Demon Girls & Boys von RukaHimenoshi ================================================================================ Kapitel 24: Mut zum Handeln ---------------------------    Mut zum Handeln       Die sechste Stunde am Freitag war vorbei, die letzte Stunde vor den Osterferien. Es war soweit. Die Reise zu den Schreinen der Dämonen begann. Bedrückt folgte Janine Susanne, Öznur und Carsten in den Südwald außerhalb der Coeur-Academy, nachdem sie ihre Sachen aus den Zimmern geholt hatten, die sie für zwei Wochen brauchen würden. Der Schulsprecher war bereits da und lehnte mit geschlossenen Augen an einem Baum, dessen Knospen schon zu sprießen begannen. Als Carsten auf Benni zukam, öffnete er schließlich seine Augen. Die beiden wechselten einige Worte in einer Sprache, die Janine noch nie zuvor gehört hatte, bis sich Carsten wieder den Magiermädchen zuwandte. „Wie geht es ihm?“, erkundigte sich Susanne besorgt. Janine war von ihrer ausnahmslosen Nächstenliebe schon immer beeindruckt gewesen. Selbst die kalte, abweisende Art des Schulsprechers hielt sie nicht davon ab, ihm Empathie und Fürsorge entgegenzubringen. Susanne war wahrlich wie ein Engel auf Erden. „Nicht wirklich gut…“, antwortete Carsten. In seiner Stimme war deutlich zu hören, wie sehr ihn die Situation seines besten Freundes belastete. Nun warf auch Janine einen Blick auf Benni. Im Gegensatz zu den Übrigen, die bei diesen 17° noch eine Jacke über einem langärmeligen Oberteil trugen, hatte er lediglich einen schwarzen Kapuzenpullover an, auf dem eine Skeletthand und das Wort ‚DEATH‘ abgebildet waren. Des Weiteren trug er wie gewohnt eine schwarze Jeans und schwarze Schuhe. Janine musterte Bennis Gesicht, das sich teils hinter den strahlenden weißblonden Haaren verbarg. Sein Blick war leer, das schwarze Auge wirkte matt und trostlos, darunter befanden sich tiefe, dunkle Augenringe. Janine schauderte. Erst jetzt fiel ihr auf, wie ähnlich Benni einem Vampir doch war. Öznur schien ihr Unbehagen anders zu deuten. „Keine Angst, wir sind doch bei dir.“, versuchte sie Janine zu erheitern, als die Mädchen der Kampfkünstlerklasse dazu stießen. Tatsächlich hatte jeder, sogar Lissi, Janines Ratschlag befolgt und sich eher unscheinbar gekleidet, mit weniger edel wirkender Kleidung. „Wollen wir los?“ Annes Frage ließ Janine nun tatsächlich aus dem Grund erzittern, den Öznur zuvor vermutet hatte. Ich habe Angst… Was ist, wenn ich die Prüfung nicht bestehe? Oder noch schlimmer, wenn die Regierung uns alle erwischt?!? Doch sie wusste, wenn nicht jetzt, dann würden sie halt später nach Mur müssen. Immerhin würde sie so das alles schnell hinter sich haben. Janine reichte Carsten ihre zitternde Hand, der ihr kurz ein aufmunterndes Lächeln schenkte, als Laura zögernd meinte: „Und… was ist jetzt mit mir?“ Carsten schaute von Laura zu Benni und wieder zurück. „Für die erste Teleportation müsste deine Kraft eigentlich ausreichen. Die zweite… könnte auch gerade so gehen.“, sprach er ihr Mut zu. Mitfühlend senkte Janine den Kopf. Sie wusste genau, was Laura durchmachen musste. Zwar nicht aus eigener Erfahrung, aber sie hatte es oft genug miterlebt, wenn… Janine atmete tief durch, ehe ihr die Tränen kommen konnten. Nicht nur die schlechten Verhältnisse in Mur und die Regierung waren der Grund, dass sie ihre Region fürchtete. Auch die ganzen Erinnerungen, die ihr ständig das Herz zerrissen. Kurz darauf war der Kreis vollständig und Carsten sprach die Worte, bei denen Janine das Gefühl hatte, sie würden sie ins Verderben stürzen…   Mur war trostlos und grau. Viele Häuser wirkten einsturzgefährdet und dennoch waren sie bewohnt. Die Straßen waren mit Schlaglöchern übersehen und noch gefährlicher als die Häuser. Nachts hörte man Schüsse und Geschrei, tagsüber waren sie so überfüllt, dass man jederzeit damit rechnen musste, plötzlich aus der Menge gezogen und verschleppt zu werden. Die Wahrscheinlichkeit dass man dies überleben würde ging gegen Null. Niemand half hier einem anderen, das Wichtigste war, zu überleben. Jeder war sich selbst der Nächste. Die Gruppe folgte Janine aus der düsteren Gasse hinaus, die sie sich vorgestellt hatte, damit sie nicht mitten in der Menschenmenge landen würden. Durch die überfüllten Straßen, vorbei an heruntergekommenen Häusern und Geschäften. „Fangt keinen Streit an, nur weil jemand euch angerempelt oder blöd angemacht hat.“, hatte sie die anderen zuvor gewarnt. „Und passt gut auf eure Sachen auf… Es laufen hier viele Diebe herum.“ Janine lebte in der Hauptstadt Web, der schlimmste Ort von allen. Denn hier war die Kriminalitätsrate am höchsten. Sie hatte schon öfter einen Banküberfall, einen Mord oder einen Selbstmordattentat miterlebt. Die Angst und der Tod waren stete Begleiter. Janine hoffte für jeden, dass die fünfzig Meter zu ihrer Wohnung nichts passieren würde. „Hey Süße, was macht so ein hübsches Ding wie du denn hier? Wie wär’s? Lust auf’n bisschen Fun?“ Erschrocken drehte sich Janine um. „Nein danke.“, lehnte Öznur zwar höflich, aber dennoch bestimmt ab. Der Mann ließ sich allerdings nicht abbringen. „Ach was, vertrau mir, das wird lustig. Du kannst deine Freundinnen gerne mitnehmen, ich kenn nen Pub ganz in der Nähe.“ „Nun ja…“ Öznur schien zu überlegen. Özi, geh einfach weiter!, würde Janine am liebsten rufen aber es war klar, dass der Typ selbst dann nicht locker lassen würde. Aber Öznur schien kaum verunsichert. „Sorry, ich glaub ich bin zu heiß für dich.