Zum Inhalt der Seite

Demon Girls & Boys

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Karussell der Gefühle

Karussell der Gefühle
 


 

Gähnend mühte sich Carsten aus dem Bett und befand sich wenige Minuten später bereits auf dem Weg zur Mensa.

Der Besuch bei den anderen Dämonenbesitzern lag knapp eine Woche zurück, ebenso die aus heiterem Himmel zurückgekehrte Erinnerung an Valentins oder eher Jacks vermutlichen Aufenthaltsort: Bei dem Widersacher.

Was das betraf, so hielt die Krankenschwester eine posttraumatische Belastungsstörung für unwahrscheinlich, weshalb Carsten auch wieder wie gewohnt den Unterricht besuchte. Nur von seinen Mitschülern erntete er manchmal irritierte Blicke, da sich sein seltsamer Albtraum wie ein Lauffeuer verbreitet hatte.

Betrübt setzte sich Carsten auf den Rand des Springbrunnens.

Er hatte lange gebraucht, die Krankenschwester davon zu überzeugen, dass mit ihm wirklich alles in Ordnung sei. Und nur Benni war noch schwerer zu überzeugen gewesen. Nein, Carsten wusste, dass er diesen elenden Sturkopf in Wahrheit gar nicht erst hatte überzeugen können.

Leeren Blickes betrachtete Carsten seine Umgebung und versuchte, die Erinnerungen an vergangene Tage damit zu überblenden. Die weiße Winterlandschaft hatte sich letzte Woche über Nacht verabschiedet und hinterließ ein ekliges, nasskaltes Tauwetter für die kommenden Wochen.

Und ausgerechnet an so einem grauen, trübseligen Tag war Carsten geboren worden.

Das war so deprimierend.

Er hätte viel lieber im Frühling Geburtstag, so wie Laura. Wenn die Natur und die damit erstrahlende Farbenpracht wieder aus dem Winterschlaf erwacht war.

Dieses eintönige Grau-braun seiner Umgebung erinnerte Carsten direkt wieder an das FESJ… An seine ersten Monate dort, als- Zitternd verschränkte Carsten die Arme vor der Brust und versuchte, die Bilder der Erinnerungen aus seinem Kopf zu verbannen.

Ein strahlend klingendes Quietschen ließ Carsten hochschrecken.

Im nächsten Moment kam ein braunes Fellbüschel auf ihn zugeschossen. Aus Reflex versuchte Carsten ihm auszuweichen, fiel dabei allerdings kopfüber in das immer noch kalte Wasser des Brunnens.

„Chip, warum hältst du eigentlich keinen Winterschlaf?!“, beschwerte sich Carsten bei dem Eichhörnchen, das nun wie ein kleines Kind fröhlich im Wasser herumplanschte und von dessen Eiseskälte unbeeindruckt blieb.

Zum Glück war es wie immer sehr früh und daher befand sich nur ein weiterer Anwesender in der Nähe.

„Kannst du es nicht jedenfalls versuchen, ihm Manieren beizubringen?“, wurde Benni der nächste Betroffene seiner Beschwerde.

Zähneklappernd mühte sich Carsten aus dem Brunnen und stotterte sich einen Trockenzauber zurecht. Der allerdings überflüssig wurde, als ihn eine Ladung Wasser von Chips Herumgeplansche nassspritzte. Grummelnd entfernte sich Carsten einige Schritte vom Brunnen und zauberte sich erneut trocken.

Natürlich erwiderte Benni nichts, aber Carsten wusste genau, dass sich dieser Sadist auf seine eigene Art amüsierte.

„Gehen wir rein?“, fragte Carsten um das Thema zu wechseln und bekam als Antwort ein knappes Nicken.

Carsten würde nur zu gerne wissen, wie Benni tatsächlich mit Tieren kommunizieren konnte. Denn kaum war es beschlossene Sache, dass sie reingehen wollten, sprang Chip von dem Brunnen auf Carstens Kopf und schüttelte sich so trocken, dass es aussah, als habe er sich in triefenden Regen gestellt.

Ausnahmsweise setzte sich Benni nicht an den Tisch der Schülervertretung, sondern nahm neben Carsten an einem ganz normalen Schülertisch Platz.
Kurz darauf kamen die notorischen Frühaufsteher der Mädchen hinzu, deren Reaktion unterschiedlicher Begeisterung war, als sie sahen, dass Benni zum Frühstücken bei der Gruppe und nicht bei der Schülervertretung saß.

„Was hast du hier zu suchen?“, fragte Anne mit der fehlenden Begeisterung.

Susanne hingegen empfing Benni so freundlich wie immer: „Schön, dich mal bei uns zu treffen. Guten Morgen.“

Benni erwiderte ein knappes „Morgen.“ und schwieg die restliche Zeit. Auch als Öznur, Ariane, Janine und Lissi kamen, sagte er nichts.

Kurz darauf kam Laura, wie immer als Schlusslicht der Gruppe und fiel Carsten spontan, stürmisch um den Hals. „Alles Gute zum Geburtstag!“

Aus Spaß hätte Carsten beinahe gerufen: ‚Willst du mich umbringen?!‘, aber da Laura dadurch vermutlich wieder an eine gewisse Situation denken würde, hielt er sich lieber zurück. Stattdessen mühte er sich zu einem herzlichen „Danke.“, als Laura ihm ein Geschenk in die Hand drückte.

Das Geschenk war nicht das Problem, eigentlich konnte Carsten es kaum erwarten, das schwarze Geschenkpapier mit den weißen Punkten aufzureißen.

Auch wenn es kindisch klang.

Immerhin hielt er zum ersten Mal seit sechs Jahren wieder ein Geschenk in den Händen!

Er darf also so denken!

Das eigentliche Problem bestand allerdings darin, dass durch Lauras Auftritt nun wohl jedem klar war, um welchen Tag es sich handelte. Und eigentlich mochte Carsten es nicht, wenn so viele davon Wind bekamen.

Zwar war er nicht so verschlossen wie Benni, aber dennoch fühlte er sich bei den Gratulationen irgendwie… beschämt. Auch wenn er dafür keinen Grund finden konnte, immerhin war es etwas völlig Normales, wenn man zum Geburtstag gratuliert bekam.

Lag es vielleicht an seiner Schüchternheit?

„Wie, du hast Geburtstag?“, fragte Öznur kritisch. „Warum hast du uns nichts gesagt?!“

„Na ja, äh…“, setzte Carsten an, wurde allerdings von Ariane unterbrochen: „Du solltest dich was schämen! Weil wir nichts von deinem Geburtstag wussten, können wir dir jetzt nichts schenken! Und jetzt besteht dein Geschenkeberg aus nur einem Buch!!!“

„Also Nane-Sahne, die Geschenke sind doch nicht das Wichtigste an einem Geburtstag.“ Lissi sprang auf und schlang die Arme um Carsten. „Viel wichtiger ist es doch, an so einem Tag bei seinen besten Freunden zu sein! Alles Liebe, mein Süßer!!!“

Nacheinander taten nun alle Mädchen das, das Carsten an Geburtstagen am wenigsten mochte.

Sie gratulierten ihm.

Mal mehr und mal weniger herzlich, wobei das weniger herzlich eigentlich nur auf Anne zutraf.

„Und wann gibt’s Kuchen?“, erkundigte sich Ariane und blickte Carsten erwartungsvoll an.

„Was?“, fragte dieser verwirrt.

Kuchen?

Schnaubend wandte sich Ariane ab, um sich eine Serviette zu schnappen und von irgendwo einen Kugelschreiber heraufzubeschwören. „Also, bevor jemand von euch es wieder verschweigt und ich dadurch keinen Kuchen bekomme, sagt ihr mir alle jetzt euren Geburtstag. Aber pronto.“

Auffordernd schaute sie in die Runde, ihr Blick blieb an Benni haften.

Durchdringend sah sie ihn an. „Wann?“

„Fünfzehnter Januar.“

„Verdammt!“, fluchte Ariane und warf kurz darauf einen anklagenden Blick in Lauras Richtung. „Das war es also! Das Ding, das du nach deinem Verschwinden mitgebracht hast! Du weißt schon, beim Neujahrsball am fünfzehnten Januar! Das war also sein Geschenk!“

„Äh…“ Laura lachte verlegen auf. „Eventuell…“

„Das kann doch nicht wahr sein!!!“ Ariane pfefferte die Serviette davon und wurde kurz darauf von einer Elfe ausgeschimpft, die sie versehentlich am Kopf erwischt hatte.

