sich gar nicht, diese Stille zu zerstören. „Das stimmt, Anne braucht Energie um wieder auf die Beine zu kommen.“, gab Jack ihr recht und kam zögernd zu ihnen rüber. „… Darf ich?“ Stockend nickte Susanne und richtete sich etwas auf, nach wie vor am Schluchzen. Obwohl auch in Jacks Augen Tränen zu sehen waren, warf er ihr ein schiefes Lächeln zu. „Tu mir einen Gefallen und sag Bescheid, falls sie aufzuwachen scheint. Ansonsten hat sie schneller und mehr Energie zurückgewonnen als mir lieb ist.“ Schwach lachten die Mädchen bei dem Kopfkino auf, welches Jacks Kommentar auslöste. Während er Anne hochhob, half Lissi ihrer Schwester auf, damit sie gemeinsam diese grauenerregende Höhle endlich verlassen konnten. All die Zeit lag bedrücktes Schweigen über ihnen. Erst, als das warme Kerzenflackern den Ausgang ankündigte, wagten sie es sich ein bisschen zu entspannen.   ~*~   Beeindruckt schaute Jannik zu, wie Ria die Unterweltler ohne Schwierigkeiten einen nach dem anderen zu Fall brachte. Es scherte sie nicht, wenn die Kreaturen ihren Magieblitzen ausweichen konnten. Wenn sie ihr zu nahe kamen, wurden sie kurzer Hand mit einem Dolch und gezielten, kraftvollen Schlägen ausgeschaltet, während andere nebenbei mit weiteren Zaubern zu Fall gebracht wurden. Alles gleichzeitig, Magie und Kampfkunst in einem. Fast so als hätte sie die Fähigkeiten von Vater und Mutter geerbt. Als sie die Welle an Unterweltlern besiegt hatte, fuhr sich Jannik durch die rot gefärbten Haare und seufzte, beeindruckt und bedrückt zugleich. „Entschuldige, dass ich keine Hilfe sein kann…“ Ria zuckte mit den Schultern. „Alles gut, du stehst ja nicht im Weg rum.“ Jannik lachte auf bei diesem Kommentar, der irgendwie nach einem Mix aus Jack und Anne klang. Sie setzten ihren Weg durch die mit Kerzen beleuchteten Gänge fort, auf der Suche nach dem Rest. Ria warf ihm einen fragenden Seitenblick zu. „Ich habe gehört, dein Vater war der vorige Besitzer des Schwarzen Löwen. Bist du deshalb nicht auf die Coeur-Academy gegangen?“ Gedrückt nickte er. „Ich hatte ihn damals kämpfen sehen und… Nun ja, es ist schwer, nicht an ihn zu denken, wenn ich die ganze Zeit von Leuten mit solchen Fähigkeiten umgeben bin. Und seien es nur antik Begabte.“ „Verstehe… Dann muss das alles hier sicherlich auch schwer für dich sein.“ Jannik fuhr sich über den Haaransatz, versuchte sich halbwegs zusammenzureißen als die Erinnerungen an seinen Vater mehr und mehr hängenblieben. „Eigentlich geht es… Auch wenn ich es nicht gedacht hätte. Ich… irgendwie bin ich froh in gewissem Sinne in seine Fußstapfen treten zu können. Selbst einen Teil zu dem beitragen zu können, wofür auch er damals gekämpft hatte.“ Ria lächelte, erwiderte sonst aber nichts darauf. „Und du? Warum bist du hier?“, fragte Jannik, hielt aber im nächsten Moment erschrocken inne. „Entschuldige, ihr meintet ja wir sollten nicht fragen. Bitte vergiss das einfach.“ Schwach lachte Ria auf und erwiderte Janniks Blick mit ihren giftgrünen Augen. „Aus einem ähnlichen Grund wie du, schätze ich. Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, in der Hoffnung, dass die Geschichte sich nicht wiederholt. Dass nicht noch mehr von uns darunter leiden müssen…“ Er schaffte es lediglich ein Nicken darauf zu erwidern. Jannik würde nur zu gerne wissen, warum sich Ria dazu entschlossen hatte im zerstörten Gebiet zu bleiben und warum der Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen war… Wie hatte es nur so weit kommen können? Was war der Auslöser gewesen? Gab es einen Streit? Doch Jannik hielt sich mit Fragen zurück. Wenn sie schon beschlossen hatte ihre alte Identität abzulegen… Als sie um eine weitere Ecke bogen, bot sich ihnen ein ungewöhnlicher Anblick. Einige Unterweltler, doch sie alle lagen besiegt auf dem Boden, die Kleidung war leicht angesengt. „Es schien wohl jemand von uns hier gewesen zu sein.“, stellte Jannik fest. Ria ging zu dem nächstliegenden Vampir und betrachtete ihn kritisch. „Den Verletzungen nach zu urteilen einer der Magier.“ Hastig folgten sie der Spur aus Unterweltlern, bis sie bei einer Treppe ankamen. Dort häufte sich mit einem Schlag die Anzahl und bei dem unangenehmen Geruch mussten sie gezwungener Maßen feststellen, dass die meisten wohl durch Feuermagie zu Tode gekommen waren. Das oder… „Das solltest du lieber lassen, wenn dir dein Leben lieb ist!“ Erschrocken blickte Jannik bei Rias plötzlichem Ruf auf. Und da erkannte er die Ursache. Ein eisiger Schauer überkam ihm, als er den Vampir sah, der sich zähnefletschend zu ihnen umdrehte. Die Augen leuchteten rot, dunkles Blut tropfte von seinem Kinn auf das ebenso rote Oberteil seines Opfers, als er Öznur losließ, welche bewusstlos zu Boden kippte. Während Jannik all dies überhaupt erst wahrnehmen konnte, hatte Ria bereits einen Angriffszauber gestartet und sprang mit den Fähigkeiten einer Kampfkünstlerin die gesamte Treppe runter. Der Vampir blockte die Feuermagie, war jedoch nicht darauf vorbereitet, dass seine Gegnerin direkt danach aus dem Rauch auftauchte und ihm gezielt ihren Dolch in die Brust rammte. Sofort war er besiegt. Achtlos stieß Ria ihn mehrere Meter zur Seite und beugte sich zu Öznur runter, um ihren Atem zu prüfen, während Jannik endlich dazu kam ihr zu folgen. „Sie lebt noch.“, antwortete sie, bevor er seine Frage überhaupt stellen konnte. Erleichtert atmete Jannik auf und beobachtete fasziniert, wie Ria die Hand ausstreckte. Eine rote Aura umgab ihren Körper wie loderndes Feuer und er konnte spüren, wie sich die Energie auf Öznur übertrug. „Özi!“ Bei der besorgten Stimme schauten beide auf. Im nächsten Moment kam Eagle um die Ecke gerannt. Schwer atmend blieb er stehen, brauchte aber nicht lange um zu realisieren, dass die Feuer-Energie welche er gespürt hatte nicht von seiner Freundin gekommen war. Mitfühlend beobachtete Jannik, wie diese Erkenntnis in Eagles Blick deutlich sichtbar wurde, als Entsetzen und Angst ihn überkamen. Sofort war er bei ihnen. „Was ist passiert?! Warum ist sie-“ Seine Stimme überschlug sich fast vor Sorge, als er Öznur die blutverschmierten Haare aus dem Gesicht strich und dabei auch Bissspuren am Hals freigelegt wurden. „Sie hatte wohl nicht alle ihre Gegner besiegen können.“, antwortete Ria und schaute sich um. „Oder sagen wir alle bis auf einen.“ Eagle stieß einen Fluch aus und rüttelte vorsichtig an Öznurs Schulter. Doch weder das noch seine Stimme konnte sie wecken. „Lass mich mal machen.“, wies Ria ihn an und sprach einen Zauber. Mit einem roten Leuchten verschwand das Blut, doch selbst als nur noch die Verletzungen übrigblieben, war der Anblick schauerlich. Über ihrem rechten Auge befand sich eine nach wie vor blutende Wunde, aus der Ria sogar einen Glassplitter mit Magie herausholte. Als sich Jannik umschaute, fiel ihm ein Glänzen auf. Er ging zu dem kleinen Gegenstand und hob ihn neugierig auf. Es handelte sich um eine zerbrochene Brille mit rotem Gestell. „… Packt sie es?“, fragte Eagle, das Zittern seiner Stimme war nicht zu überhören. Es gefiel Jannik gar nicht, wie Ria bei ihrer Antwort zögerte. „Sie hat ziemlich viel Blut verloren…“ Verbissen richtete sie sich auf und nahm die Brille entgegen. Mit einem einzigen Zauberspruch sammelten sich alle Splitter und setzten sich wie bei einem Puzzle zusammen. Die Brille schien wie neu, als Ria sie Jannik zur Aufbewahrung zurückgab. „Wir sollten schnell nach Konrad suchen.“ Verbissen nickte Eagle und schob die Arme unter Öznurs leblos erscheinenden Körper, um sie so behutsam und vorsichtig wie möglich hochzuheben. Kapitel 106: Geister der Vergangenheit -------------------------------------- Geister der Vergangenheit       Knapp, das war wohl der treffendste Ausdruck. Knapper als knapp. Kito und Johannes hatten sich erst noch staunend in diesem prächtigen Raum umgeschaut, jeden Zentimeter ganz genau erkundet wie als wären sie in der Schatzkammer des Schlosses gelandet. Doch dann hatte Kito mit ihren Dryaden-Sinnen eine Gefahr wahrgenommen. Eine Atmosphäre, die sich ihnen näherte, so unheimlich, dass es ihr fast unmöglich gewesen war sich in Bewegung zu setzen. Gerade so hatte sie es geschafft zu Johannes zu rennen und einen Illusionszauber um sie herum zu erschaffen, als auch schon weiter entfernt eine Tür in die Angeln fiel. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Und dann hatte er den Raum betreten. Der Junge mit dem roten Auge, in dessen Herz sich eine ganz andere Gestalt befand. Begleitet von einem Unterweltler. Obwohl der Illusionszauber ihre Existenz vollständig vor den Eintretenden verbarg, wichen Kito und Johannes etwas zurück, näher an die Wand. Versteckt unter einem niedrigen Tisch, der sie eigentlich gar nicht verstecken könnte. „Wie ist die Lage?“, fragte der Junge mit einer Stimme, die nicht zu seinem Aussehen passte. „Die vierte Legion hat Kara ohne große Verluste erreicht. Die dritte hatte bisher die Oberhand und konnte bereits in Sandcastle einmarschieren, doch ich habe vor einigen Minuten erfahren, dass ein Magier aufgetaucht ist, der in kürzester Zeit duzende von ihnen besiegt hat. Scheint ein Nomade zu sein.“, berichtete der Zombie mit einer überschwänglich unterwürfigen Geste. Der blonde Junge knirschte mit den Zähnen. „Und Lumière?“ „Von der Legion, die sich auf die verschiedenen Spalte aufgeteilt hat, habe ich seitdem nichts mehr gehört.“ „Er hat ihnen also tatsächlich die Positionen aller Spalte genannt.“ Missbilligend setzte er sich aufs rötlich und golden verzierte Kanapee und lehnte sich zurück. Dennoch stahl sich ein schwaches Lächeln von seinen Lippen. „Er ist zu mehr imstande als er es sich zutraut… Wenn er nur will.“ „Mein Meister… Glaubt Ihr immer noch, dass er zurückkehren wird?“, fragte der Zombie, kleinlaut und verängstigt, als wüsste er, dass er so eine Frage eigentlich nicht stellen sollte. Bei dem dämonischen Blick gefror Kito das Blut in den Adern. Noch eingeschüchterter war der Zombie, der eine hastige, unbeholfene Entschuldigung stammelte. Mars atmete geräuschvoll aus und schaltete einen großen Apparat an, auf welchem sich ein Bild von Leid und Zerstörung nach dem anderen zeigte. Ein sardonisches Lächeln breitete sich aus. Ein Blick, welcher noch weniger zu diesem Gesicht passte als die Stimme. „Sieh dir diese Feiglinge an. Wie sie panisch herumrennen, wie ein aufgescheuchter Haufen Insekten. Obwohl sie vor kurzem erst noch großspurig demonstriert und sich für ihren Verstand und Mut gefeiert haben.“ Er wandte sich wieder dem Zombie zu. „Lukas ist so ein Feigling, so ein Insekt. Für ihn ist Loyalität nur solange von Bedeutung, bis Angst und Panik ihn einen anderen Weg rennen lassen. Kaum trifft er auf eine Wand, wechselt er die Richtung. Immer und immer wieder, ohne zu bemerken, dass es keinen Ausweg gibt. Wenn du zweifeln möchtest, dann an ihm. An den Insekten.“ Das rote Auge leuchtete auf, eine purpurn wabernde Atmosphäre breitete sich aus. Ein schmerzliches, gurgelndes Geräusch erstand, als sie den Zombie erreichte und er zu Boden sackte. Er begann Blut zu husten. Entsetzt beobachteten die Kinder, wie er sich die Kehle hielt als bekäme er keine Luft. Und doch quoll mehr und mehr Blut aus seinem Rachen. Ein zuckender, würgender Todeskampf, den er nur verlieren konnte. Und wenige Minuten später auch verlor. Bei der Zufriedenheit und Verachtung, mit welcher der Dämon den Leichnam betrachtete, merkte Kito wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Ein deutliches Zeichen von Angst. Bei der Vorstellung was passieren könnte, wenn er sie entdecken würde, begann sie schwach zu zittern. Kito schloss die Augen und konzentrierte sich mehrere Atemzüge lang darauf, ihren Körper nach und nach wieder zu Ruhe kommen zu lassen. Zum Glück waren sie in Sicherheit. Zum Glück konnte selbst dieser Dämon nicht durchschauen, was sich hinter Illusionen verbarg. Denn auch er betrachtete die Welt momentan mit irdischen Augen.   ~*~   Es brauchte eine Weile, bis sich Laura von ihrem Gefühlsausbruch zu erholen verstand. Benni wusste, dass Tränen nicht nur aus Trauer fließen konnten. Dennoch kam ihm der Gedanke, dass ihr erstes Wiedersehen nach all der Zeit dadurch genauso war, wie der Abschied vor über drei Monaten. Er richtete sich auf und überließ Laura und ihre Gefühle ihren Geschwistern, um sich Ariane zuzuwenden. Diese schien nach wie vor so verwirrt ihn nicht berühren zu können, dass sie es noch mehrmals versuchte und dabei immer wieder durch seine Schulter hindurchgriff. Selbst ein versuchter Faustschlag ging ins Leere. Beschämt lachte Ariane auf und kratzte sich am Hinterkopf. „Sorry, keine Chance. Bin wohl zu oberflächlich.“ „Wir denken einfach zu viel nach.“, entgegnete Benni, amüsiert von dem leichten Hauch Sarkasmus. Er selbst hatte bei den vorigen Kämpfen große Schwierigkeiten gehabt, bis er endlich dazu in der Lage war, den ‚Geist‘ der Unterweltler zu treffen. Entsprechend erschrocken war er bei Lauras Umarmung gewesen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihn sofort würde berühren können. Benni wandte sich um. Ohne es zu merken huschte ein schwaches Lächeln über seine Lippen, als er Laura betrachtete und sich an ihren festen Griff erinnerte, der ihm viel mehr mitgeteilt hatte als ihre wirren, unverständlichen Worte. Eigentlich war es nicht überraschend… „Na ja, Übung macht den Meister. Irgendwann schaffe ich es hoffentlich noch, deine Seele zu berühren. Wie auch immer man sich sowas vorstellen soll.“, meinte Ariane seufzend und klopfte ihm durch die Schulter. Eufelia-Sensei wandte sich ihnen zu. „Ihr müsst euch auf die Suche nach den anderen Dämonenverbundenen begeben.“ Ariane verzog das Gesicht und nickte. „Ich will nicht wissen, was dem Rest passiert sein könnte, wenn wir schon… dort gelandet sind.“ „Besonders, weil dieser komische Gestaltwandler-Schwarzmagier-Vogel es ja wirklich auf Carsten abgesehen zu haben scheint…“ Laura wischte sich über die Augen und mühte sich mit Hilfe ihrer Geschwister auf die Beine. Luciano nickte. „Besser ist das. Wir werden uns auch aufteilen. Einige kümmern sich um die restlichen Unterweltler hier, die anderen helfen euch.“ Arianes Mimik zeigte deutliche Verwirrung, während sie die restlichen Geister betrachtete. „Du meintest ja, dass alle hier wegen Mars‘ Zerstörungs-Energie im Prinzip mit vom Bann gefangen gehalten wurden aber… Warum sind das so viele, wenn er doch selbst gebannt war?“ „Eine gute Frage.“ Leonhard seufzte. „Die Antwort gehört zu einer der Folgen des Magischen Krieges. Es war nicht nur so, dass er seine Zerstörungs-Energie über ganz Rutoké ausgeweitet hatte, weshalb die Vegetation vermutlich nur langsam wieder an Kraft gewinnt. Es ist auch… Man könnte sagen, die Überreste dieser Zerstörungs-Energie sind nach wie vor vorhanden.“ Bei Arianes fragendem Blick hin antwortete Benni: „Es ist das Karystma.“ „Was?“, hauchte Laura und wäre wohl in die Knie gesackt, wenn Lucia nicht bereits den Arm um sie gelegt hätte. Auch Ariane schaute ihn mit Unglauben an, doch allmählich verstand sie. „Karystma nistet sich in einem Organ ein und…“ „Zerstört dieses, exakt.“, bestätigte Leonhard. Zitternd atmete Ariane aus. „Sind… denn alle mit Karystma hier?“ „Unter uns befinden sich nur noch die antik Begabten.“, antwortete er. „Es scheint als würde den ‚normalen‘ irdischen Wesen die Kraft fehlen, für eine längere Zeit nach dem Tod im Reich der Lebenden zu verweilen.“ Sie senkte den Blick. „Ach so…“ Benni ahnte schon, was sie vermutet oder eher insgeheim gehofft hatte. Schließlich war auch ihre Mutter einst an Karystma verstorben. „Wobei manche dieser Leute hier auch Bewohner Rutokés sind, die durch bestimmte Kreaturen den Tod fanden, welche in gewissem Sinne auch Zerstörungs-Energie in sich tragen.“, ergänzte Leonhard. „Etwa diese Monster in den Geheimgängen, von denen Jack erzählt hatte?!“, entfuhr es Laura schockiert. „Ich hoffe, niemand von uns ist ausgerechnet dort gelandet…“, murmelte Ariane. Benni atmete aus. Bei ihrem Glück… Die beiden Mädchen tauschten einen Blick aus, der etwas Ähnliches sagte wie seine Gedanken. Ebenso Eufelia-Senseis Seufzen. „Ihr solltet euch beeilen.“ Nervös spielte Laura mit ihrem Kreuzanhänger und nickte, als Leonhard darauf aufmerksam wurde. „Coeur? Ich meine… gehörte diese Kette nicht meiner Verlobten?“ „Hä?“, war Lauras einzige Antwort. „Sie hatte sie an Benedict vererbt.“, erklärte dafür Eufelia-Sensei. „Und dieser hatte wohl irgendwann beschlossen sie an Laura weiter zu geben.“ Leonhard lachte auf. „Ach, so ist das also. Na dann ist sie ja in den besten Händen.“ Er seufzte. „Meine hatte ich damals während der Flucht aus dem Dryaden-Versteck verloren…“ Benni befürchtete schon zu wissen, was jetzt kam als er die Kette aus dem Ausschnitt seines T-Shirts zog. „Diese hier?“ Ungläubig starrte Leonhard ihn an. „Woher…“ „Ich… ich hatte sie als Kind mal in Obakemori gefunden…“, meinte Laura kleinlaut. „Ich fand sie so hübsch und da dachte ich das wäre ein tolles Geburtstagsgeschenk für Benni.“ Leonhards deutlichem Grinsen nach zu urteilen, hatte er überhaupt kein Problem damit, dass Laura seine damalige Kette im Prinzip seinem Nachfahren geschenkt hatte. „Wobei Mars sie abgelegt hat.“, meinte Benni und sofort trübte sich Lauras Blick. Aufheiternd strich er ihr über die Wange. „Aber die prägendste Phase war wohl jene, in welcher ich sie getragen hatte.“ Das sorgte zumindest für ein schwaches Lächeln auf ihren Lippen, während Ariane aufstöhnte. „Diese ganze Geistergeschichte kommt einfach nicht an mich ran, das ist mir viel zu irrational.“ Wie zur Bestätigung schlug ihr Versuch erneut fehl, Benni auf die Schulter zu klopfen. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich darüber bin, nicht mehr als einziger denken zu müssen ich wäre verrückt.“, erwiderte dieser, was Ariane auflachen ließ. Benni hob den Blick. Aus der Entfernung nahm er viele Stimmen und Schritte wahr, die in ihre Richtung eilten. Ebenso Gerüche, die auch Ariane auffielen. „Die Unterweltler scheinen uns doch gefolgt zu sein.“ Luciano nickte. „Wir kümmern uns drum.“ Er und Lucia drückten ihre Schwester an sich, woraufhin Laura schluchzte. „Danke, dass ich euch noch einmal sehen durfte…“ Lucia verstärkte ihren Griff. „Du schaffst das, Laura. Du bist stark. Vergiss das nicht. Vergiss das niemals.“ Schwach nickte sie, erneut brachten die Tränen ihren Atem zum Zittern. Luciano warf noch einmal einen Blick auf Benni, ein knappes Nicken begleitet von einem leichten Lächeln, ehe sich die Geschwister endgültig von Laura verabschiedeten, um sich der Bedrohung entgegenzustellen. „Ihr werdet es schaffen, davon bin ich überzeugt.“ Leonhard zwinkerte Laura nochmal zu, die sich lächelnd die Tränen aus den Augen wischte. Auch er und Eufelia machten sich auf den Weg. Ein schmerzhaftes Ziehen breitete sich in Bennis Brust aus, als er sah, wie sie ihm den Rücken kehrte. Für einen Moment befürchtete er, die Stimme zu verlieren. Ein kurzes Zögern. Doch schließlich… „Sensei?“ Irritiert drehte sie sich um. „Ist noch etwas?“ Benni wollte zu einer Antwort ansetzen, konnte es jedoch nicht in Worte fassen. Da war noch etwas gewesen, was er ihr mitteilen wollte. Irgendetwas! Aber irgendwie war nun alles aus seinem Kopf entschwunden. Er bekam am Rande mit, wie Leonhard meinte er kümmere sich schon einmal um die Gruppen und ihnen zum Abschied zuwinkte. „Benedict?“, erkundigte sich Eufelia und trat zu ihm. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie klein seine Lehrmeisterin eigentlich war. Sogar kleiner als Laura. All die Zeit hatte sie immer so groß gewirkt. Als er ein Kind war sowieso, aber auch als Mittelschüler. Sie schien immer so unerreichbar und doch… Benni spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. Er wollte ihr doch noch irgendetwas sagen. Irgendwas, was er bereut hatte nicht damals schon gesagt zu haben. … Was war das nochmal gewesen? Warum fiel es ihm in genau dem Moment nicht ein, als er diese eine letzte Gelegenheit bekam? „Was ist?“ Eufelia-Sensei legte eine Hand auf seine Schulter. Der Schmerz in seinem Herzen wurde stärker, das Luftholen eine Zumutung. Ohne zu realisieren was er tat, umarmte er sie. „Danke für alles…“ Er spürte die Überraschung, das Zögern, bevor sie die Umarmung schließlich erwiderte.  Es dauerte einen Moment, Bennis Atem ging ungewohnt zittrig und er verstärkte seinen Griff gar noch einmal, bis er schließlich glaubte sie loslassen zu können. Eufelia schaute zu ihm hoch, ein warmes, um nicht zu sagen mütterliches Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie ihm mit dem Daumen über die Wange strich. Sie erwiderte sonst nichts, kein ‚Leb wohl‘ oder ‚Du schaffst das‘. Doch das schien auch nicht nötig. Im Gegenteil, es hätte eher fehl am Platz gewirkt. Diese eine Geste, mehr brauchte es nicht, ehe sie sich abwandte und den anderen folgte. Benni blinzelte. Seine Augen brannten und erst jetzt merkte er, wie etwas Nasses über seine Wangen lief. Laura trat zögernd neben ihn. Er spürte, wie sie ihre Finger mit seinen verschränkte. „Wir sollten auch gehen…“, meinte sie vorsichtig. Benni nickte und wischte sich mit der Handfläche die Tränen aus den Augen.   ~*~   „Ha! Wer ist hier nun eingerostet?!“ Florian verdrehte die Augen, während Konrad sich zufrieden grinsend streckte. Sie befanden sich mitten im Hauptquartier des Feindes und trotzdem war sich der Vampir nicht zu schade, einen Witz nach dem anderen zu reißen. Kein Wunder, dass er Jack direkt sympathisch gefunden hatte. Und dennoch musste Florian bei Konrads Kommentar lächeln. Das war durchaus ein Vorteil an der Einstellung dieser beiden. Sie heiterten damit die Stimmung auf. Und wenn ihnen mal nicht zum Spaßen war, dann wusste man direkt über den Ernst der Lage Bescheid. So begab sich Florian direkt in eine kampfbereite Position, als Konrad kritisch die Stirn in Falten legte und sich auf ihre Umgebung konzentrierte. „Wer…“ „Ich habe es doch gesagt, da sind zwei von ihnen!“ Als einige Gestalten um die Ecke bogen, wollte er bereits zu einem Angriffszauber ansetzen, doch Konrad hielt ihn zurück. „Wer seid ihr?“ Irritiert betrachtete Florian diese Personen. Sie schienen Menschen zu sein, angeführt von einer Indigonerin. Und dennoch wirkten diese Leute nicht wirklich wie… Menschen. Die Indigonerin trat vor. „Ein Vampir und ein Elb? Dann müsst ihr Konrad und Florian sein.“ Moment einmal. Noch irritierter schauten die beiden genauer hin. Diese lila Augen, diese Ähnlichkeit mit Carsten… „Sisika?!“ Die Angesprochene grinste. „Ach wie schön, mein guter Ruf eilt mir also voraus.“ Kritisch betrachtete Florian sie. Konnten sie tatsächlich davon ausgehen, gerade mit Eagles und Carstens verstorbener Mutter zu reden? Oder… „Ist das schon wieder nur ein Trick, Gestaltwandler?“ Empört stemmte Sisika die Hände in die Hüften. „Was soll denn plötzlich dieser unfreundliche Ton?! Wir rennen und teleportieren uns hier durch das ganze Schloss, um euch zu helfen und das ist der Dank dafür?! Na wunderbar. Glaubt mir, ich hätte auch viel lieber meine beiden Jungs getroffen als euch beide, aber man kann sich im Leben nun mal nicht alles aussuchen. Also hört auf zu meckern.“ Konrad und Florian tauschten einen kurzen Blick aus. Die Enttäuschung, dass sie beide nicht Eagle und Carsten waren, war so deutlich herauszuhören, dass es nie und nimmer gespielt sein könnte. Aber dennoch mussten sie Vorsicht walten lassen. Schließlich war es deutlich wahrscheinlicher, dass der Gestaltwandler sie in die Irre führen wollte, als irgendwie plötzlich auf eine Art Geist zu treffen. Konrad kam da wohl eine Idee. „Entschuldige diese seltsame Bitte, Sisika, aber… Könntest du mal deinen linken Ärmel hochkrempeln, sodass ich deine Schulter sehen kann?“ Sisikas Blick nach zu urteilen war sie sich nicht sicher, ob sie ihrer Gruppe helfen oder doch lieber die Seiten wechseln wollte. Aber schließlich gab sie sich geschlagen. Mit einem demonstrativ genervten Seufzen krempelte sie den Ärmel hoch und da war, wie erwartet, nichts. Irritiert betrachtete Florian ihn. „Und?“ „Ja. Und? Bist du nun zufrieden?“ Sisika krempelte den Ärmel wieder runter. Konrad lachte auf und nickte. „Ja, bin ich. Danke. Du bist eindeutig nicht der Gestaltwandler.“ „Natürlich nicht!“ „Wie kannst du dir da so sicher sein?“, fragte Florian. „Weil der Gestaltwandler ein Schwarzmagier ist. Und Carsten hat es doch vorhin selbst gesagt. Abgesehen von der Augenfarbe kann er das Mal des Schwarzen Löwen und das Zeichen des Schwarzmagiers ebenso wenig verbergen. Und ich bezweifle, dass sich das mit ‚Übung‘ ändern lässt.“ „Na wenn du meinst…“ Überzeugt war Florian trotzdem nicht, schließlich gab es auch andere Wege solche Zeichen zu verbergen. Aber gleichzeitig kannte er Konrads gute Intuition und er war sich sicher, dass der Vampir diesen ‚Beweis‘ nur ihm zuliebe gefordert hatte. Er selbst schien bereits davon überzeugt, dass es die echte Sisika war. Was dennoch verwirrte. Immerhin… Eigentlich war sie tot! Geräuschvoll atmete Sisika aus, dennoch lächelte sie als sie meinte: „Keine Sorge, Bennis Freundin und… diese andere, die Süße mit den Sommersprossen, haben uns alles erzählt.“ Florian horchte auf. „Ihr habt Laura und Ariane getroffen?! Warum sind sie nicht-“ „Komm runter, den beiden geht es den Umständen entsprechend gut. Sie sind mit Benni los und suchen auch nach den anderen.“ „… Benni?“ Es war weder zu überhören noch zu übersehen, wie Konrad bei dieser Mitteilung gegen seine Gefühle ankämpfen musste. Auch auf Florians Lippen zeichnete sich ein schwaches, erleichtertes Lächeln ab. Er hatte es also tatsächlich geschafft, sich irgendwie von Mars‘ Einfluss zu befreien. Eigentlich hätte man sich das bei seinem Sturkopf auch denken können. Während sie sich mit Sisika und ihren Begleitern auf den Weg machten, erfuhren Konrad und Florian alles über die gegebene Situation. Nach einer Weile nahmen sie plötzlich den Einsatz von Energie wahr. Feuer-Energie. „Das könnte Öznur sein.“, vermutete Konrad. Florian nickte. Eine weitere Möglichkeit wäre aber auch Ria. Schließlich konnte sie als ehemalige Besitzerin des Roten Fuchses dank ihrer Dämonenform nach wie vor Feuer-Energie verwenden. Kurz darauf nahmen wohl auch Konrads Vampirsinne etwas wahr. Und so wie sich der Blick des Vampirs von Unglauben zu Sorge wandelte, wurde Florian direkt mulmig. Automatisch beschleunigten sie ihre Schritte und als er in der Ferne Kampflärm hörte, rannten sie bereits. „Wie viele von denen gibt es denn noch?! Wir sind doch schon hier durchgemäht!“, kommentierte Sisika wenig erfreut, als sie auf die ersten Unterweltlerleichen trafen. „Na ja, Mars hatte viel Zeit und die Lebenserwartung von Unterweltlern ist von allen irdischen Lebewesen auch noch am höchsten.“, erwiderte Konrad. „So ein Scheiß, diese Wichser!“, rief Eagles Mutter aus. Konrad warf ihr einen wenig erfreuten Blick zu. „Was soll das denn? Ich bin selbst im Prinzip ein Unterweltler, der einfach nur in der Oberwelt lebt.“ „Selbst schuld, wenn du dich mit denen identifizierst.“, erwiderte sie. „Hey! Ich möchte mal anmerken, dass nicht alle Unterweltler böse und auf Mars‘ Seite sind! Die Eltern meiner Verlobten leben zum Beispiel auch nach wie vor in der Unterwelt!“ Florian verdrehte die Augen und ignorierte diese Diskussion. Konrad war schon immer recht empfindlich bei Kommentaren, die irgendwie diskriminierend gegenüber Vampiren schienen. Auch, wenn er es meistens nicht so sehr zeigte. Als sie um die nächste Ecke sprinteten, löste es sich zumindest von selbst. Direkt ließ Florian schneidende Wassersicheln auf einige Werwölfe los, die ihr Ankommen bereits gemerkt hatten. Einer konnte dem ausweichen und griff Florian mit seinen Klauen an. Doch der Elb hatte schon seine Zwillingsschwerter gezogen und schlitzte ihm die Brust auf, als auch Konrad und Sisika ihre ersten Angriffszauber sprachen. Im Prinzip nun an zwei Fronten kämpfend, war die Meute Unterweltler innerhalb kürzester Zeit besiegt und wie insgeheim vermutet war es Ria, die auf der anderen Seite stand und ihnen zur Begrüßung zunickte. Aber auch Eagle hatte gegen die Unterweltler gekämpft und… Als Konrad bereits zu ihnen rannte erkannte nun auch Florian den Grund seiner Sorge. „Was ist passiert?“, fragte er, während der Vampir sich bereits zu Öznur kniete, die bewusstlos an der Wand lehnte und etwas von Jannik gestützt wurde. Ria erklärte knapp was vorgefallen war und schloss mit: „Sie hat zu viel Blut verloren. Keine Ahnung, wie lange sie noch durchgehalten hätte.“ Konrad erwiderte nichts darauf. Stattdessen legte er die Hand auf die Bisswunde an ihrem Hals und schloss die Augen. Ein petrolfarbenes Leuchten umspielte wabernd seinen Körper und Florian spürte die Blut-Energie. Zwar gab Öznur einen schwachen Ton von sich, doch das Bewusstsein erlangte sie nicht zurück. Florian seufzte. Das Mädchen hatte wirklich Glück im Unglück gehabt, dass erst zufällig Ria und dann auch noch Konrad in der Nähe waren. Ansonsten hätte das böse enden können. Und zwar nicht nur für sie alleine. Ria wies derweil auf ihre geisterhaften Begleiter. „Wer sind die?“ Dieses Mal erklärte Florian kurz die Umstände: „Verstorbene, die allem Anschein nach durch einen Nebeneffekt vom damaligen Bann ebenfalls in der tiefsten Schlucht gefangen waren. Sie-“ „… Mutter?“ Die tiefe aber doch schwache Stimme brachte Florian zum Schweigen. Er beobachtete, wie Eagle zögernd einen Schritt vor ging. Unglauben zeichnete sich auf den sonst eher harten Gesichtszügen des Indigoners ab. Sisika lächelte sanft. „Hallo, mein kleiner Wirbelwind.“ Man konnte deutlich hören wie sein Atem zu zittern begann, als Eagle fragte: „Was… was machst du hier?“ „Na ja, wenn ich schon mehr als 16 Jahre an diesem Ort eingesperrt war, wollte ich zumindest die Gelegenheit nutzen und schauen, was so aus dir geworden ist.“, antwortete sie schulterzuckend und trat zu ihm. Ihr Versuch sich cool zu geben obwohl die Tränen in ihren Augen glänzten, erinnerte automatisch an Eagle. Welcher genau das nicht tat. Viel zu viel war die vergangene Zeit geschehen. Viel zu häufig war er gezwungen gewesen Stärke zu zeigen und seine Gefühle hinten an zu stellen. Viel zu sehr hatte man genau das von ihm erwartet. Viel zu stark hatte ausgerechnet er selbst sich unter Druck gesetzt. Und so war es nicht verwunderlich, dass Eagle in die Knie sackte, zitternd und bebend. Es überraschte niemanden, als er die Macht über seine Gefühle verlor. Als er vor ihnen allen in Tränen ausbrach. Niemanden, außer Sisika. Verwirrt kniete sie sich zu ihrem Sohn. „Was ist denn, mein Schatz?“ Eagle konnte nicht antworten. Als sie ihre Hand auf seine Wange legte und einige der Tränen wegstrich wurde das Schluchzen umso heftiger. Er zog seine Mutter an sich, klammerte sich an sie. „Hey, mein Wirbelwind, das ist doch kein Grund direkt zu weinen.“, meinte sie, konnte aber selbst ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. „Schließlich musst du doch stark sein, wenn du mal der Häuptling wirst.“ „Bin ich schon…“, erwiderte Eagle schwach, zitternd. Sisikas Augen weiteten sich vor Schock. Ungläubig strich sie ihm über die kurzen Haare, brauchte einen Moment, um wahrhaftig verstehen zu können. Und zog ihren Sohn schließlich in eine feste Umarmung.   ~*~   Finsternis. Das erste, was er wahrnahm. Nichts als absolute Schwärze. Erst danach begannen seine Sinne zu ihm zurückzukehren. Träge versuchte Carsten die schweren Augenlider zu öffnen, spürte kalten Stein unter sich. Sein Kopf schmerzte höllisch, ebenso der Rest seines Körpers. Er versuchte einzuatmen, doch da war irgendetwas, was ihm das Luftholen erschwerte. Seine Sicht war nach wie vor verschwommen, die Umgebung nicht erkennbar. Panik kroch in ihm hoch, als er auch nach weiteren Versuchen nicht wirklich einatmen konnte. Als irgendetwas ihn daran hinderte, richtig einatmen zu können. Sein Herz begann zu rasen, der gepresste Atem beschleunigte sich. Trotz der Schmerzen versuchte er die Arme zu heben, zerrte an irgendwas, was ihn komplett bewegungsunfähig machte. Noch nicht einmal einen Finger konnte er krümmen. Instinktiv wollte Carsten um Hilfe rufen, versuchte etwas zu schreien, aber nur ein heiserer Laut drang nach außen. „Schhh, alles ist gut. Du brauchst keine Angst zu haben.“ Bei der beruhigenden Stimme in seinem Kopf wurde Carstens Befreiungsversuch schwächer, die Angst jedoch blieb. Wer… Nach wie vor noch etwas undeutlich, tauchte jemand in seinem Blickfeld auf. Eine junge Frau, etwa in seinem Alter. Bunte Federn waren in ihre langen, schwarzen Haare geflochten, die Haut hatte einen ähnlichen Ton wie seine eigene. Ihre violetten Augen besaßen ein magisches Funkeln, als sie ihn sanft anlächelte. Er wollte sie fragen wer sie war, doch nicht nur das Atmen wurde ihm erschwert. Reden konnte er überhaupt nicht. „Elster.“, antwortete sie, ohne die Lippen zu bewegen. Sie schien sich über Telepathie mit ihm zu unterhalten. Carsten betrachtete sie verwirrt. Elster? Ihr Blick wurde mitfühlend. „Entschuldige, ich musste dich knebeln, ansonsten hättest du sofort wieder Magie verwendet.“ Allmählich realisierte Carsten, warum er sich nicht bewegen konnte. Wer bist du?, fragte er, ohne diesen Gedanken aussprechen zu können. „Ich bin wie du.“, antwortete sie, wenig zufriedenstellend. „Auch mich hatte man als Kind eingesperrt, versucht mich im Käfig zu halten und mir die Flügel zu stutzen. Aber ich konnte ihnen entkommen. Ich konnte fliehen und erkennen, wer ich in Wahrheit bin. Wer wir in Wahrheit sind.“ Zitternd atmete Carsten aus. Hatte Lissi mit ihrer Vermutung also recht? Du meinst wir sind… Gestaltwandler? Elster zuckte mit den Schultern. „Gestaltwandler, Metamorph-Magier, Druiden, … Es gibt viele Bezeichnungen für uns. Die Legenden ergötzen sich an diesen mystischen Kreaturen. Doch statt uns die Bewunderung entgegenzubringen wie es die Geschichten taten, werden wir von den Menschen unterdrückt und eingesperrt. Und viel schlimmer noch: Wir werden von unserem eigenen Volk unterdrückt und eingesperrt. Unsere wahre Macht wird uns verschwiegen und vorenthalten.“ Das Gestaltwandeln?, schoss es ihm durch den Kopf. Unerwarteterweise verneinte Elster. „Das ist ein Nebeneffekt. Ein kleiner Zaubertrick, den jeder von uns seit Kindesbeinen an beherrscht. Nein, ich meine die wahre Macht.“ Was für eine wahre Macht? „Nun… die wahre Macht halt. Die Fähigkeit, die Wahrheit zu sehen. So etwas wie der Blick ins Innere eines Wesens, in sein Herz, seine Seele. Und… noch so viel mehr.“ Sie lächelte ihn entschuldigend an. „Verzeih, es ist schwer zu beschreiben. So etwas versteht man nur, wenn man es selbst sieht.“ Ein eisiger Schauer überkam Carsten, als er meinte ihre Andeutung zu verstehen. Er erinnerte sich daran, dass Koja mal etwas von Fähigkeiten erzählt hatte, die sich über ein Schwarzmagie-Ritual erwecken ließen. Ich glaube… ich glaube nicht, dass ich das will… „Das versucht dir dein Verstand einzureden. Aber tief in deinem Herzen-“ Nein, wirklich! Ich will das nicht!, versuchte er ihr zu widersprechen. Er wollte diese Kräfte nicht. Er hatte noch nicht einmal ein Schwarzmagier werden wollen! Nicht auch noch so etwas! Instinktiv zog Carsten wieder an seinen Magiefesseln, doch natürlich brachte das nichts. Er konnte sich nicht befreien. Nicht mit bloßer Körperkraft und schon gar nicht mit Magie. Dafür hatte Elster gesorgt. „Crow…“, setzte sie an. „Kennst du nicht auch dieses Gefühl? Diesen Wunsch nach Freiheit, tief verborgen in deinem Herzen?