“ Sie warf dem Mann einen Luftkuss zu. Wie ein Feuer speiender Drache schoss eine Stichflamme zwischen ihren Lippen hervor und versengte dem Typ die Nase. Vor Angst zitternd und schreiend nahm er Reißaus. Die Mädchen würden sich vermutlich die ganze Zeit darüber lustig machen, wie rot die Nase des Typen geworden ist, würde Janine sie nicht weiter antreiben. Sie wollte nicht länger auf diesen Straßen sein! Zum Glück standen sie kurz darauf vor einem der großen Blockhäuser. Die Tür war offen. Die Tür war immer offen. Janine würde nur zu gerne wissen, warum. Sie hatte deswegen immer Probleme beim Einschlafen gehabt, da sie Angst hatte, jemand würde in das Haus kommen und ihre Wohnungstür aufbrechen. Janine klingelte im vierten Stock und wies die anderen an, schnell ins Haus zu gehen. Das Treppenhaus wirkte genauso verfallen wie man es von außen befürchten würde. Die Lichter flackerten, insofern die Lampen überhaupt noch funktionierten, und an einigen Stellen bröckelte der Putz ab. Die Treppen waren steinern und es war an einigen Stellen gefährlich sie zu betreten, da die Platten manchmal nur lose drauf lagen. Zwar hatte sie die anderen gewarnt, doch natürlich schaffte es jemand, falsch aufzutreten. „Auaaaaa…“ Laura stöhnte vor Schmerz auf, die Hand auf das blutende Knie gepresst. Zuvorkommend wie immer half Carsten seiner besten Freundin auf die Beine. „Geht’s?“, erkundigte er sich. Laura verzog das Gesicht. „Nein, es tut schrecklich weh…“ Anne lachte auf. „Du wurdest gewarnt. Das kommt davon, wenn man so unvorsichtig ist.“ „Anne!“, ermahnte Öznur ihre Zimmergenossin. „Das ist nicht gerade hilfreich.“ „Abgesehen davon war ich auch vorsichtig.“, meinte Laura mürrisch, während sie ihr Gewicht auf das linke, das heile Bein verlagerte. „Du bist vermutlich wegen der Teleportation doch etwas erschöpft.“, vermutete Susanne. Laura wollte die nächste Stufe hochgehen, ließ es aber aufgrund des wieder aufkommenden Schmerzes dann doch bleiben. Ehe sie einknicken konnte, stützte Carsten sie wieder. „Benni, jetzt hilf mir doch mal!“, forderte er seinen besten Freund auf. Janine verstand nicht, warum sich der Schulsprecher jedem gegenüber so kaltherzig benahm. Selbst bei seiner Sandkastenfreundin, die sogar Gefühle für ihn hegte. Außer Tieren. Tiere schienen die einzigen, die er in sein Herz ließ. Benni erwiderte nichts. „Bitte, Benni. Wenn ich Laura tragen würde, fliegen wir beide am Ende noch die Treppe runter.“ Carstens Argument schien ihn überzeugt zu haben. Janine fand es niedlich, wie sich Lauras Wangen purpurrot färbten, als Benni sie auf die Arme nahm und die Stufen weiter hoch trug. „Du hast sie abgelenkt, oder?“, bemerkte Carsten nüchtern, an Ariane gewandt. Diese kicherte amüsiert. „Eigentlich hab ich sie nur gefragt, wie es ihr geht. Dass sie dabei zu weit vorne auftritt hab ich eigentlich nicht gewollt. Aber so im Nachhinein… bin ich mit meiner Tat zufrieden.“ Öznur lachte leise auf. „Du Monster. Die Arme ist doch total verlegen.“ Janine konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Inzwischen wussten die Mädchen, warum Laura und Benni mal wieder im Clinch lagen. Janine konnte nur zu gut verstehen, warum Benni wahrscheinlich sauer auf sie war, dennoch wollte Laura das ja eigentlich nicht. Es war ein Versehen gewesen. Wenn auch ein ziemlich dämliches. Im Endeffekt sollten die beiden einfach gemeinsam in einen Raum gesperrt werden, dann würden sie sich früher oder später schon wieder vertragen müssen. Im vierten Stock wartete man bereits auf die Gruppe. „Janine, ich bin so glücklich, dich zu sehen! Geht es dir gut?!? Ach, du siehst so gesund aus, ich bin so froh.“ Kaum war Janine oben angekommen, landete sie bereits in den Armen ihrer Adoptivmutter. Ebenso glücklich, sie endlich wiederzusehen, erwiderte Janine die Umarmung. „Mir geht es besser denn je.“ Die Frau schob Janine etwas von sich weg und musterte sie eindringlich. Schließlich wandte sie sich der übrigen Gruppe zu. „Ich bin Annalena. Oh, es freut mich so zu sehen, dass Janine so viele nette Leute als Freunde hat.“ Annalenas Blick fiel auf Laura. „Ach, hast du eine dieser Stufen erwischt? Das tut mir so leid. Kommt doch alle mit rein, dann könnt ihr euch setzen.“ Gemeinsam mit den anderen betraten sie die Wohnung. Sie war klein und hatte neben Küche und Bad nur ein weiteres Zimmer. Doch Janine hatte einen großen Teil ihrer Kindheit hier verbracht. Für sie wirkte es gemütlich und nostalgisch. Sie hatte das Gefühl, nach ewig langer Zeit endlich wieder zu Hause zu sein. Denen, die mehr gewohnt waren, sprach Janines Lebensstil allerdings weniger zu. „Oha, hier wohnst du? Das tut mir leid.“, kommentierte Anne. „Tut mir leid, dass du so anspruchsvoll bist.“, erwiderte Janine ruhig. Was hätte sie von Anne anderes erwarten sollen? Sie war eine Prinzessin, natürlich war sie da mehr gewöhnt. Annalena führte die Gruppe in die Küche, das größte Zimmer, wo Benni Laura auf einem Stuhl absetzen konnte. Carsten kniete sich kurz darauf vor sie und verarztete ihr Knie. Janine bewunderte das Geschick des Indigonerjungen. Er war nicht nur überragend in der Schule, sondern auch ein guter Arzt, wie sie nun feststellte. Aber was sollte man von dem Sohn der Leiterin des größten und vermutlich auch besten Krankenhauses Damons anderes erwarten? Kaum war er fertig, meinte Ariane plötzlich: „Also gut und was gibt’s zu essen?!?“ „Essen?