Demon Girls & Boys von RukaHimenoshi ================================================================================ Kapitel 25: Mut zum Vertrauen -----------------------------    Mut zum Vertrauen       Idiot, Idiot, Idiot! Carsten ist so ein Idiot! Verärgert musterte Anne den schwächlich wirkenden Indigonerjungen, während sie auf dem Rückweg zum Waisenhaus waren. Sie konnte nicht verstehen, was die anderen Mädchen an ihm und dem eiskalten Engel so toll fanden. Beide waren einfach nur Idioten! Mit der untergehenden Sonne auf der linken Seite, die die Savannen-ähnliche Landschaft rötlich färbte, erreichten sie schließlich das erbärmlich ärmliche Waisenhaus, aus dem sofort Lissi und Öznur stürmten. „Oh mein Gott Susi, was ist passiert?!?“, krisch das nervige Flittchen mit schriller Stimme und rannte zu ihrer Schwester, welche immer noch bewusstlos in den Armen des Indigonerbubis lag. „Es tut mir so leid… Sie wurde bei meiner Prüfung… vergiftet…“, berichtete Janine betroffen, jedoch ergänzte der Indigonerbubi beruhigend: „Aber keine Sorge, es geht ihr wieder besser.“ Das Flittchen wandte sich langsam von ihrer Schwester ab und stattdessen Janine zu, ebenso Öznur. „Du siehst so… anders aus.“, bemerkte Annes Zimmergenossin geistreich. Wie immer, wenn sich alle Aufmerksamkeit auf Janine richtete, färbten sich ihre Wangen rötlich. „Ich-“, setzte sie an, doch das Flittchen unterbrach sie, indem sie sie am Arm packte und in das Innere des Waisenhauses zerrte. „Komm Schätzchen, das kann man nicht erklären. Du musst dich einfach im Spiegel bewundern.“ Anne, Öznur, Ariane und der Indigonerbubi mit Susanne folgten ihnen. Missmutig schaute sich Anne um. Das Waisenhaus war eigentlich nichts weiter als eine kleine Bruchbude. Wände, Böden und Decken waren allesamt aus hellem, billigem Holz, das bedürftige Mobiliar dunkel und alt. Hin und wieder huschten einige nervige Kinder an ihnen vorbei, während sie die Gäste neugierig betrachteten. Schwester Vitoria kam ihnen entgegen. „Grüßt Gott, ihr Lieben. Wie ich sehe, wart ihr erfolgreich. Das freut mich.“ Anne schnaubte. Es war nicht zu verkennen, dass sie, genauer gesagt Janine, erfolgreich war, die wie gerufen auf die Gruppe zugestürmt kam, überraschend aufgelöst. „Leute, das ist schrecklich!“, schrie das Blondchen verzweifelt. „Wie soll ich denn jetzt noch unter die Menschen gehen können?!? Die erkennen doch sofort, was ich bin!“ Anne hob eine Augenbraue. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Wenn es ja nur so wäre, dass Janines Haare nun eher gelb als blond waren und die Pupillen der hellblauen Augen nur ein Schlitz waren, wäre es ja nicht allzu schlimm. Das Problem war, dass Janine leuchtete. Sie strahlte regelrecht von innen heraus. Und zwar gelblich. Dieses Strahlen war so kraftvoll, dass noch nicht einmal ihre Kleidung es ganz verdecken konnte. Außerdem hatte sie nun auch dieses schwache Echo, die zweite Stimme, wie Anne sie bereits bei Konrad und dem Hauptmann, der nicht wie ein Hauptmann wirkte, gehört hatte. Und… bei dem vermummten Typ, den sie bei dem Überfall in Spirit getroffen hatten. Typisch Jungs. „Das stellt natürlich ein Problem dar…“, machte Ariane offensichtliches Kund. „Aber die Jungs wirken doch allesamt noch ziemlich normal.“, bemerkte Öznur. „So wie ich das mitbekommen habe, kann man seine ‚wahre Gestalt‘ irgendwie verbergen. Du solltest Eagle, Flo oder Konny fragen.“ Der Indigonerbubi schaute sie verwirrt an. „Du nennst Konrad, einen blutsaugenden Vampir, Konny? Und Florian, den Hauptmann einer Armee Flo?“ Öznur zuckte grinsend mit den Schultern. „Besser als Bennlèy oder Cärstchen, findest du nicht?“ Amüsiert lachte der Indigonerbubi auf. Schnaubend wandte sich Anne ab. Alles Idioten. Während die Schwester dem Indigonerbubi ein Zimmer zeigte, wo er Susanne endlich in ein Bett legen konnte, gingen die Mädchen in den Gemeinschaftsraum, wo sie neben den kleinen, lärmenden Bälgern auch auf die Prinzessin von Yami und den eiskalten Engel trafen. Es zeigte sich, dass das Prinzesschen erstaunlich gut mit kleinen Kindern klarkam, da diese sich begeistert um sie scherten, während sie ihnen ein Buch vorlas. Der eiskalte Engel war natürlich so teilnahmslos wie immer, wie er da auf einem alten Sofa lag und seelenruhig schlief. Das konnte doch nicht wahr sein!!! Da wäre eben fast eine Dämonenbesitzerin verreckt, da Janine einige Probleme bei der Prüfung hatte und der pennte einfach! Entnervt schnaubend pflanzte sich Anne auf einen schäbigen Holzstuhl an den noch schäbigeren Tisch, als auch der Indigonerbubi kam und sich zum Prinzesschen auf den Boden setzte. „Wann geht’s weiter?“, erkundigte sich Ariane erwartungsvoll. Der Indigonerbubi zuckte mit den Schultern. „Wenn Susanne aufgewacht ist.“ „Und Benni.“, ergänzte Öznur belustigt, doch der Indigonerbubi schüttelte den Kopf. „Benni schläft nicht, das kann er bei so einem Lärm gar nicht.“ Ariane verließ ihren Sitzplatz auf dem Boden und ging zu dem alten Sofa, auf dem der eiskalte Engel lag. „Dann kannst du auch die Augen aufmachen und dich jedenfalls passiv an unserem Gespräch beteiligen.“, forderte sie. Tatsächlich richtete sich der eiskalte Engel kurz darauf auf, blieb jedoch weiterhin still. Schadenfroh bemerkte Anne, dass er wirklich nicht so fit wirkte, wie sonst. Ja, sie wusste, dass das gemein war, aber so war sie nun mal. Sie mochte Benni nicht, genauso wenig wie Carsten, Eagle oder die anderen Jungs, mit denen sie gegen diesen Unzerstörbaren kämpfen musste. Genauer gesagt mochte sie überhaupt keinen Jungen. Um das Gespräch wieder aufzunehmen fragte Ariane: „Also, wo geht es als nächstes hin?“ „Nach Dessert.“, antwortete Carsten. „Lecker!“, kommentierte Ariane begeistert. Lachend verdrehte der Indigonerbubi die Augen. „Du weißt, dass ich die Region meine.“ Schmollend verschränkte Ariane die Arme vor der Brust. „Ich hab trotzdem Hunger.“ Während sich der größte Teil der Gruppe mal wieder über den Namen von Annes Region lustig machte, rief sich diese die Karte von Damon in den Kopf. „Du Vollidiot!!!“, herrschte sie schließlich Carsten an. Erschrocken erwiderte der Indigonerbubi ihren Blick. „Was hast du?“ „Das fragst du noch?!?“, erzürnt sprang Anne auf, „Im Gegensatz zu Mur ist Dessert eine benachbarte Region von Cor! Also warum sind wir erst hierhin gegangen?!?“ Noch ehe der Indigonerbubi antworten konnte, zeigte Anne auf die kranke Prinzessin von Yami. „Ich dachte, du seist so rücksichtsvoll, dass du für Laura immer nur die kürzesten Strecken zum teleportieren nimmst, also warum erschwerst du es ihr so unnötig?!?“ Na gut, die Sorge um Laura war natürlich nur oberflächlich, eigentlich nervte es Anne, dass sie eventuell bereits ihre Prüfung hinter sich gehabt hätte, hätte der Depp tatsächlich die kürzeste Route genommen. Doch besagter Depp blieb zu Annes Ärgernis völlig ruhig, als er meinte: „Da hier in Mur die Dämonenbesitzer immer noch verfolgt werden, habe ich es bevorzugt, euch erst hierhin zu bringen. Bisher wissen nur wenige von unserem Vorhaben Bescheid und damit ist auch die Wahrscheinlichkeit geringer, von Gegnern überrascht zu werden.