“ Ich bin frei. „Bist du dir da sicher?“ Carsten wollte mit ‚Ja, natürlich.‘ antworten, doch noch bevor sich dieser Gedanke überhaupt bilden konnte, geriet er ins Straucheln. Kamen Zweifel in ihm hoch. Welche Elster sofort bemerkte. „Ich verstehe, wie du dich fühlst. Sehr gut sogar. Auch ich hatte ihn damals, diesen unterbewussten Wunsch nach Freiheit. Und doch glaubte auch ich, frei zu sein. Aber es gibt immer irgendwas, was einen in Ketten legt. Ketten, die man gar nicht wirklich bemerkt. Regeln, das Gefühl jemandem verpflichtet zu sein, … All diese Dinge, die uns in unserer Welt festhalten. Wir finden es nicht schlimm, schließlich haben wir uns arrangiert damit zu leben. Aber dennoch tragen wir die Sehnsucht nach Freiheit in unserem Herzen.“ Carsten senkte die Augen, versuchte ihrem Blick auszuweichen, als er sich mit ihren Worten besser identifizieren konnte als ihm lieb war. Schon damals als Kind hatte er die fiktiven Charaktere immer am meisten bewundert, wenn sie sich über Regeln hinweggesetzt hatten. Wie sie die Welt bereisten, ihre eigenen Ziele verfolgten und dabei Gutes taten. Das alles, ohne an irgendwas gebunden zu sein. Der Grund, weshalb er die Piratenbande aus One Piece so geliebt hatte. Weshalb er Benni um seinen rebellischen Charakter beneidete… Elster lächelte, als habe sie seine Gedanken gelesen. „Die Druiden konnten dem entkommen. Entsprechend ist uns, als ihren Nachfahren, dieser Wunsch in gewissem Sinne in die Wiege gelegt worden. Und wir können das auch.“ Carsten merkte, wie er zu schwanken begann. Dieses Versprechen, diese Zuversicht, … Aber trotzdem… So etwas gibt es nicht ohne einen Preis. Er kannte diese tückischen Kräfte inzwischen gut genug. Er musste nur an die atemberaubende Macht der Schwarzmagie denken und verspürte bereits das Drängen sie freizusetzen. Nur, um diese unbeschreibliche Stärke wieder erleben zu dürfen, obwohl er sich ihrer Folgen schmerzhaft bewusst war. Er wollte das nicht! Und doch verlangte irgendetwas in ihm danach. Carstens Kiefer spannte sich an, seine Hände begannen zu zittern. „Der Preis ist gering im Verhältnis zu dem, was du gewinnen wirst.“, antwortete Elster. Das würde ich lieber selbst entscheiden. „Glaube mir, wenn du erst einmal diese Kräfte besitzt-“ Elster, was ist es?!, schrie er sie in Gedanken an, ein Unwohlsein kroch in ihm hoch. Das waren wieder nur so großartige, mächtige Fähigkeiten, bei denen er sich im Nachhinein wünschen würde, sie niemals besessen zu haben. Ganz sicher! Erneut zerrte Carsten an diesen magischen Fesseln. Wieder konnte er sich kein bisschen rühren. Ihr Blick wurde ernst. „Wehr dich nicht, mein lieber Bruder. Glaube mir, du willst es auch. Du willst diese Kräfte ebenfalls.“ Nein!!! Eine unbeschreibliche Angst kam in Carsten hoch. Er wehrte sich, kämpfte mit aller Kraft gegen diese Ketten an, verzweifelt und erfolglos. Sie schienen immer fester zu werden, je mehr er sich dagegenstemmte. „Ich hatte damals dasselbe gesagt. Und jetzt weiß ich, wie falsch ich gelegen hatte.“ Sie kicherte schwach, holte eine der Federn aus ihren Haaren. Mit grausiger Erkenntnis stellte Carsten fest, dass es in Wahrheit eine hauchdünne Klinge war, die weiß-violett schimmerte. Tränen schossen in seine Augen, ein schwaches, gedämpftes Schluchzen entfuhr ihm. Elster hob die Feder empor. In der Lichtreflexion erkannte Carsten, dass ihre Augen keine wirklichen Pupillen hatten, sondern nur einen leicht dunkleren Ton besaßen als die Iris selbst. Ein Schaudern durchfuhr ihn, verstärkte seine Befreiungsversuche umso mehr. Dieses Mal bewegte sie die Lippen, als sie sagte: „Wehr dich nicht.“ Ein unterdrückter Schrei drang aus seiner Kehle. Allein das Licht der Klinge schnitt sich schmerzhaft in seine Augen und auch die Tränen vermochten dieses Brennen nicht zu löschen. Während Elster ihre andere Hand hob, begann sie den Zauberspruch. Dryadische Worte hallten über ihre Köpfe, versprachen Wahrheit und Grenzenlosigkeit, während sich Elster mit dem Dolch in die emporgehobene Handfläche schnitt. Carsten schrie weiter, lauter. Wenn ihm seine Magie schon im Stich ließ, dann zumindest das. Er zog und zerrte, sein Herz raste so schnell, als versuche es sich genauso aus seiner Brust zu befreien wie er sich selbst von diesen Fesseln. Schweiß rann ihm über die Stirn, er bekam immer weniger Luft. Ein Leuchten und Strahlen blendete ihn, ohne dass er seinen Blick davor verschließen konnte. In seinen Ohren breitete sich ein unangenehmer Pfeifton aus. Die Erschöpfung kam durch, die Befreiungsversuche wurden immer kräftezehrender. Sein Körper begann ihn anzuflehen, dass er sich doch einfach damit abfinden solle. Seine Stimme verlor allmählich an Kraft, während der Zauber von Elster immer lauter und mächtiger erschien. Im ersten Moment kam wieder der Drang durch, sich irgendwie mit schwarzer Magie zu wehren. Doch es ging nicht. Selbst diese Kraft war machtlos. Dann kam ein anderes Flehen in ihm hoch. Während der Schrei nur noch ein Schluchzen war, sein Körper endgültig gelähmt von den Ketten, während Elster die Hand umdrehte und das rote Blut begann seine Tränen zu verschlingen, da realisierte er, was er sich eigentlich wünschte. Während eine blutrote Schwärze seine Wahrnehmung übernahm verstand er, wonach er sich trotz allem am meisten sehnte. Als ein Lichtblitz seine Sicht zerschnitt. Carsten hörte Elster vor Schmerz aufschreien, während es hinter seinen Augen flimmerte. „Ihr verdammten-“, kreischte sie, als sie einen Zauber entfesselte. Trotz der Benommenheit nahm Carsten ein vertrautes Gefühl wahr, als Finsternis-Energie den Angriff absorbierte. Kurz darauf gab Elster wieder einen Schmerzenslaut von sich. Carsten versuchte zu blinzeln, doch selbst das verhalf ihm nicht zu klarer Sicht. Immer noch war ihm schwarz vor Augen. „Carsten, ist alles okay?!“, hörte er Lauras besorgte Stimme gedämpft neben sich. Wieder spürte er Finsternis-Energie, als sich nach und nach der schmerzhafte Druck löste, welchen die magischen Ketten in seine Haut gebrannt hatten. „…Laura?“, fragte er benommen, ohne zu realisieren, dass er wieder reden konnte. Sein Blick war benebelt und bei dem aufkommenden Schwindel wurde ihm leicht übel, als ihm zwei Armpaare hoch halfen. Carsten taumelte und wäre kraftlos in die Knie gesackt, wenn ihn nicht jemand stützen würde. „Bring ihn weg, wir kümmern uns um das hier.“ Nur entfernt nahm er Lauras Stimme wahr und bemerkte kaum, wie sie schließlich von ihm abließ. Er hatte keine Erinnerung mehr daran, wie er schwankend wie ein Betrunkener von dort wegkam. Erst als er kraftlos auf den Boden sackte und eine im Vergleich zu seiner Stirn eiskalte Hand spürte, wurde ihm klar, dass er sich irgendwie bewegt hatte. „Wie geht’s dir?“ Carsten atmete immer noch zu schwer, um diese Frage beantworten zu können. Etwas Weiches, was wie Stoff erschien, wurde mehrmals vorsichtig über sein Gesicht gewischt. Er selbst hatte bereits vergessen, dass sich dort eigentlich noch das Blut von dem Ritual befand. „Carsten?“ Dieses Mal legte sie ihre angenehm kalte Hand auf seine Wange. Er blinzelte erneut, ein lichtähnlicher Schein drang durch die verschwommene Finsternis. Es war anstrengend, sich darauf zu konzentrieren. Seine Augen wirkten so ausgetrocknet als wäre ihnen sämtliche Flüssigkeit entzogen worden. Und doch, diese Stimme… „… Nane?“ „Ein Glück…“ Er hörte Ariane aufatmen. „Wie viele Finger halte ich hoch?“ Erneut versuchte Carsten seine Sicht zu schärfen. Alles schwankte und die Übelkeit brodelte immer noch in seinem Magen. Nur allmählich schaffte er es, schwache Kontraste zu erkennen. „Ich… ähm…Drei?“ „… Okay, das lassen wir zur Ausnahme mal gelten.“ Bedrückt atmete Ariane aus und legte wieder die Hand auf seine Stirn. Er hatte wohl danebengelegen. „Wer war das? Was hatte die vor?“, erkundigte sich Ariane besorgt. Entfernt bemerkte Carsten die Kampfgeräusche und fragte sich, wie lange es Laura noch schaffen würde, dieser gestaltwandelnden Schwarzmagierin die Stirn zu bieten. „Sie… Sie hatte irgendetwas erzählt von… von wahrer Macht und…“, versuchte er zu erklären. Allmählich realisierte Carsten, was eigentlich gerade geschehen war. Was hatte sie vorgehabt? Hatte sie diese Kräfte erwecken wollen?! Carstens Atem beschleunigte sich. „Sie- sie sprach von Freiheit und einem Preis und- und besonderen Kräften, aber- aber ich wollte nicht und konnte mich nicht wehren, weil-“ Der Schwindel wurde stärker, während die Worte nur so aus ihm heraussprudelten und er gleichzeitig hektisch atmete. Ihm wurde immer unwohler, je mehr er verstand. Je stärker die Gewissheit wurde. „Carsten, es ist gut. Es ist okay.“, versuchte Ariane ihn zur Ruhe zu bewegen. Er spürte den weichen Stoff ihres Pullis, als sie sich zu ihm vorbeugte und die Arme um ihn legte. Dennoch rang er nach Luft, konnte sich kaum auf diese tröstende Geste einlassen. Er schluchzte schwach. „Ich will diese Kräfte nicht… Ich…“ „… Hast du sie denn?“, fragte Ariane vorsichtig. Zögernd schüttelte Carsten den Kopf. „Ich glaube nicht… Sie… das Ritual schien noch nicht zu Ende.“ Ariane atmete hörbar auf. Vorsichtig löste sie die Umarmung, ihr Gesicht blieb aber dennoch ganz nah an dem von Carsten als sie meinte: „Dann ist ja nochmal alles gut gegangen, oder?“ Er nickte stockend. Auch, wenn er nach wie vor nur undeutlich sehen konnte. Fast so als befände er sich in einem sehr dichten Nebel oder bräuchte eine Brille mit sehr starken Gläsern. Eine Erkenntnis, die direkt wieder die Panik in ihm steigen ließ. Warum?! Was war passiert, dass- „Ich hab Angst, Nane…“, brachte er zitternd hervor, seine Stimme hatte immer noch kaum Kraft. „Der Bann, die schwarze Magie und jetzt auch noch… Das- das wird mir alles zu viel. Ich fühle mich als würde ich darin ertrinken…“ „… Vermutlich tust du das sogar.“, erwiderte Ariane vorsichtig. Gequält wich Carsten ihrem nur undeutlich erkennbaren Blick aus. Versuchte irgendwie das Schluchzen zu unterdrücken. Nach einigem Zögern legte sie wieder ihre Hand auf seine Wange und drehte sein Gesicht. Obwohl er alles nur verschwommen sah, konnte er ihr strahlendes Lächeln deutlich erkennen als Ariane meinte: „Aber dann ist es ja umso besser, dass ich letztes Halbjahr meinen Rettungsschwimmerschein gemacht hab, nicht wahr?“ Vor Überraschung erstarrte Carsten, als er ihre weichen Lippen auf seinen spürte. Und doch spürte er sich aufatmen, merkte wie sich sein Körper langsam entspannte, als er eine Hand in Arianes Haaren vergrub und den Kuss sanft erwiderte. Kapitel 107: Kleine Helden -------------------------- Kleine Helden       Schwer atmend versuchte Laura irgendwie mit Ariane und Benni mitzuhalten. Sie waren einfach nur durch die Gänge gewandert, einige Etagen weiter nach unten, als Benni irgendwas zu hören schien. Soweit so gut, aber als er plötzlich ganz untypisch für seinen Charakter einen Fluch ausstieß und meinte sie müssten sich beeilen, hatte mit einem Schlag die Angst in Laura übernommen. Also war wirklich jemand in Gefahr. Bennis Verhalten nach zu urteilen sogar in großer Gefahr! „Moment… Desinfektionsmittel? Carsten?!“, fragte Ariane besorgt, die durch ihren verbesserten Geruchsinn wohl eine Fährte aufgenommen hatte. „Er scheint in Schwierigkeiten zu stecken.“, bestätigte Benni verbissen. „Was?!“, entfuhr es Laura geschockt. Keuchend folgte sie den beiden um die nächste Ecke. Ob ihr Herz wegen des Rennens oder wegen der Panik und Sorge so raste, konnte sie nicht sagen. Hoffentlich geht es ihm gut! Bitte, es muss ihm gut gehen!, flehte Laura lautlos, rannte so schnell sie konnte. Und doch war sie nicht schnell genug, bremste die anderen eher aus. Die nächste Ecke. Und noch eine. Benni wies auf die Tür am Ende des langen Ganges. „Dort hinten in der Trainingshalle.“ Ariane nickte nur und preschte vor. Sie war schneller als Benni und mit Abstand schneller als Laura. So hatte sie den Trainingsraum bereits erreicht, als die beiden noch nicht mal die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten. Ariane stieß beide Türflügel auf. Eine weibliche Stimme hallte über ihre Köpfe hinweg, dunkle Rauchschwaden drangen nach außen. Laura erschauderte bei der bösartigen, bedrohlichen Atmosphäre. Was geht da vor sich?! Noch während diese Frage durch ihren Kopf schoss, hatte Ariane ihren Dolch gezogen und schleuderte ihn mit kraftvoller Präzision auf die Besitzerin dieser Stimme. Ein stechender Schmerzensschrei ließ Laura zusammenzucken. „Ihr verdammten-“, kreischte die Magierin und entfesselte einen Zauber. Inzwischen war auch Laura bei der Tür angekommen. Sie zog ihren Fächer und leitete Finsternis-Energie hinein, bevor sie die Flut an schwarzer Magie mit einem großen Schwung abfing. Dieses Mal genug, um auch alles absorbieren zu können. Benni nutzte den Schutz des Zaubers und griff aus der Deckung an. Die Frau gab einen keuchenden Laut von sich, als er seine Faust in ihren Solarplexus rammte und sie mit einem weiteren kraftvollen Schlag wegstieß. Erstmal weg, einfach nur weg von seinem besten Freund. Für einen Moment setzte den beiden Mädchen der Atem aus, während ihre Köpfe verarbeiten mussten, was ihre Augen zu sehen glaubten. Es wirkte wie ein okkultes Ritual mit den ganzen im Kreis angeordneten Kerzen und eigenartigen Runen auf dem Boden. Fast schon satanistisch, so wie Carsten da auf einer Art Steinaltar lag. Violette Magieblitze zuckten um seinen gesamten Körper und machten ihn vollkommen bewegungslos. Eilig rannten sie zu ihm, während Benni dafür sorgte, dass die Magierin ihnen nicht zu nahe kam. „Carsten, ist alles okay?!“, fragte Laura panisch und löste so schnell sie konnte diese unheimlichen Magiefesseln mit ihrer Finsternis-Energie. Dabei fiel ihr auf, dass auch eine über seinen Mund lief, als solle er so am Sprechen gehindert werden. Was gar nicht so unwahrscheinlich war, schließlich könnte er sonst auf Zaubersprüche zurückgreifen. Verbissen entfernte sie auch diese Fessel. „… Laura?“, fragte Carsten benommen, während sie und Ariane ihm halfen sich aufzusetzen. Besorgt betrachtete Laura ihren besten Freund. Er war kreidebleich und neben Schweiß und Tränen rannen auch Bluttropfen über sein Gesicht. Vermutlich von diesem schaurigen Ritual. Er wirkte noch ganz neben der Spur und wäre beim Aufstehen wohl zusammengebrochen, wenn sie ihn nicht sofort gestützt hätten. Laura biss sich auf die Unterlippe, schaute erst in Bennis Richtung und dann zu Ariane. „Bring ihn weg, wir kümmern uns um das hier.“ Nane nickte bloß und während sie Carsten half aus der Gefahrenzone zu kommen, rannte Laura zu Benni, welcher gerade einem weiteren Angriff auswich. „Das ist dieser gestaltwandelnde Schwarzmagier?“, vergewisserte er sich. „Ähm…“ Irritiert hielt Laura inne. War er das wirklich? Oder eher… sie? „Ich… ich hab sein wahres Gesicht noch nie gesehen.“ Aber doch. Diese violetten Augen… „Wie könnt ihr es wagen?! Wie könnt ihr wagen das Ritual zu unterbrechen?!“, schrie sie, die violette Aura loderte um ihren Körper als koche sie förmlich vor Wut. Grob riss die Magierin Arianes Dolch heraus, der ihre Hand durchbohrt hatte. Sie sprach einen Zauber, die Klinge färbte sich dunkelrot als sie ihn auf Laura und Benni schleuderte. Wie ein Pfeil schoss er auf sie zu, begleitet von einer schneidenden Druckwelle. Schnell schwang Laura ihren Fächer, als wolle sie den Angriff wie eine Kerze auspusten. Finsternis breitete sich wie ein Luftzug aus, verschlang die Energie des Dolches. Dieses Mal rannten sie und Benni gleichzeitig los, griffen die Magierin von beiden Seiten an. Dieses Mal war sie darauf vorbereitet. Eine finstere Barriere blockierte sie. Gerade so wich Laura zurück, um den plötzlich herausfahrenden Stacheln zu entkommen. Einer streifte sie knapp am Oberschenkel und dem Stechen in der rechten Seite nach zu urteilen, hatte sie noch einem nicht rechtzeitig ausweichen können. Laura biss sich auf die Unterlippe und versuchte das unangenehme Ziehen zu ignorieren. Stattdessen gewann einen Moment lang die Sorge um Carsten überhand. Laura schaute hinter sich, sah zum Teil, wie Carsten hinter einer Ecke an der Wand lehnte und Ariane ihn zu beruhigen versuchte. Als sie zu Boden geworfen wurde, bevor messerscharfe Federn die Luft zerschnitten, wo sich zuvor noch ihr Kopf befunden hatte. Erschrocken schnappte Laura nach Luft. „Du lässt dich immer noch zu leicht ablenken.“, kommentierte Benni lediglich, absorbierte einen weiteren Angriff und zog sie wieder auf die Beine. Weg von dieser Stelle, bevor sie beide von diesen Federn durchlöchert werden konnten. … Falls man einen Geist wirklich durchlöchern konnte. Aber Laura konnte sich gut vorstellen, dass Benni das gar nicht erst ausprobieren wollte. Noch einen Angriff blockte er selbst mit seiner Finsternis-Energie und streckte die Hand aus, um mit aus dem Boden schießenden Erdstacheln zu kontern. Doch die Schwarzmagierin wurde mit einem Schlag zu einem schwarz-weißen Vogel, versuchte über ihre Köpfe hinweg zu ihrem eigentlichen Ziel zu gelangen. „Hey!“, schrie Laura. Mit ihrem Fächer zerschnitt sie die Luft und sandte eine Finsternis-Front aus. Die Elster konnte nicht rechtzeitig ausweichen, verlor an Energie und Höhe. Genug, dass Benni sie mit einem Sprung und einem gezielten Schlag in die entgegengesetzte Richtung beförderte, dorthin zurück wo sie hergekommen war. Als der Vogel gegen die Wand prallte und zu Boden stürzte, nahm er wieder die Gestalt der Indigonerin an. Diese grinste, als habe sie gerade den Spaß ihres Lebens, und schnitt sich mit einer Klinge die wie eine Feder aussah in die Handfläche. Hinter sich spürte Laura Energie. Kurz darauf trafen weiße Eiskristalle auf schwarze Feuerkugeln. Ein explosionsartiger Rauch breitete sich aus, an dem sich Laura verschluckte. Irritiert versuchte sie sich in der gräulichen Wolke umzuschauen, doch ohne Erfolg. Ein Kichern ließ sie ruckartig umdrehen, doch da war nichts. Stattdessen kam die Stimme aus der anderen Richtung. „Ein netter Versuch, sich durch eingeschränkte Sicht einen Vorteil verschaffen zu wollen.“ Wieder eine andere Richtung. „Aber dieser Vorteil ist nicht für euch.“ Lauras Atem beschleunigte sich. Wo war sie?! In den Rauchschwaden meinte sie einen Schatten zu erkennen, die Statur schien jedoch nicht weiblich. Benni? Hastig rannte Laura zu ihm, während er sich zu ihr umdrehte. Als sie das violette Leuchten sah war es schon zu spät. Vor Schreck blieb Laura der Schrei in der Kehle stecken, sie glaubte die Federklinge bereits im Auge zu spüren. „Runter!“ Laura bekam gar nicht mit, wie sie diese Anweisung befolgte. Aber der alles durchdringende Schrei verriet ihr, das Richtige getan zu haben. Keuchend richtete sie sich wieder auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Trotzdem gelangte ein Teil in den blutenden Kratzer an ihrer Schläfe, der unangenehm zu brennen begann. Und doch war sie deutlich besser davongekommen als ihre Gegnerin. Diese wich zurück, hielt sich wimmernd den Unterarm dessen Ende nur noch ein blutiger Stumpf war. Im Gegensatz zu Jack und Ariane, die im Nachhinein doch ziemlich freundlich waren als sie ihre Hände nur durchlöchert hatten, war Benni wohl weniger nachsichtig und hatte direkt die gesamte Hand mit einer Eisklinge abgeschlagen. Doch bevor Laura ein Schauder überkommen konnte, spürte sie eine Hand auf ihrem Rücken. Sie schaute zur Seite, der Blick den sie und Benni austauschten war nur kurz. Eine bessere Gelegenheit bekamen sie wohl nicht so schnell. Schwach nickte Laura und rannte auf die immer noch vor Schmerz schluchzende Magierin zu, die ihre Verkleidung nicht länger hatte aufrechterhalten können. Ein hysterisches Kreischen drang aus der Kehle der Indigonerin, als sie ihr Blut nutzte und es als schneidende rote Federn auf Laura feuerte. Laura wich zurück, einige Federn streiften ihre Oberarme und Beine, bevor sie es schaffte sich mit der Finsternis-Energie zu schützen. Benni nutzte den Moment der Ablenkung und startete einen Angriff, sodass sich die Aufmerksamkeit der Schwarzmagierin nun auf ihn richtete. Dunkelrote Vögel formten sich aus der leicht dickflüssigen Substanz und griffen ihn an, als sei er der bedrohlichere Gegner von ihnen beiden. War er ja auch. Und genau deshalb war es am Ende Laura, die ihre in Finsternis gehüllte Handfläche in die ungeschützte Seite schlug. Die Schwarzmagierin schrie lautlos auf, als ihr die Kraft mit einem Schlag entwich und sie bewusstlos zu Boden fiel. Schwer atmend hielt sich Laura die schmerzende Seite. Sie taumelte etwas zurück, benommen von der Erschöpfung und dem ganzen roten Blut, was sich vor ihren Augen ausbreitete. Doch bevor sie in die Knie sackte, spürte sie einen stützenden Griff. „Geht’s?“, fragte Benni. Bei seiner sanften Stimme vergaß Laura glatt wieder, dass es sein Angriff war, der dafür sorgte, dass diese Indigonerin gerade eigentlich zu verbluten drohte. Immer noch wie betäubt nickte sie, ihr gesamter Körper zitterte als wäre die Kälte jener Tiefkühlkammer nach wie vor in ihren Knochen. Benni schenkte dieser Antwort wenig Beachtung und entfernte ihre Hand vorsichtig von der schmerzenden Stelle. „Tief ist die Wunde nicht, aber Carsten oder Susanne sollten sie sich trotzdem mal anschauen.“ Ihr Nicken war mehr automatisiert, als dass sie diesen Rat tatsächlich als solchen wahrgenommen hätte. Benommen betrachtete Laura das Blut auf ihrer Handfläche, immer noch schien sich ihre Umgebung etwas zu drehen. Wie Benni nach den restlichen Kratzern schaute, bekam sie kaum mit. Erst, als er vorsichtig etwas Blut von ihrer Schläfe wischte, ohne die Wunde selbst zu berühren, blickte sie auf. „Ist wirklich alles in Ordnung?“, vergewisserte er sich erneut. Für einen kurzen Moment blieb Laura der Atem weg, als sie den besorgten Blick im schwarzen und roten Auge bemerkte, sodass ihr schon wieder die Tränen kamen. Hastig nickte sie und wandte sich ab, absolut überfordert von dieser Gefühlsflut. „J-ja, ja, alles okay.“ Bedrückt biss sich Laura auf die Unterlippe, als sie sah wie die Blutlache unter dem Körper der jungen Indigonerin immer größer wurde. „I-ich- ich weiß, sie ist unser Feind aber… wir können sie doch nicht einfach sterben lassen…“ Benni warf einen Blick in Richtung jener Ecke, wo Ariane und Carsten sich gedämpft unterhielten. „Sie schuldet uns ohnehin einige Antworten.“ Laura wollte ihn schon erschrocken fragen, was er vorhatte, als er sich neben den bewusstlosen Körper der Gestaltwandlerin kniete und ihren demolierten Arm hob. Sie erwartete automatisch, dass er die Blutung mit Feuer-Energie stoppen würde. Alleine bei der Vorstellung des Gestankes musste sie bereits würgen. Schaudernd wandte sich Laura ab und hielt sich die Nase zu, doch es war Pflanzen-Energie, welche sie letztlich spürte. Als sie zögernd einen Blick über die Schulter wagte, kam Benni schon zu ihr rüber und schob sie in Richtung Ariane und Carsten. Bei den beiden angekommen, kniete sie sich neben ihren besten Freund und berührte vorsichtig seine Schulter. „Wie geht’s dir?“ „Wie hast du… Ist sie…“, setzte Carsten benommen an, ein Hauch Sorge lag in seiner Stimme. Bedrückt lächelte Laura. Und dabei sollte er doch gerade viel mehr an sich selbst denken als ausgerechnet an die Frau, die ihn für irgendein zwielichtiges Ritual missbrauchen wollte. „Sie ist nicht tot.“, antwortete sie nur. Verwirrt wandte sich Carsten ihr zu. „Aber wie konntest du… Das… das war schwarze Magie, wie… Ganz alleine?“ „Ähm nein, ich-“ Laura stockte. Irritiert schaute sie zu Benni, der zwischen ihr und Ariane kniete und bisher noch kein Wort gesagt hatte. Sein Blick verriet, dass er denselben Gedanken hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Benni war bei ihnen! Er saß seinem besten Freund direkt gegenüber und Carsten reagierte nicht darauf?! All die Zeit hatte er so sehr darunter gelitten, hatte fast nichts gegessen deswegen! Und nun, jetzt, da Benni endlich wieder da war… Was… „… Carsten?“, fragte Laura zitternd. Eine eisige Kälte breitete sich in ihr aus, als sie realisierte, dass seine Pupillen irgendwie blasser wirkten als sonst. „W-was… was war das für ein Zauber?“ Carsten senkte den Blick, antwortete nicht. Was Lauras Panik umso größer werden ließ. Hatten sie es etwa doch nicht rechtzeitig geschafft?!? „Das war wohl irgendein komisches Ritual, um besondere Kräfte freizusetzen.“, erklärte stattdessen Ariane, blinzelte, als müsse sie gegen Tränen ankämpfen. „Ich bin mir ziemlich sicher, es unterbrochen zu haben, aber…“ Lauras Herzschlag setzte aus. „… Aber?“ Dieses Mal schaffte es Carsten, von sich aus zu antworten. Seine Stimme war schwach, als er meinte: „Ich sehe kaum was…“ „W-was?!“ Was hatte er da gesagt?! Er…  „Ich… ich sehe alles nur verschwommen und… und irgendwie… es ist schwer zu beschreiben…“ Carsten senkte den Blick, schaute auf seine zitternden Hände. Falls er sie überhaupt betrachten konnte… Tränen kamen in Laura hoch. Hatten sie ihm doch nicht rechtzeitig genug helfen können? Oder hatten sie vielleicht alles nur noch schlimmer gemacht?! „Aber wieso?!“, fragte sie schluchzend. „Wir- Es könnte ja auch nur ein vorübergehender Effekt sein.“, warf Ariane ein, als suche sie nach einer Erklärung. Einer besseren. Eine, die ihnen irgendwie noch Hoffnung versprach. „Vielleicht hast du etwas Blut in die Augen bekommen und die sind jetzt total gereizt. Oder dieses unheimliche Licht hat dich geblendet, wie wenn man etwas zu lange in die Sonne geschaut hat. Wir sollten auf jeden Fall Susi finden und sie bitten, das mal genauer zu untersuchen. Selbst wenn diese eigenartigen Kräfte irgendeinen Preis fordern, das Ritual war definitiv noch nicht fertig. Konnte Mars den Bann nicht unter anderem aus dem Grund brechen, da Leonhard es damals nicht geschafft hatte, den Zauber zu Ende zu bringen? Sollte es bei dir so ähnlich sein heißt das auch, dass es für dich ebenso ein Schlupfloch geben muss.“ Bei Arianes Wortschwall konnte sich Laura trotz der Tränen ein schwaches Lächeln nicht verkneifen und selbst Carstens Panik schien etwas nachzulassen. Optimistisch sein war eine Sache. Aber wie zum Teufel schaffte sie es das auch noch mit logischen Argumenten zu verbinden?! „Wir sollten uns auf jeden Fall auf die Suche nach den anderen machen.“, ergänzte Ariane. „Findest du nicht auch, Benni?“  „… Benni?“ Überrascht blickte Carsten auf. Obwohl er seine Umgebung nur schwach erkennen konnte, traten ihm Tränen in die Augen als könne er doch irgendwie sehen, dass sein bester Freund ihm gegenüber kniete. Dieser richtete sich auf und hielt ihm die Hand entgegen. „Kannst du aufstehen?“ Laura hätte fast losgeweint, während sie beobachtete, wie Carsten einfach nur zu ihm hochschaute. Nicht in der Lage zu glauben, dass er tatsächlich da war. Fast schon, als hätte er Angst. Als befürchtete er doch nur ins Leere zu greifen, sobald er die Hand berühren würde. Die ersten Tränen rannen über seine Wangen, sein Körper zitterte, wirkte so schwach. So, als würde er niemals aus eigener Kraft aufstehen können. Als wäre es schon eine Zumutung, den Arm überhaupt auszustrecken. Doch schließlich ergriff er Bennis Hand und ließ sich aufhelfen. Ehe sich Benni versah, hatte Carsten auch schon schluchzend die Arme um ihn geschlossen. Und endlich, endlich, zeigte er, wie viel Schmerz und Verzweiflung sich tatsächlich all die Zeit in sein Herz gefressen hatte. Endlich ließ er all das raus, was er vor ihnen allen und sich selbst versucht hatte zu verbergen. Mit einem traurigen Lächeln wischte sich Laura über die Wangen. Sie beobachtete, wie Benni nach einem Zögern die Umarmung erwiderte, während Carstens herzzerreißendes Schluchzen wie ein Stechen durch ihre Brust fuhr. Sie hatte es schon immer gehasst, ihn weinen zu sehen. Laura wusste nicht wieso, doch gerade, wenn Carsten in Tränen ausbrach, tat ihr das immer besonders weh. Selbst noch am ganzen Körper zitternd, konnte Laura nur dank Arianes Hilfe aufstehen. Die beiden Mädchen tauschten ein bedrücktes und doch erleichtertes Lächeln aus. Auch, wenn sie sich eigentlich beeilen sollten, diese Zeit brauchten sie. Diese Zeit brauchte Carsten.   ~*~   Mit gesenktem Blick ging Janine die letzten Stufen der Treppe hoch und folgte gemeinsam mit dem Rest Jack, welcher sie in den nächsten Gang führte. Die Stimmung war gedrückt, niemandem war zum Reden zumute. Obwohl Jack den Geheimgang direkt wieder verschlossen hatte, trugen sie die Geschehnisse dieses Ortes alle noch in ihren Herzen. Tatjana versuchte sich so gut wie möglich zusammenzureißen. Sollte es zu einem Kampf kommen, waren Tränen in den Augen eher von Nachteil, um gut zielen zu können. Und doch litt sie unter diesem Verlust. Kein Wunder, schließlich hatte sie mehrere Jahre Seite an Seite mit Amarth gekämpft. So etwas schweißte zusammen. Auch wenn man sich dessen bewusst war, wie instabil solche Freundschaften waren. Wie schnell der Tod einen solchen Freund entreißen konnte… Susanne hatte sich inzwischen zwar etwas beruhigen können, war aber immer noch leise am Schluchzen, während sie sich beim Laufen gegen Lissi lehnte, die tröstend einen Arm um ihre Schultern gelegt hatte. Anne war bisher leider nicht aufgewacht, weshalb sie immer noch von Jack getragen werden musste. Wehmütig betrachtete Janine ihn, seinen Rücken, den schlanken und doch athletischen Körper, während sie sich schmerzhaft daran erinnerte, wie viele Narben sich unter diesem schwarzen T-Shirt befanden. Und wie viele in seinem Herzen… Und dennoch hatte er ein so schönes Lachen. Oder gerade deswegen? Plötzlich schossen ihr Lissis Worte von vorhin durch den Kopf und ohne es zu wollen fiel Janines Blick auf seinen Hintern, der in der schwarzen Jeans ziemlich gut aussah. Also… nicht nur ziemlich… Mit glühenden Wangen schaute sie schnell zurück auf den Boden. „Er ist echt süß. Seid ihr zusammen?“, fragte Tatjana gedämpft und ließ sich etwas zu Janine zurückfallen. Sie schüttelte den Kopf. Das Glühen wurde stärker. Tatjana kicherte. „Ah, dann steht ihr noch in den Startlöchern?“ Verlegen spielte Janine mit einer ihrer Strähnen und wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Konnte man das wirklich so sagen? Na ja, als Wiedergutmachung hatte er sich ja gewünscht, mit ihr auszugehen. Und das obwohl sie… Tatjana lachte schwach auf und schob sich eine ihrer kurzen blau gefärbten Strähnen hinters Ohr. „Entschuldige, das sollte kein Verhör werden. Ich… ich habe einfach etwas Zerstreuung gesucht.“ „Ist schon in Ordnung…“ Weiterhin wich Janine ihrem Blick aus. Sie wurde den Gedanken nicht los, dass sich Tatjana mit diesen Fragen nicht nur von ihrer Trauer ablenken wollte. Es war eher… Zögernd schaute Janine wieder auf, in ihre hellblauen Augen. Konnte das wirklich sein? War sie es tatsächlich? Aber laut Schwester Vitoria sind doch alle ihre Familienmitglieder hingerichtet worden, also wie… Bevor sie um die nächste Ecke gingen rief Jack plötzlich: „Hey Mettigelchen, bitte nicht töten, wir sind’s nur.“ Das genervte Stöhnen war nicht zu verkennen. „Ich sollte dich genau deswegen töten.“ Alleine dieser Kommentar sorgte dafür, dass sich die Stimmung aufheiterte. Also ging es Eagle gut! Janine beschleunigte ihren Schritt, erleichtert und voller Erwartung, wer sich sonst noch bei ihm befand. Doch dieses Hochgefühl hielt nur so lange an, bis sie um die Ecke kamen und realisierten, dass er Öznur auf dem Arm trug. Sie schien zwar wach zu sein, aber so wie sie mit halb geschlossenen Augenlidern den Kopf gegen seine Schulter gelehnt hatte… „Was ist passiert?!“, entfuhr es Susanne besorgt. Hastig gingen sie auf die beiden zu. Bei ihnen waren auch Jannik, Konrad und Florian, sowie andere Leute, die sie noch nie zuvor gesehen hatten. Sogar ein Vampir und ein Zombie waren dabei, die beide zwar nicht tot, aber auch nicht bei Bewusstsein schienen. Und Ria, die mit einem Blick auf Anne erwiderte: „Dasselbe könnten wir euch fragen.“ Bedrückt atmete Tatjana aus. „Nachtmare…“ „Was?!“, entfuhr es Konrad geschockt. Wieder musste Tatjana gegen ihre Gefühle ankämpfen. „Sie ist außer Gefahr, keine Sorge. Amarth hat…“ „Verstehe…“ Ria seufzte, zwang sich zur Ruhe. Im Gegensatz zu Tatjana, die dabei eindeutig alle Mühe hatte, bis sie von ihrer Freundin in den Arm genommen wurde. Mit einem immer noch unwohlen Gefühl wandte Janine den Blick ab, als Tatjana die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Zerknirscht schüttelte Florian den Kopf. „Das sind erdenklich schlechte Bedingungen, um Mars gegenüberzutreten.“ „Das musst du uns nicht auch noch unter die Nase reiben.“, erwiderte Eagle bissig. „Beruhigt euch.“, schritt Konrad schlichtend dazwischen, bevor es in einem Streit ausarten konnte. „Wir sollten uns erst einmal auf die Suche nach den anderen machen.“ Eagle schnaubte. „Besonders nach Carsten, bevor dieser Schwarzmagier ihn zuerst findet.“ „Keine Sorge, darum hat sich Karma schon gekümmert.“, warf Jack ein. Irritiert schaute der Rest ihn an. Kritisch, aber auch hoffnungsvoll. „Wie meinst du das?“ Eagles Frage ignorierend warf Jack einen Blick auf die unbekannten Begleiter, während er Anne auf dem Boden absetzte. „Ihr gehört zu den Stimmen, kann das sein? Krass, ich kann euch durch die Erde überhaupt nicht wahrnehmen.“ „Weil wir Geister sind.“, antwortete eine der unbekannten Personen. Jack hob eine Augenbraue. „Oh cool. Gibt es irgendeinen Eid, den ihr nicht eingehalten habt?“ Verwirrt betrachtete Janine die anderen aus ihrer Gruppe, die bei seinem Kommentar loslachen mussten. „Ein Eid?“ „Herr der Ringe.“, erklärte Jannik gedämpft aber immer noch leicht belustigt. „Ach so!“ Als Janine sich an das Schattenheer erinnerte, musste auch sie auflachen. Zum Glück hatten sie einige Filmeabende in der Coeur-Academy gehabt, ansonsten hätte sie nie etwas von den Existenzen einiger Meisterwerke erfahren. „Und du bist der Junge, der vor kurzem noch dem Purpurnen Phönix jeden Wunsch von den Lippen gelesen hat.“, stellte eine Indigonerin fest, deren Körper wie bei den anderen Geistern leicht durchscheinend wirkte. Und die Janine seltsam bekannt vorkam. „So mehr oder weniger.“ Schulterzuckend richtete sich Jack wieder auf, hielt aber genauso inne als er sie schließlich erkannte. „Shit, ihr seht euch echt ähnlich.“ „Oh wie süß, du hast tatsächlich noch einmal deine Mama treffen können, Eagle-Beagle!“, rief Lissi begeistert aus. Doch statt darauf zu reagieren kam Eagles Mutter zu ihnen rüber, genauer zu Jack. Janine schauderte bei ihrem ernsten Blick. „Du warst es, nicht wahr? Du warst es, der…“ Die Atmosphäre, die sich zwischen den beiden bildete, war unheimlich, unangenehm. Der Ausdruck in Jacks Augen war schwer zu deuten. Er schien nicht teilnahmslos, aber auch nicht geplagt von Gewissensbissen. Er wirkte irgendwie stark und standhaft und zeigte doch auch Mitgefühl. Verstand, warum sich Sisikas Augen mit Tränen füllten und weshalb der Zorn in ihr hochkochte, als er ihre Frage mit einem Nicken beantwortete. Bei dem schallenden Geräusch zuckte Janine unverzüglich zusammen. Jack selbst reagierte überhaupt nicht auf die Ohrfeige. Eine ungemütliche Stille breitete sich aus, niemand wusste wirklich, wie er sich verhalten sollte. Janine senkte den Blick, hoffte einfach nur, dass es bald vorbei wäre, dass irgendjemand dieses Schweigen brechen würde. Bis es schließlich Sisika selbst war, die mit gezwungen ruhiger Stimme sagte: „Ich werde dich nicht fragen, warum. Es interessiert mich nicht. Nichts rechtfertigt eine solche Tat. Ich hoffe nur, dass du dir inzwischen zumindest dessen bewusst bist.