“, fragte Janine erschrocken und verwirrt zugleich. „Ich dachte, wir machen uns sofort auf den Weg zum Schrein!“ Peinlich berührt stellte sie fest, dass auch sie Hunger hatte, doch durch diese ganzen Sachen wegen Prüfung und Mur und Gefahr und so weiter hatte sie völlig vergessen, dass sie in der Schule nichts mehr gegessen hatten. Annalena seufzte. „Bitte entschuldigt, ich hatte gar nicht daran gedacht, dass ihr vielleicht noch etwas essen wollt, bevor ihr euch auf die Weiterreise macht…“ Susanne lächelte. „Bitte entschuldigen Sie sich nicht, uns tut es leid. Wir hätten eigentlich in der Schule was essen können aber um ehrlich zu sein…“ Beschämt lachte sie auf. „Bei der ganzen Nervosität hat wohl niemand mehr daran gedacht.“ Mitfühlend lächelte nun auch Annalena. „Das ist vollkommen nachvollziehbar. Soll ich schnell etwas kaufen gehen?“ Carsten winkte ab. „Nein, bitte machen Sie sich keine Umstände. Susanne hat recht, wir hätten das davor besser planen sollen. Können Sie mir sagen, ob es hier in der Nähe einen Supermarkt oder dergleichen gibt? Insofern es in Ordnung ist, dass ich Ihre Küche benutze…“ „Heißt das, du kochst?!“, fragte Laura nach und klang überraschenderweise total begeistert. Carstens Wangen färbten sich rötlich. „Wenn du willst…“ „Klar!!!“, rief sie außer sich. „Nun… Ja, zwei Straßen weiter ist tatsächlich einer. Wenn du raus gehst links abbiegen, die nächste Straße rechts und dann wieder links.“, erklärte Annalena.  „Na gut, wenn ihr noch eine Stunde wartet, kann ich euch was kochen.“ Carsten stellte sich wieder hin. Er zog die Kapuze über den Kopf und vom einen auf den anderen Moment wechselte sich der Ton seiner Hautfarbe. Auch ohne Janines Warnung wusste er, dass es gefährlich war, als Indigoner in Mur herumzulaufen. Immerhin konnte eigentlich niemand aus Mur raus. Rein war ebenso kompliziert. Doch dass er so plötzlich ohne irgendeinen Zauberspruch seine Hautfarbe ändern konnte, war extrem beeindruckend. Janine fragte sich, ob sie das auch irgendwann lernen könnte. „Am besten, Benni oder Anne begleiten dich.“, schlug Susanne sorgsam vor. „Wieso denn das?“ Anne musterte sie misstrauisch. „Damit Carsten nicht alleine durch Web muss. Hier ist es schließlich extrem gefährlich.“ Anne zuckte mit den Schultern. „Dann am besten der eiskalte Engel, so bleich wie der ist. Meine Nation sieht man mir recht schnell an und ich habe keinen Hokuspokus in der Hinterhand.“ Susanne nickte. Fragend schaute sie Benni an, der gleichgültig mit den Schultern zuckte und sich ebenso die Kapuze seines Pullovers überzog. Wobei dadurch seine düstere Ausstrahlung noch unheimlicher wurde… „Wir sind gleich wieder da.“, meinte Carsten beruhigend, da ihm Janines und Susannes Sorge um ihn natürlich nicht entging. Nachdem die beiden Jungs die Wohnung verlassen hatten, machte sich Ariane gleich auf, die Küche zu erkunden. Man konnte nur mit Feuer heizen, weshalb in der Küche ein großer Kachelofen stand. Auf diesem wiederrum standen Fotos und wie alle inzwischen wussten, liebte Ariane Fotos. Neugierig musterte sie die beiden Bilder, die in etwas schäbigen Rahmen steckten. „Okeeeee, bevor ich wieder irgendwelche Verwandtschafts-Theorien aufstelle, wegen denen ich von Lissi eine Standpauke bekomme… Kannst du mir sagen, wer das alles ist? Denn eins weiß ich: Außer dich kenn ich keinen.“, meinte Ariane und schaute Janine auffordernd an. Betrübt ging sie auch zum Ofen und zeigte auf das linke Bild, auf dem mehr Personen drauf waren. Fünf, um genau zu sein. „Das ist meine Familie…“, erklärte Janine. „Meine Mutter, mein großer Bruder, ich, meine große Schwester und mein Vater. Doch außer mir…“ Sie brach ab, als das Gefühl, jemand würde ihr Herz in tausende Stücke sprengen, zu unerträglich wurde. Stattdessen wandte sich Janine an das rechte Foto. „Als ich sechs war, hat mich Annalena mit ihrem Mann aus dem Waisenhaus geholt. Aber vier Jahre später ist er… auch…“ Nun konnte sie nicht mehr an sich halten. Stumm rannen die Tränen über ihre Wangen, die sie zuvor noch mit Mühe versucht hatte zurückzuhalten. „Oh… Das tut mir so leid, Ninie.“ Mitfühlend nahm Ariane sie in die Arme. Doch Janine wollte weder Trost noch Mitleid. Es war nun mal so, daran konnte Ariane auch nichts ändern. Und sie musste damit klarkommen. Dennoch… In Arianes Umarmung fühlte sie sich geborgen, als würde diese ihr etwas von ihrem Licht abgeben… „Aber wie sind die denn alle gestorben?“, fragte Anne nach. Janine zuckte zusammen, während Öznur der Prinzessin gegen das Schienbein trat. „Ich darf doch mal fragen.“, meinte diese mürrisch. „Nein, darfst du nicht.“, zischte Ariane sie an. „Ist schon gut…“ Janine löste sich aus Arianes Umarmung, die sie nur widerwillig losließ. Unbeabsichtigt wanderte ihr Blick zu Laura. „Sie starben alle an Karystma.“ „A-alle?“ Die Prinzessin von Yami brachte das Wort nur keuchend hervor. Janine nickte. Äußerlich ruhiger, als sie sich in Wahrheit fühlte. Auch wenn sie ihre Tränen wieder unter Kontrolle hatte, am liebsten würde sie sich nun in ein Zimmer verkriechen, ganz allein, und ihnen dort freien Lauf lassen. Doch Janine wollte nicht in Gegenwart der anderen weinen. Sie konnte es noch nicht einmal. Selbst wenn sie wollte, sie schaffte es nicht, das volle Ausmaß ihrer Gefühle in aller Öffentlichkeit zu zeigen. Ein bedrückendes Schweigen entstand, eine Stille, die niemand wagte zu brechen. Nur die alte Küchenuhr, die jede Sekunde tickte. Als der Sekundenzeiger zum fünften Mal an der Zwölf vorbeigekommen war, klingelte es und wenig später traten Carsten und Benni durch die Wohnungstür. „Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Susanne besorgt und erleichtert zugleich. „Das sollten wir eher euch fragen…“, erwiderte Carsten und stellte die Einkäufe auf dem Tisch ab. „Ihr wirkt allesamt ziemlich niedergeschlagen.