“ Schnaubend stellte Anne fest, dass dieser Grund nur besonders vorausschauend und nicht total bescheuert war. Sie gammelten erst fünfzehn Minuten im Gemeinschaftsraum des winzigen Waisenhauses, als der eiskalte Engel dem Indigonerbubi etwas in einer Sprache sagte, die Anne noch nie zuvor gehört hatte. Wobei sie Indigonisch vermutete, denn das war so ziemlich die einzige Sprache, die außer den beiden Deppen niemand kannte. Damon war etwas in der Art wie ein Kontinent, bestehend aus mehreren Regionen, die folglich alle ihre eigene Sprache hatten. Auch wenn diese im Laufe der Zeit immer mehr an Wichtigkeit verloren und stattdessen die ‚Kontinentalsprache‘ Damisch ihren Platz einnahm. Das konnte man ziemlich gut an der Prinzessin von Yami erkennen, die durch ihre Region eigentlich perfekt Japanisch beherrschen müsste, aber trotzdem so gut wie gar nichts lesen konnte. Nun gut, Laura war auch nicht besonders helle… Anne fragte sich eher, wie Janine Damisch lernen konnte, obwohl Mur eigentlich ausschließlich Russisch sprach. Wobei sich dort inzwischen auch so langsam das Damisch zu verbreiten schien, wenn sie an die Nonnen dachte, oder diesen Idioten, den sie auf der Straße getroffen hatten und dem Öznur die Nase versengt hatte. Der Indigonerbubi erwiderte etwas, auch auf Indigonisch, und verließ schließlich den Raum. Wenige Minuten später kam er zurück, dicht gefolgt von Susanne. Lissi fiel ihrer Schwester überglücklich um den Hals. „Zum Glück geht es dir wieder gut.“ Von der freudigen Erleichterung, dass Susanne aufgewacht war abgeneigt, murrte Anne: „Das heißt, wir können endlich los?“ Heute würden sie wohl nicht mehr zum Schrein kommen, da die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden war und es nachts in Dessert scheißkalt war. Da ging keiner freiwillig vor die Tür. Trotz ihres fiesen Tonfalls lächelte Susanne sie an. „Tut mir leid, dass ihr meinetwegen warten musstet.“ Nun bekam Anne doch ein schlechtes Gewissen. Es war zwar nicht so, dass sie Susanne als herzliche Freundin betrachtete, aber sie war immer so nett und zuvorkommend zu jedem, sogar zu Anne… Vielleicht würde sie sich in Zukunft bemühen, etwas netter zu Susanne zu sein. Vielleicht. Die Nonne legte eine Hand auf die Schulter von Janine, die andere auf Susannes. „Ich wünsche euch viel Erfolg.“ Die Mädchen gingen zum Indigonerbubi und dem eiskalten Engel. Um bloß nicht einem der beiden Jungs die Hand geben zu müssen, stellte sich Anne zwischen Öznur und Ariane, als der Indigonerbubi schließlich den Zauber zum Teleportieren sprach.   „Das kann doch nicht wahr sein, bitte sag, dass ich mir das nur einbilde! Warum ist es plötzlich so kalt?!?!?“, meckerte die Besitzerin des Weißen Hais zitternd. Ebenso fröstelnd aber dennoch beherrscht antwortete Anne: „Wir sind hier in der Wüstenregion, das ist immer so.“ „Mein Beileid.“, murmelte Öznur, während sie sich eine Jacke aus ihrem Koffer holte, die allerdings nicht allzu wirkungsvoll war. In Dessert war es nämlich nachts häufig noch kälter als in den anderen Regionen im Winter. Da die ‚Hauptstadt‘ Sandcastle, in der Anne als Prinzessin natürlich lebte, ebenso wie die Coeur-Academy von einer Magiebarriere geschützt wurde, hatten sie sich gezwungenermaßen vor das große Holzportal teleportieren müssen. Eine gewaltige, steinerne Mauer umgab die Stadt und schützte sie vor feindlichen Angriffen, auch wenn zurzeit nur in Mur ein indirekter Krieg herrschte und alle anderen Regionen in Frieden miteinander lebten. Doch Anne wusste, dass für einige dieser Regionen der Friede nichts weiter als eine Farce war und sie eigentlich nach noch mehr Macht und Besitz strebten. Das schwere Holztor öffnete sich mühsam, sodass die Gruppe eintreten konnte. Wie vorausgesagt wagte es nach Einbruch der Dunkelheit keiner mehr auf die Straßen, die zwar täglich freigeräumt, aber dennoch immer wieder vom Sand verdeckt wurden. Auf der Hauptstraße, die sie entlanggingen, um zu Annes Zuhause zu kommen, dem Palast von Dessert, trafen sie allerdings mehr Leute an, die allesamt die Prinzessin erkannten und sie respektvoll grüßten. Vor einem Pub hielt der eiskalte Engel plötzlich an und zog den Indigonerbubi beiseite, während er ihm etwas auf Indigonisch mitteilte. Anne hatte schon Interesse, was er ihm gesagt hatte, da Carsten plötzlich entnervt aufstöhnte. „Das kann doch nicht wahr sein!!! Ich habe Saya gebeten, ihm nichts davon zu sagen!“ Nun hatte Anne doch eine gewisse Ahnung, von wem sie da sprachen. Diese Vermutung bestätigte sich, als Carsten auf Arianes Frage, was los sei, antwortete: „Benni meint, Eagle sei in dieser Bar und würde auf uns warten.“ „Och nö.“, kommentierte Laura, ebenso begeistert wie der Indigonerbubi. Öznur zuckte mit den Schultern. „Ob ihr ihn mögt oder nicht, wir sollten reingehen und ihn begrüßen.“ „Dann kann ich ihn auch fragen, wie man seine Kräfte verbergen kann!“, bemerkte Janine hoffnungsvoll. Sehr zu Annes Missfallen hatte sie von dem Indigonerbubi dessen Jacke mit Kapuze bekommen, mit der sie jedenfalls ihr Gesicht und ihre Haare verbergen konnte. Damit das Leuchten nicht auffiel, hielt sie sich möglichst an beleuchteten Stellen der Straße auf, dicht bei dem Indigonerbubi, Susanne und Ariane, die ihr einen gewissen Schutz boten. „Gute Idee, gehen wir rein.“, meinte Öznur und öffnete die Tür. Sofort kam ihnen eine regelrechte Wolke aus Zigarettenrauch und Alkoholgestank entgegen, sodass Anne die Nase rümpfen musste. Gegen Zigaretten hatte sie nichts, sie selbst hatte sich gerade mal vor zwei Monaten mühsam vom Rauchen verabschiedet, da dieses ‚Hobby‘ zu Stress mit ihrer Mutter geführt hatte. Aber von Alkohol war sie noch nie begeistert gewesen. Auch die übrigen schienen von der Atmosphäre weniger entzückt, bis auf Lissi versteht sich. Als sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, das nur auf der Bühne die Bauchtänzerinnen beleuchtete, schaute sich Anne um, um den zukünftigen Häuptling von Indigo zu entdecken. Welcher die eintretende Gruppe bereits erblickt hatte. „N’Abend Leute!“, grüßte Eagle gut gelaunt und winkte ihnen mit einem Bierglas in der Hand zu. In den Mundwinkeln steckte mal wieder eine Kippe und auf seinem Schoß saß eine der Bauchtänzerinnen, sich sichtlich wohlfühlend. Von der einen auf die andere Sekunde platzte Anne der Kragen. „Du notgeiler Vollidiot, was hat das zu bedeuten?!? Machst du dich etwa an jedes halbwegs hübsche Mädchen mit großer Oberweite ran?!?“ Geladen stapfte Anne zur Theke, an der dieses Arschloch mit der verwirrten Tänzerin saß, um ihn aus nächster Nähe anbrüllen zu können. „Das weibliche Geschlecht ist nicht dafür da, um euch Typen zu unterhalten. Kapier das endlich!“ Ebenso wütend funkelte sie das schwarz gelockte, dunkle Mädchen an. „Und du lass dich nicht auf solche Idioten ein! Verschwinde!!!“ Völlig verängstigt stolperte sie von dem Schoß des bescheuerten Häuptlingssohns und hastete zurück zu ihren Bauchtänzerfreundinnen. Widerwärtig gechillt hob Eagle beruhigend die Hände. „Komm mal runter, wir haben uns nur unterhalten.“ Anne schnaubte und packte Eagle am Kragen seines grauen Hemdes. „Jetzt hör mir mal zu du Arschloch,“, zischte sie ihn aus nächster Nähe an, „wenn ich dich noch ein einziges Mal mit irgendeinem Mädchen erwische, dann bist du tot. Haben wir uns verstanden?!?“ Jemand packte Anne an der Schulter und zog sie von Eagle weg. „Jetzt beruhige dich mal wieder.“, redete Öznur beschwichtigend auf sie ein. „Es klingt ja fast so, als wärst du seine Freundin und hättest ihn beim Fremdgehen erwischt. Es ist nicht so schlimm wie du denkst, wenn ein Junge ein bisschen mit einem Mädchen flirtet. Außerdem schien die auch nicht wirklich abgeneigt, dass du sie hättest verteidigen müssen.