“ Nervös spielte Janine an einer Haarsträhne, fühlte sich immer unwohler in ihrer Haut. Natürlich verstand sie Sisikas Worte. Und auch wenn Jack darauf nichts erwiderte, seit ihrem Gespräch im Krankenhaus, seit sie wusste wie tief Schuldgefühle in seinem Herzen verankert sein konnten, wusste Janine, dass auch er sie verstand. Aber dennoch… sie wurde den Gedanken nicht los, dass man diese Worte auch genauso gut gegen Chief richten könnte. Nichts, noch nicht einmal der Schmerz des Verlustes seiner Frau konnte rechtfertigen, warum er seinem Sohn so etwas angetan hatte. Selbst das konnte es nicht wiedergutmachen, dass Carsten all die Zeit schon stumm unter den Folgen dieser Anstalt gelitten hatte. Mit diesem Wissen fiel es Janine leicht, Jacks Taten zumindest nachvollziehen zu können. Besonders seit sie wusste, was er selbst dort hatte ertragen müssen. Dass seine Aussage vor zehn Jahren ausschlaggebend war, warum Carsten zumindest diese Erfahrungen nicht hatte machen müssen. Lissis angespanntem Blick nach zu urteilen dachte sie auch etwas in diese Richtung. Ärgerte sich über Sisikas Unwissenheit und die damit einhergehende Ungerechtigkeit. Doch bevor sie etwas sagen konnte, wandte sich Jack ab und kniete sich zu Susanne, die Anne stützte. „Wir sollten weiter.“ Sisika ballte die Hände zu Fäusten. „Willst du nicht zumindest etwas dazu sagen?!“ „Wieso? Es gibt Dinge, die nicht verziehen werden können.“ Jack hob Anne wieder hoch und deutete in die Richtung, in welche sie nun gehen würden. „Umso beeindruckender ist es, wenn manche Leute trotzdem diese Stärke besitzen.“ Während sie ihm folgten, verlor sich Janine in dem Gedanken wie traurig es eigentlich war, dass Sisika noch nicht einmal wusste wen Jack mit dieser Aussage gemeint hatte. „Denkst du nicht, sie sollte erfahren, warum du das gemacht hast?“, fragte Lissi ihn zerknirscht, aber leise. Er schüttelte den Kopf. „Du weißt, dass er das nicht wollen würde.“ Wenig überzeugt schaute sie nach hinten. Janine tat es ihr gleich und konnte sehen, wie Sisika schweigend neben Eagle lief und eine Hand auf seiner Schulter liegen hatte. „Trotzdem ist es unfair.“, hörte sie Lissi sagen. Jack lachte schwach auf. „Wann ist jemals etwas fair?“ Bedrückt betrachtete Janine den Boden vor ihren Füßen. So schön es auch war, dass sie Carsten zuliebe Sisika in Unwissenheit lassen wollten… „… Ist das euer Ernst?“ Überrascht blieb Janine stehen und drehte sich um, als sie diese schwache Stimme hörte. Der Rest tat es ihr gleich, beobachtete, wie sich Öznur irgendwie aus Eagles Griff wandte und vorwurfsvoll fragte: „Nach allem was passiert ist, wollt ihr das wirklich einfach so unkommentiert stehen lassen?!“ „Özi…“, setzte Eagle an. Sie war noch viel zu wackelig auf den eigenen Beinen, dennoch taumelte sie abwehrend nach hinten, als er Anstalten machte sie zu stützen. „Nix da. Dass du nicht genug Eier in der Hose hast, um deiner Mutter zu sagen was Sache ist, hatte ich mir ja denken können.“ Verärgert wandte sie sich an den Rest. „Aber dass ihr kein Klartext redet…!“ „Was für Klartext?“, fragte Sisika verwirrt. Geräuschvoll atmete Jack aus. „Öznur, komm wieder runter. Du kennst Carsten, er-“ „Er frisst alles in sich rein und ist derjenige, der unter unserer Unwissenheit die ganze Zeit schon am meisten gelitten hatte!“, rief sie aufgebracht. „Es reicht! Ich kann diese ganze Geheimnistuerei nicht mehr sehen!“ Überrascht fragte sich Janine, woher Öznur plötzlich diese Energie hernahm. Denn sie war noch lange nicht fertig. Wutentbrannt wandte sie sich Sisika zu. „Weil dein Mann es nicht auf die Reihe gekriegt hat mit seinen Gefühlen umzugehen, musste Carsten darunter leiden! Er hatte ihn behandelt als würde er nicht existieren! Er hatte ihn auf eine Anstalt geschickt, wo die Leute Kinder wie Dreck behandeln! In der sie zur Strafe gefoltert werden!“ Jack biss die Zähne zusammen. „Öznur.“ Gefangen in ihrer Rage zeigte sie auf ihn. „Wirf einen Blick auf seinen Oberkörper! Und dann wollen wir mal sehen, ob es dich immer noch nicht interessiert, warum er das gemacht hat!“ „Öznur!“ „Es ist doch so!“, schrie sie. „Was habt ihr Schüler da nochmal gesagt?! Es gibt nur zwei Wege, um aus dieser Anstalt rauszukommen?! Entweder man endet als Verbrecher oder man bringt sich um?!“ Jack schien noch irgendetwas erwidern zu wollen, doch letztlich kam nichts über seine Lippen. Schwer atmend wandte sich Öznur wieder Sisika zu. Sie war nach wie vor noch viel zu erschöpft, aber dennoch schien sie sich mit dieser Ungerechtigkeit nicht zufriedengeben zu wollen. Eine Ungerechtigkeit, bei der ihr sogar die Tränen in den Augen standen. „Jack sagte eben es gibt Dinge, die nicht verziehen werden können. Weißt du jetzt, was er damit eigentlich gemeint hat?“ Entgeistert erwiderte Sisika ihren Blick, als könnte sie nicht verstehen, wovon Öznur da sprach. Oder vielleicht eher, als würde ihr Unterbewusstsein sich dagegen wehren es zu verstehen. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Janine aus, nervös spielte sie an einer ihrer Strähnen. Das Schweigen was nun entstand war sogar noch unerträglicher als das zuvor. Und während sie Sisikas Gefühlskampf, den Unglauben und das gleichzeitige Entsetzen, nicht länger mit ansehen konnte, wurde ihr schmerzhaft bewusst, warum Jack nichts gesagt hatte. Warum er genau diese Situation hatte vermeiden wollen. War es das wirklich wert? Hatte sie wirklich erfahren müssen, was ihrem Sohn angetan worden ist? Nur der Gerechtigkeit wegen? Die Unterlippe von Carstens leiblicher Mutter begann zu beben. „Willst du mir etwa sagen, dass… Aber wie- wieso…?“ „Es ist meine Schuld.“, warf zur Überraschung aller plötzlich Eagle selbst ein. Was Sisikas Entsetzen nicht gerade minderte. „Ich… ich war ein Arschloch und wollte Carsten… Ich wollte ihn loswerden. Vater kann nichts dafür, er-“ „Nein Eagle. Auch wenn du ohne Zweifel ein Arsch warst, dein Vater war was Carsten betrifft ein genauso egoistischer Mistkerl.“, widersprach Öznur ihm fest und richtete erneut das Wort an Sisika. „Solltest du deinen Mann im Reich der Toten treffen frag ihn mal, ob er von den Gerüchten über die Anstalt gehört hatte, auf die er seinen Sohn geschickt hat. Und ob er sich bewusst ist, was für ein Trauma Carsten davon nun hat. Und dann hoffe ich, dass du ihm mindestens genauso eine Ohrfeige verpasst wie bei Jack vorhin.“ Sprachlos schaute der Rest sie an, während Öznur auf dem Absatz kehrt machte und an ihnen vorbeiging. Jannik fing sich als erster, fragte gedämpft ob es ihr gut ginge und sie schon alleine gehen könne. Etwas überfordert verharrte Janine noch eine Weile an ihrem Platz und wandte betreten den Blick ab, als sie sah wie Sisika die Tränen des Schocks nicht länger zurückhalten konnte. Eben noch hatte sie gedacht, wie ungerecht es war, dass Jack Sisikas Wut und Unwissenheit abbekommen hatte. Aber jetzt… Das ist nicht fair…   ~*~   Bedrückt beobachtete Laura, wie Carstens Schluchzen allmählich nachließ und er sich so langsam wieder beruhigte. Endlich hatten sie Benni wieder getroffen, endlich war er wieder bei ihnen! Und genau jetzt hatte irgendeine verrückte Schwarzmagierin dafür gesorgt, dass Carsten durch ein seltsames Ritual den Großteil seines Augenlichtes verloren hatte. Genau jetzt, bei ihrem Wiedersehen, war er nicht dazu in der Lage zu sehen. Das war so unfair! Laura biss sich auf die Unterlippe, versuchte ihre Tränen zurückzuhalten. Ariane merkte das und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. Mit einem schwachen Lächeln erwiderte Laura ihren Blick. Ehe sie erschrocken aufquietschte, als Ariane sie nach vorne zu Benni und Carsten schubste. Carsten lachte auf, als Laura gegen die beiden Jungs fiel. Und noch bevor sie Ariane verärgert anschauen konnte, spürte sie, wie er einen Arm um sie legte und Benni es ihm kurz darauf gleichtat. Nun musste auch Laura lachen. Eine angenehme Leichtigkeit breitete sich in ihrem Herzen aus, die Tränen kamen nun nicht mehr aus Frust sondern Freude. Sie kuschelte sich an die beiden, genoss einfach nur diesen Moment. Atmete tief ein, gönnte auch sich selbst eine Pause. Zumindest kurz, ehe sie einen verschmitzten Blick auf Carsten warf und sich etwas aus der Umarmung schälte, um auch noch Ariane dazu zu zerren. Die einen genauso erschrockenen Laut von sich gab wie Laura zuvor. Und auch sie musste schließlich lachen und packte Laura und Carsten mit dem für Ariane so typischen festen Griff. Benni schien leicht amüsiert. „Ich habe einiges verpasst, kann das sein?“ Das deutlich verlegene Lächeln und der schüchterne Blick, den Ariane und Carsten austauschten, brachte Laura zum Stutzen. „Ich glaube ich auch…“, murmelte sie, eher zu sich selbst. Eigentlich hatte sich nichts an der Art wie sie miteinander interagierten verändert und doch wirkten sie irgendwie vertrauter als sonst. … Na endlich! Bei dieser Erkenntnis wollte Laura am aller liebsten auf und ab hüpfen. Und auch Benni schien sich darüber zu freuen… Woran auch immer sie das bei ihm zu erkennen meinte. Irritiert blickte Laura auf, als sie Schritte im Gang bemerkte. „Wer…“ „Carsten?!“, hörten sie eine bekannte, tiefe Stimme rufen. Ariane klopfte Carsten grinsend auf die Schulter. „Jemand, der sich ziemlich viele Sorgen zu machen scheint.“ Wenig später betrat ein Haufen vertrauter und liebgewonnener Gesichter den Raum. Erleichtert lachte Laura auf, wurde kurz darauf auch schon von Lissis überschwänglicher Freude begrüßt. „Ein Glück, es geht euch gut.“, brachte Susanne erleichtert hervor und drückte sie ebenfalls an sich, genauso wie Janine. Froh und doch auch besorgt erwiderten sie auch Öznurs Umarmung, die extrem erschöpft wirkte und sogar von Jannik gestützt werden musste, während Eagle seinen kleinen Bruder in die Arme schloss. Was wohl ziemlich fest war, so wie sich Carsten dagegenzustemmen versuchte. „Eagle, du erdrückst mich…“, brachte er halb erwürgt hervor, was sie alle zum Lachen brachte. Besonders, da Eagle nicht gerade die Absicht zu haben schien seinen Griff zu lockern. „Was sollte das für eine geisteskranke Aktion?! Was hast du dir dabei gedacht?!“, rief er aufgebracht und Laura war sich ziemlich sicher, dass er alle Mühe hatte die Tränen zurückzuhalten. Mitfühlend beobachtete sie, wie Carstens eigentlich lustige Gegenwehr nachließ und er schließlich die Umarmung seines Bruders erwiderte. „Tut mir leid, ich…“ „Nichts ‚tut mir leid‘! Du hast uns bis in die hintersten Ecken dieses Schlosses verteilt! Wegen dir mussten einige ums nackte Überleben kämpfen! Und jetzt beschwerst du dich, dass ich dich erdrücke?!“ „Eagle, beruhige dich!“, rief Laura schockiert. Sie war sich ziemlich sicher, dass Eagle nur so reagierte, weil er sich unsagbare Sorgen gemacht hatte. Aber das hieß noch lange nicht, dass er Carsten deshalb so anschreien durfte! „Halt dich da raus!“ Erschrocken zuckte Laura bei seinem schroffen Ton zusammen, während Eagle diesen wieder gegen seinen kleinen Bruder richtete. „Weißt du eigentlich, was wegen dir alles fast passiert wäre?! Wer alles kurz davor war, diese Aktion von dir mit dem Leben bezahlen zu müssen?! Oder sogar mit dem Leben bezahlt hat?!?“ Auch Carsten wirkte leicht eingeschüchtert. „Ich… Ihr… Dieser Zauber… Sie hätte euch umgebracht! Ihr wärt gestorben!“ „Das wären andere auch wegen deinem scheiß Schwarzmagier-Teleport!“ „Ihr wärt gestorben!!!“, brachte Carsten schluchzend hervor. „Ihr alle!“ Betreten senkte Laura den Blick, spürte wieder dieses Stechen in ihrem Herzen als Carsten schon wieder in Tränen ausbrach. „Ich weiß, dass es leichtsinnig war!“, schrie er, die Stimme heiser von dem ganzen Weinen. „Aber… aber in dem Moment…“ Sie merkte, wie Eagle den Griff nun eher um ihn verstärken musste, weil Carsten ansonsten komplett zusammengebrochen wäre. Seine Kraft reichte nur noch für ein schwaches Schluchzen. „Es tut mir leid… Es tut mir so leid…“ Bedrückt atmete Laura durch und wandte sich ab, bevor auch sie selbst die Kontrolle über ihre Tränen verlor. Sie konnte das nicht noch länger mitansehen. Schon wieder krallte er sich mit zitternden Händen an jemandem fest. Schon wieder wurde es zu viel, schon wieder… Und dabei hatte er sie doch nur vor dem sicheren Tod bewahren wollen. Er versuchte doch nur, das Beste für sie alle zu tun. Und das für gewöhnlich sogar auf seine eigenen Kosten. Er litt doch schon genug! Wieso musste er dann auch noch vom großen Bruder deshalb angeschrien werden?! „Was ist denn passiert?“, erkundigte sich Ariane derweil gedämpft bei Jack, der Anne gegen die nächstliegende Wand lehnte. „Ich sagte euch ja, dass wir die Geheimgänge meiden sollten.“, antwortete er tonlos und warf einen Blick auf Benni, welcher wie Laura zu ihm gekommen war. „Könntest du?“ Benni nickte bloß und kniete sich dazu, um seine Hand auf Annes Schulter zu legen. Ein grünes Leuchten umgab ihre Körper und ein imaginärer Windzug fuhr ihnen durch die Haare, in dem kleine Sandkörner tanzten. Kaum war das Strahlen verblasst, verzog Anne mit einem Schmerzenslaut das Gesicht. Erleichtert atmeten sie auf und fast schon automatisch machte Jack Susi platz, die im Hintergrund verunsichert das Geschehen beobachtet hatte. „Was…“, setzte Anne schwach an, war aber nach wie vor zu kraftlos, um sich umzuschauen. „Wie geht es dir?“, fragte Susanne zögernd. Tränen glitzerten in ihren Augen, als sie sich vorsichtig vor Anne kniete und eine Hand auf ihre Wange legte. „… Susanne? Wo…“ Behutsam aber doch fest schloss sie Anne in die Arme, konnte ihr Schluchzen nicht unterdrücken. „Es ist alles gut, es ist vorbei. Wir sind in Sicherheit.“ Es war nicht zu übersehen, wie sich Anne entspannte und die Augen wieder schloss, während sie den Kopf gegen Susannes Schulter lehnte. Irritiert blinzelte Laura. Moment mal… Könnte es sein, dass… „Du schuldest mir noch so einige Erklärungen.“, meinte Jack an Benni gewandt, nachdem die beiden sich wieder aufgerichtet hatten, um Anne und Susanne etwas mehr Freiraum zu lassen. „Inwiefern?“ Überraschend beleidigt verschränkte Jack die Arme vor der Brust. „Das fragst du ernsthaft?! Heute Morgen. Warum hast du Laura beschützt aber nicht mich, obwohl Mars mir fast die Kehle aufgeschlitzt hätte?!“ Er warf ihm einen traurigen aber irgendwie auch absolut süßen Blick zu, der aussah als habe man einen Welpen im strömenden Regen vor die Tür gesetzt. „Bin ich dir etwa nicht wichtig genug?“ „Retour dafür, dass du meine Kekse gegessen hast.“, erwiderte Benni nur. „Oh.“ Bei dem seltsamen Schlagabtausch der beiden mussten Laura und Ariane loslachen, sowie einige andere von ihnen, die das mitbekommen hatten. Auch Jack selbst konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. „Ich bin echt froh, dass du wieder da bist.“ Seine Erleichterung war fast schon spürbar. Besonders, als er Benni unerwartet in die Arme schloss. Zumindest für einen kurzen Moment, in welchem Benni leicht verwirrt war und Lissi ein gerührtes Seufzen von sich gab. Mitfühlend lächelte Laura, zuckte bei Arianes frustriertem Aufschrei jedoch erschrocken zusammen. „Rrrragh, das kann doch nicht wahr sein!“ Auf die irritierten Blicke hin fragte sie empört: „Wie macht ihr das alle?!“ Jack legte den Kopf schief. „Hä?“ „Na das!“ Demonstrativ ging Ariane zu Benni rüber und schaffte es mal wieder nicht, ihm auf die Schulter zu schlagen. „Bei Laura und Carsten okay. Kann ich verstehen. Aber du auch?!“ „Ach, das ist doch nicht schwer!“, rief Lissi und schlang die Arme um Benni. „Siehst du?“ Grummelnd verschränkte Ariane die Arme vor der Brust. Amüsiert klopfte Jack ihr auf die Schulter. „Du denkst zu viel nach.“ „Und du ganz offensichtlich zu wenig.“, konterte Ariane, immer noch eingeschnappt. Jack hob eine Augenbraue und schaute zu Benni. „Irgendwo hab ich das schon mal gehört.“ „Bennlèy und BaNane sind sich nun mal ähnlicher, als man auf den ersten Blick vermuten würde.“, merkte Lissi belustigt an, immer noch an Benni geklammert, der bei seinem Befreiungsversuch jedoch innehielt. „… BaNane?“ Janine kicherte. „Stimmt, das hast du vermutlich gar nicht mehr mitbekommen. Nach jenem Vorfall hat Lissi irgendwann beschlossen den Spitznamen anzupassen. Nur dadurch kommt es häufiger mal zu Missverständnissen mit Anne, besonders, wenn es irgendwie um Carsten geht.“ Laura konnte ihren Augen und Ohren kaum trauen, als Benni die Faust vor den Mund hielt und damit wohl instinktiv ein Lächeln und das glucksende Geräusch zu verbergen versuchte. Hatte er da gerade etwa fast… „Ist das dein Ernst?! Du ziehst die ganze Zeit ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter und ausgerechnet das findest du lustig?!“, empörte sich Ariane und schlug ihm auf den Hinterkopf. Und traf. Wovor besonders Ariane selbst im Nachhinein erschrak. Benni schaute sie vielsagend an. „Das war ja klar. Hauptsache du regst dich über mich auf, nicht wahr?“ Grinsend erwiderte sie seinen Sarkasmus. „Das konnte ich eben schon immer am besten.“ Während der Rest in schallendes Gelächter ausbrach, stellte Laura erleichtert fest, dass sich auch Carsten durch ihren Blödsinn wieder hatte beruhigen können. Und selbst Öznur und Anne wirkten deutlich lebendiger als zuvor.   ~*~   „Wo bleibt Elster denn? Es wird doch nicht so schwer sein, zumindest einen von denen auszuschalten.“, murmelte er vor sich hin. Johannes schaute den Dämon ganz genau an. Obwohl er auf den ersten Blick wie Onkel aussah, wirkte er wie eine ganz andere Person. Diese böse Stimme, dieser böse Blick, diese böse Ausstrahlung, … Er war das genaue Gegenteil von Onkel, der Johannes damals vor den Monstern gerettet hatte. Monstern wie das, was da wenige Meter entfernt von ihnen auf dem Boden lag. So gut wie möglich versuchte Johannes nicht auf den toten Zombie zu schauen. Er wollte gar nicht erst auf die Idee kommen, was mit ihnen passieren könnte, wenn der Bösewicht sie entdeckte. „Sie haben sich nun alle gefunden.“, sagte Kito in seinem Kopf. Mini-Hulk hatte die Augen geschlossen und beobachtete alles, was im Schloss passierte mit einem Zauber, während sie Johannes über Telepathie davon erzählte und ihr Illusionszauber sie immer noch vor dem Dämon beschützte. Der saß auf seinem roten Angeber-Sofa und schaute Fernsehen. Sachen, die Johannes‘ Mama ihm niemals erlauben würde zu gucken und die trotzdem gerade viele Kinder sehen konnten. Weil es Sachen waren, die man nicht so einfach ausschalten konnte wie einen Fernseher. Weil man sich mittendrin befand. Johannes senkte den Blick. Irgendwie war er froh, dass er sich direkt bei dem bösen Boss befand. Er hatte das Gefühl, hier konnte ihm gerade am aller wenigsten passieren. Dieser atmete verärgert aus. „Wie immer, auf niemanden ist Verlass. Alles muss man selbst machen.“ Er schaltete den Fernseher aus und stand auf, um zur Tür zu gehen. „Nein, sie brauchen noch etwas Zeit!“, rief Kito erschrocken. „Wir müssen sie warnen!“ Ich kann ihn ablenken. „Was?! Nein Johannes, das ist viel zu gefährlich!“ Ach was, verlass dich auf mich! Johannes grinste Kito siegessicher an. Bevor sie ihn festhalten konnte, hüpfte er stolpernd aus der Illusion heraus. „Huuuuuuch?! Wo bin ich denn hier gelandet?!?“ „Wer zum-“ Verwirrt drehte sich der Dämon um. Arglos winkte Johannes ihm zu. „Oh, hallo Onkel! Wie geht`s? Was machst du hier? Wie geht es Tantchen?“ „Wie bist du hier her gekommen?“, fragte er kritisch, doch Johannes schenkte ihm keine Beachtung. „Sag mal Onkel, bist du nun mit Tantchen verheiratet? Nein, ich sehe keinen Ring. Schade. Aber seid ihr verlobt? Hast du ihr endlich einen Antrag gemacht?“ Während Johannes ihn vollquasselte wanderte er im Raum herum und ignorierte den toten Zombie, an dem er vorbeikam. Stattdessen hüpfte er auf das Angeber-Sofa und ließ die Beine baumeln. „Was interessiert dich das überhaupt?“ Er schien total von der Rolle. „Ach, nur so.“ Fasziniert nahm Johannes die silbern glänzende Pistole, die auf dem Angeber-Tischchen nebenan lag. „Coooool!!! Ist das die Pistole, mit der du mich damals gerettet hast, Onkel?! Mit der du diesen dummen Onkel erschossen hast?!“ „Erschossen?“ „Also… Angeschossen. Angeschossen heißt es. Er war ja nicht tot. Leider. Hätte es aber verdient, schließlich war er voll böse und eklig und gemein zu mir. Wobei, nicht so böse und eklig und gemein wie dieser gruselige alte Direktor, der dem coolen Zocker-Onkel als Kind so weh getan hat.“ „Woher weißt du-“ Er schüttelte den Kopf, musste wohl irgendwie seine Gedanken sammeln. Das Lächeln war unheimlich, bösartig, als er schließlich meinte: „Hör mal, Knirps, das ist kein Ort für so Drecksbälger wie dich. Komm, wir bringen dich hier weg.“ Trotzig verschränkte Johannes die Arme vor der Brust, weiterhin die Pistole in der Hand. „Wieso denn? Ich will hier nicht weg, hier ist es cool! Wie in einem richtigen Schloss! Der Rest ist langweilig und gruselig aber hier gefällt es mir! Man fühlt sich wie ein König! Oder nein, ein Kaiser! Wie ein Kaiser fühlt man sich!“ Der Dämon lachte schwach auf, als würde er sich tatsächlich so ein bisschen über das freuen, was Johannes da erzählte. Er wollte irgendetwas sagen, aber Johannes ließ ihn nicht zu Wort kommen. Er redete einfach weiter, redete ihn voll über alles was ihm so in den Sinn kam. Seinen ersten Ausflug in die Unterwelt, der Abenteuer-Kerker und wie lieb sich Onkel und Zocker-Onkel immer um sie gekümmert hatten, wie lecker das Essen war, was Zocker-Onkel so gekocht hatte, … Einfach alles. Mars war es eindeutig nicht gewöhnt, mit jemandem wie ihm zu reden und Johannes machte sich einen Spaß daraus zu beobachten, wie er häufig genauso reagierte wie Onkel. Einfach überfordert. So überfordert, dass er wohl noch nicht einmal auf die Idee kam, ihn einfach mit seinen gruseligen Zerstörer-Kräften anzugreifen. Johannes saß in der Zeit einfach weiter auf dem Angeber-Sofa und wippte auf und ab. Trotzdem hatte er nicht vor, Onkels Pistole loszulassen. Schließlich war sogar jemand schon dadurch gestorben… Doch irgendwann merkte er, wie der böse Boss ungeduldig wurde. Wie er so langsam durchschaute, was Johannes mit seinem Gequassel versuchte. Dass er ihn einfach nur ablenken wollte. Eine eisige Kälte fuhr durch Johannes, als der Dämon böse lächelte. „So mein Kleiner. Jetzt ist aber genug.“ „… Onkel?“ Eingeschüchtert zog Johannes den Kopf ein, als er bedrohlich auf ihn zukam. Die Angst kroch in ihm hoch, er hatte keine Ahnung, was er jetzt machen sollte. Da hallte die magische Stimme eines Mädchens über die Köpfe von ihnen allen hinweg. „Kommt zur Erinnerung! Schnell!“ „Was- … Du.“ Der unheimliche, böse Blick richtete sich auf Kito, die den Illusionszauber aufgelöst hatte und nun vor dem kleinen Tischchen stand, unter dem sie sich zuvor versteckt hatten. „Na warte du kleines Miststück.“ Wie vorhin beim Zombie breitete sich eine rötlich wabernde Atmosphäre aus. Schoss auf das Dryaden-Mädchen zu. Kito gab einen schwachen Angstlaut von sich und wich zurück, wobei sie mit dem Rücken gegen den Tisch stieß. Johannes nutzte den Moment der Ablenkung. Er hüpfte vom Angeber-Sofa, hatte mit seiner Energie einen Schneeball in der Hand. Und warf. Er traf Mars mitten im Gesicht. Die purpurne Energie war verschwunden. Johannes und Kito mussten ein Kichern unterdrücken. „Du verdammter…“ Nun war er richtig wütend. Mit schnellen Schritten ging er auf Johannes zu, als wollte er mit bloßen Händen das Leben aus ihm herauspressen. Johannes schluckte die Angst herunter, stellte sich stattdessen eine Eisfläche auf dem glänzenden Angeber-Boden vor. Auf der Mars direkt ausrutschte und hinfiel. Dieses Mal konnte Johannes es nicht unterdrücken, er lachte den Dämon lauthals aus. Er hörte Kito einen Zauber sprechen, mit einem Schlag breitete sich eine durchsichtige Atmosphäre aus. Mitten beim Aufrichten erstarrte der Dämon. Die Augen weit aufgerissen vor Schreck. Vor einem Grauen, welches Kito ihm in den Kopf gepflanzt hatte. Diese rannte blitzschnell los, schnappte Johannes‘ Hand als sie an ihm vorbeikam. „Schnell, er ist zu stark! Ich kann den Zauber nicht lange funktionieren!“ Sie streckte ihre freie Hand aus. Kaum berührte sie Mars, waren sie auch schon alle drei verschwunden.   ~*~   „Fuck!“ Jacks plötzlicher Ausruf ließ Laura erschrocken zusammenzucken. „Was ist denn dir über die Leber gelaufen?“, fragte Anne kritisch, während sie sich von Susanne auf die Beine helfen ließ. Erleichtert stellte Laura fest, wie sie zumindest einen kleinen Teil ihrer Kraft zurückgewann. „Ich hatte mich schon gewundert, warum ich Johannes und Kito nirgends finden konnte…“, erklärte Jack zerknirscht und schaute in eine Richtung, irgendwo durch die Wand der Trainingshalle hindurch. „Mit etwas Glück hat Kito sie beide mit einem Illusionszauber versteckt, den selbst dein Tastsinn nicht durchschauen konnte.“, vermutete Florian. „Aber deiner Reaktion nach zu urteilen…“ Benni verstand ihn. „Sie sind bei Mars.“ „WAS?!“ Vor Schock entwich ihnen der Atem. Ausgerechnet Kito und Johannes, die jüngsten aus ihrer Gruppe, waren bei Mars gelandet?! „Wir müssen schnell zu ihnen!“, rief Susanne in Sorge. Panisch schaute sich Laura um, die anderen schienen ähnliche Gedanken zu haben wie sie selbst. Anne und Öznur ging es zwar etwas besser, aber für einen Kampf waren sie trotzdem viel zu geschwächt. Und Carsten… Verzweifelt beobachtete Laura ihn, seinen mutlosen Blick. Sah, wie Ariane eine Hand auf seinen Rücken legte. Er konnte nicht kämpfen. Carsten konnte nicht kämpfen, wenn er im Prinzip halb blind war! Doch der Rest wusste bisher noch nicht einmal davon… Nur Lissi schien zu erkennen, dass sein Blick nicht so fokussiert war wie sonst. Dass er es selten schaffte die Leute direkt anschauen zu können, als würde er nur seinem Gehör und undeutlichen Schemen vertrauen. Dann fiel ihr Blick auf die immer noch bewusstlose Indigonerin. „Ria, Tatjana, könnt ihr und die Geister aufpassen, dass diese Schlampe keine dummen Sachen macht? Wir werden später noch ihre Hilfe brauchen.“ Ria wirkte verwirrt. „Klar, aber wieso?“ Lissi schaute mitfühlend zu Carsten. Stellte die Frage, die sich Laura all die Zeit nicht getraut hatte zu stellen. „Wie viel genau kannst du erkennen?“ Lauras Herz quetschte sich zusammen. Besonders, als Eagle ungläubig und doch mit grausiger Vorahnung fragte: „…Wie meinst du das?“ Carsten ballte die Hände zu Fäusten, so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten und doch konnte er das Beben nicht unterdrücken. „Habt… ihr schon einmal etwas vom grauen Star gehört?“ „Dem was?“, fragte Öznur verwirrt, schien aber eigentlich nicht wirklich wissen zu wollen, was das war. Bedrückt senkte Susanne den Blick. „Eine Linsentrübung… Die Sicht wird unscharf und Kontraste lassen sich schwerer erkennen. Der Name kommt von der gräulichen Färbung hinter der Pupille.“ Carsten zwang sich zu einem schwachen Nicken. „Ich weiß nicht ob es wirklich sowas ist, aber… Aber die Beschreibung ist… ziemlich ähnlich…“ Laura schluckte. Also war das wirklich etwas Endgültiges? Konnten sie nichts dagegen machen?! Die Schwere dieser Worte konnte man regelrecht auf den Schultern spüren, nahm ihnen allen die Fähigkeit zu sprechen. Entsetzt schaute der Rest Carsten an, welcher schließlich mit zitternder Stimme meinte: „Ich kann so nicht gegen Mars kämpfen, ich…“ Er kniff die Augen zusammen, ein tränenersticktes Schluchzen. „Es tut mir leid…“ „Dich trifft keine Schuld, das war dieses kranke Ritual.“, versuchte Laura auf ihn einzureden, konnte sich selbst aber kaum zusammenreißen. Verbissen schaute sich Florian um. „Verdammt, wir müssen sofort los. Uns bleibt keine Zeit über einen Plan B nachzudenken. Kannst du ihn heilen?“ Susanne stand bereits bei Carsten und hatte eine Hand über seine Augen gelegt. „Ich weiß nicht…“, antwortete sie schließlich betroffen. Probehalber legte sie die andere Hand auf seine linke Schulter. „Es wirkt nicht so unheilbar wie das Mal des Schwarzmagiers, aber…“ Unsicher schaute Susanne zu den beiden bewusstlosen Unterweltlern, die Konrad und Florian wohl mit sich herumtrugen, um Benni nach dem Ritual vor dem sicheren Tod bewahren zu können. Auch Lauras Blick fiel auf die etwas Abseits stehende Gruppe. Irritiert hielt sie inne. Diese Indigonerin, die da neben Florian und Konrad stand… War das etwa… Laura schluckte schwer. Doch, das war ohne Zweifel Eagles und Carstens leibliche Mutter. Aber warum stand sie so weit entfernt? Warum war sie nicht genauso wie Eagle direkt zu Carsten gerannt?! Verwirrt schaute sie zwischen den beiden hin und her. War Sisika denn nicht froh, ihren Sohn zu sehen? Würde sich Carsten denn nicht über eine Umarmung seiner leiblichen Mutter freuen?! Gerade jetzt! Doch noch während Laura Luft holte, um irgendetwas zu sagen, bemerkte sie es. Es fühlte sich falsch an. Irgendetwas daran fühlte sich falsch an. Einen Moment lang herrschte bedrückte Stille. Dann hallte die magische Stimme eines Mädchens über die Köpfe von ihnen allen hinweg. „Kommt zur Erinnerung! Schnell!“ Laura schrak auf. Das war Kito! Jack stieß erneut einen Fluch aus. „Wir werden wohl improvisieren müssen.“ Eilig nahmen sie sich in kleineren Gruppen an die Hände. Sie wussten, jetzt kam es auf jede Sekunde an. Während sie Ariane die Hand reichte, bemerkte Laura den Blickaustausch zwischen Sisika und Eagle. Sah diesen wortlosen und doch liebevollen Abschied, der Eagle deutlich mehr belastete als er es sich anmerken lassen wollte. Laura schlug das Herz bis zum Hals, sie schaffte es vor Aufregung kaum zu atmen. Wie Sisika kurz zu ihrer eigenen Gruppe schaute, den Schmerz in ihren Augen, die Ohnmacht mitansehen zu müssen, wie ihr jüngerer Sohn sichtlich unter der gesamten Situation litt, bekam Laura durch ihre Panik gar nicht mehr mit. Lieber würde sie jetzt kurz vor den Schulabschlussprüfungen stehen als das, was sie nun erwartete. Sie konnte nicht klar denken, ihr wurde schwindelig. Erst als Benni seinen Händedruck verstärkte erinnerte sich Laura daran, was er ihr vor einigen Monaten beigebracht hatte. Langsam atmen. Herunterfahren. Noch während sie die Augen schloss und versuchte, alle seine Entspannungs- und Meditationstipps irgendwie gleichzeitig umzusetzen, hörte sie wie die Magier den Teleportzauber sprachen. Eine unsichtbare Macht zerrte an ihr, zog sie weg von dort. Hin zur alles entscheidenden Begegnung. Kapitel 108: Der Unzerstörbare - Teil 1 --------------------------------------- Der Unzerstörbare - Teil 1       Laura atmete noch einmal tief durch und verstärkte ihren Griff um Arianes und Bennis Hand, ehe sie sich dazu überwand die Augen zu öffnen. Die Schlucht sah genauso aus wie die Illusion aus Jacks Erinnerung. Der Raum war gigantisch, sie kam sich vor wie eine kleine Maus in einer gewaltigen Kapelle. Die Lichter der Magier verloren sich nach oben hin im Nichts und die Wände bestanden aus grobem Stein als wäre es ganz natürlich, dass sich unter diesem riesigen Schloss eine so tiefe Schlucht befinden konnte. Bei einem Blick vor ihre Füße erkannte Laura eine Furche vom Teil des Musters, welches die vier Kreise zu bilden schien. Überrascht stellte sie fest, dass die einst verschlossenen, überdimensional großen Türflügel nun weit offen standen. Und noch überraschter fiel Laura die Ruhe auf. Verwirrt schaute sie sich um. Sie waren alle hier. Alle außer… Noch während sie sich fragte, wo Kito, Johannes und Mars waren, wurde sie von einem plötzlichen Licht geblendet. Erschrocken stolperte Laura nach hinten in Benni hinein, als die drei Fehlenden wenige Meter entfernt von ihnen auftauchten. Eagle stieß einen Fluch aus. „Verschwindet von dort!“ Die beiden Kinder wichen unbeholfen zurück. Mars wollte nach ihnen greifen, doch in dem Moment hatte Kito sich und Johannes schon hinter Eagle teleportiert. Dieser schlug mit seinem Großschwert zu. Mit einem Zischen raste eine Windsichel auf Mars zu, die der Dämon mit einem Ausdruck der Belustigung und purpurn leuchtender Energie zerstörte. „So sieht man sich also wieder.“, grüßte er sie, mit dieser tiefen, samtenen Stimme, die so gar nicht zu dem Körper passte, den er nach wie vor beherrschte. Er richtete sich auf, blickte in die Runde. Betrachtete die ganzen Dämonenverbundenen. Es war so weit, nach all der Zeit standen sie dem Dämon gegenüber. Endlich hatten sie die Möglichkeit ihm ein Ende zu setzen. … Und jetzt? Unsicher was sie tun sollte, begab sich Laura in Verteidigungsposition. Andere taten es ihr gleich. Jeder schien darauf zu warten, dass ihr Gegner den Kampf beginnen würde. Dass der erste Angriff von ihm aus käme. Welcher irgendwie nicht so eine Absicht zu haben schien. Mars‘ Blick fiel auf Benni. „Beeindruckend, du hast es also tatsächlich geschafft. Bisher hatte ich nur davon gehört, dass Besitzer eines Gottesdämons diese Fähigkeit haben. Und? Wie fühlt es sich an, komplett ohne eine irdische Hülle zu sein?“ „Deutlich besser, da ich nicht länger gezwungen bin deinen Fanatismus machtlos ertragen zu müssen.“ Ein Schauder fuhr durch Lauras gesamten Körper, als sie Bennis eisige Stimme hörte. Bei einem vorsichtigen Blick zur Seite bemerkte sie das rötliche Glühen seines rechten Auges. Laura schluckte schwer. Benni war wütend. Richtig wütend. Unbeeindruckt dessen lachte Mars auf. „Ach komm, so machtlos warst du auch nicht. Immerhin hast du mich sogar zweimal daran hindern können, jemanden zu töten, der dir wichtig ist.“ Irritiert hielt Laura inne. Zweimal sogar? Das eine Mal war der Angriff auf sie selbst gewesen, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wann Benni noch jemanden vor dem sicheren Tod bewahrt haben könnte. Dieser biss die Zähne zusammen, schien kurz davor Mars von sich aus anzugreifen. Fast so, als wolle er es selbst übernehmen, dieses Monster aus seinem Körper zu vertreiben. Er war es leid, wie viele Menschen hatten sterben müssen. Wie viel Schaden durch seine Hände angerichtet worden war. Die Anspannung wuchs, Laura schaffte es kaum zu atmen. Sie wartete regelrecht darauf, dass sich alles in einer riesigen Explosion entladen würde. Und doch warteten alle nur. Sie warteten auf… irgendetwas. Wachsam, aber wartend. Der eine hoffte, den anderen in einem unachtsamen Moment zu ertappen. Ihn zu überraschen, zu einem voreiligen, unbedachten Angriff zu bewegen. Ein Schritt, bei dem man das Gegenüber auf dem falschen Fuß erwischen könnte. Bei dem man ihn irgendwie aus dem Gleichgewicht brachte. All das, was man gar nicht erkennen konnte, wenn man nicht wusste worauf zu achten war. Der Blick, die Haltung, … Wie ein gespannter Bogen. Man musste die Sehne nur noch loslassen, damit der Pfeil das Ziel durchbohren konnte. Es fehlte nur noch der richtige Augenblick. Zitternd wich Laura zurück als ihr bewusst wurde, wie viel dieses Kampfes bereits jetzt schon in ihren Köpfen ausgetragen wurde. Und das war die Bewegung, auf die er gewartet hatte. Erschrocken schrie sie auf, als sich ein Erdspalt zwischen ihr und Benni auftat, sodass sie zur Seite weichen musste, dabei über ihre Füße stolperte und hinfiel. Noch zu sehr davon eingenommen, bemerkte sie die zerstörerische Atmosphäre erst, als Benni sie mit seiner Finsternis-Energie abfing. Florian und Konrad starteten einen Konter, aber auch ihre Zauber wurden von Mars‘ Zerstörungs-Energie mit spielerischer Leichtigkeit geblockt. Eagle versuchte diesen Moment der Ablenkung für sich zu nutzen, doch dank Bennis Kampftalent wich Mars seinem Schwerthieb ohne Probleme aus. Laura spürte, wie sich Feuer-Energie freisetzte. Erschrocken hielt sie den Atem an, erwartete schon fast Eagles Schmerzensschrei zu hören, als eine andere Feuer-Energie die Flamme sofort wieder löschte. „Lass meinen Freund in Ruhe, du Wichser!