„Das ist doch jetzt egal, wir können Carstens Geburtstag ja nachfeiern.“, schlug Öznur vor.

„Schön, dass ihr mich fragt, ob ich überhaupt feiern will.“, entgegnete Carsten sarkastisch.

„Schäm dich, klar willst du!“, warf Ariane ein und schnippte grausam die kleine Elfe weg. „Also Özi, was hast du vor?“

Öznur zuckte mit den Schultern. „Es ist ja kein wirkliches Nachfeiern. Kommendes Wochenende ist doch der Jatusaner-Markt. Wie wär’s, wenn wir Samstag dahin gehen?“

„Ihr seid wirklich fies.“, kommentierte Susanne.

„Was?!? Wieso denn?“, erkundigte sich Öznur betroffen.

Susanne lachte heiter auf. „Weil Benni doch am Samstag auch nachmittags Unterricht hat. Wenn, dann sollten wir sonntags hin, damit wir komplett sind. Das wäre zuvorkommender.“

„Oh, das hab ich ganz vergessen… Sorry, hehehe…“, verlegen kratzte sich Öznur am Hinterkopf.

Benni schüttelte den Kopf. „Ich kann sowieso nicht mit.“

„Warum?“, fragte Laura enttäuscht.

Carsten lachte auf. „Ach so, Benni muss doch noch zu Johannes. Wie wäre es, wenn wir uns mit ihm auf dem Markt treffen? Hausbesuche magst du sowieso nicht.“

Benni zuckte mit den Schultern und Carsten nahm sich die Freiheit, das als ein ‚ja‘ zu deuten. „Dann gehen wir am Sonntag also alle auf diesen Jatusaner-Markt.“
 

~*~
 

Mist, Mist, Mist! Ich hab verschlafen! Warum hat mich keiner geweckt? Rechtzeitig! Verdammt, das ist so gemein!

Eilig schlüpfte Laura in ihre Anziehsachen. Schwarz, Rock, Mantel. Wie immer.

Sie wusste nicht, warum sie sich jetzt eigentlich noch beeilte.

Als allseits bekannter Langschläfer wäre Laura natürlich nie in der Lage, von sich aus um neun Uhr morgens aufzuwachen, um mit dem Bus um zehn nach Jatusa zu fahren.

Einen Wecker hatte sie sich auch nicht gestellt, dieses verdammte Gerappel verbreitete viel zu schlechte Laune.

Sie war davon ausgegangen, dass Ariane sie wecken würde.

Hatte sie ja auch.

Um fünf vor zehn.

„Wach auf, sonst verpasst du den Bus.“, hatte sie gesagt.

Na prima!

Ich bin aufgewacht!

Und hab ihn trotzdem verpasst!!!

Also musste sie mit dem eine Stunde später fahren. Laura machte sich fertig, ging in die Mensa, aß etwas und schlenderte schließlich immer noch vollkommen verstimmt zur Bushaltestelle der Schule vor dem großen Eingangsportal.

Und dort stand Laura nun.

Und wartete.

Und wartete…

Und wartete… …

Laura warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

Punkt elf.

Wann kommt dieser Bus?!?

Noch nie war sie alleine mit dem Bus in die Stadt gefahren. Eigentlich war sie noch nie in ihrem Leben alleine mit dem Bus gefahren. Langsam stieg in Laura die Panik auf. Was war, wenn der Bus schon früher da war und sie zu spät?

Oder…

Nein.

Nein, das kann nicht sein!

Ich wusste es! Ich wusste es!!!

Es ist wahr!

Es ist wahr!!!

Der Bus verwandelt sich gerade in ein Monster!
Es wird mich fressen!!!

Nahezu hysterisch ging Laura im Kreis herum, wie ein Löwe in seinem Käfig. Dass ihre Mitschüler sie verwirrt musterten, fiel ihr erst gar nicht auf.

Sollte sie laufen?

Nein, das würde zu lange dauern.

Sie musste den Bus nehmen, ihr blieb keine andere Wahl.

Auch wenn dieser sie fressen würde…

„Alles okay?“ Ein Mädchen, etwas älter als Laura, mit braunen, gelockten Haaren, musterte sie besorgt.

„Der Bus war noch nicht da, oder?“, erkundigte sich Laura, konnte die Hysterie in ihrer Stimme allerdings nicht zurückhalten.

Das Mädchen lachte auf. „Oh nein, der kommt erst um viertel nach und hat meistens fünf Minuten Verspätung.“

Laura hörte für ein paar Sekunden mit ihrem im Kreis Gelaufe auf.

Viertel nach.

Meistens fünf Minuten Verspätung…

Ariane hatte sie doch noch rechtzeitig geweckt!!!

Das hätte die ruhig sagen können!

Bevor Laura wieder dazu kam, im Kreis zu rennen, fragte sie das Mädchen lieber: „Und der Bus verwandelt sich nicht in ein menschenfressendes Monster, oder?“

Das Mädchen lachte wieder auf. „Garantiert nicht.“

Um besonders mysteriös, oder eher bekloppt, zu wirken, meinte Laura nur: „Na, wer weiß…“, als auch der Bus um die Ecke bog.

Sie versuchte, sich unbemerkt an das Mädchen zu kletten, um während der Busfahrt nicht völlig aufgeschmissen zu sein.

Natürlich war das unbemerkt relativ.

„Du möchtest doch sicher auf den Markt, oder?“ Als wäre es dem Mädchen entgangen, dass Laura einen Sitz hinter ihr beschlagnahmt hatte.

Zögernd nickte sie.

Sie zeigte auf die sich gerade öffnenden Türen. „Dann musst du hier raus.“

„Oh, neiiin! Halt, bleibt offen! Danke! Tschüss! Äh…“ Ungelenk quetschte sich Laura an der einsteigenden, drängenden Menschenmasse vorbei, bei ihrem Versuch, den Bus zu verlassen.

Nach mehreren Misserfolgen, bei denen sie immer wieder im Bus landete, schaffte sie es schließlich doch noch nach draußen.

Schwer atmend schaute Laura dem wegfahrenden Bus nach.

Es war grausam. So etwas würde sie nie wieder in ihrem Leben machen.

Das nächste Problem wartete bereits: Wie soll ich die auf diesem riesigen Gelände finden?!
 

Deprimiert schlenderte Laura bereits seit einer halben Stunde auf dem Markt herum, ohne Erfolg.

Ihr Handy?
Hatte sie vergessen aufzuladen.

Endlich hörte sie eine ihr zwar nicht allzu vertraute, aber dafür umso eindeutigere Stimme: „Onkel, Onkel, Onkel, lass uns zum Riesenrad gehen! Ach nö, ich will lieber zum Autoscooter, das Riesenrad ist langweilig! Aber Mama sagt, Autoscooter sind gefährlich, ich will zum Zuckerwattestand! Aber Zuckerwatte macht die Zähne kaputt… Ich weiß, du gewinnst für mich beim Dosenwerfen eine große, flauschige Katze! Nein, einen Killerwal! Nein, eine Katze! Nein-“

„Wie wär’s mit der Geisterbahn?“, schlug Anne mit verräterischer Freundlichkeit vor.

„Ja! Tolle Idee, Jungs-hasser-Tante!“ Naiv und voller Begeisterung zog Johannes Benni zu der Geisterbahn. Dieser hatte sich auf Carstens Drängen hin doch tatsächlich darauf eingelassen, Johannes‘ Mutter anzurufen, um ein Treffen zu organisieren.

Sie war nicht davon begeistert, dass auch Johannes gegen diesen Gegner kämpfen musste, doch als sie Benni auf Gott und alles, was ihm lieb sei schwören ließ, ihren Sohn mit seinem Leben zu beschützen, war sie beruhigt.

Die arme Frau konnte ja nicht wissen, dass Benni Atheist war.

„Hey Laura, schön, dass du auch noch gekommen bist!“, grüßte Ariane sie freudig.

„Viertel nach. Viertel nach! Viertel nach!!! Das hätte ich noch geschafft!!!“, schrie Laura anstelle einer Begrüßung.

Ariane zuckte mit den Schultern und grinste sie nur belehrend an.

Schnaubend wandte sich Laura ab.

Sie war mal wieder erstaunt, wie geduldig Benni doch sein konnte, obwohl er gerade als unfreiwilliger Babysitter vor der Geisterbahn stand und das Geschwätz eines zehn bis elf Jährigen über sich ergehen ließ.