“ Angewidert schob Anne Öznurs Hand von ihrer Schulter. „Jungs wollen sich nur amüsieren, nichts weiter. Das ist einfach nur widerlich.“ Immerhin gab Öznur es seufzend auf. „Wie wär’s, wenn wir jetzt zu dir nach Hause gehen würden?“ „Meinetwegen.“, murrte Anne. Der zukünftige Häuptling von Indigo hatte ihr nun endgültig die Laune verdorben. Als sie wieder die sandige Hauptstraße zum Palast entlanggingen, fragte Janine plötzlich: „Ähm Eagle… Wie kann man eigentlich sein Aussehen wieder normal wirken lassen? Ich meine… Du hast doch deine Dämonenform und wirkst trotzdem fast wie ein normaler Mensch.“ Seelenruhig erwiderte der bescheuerte Häuptlingssohn Janines Blick, seine Mundwinkel hoben sich leicht. „Ach, du hast deine Prüfung bereits bestanden? Herzlichen Glückwunsch.“ Mit einem rötlichen Gesicht wandte sich Janine schnell ab. „Danke…“ Anne hätte dem Idioten nur zu gerne einen Tritt in eine gewisse Stelle verpasst. Macht der sich echt an jedes Mädchen ran?!? Dass Eagle es eigentlich nur nett gemeint hatte kam für Anne natürlich nicht infrage. „Die Kraft zu unterdrücken funktioniert genauso, wie das Beherrschen der Energie.“, erklärte der bescheuerte Indigoner, „Du musst es dir nur vorstellen.“ Kritisch musterte Anne ihn. Das war doch nicht im Ernst so einfach. Janine blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Das gelbe Leuchten um sie begann zu wabern und wurde immer kleiner, bis es schließlich in ihrem Inneren zu verschwinden schien. Als Janine die Augen öffnete, waren es wieder die großen, kreisrunden Pupillen. Öznur legte den Kopf schief. „Das ist nicht im Ernst so einfach, oder? Da hätten sogar wir drauf kommen können.“ Doch der Indigoner-Idiot zuckte nur lachend mit den Schultern. „Tja…“ Der Palast von Sandcastle, Annes Zuhause, ähnelte ein bisschen dem Taj Mahal. In den Ecken des gewaltigen Palasthofes, welcher von einer weißen Mauer umrundet wurde, schossen elfenbeinweiße Türme in die Höhe, die das in der Mitte thronende Hauptgebäude zu bewachen schienen, allesamt in ein wunderschönes Lichtspiel getaucht. Der Garten um den Mauern des Palasthofes war tagsüber saftig grün, was er den zum Palast führenden Bächen zu verdanken hatte, die von oben betrachtet ein Kreuz bildeten und im Inneren des Palastes aufeinandertrafen. Die Mädchen kamen gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Erst recht nicht, als sie in das Innere des Palastes traten, das von seinem goldenen Glanz her mit der Coeur-Academy konkurrierte. Die Bediensteten waren selbstverständlich sofort zur Stelle und kümmerten sich bereits um ihr Gepäck, während sie die marmorweiße Treppe, die von einem roten Teppich bedeckt wurde, hinaufstiegen und weiter geradeaus gingen, direkt in den Thronsaal. Dort wurden sie bereits von Annes Mutter erwartet. Sie war eine sehr schöne, stattliche Dame mit etwa derselben dunklen Hautfarbe wie Anne und dunklen, braunen Augen. Ihre Haare fielen in wallenden schwarzen Locken über ihre Schultern und ließen sie trotz ihres Hosenanzuges sehr weiblich wirken. Im Gegensatz zu Anne, deren Auftreten nicht so sanft und graziös war, wie es sich eigentlich für eine Märchenprinzessin gehörte. „G-Guten Abend, Ihre Majestät…“, stammelte Ariane. Nicht wissend, wie sie sich in der Gegenwart einer Königin verhalten sollten, knieten sie und Öznur respektvoll und deutlich planlos nieder. Annes Mutter lachte auf. „Wir leben doch längst in einer modernen Zeit, ihr müsst euch nicht verbeugen.“ Peinlich berührt standen Ariane und Öznur auf. „Und als Freunde meiner Tochter müsst ihr mich auch nicht so ansprechen, Sultana reicht völlig.“, fuhr sie fort. Sehr bescheiden, dachte Anne sarkastisch. Sultana war etwas in der Art wie der Spitzname ihrer Mutter, ganz dezent auf ihren Status hinweisend. Anne wusste nicht, wie es zu diesem Namen kam, doch sie wurde von jedem so genannt. Selbst von ihrer Tochter, die nicht den leisesten Schimmer hatte, wie ihre Mutter eigentlich hieß. Sultana verließ ihren Platz am Tischende, wo erst vor wenigen Minuten noch eine Konferenz abgehalten worden war. Mit der Zeit hatte Anne Übung darin bekommen, nachträglich die Termine ihrer Mutter zu erahnen. „Guten Abend Eagle, schön dich mal wieder zu sehen.“, grüßte sie den Häuptlingssohn freundlich. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite.“, erwiderte dieser, während Anne bei diesem Austauschen der Verbindlichkeiten am liebsten kotzen würde. Zu ihrem Ärgernis mochte Sultana Eagle nämlich. „Und du musst sein jüngerer Bruder Crow sein, ist es nicht so?“, erkundigte sie sich, dem Indigonerbubi zugewandt und streckte ihm zur Begrüßung die Hand hin. Carsten erwiderte ihre Begrüßung mit einem schwachen Händedruck. „So kann man es auch ausdrücken.“ „Hä? Ich dachte Crow sei nur dein Zweitname.“, bemerkte Ariane verwirrt. Der Indigonerbubi zuckte mit den Schultern. „Aber mein offizieller.“ Öznur legte den Kopf schief. „Spar dir das Erklären, wir werden es sowieso nicht kapieren.“ In der Zeit hatte sich Sultana der Prinzessin von Yami zugewandt. „Es freut mich auch, die Erbin des Lenz-Clans begrüßen zu dürfen. Du bist so groß geworden! Wobei, als ich dich das letzte Mal gesehen habe warst du auch erst um die Vier.“, witzelte sie, wurde allerdings sofort wieder ernst. „Ich möchte dir mein herzliches Beileid zu dem Vorfall mit deinen Geschwistern ausdrücken.“ Teils verlegen, doch überwiegend bedrückt wich Laura ihrem Blick aus. „D-Danke… Schon in Ordnung… oder so…“ Ihr Blick fiel nun auf den eiskalten Engel. „Und du musst Benedict sein, ist es nicht so? Ach herrje, du bist ja auch in die Höhe geschossen im Vergleich zu damals. In den letzten Treffen habe ich allerdings viel Widersprüchliches von dir gehört. Wobei du dich doch zu einem sehr vernünftigen jungen Mann entwickelt zu haben scheinst, daher vermute ich, dass das alles nur leeres Gerede zum Zeitvertreib ist.“ „بسيار خشنود“, erwiderte der eiskalte Engel auf Persisch, der Sprache von Dessert, was so viel wie ‚Sehr erfreut.‘ bedeutete. Anne schnaubte. Muss der echt so mit seinen Sprachkenntnissen angeben? Schließlich wandte sich Sultana dem Rest der Gruppe zu. „Nun, die Übrigen von euch kenne ich leider nicht beim Namen und ich möchte Anne auch die ganzen Höflichkeiten der Vorstellung ersparen, weshalb ich euch vorerst kollektiv mit einem Guten Abend begrüße, falls ihr damit einverstanden seid.“ Ohne abzuwarten, ob die Restlichen überhaupt zustimmten, fuhr sie fort: „Allerdings vermute ich, dass ihr nach einer solch langen Reise bestimmt hungrig seid, weshalb ich euch auch nicht länger warten lassen möchte.“ „Juhuuuu, Essen!“, rief die notorisch heißhungrige Ariane begeistert. Doch auch Anne knurrte der Magen, weshalb sie es ihr zur Ausnahme mal nicht übelnahm. „Ähm… Moment mal…“, schaltete sich Öznur zögernd ein, „Sie haben Anne doch noch gar nicht richtig begrüßt…“ Sultana lachte auf. „Macht euch darum keine Sorgen, Anne ist zurzeit mal wieder in ihrer Trotzphase. Das merkt eine Mutter sofort. Ich werde mich später mit ihr unterhalten, wenn sie besserer Laune ist.