“, brüllte Öznur, überraschend Energiegeladen dafür, dass sie vorhin erst knapp dem Tod entronnen war. Sie sandte eine lodernde Feuersbrunst aus, auf Mars zu, die zu einem brennenden Tornado wurde als Eagle sie mit seiner Wind-Energie verstärkte. Die gesamte Schlucht bekam eine rötliche Färbung, die Luft schien zu dampfen. Laura nutzte den Moment, um sich endlich wieder auf die Beine zu mühen und vor der sengenden Hitze und den Funken zurückzuweichen. „Onkel…“ Plötzlich stand da Johannes, der an Bennis T-Shirt zupfte und ihm seine Pistole entgegenhielt. Was zum- wie war er denn da drangekommen?! Benni zögerte kurz, doch schließlich streckte er die Hand danach aus. Sie war eine Dämonenwaffe, also war es gut möglich, dass er sie würde berühren können. Und tatsächlich, seine Finger konnten das silbern glänzende Metall umschließen. „Danke.“, erwiderte Benni nur und wuschelte dem bis über beide Ohren grinsenden Jungen durch die Haare. Erschrocken zuckte Laura zusammen, als er direkt den ersten Schuss abfeuerte und Mars davon abhielt Jannik zu nahe zu kommen, der sich von ihnen allen am wenigsten zu wehren verstand. Der Dämon warf ihm einen belustigten Seitenblick zu. Und ließ die Kugel fallen, die er mithilfe der Finsternis-Energie aufgefangen hatte. Anscheinend hatte er selbst diesen Trick übernehmen können. Noch während sie den klirrenden Aufschlag der Kugel hörte, wurde Mars von gewaltigen Ranken eingefangen, die ihn daran hinderten sich zu Jack umzudrehen. Laura selbst bemerkte seinen Angriff erst, als er direkt hinter dem Dämon stand. Mars knirschte mit den Zähnen und wandte sich um, zerschnitt die Pflanzen mit Wasser-Energie. Die sich sofort in einen Rudel Wasserwölfe verwandelten. Sie hielten ihn so gezielt fest, dass Jack ihn ohne Probleme hätte besiegen können. „Was machst du da?!“, brüllte Eagle verärgert zu ihm rüber, als Jack verbissen die Metallklauen wieder in der Armschiene verschwinden ließ und ihm nur mit der Faust die Luft aus den Lungen schlug. Keuchend sackte Mars auf die Knie. Dennoch lächelte er, holte zum Gegenschlag aus. Eine kochende Aura loderte um seine Faust als Mars zuschlug. Den ersten Angriff konnte Jack noch mit seiner Erd-Energie abfangen, doch die Wand war bereits zerschlagen als auch schon die zweite Faust auf ihn zuschoss. Laura hielt den Atem an, wollte sich gar nicht erst vorstellen was hätte passieren können, wenn sich nicht in dem Moment ein Seil um Mars‘ Handgelenk wickelte und der Dämon mit einem einzigen kräftigen Ruck aus dem Gleichgewicht gebracht wurde, was Jack genug Zeit verschaffte um auf Abstand zu gehen. Ein weiterer Peitschenhieb von Lissi hinderte Mars daran, ihm zu folgen. Der Herrscher der Zerstörung lachte auf. „Eine Kette ist nur so stark, wie ihr schwächstes Glied, nicht wahr?“ Laura biss sich auf die Unterlippe. Selbst wenn er gerade gezögert hatte, irgendwie war es gemein, Jack deshalb sofort als schwächstes Glied ihrer Gruppe zu bezeichnen. Susanne schien eine andere Befürchtung zu haben, so wie sie sich vor Anne stellte, die immer noch extrem erschöpft und kaum kampffähig wirkte. Aber auch Eagle schirmte instinktiv Öznur und Kito ab und Jannik wich etwas hinter Florian, während Konrads Blick auf die bewusstlosen Unterweltler unter den letzten Stufen der Treppe fiel, von denen sie einen nachher für Bennis Heilung brauchten. Und vielleicht auch einen für Carstens Augen… Mars richtete sich auf, lächelte zufrieden als er sich ein Bild davon machen konnte, wer wohl wen im Moment als ‚schwach‘ betrachtete. Entsetzt fiel Laura auf, wie viel sie ihm mit diesen unterbewussten Aktionen gerade mitgeteilt hatten. Nun kannte er ihre Schwachpunkte genau. Er musste sich nur einen aussuchen. Und es war der, der am wenigsten offensichtlich darauf reagiert hatte. „Vorsicht!“, schrie Laura erschrocken und versuchte Mars mit einer Finsternis-Sichel ihres Fächers noch aufzuhalten. Doch er war viel zu schnell. Aber immer noch viel zu langsam für Ariane, die den ersten Hieb mit bloßer Hand abfing und den zweiten Schlag mit ihrem in Licht gehüllten Arm blockte. Während Mars die Zähne zusammenbiss, als er selbst die volle Wucht seines Angriffs zu spüren bekam, schrie Ariane: „Jetzt!“ Sie hatte sich gerade erst zur Seite weggeduckt, als Mars auch schon von einer gewaltigen lila Magieexplosion von den Füßen gerissen wurde. Laura gab einen euphorischen Triumpfschrei von sich. Das hatte er davon, Carsten als schwächstes Glied zu betrachten! Benni war sich zum Glück im Gegensatz zu ihr bewusst, dass es trotz diesen einen Treffers noch lange nicht vorbei war. Als er die Hand ausstreckte gab Laura ihm ohne zu zögern sein Samuraischwert zurück. Und tatsächlich, auch diese Dämonenwaffe konnte er berühren. Direkt startete Benni den Angriff, ließ dem Dämon so wenig wie möglich Zeit um zu Atem zu kommen. Laura wurde schon fast schwindelig, als sie den Schlagabtausch der beiden beobachtete. Mars hatte sich viel zu schnell wieder aufgerafft und auch, wenn Benni im Vergleich zum Rest bessere Chancen gegen ‚sich selbst‘ hatte, war da immer noch die Zerstörungs-Energie. Laura hörte Florian irgendetwas zu Konrad rufen. Dieser nickte und nahm seine Dämonenform an, um sich mit den Fledermausschwingen in die Luft zu begeben. Da verstand sie, was der Vampir vorhatte. „Eine grandiose Idee.“, kommentierte Mars mit seiner tiefen Stimme. Er zwang Benni dazu, sich mit Finsternis-Energie vor zerstörerischen Ranken schützen zu müssen und hüllte sich selbst in eine purpurn leuchtende Aura. Noch während Konrad ihre Positionen für den Bann mit farbigen Mustern auf den Kreisen markierte, stieß auch Mars sich vom Boden ab. Gewaltige rötliche Schwingen breiteten sich auf seinem Rücken aus. „Konrad, weg da!“, rief Öznur dem Vampir eine Warnung zu, der sich durch seine wendigen Flugkünste nur knapp vor der purpurn lodernden Welle an Zerstörung retten konnte. Er griff Mars mit einem Meteoritenschauer an, als auch Eagle seine Dämonenform annahm und Mars auf halber Höhe einen Windschnitt endgegenschickte. Doch auch diese beiden Attacken fielen seiner Zerstörungs-Energie zum Opfer. Eagle wich einem zweiten Strahl aus, der dafür auf eine Wand der Schlucht traf. Es tat einen lauten Schlag. Riesige Steine brachen heraus und regneten auf sie herab, wurden von farbig leuchtenden Magieblitzen zu Staub pulverisiert, bevor sie jemanden treffen konnten. Konrad und Eagle hatten es derweil geschafft wieder bei ihnen auf der Erde zu landen, wo sie mit deutlich mehr Personen hoffentlich bessere Chancen hatten. Doch Mars lachte nur und nutzte den Höhenvorteil für sich aus. Wie ein grausamer Engel blickte er auf sie herab und breitete die Arme aus. Ein kaltes Violett leuchtete um seinen Körper, Abermillionen Eiszapfen bildeten sich um ihn herum, die auf sie alle niederzischten. „Man ey, warum beherrschst du so viele Energien, Benni?!“, beschwerte sich Öznur, als sie eine Feuerfront aussandte, unterstützt von Feuerzaubern der Magier und verstärkt durch Eagles und Bennis Wind-Energien. Ein riesiger roter Feuerstrudel loderte über ihnen, der die Eiszapfen in warmen Nieselregen verwandelte. Ungemütlich sanft prasselte er auf sie herab, vermischte sich mit dem Schweiß und ließ eine unwohle Hitze in ihnen aufkommen als befänden sie sich in einer Sauna. Angestrengt versuchte Laura durch die Dunstwolke zu erkennen, was als nächstes geschehen würde. Alleine durch die Anspannung beschleunigte sich ihr Atem, ihr Puls war unter Garantie die ganze Zeit über schon viel zu hoch, was alles andere als gesund sein konnte. Bei dem lauten Zischen erschrak sie, kauerte sich bei dem ohrenbetäubenden Knall auf den Boden. Zwei in Feuer gehüllte Felsbrocken schlugen aus dem Nichts in die letzten Treppenstufen und den darunter liegenden Bereich ein. „Laura!“ Es könnte Arianes Stimme gewesen sein, die Laura wieder aufblicken ließ. Sie erstarrte. Noch mehr dieser gewaltigen Brocken regneten auf sie hinab. Viel zu viele, sodass es den Magiern unmöglich war, auch nur einen Bruchteil dessen noch rechtzeitig zu zerstören. Laura meinte bereits das Glühen auf ihren Wangen zu spüren, als sie realisierte, warum Ariane ausgerechnet ihren Namen gerufen hatte. Laura sprang auf die Beine. Ihre Knie zitterten, sodass sie eher vor stolperte, als sie in die Mitte des Raumes rannte. „Lass sie in Ruhe!“ Ihr Schrei wandelte sich in ein lautes Brüllen, was die Erde zum Beben brachte. Finsternis materialisierte sich um ihren Körper, eine alles verschlingende Dunkelheit. Es brauchte nur diesen einen Wunsch, welcher ihr die Kraft gab und jegliche Angst und Unsicherheit vertrieb. Der Wille alle hier zu beschützen, der sich zu einem gewaltigen Löwen formte. Einem Ungetüm aus purer Energie, welches den Meteoren entgegensprang. Eine Finsternis, die die gesamte Zerstörung in sich aufsaugte. Die alles vernichtete. Laura blinzelte, musste sich einen Moment lang an die Lichter der Magier gewöhnen bis sie sah, dass nichts mehr vorhanden war. Erleichtert atmete sie auf und warf dem Dämon ein zufriedenes Lächeln zu, als sie seinen verärgerten Blick von weit oben bemerkte. „Kommst du nun endlich zurück auf den Boden der Tatsachen?!“ Provoziert von ihrer Aussage stürmte Mars auf sie herab. Seine Absicht sie auf qualvollsten Weg zu töten war fast schon spürbar, quetschte Laura die Kehle zusammen. Dennoch schickte sie ihm mit ihrem Fächer eine Welle aus Finsternis entgegen. Mars wich ihr aus, konterte mit Zerstörungs-Energie. Purpurne Blitze trafen auf schwarzen Rauch, bekamen keine Gelegenheit auch nur einen von ihnen zu treffen. Doch je näher Mars kam, je mehr Laura die Zerstörungs-Energie zu spüren glaubte, umso panischer wurde sie. Umso weniger glaubte sie, sich wehren zu können. Aber zum Glück war Mars so sehr auf sie fokussiert, dass er die geballte Ladung an Energie und Magie erst bemerkte, als sie ihn schmerzhaft gegen die steinige Wand schleuderte. Benommen sackte Laura auf die Knie, nahm am Rande wahr, wie Erd-Energie auf sie herabzuckende Blitze ableitete, bis die Herrscherin des Blitzes dem Gewitter mit einem einzigen Donnerschlag ein Ende setzte. Und dabei den Dämon zu Boden warf. „Guter Treffer, Mini-Hulk!“, lobte Jack erfreut, während Johannes dem Dryaden-Mädchen begeistert zeigte, wie ein High-Five funktionierte. „Geht’s?“, hörte Laura eine vertraute, sanfte Stimme. Sie atmete auf und schloss die Augen, als sie die starken Arme um sich spürte. Lehnte sich erschöpft gegen Benni, dankbar für die Finsternis-Energie, die auf ihren Körper überging. Sie hatte sich wohl doch mehr verausgabt als gedacht. Von weiter entfernt hörte Laura Jack belustigt kichern. „Ich bin mir gerade nicht sicher, ob du sie kuscheln oder vernaschen möchtest.“ Irritiert blickte Benni auf. „Was?“ Während Lissi und einige andere, die nicht gerade mit Mars beschäftigt waren, lauthals losprusteten, spürte Laura das Blut in ihrem Kopf hochkochen. W-was zum… Wie hatte er das gemeint?! Jacks Grinsen war deutlich zu hören als er erwiderte: „Komm schon, gib’s zu. Ein süßes Mädchen mit Katzenohren ist doch der feuchte Traum eines jeden Animefans.“ Mit tiefrot gefärbten Wangen vermied Laura jeglichen Blick auf alles und jeden. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie unbewusst in ihrer Dämonenform war, seit sie die Meteoriten abgefangen hatte. Benni erwiderte nichts darauf, doch Jack wandte sich an Carsten, welcher gemeinsam mit Susanne einen von Mars‘ Angriffen mit einer Magiebarriere abfing. „Stimmt’s?!“, rief Jack zu ihm rüber. „Was?!“, gab Carsten zurück, offensichtlich eher damit beschäftigt sie alle vor dem sicheren Untergang zu bewahren. „Sag einfach ja!“ „Okay, nein!“ Es war mehr als eindeutig, dass Carsten einfach aus Prinzip diese Antwort von sich gab. Nun konnte auch Laura nicht mehr an sich halten und musste loslachen. Und überrascht stellte sie fest, dass dieses wenn auch alles andere als für die Situation angemessene ‚Gespräch‘ ihre Lebensgeister wiedererweckt hatte. Da sie von anderen wie Konrad, Florian, Ariane und Carsten immer noch gedeckt wurden, erlaubte sich Laura einen Moment lang durchzuatmen. Als sich ihre Wangen nicht mehr allzu kochend heiß anfühlten, wagte sie einen Blick hoch zu Benni, der sie immer noch im Arm hielt. Irgendwie kam sie inzwischen mit diesen eigentümlichen Kommentaren viel besser klar, sodass Laura sogar ein Kichern unterdrücken musste, als ausgerechnet Benni es vermied ihr in die Augen zu schauen. „Hat Jack denn recht?“, fragte sie neckisch. Diese ungewohnt selbstbewusste Aussage löste eindeutig Verwirrung in ihm aus. „Ich habe wirklich einiges verpasst.“ Beschämt lachte Laura auf, dennoch glaubte sie auch Bennis Verlegenheit zu merken, als er ihr einige nasse Strähnen aus dem verschwitzten Gesicht strich und meinte: „Deine… Dämonenform ist wirklich süß…“ Und wieder schoss das Blut in Lauras Kopf. Ihr Herzschlag beschleunigte sich sogar noch mehr als beim Kampf gegen Mars vorhin. „Ähm… Da- danke… oder so…“ Einen Moment lang erwiderte Benni ihren Blick, begleitet von einem deutlichen Zögern. War er tatsächlich so verlegen? Kam vielleicht gerade wirklich seine Schüchternheit durch? Oder hatte er immer noch unterbewusst die Sorge, sie durch diese Geisterform nicht richtig berühren zu können? Egal was es war, irgendwie war es süß. Mit einem leichten Lächeln streckte sich Laura etwas zu ihm nach oben, legte eine Hand in Bennis Nacken und zog ihn näher zu sich heran. Als sie seine Lippen spürte, schossen ihr Tränen in die Augen. Als sie realisierte, dass das Gefühl noch genauso war wie vor drei Monaten. Vielleicht sogar intensiver als damals. Diese Wärme, diese Geborgenheit, … Benni strich ihr mit dem Daumen über die Wange, verwischte einige dieser plötzlich hochkommenden Tränen, als er den Kuss erwiderte. Laura schluchzte leise und vergrub ihre Hände in seinen Haaren. Sie war fast schon überwältigt von dem Gefühl, wie zärtlich und leidenschaftlich zugleich ein Kuss sein konnte. Auch danach noch weigerte sie sich Benni wieder loszulassen. Sie hatte es so vermisst. All diese Momente mit ihm hatten ihr so sehr gefehlt. Die ganze Zeit über hatte sie eigentlich nur dafür gekämpft und trainiert. Einfach nur, damit Benni sie endlich wieder im Arm halten und küssen konnte. Und jetzt war endlich dieser Moment da. Er sollte nicht so schnell vorbei sein… Benni dachte wohl etwas Ähnliches, zumindest verstärkte er seinen Griff um sie. Auch er wollte diesen einen Moment noch ein bisschen länger andauern lassen. Zumindest ein bisschen, bis er sie zu Lauras Enttäuschung wieder losließ, um sich aufzurichten und ihr ebenfalls auf die Beine zu helfen. Laura warf ihm ein scheues, etwas verunsichertes Lächeln zu. Ihr Herz machte einen kleinen Freudensprung, als Benni das Lächeln schwach erwiderte und über eines der honigfarbenen Katzenohren ihrer Dämonenform strich. „Seid ihr endlich fertig?! Wenn ihr unbedingt rummachen wollt, könnt ihr euch auch später noch ein Zimmer nehmen!“, kommentierte Eagle, was Laura auch nicht gerade half, sich auf die eigentliche Situation zu konzentrieren, sondern nur wieder für rote Wangen sorgte. Während er Mars mit Windsicheln attackierte, wurde er von Lissi getadelt. „Also Eagle-Beagle, sei mal etwas nachsichtiger! Du und Özi-dösi, ihr konntet euch ja die ganze Zeit schon vergnügen. Lauch und Bennlèy hatten einen dreimonatigen Entzug! Eigentlich müssten sie sich hier und jetzt die Kleider vom Leib reißen, die einzig wirklich angemessene Reaktion auf so eine lange Zeit!“ … Oh Gott, es hatte sich einfach gar nichts verändert. Während Jack bei Lissis Kommentar so arg loslachen musste, dass er noch nicht einmal mitbekam, wie Janine ihn gerade noch so vor einem von Mars Angriffen beschützte, hatte Laura alle Mühe diese Situation zu verarbeiten. Sie befanden sich gerade mitten im Kampf gegen Mars! Dem Purpurnen Phönix, dem Unzerstörbaren, dem Herrscher der Zerstörung! Und es wurden ernsthaft solche Witze gerissen?! „Achtung!“ Auf Arianes Warnung hin merkte Laura, wie Mars Susannes rosa schimmernde Magiebarriere zersplitterte und er auf sie und Benni losging. Instinktiv setzte Laura wieder ihre Finsternis-Energie frei, erschuf eine schwarze rauchige Wand, bevor er sie erreichen konnte. Und plötzlich, mit einem kleinen Wirbelsturm, war die Energie wieder in Laura verschwunden. „W-was…“ Erschrocken schrie Laura auf, als sie von Benni zurückgestoßen wurde. Sie hörte, wie die Klinge des Samuraischwertes die Luft zerschnitt, als Mars knapp dem tödlichen Schlag entwich. Laura wollte nach Benni rufen, doch der Schrei blieb in ihrer Kehle stecken. Ein purpurnes Aufblitzen. Kurz darauf eine Explosion deren Druckwelle sich schmerzhaft in ihren Körper fraß. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg, Panik stieg in ihr auf als sie es nicht schaffte einzuatmen. Irgendetwas quetschte ihre Lungen aus, zwang sie zu einem heiseren Husten. Sterne tanzten vor ihren Augen. Sie bekam gar nicht mit, wie Florian ihre Gruppe aufforderte auf ihre Positionen zu gehen. Sie hatte ja noch nicht einmal Annes Schmerzensschrei hören können, als auch in ihrem Körper die Überreste der Zerstörungs-Energie auf den Angriff reagierten. Die ganze Welt drehte sich, Blutgeschmack lag auf ihrer Zunge. Schwärze legte sich über ihre Wahrnehmung. Es war fast so wie damals. Wie vor einem halben Jahr, als… Laura spürte, wie jemand sie hochhob und weg von der Mitte des Raumes trug. Und erst, als Carsten mit seiner liebevollen Stimme fragte „Geht es wieder?“, schaffte sie es schwer atmend die Augen zu öffnen. Benommen nickte Laura und versuchte taumelnd auf den eigenen Beinen zu stehen. Ihre Finger krallten sich in den schwarzen Stoff über ihrer immer noch schmerzenden Brust. Sie wäre längst schon wieder eingeknickt, hätte Carsten sie nicht gestützt. Allmählich schaffte sie es zu verarbeiten, was gerade passiert war. Als Schreck und Sorge sie überkamen. „Benni!“ Laura blickte auf, konnte beobachten, wie Benni Mars von einem Angriff auf Anne abhielt, die nach wie vor so geschwächt wirkte, dass Lissi sie auf die Beine zerren musste, um sie mit Jacks Hilfe zu ihrer Position nordöstlich von Lauras zu bringen. „Mist, Mars ist viel zu stark. Selbst Benni packt das nicht alleine.“, hörte sie Ariane neben sich fluchen, die ebenfalls auf die kreisförmige Markierung trat, auf welcher sowohl ein Schwarzer Löwe als auch ein Weißer Hai leuchteten. Laura sandte einen stillen Dank an Konrad aus. Sie hätte ihren Standort unter diesen Umständen nie und nimmer selbst finden können. Doch das Hochgefühl war jäh erloschen, als sie hinter Carsten ein purpurnes Leuchten bemerkte. „Vorsicht!“ Dank ihres plötzlichen Adrenalinschubs hatte sie genug Kraft, ihn zur Seite zu stoßen und die wabernde Energie mit einer schwarzen Wand zu blocken. Die wieder ganz plötzlich verschwunden war. Gelähmt vor Panik konnte Laura nur noch in diese rötliche, dampfende Masse blicken, spürte nach wie vor das schmerzhafte Stechen in ihren Lungen. In diesem Moment verstand sie. Mars hatte wohl eine weitere Fähigkeit von Benni als Dämonengesegneter für sich entdeckt… Die Fähigkeit, Lauras Energie zu kontrollieren. Die Macht, sie komplett zu beherrschen. Damals hatte Benni diese Kraft benutzt, um sie selbst und andere vor Lauras Ausbrüchen beschützen zu können. Aber in den Händen des Herrschers der Zerstörung… „… Ich bin machtlos… Ich kann nicht gegen jemanden kämpfen, der den Schwarzen Löwen kontrollieren kann…“ „Was?“, fragte Ariane verwirrt. Laura hatte gar nicht mitbekommen, wie sie es war, die den Angriff letztlich mit ihrem Lichtwall zurückgeschickt hatte. „Weil Benni ein primärer Dämonengesegneter ist.“, erinnerte auch Carsten sich bedrückt. Ariane biss die Zähne zusammen. „Shit, da war was. Und jetzt, da sich Mars dessen bewusst ist…“ Mehr Zeit blieb ihnen nicht, diesen Gedanken fortzuführen. Mehr Zeit bekam Ariane nicht, um zu realisieren, dass es ab jetzt nur noch ihr uneingeschränkt möglich war, Mars innerhalb dieses Kreises zu behalten. Einen kurzen Moment lang schaffte es der Dämon, Benni in seiner Verteidigung festzusetzen. Lang genug, um auf Jannik zuzustürmen, welchem nichts anderes blieb als seinem Angreifer erstarrt in die Augen zu blicken. Ariane sprintete los, hüllte ihre Hand in Energie wie es auch Laura schon so häufig getan hatte. Sie erreichte ihn knapp vor seinem Ziel. Strahlendes Licht blendete sie alle, als Ariane die Hand zur Faust ballte und zuschlug, schleuderte Mars wieder mehrere Meter zurück. Zurück in die Mitte des Kreises. Dieser richtete sich keuchend und lachend auf und spuckte etwas Blut aus. Zeitgleich merkte Laura, wie auch Benni bei diesem Treffer das Gesicht verzogen hatte. Allmählich realisierte sie es. Nicht nur Mars wurde schwächer. Auch Bennis Kraft schwand, je mehr Schaden seinem Körper zugefügt wurde. Ein schmerzhaftes Ziehen breitete sich in ihrem Magen aus. „Benni schafft das nicht…“, wisperte Laura verängstigt, klammerte sich an Carstens Pulli, als sie bei dieser Gewissheit fast auf den Boden sackte. Tränen schossen in ihre Augen. „Wie soll er einen Kampf gewinnen, bei dem immer nur er selbst verletzt wird?“ Auch Carsten verstärkte seinen Griff um sie, selbst von der verzweifelten Suche nach irgendeiner Lösung geplagt. Außer darauf vertrauen, dass seine Angriffs- und Verteidigungszauber auf ihre Anweisungen hin das machten, was sie machen sollten, waren auch ihm die Hände gebunden. Nur wegen dieses verdammten Rituals… Laura schluchzte schwach, biss sich frustriert auf die Unterlippe während sie beobachten musste, wie Ariane und Benni irgendwie gemeinsam versuchten, ihren ursprünglichen Plan in die Tat umzusetzen. Es war hoffnungslos. Eigentlich war doch alles so aussichtslos. Wie sollten sie- „Benni, nein!!!“ Bei Carstens panischem Aufschrei wurde Laura aus ihrem Strudel der Verzweiflung herausgerissen. Beobachtete entsetzt, wie Benni kurz davor war, im Prinzip sich selbst mit dem Samuraischwert die Kehle aufzuschlitzen. Der vermeintlich einzige Ausweg. Lauras verzweifelter Schrei nach ihm klang mehr wie ein fernes Echo, sie glaubte schon das Blut zu sehen, verschwommen hinter einem Schleier aus Tränen. Als ihn irgendetwas mit solcher Wucht zur Seite stieß, dass er noch mehrere Meter zurückschlitterte. Mit einem metallischen Schaben rutschte das Samuraischwert noch weiter nach hinten, bis über die Grenze des innersten Kreises hinaus. Nur ein kleiner Kratzer an Mars‘ Hals bezeugte, was fast passiert wäre. „Verdammt, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du diesen Scheiß lassen sollst?!“ Irritiert blinzelte Laura die Tränen weg, erkannte allmählich, dass es nicht irgendetwas sondern jemand war, der Benni zur Seite gestoßen hatte. Erleichtert atmete sie auf und spürte, wie sich auch Carstens Griff entspannte. Und doch ergriff sie ein Schaudern, als sie Mars plötzlich lachen hörte. Eine einschüchternde Aura umgab seinen Körper, als er auf Jack zutrat, der sich wachsam zu ihm umdrehte, bereits in Erwartung eines Angriffes. „Diese Aufopferungsbereitschaft war schon immer deine Schwäche. Nicht wahr, Jack? War das der Grund, weshalb du gegangen bist? Der naive Gedanke, endlich einen Freund gefunden zu haben? Hast du wirklich geglaubt ihm helfen zu können?“ Jack biss die Zähne zusammen, erwiderte aber nichts darauf. Laura hielt die Luft an, als der Dämon ihm einen Gegenstand zuwarf. Sie dachte direkt an eine Granate oder sonst etwas in der Art, was gleich explodieren würde. Aber es wirkte viel zu klein, viel zu unscheinbar. Als Jack die Hand öffnete erkannte sie, dass es eine Kette war an der ein metallener Anhänger hing. Und so wie seine Finger zu zittern begannen wusste sie auch genau, um welchen Anhänger es sich handelte. „Sag, mein Junge. Ist es dir das wirklich wert?“ In Mars‘ Stimme lag ein unheimlich sanfter Ton, der Blick mit welchem er Jack betrachtete war beinahe zuneigungsvoll. Er ging einen Schritt auf ihn zu, kostete diesen Moment zwischen ihnen förmlich aus. „Du weißt, was dich erwarten wird, wenn du diesen Weg gehst. Du weißt, dass die Menschen dich nur wieder einsperren werden.“ „Jack, hör nicht auf ihn!“, schrie Janine verzweifelt zu ihm rüber. Doch ihre Stimme erreichte ihn nicht. Sein Körper bebte, die Tränen schien er nur zurückhalten zu können, indem er die Zähne zusammenbiss. Und niemand war da. Niemand war nah genug, um ihn einfach von diesem Dämon wegziehen zu können. „Mein armer Junge möchte einfach nur dazu gehören. Und doch, tief in deinem Herzen weißt du es. Du weißt genau, dass sie dich nie akzeptieren werden.“ „So ein Schwachsinn, ignorier ihn!“ Auch Lissis Ruf kam nicht bei ihm an. Viel zu viele Narben hatte die Menschheit in ihm hinterlassen. Viel zu tief war Mars‘ Einfluss in Jack verwurzelt. Er schaffte es nicht, sich davon loszureißen. Er konnte nicht vor dem Dämon zurückweichen. Mars‘ sanftes Lächeln wurde breiter, als er merkte wie gefangen Jack nach wie vor davon war. „Du weißt, wer dir dieses neue Leben ermöglicht hat. Diese Freiheit. Ein neuer Name, eine neue Identität, eine neue Familie, … Die Möglichkeit mit allem Vergangenen abzuschließen.“ „Du hast ihn doch nur benutzt, um ihn für deine eigenen Zwecke zu missbrauchen!“, widersprach Carsten. Auch in seinen Augen standen Tränen, als der Ärger in ihm hochkochte. Als sie aufs schmerzlichste realisierten, wie sehr Mars all die Zeit schon mit Jacks Gefühlen gespielt hatte. Wie er ihn manipuliert hatte. Es immer noch tat… „Ach, und ihr nicht?“, fragte der Dämon belustigt, herausfordernd. Er deutete auf das orangene Skorpion-Symbol im Norden, hinter Laura und Ariane. „Ist das nicht eure Bedingung? ‚Du darfst ein Teil unserer lieben, lustigen Gemeinschaft sein, aber nur, wenn du dich auf diesen einen Punkt stellst‘? ‚Und auch nur so lange, bis deine Aufgabe erfüllt ist und wir dich wegen deiner vergangenen Taten wieder wegsperren werden‘?“ Laura blieb der Atem weg. Was sagte er da?! Aber sie wollten doch gar nicht… Mit Entsetzten mussten sie mitansehen, wie die gesäten Zweifel schon längst zu sprießen begannen. Sie spürten das schwache Erdbeben, während Jack zitternd die Faust um das Metallplättchen der Kette schloss. Wieder eingesperrt. Wieder gefangen. In Mars‘ Blick lag ein verräterisches Mitgefühl, als er sah wie sich eine Träne aus seinen Augen stahl. „Du wirst wieder rückfällig, habe ich recht? Wie schade. Du hast dich die letzten paar Jahre so gut geschlagen, hast so viel überwinden können. Und kaum bist du wieder bei den Menschen, machen sie alles zunichte, was du bisher erreicht hast. Sag, wie häufig hast du ihnen von dir erzählen müssen? Vermutlich wollten sie alles bis ins kleinste Detail wissen. Wahrscheinlich haben sie erst angefangen dir zu vertrauen, als sie alles über dich und deine Vergangenheit kannten. Ist das nicht schade? Wenn man nicht einfach so akzeptiert wird, wie man ist?“ Jack unterdrückte ein Schluchzen. Er versuchte zu verbergen, wie sehr er sich unter dem psychischen Schmerz krümmte und doch war es nicht zu übersehen. „Hör auf damit!“, schrie Laura verzweifelt. „Du machst doch gerade genau das, was du uns vorwirfst getan zu haben! Wenn er dir wirklich so wichtig ist, warum lässt du ihn dann absichtlich so leiden?!“ „Aber das tu ich doch gar nicht.“, widersprach Mars ihr. Es war fast schon ekelerregend, wie unschuldig seine Stimme dabei klang. Er kam noch einen Schritt auf Jack zu, stand nun direkt vor ihm. Strich ihm über die Wange, beachtete gar nicht wie er bei dieser Berührung zusammenzuckte. „Ich habe ihn nie nach seiner Vergangenheit gefragt. Ich habe ihm einfach die Möglichkeit gegeben neu anzufangen. Nicht wahr, Jack? Oder soll ich dich lieber wieder Valentin nennen? Jetzt, da du mich verlassen und zu den Menschen zurückkehren willst.“ Lauras Herz quetschte sich zusammen als sie sah, wie Jack schwach den Kopf schüttelte. Wie noch eine Träne seiner Kontrolle entwich. Carsten biss die Zähne zusammen, seine Stimme war ungewohnt tief. „Ich hab genug.“ Schaudernd bemerkte sie das Glühen in seinen lila Augen, als er von ihr abließ und auf die Mitte zuging. Und noch schockierter stellte Laura fest, wie Benni auf einmal bei den beiden stand, mit entsicherter Pistole, die er an die Schläfe des Dämons hielt. Eiskalter Zorn lag in seiner Stimme. „Weg von ihm. Sofort.“ Mars lächelte lediglich, nur ganz langsam zog er seine Hand zurück, fast schon schmerzhaft. Fast so, als würde er- Ein lauter Knall. Rotes Blut spritzte aus dem Loch in der Hand, als die Pistolenkugel hindurchschlug. Erschrocken zuckte Laura zusammen, hielt sich viel zu spät die Ohren zu. Mit einem schmerzverzerrten Aufschrei wich Mars zurück. „Du dreckiges…“, zischte er, griff Benni und Jack mit brodelnder Zerstörung an, welche die Finsternis nur zum Teil aufhalten konnte. Der Rest traf auf eine Mischung aus Wasserzauber und -Energie, was Benni genug Zeit verschaffte, Jack von dem Angriff und dem kochenden Dampf wegzuziehen und genug Abstand zwischen sich und dem Dämon zu bringen. Als- „Bleib weg!“ So wie sich Jacks Stimme überschlug war es unmöglich, die Panik darin zu überhören. Bevor Mars zu einem weiteren Angriff kam, explodierten gelb funkelnde Magiekugeln um ihn herum, zwangen ihn für einen kurzen Moment lang in die Defensive. Überrascht bemerkte Laura, dass Janine ihre Position ganz außen im Norden verlassen hatte und zu ihnen gerannt war. Ein wissendes, sardonisches Lächeln bildete sich auf den Lippen des Dämons, als er beobachtete, wie sie sich zwischen ihn und Jack stellte. Fast so, als würde sie den Angriff notfalls mit ihrem eigenen Körper abschirmen wollen… Laura schluckte schwer. Schmerzhaft wurde ihr bewusst, was diese plötzliche Angst in Jack auslöste. Warum er wie erstarrt schien, es noch nicht einmal schaffte ihren Namen zu rufen, als Mars sie mit brodelnder Zerstörungs-Energie angriff. Janine zog es gar nicht erst in Betracht, sich zu verteidigen. Sie streckte die Hände vor, überkreuzte sie und ballte sie zeitgleich zu Fäusten. Laura konnte gar nicht sagen, welche Geste was verursachte. Im ersten Moment war es Windmagie, die an der Zerstörungs-Energie vorbei schnitt und Mars zwang den Angriff abzubrechen, wenn er nicht selbst in kleine Teile zerstückelt werden wollte. Im Bruchteil eines Atemzuges war seine Energie verschwunden, machte einer Unmenge kleiner leuchtender Magiekugeln Platz. Wie Schrot schlugen sie auf den Dämon ein, schnitten sich in Haut und Fleisch als sie ihre blutigen Spuren hinterließen. Mars war es nur noch möglich sich vor der zweiten Hälfte dessen zu schützen. Zerstörungs-Energie bahnte sich ihren Weg hindurch, schien mehr wie kochender Zorn. Dem Dämon passte es gar nicht, dass Janine ihn für einen kurzen Moment ganz alleine so in die Enge getrieben hatte. Diese hob ihre Hand, gelbe Funken bildeten sich und tauchten ihren Körper in ein magisches Licht. Laura hielt den Atem an. Die Energie war viel zu nah! Konnte Ninie den Zauber überhaupt rechtzeitig fertig sprechen?! Eine lila schimmernde Barriere beantwortete ihre Frage. Sie zerbarst in tausende Scherben, als sie die Zerstörung abfing, wurde jedoch übertönt von einem lauten Zischen als sich die Funken in leuchtende Blitze wandelten, die gezielt auf den Dämon einschlugen, immer und immer wieder. Ließen erst nach, als er mit einem Keuchen beinahe in die Knie gesackt wäre. Viel Zeit um beeindruckt zu sein bekam Laura nicht. Als würde sich der Unzerstörbare auch von diesem bisschen Gewitter aufhalten lassen. Wieder sandte er Zerstörungs-Energie aus. Wieder wurde er direkt in die Verteidigung gezwungen. Dieses Mal jedoch von lila leuchtenden Magiekugeln. „Ignorier ihn!“, wies Carsten Janine an. Diese nickte nur und drehte dem Dämon den Rücken zu. Der Ablauf schien so fließend, er hätte auch einstudiert sein können. Benni nickte Janine knapp zu, als sie bei ihm ankam und Jack am Arm packte, um ihn von dort wegzubringen. Es erforderte wohl einiges an Kraft, ihn in Bewegung zu setzen, brauchte sogar einen kleinen Schubs von Benni. Mars hoffte wohl, ihre Unachtsamkeit für sich ausnutzen zu können, hatte die Rechnung jedoch ohne Benni und Carsten gemacht. Noch während Janine Jack an Lauras und Arianes Position vorbeizog, wurde die Zerstörungs-Energie teils mit Finsternis und teils mit Magie abgefangen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Laura nur noch flüchtig, wie Jacks zitternden Finger das Metallplättchen nach wie vor fest umschlossen hatten. Ein unwohles Bauchgefühl breitete sich in ihr aus. Was umso stärker wurde, als sie Mars kichern hörte. „Das könnte unterhaltsam werden.“ „Versprich dir nicht zu viel Spaß.“, erwiderte Carsten ruhig, ungewohnt selbstsicher. Besonders in Betracht der jüngsten Ereignisse. Verwirrt fragte sich Laura, ob er wirklich so ruhig war wie er sich gab. Carsten tauschte einen kurzen, viel zu gezielten Blick mit Benni aus, der sie alle bezweifeln ließ, dass das Ritual ihm tatsächlich einen Großteil des Augenlichtes genommen hatte. Und ohne weitere Absprache streckte er die Hand aus und ließ einen lila Gewitterregen auf Mars nieder. Das Zischen und Donnern ließ Laura und Ariane erschrocken zusammenzucken. Mars lachte nur und griff Carsten mit Feuerbällen an. Beeindruckt bemerkte Laura, wie er diese gar nicht erst beachtete, sondern den Arm zur Seite riss und Mars von der Seite mit spitzen Erdstacheln attackierte, während Benni die Flammen löschte und anschließend die Wasser-Energie in einer fließenden Bewegung zu schneidenden Sicheln formte. Die purpurne Aura um Mars zerstörte jedoch alles, bevor es ihn erreichen konnte. Er richtete seine Zerstörungs-Energie gegen Carsten, ein brodelnder Untergang den er nur behelfsweise mit seiner Magiebarriere blocken konnte. Doch ein lauter Knall riss Mars‘ Aufmerksamkeit davon los, um der Kugel von Bennis Pistole rechtzeitig ausweichen zu können. Einen schockierten Moment kam in Laura die Angst hoch, dass sie jemand außenstehenden wie Eagle treffen könnte, doch Carsten teleportierte sich mitten in die Flugbahn und reflektierte die Kugel. Wieder musste Mars ausweichen. „Nane!