„Aber die Geisterbahn ist echt eine gute Idee, Anne. Ich möchte auch mal fahren.“, lobte Öznur Anne für ihren Vorschlag, der für diese wohl ein Schuss in den Ofen war. Verstimmt schüttelte sie den Kopf. „Ich will aber nicht.“

Also packte sich Öznur diejenige, die ihr am nächsten stand. „Dann fahr ich halt mit Nane! Wird sowieso viel lustiger mit ihr an meiner Seite, als mit dir.“

„Ähm Özi-“, setzte Ariane an, wurde aber von Öznurs enthusiastischem „Komm schon Nane, das wird lustig!“ unterbrochen.

„Also Benni, wir fahren nach euch.“
Doch Benni schüttelte den Kopf. „Das ist Geldverschwendung.“

Anne stöhnte auf. „Oller Geizhals.“

„Och bitte, Onkel. Ich will Geisterbahn fahren!“, flehte Johannes in einem herzzerreißenden Ton.

„Jetzt komm schon, Benni!“, forderte Carsten seinen sparsamen, dickköpfigen, besten Freund lachend auf. Doch selbst er konnte Bennis Meinung nicht ändern.

Stattdessen bekam er von ihm gekontert: „Fahr du doch.“

„Ähm… Nein, danke…“, lehnte Carsten verschüchtert ab, aber zum Glück war Johannes flexibel. „Mit dir würde ich auch gerne fahren, schlauer Onkel! Willst du, willst du willst du???!!!??? Bitte?“

Seufzend gab Carsten nach. „Na gut…“

„Juhuuu!“ beschwingt sprang Johannes Carsten um den Hals. „Du bist ein lieber schlauer Onkel!“
„Na ja…“ Carstens Wangen hatten sich rötlich gefärbt, bis er es endlich geschafft hatte, den nun zufrieden gestellten Johannes wieder auf den Boden zu bekommen.

Carsten wandte sich den anderen zu. „Und ihr?“

„Wir werden garantiert nicht warten!“, schnauzte Anne.

„Also ihr Süßen, ich gehe ins Zelt.“, trällerte Lissi.

Anne schnaubte. „Ich nicht.“

„Schön zu wissen, was du alles nicht willst.“, mischte sich nun auch Laura ein.

„Okay, miese Laune mal beiseite. Wie wäre es, wenn wir uns jetzt einfach alle aufteilen und dann in einer Stunde im Zelt treffen? Ich will noch was essen.“, schlug Ariane vor, aber natürlich nicht, ohne sich dadurch einen eigenen Vorteil zu verschaffen. Immerhin damit war jeder einverstanden.
 

„Ich versteh‘ es immer noch nicht. Warum bin ich mit euch gegangen? Warum?!?“, beschwerte sich Anne nun zum x-ten Mal.

Während Lissi ins Zelt gegangen war, Susanne bei irgendeinem Stand noch etwas gucken wollte und sich Ariane, Öznur, Carsten und Johannes zu Tode gruseln wollten, hatten Laura, Janine, Benni und Anne beschlossen, planlos auf dem Markt herumzuwandern und sind natürlich auch allesamt in dieselbe Richtung gegangen.

„Du kannst immer noch gehen. Niemand wird dich daran hindern.“, erwiderte Laura gereizt.

Ich glaube, wir wären alle eher froh. Anne ruiniert die gesamte Atmosphäre.

Na gut, bei der Atmosphäre konnte sich Laura sowieso nichts erhoffen.

Janine war total schüchtern, Laura auch und Benni hasste sie immer noch wegen dem Vorfall mit Chip.

Das knuffige Eichhörnchen mied Laura seitdem übrigens auch so gut es ging…

Als sie deprimiert den Kopf senken wollte, zischte Anne allerdings: „Damit ihr beide dem da schutzlos ausgeliefert seid? Nur über meine Leiche.“

„Soll ich mich über deine Fürsorge nun freuen oder sie als krankhaft ansehen?“, rätselte Janine, überraschend schlagfertig.

„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Benni über uns herfällt?!?“, fragte Laura Anne empört, die natürlich mit einem „Doch.“ antworten musste.

Laura schnaubte. „Selbst wenn, du könntest ihn sowieso nicht aufhalten.“

„Ach ja? Aber du könntest das, oder wie?“, zickte Anne drauf los.

Erschrocken zuckte Laura zusammen, wobei sie sich eingestehen musste, dass sie mit so einer Reaktion von Anne hätte rechnen müssen. Die Besitzerin der Grünen Schlange konnte es einfach nicht ertragen, jemandem unterlegen zu sein. Eine Eigenschaft, die Anne mit Eagle teilte.

„Nein, Anne, du weißt, dass ich das nicht kann. Genauso gut wie jeder andere von uns.“ Überrascht stellte Laura fest, dass sie noch vollkommen beherrscht war.

Im Gegensatz zu Anne. Diese zeigte auf einen dieser komischen Teile, auf die man mit einem Hammer schlug, um seine Stärke sehen zu können. „Beweise es mir.“

Verständlicher Weise brauchte Laura etwas Zeit, um Annes Aussage in dieser ohnehin schon seltsamen Diskussion verstehen zu können.

„Du willst also sehen, wie ich versage…“, folgerte sie langsam.

Anne nickte als Antwort.

„Nur, wenn du danach die Klappe hältst.“, stellte Laura die Bedingung auf und war zufrieden, als Anne diese akzeptierte.

Laura wurde schon oft genug wegen ihrer Schwäche gedemütigt, aber wenn sie dafür für den restlichen Tag ihre Ruhe haben würde, nahm sie das gerne in Kauf. Der Kerl am Stand war der reinste Muskelprotz, schien aber keine antike Begabung zu besitzen.

„Ein Mal.“, forderte Laura ihn auf und drückte ihm den entsprechenden Betrag in die Hand.

„Viel Glück, junge Dame.“, höhnte dieser, ehe er Laura den Hammer gab und sie zuschlug.

Während dem Muskelprotz die Kinnlade herunter fiel, kommentierte Anne nur: „Du hast es noch nicht mal zu dem Strich mit antiker Begabung geschafft. Für einen Normalo mag das ja viel sein, aber für jemanden mit antiker Begabung und das auch noch für das Physische, ist das erbärmlich schwach.“
„Du hast versprochen, nichts mehr zu sagen!“, beschwerte sich Laura. „Außerdem gibt’s halt auch bei solchen wie wir es sind Starke und Schwache. Mit einem Strich zu sagen, ab da besitzt du eine antike Begabung, kann man halt nicht!“

Es hatte den Anschein, als wolle Anne noch etwas erwidern, aber sie blieb endlich still.

„Hey du Hübsche, das war ja ein wahnsinniger Schlag!“, rief der Typ vom gegenüberliegenden Stand Laura zu. Er war ziemlich groß, hatte dunkelbraunes Haar, leuchtende, blaue Augen und sah für einen Besitzer einer Schießbude ziemlich attraktiv aus.

Beschämt kratzte sich Laura am Hinterkopf. Sollte das ein Kompliment sein?

„Ähm, danke…“

Der junge Mann wies Laura an, zu ihm rüber zu kommen, die seine Aufforderung zögernd befolgte.

„Komm her, die fünf Schüsse gehen aufs Haus. Weil du so süß bist.“

Flirtet der mit mir?!, stellte Laura erschrocken fest.

Erst wollte sie einen kurzen Seitenblick auf Benni werfen, hielt sich dann aber doch zurück.

Die Verlockung war zu groß, Benni mal ein bisschen auf diese Art zu ärgern. Wer weiß, wann Laura wieder so eine Gelegenheit hätte. Außerdem würde sie gerne wissen, wie er darauf reagieren würde. Obwohl sie eigentlich wusste, dass ihre Mühen auf eine äußerliche Gefühlsregung völlig vergeblich sein würden.

Er hasst mich ja sowieso…

Laura versuchte trotzdem, sich nichts anmerken zu lassen. „Gerne, vielen Dank.“

„Du musst versuchen, diese Plättchen hier zu treffen. Je nachdem, wie viele du triffst, kannst du dir aus dem entsprechenden Regal etwas aussuchen.“, erklärte der Typ und Laura fiel auch sofort etwas ins Auge: Eine schwarze Mütze mit Katzenohren.