“ Anne seufzte. „Warum wohl, wenn auf einmal jeder abzukratzen scheint.“ Wieder verpasste Öznur ihr einen Tritt. Carsten schaute etwas verwirrt in die Runde, doch als sein Blick auf die Fotos auf dem Kamin fiel, meinte er nur: „Ach so…“ „Aber euch ist nichts passiert?“, fragte Susanne noch einmal. Carsten zuckte lächelnd mit den Schultern. „Nein, die waren alle lieb. Vermutlich, weil sie immer mindestens fünf Meter Abstand zu Benni hielten.“ Ariane lachte auf. „Da ist so eine Ausstrahlung natürlich praktisch.“, bemerkte sie amüsiert. Carsten grinste kurz in Bennis Richtung, welcher allerdings seiner Ausstrahlung alle Ehre machte und nichts auf Carstens Blick oder Arianes Kommentar erwiderte. Carsten krempelte sich die Ärmel seines Hemdes auf Ellenbogenhöhe. „Na gut, auf geht’s.“, scherzte er und machte sich an die Arbeit. Während er dabei war, die langen, dünnen Nudeln ins kochende Wasser zu tun meinte er verlegen. „Ähm, Leute… Wenn ihr mir beim Kochen unbedingt zuschauen müsst, könnt ihr auch helfen…“ Und so kam es, dass alle gemeinsam kochten, bis auf Anne, Laura und der eiskalte Engel, die sich dafür nicht so begeistern konnten. Nach knapp einer Stunde, wie Carsten vorhergesagt hatte, war das Essen fertig und die Mädchen waren begeistert. Kein Wunder, dass sich Laura so gefreut hatte, als Carsten meinte, er würde heute für sie kochen! Er war ein Profi! Janine hätte nie gedacht, dass Nudeln aus Mur so gut schmecken konnten. Dieser Ansicht schien tatsächlich jeder, sogar die Essenskennerin und -liebhaberin unter ihnen. „Oh man Carschten, wie hascht du scho koschen gelernt?!?“, schmatzte Ariane. Verlegen zwirbelte Carsten eine Strähne seiner recht langen, schwarzen Haare. „Koja hatte früher häufiger mit mir gekocht aber ansonsten… Keine Ahnung…“ „Ischt ausch egal, jedenfallsch koschst du abschowort immer, ischt dasch klar?!?“ Ariane schaute ihn bestimmend an, als sei die Sache bereits geklärt und nahm sich eine große Portion Hähnchen aus der Extraschale. Aus Rücksicht auf Benni hatte Carsten es nicht wie eigentlich verlangt in der Soße, sondern separat gekocht. Nachdem schließlich jeder gesättigt und zufrieden war, machten sie sich auf den Weg zum Dämonenschrein. Ganz zu Janines Unzufriedenheit… Besonders, da sich ihnen noch ein Problem in den Weg stellte. Der Schrein lag nicht gerade um die Ecke, genauer gesagt, sieben bis acht Kilometer außerhalb Web und sie mussten auch noch so unbemerkt wie möglich hinkommen. Öznur stöhnte auf. „Bitte sagt nicht, dass wir dahin wandern müssen.“ Carsten faltete die riesige Karte von Damon wieder zusammen, die er vorsorglich mitgenommen hatte. „Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.“ „Na prima.“, murrte auch Laura, die Hand auf ihr verletztes Knie gepresst. „Es tut immer noch weh.“, erklärte sie. „Kennst du einen Ort in der Nähe des Schreins, an den wir uns teleportieren könnten?“ Fragend schaute Carsten Janine an, die seinem Blick verlegen auswich. Sie mochte so viel Aufmerksamkeit nicht, dabei fühlte sie sich, als würde sie ausspioniert werden… „Nun ja… Das Waisenhaus, in dem ich damals lebte liegt zwischen Web und dem Schrein… Dann wären es vielleicht nur noch vier Kilometer… Oder so…“ „Das ist doch immerhin etwas.“, meinte Carsten optimistisch und hielt Janine seine Hand hin. Janine warf Annalena einen letzten Blick zu. „Es tut mir leid, dass wir schon wieder weg müssen…“ Ihre Pflegemutter winkte ab. „Ihr tragt alle eine große Bürde. Ich bin unglaublich froh, dass ich euch kennenlernen durfte, also vielen Dank, dass ihr vorbeigekommen seid.“ Sie lächelte in die Runde. „Passt mir bitte gut auf sie auf.“ Ariane grinste. „Darauf können Sie wetten.“ Janine lächelte die Frau dankbar und liebevoll an, die sie vor dem Leben in Einsamkeit gerettet hatte. Annalena war ohne Frage eine Kämpferin. All das, was sie für Janine getan hatte, trotz der Verluste und der Schmerzen, die sie selbst hatte ertragen müssen…  und Janine selbst floh einfach. Floh vor allem und jedem. Kaum war der Kreis gebildet, sprach Carsten wieder den Zauber. Bedrückt beobachtete Janine, wie ihre Pflegemutter hinter den farbenfrohen Lichtstrahlen verschwand, bis sich diese wieder auflösten.   Das Waisenhaus lag in einem kleinen Dorf, ebenso heruntergekommen wie Web. Der Unterschied war, auf dem Land kannte jeder jeden und alle mochten sich. Es war so, wie Ariane es beim Werwolf-Spiel erzählt hatte. Nur, dass es hier keine Werwölfe gab, keine Hexe, keine Seherin… Aber dafür viele Kinder. Die Kinder, die vor dem alten Waisenhaus spielten, unterbrachen ihr Geschrei und Gelächter, um die eben plötzlich aufgetauchte Gruppe voller Neugierde und auch Misstrauen zu beobachten. Eine Nonne stürzte aus der Eingangstür. „Was in Gottes Namen hat das zu bedeuten?!? Wer sind Sie?!?!?“ „H-Hallo, Schwester Vitoria.“, grüßte Janine zögernd. Die ältere Frau in der schwarzen Kutte musterte sie von Kopf bis Fuß. „Sag… Janine, bist du das, Kind?“ Janines Lippen umspielten ein schwaches Lächeln, als die Schwester sie plötzlich in die Arme schloss. „Wie groß du geworden bist! Dir scheint es so gut zu gehen, da bin ich ja erleichtert.