“ Offensichtlich provozierend wuschelte sie Anne durch die hellbraunen, kurzen Haare, die davon überhaupt nicht begeistert war und das durch ein lautstarkes Schnauben zum Ausdruck brachte. Der Speisesaal war nicht minder prunkvoll als der Rest des Schlosses und Ariane konnte nicht aufhören zu schwärmen, dass sie am liebsten jeden Tag so essen würde, wenn das Essen so gut wäre, wie das Schloss schön. Für Anne wiederum war das alles natürlich selbstverständlich und auch die Prinzessin von Yami und der erste Häuptlingssohn waren die entsprechenden Verhältnisse gewöhnt, weshalb sie sich nicht so beeindrucken ließen, wie die Übrigen. Doch auch der eiskalte Engel und der Indigonerbubi wirkten nicht gerade bewundernd. An der gewaltigen Holztafel saßen neben den Gästen nur Anne und ihre Mutter, was die meisten Mädchen stutzig machte. „Dass du keine Geschwister hast ist ja offensichtlich aber wo ist denn dein Papa, Anne?“, erkundigte sich Ariane neugierig. Anne hatte mit einem Schlag das Gefühl, ein Blitz würde ins Schloss einschlagen und direkt sie treffen. Nicht wissend, was sie antworten sollte, starrte sie Ariane einfach nur fassungslos an, während in ihr ein schmerzender Zorn toste. „D-Das geht dich rein gar nichts an!“, erwiderte sie schließlich schnippisch. Niemanden hatte das zu interessieren! Ariane legte verwirrt den Kopf schief, erkannte aber, dass ihr Leben gefährdet war und blieb daher intelligenter weise still. Im Gegensatz zu Lissi. „Gab’s bei euch daheim Stress, Banani? Keine Sorge, ich weiß wie das ist. Du kannst es uns getrost erzählen.“ „Nein, du weißt nicht wie das ist!!!“, brüllte Anne die Tussi an, die bescheuert ungeschickt vor Schreck vom Stuhl fiel. Sie spürte, wie sich in ihren Augen doch tatsächlich Tränen sammelten. Tränen!!! Das konnte doch nicht wahr sein! Sie würde garantiert nicht heulen, sie war nicht so eine Heulsuse wie das Prinzesschen von Yami!!! Demonstrativ schob sie den Stuhl zurück, stand auf und stampfte eilig aus dem Speisesaal, bevor sie tatsächlich gegen ihre Gefühle verlieren konnte. Sie musste hier weg, musste vor diesen ganzen Idioten fliehen. So peinlich es auch war.   ~*~   Verwirrt schaute Öznur ihrer Zimmergenossin nach. Anne war ja sehr launisch, aber nicht launisch in dem Sinne. „Schlechtes Thema?“, stellte Ariane fragend fest, inzwischen daran gewöhnt, irgendwie in Fettnäpfchen zu treten. Doch auch Annes Mutter, Sultana, schien überhaupt nicht gut darauf anzusprechen zu sein. „Entschuldigt mich bitte, doch ich habe noch einen Bericht zu der letzten Konferenz zu beenden.“ Mit diesen Worten stand auch sie auf und verließ den Speisesaal. „Das muss man doch nicht so umschreiben, wenn man meint, man möchte sich um seine Tochter kümmern… Oder?“, erkundigte sich Janine zögernd. Eagle schüttelte den Kopf. „Anne ist zu stolz, um sich trösten zu lassen und Sultana zu stolz, um zu trösten.“ „Aber was ist denn los? Ist ihr Vater etwa gestorben?“ Anders konnte Öznur es sich nicht erklären. Wieder schüttelte Eagle den Kopf. „Ich denke, es sogar wäre besser, wenn dem so wäre. Zumindest aus Annes Sicht.“ „So ein Unsinn, man kann sich doch nicht wünschen, dass die Eltern sterben!“ Öznur konnte nun gut verstehen, warum Janine so eine Einstellung hatte. Ihre Verwandten waren allesamt tot, ebenso ihr Pflegevater. Daher war es selbstverständlich, dass sie so denken musste. Überraschender Weise mischte sich auch Carsten in das Gespräch ein. „Nicht jeder liebt seine Eltern.“ „Ach halt doch die Klappe.“, herrschte Eagle seinen Halbbruder an. „Als hättest du es bei uns Zuhause so schlecht.“ Innerlich verdrehte Öznur die Augen. Manchmal musste sogar sie Laura und Carsten Recht geben. So sexy Eagle auch war, er konnte echt ein totaler Vollpfosten sein. Doch Carsten blieb ganz ruhig. „Abgesehen davon, dass ich offen gesagt bei euch tatsächlich nicht so glücklich bin, meinte ich eigentlich Benni.“ Ariane überlegte. „Irgendwie hab ich mir das bei dem eiskalten Engel gedacht, auch wenn ich gerne wissen würde, warum.“ „Schon, aber mich interessiert gerade eher, was mit Anne los ist… So war sie noch nie! Ich meine… Sie hätte fast geweint!“, rief Öznur verzweifelt. Sie machte sich riesige Sorgen um Anne. Anne weinte nie, das passte gar nicht zu ihr. Also was war nun los? Was konnte so schlimm sein, dass die Prinzessin von Dessert ihren Gefühlen unterlegen war?!? Nachdenklich stützte Eagle den Kopf auf seiner Hand ab. „Nun… Ich kann mir denken, warum.“ „Dann sag!“, drängte Ariane. Seufzend gab sich Eagle geschlagen. „Wie immer kursieren bei den anderen Adligen Gerüchte um jemanden, wenn etwas passiert ist. Daher bin ich mir nicht sicher, wie viel Wahrheit da tatsächlich drinnen steckt. Ich weiß nicht, wie lange das schon vor sich ging, jedenfalls war ihr Vater scheinbar ein absolutes Arschloch. Obwohl er verheiratet war und eine Tochter hatte, hatte er wohl verdammt viele Affären. Es ging angeblich sogar so weit, dass er sich nachts an junge Mädchen in Discotheken rangemacht hat…“, seufzend fuhr Eagle fort, „Jedenfalls gab es unter seinen Gespielinnen nicht nur Freiwillige, wenn ihr versteht, was ich meine.“ „Galant ausgedrückt… Ja, wir verstehen vermutlich alle, worauf du hinauswillst.“, meinte Susanne. Eagle zuckte mit den Schultern. „Vor etwa drei bis vier Jahren hatte die Polizei schließlich geschnallt, wer der Verbrecher war, aber ein Opfer gönnte er sich noch…“ „Hä?“ Laura war vermutlich die Einzige, die Eagles Andeutung nicht kapiert hatte, denn die restlichen Mädchen senkten betroffen die Köpfe. „Kein Wunder, dass Anne bei Jungs so ausrastet…“, meinte Ariane nachdenklich. „Und auch, dass sie uns nichts davon erzählen möchte.“ Als wäre ihr kalt, schlang Janine die Arme um ihren Körper. „Wie kann ein Mensch nur so grausam sein? Das hat sie nicht verdient…“   ~*~   Der eisige Nachtwind schien sie auspeitschen zu wollen, während das Wasser ohrenbetäubend laut rauschend an ihr vorbeifloss, als würde es auf seinem Weg nach unten in die Gärten absichtlich einen solchen Lärm machen. Die Kälte war ihr allerdings egal. Auch der Krach, den die Bäche verursachten. Eigentlich war ihr alles egal. Alles, außer das Eine. Sie hatte ihm vertraut und das war ihr Fehler gewesen. So lief es nun mal im Leben. Die, die einem am wichtigsten waren, waren auch die Gefährlichsten. Denn man vertraute ihnen… Schluchzend zog Anne die Beine an und schlang ihre Arme drum, als würde sie sonst in Stücke zerfallen. Ihr war kalt. Eisig kalt. Sowohl äußerlich als auch innerlich. Und sie fühlte sich einsam… Niemand konnte verstehen, wie es war, auf diese Art und Weise vom eigenen Vater verraten zu werden… Ein warmer Stoff legte sich über ihre Schultern. Erschrocken fuhr Anne herum. „Was willst du hier?!?“, schrie sie Carsten an. „Ich wollte wissen, wie es dir geht.“, erwiderte dieser ruhig. Er wollte wissen, wie es mir geht? Ich bin doch nicht bescheuert! „Als ob du dich dafür interessieren würdest!“ Trotzig drehte sich Anne von ihm weg. Sie wollte nicht, dass irgendjemand sah, dass sie geweint hatte. Doch natürlich wusste der Idiot davon. Es war zu Annes Ärgernis nur schwer zu übersehen. „Das hat dich nicht zu interessieren! Verschwinde!!!“, brüllte sie ihn an, ohne ihm in die Augen zu schauen. Eigentlich wollte Anne nicht, dass er ging. Was? Sie wollte es nicht? Was war los mit ihr?!?!? Natürlich wollte sie, dass er sie in Ruhe ließ! Aber… Eigentlich wünschte sie sich, dass es auch nur einen in ihrer tristen Welt gab, der sich tatsächlich für ihre Gefühle interessierte. Sich um sie sorgte… Der ihr helfen wollte! Anne bemerkte, wie sich der Indigonerbubi neben sie setzte. „Ich sagte, verschwinde.“, schnauzte sie ihn an. Er ist immer noch ein Junge und Jungs sind alle gleich! Sie wollen nur ihren Spaß!!! Als habe der Indigonerbubi ihre Gedanken gelesen, erwiderte er: „Es tut mir ehrlich leid, was du da durchmachen musstest. Doch wir sind nicht alle so. Es ist eher… es sind nur ganz wenige.