Dummerweise war an dem Regal, in dem sie sich befand, eine fünf ausgeschildert.

Das pack ich doch nie…

Laura atmete tief durch. „Ein Versuch kann ja nicht schaden.“

Der Typ nickte lächelnd und reichte ihr das Gewehr. „Genauso seh‘ ich das auch. Es ist ein recht schweres Modell, aber als Kampfkünstlerin dürfte sich das als kein Problem erweisen.“

Als Laura es ihm abnahm, stellte sie leicht erfreut fest, dass es tatsächlich nicht so schwer war, wie es scheinbar sein müsste.

Der Typ begann ihr zu erklären, wie man es anlegte, um abfeuern zu können und stellte dabei unangenehm viel Körperkontakt her. Laura war negativ überrascht, dass Anne darauf gar nicht reagierte, aber sie nahm sich vermutlich ihre Bedingung zu Herzen, blieb still und amüsierte sich sicherlich insgeheim auch noch über Lauras Lage, während diese sich angestrengt auf die Erklärungen konzentrierte, um sich von anderem abzulenken. Denn es war ihr wirklich mehr als unangenehm. Flirteten die Leute tatsächlich so?! Wenn ja, würde Laura nie wieder in ihrem Leben mit jemandem flirten wollen!

Als der Kerl endlich fertig war, setzte Laura das Gewehr an, wie ihr beschrieben wurde, und zielte auf ein Plättchen.

War das Chip?

Nein, sie hatte es sich garantiert nur eingebildet.

Wieder!
Das war keine Einbildung!

Oder doch?

Ständig tauchte ein kleines, flauschiges, fettes Eichhörnchen als Zielscheibe auf, anstelle des Plättchens. Laura merkte, wie stark ihr Körper zu zittern begann.

Ehe sie etwas tat, das sie am Ende noch bereuen würde, legte Laura schnell das Gewehr ab.

„Tut mir leid… Ich kann das nicht.“ Enttäuscht warf Laura einen Blick auf die Mütze.

Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.

Der Typ bemerkte ihre Enttäuschung über sich selbst und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Schon in Ordnung, aller Anfang ist schwer.“

„Was du nicht sagst.“, gab Laura ihm Recht, als der Typ plötzlich auf Benni zeigte. „Hey du, wie wär’s, wenn du die Schüsse für die junge Dame übernimmst und ihr den Gewinn überlässt?“

„Dann wäre es kein Gewinn mehr.“, erwiderte Benni trocken.

Seufzend schüttelte der Typ den Kopf. „Ist der immer so drauf?“

Nun doch etwas amüsiert kicherte Laura. „Ja, leider. Aber vielen Dank für das Angebot.“

„Kein Problem. Wenn du dich doch noch überwindest, komm ruhig vorbei, das Angebot bleibt bestehen.“, verabschiedete sich der Typ aus der Schießbude von ihnen.
 

~*~
 

„Vielen Dank.“, bedankte sich Susanne bei dem Herrn am Schmuckstand, als dieser ihr das gewünschte silberne Medaillon reichte.

„Ich habe zu danken, junge Dame. Wenn ich fragen darf, für wen ist denn dieses Schmuckstück gedacht?“

„Natürlich dürfen Sie fragen.“, antwortete Susanne offenherzig. „Es ist für meine Schwester. Ich habe irgendwie die Befürchtung, dass wir uns immer weiter auseinanderleben. Da soll sie jedenfalls eine Erinnerung von unserer gemeinsamen Zeit haben.“

Der Herr lächelte sie aufmunternd an. „Ach, junge Dame, glauben Sie mir, darum müssen Sie sich nicht sorgen. Das einzige, dass das starke Band von Geschwistern auseinanderreißen könnte, wäre der Tod und der liegt noch in weiter Entfernung.“

Susanne atmete tief durch. „Ihr habt Recht, manchmal mache ich mir wirklich zu viele Gedanken, dass die Eigenarten meiner Schwester Auswirkungen auf uns haben könnten… Das ist eigentlich gemein, ihr gegenüber. Ich sollte auf sie vertrauen. Auf Wiedersehen und nochmals vielen Dank.“

Susanne war wenige Meter gegangen, als sie hörte: „Hey Süße, wusst‘ ich doch, dass ich dich hier treffe.“

Überrascht drehte sich Susanne um. „Oh, hallo Kaito. Du musst mich mit meiner Schwester verwechselt haben.“

„Oh, deine Schwester ist auch hier? Wo denn? Ich seh sie gar nicht.“
„Sie ist im Zelt. Aber du hast mich vermutlich falsch verstanden…“, versuchte Susanne ihm geduldig zu erklären, dass sie nicht Lissi war.

„Im Zelt! Eine wunderbare Idee! Na? Seh‘ ich dich dort in ‘ner viertel Stunde?“

Susanne gab es auf. „Vermutlich. Ich treffe mich dort gleich mit meiner Schwester und einigen Freunden.“
„Na, dann ist ja prima! Also, bis später.“, meinte Kaito gut gelaunt, packte sie an der Taille, zog sie zu sich und küsste sie.

Auf den Mund.

Mit Zunge.

Dann ging er davon.

Wie vom Blitz getroffen stand Susanne nun da. Das war doch eben nicht wirklich passiert. Das konnte nicht ihr erster Kuss gewesen sein, das durfte er nicht!
Verzweifelt versuchte sie, die Beherrschung wieder zu erlangen. So aufgewühlt, wie sie eben war, konnte sie nicht ins Zelt zu den anderen gehen.
 

~*~
 

Deprimiert saß Laura bei den anderen im Zelt und starrte auf die Cola, die unberührt im Glas umherschwappte. Sie hätte die Mütze nie bekommen, dazu hätte sie jedes Mal treffen müssen. Aber Laura ärgerte sich, dass sie es nicht jedenfalls versucht hatte.

„Tschüss Tante, die Onkel mag!“ Johannes zupfte mehrmals an Lauras Rollkragenpullover, bis sie in die Realität zurückkehrte. „Oh… Hm? Tschüss.“

Kurz darauf war der Kleine auch schon mit seiner Mutter und älteren Schwester verschwunden.

Laura schnaubte empört. „So ein Rotzlöffel.“

Ariane lachte auf. „Wieso? Weil sogar er jene Sache, die nicht zu übersehen ist, erkannt hat?“

Öznur hob mahnend den Zeigefinger. „Er kann damit auch gemeint haben: Tante, die von Onkel gemocht wird.“ Eindringlich schaute sie Benni an. „Sag, gibt es etwas, was der Kleine weiß und wir nicht?“

„So ein Unsinn, er hasst mich doch.“, murmelte Laura betrübt vor sich hin.
Doch Benni schien noch nicht einmal zugehört zu haben, bis er ausdruckslos Öznurs Blick erwiderte.

Janine runzelte besorgt die Stirn. „Alles in Ordnung?“

„Zu viele Menschen auf einem Fleck bekommen ihm nicht so.“, klärte Carsten sie auf.

Ariane schlug auf den Tisch und sorgte dafür, dass Lauras Cola fast überschwappte. Schnell trank sie einige Schlucke, während Ariane meinte: „Dann lenke ich dich und deine hypersensiblen Sinne jetzt mal ein bisschen ab. Also: Ihr wisst ja, dass Öznur und ich in die Geisterbahn sind und es war der totale Horror! Also, es war schon schlimm genug, dass da zu Beginn dieser Typ war und mich fast betatscht hätte, aber die Monster, die da ständig aus dem Nichts auftauchten waren furchtbar! Ich hab mich eigentlich nur auf dem Sitz zusammengekugelt und die Augen zugekniffen.“

Anne lachte auf. „Oh Gott, bist du schreckhaft.“

„Das Beste kommt erst noch.“, warf Öznur ein. „Irgendwie hatte Ariane mal gerufen: ‚Öznur, Öznur! Du hast doch gesagt, das wird lustig!‘, aber das hab ich gar nicht gehört. Dafür sagte plötzlich jemand hinter mir mit Schauerstimme: ‚Öznur, ich weiß, was du gestern Nacht getan hast.‘ Da hab ich vielleicht einen Schreck bekommen.“

„Ahaaa und was hast du gestern Nacht getan? Oder eher: Mit wem?“, fragte Lissi nach, doch Öznur schüttelte amüsiert den Kopf. „Gar nichts und gar keiner. Ich bin erschrocken, weil er meinen Namen kannte. Und du Carsten? Wie war deine Fahrt?“

Anne schnaubte erwartungsgemäß. „Garantiert hat der sich vor Angst ins Hemd gemacht.“

Doch Carsten lachte einfach nur. „Ich habe von der Fahrt selbst rein gar nichts mitbekommen. Johannes war viel fesselnder, wie er bei jedem Monster neu los geschrien und es mit wirklich außergewöhnlichen ‚Schimpfwörtern‘ bombardiert hat. Das Highlight war aber, als wir die Geisterbahn verlassen hatten und er ganz locker meinte: ‚Es war doch gar nicht so schlimm.‘“

Nahezu die ganze Gruppe lachte sich darüber kaputt, außer, wie erwartet, Benni und, wie nicht erwartet, Susanne.