“ Hinter Janines Rücken kicherten einige der Mädchen. „Keine Sorge, Schwester. Wir sorgen schon dafür, dass niemand unserer Ninie zu nahe kommt.“, meinte Ariane und klang trotz des Grinsens auf ihrem Gesicht todernst. Die Nonne musterte Janines Freundeskreis. „Seid ihr etwa alle…?“ „Die beiden Jungs nicht, aber sonst ja.“, antwortete Janine. „Janine, halt bloß die Klappe!“, zischte Anne erschrocken. „Keine Sorge, die Schwestern aus diesem Waisenhaus wissen Bescheid und sagen keinem etwas.“, beruhigte Janine sie. Kritisch verschränkte die Prinzessin die Arme vor der Brust. „Ich hoffe es für dich.“ Die Nonne wies lächelnd zu der Tür. „Wollt ihr nicht reinkommen?“ „Um ehrlich zu sein… Müssen wir zu dem Dämonenschrein.“, erklärte Janine zögernd. Schwester Vitoria hob die grauen Augenbrauen. „Ist es etwa schon so weit?“ „Wir müssen zu Halbdämonen werden, damit wir eine Chance gegen dieses Wesen haben, das vermutlich die ganze Welt zerstören will…“, meinte Öznur beängstigt. Doch die Schwester wirkte keines Falls überrascht, als sie sagte: „Ich bete zu Gott, dass ihr erfolgreich sein werdet. Ihr müsst wissen… besonders du, Janine, dass der Diktator, der zurzeit über Mur herrscht, mit einem mächtigen Wesen verbunden ist, das ihm überhaupt zu solch einem Aufstieg verholfen hat. Es scheint sich hier um ein und dasselbe Monster zu handeln.“ „Was?!?“ Erschrocken zuckte Janine zusammen. Während er nachdachte, verschränkte Carsten die Arme vor der Brust. „Das Wesen scheint sehr viel Einfluss auf die Politik auszuüben… Durch Lukas in Yami zum Beispiel. Mur und Terra scheint er auch zu kontrollieren…“ Anne hob eine Augenbraue. „Wie kommst du denn da drauf?“ „Weil Terra sowieso gegen die Dämonenbesitzer ist.“, erklärte er. „Es kann gut sein, dass dieser Unzerstörbare dort heimlich mitmischt, wenn man an den Vorfall mit den Soldaten neulich denkt. Außerdem ist es auch ausgerechnet Jack, der aus Terra kommt, welcher durch Lukas auf seiner Seite zu stehen scheint.“ Janine bemerkte, wie der eiskalte Engel und Carsten einen kurzen Blick austauschten. Noch ehe jemand fragen konnte, meinte Carsten auch schon: „Der Mann, den wir zusammen mit 9510… ähm, ich meine Max, in Spirit getroffen haben… Wir vermuten, dass das Jack war.“ „Das erklärt jedenfalls die Steinwand bei Konrads Angriff.“, überlegte Susanne. „Immerhin herrscht der Orangene Skorpion über die Erde.“ Carsten nickte. „Und ich habe das ungute Gefühl, dass er bereits ein Halbdämon ist.“ Anne zuckte desinteressiert mit den Schultern. „Ist ja schön und gut, dass wir nun endlich kapiert haben, dass ein Halbdämon gegen uns ist, der auch noch zufällig ein Junge ist. Aber wie wär’s, wenn wir uns endlich auf den Weg zum Schrein machen? Wir haben immer noch eine weite Strecke vor uns. Besonders, da einige Spezialisten ja nicht laufen können.“ Überhaupt nicht unauffällig deutete sie auf Öznur und Laura. „Tut mir ja leid, dass ich hingefallen bin.“, murrte die zweite Prinzessin. „Mir auch.“, zischte Anne zurück. Zum Glück trat Schwester Vitoria zwischen die beiden adligen Mädchen. „Wenn ihr wollt, könnt ihr ruhig hierbleiben. Ich bezweifle sowieso, dass ihr mit eurem Gepäck wandern wollt. Die Kinder freuen sich bestimmt, wenn man ihnen Gesellschaft leistet… Denn die meisten sind Ausgestoßene… Sie wurden nachts hier abgesetzt, da die Eltern mit einem Kind wohl kaum über die Runden gekommen wären.“ „Von den eigenen Eltern ausgesetzt… Das ist ja schrecklich.“, murmelte Susanne betroffen. Öznur schnaubte. „Das ist krank!“ „Die ganze Menschheit ist krank.“, mischte sich der eiskalte Engel mit seiner ruhigen Stimme ein. „Nein!“, verteidigte Janine die… Menschheit. Die Menschheit, die sie kannte, die nur auf Geld, Spaß und Macht aus war… „Nicht alle.“, korrigierte sie sich. „Zum Beispiel Annalena. Nachdem mein Pflegevater gestorben war, hatten wir kaum Geld zum Überleben… Dennoch hatte sie mich nicht weggeschickt!“ Benni warf ihr diesen kalten Blick zu, der einem das Blut in den Adern gefror, doch er erwiderte nichts. „Ähm ja… Also wollen wir jetzt los?“, wechselte Ariane das Thema. Anne zuckte mit den Schultern. „Wer von euch will hier bleiben ist die Frage.“ Janine hätte sich am liebsten gemeldet. Wenn sie doch nur wie die anderen die Wahl hätte, entscheiden zu können, ob sie nun mitwollte oder nicht… Der Schrein der Gelben Tarantel, die eine Prüfung für sie bereithielt oder bei Schwester Vitoria und den anderen Nonnen und Kindern im Waisenhaus, die sich bald bei Kakao und Kuchen zusammensetzen würden… Wenn sich Janine doch nur entscheiden dürfte. Aber für sie stand es bereits fest… Sie musste zum Schrein. Laura hatte das Glück und durfte sich entscheiden, doch ihr schien es weniger leichtzufallen, sich von der Gruppe trennen zu müssen. Als sie einen kurzen Blick in Bennis Richtung warf, war es offensichtlich, warum. Janine lachte in sich hinein. Benni konnte noch so wütend auf Laura sein, er würde sie wohl nie verscheuchen können. „Benni… Du kannst ruhig auch hierbleiben, wenn du möchtest.