“ Er seufzte. „Doch genau diese Wenigen sorgen für den größten Schaden. Und der Rest muss dann irgendwie versuchen, all das… das ganze zerstörte Vertrauen, wieder aufzubauen.“ Und mit diesen Worten nahm er sie einfach in die Arme. „W-Was soll das?!? Lass mich los!“, schrie Anne verwirrt und versuchte, sich von ihm loszureißen. Doch ihr Befreiungsversuch war nur halbherzig. Will der mir etwa wirklich helfen? …  Anne verstand nicht, was mit ihr los war. Eigentlich hätte sie sofort gedacht, Carsten würde sich an sie ranmachen wollen. Aber sie wusste, dass der Indigonerbubi so etwas nie machen würde. Das passte einfach nicht zu ihm. Er hielt sie einfach wortlos in seinen Armen. Und Anne bemerkte, dass es sie tatsächlich beruhigte… Was? Es beruhigte sie?!? Das kann doch nicht wahr sein! „Was ist das für ein fauler Zauber?!?“, schnauzte Anne den Indigonerbubi gereizt an. „Das ist kein Zauber.“, antwortete dieser ruhig, ohne seinen Griff zu lockern. „Ich möchte dir nur helfen.“ Er will mir helfen? „Warum? Ich meine… Ich will deine Hilfe doch gar nicht! Und außerdem… Warum solltest ausgerechnet du mir helfen wollen?“ Anne konnte Carsten einfach nicht verstehen. Sie hatte ihn so oft vor all den anderen bloßgestellt, hatte ihn aus Schadenfreude gedemütigt und auch verletzt… Und er wollte ihr dennoch helfen? Er sorgte sich trotzdem um sie?!? „D-Danke…“, murmelte Anne verlegen, doch der Indigonerbubi erwiderte nichts. Tatsächlich war es einfach nur beruhigend, sich von Carsten trösten zu lassen. Auch wenn Anne es nur widerwillig zugeben konnte. Er hatte diese beruhigende Wirkung auf jemanden. Es hatte den Anschein, als könne er einen zwar nicht von seinem Leiden befreien, ihm aber einen großen Teil abnehmen. Und dabei tat Carsten so gut wie gar nichts. Er hielt Anne lediglich in seinem Arm. Anne wusste nicht, wie lange sie nun in Carstens Armen lag, bis sie sich völlig beruhigt hatte. Nun gut, in diesem Fall war völlig eher relativ. Etwas unsanft schob sie Carsten von sich. „Kannst du mich zum Schrein teleportieren?“ Dieser musterte sie verwirrt und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Es ist schon elf… Du willst doch nicht im Ernst jetzt noch die Prüfung machen?“ „Ich bin nicht müde.“, widersprach Anne, als hätte Carsten sie aufgefordert, ins Bett zu gehen. „Ich will diese dämliche Prüfung einfach nur hinter mir haben.“ Der Indigonerbubi warf einen kurzen Blick in den sternklaren Nachthimmel, während Anne ungeduldig auf seine zögernde Antwort wartete. „Na gut… Aber dafür müssen wir Sandcastle wieder verlassen, sonst kann ich uns nicht teleportieren.“ Gleichgültig zuckte Anne mit den Schultern. Während sie durch das Schloss gingen, trafen sie keine Menschenseele. Zurück in den Speisesaal zu den anderen wollte Anne nicht mehr. Höchst wahrscheinlich hatte Carsten sein Wissen von jenem Vorfall von dem zukünftigen Häuptling… Der hätte auch ruhig mal die Klappe halten können! Wobei andererseits… Dann hätte sie vermutlich nie eingesehen, dass Carsten eigentlich ganz okay war… Es fiel ihr ja immer noch schwer, das zu akzeptieren. Schweigend gingen sie durch die leicht erleuchteten Gänge des Schlosses, zurück auf die sandigen Straßen von Sandcastle. Es kam Anne wie eine endlose Tour vor, als würde sie sich auf den Weg zu ihrer Hinrichtung begeben. Bis sie endlich an das große Eingangstor der mächtigen Hauptstadt von Dessert kamen. Widerwillig reichte sie Carsten ihre zitternde Hand. „Bist du nervös?“ Verbissen starrte Anne ihn an. Hatte sie sich das nur eingebildet oder schwankte in Carstens Stimme tatsächlich ein Hauch Spott mit?!? „Nein, bin ich nicht.“, schnaubte sie gereizt. „Und lass dir eine Sache gesagt sein: Nur weil du eben einen auf guten Freund machst, heißt das noch lange nicht, dass du dich über mich lustig machen darfst!“ Carsten erwiderte Annes erzürnten Blick mit seinen lieben lila Augen, die Anne sofort an einen kleinen Welpen erinnerten. Mit einem schwachen Lächeln erwiderte er: „Ich will nicht nur einen auf guten Freund machen, ich will ein guter Freund sein. Und deshalb mache ich mich auch nicht über dich lustig.“ „Ach was soll’s! Los, teleportier uns endlich.“, wechselte Anne das Thema, von Carstens Hundeblick in Verlegenheit gebracht. Sie empfand rein gar nichts für ihn! Also, keine Liebe oder so was! Sie bekam nur ein schlechtes Gewissen, weil er es tatsächlich nur gut zu meinen schien! Ein schlechtes Gewissen? Bei einem Jungen?!?!?!? Was ist nur mit mir los?!? Carsten, der Anne während ihrem inneren Gefühlschaos einfach nur schweigend beobachtet hatte, sprach schließlich seinen komischen Teleport-Zauber, als er erkannte, dass sie sich nun endlich auf ihr Ziel konzentrieren würde.   Fröstelnd vergrub Anne die Hände in ihrer Jacke, die sie sich noch schnell aus dem Schloss stibitzt hatte, ehe sie dieses gemeinsam mit dem Indigonerbubi verlassen hatte. Nun stand sie vor dem erhabenen Schrein der Grünen Schlange. Die stützenden Säulen des Tempels ragten nur noch zur Hälfte aus dem Sand, der gesamte untere Teil war unter ihm vergraben. Wie soll ich denn da rein kommen? Während Anne noch überlegte, verpasste sie sich selbst in Gedanken eine Ohrfeige. Ich beherrsche doch den Sand, ich Depp. Sie stellte sich vor, der Sand würde vor ihr weichen und ihr den Weg zum Eingang des Tempels freimachen. Wie Moses in der Bibel die Wellen teilte, so wich vor ihr der Sand zur Seite und ließ sie passieren. „Kommst du nicht mit?“, fragte Anne den Indigonerbubi, der bisher nur schweigend beobachtet hatte. Sie mochte ihn immer noch nicht! Aber sie hasste ihn auch nicht so sehr, dass er in der Wüste bei Nacht erfrieren sollte. Wortlos folgte der Indigonerbubi ihr und sie gingen gemeinsam in den pompösen Tempel. Ein Vorteil, dass sie den Indigonerbubi mitgenommen hatte war, dass er immerhin für Licht sorgte. Sonst wäre Anne bei dieser Dunkelheit womöglich über irgendetwas gestolpert und hätte sich nur noch mehr blamiert. Sie bekam bei dem Gedanken, dass sie sich bei jemandem ausgeheult hatte, immer noch Aggressionen. Und dann war es auch noch ein Junge! Im Nachhinein war ihr das erst recht peinlich. Peinlich und entwürdigend. In der Mitte des Tempels angekommen, verschränkte Anne die Arme vor der Brust und tippte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden. „Ich bin da. Und jetzt?“ Eine schemenhafte Bewegung hinter einer Säule erregte ihre Aufmerksamkeit. „Was war das?“ „Was war was?“ Verwirrt schaute der Indigonerbubi in die Richtung, in die auch Anne blickte. Zischend funkelte Anne ihn an. „Da war was. Hast du’s nicht gesehen?“ Doch der Indigonerbubi schüttelte nur den Kopf. „Vorsicht!“, schrie Anne erschrocken auf und stieß den Indigonerbubi beiseite, als etwas von hinten auf ihn zugeschossen kam. Kleine und doch schmerzhafte Stiche schienen sich in ihre Haut zu Bohren, ehe Carstens Licht für Anne erlisch.   „Hey du, ist alles in Ordnung?“ Anne bemühte sich, die Augen zu öffnen, doch sie erkannte nichts als Schatten. Schatten, von einem grellen Licht verursacht. „W-was ist passiert?“, fragte sie matt. „Das wollte ich eigentlich dich fragen.“, höhnte die männliche Stimme auf Persisch. Männliche Stimme… Erschrocken riss Anne die Augen auf und zog einen kleinen Dolch aus ihrer Jackentasche. Amüsiert lachte der Typ auf. „Ich denke, dir geht’s gut.