Lissi schaute ihre Schwester ungläubig an. „Susi?“

Doch Susanne antwortete nicht. Stattdessen schien sie sich irgendwie vor irgendwas verstecken zu wollen und sagte zu Lissi nur: „Da ist dein Freund.“

„Susanne? Was ist denn los?“, fragte Janine besorgt.

„Na ja… Kaito hat mich… mit dir verwechselt, Lissi.“

Kritisch runzelte Lissi die Stirn. „Wie ‚verwechselt‘?“

„Ich weiß es nicht…“ Vermutlich unbewusst fuhr sich Susanne über die Lippen.

„Er hat dich geküsst?“, fragte Öznur geschockt.

Susanne brachte lediglich ein Nicken zustande.

„Entschuldigt mich bitte, ihr Lieben.“, trällerte Lissi und stand auf.

Kurz darauf gab es ein Donnerwetter, das Laura noch nicht einmal annähernd je erlebt hatte.

Als Lissi zurückkam, wich sogar Anne ein Stückchen zurück.

„Hast du sofort mit ihm Schluss gemacht?“, erkundigte sich Öznur irritiert.

Lissi zuckte mit den Schultern. „Klar.“

„Warum? Also versteht mich jetzt bitte nicht falsch, aber es kann schon passieren, dass ihr verwechselt werdet.“, hakte Ariane nach, doch Lissi schüttelte den Kopf. „Erstens: Ein Freund kann seine Freundin und deren Zwillingsschwester immer unterscheiden. Jedenfalls sollte er es.“
„Aber es kann doch mal passieren.“ Laura wusste selbst nicht, warum sie Kaito in Schutz nahm. „Lucia und ich wurden damals auch ständig vertauscht und das, obwohl Lucia gesund aussah und lange Haare hatte und ich immer totenbleich mit kurzen Haaren war.“

„Aber sicher nur von Fremden.“, meinte Ariane.

„Nein, auch von Bekannten, Bediensteten, Freunden und Familienmitgliedern. Nur unsere Eltern nicht. Sogar Eufelia-Sensei ist einmal durcheinander gekommen.“

„Aber Benni nicht.“, widersprach Carsten.

„Es ist Benni.“

„Er war zwei Jahre alt und hat euch auseinander halten können. Auch, als ihr noch Babys ward.“

„Woher willst du das wissen? Zu dem Zeitpunkt kanntest du uns noch nicht einmal.“, diskutierte Laura weiter.

„Es ist Benni.“

„Okay Carsten, du siehst ein, dass du peinlicherweise ein Eigentor geschossen hast und du Laura, dass Carsten Recht hat und jetzt seid ihr beiden still! Ich will wissen, was Lissi sonst noch für Thesen hat!“ Auffordernd sah Ariane Lissi an.

„Na ja, zweitens bezweifle ich, dass er uns tatsächlich nur verwechselt hat und drittens, ob verwechselt oder nicht, niemand stiehlt meiner Schwester den ersten Kuss und kommt ungestraft davon!“

Vermutlich war mindestens jeder, der eine Schwester hatte davon gerührt, sogar Anne hob anerkennend die Augenbraue. „Das hätte ich jetzt ehrlich nicht von dir erwartet.“

Öznur klopfte Susanne über den Tisch hinweg auf die Schulter. „So, also jetzt müsstest du doch bald wieder so lachen können, wie früher.“

Ein flüchtiges Lächeln huschte Susanne über die Lippen, ehe sie einen kurzen Blick auf ihre silberne Armbanduhr warf. „Die Läden in der Stadt haben heute doch alle geöffnet, oder?“

Verwirrt nickte Öznur. „Ja, wieso?“

Susanne stand auf. „Ich muss noch etwas erledigen… Entschuldigt mich, wir sehen uns dann später in der Schule.“ Und kurzerhand hatte sie das Zelt verlassen.

Laura kippte ihre Cola runter und stellte das Glas wieder ab. „Ich geh nochmal zur Schießbude. Der Typ meinte ja, dass das Angebot noch immer gelten würde. Ich will unbedingt diese Mütze haben!“

Ariane lachte auf. „Na dann viel Glück.“

„Werd‘ ich auf jeden Fall brauchen.“, meinte Laura und verließ das Zelt. Das Dumme war, dass dieser Stand auf der anderen Seite des Marktes war. Also beschloss Laura, querfeldein zu laufen. Sie kam an eine weite Grasfläche. Laura fühlte sich so befreit, die Luft war herrlich und so matschig das Tauwetter zurzeit auch sein mochte, es duftete wundervoll.
 

Es stank, war ohrenbetäubend laut und rappelvoll. Die stickige Luft schmeckte nach Bier. Die Übelkeit war schon beim Betreten des Zeltes entstanden.
 

Sie rannte über die Wiese, um so schnell wie möglich auf die andere Seite zu kommen.
 

Benni würde am liebsten ganz weit weg rennen.
 

Taumelnd hielt Laura in der Mitte der Wiese an, um wieder Luft zu bekommen.

Meine verfluchte Ausdauer.
 

Dieses verdammte Zelt. Diese verdammten Menschen!

Benni stand auf, er hielt es nicht länger hier drinnen aus.
 

Sie spürte ein Stechen in der Brust, ihr Atem wandelte sich zu keuchendem Husten.
 

Wie ein Blitz zuckte ein kurzer und doch gewaltiger Schmerz durch seinen Kopf. Irgendetwas stimmte nicht.
 

Zitternd sank Laura in die Knie. Sie sah alles doppelt, auf dem nassen Gras erkannte sie Blutflecken.
 

„Benni? Wo willst du hin?“, fragte Carsten. In seiner Stimme zeichnete sich deutliche Sorge ab.
 

Alles wurde schwarz und Laura merkte nur noch, wie sie vornüber kippte.
 

„Auf die Wiese.“, antwortete Benni und verließ das Zelt.
 

Der Rest der Gruppe blieb verwirrt zurück, einige Leute in ihrer Nähe musterten sie noch verwirrter.

Anne schnaubte. „Na toll, musste der Depp so mit seiner Geschwindigkeit protzen? Jetzt werden wir von jedem angegafft.“

Ariane nickte. „Ich kann ja verstehen, dass er es hier drinnen nicht länger aushält, aber das war nun wirklich nicht nötig.“

Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Normalerweise macht Benni so was auch nicht. Es ist etwas passiert. Ist von euch jemand auf dieser Wiese gewesen?“

„Ich Cärstchen. Als Abkürzung zum Zelt.“, meldete sich Lissi.

„Gut, stell sie dir vor.“

„Nein, oooh nein! Ich muss meine Bratwurst noch fertig essen!“, beschwerte sich Ariane, doch kaum war der Kreis geschlossen, verschwanden sie auch schon.
 

Der Markt befand sich außerhalb der Stadt und wegen eines Livekonzerts heute Abend blieb die Wiese frei, nur an einer Seite stand eine gewaltige Bühne.

„Oh nein, was ist denn passiert?!“, rief Ariane erschrocken auf.

Gemeinsam gingen sie zu Benni, der wenige Meter entfernt auf der Wiese kniete und Laura in seinen Armen hielt.

Carsten kniete sich auf die andere Seite und musterte seine beste Freundin besorgt. Dass das wieder ein Anfall war, war offensichtlich, denn sie war totenbleich und aus ihrem Mundwinkel floss eine dünne Blutlinie.

„Hatte sie das eben etwa alleine durchstehen müssen?“, erkundigte sich Janine betroffen.

Carsten nickte. „Scheint so.“

„Du Vollidiot!“, fuhr Ariane Benni energisch an. „Ich dachte, du hast so super Sinne und dann kommst du trotzdem zu spät!?“

„Nane, ganz ruhig.“ Öznur packte Ariane an den Armen, als könne sie damit verhindern, dass Ariane Benni an die Kehle springen wollte.