“ Verwundert schauten Laura und Janine zeitgleich zu Carsten. Benni nickte matt. Er wirkte eher krank als müde… Auch Öznur und Lissi seilten sich ab, beide aus dem Grund, dass sie ziemlich lauffaul waren und eine gewisse Spinnenpanik besaßen. Zu Janines Erleichterung ließ sich Susanne allerdings nicht von Kakao, Kuchen und einem gemütlichen Raum zum Entspannen locken, genauso wenig wie Ariane. Denn die beiden und Carsten waren diejenigen, die Janine am liebsten um sich hatte, mit ihrer lichtähnlichen, heilenden Ausstrahlung. Dennoch hatte Janine ein ungutes Gefühl, als sich die Gruppe trennte. Es war irgendwie falsch. Die Wanderung war, wie zu erwarten, die reinste Folter. Zum Glück war es noch recht kühl, sodass die Sonne, die gelegentlich hinter den Wolken auftauchte eher angenehm war, statt auf dem Kopf zu brennen. Als Kampfkünstler waren Ariane und Anne den Magiern natürlich im Vorteil, doch auch Carsten hatte eine erstaunliche Ausdauer, wie die Mädchen feststellen mussten. Das FESJ hatte ihn vermutlich ganz schön auf Trab gehalten, denn er war zwar sehr hübsch, aber nicht sonderlich muskulös. Sogar Janine dachte so. Endlich waren sie am Schrein angekommen und statt ihn ins Augenmerk zu nehmen, wie die sportlicheren unter ihnen, setzten sie und Susanne sich auf die Treppe vor dem Eingang. Carsten reichte den Mädchen eine Wasserflasche, aus der beide begierig tranken. Anne lachte auf. „Dafür, dass ihr so ein erstaunliches Tempo an den Start gelegt hattet, seht ihr nun ziemlich erbärmlich aus.“ Ein Stoß von Ariane in Annes Rippen sorgte dafür, dass sie still wurde. Als Janine Carsten die Flasche zurückgegeben hatte, wagte sie einen Blick über die Schulter und schaute sich den Schrein an, auf dessen Treppen sie saß. Es war ein kleiner, um nicht zu sagen winziger japanischer Tempel, gänzlich hölzern und in keinster Weise verziert. Anne schnaubte. „Für dieses Mini-Ding sind wir also hergekommen?“ Janine ignorierte ihren Kommentar, stellte sich hin und ging die Stufen hinauf, bis sie vor dem Eingangsportal stand. Eine schlichte Holztür. Es war ein seltsames Gefühl, die schwere Tür zu berühren. Sie gar zu öffnen. Janine trat ein. Das Innere des Tempels war dunkel und leer, als wäre ewig keiner mehr hier gewesen. An den Wänden hingen große Spinnenweben. „Hier ist es unheimlich…“, sprach Susanne Janines Gedanken aus. Sie stand dicht hinter ihr und klammerte sich an ihren Arm. Als wäre Janine mutiger… So ein Blödsinn, auch sie zitterte am ganzen Körper. Wer musste hier immerhin die Prüfung bestehen? Janine atmete tief durch und ging weiter in den Schrein hinein, als hinter ihnen die Tür knallend in die Angeln fiel. Erschrocken drehten sich die beiden Mädchen um. „Carsten, Ariane, Anne?!?!?!?“, schrie Janine, doch so deutlich sie ihre Stimme auch hören konnte, von ihren Freunden außerhalb des Tempels bekam sie nichts mit. „Was ist hier los?“, fragte sie verzweifelt, als Susanne an ihrem Ärmel zupfte. Verwirrt drehte sich Janine um. Da, wo eben nur Leere war, stand nun ein kleiner, hölzerner Tisch. Im Gegensatz zum Rest des Schreins war er wunderschön verziert, als wäre er tatsächlich aus einem Tempel und nicht für diesen düsteren Ort gedacht. Nun war es Janine, die sich an Susannes Ärmel klammerte, als die beiden auf den Tisch zugingen. Auf ihm standen zwei Becher, gefüllt mit einer glasklaren Flüssigkeit. Von oben hörte Janine eine Stimme, eine weibliche Stimme, erfüllt von Macht. „Du musst dich entscheiden.“ Erschrocken schaute sie zur Decke des Schreins, doch da war keiner. Die Frau sprach allerdings weiter: „Gib deiner Freundin den von dir ausgewählten Becher. Lass sie davon trinken.“ Die Stimme verschwand und sie würde nicht mehr auf die tausenden Fragen antworten, die in Janines Kopf herumschwirrten. Susanne warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Sie hatte die Stimme offensichtlich auch gehört, daran bestand kein Zweifel. Immerhin hieß das, dass Janine nicht verrückt war. „Welchen nimmst du?“, fragte Susanne sie. Planlos schaute Janine auf den Tisch, musterte die beiden Kelche. Ist das die Prüfung? „I-Ich weiß es nicht…“, stotterte sie. Sie hatte Angst, riesige Angst. Was war, wenn sie Susanne den falschen Becher geben würde? Würde sie dann sterben?!? Susanne legte Janine ihre Hand auf die Schulter. Beide zitterten, Janine war nicht allein mit ihrer Angst. Sie schloss die Augen, ließ ihr Herz entscheiden. Schließlich nahm sie den rechten Becher und hielt ihn Susanne entgegen, die ihn ihr langsam aus der Hand nahm und an die blassen Lippen setzte. Susanne hielt inne. „Denkst du, ich muss ihn austrinken?“ Ohne überhaupt die Stimme fragen zu müssen, wusste Janine die Antwort bereits. „Ja…“ Ihre beste Freundin holte tief Luft und trank einen Schluck und noch einen und noch einen, bis der Becher leer war. „Susi? Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Janine besorgt. Susanne blinzelte mehrmals und stellte den Becher zurück auf den Tisch. „Ich weiß nicht…“, antwortete sie schließlich. Sie klang beängstigend erschöpft. Janine packte Susanne am Arm und drehte sie zu sich um. Sogar durch die Jacke fühlte sie die eisige Kälte, die von Susannes Körper ausging. Ihr Gesicht war schneeweiß. „Susi?!?“ Eine einzige Bewegung, so schnell, dass Janine es kaum sehen konnte. Sie spürte nur, wie sich Susanne an ihren Armen festkrallte, als drohte sie, zu stürzen. Ein keuchender Husten schüttelte sie, behinderte sie beim Atmen. Janine entdeckte eine hauchdünne Atemwolke. „Susi?!?!?!?“, krisch sie. „Susanne, was ist los mit dir?!?“ Tränen schossen Janine in die Augen. Hatte sie ihr etwa den falschen Becher gegeben?!? Susanne antwortete nicht, ihr Husten verschlang jedes Wort, das über ihre blauen Lippen kommen könnte. „Susanne!!!