“ „Verschwinde, sonst schneid ich dir die Kehle durch.“, drohte Anne ihm auf ihrer Muttersprache, da der Kerl nichts anderes zu sprechen schien. Er musterte sie aus seinen glänzenden dunkelgrünen Augen und packte Anne schließlich am rechten Unterarm. Bei dem plötzlich aufkommenden, höllischen Schmerz, ließ Anne ihr Messer fallen. Doch als sie ihren Arm befreien wollte, ließ er sich kaum bewegen und fühlte sich wie eingeschlafen an. „Lass es lieber bleiben, das Biest hat dich ganz schön erwischt.“, riet ihr der Vollidiot. „Was du nicht sagst.“, spottete Anne. „Und jetzt lass mich los.“ Aber natürlich hörte er nicht auf sie. Stattdessen schob er Annes blutbefleckte Jacke hoch und legte eine kleine, aber dafür sehr tiefe Bisswunde frei. „Es wäre besser, du hältst still.“, meinte der Kerl und hob Annes Arm an seine Lippen. „Was zum- Lass das, ich mach das allein!“, herrschte sie ihn an. Was bildet der sich ein?!? Mit ruhigem Blick musterten die grünen Augen des Schwachkopfs sie erneut. „Hast du je Gift aus einer Wunde gesaugt?“, erkundigte er sich, schien die Antwort allerdings bereits zu wissen. „Na und?“, konterte Anne, „Du etwa?“ „Wir Nomaden leben geradezu mit den Schlangen… Da ist es selbstverständlich. Und jetzt halt still.“ Noch ehe Anne erneut protestieren konnte, machte sich der Nomade ans Werk. Anne hätte eigentlich erwartet, dass es ein ekelhaftes Gefühl wäre, zu spüren, dass einem das Gift aus den Adern gesaugt wird. Aber dass sie sich gerade von einem Jungen helfen lassen musste… Dieses Gefühl war viel widerlicher! Und erneut entwürdigend. Umso erleichterter war Anne, als endlich das gesamte Gift weg war. Nicht, weil es weg war, sondern weil dadurch der Typ endlich aufhörte, sie berühren zu müssen. Wortlos stand Anne auf und klopfte sich den Sand von ihrer Kleidung, während der Typ sie erwartungsvoll musterte. „Was willst du noch?!?“, schnauzte Anne ihn gereizt an. „Nun… ich warte immer noch auf ein ‚Danke‘.“ „Erst betatschst du mich und dann erwartest du nicht im ernst auch noch Dank?!?“, beschwerte sich Anne. Jungs! Unverbesserlich! „Ich erwarte Dank dafür, dass ich dir eben das Leben gerettet habe.“, verbesserte sie der Idiot. Trotzig wandte sich Anne in die entgegengesetzte Richtung. „Vergiss es. Und nun, verschwinde aus meinen Augen. Wenn ich bis drei gezählt hab will ich, dass du verschwunden bist!“ „Du bist eine Prinzessin, nicht wahr?“, bemerkte er nüchtern. „Woher willst du das wissen?“ Der Kerl lachte auf. „Das merkt man sofort an deinem Verhalten.“ „An meinem Verhalten?!?!?“ Wutentbrannt drehte sich Anne wieder um. Der Typ vollbrachte eine spöttische Verbeugung, die Annes Mordlust nur weiter anheizte. „Ich bin Kian. Freut mich, Eure Majestät.“ „Mich nicht.“, zischte Anne. „Nun… Dürfte ich dann wenigstens Euren Namen erfahren?“ „Nur, wenn du danach verschwindest.“ „Nur, wenn Ihr Euch bedankt.“ „Nein! Ich werde mich nicht bedanken! Ich bedanke mich bei keinem Jungen!“, noch während Anne diese Worte sprach erinnerte sie sich, dass sie sich erst vor kurzem bei einem Jungen bedankt hatte… Das zählt nicht! Der Kian-Vollpfosten musterte sie weiterhin amüsiert. „Dann steht Ihr eben in meiner Schuld.“ Ich stehe in seiner Schuld?!?!? Vergiss es, ich stehe in keiner Schuld! Doch Anne musste sich eingestehen, dass der Idiot Recht hatte… So widerwärtig es auch war. „Na gut, was willst du? Sag ‚einen Kuss‘ und ich reiß dir irgendwas ab. Sag ‚mehr‘ und du bist tot.“ „Ich brauche deine Hilfe.“ Kians Antwort verblüffte Anne, doch sie bemühte sich, ihr Gesicht zu wahren und fragte nur kühl: „Wobei?“ „Mir wurde etwas sehr Wichtiges gestohlen, es handelt sich um einen Speer. Doch er ist nicht einfach nur ein Speer. Er hat in den Händen gewöhnlicher Menschen seinen eigenen Willen, nur einem Dämonenverbundenen gehorcht er.“ „Eine Dämonenwaffe!“, sagte Anne das Erste, dass ihr in den Sinn kam. Kian musterte sie kritisch. „Woher weißt du das?“ „Das geht dich nichts an!“, zischte Anne warnend. Auch wenn dieser Idiot ihr deprimierender Weise das Leben gerettet hatte, Anne vertraute keinem ihr Geheimnis an, dass sie eine Dämonenbesitzerin war. Dem da erst recht nicht! Immerhin war er ein Junge! „Nun gut, ich helfe dir, auch wenn ich dich nicht leiden kann.“, meinte sie schließlich nach langem Überlegen. Dieser Kian ist mir scheißegal, ich will aber wissen, was es mit dem Speer so auf sich hat. „Danke vielmals, Majestät.“ Kian grinste Anne frech an. „Doch dann mag ich Euch auch nicht.“ Desinteressiert zuckte Anne mit den Schultern. „Schön für dich.“ „Ja, schön.“ „Schön.“ „Super.“ „Ist gut.“ „Prima!“ „Klappe!“ „Sei nicht so unhöflich!“ „Wer ist hier unhöflich?!?“ „Na du!!!“ „Ach, halt die Schnauze!“ Entnervt wandte sich Anne ab. Dieser dämliche Kian ging ihr total auf die Nerven. Nach einem längeren, trotzigen Schweigen meinte der Vollidiot schließlich: „Wollen wir nun aufbrechen oder nicht?“ „Das liegt an dir. Ich weiß ja nicht, wo du hinwillst.“, erwiderte Anne schnippisch. „Dann folgt mir einfach, Eure Hoheit.“, höhnte der Trottel. In wenigen Sekunden hatte er sich seinen nachtblauen Turban um den Kopf gewickelt, der seine schwarzen Haare verdeckte und ihn vor den Strahlen der Sonne und dem Staub des Sandes schützte. An sich war seine gesamte Kleidung die eines traditionellen Wüstenvolkes. Anne sah solche Trachten eigentlich nur noch an wenigen Feiertagen und sie persönlich war auch froh darüber, dass sie nicht tagtäglich in so langen Sachen rumlaufen musste, die ihre Bewegungsfreiheit stark einschränkten. Kian sagte allerdings gar nichts über ihren Kleidungsstil, auch nicht, als sie sich ihrer Jacke entledigte, in der sie bei diesen Temperaturen sonst eingehen würde. Zufrieden stellte Anne fest, dass ihre Dämonenkräfte sich als nützlich erwiesen, da die Bisswunde der Schlange nur noch kleine Löcher waren, frei von Blut. Ihren Sicherheitsabstand von mindestens einem Meter einhaltend trottete Anne neben dem Vollidioten her, durch die Hitze der Wüste. Blinzelnd blickte sie in die Sonne. „Weißt du, wie lange ich bewusstlos war?“, erkundigte sie sich bei dem Nomaden-Depp. Als sie mit dem Indigonerbubi im Schrein angekommen war, war es doch erst um die elf Uhr nachts gewesen… Jetzt war es eher elf Uhr mittags. „Ich bin mir nicht sicher… Gefunden habe ich Euch gegen Sonnenaufgang, doch ich weiß nicht, wie lange Ihr bereits zuvor bewusstlos wart.“ Anne überlegte, ob sich die anderen inzwischen fragten, wo sie steckte. Doch eigentlich war es ihr egal, es sorgte sich ja sowieso niemand um sie. Noch nicht einmal ihre Mutter… Anne warf einen flüchtigen Blick auf den Nomadenjungen. Er hatte garantiert eine große Familie. Kontrollierende Eltern, die sich für einen nur das Beste wünschten, nervige Geschwister, die einen zum Spaß ärgerten… Auch wenn sich Anne das Familienleben eher stressig und anstrengend vorstellte… Sie wünschte sich manchmal wirklich, in einer einfachen Familie leben zu können. Mit normalen Eltern. Es war seltsam, wie einsam sie sich mit einem Schlag fühlte… Vor einer riesigen Felswand war ihre Reise schließlich zu Ende. „Da sind sie.“, meinte Kian. Anne schaute die steilen Steinklippen hinauf. „Wo ‚da‘? Ich seh hier nichts als Sand und Steine.“ „Nicht da oben, da drinnen.“, erklärte Kian. „Oh prima. Und wie stellst du dir vor, kommen wir rein? Gibt’s irgendeinen Geheimeingang? Oder brauchen wir wie in 1001 Nacht ein Zauberwort? Soll ich’s mal mit ‚Sesam öffne dich‘ versuchen?