„Ich soll mich beruhigen?!? Ihr wisst doch, was für eine heiden Angst Laura dabei immer hat und dann war noch nicht einmal jemand von uns für sie da!“

Carsten seufzte. „Das stimmt schon, aber dieses Mal schien sie sehr schnell das Bewusstsein verloren zu haben.“

„Woher willst du das wissen? Folgt jetzt eine Sherlock-Einlage?“

„Anne, dein Sarkasmus ist gerade etwas fehl am Platz.“, kommentierte Öznur Annes Aussage.

Unbeirrt zeigte Carsten auf die Blutlache in ihrer Nähe. „Außer in ihrem Gesicht ist Laura nirgends mit Blut befleckt, wobei sie für gewöhnlich bei starkem Husten die Hände vor das Gesicht hält. Das bedeutet, sie hatte noch nicht einmal die Möglichkeit dazu.“

Anne seufzte. „Ich sag’s doch, Sherlock-Einlage.“

Doch Carsten ignorierte sie. „Ein bisschen erste Hilfe kannst du also doch.“, meinte er zu Benni, welcher eintönig erwiderte: „Ich merke es schon, wenn jemand keine Luft bekommt.“

„Wie ‚keine Luft‘?“, fragte Ariane kritisch.

„Na ja, Laura wäre vermutlich an ihrem Blut erstickt.“

Ariane schauderte. „Dann danke, dass du ihr das Leben gerettet hast… Oder so…“

Doch wie gewohnt reagierte Benni darauf nicht.

Carsten legte seine Hand auf Lauras Stirn und stellte sich wieder hin. „Sie hat vermutlich leichtes Fieber, wir sollten sie zurück in die Schule bringen. Also, hat jemand eine Idee? Denn in den Bus können wir sie so nicht mitnehmen. Ich bin für alles offen.“

Ariane runzelte die Stirn. „Kannst du sie nicht einfach teleportieren?“

„Das kostet Kraft und in Lauras Zustand würde sie das umbringen.“, erinnerte Carsten.

„Und sie sollte so unbemerkt wie möglich in die Schule gebracht werden, oder? Jedenfalls wenn wir uns die Gerüchte ersparen wollen.“, vermutete Anne.

Carsten seufzte. „Ja, am besten. Doch dadurch können wir nicht durch das Haupttor spazieren und um in das Mädchengebäude zu kommen, müssten wir durch den Gemeinschaftsraum…“

Öznur schnippte mit den Fingern, als hätte sie einen Gedankenblitz. „Eagle!“

„Was?!?“, fragte Carsten geschockt.

Nicht der…

Doch leider klang Öznurs Erklärung plausibel. „Als Halbdämon hat Eagle doch Flügel, er könnte Laura also problemlos zur Akademie bringen.“

Janine nickte. „Stimmt. Und Lissis, Susannes und mein Zimmer liegt auf der Waldseite, wir könnten ihn also unbemerkt durch das Fenster ins Mädchenhaus lassen.“

„Du musst ihn nur her teleportieren.“, meinte Öznur.

Die Mädchen schienen vergessen zu haben, welche Beziehung, beherrscht von Hass und Abscheu, Carsten mit seinem Bruder pflegte. Dennoch gab er sich geschlagen. Laura musste so schnell wie möglich in ein warmes Bett, da sollte es an ihm nicht scheitern. Seufzend gab er sich also geschlagen.

„Ich bin gleich wieder da.“, meinte er und verschwand.

Kurz darauf tauchte er vor seinem Elternhaus in Karibera wieder auf. Um ihre Stadt lag eine Magiebarriere, die Carsten nur dann durchbrechen konnte, wenn er nur sich selbst teleportierte oder, wenn der Erschaffer dieser Barriere sie für ihn und die Gruppe passierbar machte. Leider war nicht er dieser Erschaffer, also müsste er im Notfall mit Eagle das Dorf erst verlassen.

Carsten riss die Tür auf und kam an Saya vorbei. „Haben wir irgendwelche Decken, die nicht aus Tierfell bestehen und ist zufälliger Weise Koja in der Nähe?“

Verwirrt musterte Saya ihn. „In meinem Schlafzimmer müsste eine sein und deine Großmutter ist zurzeit bei dem Schamanen auf der anderen Seite des Dorfes, da sie wieder starke Herzrhythmusstörungen hat…“

Ehe sie etwas Weiteres sagen konnte, rannte Carsten in das Schlafzimmer und fand in einem Schrank tatsächlich einen normalen Kolter.

Er rannte an Saya vorbei wieder nach draußen.

„Was ist denn los?“, fragte sie besorgt.

„Eagle erklärt es dir später!“, rief Carsten ihr über die Schulter zu und tauchte kurz darauf bei seiner nächsten Station per Teleport auf: Dem Trainingsplatz.

Eagle hat echt nichts Besseres zu tun, dachte er bei sich, als er seinen Bruder erblickte.

„Eagle, du musst schnell mitkommen!“, forderte er ihn trotzdem atemlos auf.

„Müsstest du nicht in Cor bei deiner ach so tollen Schule sein?“, fragte Eagle kritisch.

„Du musst uns helfen Laura zurück in die Schule zu bringen. Sie hatte einen Anfall.“

Wie erwartetet konterte Eagle nicht mehr. Stattdessen umhüllte ihn eine graue Aura und vor Carsten stand nicht mehr sein Bruder als vermeintlicher Mensch, sondern sein Bruder in seiner wahren Gestalt, als halber Dämon.

„Koja hat die Barriere entschärft?“

Carsten schüttelte den Kopf. „Sie ist beim Schamanen.“

„Dann halt dich fest.“, forderte er Carsten mit seiner mächtig wirkenden Stimme auf, packte ihn und flog mit ihm in die Luft.

„Was soll das?!?“, rief dieser erschrocken.

„Sei still, ich weiß selbst, wie verdammt schwul das aussieht! Aber du musst aus der Barriere raus, um uns teleportieren zu können!“

Natürlich kannte Eagle alle Schwächen von Carsten.

„Wir hätten auch einfach aus dem Dorf rausgehen können!“

„Bei deinem Schneckentempo?! Aber wehe du erzählst jemandem was davon!“

„Das habe ich garantiert nicht vor!“

„Jetzt mach schon!“, forderte Eagle Carsten auf.

Als er spürte, dass sie die Barriere überwunden hatten, teleportierte er sie zurück nach Cor. Nicht zuletzt auch aus dem Grund, dort endlich wieder von Eagles erwürgendem Griff befreit zu sein.

Die Mädchen warteten bereits ungeduldig auf die beiden.

„Na endlich!“, meinte Ariane ruhelos.

„Benni, gib mir deinen Mantel.“, forderte Carsten seinen besten Freund plötzlich auf und nahm ihm Laura ab, sodass er sich ungestört seines Mantels entledigen konnte.

Öznur musterte die Jungs verwirrt. „Wieso?“

„Eagle wird ziemlich hoch fliegen müssen, um von den Menschen hier unentdeckt zu bleiben.“, erklärte Carsten, „Leider ist es dort noch kälter als hier und Bennis Mantel hat wohl von all unseren Jacken die größte Oberfläche.“

Er nahm Benni den Mantel ab, da die Decke alleine höchst wahrscheinlich nicht ausreichen würde. Den durch Bennis Körpertemperatur bereits warmen Mantel legte er um Laura und wärmte die Decke mit seiner Magie auch noch etwas auf, um Laura auch darin einwickeln zu können.

Die nun für den Flug vorbereitete Laura gab er schließlich an Eagle weiter, der sie ihm überraschend behutsam abnahm.

„Aber flieg nicht zu schnell.“, mahnte Carsten seinen Bruder.

Dieser stöhnte auf, als wäre er von seiner Mutter zurechtgewiesen worden. „Ja, ja, ich weiß. Nicht zu schnell, nicht zu hoch aber auch nicht zu langsam oder zu tief. Sag mir lieber, wo ich landen soll.“

„Ich öffne dir ein Fenster zum Wald hin.“, erklärte Janine.

Eagle nickte knapp. „Gut, dann trödelt nicht, denn ich bin garantiert früher da als ihr.“

„Wir teleportieren uns.“, meinte Carsten und streckte Janine und Benni die Hand entgegen, doch im Gegensatz zu Janine nahm Benni sie nicht.