“ In Strömen rannen die Tränen über Janines Wangen. „Bitte, halt durch ich… ich- helfe dir!“ Aber wie soll ich… Ihr Blick fiel auf den Tisch. Ein Becher war noch gefüllt. Das Gegengift!!!, schoss es ihr durch den Kopf. Vorsichtig half sie Susanne, sich auf den Boden setzen zu können und griff eilig nach dem anderen Becher. Mit bebenden Händen, sodass der Inhalt drohte, über den Rand zu schwappen, setzte sie ihn Susanne an die Lippen und half ihrer besten Freundin zu trinken. Janine atmete erleichtert auf, als der Becher leer war und sich Susannes Lippen wieder rötlich färbten, ihre Wangen einen rötlichen Schimmer bekamen. Ihre beste Freundin im Auge behaltend, stellte Janine den Becher zurück auf den Tisch. Susanne war immer noch beängstigend blass und ihre Lippen und Wangen waren zu rot. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. „K-Keine Angst Susi, es ist alles okay. Dir geht es gut, das Gegengift hat gewirkt.“ Unter Tränen schaute Janine Susannes Gesicht an, es glitzerte durch den Schweiß. „D-Dir geht es doch gut, oder? Susanne!!!“ Schreiend und weinend schloss Janine ihre beste Freundin in die Arme, klammerte sich an ihren schwachen Körper, der auf einmal kochend heiß war. „Was ist los mit dir?!?!?“ Ich habe Angst… Was soll ich tun?!? „Bitte Susi, stirb nicht! Du- Du bist doch meine beste Freundin! Du darfst nicht sterben!!!“ Von der Angst zerfressen, von der Verzweiflung übermannt konnte Janine nicht mehr denken. „Du darfst nicht sterben! Du nicht auch noch!!! Ich will keinen von euch mehr verlieren müssen!!!“ Niemand soll mehr sterben, keiner! Weder Susanne, noch Carsten, Ariane oder Anne, die vor dem Schrein warteten und nicht wussten, dass eine Freundin gerade von innen verbrannte. Auch nicht Lissi, die ihre Schwester zu verlieren drohte, oder Öznur. Oder auch Laura, deren Leben bereits in weniger als zwei Monaten vorbei sein könnte. Janine schluchzte. Niemand… Auch nicht der eiskalte Engel, der schon einmal dem Tod viel zu nahe gekommen war. Moment… Es fiel schwer, sich konzentrieren zu können. Es war unmöglich. Doch sie musste sich konzentrieren! Susanne lebte noch. Noch hatte Janine die Möglichkeit, ihre beste Freundin zu retten! Der eiskalte Engel… Benni… Wurde damals von einer Eisblume vergiftet… Auch er war kalt, hatte schneeweiße Haut, blaue Lippen und eine Atemwolke, als würde er von innen erfrieren. Carsten hatte… er hatte… die Feuerblume als Gegenmittel gebraucht, die ich gemeinsam mit Öznur, Anne und Eagle von den Drachen holen musste… Das Gegenstück zur Eisblume… Aber… Wenn man zu viel von der Feuerblume benutzen würde, dann… dann… dann müsste sich die Wirkung umkehren! Mit einem Schlag war alles klar, Janine wusste, was passiert war. Sie hätte Susanne nichts Ungefährliches geben können, da in beiden Bechern Gift war! Ein Gift, das sich mit seinem Gegenstück aufheben ließ! Aber der Becher mit der Feuerblume war vermutlich voller gewesen als der mit der Eisblume. Was soll ich nur tun? „Was soll ich tun?!?“, schrie Janine Susanne an, doch von ihr konnte sie keine Antwort erwarten. „Komm schon Susi, du darfst nicht sterben! Sag mir, was ich tun soll!!!“ Susannes rote Lippen blieben still, öffneten sich nicht, um ihr antworten zu können. „Susi!!! Denkst du, ich könnte dich einfach so retten, wenn ich will?!? Du weißt doch, dass ich meine Energie nicht beherrsche!!!“ Schluchzend beugte sich Janine über ihre kochend heiße beste Freundin. Ja, sie beherrschte die Gift-Energie… theoretisch. Wie sollte sie denn das eine Gift mit dem anderen ersetzen?!? Wo war Carsten, wenn man ihn brauchte?!?!?! „Wie soll ich meine Energie anwenden, wenn ich nicht weiß wie?!?“, schrie sie in den Tempel, in der Hoffnung, jemand könnte sie hören. Würde ihr jedenfalls diese Stimme eine Antwort geben… „Bitte… Ich… ich will ihr ja helfen! Sag mir wie! Mir egal, was ich machen muss. Hauptsache Susanne überlebt!“ „Es ist nicht so schwer, wie du denkst.“ Janine schrak hoch, schaute zur Decke. „Spüre die Energie. Spüre das Gift, in dem Körper deiner Freundin. Fühle seine Präsenz, wie es sich in ihrem Blut ausbreitet. Dann mache es so, wie die anderen Dämonenbesitzer mit deren Energien. Lasse das Gegengift in ihrem Körper entstehen. Aber nur so viel, wie benötigt wird.“ „W-Wie meinst du das?“, fragte Janine die Stimme. Stille. Noch nicht einmal Susannes keuchenden Atem konnte sie hören. Aber sie konnte das Gift spüren, das durch ihre Adern strömte. Eine unglaubliche Macht, unbekannt und vertraut zugleich. Erschreckend und doch auch beruhigend. Janine senkte ihren Blick. „Ich habe Angst, Susi. Was ist, wenn ich es nicht schaffe?“ Auch von Susanne kam keine Antwort. Janine fühlte sich alleine, einsam, verlassen. Dieses Gefühl hatte sie schon einmal. Als ihr Bruder gestorben war, der einzige der Familie, der Janines fünften Geburtstag miterlebt hatte. Sie saß an seinem Sterbebett, weinte und sah mit an, wie ihn das Leben verließ. Und Susanne? Würde sie bei ihr auch nur zuschauen können? Janine atmete tief durch und musterte ihre beste Freundin. Sie war so gut wie tot… Aber wenn ich nicht jetzt etwas mache, ist es sowieso zu spät… Zitternd schloss Janine die Augen. Wenn sie es nicht wenigstens versuchte, dann würde sie sich nur noch mehr Vorwürfe machen. Sie wollte ihre beste Freundin nicht tatenlos aufgeben! Es war nicht dunkel. Janine konnte trotz der geschlossenen Augen etwas erkennen. Ein Gefühl, dass ihrer Vorstellungskraft ein deutliches Bild verlieh. Ströme, in einem blassen und doch feurigen Rot. Beinahe so, als würde sie das Blut durch Susannes Adern rauschen sehen. Janine legte eine Hand über diese Ströme. Sie wusste nicht, wieso. Sie hatte jedoch den Eindruck, dass es ihr so leichter fallen würde. Dann setzte sie ihre Energie frei. Sie war blau. Blau, wie das Eis. Auch das Eis begann, sich in reißenden Strömen auszubreiten. Verschlang das Feuer. Nach und nach erzeugte Janine immer wieder ein bisschen was von dem eisblauen Gift. Vorsichtig. Sie hatte zu große Angst, zu viel freizusetzen. Es dauerte gefühlte Ewigkeiten. Doch dann, irgendwann verschwand das Rot. Es verschwand auch das Blau. Es wurde alles schwarz. Zögernd öffnete Janine ihre Augen wieder. Doch es blieb schwarz. „W-Wo bin ich?!?