“, blaffte Anne. Sie konnte es nicht lassen, es war einfach ein zu großer Spaß, einen Jungen bloß zu stellen. Doch der Nomaden-Depp erwiderte ihren Sarkasmus mit seinem typischen frechen Grinsen. „Ich werde Euch nicht daran hindern, falls Ihr alle Getreidesorten durchgehen wollt, Majestät.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Keine Lust. Gibt’s nun irgendeinen Eingang oder nicht?“ Flink und überraschend sicher begann Kian, die Steinwand hinaufzuklettern. Anne fasste das sofort als Herausforderung auf und folgte ihm, mit der Absicht, ihn zu überholen und als Erste am Ziel zu sein. Da sie jedoch peinlicher Weise nicht wusste, wo genau eigentlich das Ziel war, endete es damit, dass Kian etwa drei Sekunden vor ihr angekommen war. Also ein Unentschieden. Kian sah das allerdings etwas anders. „Wie heißt es so schön: Ladies first.“ „Elender Chauvinist.“, zischte Anne zurück und quetschte sich durch den schmalen Spalt in der Steinwand, der sie ins Innere der Klippe führte. Vorsichtig tastete sie sich durch den dunklen, schmalen Gang, der kein Ende nehmen wollte. Die Orientierung verlor sie dabei nie, der Gang führte auch nur in eine Richtung. Und zwar immer weiter geradeaus. Immer tiefer, in das Innere der Klippen. Dem dunklen, einengenden, bedrohlichen Gang konnte sie also trauen. Dem sarkastischen, hilfsbereiten Nomadenjungen nicht. Immerhin war er ein Junge und männlichen Wesen vertraute Anne bekanntlich nie. Es würde sie auch nicht wundern, wenn der Depp sie geradewegs in eine Falle lockte. Endlich schien der lange Gang sein Ende zu nehmen. So deutete Anne jedenfalls das schwache, gelblich flackernde Licht, dass sich an den engen kantigen Wänden abzeichnete. Ihre Erwartungen bestätigten sich, als sie mit Kian in einer unterirdischen Seitengasse den Geheimgang verließen. Kein potentieller Gegner war in Sicht… außer Kian versteht sich. Dieser wies ihr mit kurzen Gesten an, ihm zu folgen. Das linderte ihr Misstrauen zwar in keinster Weise, doch Anne tat, was er verlangte. Vorsichtig huschten sie durch die unterirdischen Gänge, die gelegentlich von an den Wänden hängenden Fackeln erhellt wurden. Warum kennt der sich hier so gut aus?, überlegte sie, während sie um die Ecke spähte und als die Luft garantiert rein war, ihm weiter geradeaus folgte. Ihr Weg endete schließlich vor einem riesigen Abgrund. „Willst du mich verarschen?!“, herrschte Anne Kian auf Persisch an. „Was hat so ein Abgrund im Inneren eines Bergs zu suchen?!“ Doch der Nomaden-Depp zuckte nur mit den Schultern, stattdessen deutete er auf die andere Seite vom Abgrund. Dort ging der Weg zwar nicht weiter, dennoch gab es einen steinernen Vorsprung. Auf diesem Vorsprung stand ein Altar und auf diesem Altar lag… „Ist das dieser Speer?“, erkundigte sich Anne. Kian nickte. „Kannst du ihn bitte holen?“ Sie warf dem Idiot einen vorwurfsvollen Blick zu. War Kian einfach nur zu blöd es zu bemerken oder wollte er sie tatsächlich in eine Falle locken? Denn dass das eine Falle war, war so wahrscheinlich, wie dass das Flittchen dumm wie Stroh war. „Ich bin doch nicht bescheuert. Du denkst doch nicht ernsthaft, dass jemand diesen Speer stiehlt und ihn dann unbewacht ein paar Meter hinter einer Schlucht versteckt, ohne dafür zu sorgen, dass er auch dort bleibt. Entweder tauchen plötzlich die Diebe auf und überraschen uns oder das Entwenden sorgt dafür, dass die Höhle einstürzt. Was wäre dir lieber?“ Kian schaute sie verwirrt an. „Passiert das ständig in euren Actionfilmen?“ Schnaubend wandte sich Anne ab. „Unsere Actionfilme sind sehr lehrreich. Durch sie hab ich gelernt, wie man dämliche Nomadenbubis k.o. schlägt.“ „Fein. Nun, dann weißt du ja, was passieren könnte und holst jetzt den Speer.“, schlug der Idiot beschwichtigend vor, den zweiten Teil ihrer Aussage ignorierend. „Nein.“ „Doch.“ „Nein!“ „Doch!“ „Nein!!!“ „Doch!!!“ „NEIN!!!!!“ „Hast du etwa Angst?“ Verbissen warf Anne dem Nomaden-Depp einen sehr verärgerten Blick zu. Sie hatte keine Angst! Sie hatte vor gar nichts Angst! Durch ihren verletzten Stolz gab Anne schließlich nach. „Na schön, ich hol ihn.“ Dank der Sprungkraft eines Besitzers der antiken Begabung fürs physische, war es Anne ein Leichtes, auf den Vorsprung zu kommen. Das erste, was sie dort tat, war, diese Dämonenwaffe kritisch zu mustern. Der Stiel des Speeres war zwar aus Holz, war jedoch über und über mit bunten Tieren bemalt, die wohl die Dämonen sein mussten. Seine Spitze war aus einem silbern schimmernden Metall gefertigt, das stark dem Kreuzanhänger ähnelte, den Laura in letzter Zeit nicht mehr abzunehmen schien. Zögernd nahm Anne den Speer schließlich in die Hand und… Schaute sich verwirrt um. Nichts, aber auch rein gar nichts passierte. Es tauchten weder Gegner auf, noch stürzte die Höhle in sich zusammen. Das gibt doch keinen Sinn…, grübelte Anne. Wenn der Speer tatsächlich so wertvoll und mächtig wäre, würde man ihn doch garantiert irgendwie bewachen! „Au!“ Erschrocken starrte Anne auf den Speer, den sie fest umklammerte. Grüne Energieblitze zuckten um ihn, wanderten Annes Hand hinauf und weiter ihren Arm entlang. Kians: „Lass ihn los!“, schaffte sie irgendwie, zu überhören, so sehr hielten die grünen, leuchtenden Energieblitze sie in ihrem Bann. Erst, als Kian ihr den Speer aus der Hand riss, nahm Anne die Geschehnisse um sie herum wieder wahr. Ebenso den Schmerz, der wie ein Donner in ihr Herz einschlug. Keuchend krümmte sich Anne. „Was ist das?!?“ „Was denkst du, weshalb man den Speer nicht bewachen muss? Er hat seinen eigenen Willen und kann sich daher auch gut selbst verteidigen.“, erklärte Kian, während er ihr wieder auf die Beine half. So ungern sich Anne auch helfen ließ. Irritiert schaute sie den Nomanden-Depp an und sah dabei vermutlich selbst wie der letzte Depp aus. „Wie kann das sein? Ich dachte-“ Ich dachte, Dämonenbesitzern gehorcht er…, beendete Anne ihren Satz im letzten Moment in ihren Gedanken. Doch Kian war zwar ein Idiot, aber zu ihrem Verdruss offensichtlich nicht dumm, denn er verstand, worauf sie hinaus wollte. „Willst du mich jetzt töten, da ich etwas weiß, was niemand wissen sollte?“, scherzte er. Anne schnaubte. „Ja, das würde ich in der Tat am liebsten.“ „Doch im Gegensatz zu dir, bin ich bewaffnet.“ „Wie kann das eigentlich sein?!? Der Speer sollte eigentlich bei dir eine Abwehrreaktion zeigen und nicht bei mir!“ Kian zuckte mit den Schultern. „Vielleicht mag er dich nicht?“ „So ein Blödsinn.“, erwiderte Anne gereizt. „Als würde eine Waffe Gefühle haben.“ Kian klang ziemlich beleidigt, als er meinte: „Du solltest sie nicht unterschätzen. Die Waffen handeln eigenständig, das heißt, sie können sich aussuchen, wem sie erlauben, dass er sie benutzt.“ „Aber im Gegensatz zu mir bist du kein Dämonenbesitzer!“ Kian lachte auf. „Unterscheidest du die Menschen etwa immer so? Männer sind allesamt schlecht, Dämonenbesitzer sind die einzigen, die Waffen benutzen können, …“ „Na und? Es ist so!“ Der Nomaden-Depp schien einen Moment lang zu überlegen, falls er dazu überhaupt in der Lage war. Schließlich schlug er vor: „Wie wäre es, wenn du mir versprichst, nicht mehr so voreingenommen zu sein? Dafür schenke ich dir den Speer.“ „Was ist denn das für ein Deal?