Carsten seufzte verzweifelt. „Jetzt komm schon.“

„Ich komme nach.“, erwiderte er weitaus ruhiger, also gab Carsten Lissi die Hand.

„Und ich werde trotzdem schneller sein.“, murmelte Eagle, doch Carsten war nicht in der Stimmung, etwas Schnippisches zu entgegnen. „Na gut, dann bis gleich und später.“

Etwa zeitgleich verschwand Carsten mit der Gruppe, während Eagle mit Laura in den Armen gen Himmel flog.
 

~*~
 

Als sie wieder im Südwald kurz vor der Akademie waren, wagte Öznur einen Blick nach oben. Wie erwartet und von ihm angekündigt, war Eagle auch schon da und flog in einem Kreis über der Schule. Aus dieser Entfernung wirkte er tatsächlich wie ein Adler auf Beutejagd.

„Los jetzt.“, drängte Carsten den Rest der Gruppe, der es anscheinend Öznur gleich getan und hochgegafft hatte.

Schnell eilten sie über den Campus und die unverschämt vielen Stufen hoch zu Janines Zimmer, in dem sie das Fenster öffneten, durch das Eagle kurz darauf hineinstieg.

„Das wurde aber auch Zeit, ihr Schnecken.“, tadelte er.

„Wie geht es Laura?“, erkundigte sich Carsten, doch Eagle schüttelte den Kopf. „Nicht besser, falls du dir das erhofft hattest.“

Janine öffnete die Tür zum Flur. „Es ist frei.“

Also huschten alle in Lauras und Arianes Zimmer und Öznur konnte nicht anders, als dabei kichern zu müssen. Es hatte auf sie die Wirkung, als würden sie einem Lehrer einen Streich spielen wollen und nicht einer kranken Freundin helfen.

Beschämt biss sie sich auf die Unterlippe, um den Mund zu halten. Das war nicht der richtige Augenblick für so was. Schließlich halfen sie gerade ja wirklich ihrer schwer kranken Freundin…

Carsten kramte Lauras Schlafkimono unter ihrem Kopfkissen hervor und nach einer knappen Handbewegung hatte Laura diesen an, während Carsten ihre schwarzen, durch den Taumatsch nassen Klamotten auf den Schreibtischstuhl legte. In der Zeit bemühte sich Ariane Öznur, Lissi und Anne von ihrem Bett fernzuhalten.

Eagle legte Laura auf ihrem Bett ab und deckte sie zu. „Ich vermute, meine Arbeit ist getan?“

Carsten nickte als Antwort. „Vielen Dank.“

„Dann kannst du mich ja jetzt zurückteleportieren.“

Doch dieses Mal schüttelte Carsten den Kopf. „Flieg doch.“, gab er sarkastisch von sich.

„Wie bitte?!“ Sowohl Eagles Stimme, als auch sein Echo wurden bedrohlich laut. Grob packte er Carsten am Kragen, der von der drohenden Gefahr überraschend unbeeindruckt war. „Denk daran, dass du auf dieser Schule ein Fremder bist. Des Weiteren hat dein Stand hier keine Bedeutung und wenn ich diese Prügelei melden würde, würden die Direktoren oder die Schülervertretung davon Wind bekommen, dass du unerlaubt hier bist/warst. Abgesehen davon schweigt unser Schulsprecher ohnehin nur, weil wir ohne dich Laura nicht so einfach hätten herschaffen können.“

Ein grausiges Licht schien Eagle aufzugehen. „Benedict ist euer… Schulsprecher?“

Carsten nickte.

„Und wenn schon.“ Eagle verstärkte seinen Griff und ballte die Hand zur Faust. „Du hast doch selbst gesagt, da oben sei es scheiß kalt. Ich hab nicht den Nerv dazu, wieder eine so weite Strecke hinter mich bringen zu müssen, wie als ich eurem Schulsprecher“ Öznur konnte nicht glauben, wie höhnisch dieses Wort klingen konnte „das Leben gerettet habe. Das hatte mir herzlichst gereicht.“

Aber Carsten schien noch einen Trumpf im Ärmel zu haben. „Um dich teleportieren zu können müssten wir aus der Magiebarriere raus, die die Schule umgibt. Aber gerade als männlicher Fremder, dessen Oberteil durch die Flügel total zerschlissen ist, kannst du nicht einfach durch die Tür des Mädchenhauses hinaus. Der einzige Ausweg wäre wieder das Fenster, aber du weißt doch über meine Kletterkünste Bescheid und ich kann nicht fliegen, weshalb ich eine gewisse Hilfe bräuchte, wenn du verstehst, was ich meine.“

Öznur konnte sich den Grund nicht erklären, doch Eagle ließ Carsten tatsächlich angewidert los. Er warf noch einen kurzen Blick auf Laura. „Dann geh ich mal.“

„Ich begleite dich noch ins andere Zimmer.“, bot Öznur zuvorkommend an.

Auf dem Flur ging sie wieder rückwärts, um Eagle genauer im Blick behalten zu können.

Dieser schien davon allerdings alles andere als begeistert. „Lauf gefälligst vorwärts, bevor ich dir wieder versehentlich an den Arsch greife, um ihn dir zu retten.“

Öznur zuckte mit den Schultern. „Hier gibt es keine Treppen, die ich runterfallen könnte.“

Unfairer Weise verpasste er ihr einen Gehfehler, dass Öznur mit dem Rücken gegen die Türklinke gestoßen wäre, hätte Eagle sie nicht wieder am Po festgehalten.

„Das war kein Versehen.“, stellte sie erzürnt fest, als vom Nachbarzimmer die Türklinke heruntergedrückt wurde.

Eagle reagierte erstaunlich schnell und schleuste beide ins Zimmer.

Dort verpasste Öznur ihm eine Ohrfeige, damit er sie endlich losließ. „Kein Wunder, dass Laura dich nicht leiden kann. Du bist unerträglich.“

Äußerlich ungerührt öffnete Eagle das Fenster und entfaltete wieder seine mächtigen Schwingen.

Er warf Öznur einen kurzen Blick über die Schulter zu. „Was kann ich dafür, dass du einen so verführerischen Körperbau hast?“

Er stieß sich aus dem Fenster und flog davon, während Öznur nicht wusste, ob sie nun sauer auf den zukünftigen Indigoner-Häuptling sein sollte, oder…
 

~*~
 

Susanne hatte ganz schön Bammel zu den Mädchen zurückzukehren. Dass sie zurück waren wusste Susanne gewiss, denn sie war zeitgleich mit dem Schulsprecher angekommen. Nur, dass dieser allein unterwegs gewesen war. Sie hatte ihn aus dem Busfenster zur Coeur-Academy wandern sehen und sich gewundert, warum er den Mantel nicht mehr trug, den er zuvor noch angehabt hatte. Doch als Susanne aus dem Bus gestiegen war, war er verschwunden. Sie warf einen kurzen Blick auf das Mädchenhaus und ging nahezu automatisch in die andere Richtung, am Jungenhaus und dem Gebäude mit den Büros und dem Krankenzimmer vorbei, zu der gewaltigen Sportanlage. Auch diese überquerte sie, bis sie zu den Stallungen der Schule kam.

Es war, wie als wollten die Einhörner sie mit ihrem Wiehern begrüßen, als Susanne eintrat und den Weg zwischen den Boxen entlang ging, bis sie fand, was sie suchte.

Oder eher instinktiv gesucht hatte.

Benni hatte seinen Kopf auf den Hals eines schwarzen, glänzenden Einhorns gelegt und schien zu schlafen. Das Einhorn, das neben ihm ‚kniete‘ tat es ihm gleich, nur Chip kraxelte wie immer gut gelaunt auf ihm herum.

‚Flicka‘ wie sie auf der Boxen-Tür lesen konnte, die sie öffnete, um einzutreten.

Benni öffnete die Augen und erwiderte ihren Blick. „Du hast dir die Haare schneiden lassen.“

„Und du wirkst keinesfalls überrascht.“, entgegnete Susanne. „Darf ich mich setzen?“

Hinter Benni schnaubte das Einhorn Flicka.

„Tu dir keinen Zwang an.“, übersetzte er.

Also setzte sich Susanne gegenüber Benni in das saubere, duftende Stroh.

„Es ist so schön hier… Nahezu idyllisch. Danke, dass du mir Asyl gewährst.“ Sie lachte verlegen auf.