“ Ariane verstand seine Aufforderung und rannte auf seine gegenüberliegende Seite. Bevor die Kugel den Kreis verlassen konnte spielte sie sie wie in einem Ping-Pong-Spiel mit einem weißen Schild zurück, sodass Mars sie schließlich zerknirscht mit einer kleinen Explosion zerstörte, bevor es ewig so weiterging. Das hatte ihn lange genug abgelenkt, um vollkommen unvorbereitet auf Bennis Faustschlag in die Magengrube zu treffen. Verzweifelt biss sich Laura auf die Unterlippe als sie sah, dass dieser im Prinzip auch Benni selbst traf. Mit seinem typischen stoischen Blick ignorierte er den aufkommenden Schmerz und verwickelte Mars in einen Nahkampf, wich nur knapp zur Seite bevor Carstens Magiekugeln ihn selbst treffen konnten. Mars hatte diesen Angriff nicht kommen sehen, wurde zurückgestoßen bevor er sich mit seiner Energie hätte schützen können. Allmählich verärgert wandte er sich um, wählte Lissi als neues Ziel seiner Zerstörungs-Energie aus. Rechnete aber nicht damit, dass Laura ihre Finsternis-Energie mit einem Schwung ihres Fächers abschickte. Und kam auch nicht mehr dazu, sie zu kontrollieren, da er selbst einen Eisdolch von Benni mit eigener Finsternis-Energie abfangen musste. Mars wich zwei weiteren Faustschlägen aus und zwang Benni mit seiner Zerstörungs-Energie in die Defensive, sodass er genug Zeit hatte Carsten mit einem kleinen Erdruck aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mit der Gewissheit, den Zauber unterbrochen zu haben, stand Mars im Bruchteil einer Sekunde vor Carsten, um ihm mit einem eigenen Eisdolch die Kehle aufzuschlitzen. Erstarrt beobachtete Laura, wie Carsten sich unter dem Schlag wegduckte und Mars selbst mit einem Tritt aus dem Gleichgewicht brachte. Als er ihm die Handfläche gegen die Brust schlug, fühlte sie sich an sich selbst erinnert. Doch statt ihm die Kraft zu entziehen, leuchtete es unter seiner Hand kurz auf und der Dämon wurde mit einer Explosion zurückgeschleudert, bis sein Flug schlagartig endete, als er von Benni mit einem Hieb in den Nacken zu Boden gestoßen wurde. Kurz verzog auch Benni das Gesicht, bevor er wieder etwas Sicherheitsabstand zwischen sich und dem Dämon brachte, um nicht von der Zerstörungs-Energie überrascht zu werden. Dieser lachte keuchend auf, als er sich langsam aufrichtete. „Ohne eine einzige Absprache? Wie rührend.“ Er betrachtete Carsten. „Ah, wie ich sehe hatte Elster doch Erfolg gehabt. Zumindest, was ihren eigenen Plan betrifft. Ausgesprochen ärgerlich.“ „Was?!“ Entsetzt folgten Laura und Ariane seinem Blick, bemerkten mit Grauen, dass Carstens lila Augen schwach leuchteten und loderten. Aber… aber sie hatten doch… „Und? Wie sieht die Welt nun für dich aus? Kannst du die Leute wirklich nur noch an ihrer Aura erkennen? Kannst du tatsächlich in ihren Herzen lesen wie in einem offenen Buch?“ Laura schluckte schwer, als sie Carstens verbissenen Gesichtsausdruck bemerkte als er antwortete: „Kann ich. Und so wie du vor Boshaftigkeit und Sadismus triefst wird mir schlecht.“ „Oh, das erfreut mich wirklich sehr.“ Der Dämon lächelte, klang genauso wie Carsten ihn beschrieben hatte. „Aber… aber wie…“, fragte Laura schwach. Mars lachte. „Nur weil ein Ritual unterbrochen wurde, heißt das noch lange nicht, dass es gänzlich wirkungslos war, habe ich recht?“ Carsten ballte die Hände zu Fäusten. „Ich nehme an, du redest aus eigener Erfahrung.“ Er kicherte sardonisch. „Leider ja. Nur dieses Mal würde ich es gerne gar nicht erst so weit kommen lassen.“ „Das hättest du dir früher überlegen sollen, bevor du das Leben so vieler Menschen zerstört hast!“ Erschrocken zuckte Laura bei Carstens zornigem Ton zusammen. Mehrere Magieblitze fuhren auf den Dämon herab, vor denen er sich gerade so mit einer Erdkuppel schützte. Er konterte mit purpurnen Ranken aus Zerstörungs-Energie, die jedoch von Bennis Finsternis verschlungen wurden. Leise lachte Mars. „Vorsicht, Junge. Wenn du diese Kraft noch weiter einsetzt kann es sein, dass du nie wieder normal wirst sehen können.“ „Wenn das der Preis ist, um dich ein für alle Mal loszuwerden, zahle ich ihn mit Freuden!!!“ Bei Carstens Schrei breitete sich eine Druckwelle aus, die Laura und einige andere von ihnen zu Boden warf. Das Entsetzen fraß sich bis in ihre Knochen, als sie sah, wie der Rest seines Körpers genauso zu leuchten begann wie die Augen. Ein lila Feuer, welches seine pechschwarzen Haare wie in einem schwachen Luftzug wehen ließ. Blitze zuckten zwischen seinen Fingern, luden sich immer weiter auf, wurden immer mächtiger und bedrohlicher. Eine geballte Ladung Magie in ihrer reinsten Form. Carsten betrachtete den Dämon aus seinen eigenen dämonisch leuchtenden Augen, während er das Taschenmesser aus seiner Hosentasche holte und aufklappte. Laura wurde schlecht als sie mitansehen musste, wie seine Hand die Klinge umschloss. Blut sickerte nach außen, überlagerte das strahlende Lila mit finsterem Rot. Aus seiner tiefen, bedrohlichen Stimme sprach purer Hass. „Du hast genug Schaden angerichtet.“ Mars lachte auf. „Ach komm, du wirst doch nicht-“ „Nein!“ Unter Tränen schrie Laura. Ihr verzweifelter Ruf ging bei dem blendenden und ohrenbetäubend lauten Zischen der Blitze vollkommen unter. Die Folgen der schwarzen Magie hatten seine Gefühle komplett in ihrer Gewalt. Carsten war blind, konnte nur noch die Auren sehen. Er sah gar nicht mehr die Hülle, in welcher sich Mars nach wie vor verkroch, sondern nur noch den Dämon. Den Teufel. Das Monster in seiner bloßen, grauenhaften Existenz. Er würde- Carsten streckte die Hand aus, das in Blut getränkte Messer fiel auf den Boden. Seine finstere Aura wurde größer, stärker, war inzwischen tiefschwarz. Einzig erhellt durch die blutroten Blitze und dem glühenden Zorn in Carstens Augen. „Hör auf! Hör auf!!! Du wirst dir das nie verzeihen!!!“ Schluchzend, kreischend und weinend versuchte Laura irgendwie zu ihm durchzukommen, konnte aber noch nicht einmal ihre eigene Stimme hören. Auch Carsten schrie, beinahe wie ein Befehl für die Blitze zum Angriff. Ein Strahl donnerte vor, die Ausläufer hinterließen eine tiefe Furche im Boden. Laura wollte losrennen, versuchte sich verzweifelt aus Arianes Griff zu winden, um sich irgendwie noch dazwischen zu werfen. Sie würde das nicht zulassen, sie durfte das nicht! Sie musste es irgendwie verhindern, egal wie! … Doch sie konnte nicht. Lauras Herz zerbrach, als diese gewaltige Macht mitten durch Bennis Brust fuhr. Sowohl durch seinen Körper, als auch durch seine Seele, die mit einem Schlag wieder eins wurden. Seinen vor Qualen verzerrten Schrei würde sie nie wieder vergessen können. Wie betäubt sackte Laura auf den Boden, ein Pfeifen schrillte in ihren Ohren. Unter Schock konnte sie nur noch mitansehen, wie sich eine purpurne Aura um Bennis Körper bildete und diesen fluchtartig verließ. Wie das blitzende und zuckende Gewitterchaos ihre Sicht hinter den ganzen Tränen flimmern ließ. „Hör auf… bitte, hör auf…“, schluchzte sie schwach, krümmte sich vor Übelkeit und Schmerzen. Kniff die Augen zusammen als eine letzte Explosion Benni zurückschleuderte und er sich mehrmals überschlug, bis er am Rand des inneren Kreises leblos liegen blieb. Kapitel 109: Der Unzerstörbare - Teil 2 --------------------------------------- Der Unzerstörbare - Teil 2       „Wenn das der Preis ist, um dich ein für alle Mal loszuwerden, zahle ich ihn mit Freuden!!!“ Eine Druckwelle breitete sich aus. Das Entsetzen fraß sich bis in Lauras Knochen, als sie sah, wie der Rest seines Körpers genauso zu leuchten begann wie die Augen. Ein lila Feuer, welches die pechschwarzen Haare wie in einem schwachen Luftzug wehen ließ. Blitze zuckten zwischen seinen Fingern, luden sich immer weiter auf, wurden immer mächtiger und bedrohlicher. Eine geballte Ladung Magie in ihrer reinsten Form. Blut sickerte aus seiner Faust, überlagerte das strahlende Lila mit finsterem Rot. „Nein!“ Unter Tränen schrie Laura. Ihr verzweifelter Ruf ging bei dem blendenden und ohrenbetäubend lauten Zischen der Blitze vollkommen unter. „Hör auf! Hör auf!!! Du wirst dir das nie verzeihen!!!“ Schluchzend, kreischend und weinend versuchte sie irgendwie zu ihm durchzukommen, konnte aber noch nicht einmal ihre eigene Stimme hören. Carsten schrie, beinahe wie ein Befehl für die Blitze zum Angriff. Ein Strahl donnerte vor, die Ausläufer hinterließen eine tiefe Furche im Boden. Eine gewaltige Macht. Die mitten durch Bennis Brust fuhr. Sowohl durch seinen Körper, als auch durch seine Seele, die mit einem Schlag wieder eins wurden. Seinen vor Qualen verzerrten Schrei würden sie nie wieder vergessen können. Unter Schock konnten sie nur noch mitansehen, wie sich eine purpurne Aura um Bennis Körper bildete und diesen fluchtartig verließ. Wie das blitzende und zuckende Gewitterchaos ihre Sicht hinter den ganzen Tränen flimmern ließ. „Hör auf… bitte, hör auf…“, schluchzte sie schwach, krümmte sich vor Übelkeit und Schmerzen. Kniff die Augen zusammen als eine letzte Explosion Benni zurückschleuderte und er sich mehrmals überschlug, bis er am Rand des inneren Kreises leblos liegen blieb.   Stille breitete sich aus, es flimmerte immer noch vor ihrem inneren Auge und hallte in ihren Ohren nach. Es war, wie als habe dieser Zauber jeden erwischt. Als hätte Carsten jedermanns Herz mit dieser Macht durchbohrt, mit diesem Schock. Zitternd schaute Laura auf. Carsten atmete schwer, einige der Blitze zischten nach wie vor um seine Finger. Das Leuchten in seinen Augen wurde schwächer, verschwand allmählich. Wurde gelöscht von den Tränen, die sich darin sammelten als sein Blick auf Benni fiel. Als er so langsam zu realisieren schien, was geschehen war. Was er getan hatte… „Bring ihn da weg…“, brachte er schwach hervor, zitternd. Jannik brauchte einen Moment um zu realisieren, dass er gemeint war. Und doch konnte er Carsten nur aus seinen braunen Augen anschauen, mit demselben Entsetzen, mit welchem auch der Rest ihn betrachtete. Auch über Konrads und Öznurs Gesichter rannen die Tränen, Eagle erkannte seinen kleinen Bruder gar nicht mehr wieder. „Carsten, wie konntest du-“ „Schaff ihn hier raus!“, wies Carsten ihn erneut an, immer verzweifelter. Dieser laute, gebrochene Ton brachte Jannik zumindest dazu das zu tun, wozu er aufgefordert wurde. Hastig eilte er zu Benni, legte vorsichtig die Arme unter die Achseln, um seinen Oberkörper anzuheben. Laura versuchte das Schluchzen hinter der Hand zu verbergen und doch breiteten sich krampfende Schmerzen in ihr aus, zerquetschten ihr Herz und ihren Magen, als sie sah wie sich Bennis Kopf dabei träge zur Seite neigte. Als sie die ganzen Verbrennungen, Schürfwunden und anderen blutigen Verletzungen bemerkte, die er hatte. Als sie realisierte, wie viel Schaden sie seinem Körper schon den gesamten Kampf über zugefügt hatten. Und jetzt… und jetzt… „Wieso?! Wieso?!“, kreischte sie verzweifelt, spürte die Finsternis-Energie heraustreten, die ihre Sicht schwärzte als sie Carsten aus voller Kehle anschrie. „Wieso hast du das getan?!?“ Sie wollte auf ihn losstürmen, doch ein tiefes, grauenerregendes Lachen erstickte ihr Schluchzen. Ließ sie alle erstarren, als sie realisieren mussten: Es war noch nicht vorbei. Mit vor Angst geweiteten Augen betrachtete sie den Besitzer dieser samtigen, melodischen Stimme. Es war ein Wesen das aussah wie ein Mann und doch keiner war. Ein Gott. Die Macht. Die Zerstörung. Der Anblick war wunderschön und grauenhaft zugleich. Er schnürte Laura die Kehle zu, sie glaubte alleine beim Hinsehen bereits in den Untergang gerissen zu werden. Mars richtete sich auf und fuhr sich mit eleganten, feingliedrigen Fingern durch die zurückgekämmten purpurnen Haare. Seine nach wie vor von Macht getränkte Stimme war tief und bedrohlich, als er meinte: „Ich bin beeindruckt Junge. Wirklich, schwer beeindruckt. Ich dachte ja du bluffst mit deinem Angriff, aber…“ Der dämonische Blick seiner purpurn leuchtenden Augen richtete sich auf Benni, den Jannik inzwischen aus dem innersten Kreis gezogen hatte. Wieder versuchte Laura erfolglos ein Schluchzen zu unterdrücken. Als… Sie konnte weder ihren Augen noch Ohren trauen, als Benni das Gesicht verzog und einen schwachen Laut von sich gab. Aber… aber wie… „Benni?! Ist… ist alles okay?“, fragte Jannik, ungläubig und doch hoffnungsvoll. Kniete sich neben ihn als er sah, wie Benni mühsam die Augen öffnete. Gähnende Leere, das reinste Vakuum befand sich in Lauras Kopf, während sie beobachtete wie er sich mit Janniks Hilfe aufsetzte. Mehr als ein schwaches, zittriges Flüstern brachte sie nicht zustande. „… Benni?“ „Wie kann das… Du- du müsstest tot sein…“, sprach Ariane ihrer aller Gedanken aus. Nicht zuletzt die von Benni selbst. Kritisch tastete er seine Brust ab, wohl nach wie vor zu benommen, um klar denken zu können. Schließlich richtete sich sein verwirrter Blick auf Carsten. Ebenso der von Mars. Die Stimme des Dämons brodelte vor Wut, wie Lava innerhalb eines Vulkans, kurz davor auszubrechen. „Unmöglich… Du kleiner, verdammter…“ Ruhig erwiderte Carsten seinen diabolischen Blick, ein leicht herausforderndes Lächeln formte sich auf seinen Lippen. „Was?“ „Das ist unmöglich! Du beherrschst kaum Illusionsmagie, das weiß ich!“, donnerte der Gott, sein Zorn kochte wie die purpurne Aura um seinen Körper. Die erbarmungslose Stimme presste Laura die Luft aus den Lungen. Er kam direkt auf Carsten zu, schien kurz davor ihm mit bloßer Hand das Herz herauszureißen. Laura fragte sich, wie Carsten es schaffte dem Dämon nach wie vor mit diesem ruhigen Blick in seinen lila leuchtenden Augen zu begegnen. Wie er immer noch dieses selbstbewusste Lächeln auf seinen Lippen haben konnte und sogar mit leicht provokativer Stimme meinte: „Wenn ich so schlecht bin, spricht das ja nicht gerade für deine Fähigkeiten es zu durchschauen.“ Ungläubig starrte Laura ihren besten Freund an, welcher gelassen bei Mars‘ erzürntem, markerschütterndem Schrei einen Schritt vor der zerstörerischen Aura zurückwich. Und plötzlich auf seinem Platz des innersten Kreises stand. „Jannik!“ Dieser verstand sofort, stolperte hastig auf seinen eigenen Platz zurück. Und schnitt sich mit einem Dolch in die Handfläche. Ein blutrotes Leuchten strahlte bis zum Ende der Schlucht, breitete sich in einem Muster um sie herum aus, welches man bei dieser Größe von hier aus unmöglich erkennen konnte. Mars‘ Wutschrei wurde übertönt von einem eigenartigen, tiefen Summen, über das sich schließlich Carstens Stimme legte als er begann den Zauber zu sprechen. Laura schluckte schwer, überwältigt von der Macht, die in den dryadischen Worten lag, welche sie noch nicht einmal verstand. Wenn sie zuvor noch gedacht hatte Mars habe die Stimme eines Gottes, wurde sie nun eines Besseren belehrt. Nichts von seiner einschüchternden, erbarmungslosen Stimme kam an diesen kraftvollen und zugleich sanften Klang heran. Lauras Herzschlag beschleunigte sich vor Aufregung, und doch war es ein schönes Gefühl. Ein angenehmes Kribbeln, wie damals, als Benni sie zum ersten Mal geküsst hatte. Ein Zusammenspiel aus Zärtlichkeit und Stärke, Geborgenheit und Freiheit. Das Gefühl geliebt zu werden. Während sich der Zauber fortsetzte wandelte sich das blutrote Leuchten in ein sanftes Lila. Die Farbe, die Carstens Zauber so häufig hatten. Sie bemerkte, wie Mars mit den Fäusten gegen diese strahlende Mauer schlug. Wie das Lila an den Stellen dunkler wurde, auf die seine purpurne Zerstörungs-Energie trafen. Einen Moment lang hatte Laura Mitleid mit dem Dämon. Fragte sich, wie er sich nun fühlen musste, eingesperrt, ohne die Aussicht auf eine Flucht. Doch der Funken erlosch, als sie staunend betrachtete, wie ein petrolfarbener Lichtstrahl vom äußeren Rand des Kreises emporschoss, als Konrad der erste war, der seine Energie freisetzte. Direkt brachte diese Energie Lauras Blut in Wallungen, gab ihr einen ungeahnten Adrenalinschub als fühle sie sich wie neu geboren. Als sich auch schon der rosa Strahl von Susanne ausbreitete, ein heilendes Leuchten, was jegliche Qualen verschwinden ließ. Sowohl die körperlichen Schmerzen durch die ganzen Kämpfe, als auch jene in ihren Herzen. Darauf bedacht bloß nicht ihren Standpunkt zu verlassen, drehte sich Laura vorsichtig um, um zu beobachten, wie ein gelbes Funkeln alle ihre vergifteten Gedanken vertrieb. Wenig später glaubte sie Kirschblüten in voller Pracht blühen zu sehen, als das türkise Strahlen von Florians Pflanzen-Energie den Frühling brachte. Und mit ihm die Hoffnung, als wäre nun endlich ein Neuanfang möglich. Das grüne Leuchten von Anne kam etwas zögernd, strahlte aber schließlich umso kraftvoller, wie ein warmer Sommertag am Strand. An Kitos Position tauchte das Leuchten nicht von unten auf, sondern schlug als Blitz mit einem lauten, erschreckenden Donner in die Erde, sodass Laura etwas zusammenzuckte. Musste jedoch direkt danach bei der Fröhlichkeit auflachen, die Johannes‘ lila Funkeln vermittelte, welches an das sorglose Lachen von Kindern bei einer Schneeballschlacht erinnerte. Schließlich hatte der Zauber den vorletzten Ring erreicht. Noch während die von Macht getränkten Worte weiterhin über ihre Köpfe hallten, wusste Laura instinktiv, dass es um Freiheit ging, als sich links von ihr bei Eagle ein Tornado bildete. Die angenehme Wärme von Öznurs Stichflamme vermittelte das Gefühl von der Geborgenheit eines Lagerfeuers, was jegliche Kälte vertreiben konnte. Sie hörte Lissi kichern, als bei ihr eine Wassersäule emporschoss und auch in Laura breitete sich Heiterkeit und Sorglosigkeit, diese reine Lebensfreude aus. „Jack…“ Erschrocken richtete sich Lauras Aufmerksamkeit wieder auf das Zentrum des Zaubers und bemerkte schaudernd, wie Mars die Hand in ihre Richtung ausstreckte. Wie er denjenigen ansprach, der hinter Laura und Ariane im Norden des zweitinnersten Kreises stand. „Komm mein Junge, du weißt, dass dort nicht dein Platz ist. Du weißt, dass diese Welt es nicht wert ist. Diese Menschen, die dir alles genommen haben, die dich so haben leiden lassen.“ Hastig drehte sich Laura um, stellte mit Entsetzen fest, dass das erwartete orangene Leuchten immer noch nicht da war. Nein… Er würde doch nicht… „Jack!“ Einige von ihnen riefen nach ihm, schrien seinen Namen. Lissi und Janine von allen am lautesten. Er durfte nicht einknicken, nicht ausgerechnet jetzt, so kurz vorm Ende! Carsten konnte den Zauber nicht unterbrechen, er konnte nicht warten, bis Jack seine Gedanken gesammelt und die Gefühle sortiert hatte! Die Erd-Energie musste während des Abschnittes vom Zauber freigesetzt werden, in welcher es darum ging. Mehr als dreißig Sekunden blieben ihm nicht! „Komm, Kleiner…“ Laura wandte sich wieder Mars zu. Schockiert realisierte sie, wie vertraut ihr seine menschliche Gestalt vorkam. Der hochgewachsene Körperbau, die purpurnen Haare, die nur ein bisschen zu dunkel waren, um rosarot zu sein, das Gesicht… Selbst sein Lächeln hatte etwas Liebevolles, Väterliches. Das Entsetzen breitete sich immer weiter in ihr aus als ihr klar wurde, dass Mars dieses Aussehen nicht per Zufall so gewählt hatte. Dieser. Manipulative. Teufel! Sie merkte, wie Carsten den Zauber so gut es ging versuchte zu verlangsamen. Doch bei seinem verbissenen Blick konnte Laura sehen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Flehend drehte sie sich wieder zu Jack um, Tränen in den Augen. Bitte… Bitte! Sie spürte seinen Zwiespalt. Wie er versuchte gegen diese Macht anzukämpfen. Wie er die ganzen Zweifel in seinem Herzen vertreiben wollte. Wie er einfach vertrauen wollte! Und doch konnte er es nicht… Für einen Moment lang schaffte Jack es, sich von Mars abzuwenden. Einen kurzen Moment, in dem sein Blick auf jemand anderen fiel. Ehe sich ein trauriges Lächeln auf seinen Lippen bildete. „Sorry Papa, ich will nicht schuld daran sein, dass wegen mir eine ganze Welt zerstört wird.“ Noch während Laura glaubte die schlotternden Knie würden unter ihr nachgeben, sah sie eine durchsichtige, orangefarbene Wand emporschießen, die ihr die Stärke gab, sich doch noch auf beiden Beinen halten zu können. Eine Willenskraft und Unbeugsamkeit, die vermutlich der einzige Grund war, warum auch der Rest nicht zusammensackte. Nur wenig später spürte Laura auch schon ein Kribbeln in ihren Fingern. Irgendetwas, was ihr zuflüsterte, dass nun sie an der Reihe war. Dass sie ihre eigene Energie freisetzen sollte. Ohne es zu merken nahmen sie und Ariane sich an den Händen, tauschten ein erleichtertes Lächeln aus. Hoffnung kam in ihnen hoch, die Gewissheit, Damon, den Rest der Welt und besonders alle, die ihnen lieb waren, beschützen zu können. Als sie den gesamten Raum in Licht und Finsternis zugleich tauchten. Die Schlucht verschwand, Nichts umgab sie. Lediglich sie selbst blieben zurück und der magisch leuchtende Kreis, der ihnen zumindest das Gefühl vermittelte, auf etwas zu stehen was einem Boden glich. Voller Begeisterung und mit Tränen in den Augen betrachtete Laura das farbenfrohe Lichterspektakel, welches sich über ihren Köpfen abspielte. Alle Farben der Dämonen vereinten sich, strahlten wie Nordlichter in den grenzenlosen Weiten des schwarzen Sternenhimmels. Der Zauber war fast fertig, es war fast vorbei. Sie hatten es geschafft! „Wisst ihr, dass die Barrieren schwächer werden, je näher der Zauber dem Ende kommt?“ Die selbstgefällige, siegessichere Stimme ließ Laura erschaudern. Mit einem grauenerregenden Lächeln schaute Mars in die Runde, versprach kein Erbarmen. „Es ist so wahr, ihr Menschen werdet nie aus der Vergangenheit lernen.“ Das purpurne Lodern um seinen Körper wurde stärker und stärker. Es wuchs, genauso wie es der Dämon tat. Erstickt in Grauen beobachteten sie, wie die Haare die Form von Federn bekamen, wie sich die Energie zu gewaltigen Flügeln formte. Eine unbeschreibliche Macht ging von diesem Wesen aus, stärker, angsteinflößender und zerstörerischer als alles je da Gewesene. Und es war gigantisch. Das gellende Kreischen eines Phönix‘ hallte über sie hinweg, übertönte sogar einen Moment lang den Zauberspruch selbst. Gefangen vom Entsetzen klammerte sich Laura an Ariane, beobachtete mit vor Schrecken aufgerissenen Augen, wie purpurn lodernde Ranken aus dem Körper wuchsen. Sie waren schmal, wie Seile oder Peitschen, und doch bestanden sie aus nichts anderem als purer Zerstörung. Und genauso wie damals, wie als Eufelia, Coeur und Leonhard den Bann gewirkt hatten… Angst und Verzweiflung übermannten sie alle, als sie mit ansehen mussten wie die zerstörerischen Seile auf die Barriere einstachen. Der Schutzwall bekam Risse, wie das Eis auf dem Teich, in dem Laura einst als Kind fast ertrunken war. Und schließlich zerbrach er. „Carsten!!!“ Der panische Schrei von Eagles sich überschlagender Stimme überlagerte den von Laura, Ariane und allen anderen um Längen und doch wussten sie, dass in diesem Moment jeder seinen Namen gerufen hatte. Die Seile schossen hindurch, wickelten sich um Carstens Arme und Beine, brannten sich tief in seine Haut. Sie begannen an ihm zu zerren, versuchten ihn, weg von seinem Posten zu bewegen. Ihr Herz setzte aus als sie sah, wie Carsten nur mit Mühe einen Schmerzensschrei unterdrückte. Nur, um mit aller Kraft den Zauber weitersprechen zu können. Um unter keinen Umständen das Ritual zu unterbrechen. Laura wollte ihm zu Hilfe eilen, wurde aber von Ariane festgehalten. „Rührt euch nicht von der Stelle!“, wies Florian auch alle anderen aus ihrer Gruppe mit strenger Stimme an, verhinderte dadurch, dass Eagle seinen Platz verließ. Laura versuchte irgendwie ihre Finsternis-Energie zu Mars zu schicken, musste aber verzweifelt feststellen, dass jegliche Energie in den Zauber überging. Frustriert schluchzte sie auf, als Carsten mit einem Kopfschütteln andeutete, dass sie sich bloß nicht vom Fleck bewegen sollten. Brach in Tränen aus, als sie sah wie das Blut seine Kleidung tiefrot färbte und als sie Arianes herzzerreißenden Schrei hörte, in dem sie Carsten anflehte durchzuhalten. Diese ganzen Eindrücke prasselten innerhalb kürzester Zeit auf sie ein, es brauchte nur wenige Sekunden, in denen die Gefühle sie alle übermannt hatten. Und doch schien es wie eine Ewigkeit, bis sie plötzlich irgendwoher eine andere Energie bemerkten. Es schoss gerade ein weiteres Seil auf Carsten zu, wollte seinen Hals zerquetschen und ihm die Luft abdrücken, als es verblasste bevor es sich ganz um ihn legen konnte. Laura erstarrte, als sie die in Finsternis getauchte Klinge des Samuraischwertes bemerkte, welche alle Fäden des Puppenspielers durchtrennte. Mit seinem typischen neutralen Blick erwiderte Benni das verärgerte Kreischen des Phönix. Noch mehr Seile schossen auf ihn zu, wollten an Benni vorbei zu ihrem ursprünglichen Ziel. Doch er ließ es nicht geschehen. Absorbierte die Zerstörungs-Energie indem er sie zerschnitt und von ihrem Meister abspaltete. Auch weitere Versuche von Mars schlugen fehl. Wie eine unüberwindbare Wand wurden alle Angriffe abgeblockt und doch war es eigentlich nur eine schmale Klinge, die zwischen dem Dämon und dem Schwarzmagier stand. Schaudernd bemerkte Laura, wie sich ein schwarzer Strudel in der Mitte bildete, der ganz langsam immer größer wurde. „Benni, du musst da weg bevor er den Zauber beendet!“, schrie Konrad mit einem verzweifelten Drängen zu ihm rüber. Mars nicht aus dem Blick lassend, wich Benni etwas zurück, als versuchte er dem Moment abzupassen, in welchem er das Zentrum verlassen konnte ohne dabei Carstens Deckung aufgeben zu müssen. Doch plötzlich… Ein schwacher Schmerzenslaut drang aus Bennis Kehle, als eines der Seile wie ein spitzer Speer seine rechte Schulter durchbohrte. Er konnte es gerade so noch durchtrennen, als die Zerstörungs-Energie sich um sein linkes Handgelenk zurrte. Eine ruckartige Bewegung, und seine Finger verloren ihren Griff. Es schien wie in Zeitlupe, als das Schwert fiel, als es mit einem metallischen Echo auf den Boden des Nichts traf. Benni absorbierte drei weitere Seile mit seiner Finsternis, doch seine Kraft reichte kaum mehr aus. Der Kampf zuvor forderte seinen Tribut. Schmerz und Erschöpfung zehrten an ihm. Schweiß rann ihm von der Stirn und Laura hatte selten so einen müden und gleichzeitig verbissenen Blick gesehen, als Benni zumindest die Angriffe auf Carsten abschirmte, und sei es auch mit seinem eigenen Körper. „Ignorier mich und bring das Ritual zu Ende!“, rief er über die Schulter, hatte als einziger gemerkt, wie Carstens Spruch ins Stocken geriet. Mars lachte auf. „Ach, du willst mich also begleiten.“ Benni schrie auf, als sich ein Speer durch seine Brust bohrte. Zeitgleich hörte Laura sich selbst seinen Namen rufen. Der Strudel hatte inzwischen mehr als die Hälfte des Kreises eingenommen. Eine gewaltige Macht, die alles mitreißen würde, was auch immer sie erfassen konnte. „Bitte Benni, bleib hier! Bleib bei mir!“, kreischte Laura verzweifelt, hoffte irgendwie den Spruch und das Rauschen zu übertönen. „Du musst da weg! Du musst dich befreien! Bitte!!!“ Mars versuchte noch einen Angriff auf Carsten, den Benni mit bloßer Hand abfing, kurz bevor der Strudel auch ihn erreicht hatte. „Benni!!!“ Unter Tränen glaubte sie noch zu erkennen, wie Benni durch die Masse an Zerstörungs-Energie ihren Blick erwiderte. Ein schwaches Lächeln, bevor der Sog von ihm und Mars Besitz ergriff. Wie er sie beide zurück in die Mitte zerrte. Ein Blitz schlug ein, ein strahlendes Leuchten in allen erdenklichen Farben. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Und schließlich Finsternis. Kapitel 110: Legenden --------------------- Legenden       Finsternis. Mehr nahm Susanne auch dann nicht wahr, als sie es schließlich schaffte die Augen zu öffnen und sich umzuschauen. Sie brauchte einen Moment, bis Benommenheit und Schwindel weitestgehend nachließen, sodass sie auf die Idee kam, diese Finsternis mit Magie zu vertreiben. Sie sprach einen kurzen Zauber, kleine Kugeln entstanden und hüllten den Raum in ein schwaches rosa Leuchten. „Ist alles okay?“, hörte sie eine sonst eher raue Stimme ungewohnt sanft fragen. Überrascht schaute Susanne nach Norden und sah, wie Jack bei Janine kniete und ihr half sich aufzusetzen. Hinter den beiden befand sich das riesige Tor, dessen Flügel immer noch geöffnet waren. So langsam realisierte Susanne, dass sie sich wieder in der tiefsten Schlucht der Unterwelt befinden mussten. Konrad war der nächste, der das Bewusstsein wiedererlangte. Mit einem erschöpften Stöhnen richtete er sich auf, benötigte ebenfalls einen Augenblick um sich zu sammeln. Dann zauberte auch er einige Lichtkugeln, damit der gewaltige Raum etwas besser erhellt wurde. Taumelnd mühte sich Susanne auf die Beine. Bis auf sie vier war ansonsten noch keiner aufgewacht. „Geht’s euch gut?“, erkundigte sich Konrad matt bei ihnen, während er zu Kito ging, die seiner Position am nächsten war. Nach wie vor nicht ganz bei sich nickte Susanne. „‘Ne Kopfschmerztablette wär nett.“, kommentierte Jack, wirkte von ihnen allen jedoch am wenigsten mitgenommen. Was Susanne nicht einmal mehr überraschte, nachdem er das FESJ ohne nennenswerte Folgen für seine Gesundheit hatte zum Einsturz bringen können. Sein Körper war wohl selbst für die Verhältnisse eines Dämonenbesitzers extrem widerstandsfähig. Allmählich kehrten auch Susannes Kräfte zurück und sie eilte zu Johannes, welcher ihrer Position wiederum am nächsten lag. Konrad hatte es derweil bereits geschafft Kito zu wecken. „Haben wir es gewirkt? Ist er überwältigt?“, fragte das Dryaden-Mädchen ungläubig. „Es scheint so…“, erwiderte Konrad kritisch, blickte sich weiterhin um, während Johannes mit einem erschrockenen Aufschrei aus seiner Ohnmacht erwachte. Doch seine Angst wandelte sich alsbald in ein begeistertes Strahlen, als auch er realisierte: „Mars ist weg! Wir haben’s geschafft! Mars ist weg! Der böse Boss ist besiegt!!!“ Seine Euphorie heiterte die Stimmung etwas auf. Ließ zu, dass sich auch im Rest dieser Funken Erleichterung ausbreitete. Diese kleine Kerzenflamme in der Finsternis. Auch Florian erwachte langsam und als Susanne sich neben Lissi kniete und vorsichtig an ihrer Schulter rüttelte, öffnete sie ebenfalls ihre Augen. Lissi lachte auf, drückte ihre Schwester mit einer überschwänglichen Umarmung ganz fest an sich. Bei ihrem zerquetschenden Griff breitete sich diese Heiterkeit allmählich auch in Susanne aus und ihr bleib keine andere Wahl, als die Umarmung lachend zu erwidern. Sie war einfach glücklich und erleichtert, dass es Lissi gut ging. Doch diese Freude hielt nur solange an, bis sie Konrad leise fluchen hörte und Blut-Energie wahrnahm. Erschrocken blickte sie auf, als Johannes auch schon fragte: „Warum wacht die feurige Tante nicht auf?“ „Sie hat schon in den Kämpfen selbst ziemlich viel Energie eingesetzt. Und bei dem Blutverlust zuvor…“, erklärte Konrad zerknirscht. Bedrückt atmete er aus und ergänzte auf ihre geschockten Gesichter: „Keine Sorge, sie schwebt nicht in Lebensgefahr. Aber der ganzen Belastung konnte ihr Körper einfach nicht standhalten. Vermutlich dauert es noch eine Weile, bis sie wieder aufwacht. Selbst mit Energie.“ „Da hätten wir schon zwei.“, meinte Jack nur, anscheinend eher zu sich selbst. Als sie realisierte bei wem er und Janine knieten, setzte Susannes Herzschlag aus. „Anne…“ Es war ihr unmöglich, die Tränen zurückzuhalten. Und obwohl Ninie ihr versicherte, dass es ihr ansonsten den Umständen entsprechend gut zu gehen schien, wollte die Erleichterung nicht wirklich zu Susanne zurückkehren. Mit Grauen erinnerte sie sich wieder an den Geheimgang. An das abscheuliche Ungeheuer, welchem sie gegenübergestanden hatten. Welches Anne das Leben genommen hätte, wäre nicht… Susanne schluchzte, versuchte erfolglos diese Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben. Diese Angst, dieses Gefühl der Ohnmacht, … „Susi…“, setzte Lissi an, schien jedoch zum ersten Mal nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Schließlich grinste sie. „Hey komm, du kennst Anne. Die wird sich eher noch darüber aufregen, wenn du jetzt hier rumflennst.“ Schwach lachte Susanne auf. Obwohl sie wusste, dass Lissi bewusst Annes Wortwahl verwendete, dass ihr keckes Lächeln eigentlich nur aufgesetzt war, half es ihr dennoch etwas aus diesen quälenden Erinnerungen heraus. Gänzlich herausgerissen wurde sie allerdings erst, als sie hörte wie jemand panisch Carstens Namen rief. Voller Sorge beobachtete Susanne, wie sich Eagle stolpernd aufrichtete und zum innersten Kreis rannte. Direkt waren auch sie und Lissi auf die Beine gesprungen, kamen jedoch nicht weit. Viel zu sehr wurden sie von diesem Anblick gelähmt. Viel zu schmerzhaft zerbrach ihr Herz, als Eagle schreiend und unter Tränen neben seinem kleinen Bruder auf die Knie fiel. Als sie das Blut sahen, welches sich unter Carstens Körper ausgebreitet hatte. Als sie realisierten, wie mager und leblos er schien, während Eagle ihn an sich drückte. Zitternd suchte Susanne nach Lissis Hand, wurde von ihrer Schwester direkt in die Arme geschlossen. „Rühr ihn nicht an!“, brüllte Eagle aufgebracht, schirmte Carsten mit seinem eigenen Körper ab als sich Konrad hastig neben die beiden kniete. „Eagle, lass mich schauen, ob ich helfen kann.“, wies der Vampir ihn gezwungen ruhig und doch drängend zurecht, hatte alle Mühe Eagles aufgebrachten Gefühle mit Verstand zu konfrontieren. Erst als Lissi ihren vollen Namen nannte merkte Susanne, wie sie schon seit einer Weile versucht hatte ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. „Überlass das Konrad. Es gibt da jemanden, der deine Hilfe dringender braucht als Carsten…“ „Was?“ … Natürlich. Quälend langsam wanderte Susannes Blick zur Mitte des Raumes. Irgendetwas in ihr schien sie daran hindern zu wollen, irgendein schmerzhaftes Ziehen in ihrer Brust flehte sie an, sich das nicht anzutun. Die Angst, eine grausige Erwartung dessen, was sie zu Gesicht bekommen müsste. Ihr war gar nicht aufgefallen, wie auch Laura und Ariane inzwischen aufgewacht waren. Nein, viel mehr hatte sie es gar nicht erst wahrnehmen wollen. Es war dieser verzweifelte Versuch, das grauenerregende Bild überhaupt nicht ins Blickfeld zu bekommen. Sich mit allen Mitteln davon abzuwenden, da man ganz genau wusste, wenn man es einmal sah, konnte man nicht mehr wegschauen. Würde man es nie wieder vergessen. Immer noch flehte irgendetwas in Susanne sie an, diesen herzzerreißenden Anblick zu ignorieren. Doch es war zu spät. Wie Eagle war auch Laura über einen leblos wirkenden Körper gekrümmt. Nur ein schwaches, tränenersticktes Schluchzen drang zu ihnen durch und doch konnte Susanne es hören, ihr flehendes Wispern. „Bitte Benni, wach auf… Komm wieder zu dir… Du darfst nicht sterben… bitte…“ Susanne schüttelte den Kopf, versuchte die Tränen zurückzuhalten und den Schmerz in ihrem Herzen irgendwie zu verdrängen, als sie sich einen Ruck gab und zu Laura hinübereilte. „Darf ich?“, fragte sie, kniete sich Laura gegenüber. Im Gegensatz zu Eagle nahm sie die Hilfe sofort an, befreite Benni aus ihrem klammernden Griff. Wenn auch mit einigem Widerwillen und deutlich heftigerem Schluchzen. Eine Panik, welche auch Susanne überkam, als sie gezwungen war Bennis totenbleiches Gesicht und all die grauenhaften Verletzungen zu sehen, die dem schwarzen Stoff seiner Kleidung einen schaurig roten Glanz verliehen. Susannes Finger wollten einfach nicht ruhig bleiben, als sie nach seinem rechten Handgelenk tastete. Sie versuchte das Schaudern zu unterdrücken, als sie dabei das Blut spürte, während sie seinen Puls fühlte und gleichzeitig ihre Heil-Energie aussandte, um zu sehen ob… Susanne biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe und unterdrückte ihr eigenes Schluchzen. „Und?!“, fragte Lissi drängend, verzweifelt. Susannes mindestens genauso verzweifelter Blick fiel auf das zerstörte Ende der Treppe. Ein Haufen Schutt und Geröll, unter dem sich irgendwo die Unterweltler befanden… Florian verstand sie. „Wie viel Zeit bleibt uns noch?“ Zitternd atmete sie aus, betrachtete Bennis Antlitz. Die geschlossenen Augen, der friedliche Ausdruck, fast so als würde er nur schlafen. Wäre da nicht das ganze teils verwischte Blut, was sich in seinen platinblonden Haaren verklebte und diese tiefrot färbte. Er war wirklich stark und ausgesprochen stur. Diese Kraft, so lange überleben zu können… „… Keine fünf Minuten mehr…“ Florian stieß einen Fluch aus, zeitgleich wurde Laura so furchtbar von ihren Gefühlen überrannt, dass ihr Schmerzensschrei durch die gesamte Schlucht hallte. Gebrochenen Herzens suchte Susanne nach einer Lösung, konnte kaum denken, so wie auch sie von der Verzweiflung übermannt wurde. „Jetzt im Schloss zu suchen und zu hoffen, dass zufällig noch einer von Mars‘ Untergebenen am Leben ist wird zu lange dauern.