“, fragte Anne verwirrt. Kians Blick verunsicherte Anne noch mehr. Er war so… freundlich und sanft. Fast so wie bei dem Indigonerbubi. „Du hast eigentlich einen richtig tollen Charakter, würdest du nicht ständig auf deiner Einstellung verharren. Ich wünsche mir, dass auch die anderen diesen Charakter erkennen können.“ Anne spürte, wie zum ersten Mal in ihrem Leben ihr das Blut in den Kopf schoss und sie tatsächlich verlegen wurde. „Du glaubst das doch nicht im Ernst.“ Kian schüttelte seufzend den Kopf. „Doch, glaube ich. Wie willst du später eigentlich über Dessert herrschen, wenn du so eine Meinung über circa die Hälfte der Menschheit hast?“ „Ich kann euch Männern einfach nicht vertrauen, selbst, wenn ich es wollte.“, meinte Anne schließlich. „Dann musst du es halt lernen. Du bist doch auch mit mir an diesen Ort gekommen, obwohl du gedacht hast, dass es gefährlich werden könnte.“ „Ach verdammt, halt den Mund! Ich weiß doch selbst, dass jeder denkt, ich hätte sie nicht mehr alle!“ Deprimiert biss sich Anne auf die Unterlippe. „Und ich weiß auch, dass ich tatsächlich so naiv bin und dir inzwischen wirklich vertraue…“ Sie warf einen flüchtigen Blick auf Kian und bemerkte sein Grinsen. „…Was?“ Doch Kian grinste einfach nur weiter. „Was ist?!?“, fragte Anne wütend und wurde erneut verlegen. „Na ja, ich finde es einfach schön, dass du endlich einsiehst, dass du auch mit Jungs klarkommen kannst.“, erklärte Kian ihr schließlich, ohne dabei mit dem Grinsen aufzuhören. „Dann hab ich ja doch nichts zu befürchten, wenn ich ihn dir tatsächlich gebe.“, mit diesen Worten drückte er ihr einfach so den Speer in die Hand. „Aber er-“ Doch als Anne auf den Speer blickte, gab es dort keine Energieblitze mehr, die ihr noch irgendwie schaden konnten. Sie musste sich eingestehen, dass Kian tatsächlich nicht so war, wie sie sich die Typen alle vorstellte. Im Gegenteil. Er war so wie der Indigonerbubi, eigentlich ganz lieb… Anne atmete tief durch. Sie würde nun etwas tun, was sie noch nie in ihrem Leben getan hatte: „Danke, Kian.“ Doch als sie den Kopf hob, war besagter Kian verschwunden und hinterließ lediglich die steilen, kantigen Felsen, den bodenlosen, schwarzen Abgrund und den Dämonenspeer, den sie fest umklammert in ihrer Hand hielt. Seufzend wandte sich Anne der gegenüberliegenden Seite zu. Jungs… Wie zuvor sprang sie. Doch die andere Seite der Höhle schien plötzlich viel weiter entfernt als zuvor. Zu weit. Schreiend fiel sie in den Abgrund und verlor sich im Nichts.   Anne spürte keinen Aufprall. Doch sie fiel auch nicht mehr. Den Speer weiterhin fest umklammert schaute sie sich im Nichts um. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Nichts, denn es war nichts weiter, als eine schwarze, gähnende Leere zu sehen. „Hallo Anne, ssschön zzzu sssehen, dasss du wohlauf bissst.“ Erschrocken drehte sich Anne um und stand direkt vor einer gewaltig großen Schlange, deren leuchtendes Grün um sie pulsierte und ihr eine nahezu göttliche Ausstrahlung verlieh. Fast automatisch wollte Anne schon vor dem Dämon auf die Knie gehen, als dieser meinte: „Lasss, dasss brauchssst du nicht. Wir sssind ssschliessslich hier, um dich zzzu feiern.“ „Heißt das… Ich habe bestanden?“, fragte Anne so kleinlaut, wie sie sich fühlte. Zwar hatte sie eigentlich keine große Angst, vor der Herrscherin des Sandes, doch dafür umso größeren Respekt. Die Schlange schien zu nicken. Doch statt sich zu freuen, erkundigte sich Anne weiter: „Was ist mit Kian? Wo ist er?“ Die Schlange kugelte sich buchstäblich vor Lachen auf dem vermeintlichen Boden des Nichts und Anne tat gut dabei, sicherheitshalber einige Meter zurückzuweichen. Als sich das riesige Reptil schließlich gefangen hatte, antwortete es: „Du ssscheinssst ihn ja tatsssächlich zzzu mögen! Dann verrate ich esss dir auch: Er issst bei dir, er hält deine Hand.“ „Was?!?!?“ Nahezu panisch schaute Anne neben sich. Doch da war niemand, genauso wenig wie auf ihrer anderen Seite. Kein Kian. Mit ihrer spitzen Schwanzspitze, die nicht minder strahlte, als der Rest des Körpers, deutete die Grüne Schlange auf den Speer. Und Anne verstand gar nichts mehr. „Er issst die Ssseele desss Ssspeeresss.“, erklärte sie. Betroffen musterte Anne die Waffe, die der menschlich aussehende Kian ihr geschenkt hatte. „Und ich hab gesagt, Waffen haben keine Gefühle…“, murmelte sie bedrückt. Wieder kugelte die lachende Schlange auf dem Boden herum. „Ich denke, er nimmt esss dir nicht übel.“ Als sich die Schlange wieder aufgerichtet hatte meinte sie: „Doch nun lasss unsss zzzu dem kommen, wessshalb du hier bissst.“ Noch während sie das sagte, schwand das riesige Wesen. Es schrumpfte, veränderte seine Form. Vor Anne stand nicht mehr das grün leuchtende Reptil, sondern eine wunderschöne grün strahlende Frau, mit langen, glatten Haaren und engen Gewändern, die ihre schlanke, athletische Figur betonten. Diese Frau beugte sich behutsam zu ihr hinunter, berührte mit ihren Lippen sachte Annes Stirn und war im nächsten Moment wieder verschwunden.   „Anne? Ist alles in Ordnung? Mach die Augen auf!“ Mühsam öffnete Anne ihre schweren Augenlider. „Was ist…“ Carstens Gesichtsausdruck wandelte sich von Sorge zu Erleichterung. „Ein Glück, es geht dir gut. Die Bisswunden der Schlange sind zwar komplett verheilt und das Gift schien sich auch im Nichts aufgelöst zu haben, doch du warst trotzdem nicht bei Bewusstsein…“ Immer noch nicht ganz bei Kräften richtete sich Anne mit Carstens Hilfe auf. „Übrigens… Herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Prüfung.“, gratulierte der Indigonerbubi schließlich, als Anne sicher auf beiden Beinen stand. „Woher-“ Anne schaute an sich herunter. Erschrocken stellte sie fest, dass es mehr als offensichtlich war, dass sie die Prüfung bestanden hatte. Denn im Gegensatz zu Janine, sah sie kaum mehr menschlich aus. Grüne Schuppen, die ihre Haut bedeckten, verstärkten das grüne Strahlen ihres Körpers, der sich viel stärker und mächtiger anfühlte, als zuvor. Anne erinnerte sich an die Erklärung des zukünftigen Indigonerhäuptlings und konzentrierte sich darauf, ihre Energie im Inneren zu verbergen und ihr menschliches Aussehen zurückzuerlangen. Es funktionierte tatsächlich. Nun konnte sie sich anderen Sorgen widmen. „Weißt du, wo mein Speer ist?“ Bis zum Ende hatte sie die Dämonenwaffe nicht losgelassen, doch nun befand sie sich wieder in der Realität, außerhalb des Prüfungsortes und des Nichts. Carsten deutete auf einen Altar, der sich im hinteren Teil des Tempels befand. Anne konnte schwören, dass bei ihrem Eintreten der Tempel komplett leer war. Also wie kam dieser Altar auf einmal dahin? Als sie jedoch zu dem Altar rüber ging, entdeckte sie den Speer, der dort seelenruhig lag. Ein Lächeln umspielte Annes Lippen, als sie ihn in die Hand nahm und sich zum Eingangstor begab. „Ach so, da ist noch etwas.“, meinte Anne, dem Indigonerbubi wieder zugewandt. „Es tut mir leid, dass ich immer so fies zu dir war… Ich werd' versuchen, mich zu bessern.“ Verwirrt legte Carsten den Kopf schief. „Woher kommt dieser Sinneswandel?“ „Sagen wir einfach, ein Freund hat mir beigebracht, dass ein kleiner Teil der Typen doch ganz in Ordnung ist.“, antwortete sie schulterzuckend. „Oh, aber damit wir uns nicht falsch verstehen…“ Drohend bohrte Anne ihren Zeigefinger in Carstens Brust. „Wenn du auch nur irgendein Wort über heute Nacht verlierst, bring ich dich um. Kapiert?!?“ Sie konnte nicht nachvollziehen, warum Carsten plötzlich lachte, aber immerhin versprach er ihr, nichts zu verraten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)