“ „Du brauchst keine Angst zu haben.“ Wieder diese Stimme. Janine schielte nach oben. Über ihr, als würde das Nichts eine Decke haben, prangte eine gewaltige Spinne. Der Kopf, der Rumpf und alle acht Beine waren gelb. Sie schien zu leuchten, strahlte gelb. Bestand nicht aus Knochen und Haaren, sondern war pure Energie. „D-Du bist…“ Die acht Augen der Spinne schienen zu lächeln, ihre Stimme war warm und bemutternd und dennoch mächtig, als sie antwortete, ohne dass sie zu sprechen schien: „Die Gelbe Tarantel. Jedenfalls nennt ihr mich in eurer Welt so.“ „Was ist mit Susanne?!? Geht es ihr gut?!?!?“ „Du brauchst dich nicht zu sorgen. Sie ist erschöpft, doch am Leben.“ Erleichtert atmete Janine aus, in ihren Augen sammelten sich wieder Tränen. Freudentränen. Ich hab’s geschafft… Susanne lebt! Die Spinne krabbelte an einer nicht existierenden Wand hinunter zu Janine. Bedrohlich und einschüchternd stand sie mit der Größe eines Wolkenkratzers vor ihr. „Ich bin stolz auf dich, mein Kind.“, sprach die mütterliche Spinne. „Du hast es trotz deiner Angst und Verzweiflung geschafft zu agieren und dadurch das Leben deiner Freundin gerettet. Du hast dir eine Belohnung verdient, findest du nicht?“ Janine lächelte unter Tränen. „Eigentlich ist es mir Lohn genug, dass Susanne noch lebt.“ Die mächtige Stimme lachte. „Du hast ein reines Herz, voller Liebe und Zuneigung. Und dennoch lebst du voller Trauer und Angst. Du hast dir mein Geschenk verdient.“ Die Spinne kam auf Janine zu, doch sie schien keine Spinne mehr zu sein. Die Energie, aus der sie bestand, verformte sich, wurde zu einer strahlenden, wunderschönen Frau in wehenden Gewändern. Sie nahm Janines Gesicht zwischen die Hände, doch Janine spürte keine Hände. Nur Energie. Reine, mächtige Energie. Die Frau beugte sich zu Janine hinunter und küsste sie auf die Stirn. Es war eine federleichte Berührung, doch eine gewaltige Macht strömte in Janine, stärkte sie, veränderte sie. Die Frau löste sich auf, auch die Spinne war nicht mehr da. Das Nichts begann, sich in gelben Strahlen aufzulösen. Als Janine die Augen öffnete, stand sie wieder in dem Tempel. „Janine, alles in Ordnung?!?“ Schwungvoll wurde die Tür aufgerissen und Carsten, Ariane und Anne stürmten hinein. Mit ihnen das strahlend gelbe Licht der Sonne, das den verlassenen, verstaubten Schrein erhellte. „Ja… Mir geht es schon gut, aber…“ Janine war immer noch völlig benommen. War das alles gerade tatsächlich passiert? Hatte sie sich das wirklich nicht eingebildet? Aber sie fühlte sich so stark, so mächtig… „Susi!“ Erschrocken drehte sie sich um. Susanne lag wie zuvor ohne Bewusstsein auf dem Boden, doch der Tisch war verschwunden. Zitternd ging sie zu ihr rüber. Carsten ließ sich neben ihr auf die Knie und fühlte zielsicher Susannes Puls. „Sie lebt…“, meinte er schließlich. Erleichterung überschwemmte Janine. Sie konnte es nicht oft genug hören. Susanne lebt! „Was ist denn passiert?“, erkundigte sich Ariane besorgt. Janine berichtete ihnen von den beiden Giften und dass sie schließlich gar selbst Hand anlegen musste. „Aber das heißt doch, dass du die Prüfung bestanden hast.“, stellte Anne fest. Sie, Ariane und Carsten musterten Janine in dem schwachen Licht eindringlich. „Du bist so… gelb…“, behauptete Ariane zögernd. „Also im ernst, du hast so ein gelbes Leuchten.“ „Und deine Augen haben diesen Schlitz als Pupille.“, ergänzte Anne. „Wovon redet ihr?“ Janine lachte verlegen auf. Hier war kein Spiegel, sie wusste also nicht, wie sie nun aussah. Anne zuckte mit den Schultern. „Siehst du schon früher oder später. Lasst uns zurückgehen.“ Besorgt musterte Janine die schlafende Susanne, die von Carsten hochgehoben und auf den Armen nach außen getragen wurde. „Ich dachte, du hast den eiskalten Engel Laura tragen lassen, da du nicht stark genug bist.“, bemerkte Anne spöttisch. Carsten verdrehte die Augen, doch seine Wangen färbten sich rötlich. „Ihr wisst genau, warum ich wollte, dass Benni Laura trägt. Abgesehen davon hat er einen sicheren Gang. Ich wäre vermutlich tatsächlich mit ihr die Treppe runtergeflogen. Aber das heißt nicht, dass ich zu schwach bin, euch Fliegengewichte zu tragen.“ „‘Fliegengewichte‘?!? Na warte!“ Anne stürmte aus dem Tempel raus, auf Carsten zu. Doch da er Susanne trug, konnte sie ihm nichts antun, ohne dass sie damit auch Susanne verletzen würde. Carsten streckte Anne lediglich frech grinsend die Zunge raus, während sich Ariane königlich amüsierte. Auch Janine konnte nicht anders als lachen. Sie fühlte sich von allem so befreit, als wäre ihr eine große Last von den Schultern genommen worden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)