“, hörte sie Florian entfernt überlegen. Bekam es gar nicht wirklich mit. Viel mehr hatte sie Bennis Blick vor Augen, damals, als sie sich ihm gegenüber in das saubere, duftende Stroh in Flickas Box gesetzt hatte. „Es ist so schön hier… Nahezu idyllisch.“ Susanne lachte verlegen auf. „Danke, dass du mir Asyl gewährst. „Wieso?“ „Warum es so schön ist?“ „Das weiß ich selbst. Weshalb gewähre ich dir Asyl?“ Traurig lächelte Susanne, versuchte die Tränen wegzublinzeln. „Was ist mit dieser Indigonerin?!“, schlug Ariane verzweifelt vor. „Wir werden auch auf eigene Faust einen Weg finden, um Carstens Augen heilen zu können.“ Ariane zupfte Carsten am Ärmel seines T-Shirts um seine Aufmerksamkeit zu erregen und zeigte auf die Bananen beim Obststand. „Hey Carsten, voulez vous coucher avec moi ce soir?“ „W-was?!“ Mit einem Schlag färbte sich sein Gesicht knallrot. Auch Laura, Susanne und Janine waren wie erstarrt. Nur Benni nicht, der auf einmal husten musste, fast so als habe er sich eben beim Trinken verschluckt. Beinahe, als wäre er kurz davor lauthals loszulachen. „Die schien selbst ziemlich mitgenommen.“, erwiderte Florian zerknirscht. „Ich bezweifle, dass sie nach einem Teleport noch…“ „Bitte! Es muss doch irgendetwas geben, wie wir- Bitte!!!“, schrie Laura heiser, immer mehr Tränen liefen über ihre Wangen. Gerührt betrachtete Susanne Laura, welche wohl eine totale Romantikerin war und mit großen, leuchtenden Augen in den Nachthimmel schaute, während Freudentränen über ihre Wangen liefen. Auch Benni beobachtete eher Laura als die Laternen und wischte ihr leicht amüsiert einige der Tränen von der Wange. Kurz darauf legte er einen Arm um ihre Schultern, als sich Laura gegen ihn lehnte. Susanne war sich ziemlich sicher ein leichtes Lächeln auf Bennis Lippen zu erkennen, der liebevolle Blick mit dem er Laura anschaute erwärmte ihr Herz. Auch aus Susannes Kehle drang ein Schluchzen. Benni konnte nicht sterben, so konnte es nicht enden. So durfte es nicht enden! Sie musste einen Weg finden, irgendeinen! Egal was! Das war sie ihnen schuldig! Das war sie Laura schuldig, die all die Zeit nur für ihre große Liebe gekämpft hatte und sie jetzt für immer zu verlieren drohte! Das war sie Carsten schuldig, der im letzten Moment noch einen Weg gefunden hatte, seinen besten Freund von Mars zu befreien ohne ihn in den Tod reißen zu müssen! Und von allen am meisten war sie es Benni selbst schuldig! Er hatte so viel für sie getan, hatte ihnen so häufig geholfen, sie so oft gerettet. Selbst, als alles verloren schien. Sogar unter Einsatz seines Lebens! Susanne kniff die Augen zusammen, spürte die Tränen, das schmerzhafte Stechen in ihrem Herzen. Mit einem Schwung brachen Erinnerungen über sie herein, Erinnerungen an ihre Prüfung. Die Erinnerung an Naoki, jenem Jungen, dessen Charakter der Pinke Bär an Benni angelehnt hatte. Die Worte des Dämons hallten in ihrem Herzen nach. ‚Es war das Schicksal des Jungen, sich zu opfern.‘ War es das wirklich? War das mehr, als nur eine Prüfung gewesen? Hatte der Pinke Bär ihr damit vielleicht mitteilen wollen, dass- „Nimm meine.“ „… Was?“ Susannes Herz setzte aus. Wie gelähmt schaute sie auf, in grasgrüne Augen, die ihre eigenen mit einem entschlossenen Blick begegneten, als Jack erwiderte: „Nimm meine Lebensenergie.“ Eine schlagartige Stille breitete sich aus, die Aufmerksamkeit von ausnahmslos jedem hatte sich auf sie beide gerichtet. Unter Schock schüttelte Susanne den Kopf. „Das- das kann ich nicht…“ „Du musst. Susanne, wir haben keine Zeit für Selbstzweifel.“, redete Jack ruhig auf sie ein. Zu ruhig. Er warf einen flüchtigen Blick auf Laura. „Benni hat eine Zukunft. Familie, Freunde, so viele Leute die ihm wichtig sind. Er hat die Möglichkeit ein normales Leben zu leben. Ich werde nur die Möglichkeit haben, mich zwischen Gefängnis und Exil zu entscheiden.“ Ein trauriges Lächeln formte sich auf seinen Lippen. „Es ist okay. Ich hatte nie damit gerechnet, hier lebend rauszukommen.“ „A-aber…“ Langsam dämmerte es Susanne, allmählich kam die Erkenntnis. Selbst wenn der Pinke Bär Naokis Persönlichkeit an Benni angelehnt hatte…   Tatsächlich huschten leichte Andeutungen eines Lächelns über Carstens Gesicht. ‚Irgendwie hat er mich an Benni erinnert…‘   Ein Kind, was nie wirklich Kind sein konnte. Ein Leben, was er nie leben konnte.   ‚Ich will nicht schuld daran sein, dass wegen mir eine ganze Welt zerstört wird.‘   „Naoki…“ Fragend legte Jack den Kopf schief. Sein Gesicht verschwamm hinter ihren Tränen und doch konnte sie dasselbe traurige Lächeln sehen wie damals, als er meinte: „Er oder ich. So schwer ist die Entscheidung da doch gar nicht, oder?“ „Nein… Nein!“, schrie Susanne, schlug die Hand weg, die Jack ihr hinhielt. „Ich kann dich nicht töten! Ich will das nicht!“ „Ihr wolltet doch einen von Mars‘ Untergebenen. Da habt ihr ihn.“ „Aber-“ Susanne wurde von ihrem eigenen Schluchzen unterbrochen. War das der einzige Ausweg? Blieb ihr keine andere Wahl, als sich zwischen Jack und Benni entscheiden zu müssen?! Nein, das war unmöglich. Wie konnte sie bestimmen, wessen Leben mehr wert war?! Unbewusst fiel ihr Blick auf Janine, die nach wie vor bei Anne kniete und mit aller Kraft versuchte ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Wusste er überhaupt, was er ihr damit gerade antat? Konnte er sich nicht denken, was Janine für ihn empfand?! Nein… konnte er nicht. Wie sollte er auch nach all dem wissen, wie es um Janines Gefühle für ihn stand? Wie sollte er auf die Idee kommen, dass sie ihn tatsächlich lieben könnte, wenn sie ihm davor mit so viel Hass begegnet war? Wie konnte er ahnen, dass er damit ihre Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zu zerstören drohte? Er sah sich nicht als jemand, den man lieben konnte. Und noch weniger sah er sich als Teil ihrer Gruppe… Verzweifelt tastete Susanne erneut nach Bennis Puls, spürte, wie seine Kraft mehr und mehr schwand. Wie ihnen die Zeit davon rannte. Susanne schaute auf, sah Laura, am Boden zerstört. Sie würde es ihr niemals antun können, Benni sterben zu lassen. Nach alldem, was die beiden durchgemacht hatten… Da hatten sie es verdient gemeinsam glücklich werden zu können! Zitternd ballte Susanne die Hände zu Fäusten, ein tosender Schmerz breitete sich immer weiter in ihrem Innersten aus, Übelkeit kam in ihr hoch. Und noch mehr Tränen, so viele Tränen. Einen kurzen Moment lang erwiderte Laura ihren Blick, sah den verzweifelten Zwiespalt. Lauras zitternder Griff um Bennis Hand wurde stärker und dann, ganz langsam als bereitete diese Bewegung ihr unsagbare Qualen, schüttelte sie schwach den Kopf. Mehr als ein Flüstern brachte Laura nicht zustande. Nur durch das verbesserte Gehör konnte Susanne ihre bebende Stimme hören. „Er würde das nicht wollen…“ „W-wie…“ Es war Susanne unmöglich, diese Aussage zu verstehen. Dafür wandte sich Laura an Jack, nahm die Entscheidung in die eigene Hand. Obwohl sie kaum die Kraft hatte zu Lächeln tat sie es, als sie meinte: „Ich sehe hier nirgends einen Untergebenen von Mars. Ich… ich sehe nur unsere Gruppe. Und Benni würde es sich nie verzeihen, wenn…, wenn ein Freund… seinetwegen stirbt.“ Damit gab Laura sich selbst den Rest. Schluchzend brach sie zusammen, krümmte sich vor Schmerzen. Ariane versuchte sie irgendwie zu beruhigen, legte tröstend die Arme um ihre Schultern, erreichte jedoch nur das Gegenteil. Mit zusammengebissenen Zähnen wandte Jack den Blick ab, musste selbst gegen die Tränen ankämpfen. „Verdammt, euch bleibt keine andere Wahl, wenn ihr ihn retten wollt!“ Vorsichtig legte Susanne ihre Hand auf seine, spürte das schwache Zittern, als Lissi plötzlich verzweifelt aufstöhnte. „Das kann doch nicht wahr sein! Wo bleibt diese Magie der wahren Liebe, wenn man sie mal braucht?! Cärstchen hatte doch sogar mal von der Legende vom Viecor erzählt! Kann sich das nicht vielleicht mal zu Wort melden?!?“ Susanne schreckte auf. „Stimmt. Die Legende besagt, dass es eine Person wiederbeleben kann, wenn diese und eine weitere Person sich gegenseitig ein solches Metall in irgendeiner Form geschenkt haben und wahre Liebe sie verbindet.“ Verbittert lachte Jack auf. „Als wäre Liebe zu sowas in der Lage.“ „Warum nicht?! Jede Legende hat einen wahren Kern, wir müssen nur diesen finden!“, warf Ariane energisch ein, ein verzweifelter Blick auf Carsten, der ihnen einst davon erzählt hatte. „Diese Viecor-Quelle hatte schließlich auch Carsten schon gerettet, obwohl es angeblich kein Heilmittel gab. Vielleicht können die Ketten ja echt sowas!“ Laura schluchzte. „Aber Mars hatte Bennis doch abgelegt…“ „Dann könnte sie aber noch in seinen Gemächern sein.“, stellte Florian fest und schaute Susanne fragend an. „Wie viel Zeit haben wir noch?“ „Z-zwei Minuten vielleicht…“ Zerknirscht streckte Jack die Hand aus. „Zeig her, wenn sie in der Nähe ist, find ich sie.“ Hektisch und mit zitternden Fingern versuchte Laura die Kette in ihrem Nacken zu lösen, friemelte verzweifelt am Verschluss bis sie es endlich schaffte ihn zu öffnen. Doch bevor sie sie an Jack gab, hielt sie inne. „Coeur…“ „Was?“ Verwirrt betrachtete der Rest sie, konnte nicht verstehen, wie Laura ihnen nur noch mehr von der kostbaren Zeit raubte. Ariane verstand die Andeutung. „Eufelia meinte, sie habe ihre Kette an Benni vererbt. Die, die Laura jetzt trägt.“ „Na und?!“ In Florians Stimme lag das deutliche Drängen, dass sie sich gefälligst beeilen sollten. Aufgeregt schaute Laura zwischen ihm und Konrad hin und her. „Sie ist doch damals gestorben, kurz nachdem sie erfahren hatte, dass Bennis Mama schwanger ist, oder?!“ Konrad nickte langsam. „Du glaubst, dass das kein Zufall war.“, stellte er fest. „Sie kannte den Schwachpunkt vom Bann, sie wusste, was passieren würde! Und da vererbt sie an ihren Nachfahren einen Anhänger, der dazu in der Lage ist Energie zu erhalten?! Das kann kein Zufall sein!“ Erregt hielt Laura Susanne die Kette entgegen, der Anhänger wackelte leicht, so sehr wie ihre Hand zitterte. Als sie unter Tränen erklärte: „Es muss sich niemand für Benni opfern, das hat bereits jemand für ihn getan!“ Die Erkenntnis schlug wie ein Blitz in Susanne ein. Eilig nahm sie die Kette. Jack verdrehte derweil spöttisch die Augen. „Wenn das echt stimmt, wurde es aber ganz schön scheiße von ihr kommuniziert.“ „Ist doch egal!“, rief Lissi aufgebracht, ihr erwartungsvoller Blick lag auf Susanne. Ebenso der vom Rest. Blicke gefüllt mit Hoffnung, flehend, dass Lauras Vermutung der Wahrheit entsprach. Ungläubig betrachtete Susanne den Anhänger, wusste nicht, ob es Lauras Körperwärme war die er ausstrahlte, oder… „Ich… ich spüre tatsächlich Lebensenergie.“ „Echt jetzt? Und ich hab mich in Filmen schon immer drüber aufgeregt, dass die Leute einfach nicht miteinander reden können.“, kommentierte Ariane ungläubig. Intuitiv wusste Susanne was zu tun war. Eilig legte sie die Kette um Bennis Hals, während Jack vorsichtig seinen Kopf etwas anhob, damit sie besser an den Nacken kam, um sie verschließen zu können. „Vermutlich hat sie gehofft, dass Benni sie einfach tragen würde, sollte er-“ Susanne stockte. Kaum lag der Anhänger auf seiner Brust, begann er silbern zu leuchten. Erschrocken wich sie zurück, beobachtete mit weit aufgerissenen Augen, wie das Strahlen immer stärker wurde und die Schlucht in ein sanftes Licht tauchte. Ein Strahlen, bestehend aus reinster Geborgenheit, welches allmählich eine Form annahm. Aus dem silbernen Licht materialisierte sich eine Person. Oder eher ein Engel, wenn nicht gar eine Göttin. „… Coeur.“, hauchte Laura. Erfüllt mit Staunen betrachteten sie die wunderschöne junge Frau, die die Gruppe mit einem warmen Lächeln bedachte. Ihre kurzen Haare wehten sanft um ihr Gesicht, waren genauso silbern wie die Augen. Ihr Blick blieb auf Carsten haften, der immer noch von Eagle im Arm gehalten wurde und kein wirkliches Lebenszeichen von sich gab. Die grauenhaften Wunden der Zerstörungs-Energie ließen eher das Gegenteil befürchten. Coeur streckte die Hand aus, magische Spiralen entstanden, wickelten sich sanft um seine Verletzungen, welche Mars‘ Seile aufgerissen hatten. Selbst über seine Augen legte sich ein solcher Verband. „Mehr kann ich leider nicht für ihn tun.“, sagte sie mit freundlicher, klarer Stimme, lächelte sie entschuldigend und zugleich auch wissend an. „Viel zu viele Wunden sind über die Zeit entstanden, und nur die Zeit vermag es, diese zu heilen.“ Ungewohnt verunsichert wandte Eagle den Blick ab, brachte einen schwachen Dank über die Lippen. Die junge Göttin hatte sich derweil wieder ihrer Gruppe direkt um Benni zugewandt. Beugte sich zu Laura herunter, schien genau zu wissen, wer sie war und welche Rolle sie für ihren Nachfahren spielte. Schniefend wischte sich Laura mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen, erwiderte das Lächeln, wenn auch leicht verschüchtert. „Danke…“ „Ich habe zu danken.“ Grinsend stupste Coeur mit dem Zeigefinger gegen ihre Stirn. Eine Geste, die Susanne auch bei Benni öfter gesehen hatte, wenn er Laura etwas necken wollte. Schließlich richtete sich ihre Aufmerksamkeit endlich auf Benni selbst. Mit einem traurigen und doch liebevollen Lächeln betrachtete sie ihn.  „Seine Seele kann ich nicht retten, doch zumindest seinen Körper. Der Rest hängt davon ab, ob er stark genug ist zurückzukehren.“ „W-wie… wie meinen Sie das?“, fragte Laura kleinlaut. Auch in Susanne kam die Angst hoch. Inwiefern musste seine Seele gerettet werden?! Coeur schaute noch einmal zu Carsten, dann kniete sie sich hin und legte die Hand über Bennis Brust, auf den nach wie vor leuchtenden Anhänger. „Lasst euch nicht von den Zweifeln besiegen. Gebt ihnen nicht die Kraft, eure Hoffnung und euer Vertrauen zu zerstören.“ „Okay, jetzt versteh ich, warum die Kommunikation so scheiße läuft. Das versteht ja kein Schwein.“, kommentierte Jack ihre Aussage stumpf. Amüsiert erwiderte Coeur seinen Blick. Sie brauchte nichts zu sagen, jeder wusste was sie ihm mitteilen wollte, ehe sie sich abwandte. Wieder wurden sie alle von einem silbernen Strahlen geblendet. Schützend hielt sich Susanne die Arme vors Gesicht und doch war dieser Schein nicht unangenehm. Es war eher eine Leichtigkeit, eine innere Ruhe, die er in ihr auslöste. Er erweckte das lange vergessen geglaubte Vertrauen, dass alles gut werden würde. Und zeitgleich wusste sie auch, warum ihnen so wenig mitgeteilt worden ist. Einfach, da Coeur es gewusst hatte. Da sie ihnen vertraut hatte. Blinzelnd öffnete Susanne ihre Augen wieder, als sie bemerkte, dass das Leuchten verschwunden war. Nun waren es wieder ihre magischen Lichter, die die Schlucht erhellten. „B-Benni?“, hörte sie Laura verunsichert fragen. Susanne beobachtete, wie Laura sanft über seine Wange strich. Das Blut und die ganzen Verletzungen waren vollständig verschwunden. Beinahe, als wäre nichts gewesen, als würde er nur tief und fest schlafen. Vorsichtig suchte Susanne an seinem Handgelenkt nach einem Lebenszeichen… und atmete erleichtert auf. „Ihm geht es gut.“ „W-wirklich?“ Laura versuchte das Schluchzen hinter der Hand zu verbergen, als Susanne ihre Frage mit einem Lächeln beantwortete. Es war regelrecht sichtbar, wie ihnen allen ein Stein vom Herzen fiel. Lachend und weinend zugleich drückte Laura Benni an sich. Auch wenn er nach wie vor noch nicht bei Bewusstsein war, die Gewissheit, dass er überlebt hatte, gab ihnen eine ungeahnte Kraft. Die Hoffnung, dass er bald wieder aufwachen würde. Während sich Susanne noch lachend eine Träne aus dem Auge wischte, konnte sie aus den Augenwinkeln beobachten, wie sich Ariane aufrichtete und zum Ring des innersten Kreises ging. „Wie geht es ihm?“, hörte Susanne sie Eagle und Konrad angespannt fragen. „Den Umständen entsprechend gut, die größte Sorge war der Blutverlust gewesen.“, erklärte der Vampir, was Ariane hörbar aufatmen ließ. „Und durch Coeur dürfte auch die Zerstörungs-Energie keine allzu ernsten Folgen hinterlassen. Zumindest hoffe ich das.“ „… Du hoffst?“ Er seufzte. „Es ist schwer einzuschätzen momentan. Aber wie Coeur schon sagte, wir sollten auf die Zeit vertrauen.“ Es war nicht zu übersehen, dass diese Aussage Ariane wenig zufrieden stellte. Und es war noch weniger zu überhören, als sie mit angespannter Stimme meinte: „Also sind er und Benni doch noch nicht ganz über den Damm…“ Florian verschränkte die Arme vor der Brust. „Was hatte Coeur eigentlich damit gemeint, dass er zu sich zurückkehren muss?“ „Ich bin mir ziemlich sicher, dass es mit dem Ritual zu tun hat.“ Bei Konrads verbissenem Ton spannte sich Susanne direkt an. „Wie meinst du das?“ „Etwa, weil Benni es nicht mehr aus dem Zentrum geschafft hat?“, vermutete Lissi. Der Vampir knirschte mit den Zähnen. „Genau kann ich das nicht sagen, aber…“ Sein Blick fiel auf Carsten. „Er hat den Spruch versprochen.“, erklärte Kito, erntete dafür einiges an Verwirrung. „Er hat was?!“ Energisch schüttelte Laura den Kopf, klammerte sich umso stärker an Benni. „Das ist unmöglich, Carsten vergisst nie etwas! Und erst recht nicht den Spruch für dieses Ritual, an dem er schon ewig gearbeitet hatte!“ „Nicht vergessen, versprochen.“ „Er hat ihn abgeändert.“, erklärte Konrad, bevor es zu noch mehr Irritationen kommen konnte. „Ich habe nicht alles raushören können, aber am Ende war es definitiv nicht mehr der Zauber, den er ursprünglich verfasst hatte.“ „Das klingt nicht so, als wäre das gut.“, bemerkte Jannik. „Ganz und gar nicht.“ Konrad biss die Zähne zusammen, warf einen kurzen Blick auf Carsten ehe er sich aufrichtete und in die Runde schaute. Er atmete noch einmal tief durch, als müsse er sich mental darauf vorbereiten, was er ihnen gleich mitteilen würde. „Bei Ritualen, also insbesondere bei der Schwarzmagie, ist es strengstens verboten, einen Zauberspruch zu improvisieren. Genau das, was Carsten am Ende gemacht hat.“ Susanne schluckte schwer, als sie verstand. Ebenso die anderen Magier, während die Kampfkünstler unter ihnen natürlich kein Verständnis dafür aufbringen konnten. „… Warum ist das denn so schlimm?“, wollte Ariane wissen, wobei sie genau genommen so klang, als wolle sie es eigentlich nicht erfahren. Susanne senkte den Blick, das unwohle Gefühl in ihrem Magen wurde stärker und stärker. „Weil man dadurch extrem viel kaputt machen kann…“ „Bei einem Zauber muss jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden.“, erklärte Florian ausführlicher. „Eine falsche Formulierung und alles kann nach hinten losgehen. Es muss nicht, aber es kann. Und gerade bei Ritualen, also bei langen, ausführlichen Zaubern, besteht diese Gefahr. Da möchte ich mir gar nicht ausmalen, wie es bei der schwarzen Magie erst ist.“ Konrad nickte. „Ich habe schon von einigen Fällen gehört, wo sich die Magier unbeabsichtigt selbst umgebracht hatten, nur weil sie den Zauber ein kleines bisschen abgeändert hatten.“ „Aber warum hat er das dann gemacht?!“, fragte Laura schockiert. „Ist das nicht eindeutig?“ Mit einem traurigen Lächeln schaute Konrad zu ihnen rüber. „Wegen Benni. Der Zauber in seiner ursprünglichen Form hätte ihn gezwungener maßen mit aus dem Reich der Lebenden verbannt. Und Carsten…“ „… Wollte das unter allen Umständen verhindern…“, beendete Janine befangen seinen Satz. „Doch was nun stattdessen geschehen ist, wissen wir nicht.“ Er seufzte. „Und wir werden es auch nur von Carsten selbst erfahren können…“ „Wofür er selbst erst einmal wieder zu sich kommen muss.“, folgerte Florian verbissen. Ein betretenes Schweigen entstand, während sie alle diese Erkenntnis erst einmal verarbeiten mussten. Die Erleichterung war nach wie vor vorhanden, besonders, da sie Mars allem Anschein nach tatsächlich besiegt hatten. Doch für den Freudentaumel und Jubel reichte sie nicht aus. Viel zu viel war geschehen, was ihren Sieg überschattete. Viel zu groß die Opfer, die einige von ihnen gebracht hatten. Viel zu stark die Angst vor der Ungewissheit. „Wir… sollten uns so langsam auf den Rückweg machen. Findet ihr nicht?“, durchbrach Ariane die Stille schließlich. „Immerhin… Carsten und Benni und… Öznur und Anne…“ Einige gaben ihr mit einem Nicken recht, was mehr wie in Trance wirkte als wirklich ernst gemeint. Seufzend richtete sich Jack auf, erschuf mit seinem Portalring den orange-schwarz lodernden Weg zurück in die Oberwelt. Zurück nach Indigo. „Geht schon mal vor, ich hole noch Ria und Tatjana ab.“ Verunsichert spielte Janine mit einer ihrer Strähnen. „Ich… ähm… ich kann dich zu ihnen teleportieren. Dann geht es schneller…“ „Schon gut, du musst dir keine Umstände machen.“ Er winkte ab. „Das sind keine Umstände…“, brachte Janine umso verschüchterter hervor. Susanne konnte sich das Kichern nicht verkneifen, als sie Lissis Blick bemerkte, mit dem sie Jack anschaute und der ganz eindeutig sagte: ‚Jetzt sag doch endlich ja, du begriffsstutziger Depp.‘ Doch Jack warf Janine nur ein schwaches Lächeln zu. „Es ist wirklich okay. Ich wäre ehrlich gesagt ganz froh, ein bisschen Ruhe zu haben.“ Betreten senkte Janine den Kopf und nickte. „Na gut…“ „Du kommst aber auch wirklich nach?“, fragte Lissi, ihr kritischer Ton sorgte direkt für ein Unwohlsein in Susanne. Auch Jack wurde davon etwas aus der Bahn geworfen, schien aber zu verstehen, was sie befürchtete. Kurz warf er einen Blick auf Benni und Carsten, ehe er seufzend die Arme vor der Brust verschränkte. „Jaaa, jaaa, ich komme nach. Und jetzt geht schon.“ Mit leichtem Widerwillen beschloss Lissi, seiner Aussage zu vertrauen und ging zum zweitäußersten Kreis im Nordosten. Hastig folgte Susanne ihr, als sie erkannte, dass Lissi zu Anne wollte. Eagle hatte derweil bereits vorsichtig seinen kleinen Bruder hochgehoben und fragte Ariane gedämpft, ob sie sich um Öznur kümmern könnte. Schaudernd wandte Susanne den Blick wieder ab. Carsten sah ihr immer noch viel zu blass und mager aus und Coeurs Worte hinterließen nach wie vor diesen bitteren Beigeschmack. ‚Viel zu viele Wunden sind über die Zeit entstanden, und nur die Zeit vermag es, diese zu heilen.‘ Konrad war derweil zu Laura und Benni gegangen. Während Susanne beobachtete, wie der Vampir seinen einstigen Schützling mit Lauras Unterstützung Huckepack nahm, konnte sie sich zumindest ein Schmunzeln nicht verkneifen. Und auch Lissis Blick nach zu urteilen, fand sie diesen Anblick extrem niedlich. „Gott, ist der schwer geworden.“, ächzte der Vampir. Florian lachte auf. „Wie alt war er denn, als du ihn das letzte Mal so getragen hast?“ „Keine Ahnung… Zehn?“ Nun konnte auch der Rest nicht mehr an sich halten. Ein leichtes Lachen erfüllte die Schlucht, verlor sich nach oben hin im Nichts. Und doch vermochte es ihnen diesen Funken Hoffnung zu schenken. Dieses Vertrauen, dass alles gut werden würde. Kapitel 111: [Epilog] Rückkehr ------------------------------ Rückkehr       Das war kein Sieg über Mars. Zumindest fühlte es sich nicht so an wie einer. Alles hatte seinen Preis. Natürlich. Und eigentlich würde man sagen, jeder Preis war es wert bezahlt zu werden, um die Zerstörung der Welt zu verhindern. Der Großteil dieser geretteten Welt dachte vermutlich tatsächlich so. Aber diejenigen, die diesen Preis gezahlt hatten... Jack fragte sich, ob die anderen gerade wie Helden empfangen wurden, nachdem das Portal sie zurück an den Rand von Indigos Hauptstadt gebracht hatte. Lachende, jubelnde Gesichter, eine Siegesfeier, vielleicht sogar ein Feuerwerk. Und doch war niemandem von ihnen so wirklich zum Feiern zumute. Einige schafften es noch nicht einmal, erleichtert aufzuatmen. Realisierten gar nicht, dass sie gewonnen hatten. Denn in diesem Moment war ihnen, als hätten sie viel zu viel verloren. Der Preis wirkte viel zu hoch. Ja klar, sie schienen ziemlich glimpflich davon gekommen zu sein, wenn man daran dachte, dass sie dem Herrscher der Zerstörung gegenübergestanden hatten. Dank Coeur hatte sogar niemand dieses Ritual mit seinem Leben bezahlen müssen. Aber… ‚Ich glaube nicht an Happy Ends, sowas gibt es nur in Büchern.‘ Seufzend blickte Jack die Treppenstufen hoch, sah genau genommen nichts als Dunkelheit. Einen Moment lang zog er es in Betracht, die Schlucht durch jenes Loch zu verlassen, durch welches er sie damals betreten hatte. Doch als es soweit war, ging Jack daran vorbei. Folgte weiterhin dem Weg in der Finsternis, lediglich geleitet von seinem Tastsinn. Und unterbewusst angetrieben von der Neugier, wo er wohl landen würde, wenn er diesem Weg bis zum Ende folgte. Nach einer schier endlos erscheinenden Zeit -inzwischen bereute er es, Janines Teleport-Angebot nicht doch angenommen zu haben- bekam er seine Antwort. Es war eine Falltür. Jack schob den Tisch mit seiner Erd-Energie zur Seite, welcher auf dem Boden über ihm stand und die Tür versperrte. Und drückte sie nach oben hin auf. Er betrat ein herrschaftlich hergerichtetes Zimmer, welches mit Gold und anderem Herrschaftsgedöns möbliert und verziert war. Ein Zimmer, welches auch wirklich in ein so gewaltiges Schloss passte, im Gegensatz zu ewig langen, mit Kerzen erhellten Gängen oder bodenlosen Schluchten. Dieser Raum wirkte deutlich schlossiger. Jack wanderte im Zimmer herum, betrachtete das halb geleerte Weinglas, welches auf dem goldenen Tischchen neben dem Kanapee stand. Ohne es zu merken huschte ein schwaches Lächeln über seine Lippen. Ohne es zu wollen drängten sich Erinnerungen in seine Gedanken.   Erinnerungen an einen Jungen, noch keine 15 Jahre alt. Die braunroten Haare waren auf der linken Seite deutlich kürzer als auf der rechten, wo sie ihm leicht zottelig etwas ins Auge fielen. Grasgrüne Augen, die jegliches Leuchten verloren hatten. Jeglicher Funken Leben schien ihnen entzogen worden zu sein. „Valentin, nicht wahr?“ Unwillkürlich wich Valentin bei dieser tiefen, samtenen Stimme zurück. Sie war sehr melodisch, doch zugleich hatte sie etwas Bedrohliches an sich. Etwas Grauenerregendes, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Bist du Mars?“ Valentin konnte nicht wirklich sagen, was dieses ‚du‘ eigentlich war. Es kam aus dem angrenzenden Raum und obwohl die Tür offenstand, konnte er nur rötliche Rauchschwaden erkennen. Ein sengendes Feuer, gleich der Pforte zur Hölle. Doch es war nicht die Hölle. Die hatte Valentin schon gesehen. Von dort war er gekommen. Also was war es dann? Der Angesprochene lachte, es war schauderhaft und wunderschön zugleich. „Nenn mich, wie dir beliebt. Was ist mit dir? Wie soll ich dich nennen? Einfach Valentin?“ „Mir egal.“ „Aber, aber. Wie kann dir das egal sein? Schließlich ist es dein Name.“ Das purpurne Lodern verdichtete sich, der Raum heizte sich unangenehm auf. Valentin bekam Schwierigkeiten Luft zu holen. Er glaubte, an irgendeiner zerstörerischen Atmosphäre zu ersticken. Schließlich kam ein Strahlen aus dem angrenzenden Raum, hüllte den heraustretenden Mann in einen dramatischen Schein. Er war hochgewachsen, seine purpurnen Haare etwas zu dunkel, um rosarot zu sein. Der Körperbau war schlank und wirkte zugleich athletisch. Gekleidet war er ganz normal in weißem Hemd und schwarzer Stoffhose und doch sah es elegant aus. „Ist dir dieses Erscheinungsbild meiner Person recht, Junge?“ „Mir egal.“ Unwillkürlich wich Valentin seinem Blick aus. Weigerte sich, das Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem freundlichen Lächeln zu betrachten. Erneut lachte der Dämon, ging zu dem mit rotem Samt bezogenen Kanapee und setzte sich hin. Valentin nahm eine Handbewegung wahr. Eine Geste, zu ihm rüber zu kommen. Widerwillig leistete er der Aufforderung folge, weiterhin den Blickkontakt meidend. Obwohl diese feingliedrigen, eleganten Finger das genaue Gegenteil von dem waren, was er sonst gewohnt war, erstarrte Valentin, als sie seine Wange berührten. Der Atem blieb in seiner Kehle stecken, der Herzschlag drohte seine Brust zu zersprengen. „Keine Angst, mein Junge. Alles ist gut.“ Trotz der Zärtlichkeit in dieser Stimme vermochte sie es nicht, die Panik zu lindern. Auch als die Hand von seiner Wange abließ und zum Nacken wanderte, war sein Körper wie versteinert von der Anspannung. Und dann, plötzlich, war sie weg. Eine eigenartige Last war verschwunden, die all die Zeit gedroht hatte, ihn zu Boden zu reißen. Überrascht blickte Valentin auf, schaute unwillkürlich in die dämonisch leuchtenden Augen seines Gegenübers, als dieser mit einem zufriedenen Lächeln die Kette hob, welche er ihm soeben abgenommen hatte. „Wenn dir ohnehin alles egal ist, dann lass mich dir doch einfach einen neuen Namen geben.“, schlug Mars vor, wartete gar nicht erst auf sein Nicken. „Hm, mal sehen... Wie wäre es mit... Jack.“   Gedankenverloren betrachtete Jack den Anhänger der Metallkette in seiner linken Hand. Das Zittern seiner Finger nahm er gar nicht erst wahr, das schwache Beben der Erde noch viel weniger. Was war los mit ihm?! Warum verdammt nochmal bekam er keine Luft?! Er wusste es doch! Er wusste, dass Mars ihn die ganze Zeit nur manipuliert hatte! Dass diese Fürsorge und Zuneigung nur aufgesetzt waren. Dass er nur ein Mittel zum Zweck war! Also warum… „Vatermord ist schließlich nichts Neues für dich, oder, mein Lieber?“ Seine Sicht trübte sich. Schwach bemerkte er die salzigen Tropfen, die auf das Metall des Anhängers fielen. Verdammt, warum tat sein Herz so weh?! Er wusste doch, dass- „Du hattest doch immer so Schwierigkeiten, Freunde zu finden. Da habe ich mir Sorgen gemacht.“ Ein Schluchzen entfuhr seiner Kehle. Ihm wurde schwindelig, seine Beine hatten kaum mehr die Kraft, ihn zu halten. „Jack, du weißt, dass du ehrlich mit mir sein kannst. Du gehörst zu den wenigen, nein, du bist gar der Einzige, der hier nicht darauf achten muss, was er sagen sollte. Der frei sprechen kann, was er denkt. Also, was ist?“ Jack hielt dem Schmerz nicht mehr stand. Er sackte auf den Boden, schrie als könne ihn das irgendwie von den ganzen Qualen befreien. Krallte sich schluchzend in den samtenen Stoff, suchte verzweifelt nach Halt. Warum?!   ~*~   Das war kein Sieg über Mars. Zumindest fühlte es sich nicht so an wie sich einer. Damals, als sie Junior-Damonmeisterin in Rhythmischer Sportgymnastik geworden ist. Das war ein Sieg. Die Medaille, lachende und jubelnde Gesichter, eine Siegesfeier, … Es hatte sogar ein Feuerwerk gegeben. Doch hier war niemandem von ihnen so wirklich zum Feiern zumute. Einige schafften es noch nicht einmal, erleichtert aufzuatmen. Realisierten gar nicht, dass sie gewonnen hatten. Denn in diesem Moment war ihnen, als hätten sie viel zu viel verloren. Der Preis wirkte viel zu hoch. Ja klar, sie waren ziemlich glimpflich davongekommen, wenn man daran dachte, dass sie dem Herrscher der Zerstörung gegenübergestanden hatten. Dank Coeur hatte sogar niemand dieses Ritual mit seinem Leben bezahlen müssen. Aber… ‚Lasst euch nicht von den Zweifeln besiegen. Gebt ihnen nicht die Kraft, eure Hoffnung und euer Vertrauen zu zerstören.‘ Seufzend schaute Lissi zurück zum Portal, welches schon längst wieder verschlossen war. Sie ließ ihren Blick weiter über den Fluss wandern, in dessen Wasser sich die Sterne dieser klaren Oktobernacht reflektierten. Versuchte die Reaktionen und bedrückten Gespräche der anderen auszublenden. Diese triste Stimmung. Florian hatte den Rest über ihre Rückkehr informiert. Es verstrichen einige Minuten, doch schließlich kamen die ersten bei ihnen am Stadtrand an. Und das erste was sie hörten, war Sayas Schrei. Ein Ausruf von Schock und Angst. Niemand, noch nicht einmal Sakura oder Eagle hatten ihre Mutter wohl jemals so aufgelöst erlebt wie in diesem Moment Ohne es zu wollen wandte sich Lissi wieder um. Beobachtete wie die Macht der Gefühle Saya überschwemmte, als sie ihren jüngeren Stiefsohn erblickte. Carsten wurde nach wie vor von Eagle im Arm gehalten und war nicht bei Bewusstsein. Sofort rannte sie zu ihm, um unter Tränen irgendwie ein Lebenszeichen feststellen zu können. Berührte sanft seine Wange, tastete nach seinem Puls. Und doch reichte sogar das nicht aus, um sie beruhigen zu können. Selbst diese Gewissheit vermochte es nicht, ihr Schluchzen zu lindern oder die Angst zu verringern. Sie schien es direkt erkannt zu haben. Sie schien zu wissen, dass ihr Sohn diese Nacht beinahe nicht überlebt hätte. Lissi biss sich auf die Unterlippe und wandte den Blick von diesem herzzerreißenden Anblick ab. Beobachtete stattdessen Samira und Jacob. Die beiden schienen einen Moment lang in eine Art Schockstarre gefallen zu sein, als sie erkannten, dass Konrad und Laura bei ihrem Sohn knieten, welcher ebenfalls keinerlei Reaktionen zeigte. Bis sie mit erzwungener Fassung zu ihnen gingen. „Was ist passiert?“, fragte Bennis Vater gedämpft. Versucht beherrscht berichtete Konrad ihnen von den Vorkommnissen. Welche Laura wohl nicht noch einmal durchleben konnte. Nicht jetzt. Nicht so kurz danach. Wie für sie typisch biss sie sich auf die Unterlippe, versuchte irgendwie ihre Gefühle zu beherrschen, als sie sich aufrichtete und einige Schritte von der Gruppe entfernte. Abgefangen wurde sie von drei flauschigen Tieren. Wolf winselte ihr irgendetwas zu. „Er wird schon wieder, nicht wahr? Das ist es doch, was ihr sagen wollt… Dass er wieder aufwachen wird…“, brachte Laura zitternd hervor. Sie sackte auf die Knie, ließ zu, dass Wolf einige ihrer Tränen von der Wange schleckte. Schließlich schlang sie die Arme um seinen breiten Hals und erstickte ihr Schluchzen im weichen Fell. Raven schmiegte sich gegen ihre Oberschenkel, bis sie sich zwischen Laura und Wolf in die Umarmung dazu quetschen konnte. Das kleine, dickliche Eichhörnchen hüpfte derweil zu Benni, stupste gegen seine Nase und kuschelte sich an seine Wange. Doch als die Streicheleinheiten ausblieben, musste auch Chip erkennen, dass es sinnlos war. Dass Benni nicht so einfach die Augen öffnen würde wie gehofft. Traurig legte er die kleinen Öhrchen an. Wenig später kam auch Öznurs Familie dazu, die momentan in einem Hotel hier in Karibera lebte. Und wieder bestand die Begrüßung aus Sorgen und Tränen… „Das kann ja keiner mitansehen…“, murmelte Lissi vor sich hin, nicht wissend, mit wem sie da eigentlich sprach. Eine Antwort kam von Herr Bôss, welcher mit seiner Frau wie aus dem Nichts neben ihr stand. „Wir konnten uns ja denken, dass diese Schlacht nicht ohne Verluste sein wird. Aber es dann erleben zu müssen…“ ‚Lasst euch nicht von den Zweifeln besiegen. Gebt ihnen nicht die Kraft, eure Hoffnung und euer Vertrauen zu zerstören.‘ Verbissen atmete Lissi aus. „Sie werden wieder aufwachen. Sie alle.“ Als ihr Herr Bôss‘ Blick auffiel, ergänzte sie fast schon nebensächlich: „Jack ist übrigens noch los, um Ria und ihre Freundin abzuholen.“ Sie merkte, wie sich die Direktoren bei dieser Information sofort entspannten. Zumindest die beiden sollten die Erleichterung spüren, die dem Rest noch verwehrt wurde. Jedenfalls ein bisschen… „Aber Amarth…“ „Verstehe…“ Herr Bôss biss die Zähne zusammen. Sein Blick wanderte automatisch zu Anne, die ebenfalls bewusstlos auf der Wiese lag, den Kopf in Susannes Schoß gebettet. „Warum haben Sie diese Gruppe überhaupt kontaktiert?“, erkundigte sich Lissi. Herr Bôss lachte schwach auf. „Weil es ein Haufen Sturköpfe ist, der unter allen Umständen helfen wollte.“ Auch Frau Bôss entlockte dieser Kommentar ein verstohlenes Lächeln. Immerhin etwas belustigt wandte sich Lissi wieder dem See zu und setzte sich in die Wiese. Sie vermied es weiterhin, diesen Pulk bestehend aus Sorge und verzweifelten Gedanken zu betrachten. Lieber beobachtete sie die funkelnden Sterne im Wasser. Sie waren still und ruhig, und so weit entfernt. Keine Flut an Gefühlen, keine Horrorszenarien, die einen immer panischer werden ließen und immer schlimmere Befürchtungen erweckten. Keine Zweifel. Sie warteten noch eine ganze Weile. Nach und nach kamen auch die anderen an. Die Regionsvertreter, welchen Florian direkt alles berichtete, sodass dem Rest all die unangenehmen Fragen erspart blieben. Rina, die ihrem Verlobten direkt schluchzend um den Hals fiel. Einerseits erleichtert, dass es Konrad gut ging, andererseits überwältigt von der Angst, dass der Junge, den sie einst zum Teil mit großgezogen hatte, nie wieder aufwachen könnte. Zumindest die kleine Risa vermochte es ihnen ein Lächeln zu entlocken, als sie alle mit einem herzlichen „Schön, dass ihr wieder da seid!“ begrüßte. Obwohl das Mädchen von Ituha getragen werden musste, da sie ihre Beine noch eine Weile nicht würde benutzen können, strahlte sie eine solche Lebensfreude und Zuversicht aus, dass diese sogar etwas auf ihre Gruppe überging. Als sie jedoch erfahren musste, dass Jack -den sie konsequent Valentin nannte- noch nicht wieder da war, trübte sich auch ihr Blick etwas vor Enttäuschung. „Denkst du sie weiß es?“, fragte Herr Bôss Lissi gedämpft. Amüsiert betrachtete Lissi das blinde Mädchen, welche sich schon wieder gut gelaunt mit Kito und Johannes unterhielt. So schnell wie sie Jack ins Herz geschlossen hatte, lag die Vermutung nahe, dass sie aus irgendeinem Grund wusste wer er war. „Ich glaube, sie sieht mehr als wir uns vorstellen können.“ Wenig später kamen auch mehrere Sanitäter, die sich um die Verletzten kümmern wollten. Lissi spürte Susis verunsicherten Blick auf sich ruhen, als Anne vorsichtig auf eine Trage gehoben wurde. Natürlich wollte sie auch weiterhin bei ihr bleiben. Aber Lissi alleine lassen wollte sie genauso wenig. Trotz des Stiches in ihrem Herzen grinste Lissi zu ihrer Zwillingsschwester rüber. „Geh ruhig mit, Susi. Ich warte noch auf unsere Trantüte.“ Susanne lächelte kurz, erleichtert, und folgte schließlich den Sanitätern zum Krankenwagen. Und so trennte sich ihre Gruppe. Viele fuhren mit ins Krankenhaus. Nahezu alle. Nur ganz wenige blieben zurück, vier an der Zahl. Und warteten darauf, dass sich das Portal erneut öffnen würde. Lissi zog die Beine an, schaute weiterhin ins dunkle Wasser. Es war kalt und allmählich begann sie zu frieren. Sie trug nur leichte Kleidung, in welcher sie sich gut bewegen konnte. Das und der Schweiß vom Kampf gegen Mars war alles andere als hilfreich, wenn man in einer Oktobernacht am See saß… und wartete. Auf einmal spürte sie eine plötzliche Wärme in ihr hochkommen. Verwirrt schaute Lissi auf, in Janines himmelblaue Augen. „Denkst du… er wird zurückkommen?“, fragte sie schwach und setzte sich neben Lissi ins Gras. „Warum hast du ihn alleine gehen lassen, wenn du dir so unsicher bist?“ „Weil er darum gebeten hat.“ Bedrückt senkte sie den Blick. „Ich weiß, dass wir ihm vertrauen sollten. Aber… Ich mache mir trotzdem Sorgen.“ Und das nicht unbegründet… Mit einem melodramatischen Seufzen legte sich Lissi rücklings in die Wiese, betrachtete zum ersten Mal die Sterne selbst und nicht nur deren Reflexion. Sie waren so weit weg, so unerreichbar. „Du hast ihn gesehen, Lissi…“, redete Ninie weiter, ihre Stimme zitterte vor Angst. „Du hast gesehen, wie stark Mars‘ Einfluss nach wie vor ist. Und jetzt…“ „Janine… Was willst du von mir hören? Dass es ihm gut geht? Nein, natürlich nicht. Es geht ihm absolut scheiße.“ Lissi biss die Zähne zusammen, spürte ein ungemütliches Brennen in den Augen. Sein trauriges Lächeln, der Schmerz in diesen hübschen grünen Augen… „Ihm wurde eben einfach mal die Lebensgrundlage unter den Füßen weggerissen. Er hat sich für uns gegen denjenigen gestellt, der ihn all die Zeit menschlicher behandelt hat als der Großteil der Menschheit, der er bisher begegnet ist. So widerwärtig Mars auch war, für Jack war dort sein Zuhause. Er war seine Familie.“ Ihre Worte waren schroffer und direkter als beabsichtigt, was Janines sensiblem Herzen einen schmerzhaften Stich versetzte. Lissi brauchte gar nicht hinzusehen, um zu wissen, dass sie die Tränen nur mit Mühe zurückhalten konnte. Aber anlügen wollte Lissi sie genauso wenig. Sie wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen, die ohnehin enttäuscht würden. Ein plötzliches, aber inzwischen seltsam vertrautes Rauschen, richtete die Aufmerksamkeit aller Hinterbliebenen auf eben jene Stelle, an welcher das Portal vorhin verschwunden war. Und tatsächlich, ein orange-schwarzer Strudel entstand, aus dem erst Ria und dann Tatjana hindurchtraten. Die beiden wurden direkt von den Direktoren mit einem warmen und doch auch verunsicherten Lächeln begrüßt. Vielleicht war es ihnen sogar unangenehm, als wüssten sie nicht, wie viel Nähe ihre Tochter akzeptieren würde. Wie sehr sie die Erleichterung zeigen durften, dass es ihr gut ging. Erwartungsvoll setzte sich Lissi auf und auch Janines Anspannung wuchs, während die Blicke beider fest auf das Portal zur Unterwelt gerichtet waren. Eigentlich waren es nur wenige Sekunden, doch beiden kam diese Zeit wie mehrere Minuten vor. Erleichtert lachte Lissi auf und sprang auf die Beine, als auch Jack endlich durch das Portal kam. Erst jetzt realisierte sie, wie angespannt sie eigentlich gewesen ist. Erst als sie ihm schwungvoll und mit Freudentränen um den Hals fiel merkte sie, wie viele Sorgen sie sich insgeheim doch gemacht hatte. „Hey Vorsicht, sonst fällt die Hand schon wieder runter.“, kommentierte Jack trocken, erntete dafür verwirrte Blicke seitens der anderen. „Das klingt leicht makaber.“, witzelte Tatjana, während Lissi von ihm abließ und Jack damit die Möglichkeit gab, die Indigoner-Tussi die er trug aufs Gras zu legen -ja, da lag eine abgetrennte Hand auf ihr- und das Portal wieder zu verschließen. „Gehört sie nicht zum Feind?“, vergewisserte sich Frau Bôss kritisch. „Ist es da eine gute Idee, sie mit hierher zu bringen?“ „Och ne, nicht schon wieder diese Geschichte.“, kommentierte Jack, mit deutlicher Anspielung auf die Diskussion, die wegen ihm erst wenige Tage zuvor die Lager gespalten hatte. „Sie hat Carsten in einem eigenartigen Ritual fast das ganze Augenlicht genommen und ihm dafür komische Kräfte gegeben.“, erklärte Lissi ausweichend. „Also hoffen wir jetzt durch sie einen Weg zu finden, um das wieder rückgängig zu machen.“ „Falls er überhaupt jemals wieder zu sich kommt…“ „Och Ninie, du klingst ja schon so wie Laura!“, empörte sich Lissi. Sie hatte selbst schon alle Mühe, optimistisch zu bleiben. Da musste der Rest es mit seinen erdrückenden Sorgen nicht noch schlimmer machen! Wieso konnten sie nicht einfach daran glauben, dass alles gut werden würde?! Janine ballte die zitternden Hände zu Fäusten. „Du hast Coeur doch auch gehört! Sie hat selbst gesagt, wie kritisch es nach wie vor um beide steht, obwohl sie sie so gut wie möglich geheilt hat!“ „Sie hat auch gesagt, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben sollen!“ „Und vermutlich auch, dass derjenige recht hat, der am lautesten schreit.“, mischte sich Ria leicht genervt ein. „Seid ihr endlich fertig? Dann könnten wir uns nämlich Gedanken darüber machen, wie’s nun weitergehen soll.“ Tatjana nickte. „Das stimmt, die Unterweltler werden sich wohl kaum in Luft aufgelöst haben, nur weil Mars nun besiegt ist.“ „Und in Mur wird sich die angespannte Lage vermutlich drastisch entladen, wenn ans Licht kommt, dass die Schlüsselfigur für die Macht des Diktators nicht mehr da ist.“, ergänzte der Direktor. Frau Bôss nickte. „Auf Terras korrupte Regierung sollte auch weiterhin ein wachsames Auge geworfen werden.“ Jack verzog demonstrativ verstimmt das Gesicht. „Noch mehr Krisensitzungen? Ich hatte gehofft, zumindest das wär endlich vorbei…“ Frau Bôss warf ihm ihren strengen Direktorinnen-Blick zu. „Gerade jetzt können wir hoffen, dass die Dämonenverbundenen ihren Wert für Damon unter Beweis stellen können. Endlich besteht die Möglichkeit, dass der Menschheit die Augen geöffnet werden.“ Jack lachte auf, als habe sie ihm eben einen Witz erzählt. Es war eindeutig, wie diese Hoffnung ihn nicht einmal annähernd erreichte. Doch bevor es in einer Diskussion enden konnte, schritt Herr Bôss schlichtend dazwischen. „Das besprechen wir lieber ein anderes Mal in aller Ruhe. Um die Unterweltler in Damon müsst ihr euch keine Gedanken machen, darum wird sich die Allianz auch allein kümmern können.“ Tatjana nickte und warf den drei übrigen Dämonenbesitzern ein warmes Lächeln zu. „Ja, das stimmt. Ihr seid sicher müde und solltet euch erst einmal erholen. Immerhin… ihr habt gerade gegen einen Gottesdämon gekämpft und ihn noch dazu besiegt.“ „Da wäre es ziemlich verantwortungslos und undankbar, euch direkt noch mehr zumuten zu wollen.“, gab Ria ihr recht. Dem stimmten auch die Direktoren zu. Ein unangenehmes Schweigen kam auf. Betreten wandte Janine den Blick ab und auch in Lissi wuchs das Unbehagen. Sie war wirklich müde und die Erschöpfung drückte sich immer mehr auf ihre Augenlider. Und auch Ninie wirkte ungewohnt gereizt, was ein deutliches Zeichen war, dass sie den Schlaf und die Erholung dringend brauchte. Eigentlich könnten sie nun einfach ins Hotel gehen, in welchem sie seit dem Angriff auf die Coeur-Academy behelfsweise ihre Zimmer hatten. Aber… Verstohlen schaute Lissi zu Jack rüber, der ihren Blick bemerkte und schließlich meinte: „Dann gute Nacht, oder wie auch immer man das nennen soll.“ „Was… hast du nun vor?“, überwand sich Ninie zu fragen. Jack zuckte mit den Schultern. „Zurückgehen nehme ich an.“ „Wie ‚zurück‘?“, fragte Tatjana argwöhnisch. „Na ja, da ich inzwischen geheilt wurde, sollte mein Krankenhauszimmer wohl besser von denjenigen belegt werden, die es auch wirklich brauchen. Und als gesuchter Mörder in nem Hotel einzuchecken ist wohl absolut hirnrissig.“ Ria legte die Stirn in Falten. „Du willst ernsthaft zurück in dieses Schloss?“ „Bei den ganzen Unterweltler-Leichen?“, ergänzte Tatjana schaudernd. „Wo soll ich denn sonst hin?“ Betrübt versuchte Lissi zu überhören, wie sehr Jack sie mit dieser fast schon nebensächlich klingenden Aussage hatte in seine Seele blicken lassen. Wo sollte er sonst hin? Wo war sein Platz in dieser Welt? Es war so, wie sie bereits Janine gesagt hatte. Er hatte seine Lebensgrundlage verloren. Sein Zuhause, seine Familie. „Du könntest mit zur Coeur-Academy kommen.“, bot Herr Bôss zuvorkommend an. Einen Moment lang stockte Jack tatsächlich. Doch schließlich schüttelte er den Kopf. Beinahe als wäre es ihm unangenehm, das Hilfsangebot des Direktors anzunehmen. Und vielleicht hatte er auch Angst. Angst vor der Hoffnung, die doch nur wieder enttäuscht werden könnte. Auch Janine merkte das. Auch sie wusste, wie etwas in seinem Inneren ihn nach wie vor davon abhielt, sich wirklich als Teil ihrer Gruppe zu sehen. Schließlich fand sie einen Kompromiss, der Jack genug Nähe und Hoffnung versprach, ohne ihn und seine Ängste zu sehr in Bedrängnis zu setzen. Auch, wenn sie diese Idee ziemlich unbeholfen formulierte. „Ähm Jack, da Anne ohnehin im Krankenhaus ist, könntest du doch einfach bei mir im Zimmer übernachten.“ Lissi konnte nicht anders, sie musste bei dieser Aussage einfach lauthals loslachen, die mehr nach Cärstchen als nach Ninie klang. Ebenso Ria, Tatjana und die Direktoren, als sie Jacks irritierten Blick bemerkten. Die heitere Situation direkt ausnutzend, warf Lissi Jack einen Luftkuss zu. „Susi wollte übrigens bei Banani bleiben, also hätte auch ich noch eine Bettseite frei.“ Dieser Kommentar ließ auch Jack auflachen, der ihr ein herausforderndes Lächeln zuwarf. „Und woher nehme ich die Garantie, dass du nachts nicht über mich herfällst?“ „Gar nicht.“, antwortete Lissi lachend und erleichtert, dass sich die Stimmung dadurch tatsächlich etwas auflockerte. Und tatsächlich konnten sie Jack überzeugen, in Janines und Annes Hotelzimmer zu übernachten, während Ninie die freie Bettseite bei Lissi bekam. Es war nicht zu übersehen gewesen, wie erleichtert gerade Ninie und Herr Bôss waren, dass er sich zumindest darauf eingelassen hatte. So abscheulich Mars auch war, er kannte Jack. Und selbst der Dämon hatte direkt gesehen, dass er rückfällig zu werden drohte. Dass er wieder beginnen könnte sich selbst Schaden zuzufügen. Gerade jetzt, wenn man ihn allein ließ… Gedankenverloren schaute Lissi aus dem Hotelfenster, betrachtete wieder den Sternenhimmel. „Denkst du, er hat heute Nacht wieder Albträume?“, hörte sie Janine vom Bett aus fragen. Lissi seufzte. „Ich frage mich eher, wer diese Nacht keine hat…“   Es war ihrer Gruppe deutlich anzumerken, dass die Luft raus war. Eine seltsame Form der Leere lag über ihnen, ein unbeschreibliches Nichts. Und gleichzeitig kam da noch dieses Gefühl des Ausgelaugt-Seins hinzu. Die Erschöpfung einer unruhigen, schlaflosen Nacht, beherrscht von Ängsten und Erinnerungen, die irgendwie verarbeitet werden mussten und sich doch nicht verarbeiten lassen wollten. Schweigend ließ Lissi ihren Blick über die Runde schweifen, die sich im Café des Krankenhauses versammelt hatte. Sie war so viel kleiner im Vergleich zu der von gestern Abend. Bevor sie sich dem Dämon gestellt hatten. Florian und Konrad waren im Gegensatz zu ihnen auf der Versammlung, Kito und Johannes immer noch bei Ituha. Und selbst von ihrer ursprünglichen Gruppe fehlten vier… Alleine der Gedanke war schon zermürbend. Seufzend schüttelte Lissi den Kopf, versuchte ihn irgendwie zu vertreiben, und nahm neben Susanne am Tisch Platz. Niemand sagte auch nur ein Wort. Es herrschte eine Grabesstille. Lissi gefiel sie überhaupt nicht. „Wie geht’s Anne?“, fragte sie ihr Schwesterherz. Susis Blick wurde noch bedrückter als er ohnehin schon war. „Ihr Körper war von dem Kampf gegen dieses… Monster noch ziemlich geschwächt. Und das sogar obwohl Amarth sie gerettet hatte…“ „Aber sie schafft es doch sicher.“ Lissis Herz zog sich zusammen als sie realisierte, wie sehr Susi gegen die Tränen ankämpfen musste. „… Oder?“ „Ich…“ Zitternd atmete sie ein. „Sie ist außer Gefahr, aber…“ Unwillkürlich griff Lissi nach Susannes Hand, bis sie schließlich schwach schluchzend ergänzte: „Die Ärzte meinten, wenn, dann… dann hat sie es ihren Dämonenkräften zu verdanken, dass sie… überhaupt wieder aufwacht…“ Wie vom Blitz erschlagen saß Lissi da, realisierte gar nicht wie sich ihre Schwester an sie klammerte und leise zu weinen begann. Nur schleppend erkannte sie, wie ernst die Situation nach wie vor war. Beinahe, als habe sie es nicht wahrhaben wollen. Und auch jetzt noch weigerte sie sich das zu akzeptieren, der Tatsache ins Auge zu blicken. Die Befürchtungen zu sehen, die die anderen all die Zeit schon mit sich herumtrugen. Selbst wenn Benni, Carsten, Anne und Öznur die Konfrontation mit Mars überlebt hatten… Ob sie wieder aufwachten, war eine ganz andere Frage. Diese Ungewissheit, ob sie tatsächlich zu ihnen zurückkehren würden. Oder ob sie den Rest ihrer Zeit in diesem Stadium zwischen Leben und Tod verbringen mussten, während alle anderen jeden neu anbrechenden Tag auf ein Wunder hofften. Lissi schüttelte den Kopf, verstärkte ihren Griff um Susannes zitternden Körper. Nein. Nein! Sie durfte nicht so denken! Sie würden es schaffen, jeder von ihnen! Sie alle würden wieder aufwachen, garantiert! Und das ging nur, wenn sie ihnen vertrauten. Sie durften die Hoffnung nicht aufgeben! Und doch war es so schwer, sich daran festzuhalten… Erneut schaute Lissi in die Runde, in diese trüben, leeren Gesichter. Sah, wie jeder sich versuchte an diese Hoffnung zu klammern. Und auch, wie sie jedem aus den Fingern zu gleiten drohte. Sie merkte, wie Eagle die Hände zu Fäusten ballte und mit den Zähnen knirschte. „Verdammt, das ist deine Schuld.“ Irritiert schaute der Rest ihn an, nicht wissend, wen er damit meinte. Lissi schwante es bereits. Ebenso der Angesprochene selbst, der den wütenden Blick des Häuptlings ruhig erwiderte. Offensichtlich dankbar, den ersten Kaffee bereits im Hotel getrunken zu haben. Doch diese Ruhe provozierte Eagle umso mehr. Er sprang auf, seine Stimme fuhr wie ein Sturm über sie alle hinweg als er schrie: „Das ist nur wegen dir! Nur, weil du gezögert hast! Deshalb mussten sie länger und mehr Energie einsetzen als nötig!“ „Denkst du wirklich, diese paar Sekunden sind ausschlaggebend für Öznurs und Annes momentane Verfassung?“, erwiderte Jack, kam mit seinen sachlichen Argumenten jedoch nicht bei Eagle an. „Das sind ein paar Sekunden, die hätten verhindert werden können! Diese ‚paar Sekunden‘ könnten der Grund sein, warum Öznur und Anne nie wieder aufwachen!“ „Eagle!“, schrie Lissi verärgert, spürte wie sich Susannes klammernder Griff verstärkte. „Hast du echt nichts Besseres zu tun, als nach einem potenziellen Schuldigen zu suchen?“, konterte Jack genervt. „Den hab ich schon längst gefunden! Dir macht das Spaß, oder?! Du liebst es, Leid und Zerstörung über alle anderen zu bringen, genauso wie ‚Papa-Mars‘!“ „Eagle, es reicht!“ Verzweifelt schaute Lissi in die Runde, doch niemand schien die Absicht zu haben ihr zu helfen. Niemand hatte mehr die Kraft, jetzt auch noch dazwischen schreiten zu können. Der Herrscher der Zerstörung hatte sie jedem genommen. Mit zusammengebissenen Zähnen stand Jack auf, erwiderte das bernsteinfarbene Glühen mit seinen grünen Augen. „Was willst du damit sagen?“ „Ich denke, das weißt du ganz genau!“ „Hör auf!“, rief sie und doch konnten diese paar Worte nichts bewirken. Sie waren machtlos gegen all den angestauten Zorn und Frust. Geräuschvoll atmete Jack aus. „Jetzt hör mal, du bist frustriert, verzweifelt und müde. Okay. Aber das gibt dir noch lange nicht das Recht das an irgendjemandem auszulassen.“ „Sind ja ganz tolle Worte von jemandem, der deswegen sogar zum Mörder geworden ist!“ Man merkte, wie Jack zu einem Konter ansetzen wollte, doch er hielt sich noch rechtzeitig zurück. „Vergiss es, das wird mir zu blöd.“ „Dann geh doch! Hau einfach ab, genauso wie du es sonst immer tust!“, schrie Eagle, ein eisiger Wind fuhr ihnen durch die Haare. Gleichgültig zuckte Jack mit den Schultern. „Zur Ausnahme mal eine echt gute Idee von dir.“ Lissis Herzschlag setzte aus, als sie realisierte, welche Ausmaße dieser dämliche Streit anzunehmen drohte. „Jack nein, bleib hier!“ Doch dieser beachtete sie nicht. Stattdessen wandte er sich ab, mit der Absicht das Café zu verlassen. Plötzlich hielt er inne. Er hatte ihnen nach wie vor den Rücken zugedreht, doch Lissi bemerkte das Beben seiner Finger, als Jack mit unterkühlter Stimme fragte: „Hatte Mars denn recht? Wollt ihr mich wirklich wieder wegsperren? War ich nur so lange ein Teil eurer lieben, lustigen Gemeinschaft, bis meine Aufgabe erfüllt war?“ „Du bist noch nie ein Teil davon gewesen!!!“ Und in dem Moment hätte Lissi Eagle am aller liebsten eine geknallt. Gebrochenen Herzens beobachtete sie, wie Jack die Hände zu Fäusten ballte und mit unheimlicher Ruhe erwiderte: „Gut zu wissen.“ Er streckte die rechte Hand aus. Der orangene Stein seines Ringes leuchtete kurz auf, ehe mit einem düsteren Rauschen das Portal entstand. Lissi sprang auf, ihre Stimme überschlug sich vor Panik. „Jack, hör nicht auf ihn! Bitte!!! Du weißt, was für ein Arschloch er sein kann!“ „Halt die Fresse!!!“, brüllte ebendieses Arschloch. Ein gewaltiger Windstoß ließ Lissi zurücktaumeln. Wütend funkelte sie ihn an, hielt sich mit aller Kraft zurück zu ihm rüber zu gehen, um ihm ein paar Zähne auszuschlagen. Körperlich war sie ihm deutlich unterlegen. Zu seinem Pech. „Viel zu viele Wunden sind über die Zeit entstanden, und nur die Zeit vermag es, diese zu heilen. Nicht wahr?“ Eagles Ausdruck veränderte sich. Mit einem Schlag verblasste der Ärger, wurde ertränkt in Trauer und Schuldgefühlen. Schulterzuckend stemmte Lissi die Hände in die Hüften. Als würde sie nach alldem so gnädig sein und es dabei belassen. „Wenn du Jack schon diese paar Sekunden Zögern vorwirfst, will ich gar nicht erst wissen was dem Arschloch blüht, das deinem kleinen Bruder 16 Jahre lang so eine geballte Ladung an unbegründetem Hass entgegengeschleudert hat. Was denkst du, wie häufig ist Carsten damals verprügelt worden? Was für Sprüche und Beleidigungen hatte er sich anhören müssen? Und jetzt ist jeder überrascht, wie krankhaft schüchtern und verunsichert er ist?! Natürlich ist sein Selbstbewusstsein zerstört. Natürlich glaubt er, weniger wertvoll als der Rest zu sein. Kein Wunder, dass die schwarze Magie so ein leichtes Spiel mit ihm hat.“ Ach der Arme, da sammelten sich doch tatsächlich Tränen in seinen Augen. Doch trotz der Genugtuung wurde auch Lissi das Herz schwer. Die Angst, dass Carsten nur deshalb nie wieder aufwachen könnte… Bedrückt atmete sie aus, versuchte sich irgendwie zu beruhigen. Ohne nennenswerten Erfolg. „Du und dein Vater. Ihr habt ihm das Leben zur Hölle gemacht. Mehr noch, ihr habt ihn in die Hölle geschickt! Nur, weil ihr mit euren eigenen Gefühlen nicht fertig werden konntet, hat Carsten das zu spüren bekommen!“ Immer mehr Tränen sammelten sich in den Augen des Häuptlings, ausgelöst durch all die Vorstellungen, die sie ihm in den Kopf pflanzte. Eine nach der anderen. Man konnte sehen, wie die Schuldgefühle ihm das Herz zerquetschten, wie die Angst um seinen kleinen Bruder immer mehr die Oberhand gewann. Und die Gewissheit, wer dafür verantwortlich war. Wer die Schuld daran trug, sollte Carsten nie wieder aufwachen. Für den Ärger auf Jack blieb kein Platz mehr übrig. Lissi nutzte den Moment für sich aus, ging zu Jack rüber und packte ihn am Arm. Wie erwartet verspannte sich sein Körper bei der plötzlichen Berührung. Doch so wie er zitterte, hatte er ohnehin keine Kraft sich groß zur Wehr zu setzen. Selbst wenn Jack wusste, dass er Eagles Kommentare nicht ernst nehmen sollte… Verletzen konnten sie ihn trotzdem. Plötzlich lachte Eagle auf. Traurig, verbittert. „Dich möchte man echt nicht zum Feind haben.“ „Siehst du jetzt, was für eine Macht Worte haben können?“, erwiderte Lissi etwas sanfter. Eagle schnaubte. „Und wieder mal bin ich der Böse. Aber wisst ihr was? Von mir aus. Wenn ihr Jack unbedingt als Teil der Gruppe haben wollt, dann gehe halt ich.“ Einen Moment lang blieb Lissi der Atem weg. „Wa- Eagle, nein! So meinte ich das doch gar nicht!“ „Ich weiß ganz genau, wie du’s gemeint hast.“ Eagle ging auf die Tür zu, hielt auf Höhe von Lissi und Jack jedoch kurz inne. Immer noch standen Tränen in seinen Augen, als er meinte: „Um eins klar zu stellen, für mich war die Kooperation mit ihm nichts weiter als ein Mittel zum Zweck. Es musste sein, um Mars zu besiegen. Und Carsten zuliebe hab ich mich so gut es geht zusammengerissen. Verdammt, ich hab ihn sogar in unser Haus gelassen!“ Eagle biss die Zähne zusammen. Es kostete ihn alle Kraft, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Zu verhindern, dass seine Stimme von den Tränen erstickt wurde. „Ich versteh‘, warum du ihn in Schutz nimmst und nicht willst, dass er geht. Und das ist auch gut so, wirklich. Aber… ich kann das nicht.“ Und mit diesen Worten ging er. „Eagle!“ Lissi rief ihm hinterher, doch sie wusste, dass jegliche Mühe vergeben war. Und wieder wollte sie es nicht wahrhaben. „Komm zurück, wir finden schon eine Lösung! Zusammen können wir es schaffen!“ „Lass es doch einfach…“ Überrascht hielt sie inne, sah das trübe Braun in Lauras Augen, als diese schwach ergänzte: „Wenn überhaupt jemand Eagle erreichen kann, dann Öznur oder Carsten. Und gerade…“ Laura biss sich auf die Unterlippe, brachte nicht mehr zustande als ein Kopfschütteln. Das Schluchzen ließ sich kaum unterdrücken. Plötzlich stand auch sie auf, verließ das Café schneller, als der Rest realisieren konnte. Bedrückt atmete Jannik aus, warf ihnen einen entschuldigenden Blick zu ehe er beschloss ihr zu folgen. Wissend, dass auch Laura momentan jeglicher Halt entrissen war. Dass sie jede Stütze brauchte, die sie bekommen konnte. Auch Ariane erhob sich. „Das war echt mies von dir, weißt du das?“ „Ba-…“ Sie erwiderte Lissis Blick, schien selbst kurz davor zu sein ihren Gefühlen zu unterliegen. „Ich dachte eigentlich, du kennst uns. Du könntest uns und all unsere Gefühle durchschauen. Also warum spielst du so damit? Siehst du das nicht? Siehst du nicht, wie wir alle darunter leiden?!“ „Ich- ich möchte doch nur, dass wir zusammenbleiben! Gerade jetzt!“ „Und ich will einfach meine Ruhe!“, schrie Ariane, verlor mit einem Schlag ihre Beherrschung. „Und nicht einem Streit nach dem nächsten zuhören müssen!“ „Nane…“ Lissi wollte ihr widersprechen, doch jegliche Worte blieben in ihrer Kehle stecken. Kopfschüttelnd ging auch Ariane zum Ausgang. „Sorry Lissi, aber… Ich kann nicht mehr. Ich will einfach nur noch heim.“ Lissis Griff um Jacks Arm verspannte sich, ihre Hand begann zu zittern, als ihr Blick auf Susi und Ninie fiel. Die einzigen, die noch übrig waren. Es war Janine deutlich anzusehen, wie unwohl sie sich fühlte. Sie war nun mal eine sehr schüchterne, sensible Seele. Und dieses in die Länge gezogene, bedrückte Schweigen belastete sie mehr als sie es sich anmerken lassen wollte. Es zog sich mehrere Minuten hin, die sich wie Stunden anfühlten. Janine schien nach einer Lösung zu suchen und doch fand sie keine. Eigentlich war es nicht überraschend, dass sie schließlich mit einer schwachen Entschuldigung aufstand und ging. Lissis Blick fiel auf Susi. Doch so wie sie ihren Augen zu entfliehen versuchte, verstand Lissi direkt, was in ihr vor sich ging. „Du willst wieder zu Anne, oder?“ Susi zwang sich zu einem Kopfschütteln. „Ich…“ Traurig lachte Lissi auf. So wie sich ihr Magen verkrampfte war es sogar ganz gut, dass sie nichts gefrühstückt hatte. „Ist schon gut. Ich verstehe, dass du gerade lieber bei ihr sein möchtest.“ „Lissi…“ Susanne schaffte es nicht ihr zu widersprechen. Es war unmöglich für sie, diesen Wunsch zu leugnen. Und somit brachte sie schließlich nur noch ein bedrücktes „Danke…“ zustande, bevor sie ebenfalls das Café verließ. Sie war weg, genauso wie der ganze Rest. Sie alle. Lissi senkte den Blick. Die Umgebung vor ihren Augen verschwamm etwas, als sie Jacks Arm losließ. „Jetzt wäre übrigens die perfekte Gelegenheit, um Ninie zu trösten und ihr näher zu kommen…“ „Janine hat recht… Ich bin wirklich für den Zwiespalt in eurer Gruppe verantwortlich.“, erwiderte Jack tonlos. „So ein Blödsinn!“ Lissi biss die Zähne zusammen, versuchte die Tränen wegzublinzeln, die stattdessen begannen sich ihren Weg nach unten zu bahnen. „Er war das! Es war Mars, der- der…“ Sie konnte es nicht aussprechen. Alleine bei der Vorstellung zog sich Lissis Herz schmerzhaft zusammen. Die Angst, dass nun alles vorbei war. Welchen Preis sie hatten bezahlen müssen. Lissi versuchte sich an Coeurs Worte zu klammern, versuchte irgendwie noch Hoffnung zu haben. Darauf zu vertrauen, dass alles gut werden würde. Aber… Ganz ließ sich das Schluchzen nicht unterdrücken. So sehr sie ihren Körper anspannte, das Zittern bekam sie nicht unter Kontrolle. Sie wappnete sich bereits, dass Jack nun ebenfalls gehen würde. Dass er einfach so durch das Portal ging und nie wieder zurückkam. Und sie wusste, sie würde ihn nicht aufhalten können. Es ging nicht mehr. Sie hatte keine Kraft mehr. Jack stieß ein Seufzen aus, gleichzeitig verschwand das Rauschen des Portals plötzlich. „Komm her.“ Es dauerte einen Moment, bis Lissi die Körperwärme als solche erkannte. Bis sie realisierte, dass dieser starke Griff der einer Umarmung war. Als sie das verstand, hatte sie ihr Gesicht bereits in Jacks Schulter vergraben, hatte den Kampf gegen die Tränen schon längst verloren. Schluchzend klammerte sich an den weichen Stoff von seinem T-Shirt, suchte verzweifelt nach Halt. Versuchte irgendwie den ganzen Schmerz herauszuschreien. Das war kein Sieg über Mars. Zumindest fühlte es sich nicht so an wie einer. Kapitel 112: Wiederaufbau ------------------------- Wiederaufbau       Susanne setzte sich auf die Bettkante, ein bedrücktes Seufzen stahl sich unbemerkt über ihre Lippen als sie Annes schlafendes Gesicht betrachtete. Natürlich war sie noch nicht aufgewacht… Eigentlich dürfte Susanne nicht überrascht sein, doch die enttäuschte Hoffnung fraß sich dennoch in ihr Herz. Es war nun ein Tag vergangen, seit sich ihre Gruppe getrennt hatte. Ein Tag, und doch hatte er sich mehr wie eine Woche, wenn nicht gar wie ein ganzer Monat angefühlt. Diese erdrückende Leere… Irgendetwas fehlte. Susanne konnte es nicht in Worte fassen, doch irgendetwas seit dem Kampf gegen Mars schien nicht mehr da zu sein. Fast so, als habe es der Dämon im Moment seines Verschwindens mit sich gerissen. Ihnen allen weggenommen. Irgendetwas… Wieder seufzte sie bedrückt, als ein zögerliches Klopfen Susanne aufschrecken ließ. Jack lehnte an der geöffneten Tür und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hey, ist Lissi nicht bei dir?“ Automatisch stahl sich ein Lächeln von ihren Lippen. „Nein, sie wollte nach einem Bäcker suchen um Frühstück zu holen und… eigentlich müsstest du doch spüren, dass sie nicht hier ist.“, erinnerte sich Susanne verwirrt an seine Tastsinn-Fähigkeiten. An Jacks leicht schiefem Lächeln erkannte sie jedoch alsbald, dass er die Frage eher formhalber gestellt hatte, um ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Er trat ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich, ehe er sich mit Händen in den Hosentaschen gegen die Wand lehnte. Mit etwas Abstand zum Bett in dem Anne schlief, aber dennoch nah genug, um in Ruhe mit Susanne reden zu können. „Ich hab gehört, dass du so ein bisschen die Pflege für die beiden übernimmst.“, meinte er. Susanne nickte betrübt, griff eher unbewusst nach Annes Hand, während sie einen Blick auf das zweite Bett in diesem Zimmer warf, wo Öznur schlief. „Ich… ich wollte nicht einfach nur warten. Und noch dazu kann das Krankenhaus momentan jede helfende Hand gebrauchen.“ Gedankenverloren nickte Jack. „Zumindest scheint sich die Armee der Allianz gegen die Unterweltler durchgesetzt haben zu können. Waren diese Kaffeekränzchen also doch zu was zu gebrauchen.“ Auch Susanne nickte daraufhin. Tatsächlich war ihre Hilfe beim Kampf gegen den Rest von Mars‘ Armee nicht vonnöten gewesen. Aber dennoch… „Es gibt so viele Verletzte und Tote… Würden sich die Regionen nicht gegenseitig helfen, wären manche der Krankenhäuser maßlos überlastet.“ „Und die Lage erklären zu wollen ist unmöglich, alles wird auf die Unterweltler und Dämonenverbundenen geschoben. Es sind schon Gerüchte im Umlauf, dass sich bereits ein neuer Trupp Dämonenjäger gründet.“ „Aber sie dürfen doch gar nicht-“, entfuhr es Susanne schockiert, ein Schauder der Angst durchfuhr sie. Würde man ihnen selbst jetzt keine Pause gönnen? Würde sich die Geschichte tatsächlich wiederholen?! Nach alldem was sie für die Welt getan und geopfert hatten?! Jack zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, Aufklärung ist unmöglich gerade. Und selbst wenn, Janine und ich sind nach wie vor Freiwild.“ Betreten versuchte Susanne dieses erdrückende Gefühl herunterzuschlucken. Stimmt… Terra und Mur waren kein Teil der Damonischen Allianz, sie hatten das Gesetz nicht unterzeichnet. Zwar war dadurch das Schweigegelübde von Herr Bôss ihnen gegenüber ungültig, weshalb er ihnen von den schrecklichen Vorkommnissen im FESJ hatte erzählen können, aber dafür auch… „Und… was habt ihr jetzt vor?“, fragte sie beklommen. Wieder zuckte Jack mit den Schultern und Susanne wurde den Gedanken nicht los, wie gleichgültig er demgegenüber gestimmt schien. Wie gleichgültig er seinem Leben gegenüber wirkte… Sie schüttelte den Kopf. Nein, sie interpretierte einfach viel zu viel in all das hinein. Diese triste Stimmung, diese erdrückende Atmosphäre… Natürlich wirkte da alles so grau. So… leblos. Wieder seufzte sie und betrachtete Anne. Obwohl sie wusste, dass sich nach wie vor nichts geändert hatte. Und trotzdem hatte Susanne irgendwie schon wieder gehofft, dass sie einfach so aufgewacht wäre… „Lissi hatte das gestern ziemlich mitgenommen…“ Susanne schaute auf. Also hatte Jack tatsächlich wegen ihrer Schwester das Gespräch mit ihr gesucht. Und dem Ausdruck in seinen grünen Augen nach zu urteilen machte er sich mehr Sorgen um sie, als er nach außen hin zeigte. Bedrückt lächelte sie. „Natürlich. Lissi liebt diese Gruppe. Mitanzusehen wie sich plötzlich alle aufteilen, wie alles auseinanderfällt… Für sie muss es sich angefühlt haben, als hätte Mars uns besiegt und nicht umgekehrt.“ Jack hob eine Augenbraue. „Du weißt wie schlimm das für sie ist und trotzdem hast du sie genau dann im Stich gelassen?“ Bei seinem leicht vorwurfsvollen Ton zog sich Susannes Magen etwas zusammen. Obwohl sie wusste, dass sie eigentlich kein schlechtes Gewissen haben sollte… Beschämt wich sie Jacks Blick aus. „Ich… ich habe sie nicht im Stich gelassen.“ „Deine Schwester war mit ihren Kräften am Ende und statt bei ihr zu bleiben und sich um sie zu kümmern bist du lieber wieder zu Anne gegangen, obwohl du genau wusstest, dass sich nichts an ihrer Lage geändert hatte? Und das in einer Situation, wo jeder andere auch schon gegangen ist? Denkst du nicht, dass Lissi genau in dem Moment ihre Schwester von allen am meisten gebraucht hat?“ Die beißende Kälte in seiner Stimme erinnerte Susanne unwillkürlich an Benni, sodass die Worte sie umso härter trafen. „I-ich…“, versuchte sie sich zu erklären, schaffte es jedoch kaum klar zu denken. Susanne atmete tief durch, erleichtert, dass Jack ihr zumindest genug Zeit ließ sich rechtfertigen zu können. Als sie sich weitestgehend gefasst hatte blickte sie auf und musste unwillkürlich lächeln, als sie diese aufrichtige Verärgerung, mehr noch Enttäuschung, über ihr Verhalten sah. Es zeigte ihr nur wie gern Jack Lissi hatte, sodass es ihr plötzlich viel leichter fiel, darauf zu antworten. „Na ja…“ Sie strich sich eine schwarze Strähne aus dem Gesicht und beschloss, etwas weiter auszuholen. „Lissi liebt es, in Gesellschaft anderer zu sein. Und wie gesagt, sie liebt unsere Gruppe über alles. Aber in manchen Situationen… In diesen Momenten, wenn auf einmal alles zu viel ist und einen alle Kräfte verlassen, also genau dann, wenn man seine Liebsten am dringendsten braucht… Da fängt Lissi dann plötzlich an, sie von sich zu stoßen.“ „Sie wird zum einsamen Wolf.“, stellte Jack fest. Bei seiner Andeutung musste Susanne lachen. „Ja, im Prinzip genau das.“ „Und deshalb bist du gegangen?“ „Mehr oder weniger… Wenn ich bei ihr geblieben wäre, was hättest du denn dann gemacht?“ „Hä?“ Fragend legte Jack den Kopf schief. Bedrückt lächelte Susanne ihn an. „Wenn ich mich um sie gekümmert hätte, hättest du dann immer noch den Eindruck gehabt, dass sie dich brauchen würde?“ An seinem Blick konnte sie deutlich erkennen, wie auch Jack langsam verstand, weshalb Susanne nicht bei Lissi geblieben war. Weshalb sie ihrer Schwester das Gefühl gegeben hatte, sogar von ihr ‚im Stich gelassen‘ zu werden. Weshalb sie ihr dieses Gefühl hatte geben müssen… Geräuschvoll atmete Jack aus und ließ sich an der Wand entlang auf den Boden gleiten. Fast so, als realisierte er selbst erst jetzt, was der alternative Verlauf der Geschichte hätte sein können… Der alternative Verlauf seiner Geschichte. Mitfühlend betrachtete Susanne seinen getrübten Blick. Wartete schweigend, bis er diese Erkenntnis verarbeitet hatte. Jack fuhr sich durch die längere Seite seiner rotbraunen Haare. „Du hast Lissi also im Glauben lassen, dass sich wirklich jeder von ihr abwendet, damit ich keine andere Wahl habe als mich um sie zu kümmern und dadurch gezwungener Maßen bei euch bleibe.“ Schwach lachte er auf. „Ihr seid wirklich Zwillinge.“ Auch Susanne musste lächeln. „Soll ich das nun als Kompliment auffassen?“ „Bin mir da nicht so sicher.“, erwiderte er leicht spöttisch. „Wenn du selbst Lissi damit hinters Licht geführt hast… macht mir das eher Angst.“ Daraufhin konnten sie beide nicht mehr an sich halten und mussten lauthals loslachen. Susanne war fast schon überwältigt von der angenehmen Wärme, die diese Heiterkeit in ihrem Herzen auslöste. Es wirkte so lange her, dass sie das letzte Mal so ausgelassen hatte lachen können. Es hatte so unerreichbar gewirkt, so unmöglich. Und doch war es da. Und doch schien es nicht verloren. Die Hoffnung war nach wie vor vorhanden. Als sie sich wieder so halbwegs beruhigt hatten, betrachtete Susanne Jack belustigt. „Wie geht es dir eigentlich?“ Ihre Frage brachte ihn wohl etwas aus dem Konzept. „Wie meinst du?“ „Ich möchte einfach nur wissen, wie es dir gerade geht. Wie du dich fühlst, nun, nachdem Mars… nachdem alles vorbei ist.“, konkretisierte sie und überlegte, ob diese Frage ihn tatsächlich nur deshalb verwirrte, da er sie einfach nicht gewöhnt war. Da sie all die Zeit irrelevant war, weil er einfach hatte funktionieren müssen. Wie eine Maschine. Seufzend richtete sich Jack auf und streckte sich, was ein unangenehmes, knacksendes Geräusch bei seinen Schultern auslöste. Eine Antwort bekam Susanne nicht, stattdessen meinte er: „Wow, ich brauche noch nicht mal meinen Tastsinn bei diesen düsteren Wolken um dich herum.“ Noch während seines Kommentares war Lissi ins Zimmer gekommen, die Jack nur kurz bedachte, ehe sie Susanne eine Tüte mit einem belegten Brötchen reichte. Noch bevor Lissi dazu kam sich wieder abzuwenden, vermutlich mit der Absicht abseits an dem kleinen Tisch zu sitzen, nahm Susanne ihre Hand und zog sie trotz des Widerstandes neben sich auf die Bettkante. Diesen ungewohnt trüben Blick an Lissi zu sehen tat ihr in der Seele weh und doch wusste Susanne nicht was sie sonst tun könnte. Sie zwang sich zu einem Lächeln, suchte nach irgendwelchen Worten, die ihre Schwester aufheitern könnten. „Lissi, sie werden schon wieder zurückkommen. Jeder muss das halt erst einmal auf seine Art verarbeiten, muss erstmal wieder zu sich selbst finden.“ Lissi reagierte gar nicht darauf, wirkte fast so als habe sie ihre Aussage noch nicht einmal gehört. Susanne selbst hatte sie bisher nur ein einziges Mal so sehr am Boden zerstört erlebt, so hoffnungslos. Ansonsten hatte sich Lissi immer selbst Mut machen können, hatte die Kraft alles Negative wegzulachen oder ihm mit ihrem Dickkopf kontra zu geben. Entsprechend wusste Susanne nun überhaupt nicht damit umzugehen, war förmlich überfordert von dieser Situation. Und zugleich auch enttäuscht von sich selbst. Schließlich war sie doch Lissis Schwester! Sie warf einen hilfesuchenden Blick zu Jack, hoffte, dass er besser damit umgehen könnte. Immerhin hatte er sich selbst häufig genug aus solch einer Hoffnungslosigkeit herausziehen müssen. Jack erwiderte ihren Blick kurz und schaute anschließend auf einen unbekannten Ort hinter den weißen Wänden des Krankenhauses. Sein verschmitztes Lächeln ließ tatsächlich vermuten, dass ihm eine Idee gekommen war. „So Häuflein Elend, wir gehen jetzt mal etwas spazieren.“ Susanne zwang sich dazu, das Lachen bei seinem Sarkasmus zu verkneifen. Doch auch auf diesen Kommentar reagierte Lissi nicht. Jack ignorierte das ignoriert werden, kam zu ihnen rüber und nahm Lissi ihre eigene Bäckertüte und den Kaffee aus der Hand, um beides an Susanne zu reichen. Dieses Mal war es Susanne unmöglich das Lachen zu unterdrücken, während sie beobachtete wie Jack mithilfe seiner Kampfkünstlerstärke Lissi mit Leichtigkeit hochhob und regelrecht über die Schulter warf. Diese erwiderte darauf nur tonlos: „Lass mich runter.“ „Oh Scheiße. Es steht ja noch schlimmer um dich als befürchtet.“ Obwohl Susanne dieselbe besorgniserregende Erkenntnis überkam, konnte sie sich bei Jacks Kommentar das Lachen schon wieder nicht verkneifen. Dieser erwiderte auf ihren Lachanfall amüsiert: „Ich will mich natürlich nicht zwischen dich und Anne stellen, aber ich glaube, dir dürfte es auch mal ganz gut tun hier rauszukommen.“ Susanne atmete tief durch, nach wie vor zu erheitert um der Sorge ihren vollen Raum lassen zu können. Sie wandte sich an Anne, drückte noch einmal ihre Hand und meinte: „Ich bin bald wieder da.“ Nach einem weiteren prüfenden Blick auf Öznur, deren Lage sich ebenfalls leider nicht gebessert hatte, stand auch sie auf und folgte Jack nach außen. Schon alleine aus dem Grund, da sie neugierig war, ob er Lissi tatsächlich die ganze Zeit über wie einen Mehlsack mit sich tragen würde, selbst auf offener Straße. Die Antwort lautete ja. Einerseits leicht beschämt durch die ganzen verwirrten Blicke der Indigoner, andererseits aber auch durchgängig amüsiert von diesem Anblick, folgte Susanne den beiden und fragte sich, was er nun eigentlich vorhatte. Besonders, als sie den Ort wiedererkannte. „Ihr auch hier? Was ein Zufall.“, grüßte Jack ironisch. „Valentin!!!“, rief die kleine Risa und hob begeistert beide Arme. Auch Kito winkte den Neuankömmlingen zur Begrüßung zu. Ituha, die ihre Tochter auf einem Arm trug, musterte den Anblick der sich ihr bot mindestens genauso belustigt wie Susanne. „Muss ich mir Sorgen machen?“ „Immer doch.“, antwortete Jack, was bedauerlicherweise mehr der Wahrheit entsprach als Susanne lieb war. Die muskulöse Indigonerin mit den Rasterlocken schnaubte amüsiert, war sich selbst dessen bewusst wie wahr diese Aussage doch war. „Was wollt ihr hier?“ „Im Prinzip wissen, wie’s nun weiter gehen soll.“ Überrascht stellte Susanne fest, wie gut man das sowohl auf die Lage um Ituhas Bar als auch auf ihre eigene Situation beziehen konnte. Da steckte ganz eindeutig mehr dahinter. Seufzend betrachtete Ituha die eingestürzten Überreste. Susanne folgte ihrem Blick. Das Haus war völlig in sich zusammengefallen. Das Einzige was intakt schien war die Höhle, die Jack vor zwei Tagen noch erschaffen hatte, um sich und Risa aus den Trümmern zu retten. Das direkte Gebiet im Umkreis der Bar war bis auf den provisorischen Weg der Erd-Energie absolut uneben. Breite Risse taten sich auf, an einigen Stellen traten spitze Erdstacheln hervor, während der Boden an anderen komplett weggebrochen war. Befangen stellte Susanne fest, wie viel Zerstörung an diesem Ort herrschte. Mars hatte Mutter und Tochter nicht nur das Zuhause, sondern gleichzeitig auch die Quelle ihrer finanziellen Einnahmen genommen. Wie sollten sie nun… „Hätte der Dämon nur das Haus selbst zerstört, könnten wir es einfach wieder aufbauen. Aber so…“ Ituha zuckte mit den Schultern. „Gestern hatten sich ein paar Leute vom Fach das mal angeschaut. So hinüber wie der Boden ist wird es Monate dauern, bis wir überhaupt an einen Hausbau denken können. Und das Grundstück zu verkaufen wird dadurch wohl auch nicht sonderlich viel einbringen.“ Betreten senkte Susanne den Blick. „Das tut mir leid…“ Dennoch nahm die Indigonerin die Lage in der sie und ihre Tochter sich befanden gelassen. „Ach, das wird schon wieder.“ „Seh‘ ich auch so.“, gab Jack ihr recht und setzte Lissi endlich auf dem Boden ab. Auf ihren ausdruckslosen Blick hin wuschelte er ihr nur amüsiert durch die Haare. „Komm nicht auf die Idee einfach wegzugehen. Außer natürlich, deine Vorliebe für Fesselspiele kehrt zurück.“ Und wieder musste Susanne daraufhin loslachen. Wie Jack einfach mal das Blatt gewendet hatte und Lissis zweideutigen Witze nun gnadenlos gegen sie richtete! Ituha kannte die Gruppe inzwischen auch gut genug, um sich dem Hintergrund von Jacks Kommentar bewusst zu sein. Während Risa zum Glück noch zu unschuldig war, um die eigentliche Bedeutung dieser Fesselspiele zu verstehen. „Spielt ihr Cowboy und Indigoner?“ „Ähm… genau.“, erwiderte Jack, leicht überfordert. Nun schien die Kleine etwas zu begeistert. „Darf ich mitspielen?!“ „Ääääh…“ Allmählich bekamen Susanne und Ituha Bauchschmerzen vor Lachen und tatsächlich, dieses Mal erheiterte es auch Lissis trübe Stimmung etwas. „Was ist Cowboy und Indigoner?“, fragte Kito neugierig, stets fasziniert von nicht-Dryadischen Kulturen. … Susanne war froh, dass sie nicht nach der Bedeutung von Fesselspielen gefragt hatte… Während Risa ihrer Dryaden-Freundin von dem Spiel erzählte, erkundigte sich Jack: „Apropos, wo steckt eigentlich Quälgeist Nummer Eins?“ „In einem psychologischen Beratungsgespräch.“, antwortete Ituha. Direkt kam Sorge in Susanne auf und auch auf Jacks Blick zeichnete sich ernsthafte Angst um den kleinen ‚Quälgeist‘ ab. Ituha winkte ab. „Alles gut, das dient nur zur Vorsorge. Die Mutter von diesem stillen, rothaarigen Jungen aus eurer Gruppe ist wohl Psychotherapeutin und hat sich angeboten ein paar Mal mit den Kindern zu sprechen. Schließlich haben sie einiges erlebt und mitansehen müssen.“ Jack atmete auf. „Echt nett von ihr.“ „Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass er irgendwelche Traumata davontragen wird, aber sicher ist sicher. Um Sakura mache ich mir da eher Sorgen, oder natürlich die Herrscherin von Dessert.“ Susanne schluckte schwer. Stimmt, gerade Annes Mutter… „So viele Sorgenkinder.“, warf Kito ein und schaute dabei auch jeden von ihnen an. „Das ist wohl dein Lieblingswort geworden, oder Mini-Hulk?“ Daraufhin grinste das Dryaden-Mädchen mit der momentan verzauberten Hautfarbe bloß. „Was hast du jetzt eigentlich vor, Kito?“, fragte Susanne, „Gehst du bald wieder zu deinem Stamm zurück?“ Doch Kito schüttelte den Kopf und nahm Risas Hand. „Nein, ich möchte hierbleiben und viel über Indigoner und Menschen lernen und noch ausdrucksstarker in Indigonisch und Damisch werden!“ Jack lachte auf. „Ausdrucksstark bist du schon genug.“ Fragend legte Kito den Kopf schief. Doch statt ihr die Bedeutung von ausdrucksstark zu erklären, warf Jack einen weiteren Blick auf das zerstörte Grundstück. „Nun gut, dann mal ran an die Arbeit.“ „Wie meinst du?“, fragte Ituha verwirrt. Jack grinste. „Manchmal müssen die Kinder eben auch hinter ihren Eltern aufräumen. Und mein ‚Vater‘ hat für echt viel Unordnung gesorgt.“ Irgendwie war es Susanne unangenehm zu hören, wie Jack Mars als Vater bezeichnete. Doch dieser nahm von ihrem Schaudern keine Notiz. Sie beobachtete, wie er an den Rand zum zerstörten Bereich trat und eine Hand auf die nächste Erdscholle legte. „Mars hatte Erd-Energie verwendet, damit ich mir selbst die Schuld geben konnte. Weil ich es nicht hatte verhindern können und dadurch für Risas Tod verantwortlich gewesen wäre.“ „Das stimmt doch gar nicht, du bist nicht schuld!“, rief die kleine Risa selbst aus. Jack lachte schwach auf. „Aber einen Vorteil hat die ganze Geschichte. Dadurch hat er keine Zerstörungs-Energie benutzen dürfen. Und Erd-Energie…“ Erschrocken taumelte Susanne zurück, als der plötzlich bebende Boden sie ins Schwanken brachte. Das laute Grollen erinnerte sie an vorgestern, an die erdrückend grauen Mauern, die mit einem Schlag in sich zusammenfielen. Automatisch überkam sie dieselbe Angst und Sorge um Jack wie damals, während die orangene Aura um seinen Körper zu lodern begann. Und dann sah sie es. Die Risse begannen sich zu schließen. Die Stellen, wo die Erde hervorstach glätteten sich und die Löcher füllten sich auf. Nach und nach passte sich die gesamte Umgebung an, bis alles auf einer einzigen Ebene war. Bis es so war wie früher, fast so als wäre Mars nie gewesen. Nur noch das zerstörte Haus selbst bezeugte die Geschehnisse vor zwei Tagen. Als das Beben vorüber war entstand ein erstauntes, um nicht zu sagen ehrfurchtsvolles Schweigen. Alle Augen waren auf Jack gerichtet, welcher sich aufrichtete und keuchend den Schweiß von der Stirn wischte. „Sachen kaputt machen ist irgendwie einfacher.“ Er wandte sich zu ihnen um, die Äderchen um seine Augen stachen schwach orange hervor. Jack lächelte leicht belustigt als er die ganzen verwirrten Gesichter sah. „Das Haus selbst ist mir zu kompliziert, aber so könnt ihr zumindest direkt ans Werk.“ Die Indigonerin atmete geräuschvoll aus, ihre Erleichterung war nicht zu überhören. „Danke. Ich schulde dir schon wieder was.“ „Läuft wohl auf nen zweiten Whisky hinaus.“ „Was ist denn passiert?“, fragte das blinde Mädchen irritiert. „Komm Klammeräffchen, schau’s dir selbst an.“, meinte Jack und kam zu Ituha rüber, um ihr Risa abzunehmen. Diese schlang sofort voller Begeisterung die Arme um seinen Hals. Es war nicht zu übersehen, wie sehr die Tatsache Jack nach wie vor überforderte, dass das Mädchen was er hielt seine leibliche Schwester war, von deren Existenz er bis vor zwei Tagen noch nicht einmal etwas gewusst hatte. Entsprechend zurückhaltend und unbeholfen reagierte er auf die Zuneigung, die Risa ihm entgegenbrachte. Und doch war er gleichzeitig versucht sie irgendwie zu erwidern. Jack ging mit Risa einige Schritte auf das Haus zu, bis sie mitten auf dem Gebiet waren, welches vor kurzem noch nicht einmal hatte betreten werden können. Und nun stand er da, problemlos, und kniete sich hin, um das Mädchen vorsichtig auf dem Boden abzusetzen. „Und? Was sagt die Expertin?“, fragte Jack amüsiert, während Risa den erdigen Boden abtastete als würde sie dessen Qualität überprüfen. Schließlich grinste sie ihn an. „Sie haben sehr gute Arbeit geleistet, Herr Baumeister.“ Lachend wuschelte Jack ihr durch die rotbraunen Locken und erleichtert bemerkte Susanne Lissis stummes und doch begeistertes Quietschen. Auch Jack war diese Reaktion nicht entgangen. Belustigt schaute er zu den Zwillingen rüber. „Selbst das sicherste Haus ist nutzlos, wenn der Boden es nicht tragen kann. Nicht wahr?“ Er zuckte mit den Schultern. „Wenn eine gute Grundlage da ist, lässt sich eigentlich alles wieder aufbauen.“ Wieder kam Susanne der Gedanke, wie gut man diese Aussage nicht nur auf die Bar beziehen konnte. Und ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie bei einem Seitenblick auf Lissi sah, dass diese Botschaft auch sie erreicht hatte und ihre Schwester endlich wieder lachen konnte.   ~*~   Seufzend setzte sich Janine an den Rand des Brunnens, betrachtete die weißen Bauten der Coeur-Academy unter dem düsteren, wolkenverhangenen Himmel. Sie waren alle umgeben von Gerüsten und auf den Dächern oder an den Fassaden werkelten die verschiedensten Leute. Die Aufräum- und Reparaturarbeiten waren nach wie vor in vollem Gange. Janine war hierher zurückgekehrt, um mit ihrer Magie ebenfalls zu helfen. Doch irgendwie… Es waren nun zwei Tage vergangen, seit sich ihre Gruppe getrennt hatte. Etwas gehört hatte sie seitdem von niemandem. Gemeldet hatte sie sich selbst wiederum auch nicht… Sie wollte. Aber… Bedrückt versuchte Janine die Erinnerungen zu vertreiben, hoffte irgendwie den Schmerz ignorieren zu können. Erfolglos. Sie biss sich auf die Unterlippe, konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Obwohl nun schon zwei Tage vergangen waren, obwohl sie schon so häufig deshalb geweint hatte… Es tat weh, ihr Herz tat immer wieder so unsagbar weh. Fast so als wäre da eine Hand und drückte zu. Zerquetschte es. Zerquetschte sie. Immer wieder. Janine krümmte sich. Ihr war kalt, sie fror am ganzen Körper. Und doch lag es nicht daran, dass sie außen auf dem Brunnenrand saß. Es war nicht der Herbstwind, der sich auf ihren nassen Wangen umso eisiger anfühlte. Nein, es war- Kaum drohte der Gedanke in ihrem Kopf erneut Form anzunehmen, wurde Janine von einer weiteren Welle an Schmerzen überschwemmt. Heftiger, schlimmer. Sie verstärkte den Griff um ihre Arme, verlor endgültig die Macht über sich selbst. Über ihre Gefühle. Janine schluchzte auf. Sie hatte es nicht geschafft. Sie hatte verloren. Auch, wenn Mars nicht mehr da war… Er hatte sie besiegt. Sie alle. „… Janine?“ Erschrocken schaute Janine auf und hielt die Luft an, als sie in Tatjanas himmelblaue Augen sah, in denen ein mitfühlender, besorgter Blick lag. Hastig wischte sie sich über die Wangen, neben dem Schmerz in ihrem Herzen kam ein unwohles Schamgefühl hinzu. Ein Frust, der immer stärker wurde, je mehr sie realisierte, dass sie die Tränen einfach nicht unter Kontrolle bekam. Eher das Gegenteil war der Fall. Vorsichtig setzte sich Tatjana neben sie und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Ich dachte, ihr seid alle noch in Indigo. Ist was passiert?“ „I-ich­… es…“, stammelte Janine, nicht in der Lage in Worte zu fassen, was ihr Herz mehr und mehr zerfraß. Tatjanas sanftem Lächeln nach zu urteilen brauchte sie es auch gar nicht. Sie schien es bereits zu verstehen. „Es ist schwer, nicht wahr? Einfach weiter machen zu wollen wie bisher, nachdem… Nach so etwas.“ Befangen nickte Janine, versuchte sich weiterhin irgendwie zusammenzureißen. „Willst du darüber reden?“, erkundigte sich Tatjana vorsichtig. Es klang nicht drängend, schon gar nicht neugierig. Sie streckte ihr einfach nur die Hand entgegen. Ein Angebot, ihr wieder auf die Beine zu helfen. „Es…“ Immer noch wusste Janine nicht, wie sie all das in Worte fassen sollte. Es war so viel, viel zu viel. „… Ich habe Angst…“, brachte sie schließlich zitternd hervor. Dieser eine Ausdruck wirkte viel zu unpassend, schien all dem nicht gerecht werden zu können. „Wovor?“ „D-das… das nun… alles vorbei ist.“ Alleine es aussprechen zu müssen trieb Janine erneut die Tränen in die Augen. „Öznur, Anne und… und Benni und Carsten… Ich habe Angst, dass sie nie wieder aufwachen. Und dass Jack- Na ja… Es… Alles, was passiert ist.“ Fröstelnd rieb sie sich die Oberarme und spürte, wie Tatjana sie sanft in die Arme nahm und etwas mehr an sich zog. Im ersten Moment war Janine diese Nähe unangenehm. Schließlich kannte sie diese Frau doch gar nicht. Aber als sie begann diese angenehme Wärme zu spüren, die von Tatjanas Körper ausging, schwand die Scham allmählich. Es war warm… Gemütlich… Zögernd lehnte sich Janine etwas mehr gegen Tatjana und fragte: „Kennst du das? Wenn man glauben müsste jetzt sollte alles wieder gut werden aber… es nicht glauben kann?“ Sie spürte, wie Tatjana schwach nickte. „Eigentlich sollte man sich befreit fühlen. Erleichtert, dass es endlich vorbei ist. Doch aus irgendeinem Grund kann man es nicht. Fast so, als fehlt etwas. Etwas von einem selbst.“ Janine war überrascht, wie treffend Tatjana ihre Gefühle hatte in Worte fassen können. Obwohl sie sogar zu wissen meinte, warum das so war. „W-was… was war es bei dir gewesen?“ Janine realisierte nicht, dass sie diese Frage laut ausgesprochen hatte. Erst, als sie Tatjana schwach auflachen hörte, eher traurig statt froh. Zeitgleich verstärkte sie ihren Griff etwas. „Ich glaube, das weißt du schon längst…“ Zitternd atmete Janine ein, mit einem Schlag verspannte sich ihr gesamter Körper. Sie konnte das Durcheinander in ihrem Herzen nicht wirklich beschreiben. Und noch weniger das Chaos in ihrem Kopf. Da war alles. Von der lähmenden Angst und Sorge über Verwirrung und Unglauben bis hin zu… War das Erleichterung? Hoffnung? Irgendein schwaches, angenehmes Gefühl, was Janine nicht wirklich einordnen konnte. Was sich kaum durchzusetzen vermochte, gegen diese negative Übermacht. „Warum hast du… es mir nicht gesagt?“, fragte sie verunsichert. „Als… Warum…“ Bedrückt seufzte Tatjana und fuhr ihr mit der Hand über den Rücken. „Ich wollte, aber… Es war schwer in Worte zu fassen. Oder nein… Es war schwer es auszusprechen. Einfach so, als wäre nichts gewesen…“ „Aber du hast doch sogar gesagt, dass… dass wir euch gar nicht erst fragen sollen. Dass ihr… nicht darüber reden wollt, wer ihr wart.“ Mit einem Schlag fühlte sich diese Nähe unangenehm an. Janine wand sich aus der Umarmung. Sie wollte diesen Trost gar nicht! Und direkt kam das erdrückende Gefühl zurück. Direkt drohte wieder ihr Herz zu zersplittern, kamen ihr wieder die Tränen, als sie ihrer großen Schwester in die Augen schaute und verzweifelt schrie: „Warum bist du überhaupt zurückgekommen, wenn du mit deiner Vergangenheit gar nichts mehr zu tun haben willst?!?“ „Weil das nicht der Fall ist.“, widersprach Tatjana ihr bestimmt. „Ich hatte das wegen Amarth gesagt. Er… Es war wirklich schwer für ihn. Er wollte unbedingt helfen, koste es was es wolle.“ Sie merkte, wie Tatjana bei diesen Worten selbst gegen die Tränen kämpfen musste. „Aber… Diese Erinnerungen, dieses… Diese Angst! Er hatte so eine Angst davor, wie ihr reagieren würdet, wenn ihr erfahrt wer er ist. Wie Anne reagieren würde! Und Ria redet auch nicht gerne über sich und ihre Familie. Deswegen… wollte ich den beiden einfach diese unangenehme Situation ersparen.“ Betreten wandte Janine den Blick ab. Sie konnte verstehen, warum Tatjana die beiden in Schutz nehmen wollte. Aber… „Du hättest doch trotzdem…“ „Ich wollte. Aber bisher hatte sich einfach nicht die Gelegenheit dazu ergeben.“ Sie spürte, wie Tatjana ihr sanft mit dem Daumen über die Wange strich. „Bisher hatte ich nicht den Mut dazu aufbringen können.“ „Du kämpfst regelmäßig gegen Monster, die dich mit einem Kratzer töten könnten, und bei sowas fehlt dir der Mut?“, konterte Janine schwach, fast so als wollte sie aus Prinzip kein Verständnis dafür aufbringen. Bedrückt lachte Tatjana. „Natürlich. Wie diese Monster sich fühlen ist mir egal. Aber wie du reagieren würdest, was du denken und sagen könntest…“ Ein unwohles Gefühl kam in ihr hoch. Unruhig spielte sie mit dem Ärmel ihres Pullis, wurde den Gedanken nicht los, dass sie nun genau so reagierte wie Tatjana insgeheim befürchtet hatte. Mit Abweisung, mit Vorwürfen… Obwohl sie sich doch eigentlich freuen sollte. Obwohl sie erleichtert sein sollte! Dankbar, dass ihre große Schwester am Leben war! Janine senkte den Blick, wurde mehr und mehr vom schlechten Gewissen übermannt. „… Tut mir leid…“ Sie merkte, wie Tatjana den Kopf schüttelte. „Mir tut es leid, meine Kleine.“ Sanft nahm sie Janine in die Arme, traf nicht auf den kleinsten Hauch einer Gegenwehr. Schwach begann Janine zu schluchzen, vergrub ihr Gesicht in Tatjanas Schulter, klammerte sich an ihrem schwarzen Oberteil fest. Doch obwohl ihre Finger zitterten, war ihr nicht kalt. Sie spürte, wie Tatjana erneut über ihren Rücken strich und den Kopf gegen Janines lehnte, während sie ihre Worte leise wiederholte. „Mir tut es leid…“ Es verstrich einige Zeit, in welcher es Tatjana gelang Janine weitgehend zu beruhigen. Bis eine Stimme sie aufblicken ließ. „Janine?“ Es war eine relativ tiefe Stimme, die sie auch hätte erkennen können, ohne zu sehen wie Herr Bôss gemeinsam mit seiner Frau auf sie zukam. „Ist alles in Ordnung?“, erkundigte er sich besorgt und setzte sich neben sie auf die andere Seite des Brunnenrandes. Wieder fiel es Janine schwer, diese Frage zu beantworten. Wieder breitete sich ein erdrückendes Gefühl in ihrer Brust aus. Sanft verstärkte Tatjana ihren Griff etwas und nahm die Antwort auf sich. „Es ist gerade einfach alles zu viel.“ „Wohl kaum verwunderlich. An einem einzigen Tag haben sie einer Schlacht beigewohnt, sich allen möglichen Kreaturen in der Unterwelt stellen müssen und obendrein einen Gottesdämon bekämpft.“, kommentierte eine weitere anwesende Person. Überrascht stellte Janine fest, dass Ria mehrere Meter entfernt mit vor der Brust verschränkten Armen an einem Laternenmast lehnte. Fast schon so, als stünde sie bereits die ganze- Das Blut schoss in ihren Kopf, als sie realisierte, dass Ria vermutlich nur so weit entfernt stand, um ihr und Tatjana genug Freiraum geben zu können. Irgendwie war es Janine unangenehm, diese Erkenntnis vor den Augen einer so starken Kämpferin geweint zu haben. Und noch unangenehmer, als Ria ihren Blick erwiderte und die vollen Lippen zu einem sanften Lächeln formte, das jedermanns Herz zu erwärmen vermochte. „Selbst für jemanden mit Kriegserfahrung wäre das kein einfacher Tag. Wie soll es da erst für eine Gruppe Teenager aussehen?“ Tatjana kicherte. „Du bist selbst noch ein Teenager, Schatz.“ Als Ria daraufhin die Augen verdrehte, musste auch Janine schwach lachen. Ebenso Herr Bôss, welcher ihr schließlich sachte auf ihre Schulter klopfte. „Wie wäre es, wenn wir erst einmal reingehen? Du frierst doch garantiert.“ Zögernd nickte Janine, stand allerdings nur auf, da sie von Tatjana auf die Beine gezogen wurde. Schweigend betrachtete sie den asphaltierten Boden vor ihren Füßen, während sie den Direktoren folgte, unter einem der Gerüste durch hinein in das Gebäude, wo sich die Büros befanden. Bei dem Blick in den Gang rechts, welcher in den Krankensaal führte, wurde ihr Herz direkt wieder von dieser unsichtbaren Macht zerquetscht. Sie verband diesen Ort einfach viel zu stark mit… „Wie sieht’s beim Rest aus?“, unterbrach Ria ihre erdrückenden Gedanken. Herr Bôss seufzte. „Aus dem Krankenhaus gab es bisher leider keine Neuigkeiten. Wobei, so ganz stimmt das nicht. Ich habe gestern Abend mit Valentin geredet und-“ „Jack ist noch da?!“, rief Janine plötzlich überrascht aus und unterbrach die Erzählung des Direktors dadurch. Kaum hatte sie Jacks früheren Namen auch nur gehört, war mit einem Schlag dieses erdrückende Gefühl von ihr abgefallen, wurde ersetzt von einer ungeahnten Leichtigkeit. Dann erst bemerkte Janine, dass jeder sie anschaute. Mit geröteten Wangen fiel ihr Blick sofort wieder auf die goldfarbenen Treppenstufen, während Tatjana deutliche Mühe hatte, das Kichern zu unterdrücken. Auch Herr Bôss‘ Schmunzeln war nicht zu überhören, dennoch klang er auch leicht bedrückt als er meinte: „Ich habe von dem Streit in eurer Gruppe gehört. Aber ja, er ist noch da. Susanne scheint die Pflege für Öznur und Anne übernommen zu haben, um die eigentlichen Ärzte etwas zu entlasten. Valentin hatte sich daraufhin als Pfleger für Benni und Carsten angeboten.“ „Das ist echt lieb von den beiden!“, stellte Tatjana erfreut fest. Der Direktor lachte auf. „Definitiv. Saya war sogar so begeistert davon, dass sie für die beiden direkt einen Vertrag für einen Minijob aufgesetzt hat, damit ihre Mühen zumindest ein bisschen entlohnt werden.“ „Das ist wirklich zuvorkommend von ihr.“, meinte Frau Bôss. „Schon, wobei Valentin das wohl auch ziemlich gelegen kam.“ Überrascht schaute Janine ihn an, während sie in das Direktorat trat. „Wie meinen Sie das?“ „Na ja, da er nun gezwungener Maßen nicht mehr für Mars arbeitet, fehlen ihm die Einnahmen.“ Auch Ria schien von dieser Aussage verwirrt. „Einnahmen?“ Seufzend setzte sich Herr Bôss auf den Stuhl seines Schreibtisches und fuhr sich durch die längeren rosaroten Haare. „Im Prinzip war Valentin bei Mars als Auftragskiller angestellt und wurde entsprechend entlohnt, wie als würde er einer ganz gewöhnlichen Arbeit nachgehen.“ Der Direktor lachte auf. „Er hatte sogar ganz normal Steuern gezahlt, wobei die in der Unterwelt wohl generell ziemlich niedrig sind.“ Ria hob eine Augenbraue. „Woher kommt ein Dämon an Geld, dass er damit sogar Angestellte bezahlen kann?“ „Ach, ich kann mir schon vorstellen, dass er sehr viel Einfluss hatte und dadurch auch an sehr viel Geld gekommen ist. Aber das solltest du eher Valentin selbst fragen.“, antwortete er. Geräuschvoll atmete Ria aus. „Ich will gar nicht erst wissen, was Mars sonst noch so getrieben hat.“ Tatjana kicherte. „Stimmt, vielleicht hat der Dämon ja auch eine gemeinnützige Organisation für ausgesetzte Baby-Alpakas gegründet, wer weiß.“ Rias Blick ließ nur schwer deuten, was sie von dem Witz ihrer Freundin hielt. Herr Bôss‘ Humor schien er jedoch getroffen zu haben. „Damit hat er zumindest ein ernstzunehmendes Nischenthema entdeckt. Wir sollten unbedingt Valentin darauf ansprechen.“ Während sich Janine noch fragte, worauf das hier eigentlich hinauslaufen sollte, beschloss Frau Bôss wohl, dass genug herumgealbert worden ist. „Ich würde vorschlagen, dass wir nun endlich zum eigentlichen Thema kommen sollten.“ Sie holte ein paar Zettel und wandte sich an Janine. Leicht verunsichert spielte sie mit einer ihrer blonden Strähnen. Bei Frau Bôss‘ neutralem Blick konnte man nie sicher sagen, ob man nun ganz tolle Neuigkeiten zu hören bekam oder in gewaltigen Schwierigkeiten steckte. Überrascht stellte sie fest, wie sehr sie das eigentlich an Benni erinnerte. „Janine, wir haben vorhin mit dem Regionsvertreter von Cor gesprochen. Die Situation für die Dämonenverbundenen spitzt sich immer weiter zu und die Allianz versucht nun so behutsam wie möglich der Bevölkerung mitzuteilen, was in Wahrheit vorgefallen ist und dass Dämonenverbundene ab sofort als ganz normale Bewohner Damons angesehen werden und sie zu töten folglich ebenso strafbar ist.“ Janine schluckte schwer. „Sind das nicht gute Neuigkeiten?“ Herr Bôss seufzte. „Doch, eigentlich schon. Nur stellt sich die Frage, was wir mit dir und Valentin anfangen sollen, da Mur und Terra bisher ja unbedingt ihr eigenes Ding durchziehen mussten.“ Das unwohle Gefühl in Janines Brust wurde stärker. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht, aber… „Aber ihr seid zu einer Lösung gekommen, nicht wahr?“, fragte Tatjana hastig. Herr Bôss nickte lächelnd. „Deshalb wollten wir ja auch mit dir reden, Janine. Herr Brown, der Regionsvertreter von Cor, hatte von sich aus angeboten euch beiden die corische Staatsangehörigkeit zu geben und dadurch im Prinzip Asyl zu ermöglichen, indem ihr nicht mehr an Terra und Mur gebunden seid, euch aber trotzdem noch frei in Damon bewegen könnt.“ Ungläubig schaute Janine den Direktor an. Diese Nachricht überraschte sie so sehr, dass sie es noch gar nicht schaffte, erleichtert, dankbar oder froh darüber zu sein. Geschweige denn, diese Emotionen zu zeigen. Tatjana gelang dies dafür umso besser. „Das ist ja wunderbar! Dann hat sich das Problem also schon von selbst in Luft aufgelöst?!?“, rief sie begeistert und fiel Janine um den Hals, die auch darauf nicht wirklich reagieren konnte. „Oooh, das ist so lieb von ihm! So ein Glück!!!“ „Wobei es da noch einen kleinen Haken gibt.“, warf Frau Bôss ein. Während Tatjana alles andere als begeistert darüber war, wusste Janine nach wie vor nicht, was sie davon denken sollte. Nach all der Zeit würde sie nicht mehr in der Angst leben, einfach so plötzlich getötet zu werden? Es gab tatsächlich einen Regionsvorsteher, der ihr helfen wollte? Von sich aus? Natürlich musste es dabei einen Haken geben. So traurig es auch war, gerade was die Obrigkeit in den Regionen betraf, war Janine nun mal vorgeprägt. Sie konnte ihnen nicht einfach so vertrauen. Besonders nicht nachdem sie erfahren hatte, was der Herrscher ihrer Region alles ihr selbst, ihrer eigenen Familie angetan hatte… „Was ist das für ein Haken?“, fragte sie kühl, viel zu vereinnahmt von diesen Vorurteilen. Herr Bôss winkte ab. „Eigentlich ist das keine große Sache. Um die corische Staatsangehörigkeit zu bekommen, braucht man logischerweise einen angemeldeten Wohnsitzt in Cor.“ Frau Bôss nickte. „Wir haben beispielsweise auch nur die corische Staatsangehörigkeit bekommen, da wir hier in der Coeur-Academy wohnen. Ursprünglich kommen wir aus Monde.“ „Genau. Für Valentin ist das kein Problem. Er hat zwar gezögert das Angebot anzunehmen, aber letztlich kann er einfach im Anwohnermeldeamt von uns eine Bestätigung vorzeigen und sagen, dass er hier wohnt. Bei dir ist das jedoch etwas komplizierter, da du noch nicht volljährig bist.“ „… Oh…“ Mehr wusste Janine darauf nicht zu sagen. Das war der Haken? Nur das? Während sie sich nun einerseits dafür schämte, direkt schlecht über Herrn Brown gedacht zu haben, kam andererseits immer mehr die Hoffnung durch, dass sich dieser Traum tatsächlich erfüllen könnte. Nicht mehr in Angst leben zu müssen. Nicht mehr sich unsichtbar machen zu wollen, damit man nicht plötzlich entführt, ausgeraubt, vergewaltigt oder ermordet wurde. Nicht mehr… Einfach leben zu können! Da war nur noch dieser eine Haken. „Aber ihr habt doch schon eine Lösung dafür, oder?“, fragte Tatjana drängend. „Zumindest einen Vorschlag.“, verbesserte Frau Bôss und reichte Janine die Zettel, die sie bis eben in der Hand gehalten hatte. „Janine, mein Mann und ich hatten uns gestern Abend lange darüber unterhalten. Er hatte die Sorge, dass der Verlust deiner Adoptivmutter für dich noch zu frisch ist, um so einen Neuanfang wagen zu können aber insbesondere aufgrund der Dringlichkeit der Situation haben wir beschlossen, dir trotzdem dieses Angebot zu machen. Insofern es für dich in Ordnung ist, würden wir gerne die Rolle als deine Erziehungsberechtigten übernehmen, um dir hier in Cor ein neues Leben zu ermöglichen.“ Janine blinzelte. Ihre Augen hatten sich schon so sehr mit Tränen gefüllt, dass sie nur noch erahnen konnte, dass es sich bei den Zetteln in ihrer Hand um Adoptionspapiere handelte. Zitternd hielt sie eine Hand vor den Mund, versuchte das Schluchzen irgendwie zu unterdrücken. „Ich hoffe, das ist jetzt kein zu großer Überfall für dich.“, warf Herr Bôss ein. Irgendwie versuchte sie ein Kopfschütteln zustande zu bringen. Versuchte irgendwie zu sagen, wie dankbar sie war, wie sehr sie sich darüber eigentlich freute. Doch statt etwas sagen zu können, wurde das Schluchzen nur noch heftiger, die Gefühle die sie erzittern ließen umso stärker. Bis Janine weinend auf dem Boden zusammenbrach. Sie spürte einen Arm um ihre Schultern. „Hey meine Süße, es ist alles gut. Lass das erstmal setzen und dann kannst du in Ruhe darüber nachdenken.“, hörte sie Tatjanas Stimme, die selbst gegen die Tränen anzukämpfen schien. Und doch war ihre Erleichterung nur ein Bruchteil derer, die Janine übermannte. Ria klang leicht amüsiert. „Ich glaube, darüber nachdenken muss sie gar nicht mehr.“ Wieder versuchte Janine irgendetwas darauf zu erwidern, irgendwie zu reagieren. Und wieder gelang es ihr nicht. Kaum versuchte sie das Wort ‚Danke‘ auch nur zu bilden, dachte gar daran, umso heftiger wurden diese Gefühle, diese unglaubliche Übermacht. Sie bekam am Rande mit, wie Herr Bôss von seinem Platz aufstand und wie sich Frau Bôss bereits zu ihr auf den Boden gekniet hatte. Und konnte es immer noch nicht glauben. „Das mit dem ‚du‘ wird vermutlich erst ne ziemliche Umgewöhnung, oder?“, meinte Herr Bôss leicht belustigt und legte eine Hand auf ihre Schulter. Janine lachte schwach auf, die einzige wirkliche Reaktion die sie zustande bekam. War das wirklich real? Kein Traum? Diese beiden Menschen, die ihr schon so sehr in ihrer Zeit hier auf der Coeur-Academy geholfen hatten, die ihr diese Zeit hier auf der Coeur-Academy überhaupt erst ermöglicht hatten… Wollten diese beiden ihr wirklich dieses neue Leben schenken? Boten sie ihr wirklich an, zu einer neuen Familie zu werden?! Danke… Und wieder bekam Janine dieses Wort nicht über die Lippen. Wieder wurde ihr Schluchzen nur noch stärker. Doch gleichzeitig mischte sich darunter irgendwie auch ein Lachen, eine lange schon vergessen geglaubte Wärme… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)