„Wieso?“

„Warum es so schön ist?“

„Das weiß ich selbst. Weshalb gewähre ich dir Asyl?“

Susanne kicherte. „Ariane hat Recht, du hast tatsächlich Humor. Nun ja… Die Mädchen werden vermutlich ein Theater veranstalten, wenn sie mich sehen.“

„Wegen dem vorhin?“

Susanne verstand nicht, was die anderen meinten. Man konnte sich eigentlich nahezu hervorragend mit Benni unterhalten, auch wenn er sichtlich keine Kenntnisse über das weibliche Geschlecht hatte.

„Vielleicht auch deshalb.“, sinnierte sie. „Aber nun eher wegen dem Haarschnitt.“

Auf Bennis fragenden Blick hin meinte sie: „Du kannst es als Eigenart einiger Mädchen sehen. Wenn jemand lange Haare hatte und sie sich dann kurz schneidet gilt das als eine Sünde. Vermutlich werde ich jetzt als hässlich abgestuft.“

Er richtete sich auf und musterte Susanne mit einem fast unheimlichen Blick. „Wieso hässlich? Die Frisur steht dir.“

Susanne bemühte sich, nicht zu erröten. Der Schulsprecher, der berühmt berüchtigte eiskalte Engel hatte ihr doch nicht ernsthaft eben ein Kompliment gemacht?

„Das sagst du doch sicher nur, weil du wegen… diesem Vorfall… Mitleid mit mir hast.“

Doch Benni schüttelte den Kopf. „Adica sincer.“

Rumänisch? Susanne wurde doch noch überrascht, aber Ariane hatte ja auch von Bennis Sprachtalent erzählt. Aber ihre wenigen Kenntnisse in Rumänisch halfen ihr immerhin, seinen Satz zu übersetzen. ‚Ich meine es ehrlich.‘

„Dann… Danke…“

„Du bist wie Carsten.“, meinte Benni seufzend.

Susanne lachte nun endgültig verlegen auf. „Irgendwie schon, stimmt.“

„Eure Selbstzweifel sind hinfällig.“

Susanne konnte ihren Ohren nun gar nicht mehr trauen.

Wer bist du und was hast du mit unserem Schulsprecher gemacht?

Na gut, sie war sich zwar sicher gewesen, dass Benni auch freundlich sein konnte, sonst wäre es weniger verständlich, dass er Schulsprecher war. Aber dass er so nett war haute Susanne um.

„Und du wirst vollkommen falsch eingeschätzt.“ Sie stellte sich wieder hin. „Dann wage ich mich mal in die Höhle des Löwen und… ähm… ich danke dir, für das Gespräch.“

„Moment.“, hielt Benni sie zurück. „Kannst du die Laura geben, wenn sie wieder wach ist?“

Er reichte Susanne etwas aus Stoff.

„Die Mütze?“, bemerkte Susanne lachend. „Aber… Aufgewacht… Bedeutet das, sie hatte wieder einen Anfall?“

Benni nickte. „Sag ihr aber bitte nicht, dass sie von mir ist.“

Verwirrt schaute Susanne ihn an. „Wieso nicht?“

„Das ist kompliziert.“

„Nein, ich glaube eher, du bist dir nicht im Klaren, was du für Laura empfindest. Aber denke auch mal daran: Ob sie im Mai nun sterben wird oder nicht, du kannst sie nicht so quälen. Ich kann dir also nicht versprechen, ob ich dich nun erwähne oder nicht. Aber sie wird die Mütze bekommen, sei ganz versichert.“ Susanne warf ihm ein flüchtiges Lächeln zu und verließ den Stall.
 

~*~
 

„Leute, es ist schrecklich! Seht mal!“ Wie als wäre eine Horde Unterweltler hinter ihr her, kam Öznur ins Zimmer gestürmt und zog Susanne mit sich.

Ariane fiel die Kinnlade herunter. „Du hast dir die Haare geschnitten? So plötzlich?!“

Susanne seufzte. „Ich will einfach nicht, dass so etwas noch einmal passiert. Klar, dass Kaito die Verwechslung nur vorgetäuscht haben könnte. Aber bei den ganzen Affären, die sich bei Lissi wahrscheinlich noch anhäufen werden, will ich kein Risiko mehr eingehen.“

„Aber Susi… Wenn dir die Frisur gefällt ist das natürlich eine andere Sache aber du mochtest deine langen Haare doch so.“, meinte Janine betroffen, „Du solltest dein Aussehen nicht davon beeinflussen lassen, weil es in dieser Welt Menschen gibt, die…“

Öznur nickte. „Lissis Lovern zu entkommen, indem du dich unscheinbar machst… Das ist keine gute Alternative.“

„Benni meinte, die Frisur steht mir!“, verteidigte sich Susanne.

Ariane winkte ab. „Es ist Benni- … Einen Augenblick… Benni?!? Unser eiskalter Engel hat dir ein Kompliment gemacht?!?“

Lissi fiel ihrer Schwester um den Hals. „Du meine Güte, Susi!“

Doch Anne schnaubte, wie immer kritisch. „Der hatte garantiert nur Mitleid mit dir.“

„Er hat mir versichert, dass das nicht der Fall ist und er es ehrlich meint.“, erwiderte Susanne.

Anne zuckte mit den Schultern. „Als Goth steht man halt auf schwarze Haare.“

„Okay Leute, es reicht.“, kam Carsten zum ersten Mal zu Wort. „Es kann ja sein, dass wir Bennis Vorliebe für schwarz nicht gerade teilen, aber ihr müsst zugeben, dass er schon einen guten Geschmack hat. Susannes Frisur ist zwar ziemlich ungewohnt, aber sie passt zu ihr. Wenn für euch die Meinung eines Jungen so aussagekräftig ist: Ich finde auch, dass dir die Frisur gut steht.“

Da darauf irgendwie keiner etwas erwiderte, meinte Carsten noch: „Mindestens einer von uns sollte bei Laura sein, damit sie nicht alleine ist, falls sie aufwacht.“
 

~*~
 

Die Mädchen folgten Carstens Rat und so saß auch während der Unterrichtszeit immer jemand, mit Ausnahme von Benni, bei Laura und hielt an ihrem Bett regelrecht Wache. Carsten und Susanne machten dies von allen natürlich am meisten, da sie die geringsten Schwierigkeiten hatten, den Stoff aufzuholen und sich außerdem als Schulsanitäter am ehesten abseilen konnten. Die Lehrer wussten zwar Bescheid, aber nicht alle Schüler konnten den Grund nachvollziehen.

Eben war Janine an der Reihe, die während ihrer Schicht eine Lektüre für Deutsch las, um nicht komplett die Zeit zu verschwenden. Doch sie konnte sich einfach nicht auf den Inhalt konzentrieren. Es waren bereits vier Tage vergangen, die Laura gnadenlos durchgeschlafen hatte. Das war kein gutes Zeichen…

Janine schreckte auf.

Hatte sich Laura eben bewegt?

Blinzelnd und zögernd öffnete Laura die Augen. Ihr Blick war beängstigend trüb und leer.

„Wo bin ich?“, fragte sie matt.

„In der Coeur-Academy.“, antwortete Janine. „Wenn du willst, hole ich schnell Carsten-“ Janine wollte bereits aufstehen, als Lauras panisches „Nein!“ sie zurückhielt.

„Geh nicht weg, bitte! Ich will nicht alleine sein!“, flehte sie und versuchte, Janine am Arm zu packen, doch auf halbem Weg versagte ihre Kraft. Zum Glück erlöste das Läuten zur Mittagspause Janine. Sie kniete sich vor Laura ans Bett und nahm ihre Hand in ihre eigene. Eine Geste, die sie schmerzhaft an ihre Kindheit erinnerte. „Ich gehe nicht weg, keine Angst. Und die anderen kommen sicher auch gleich.“

Fünf Minuten später kam der Rest der Gruppe in das Zimmer, alle samt mit Tabletts bewaffnet, auf denen sich etwas zu essen befand. Ihre Miene erhellte sich, als sie sahen, dass Laura endlich aufgewacht war.

Carsten stellte sein Tablett auf dem Tisch ab und setzte sich zu ihr aufs Bett. „Wie geht es dir?“

„Wie lange hab ich geschlafen?“

„Vier Tage…“, antwortete Carsten langsam.

„Dann vermutlich richtig schlecht…“ Wie vom Donner gerührt schrak Laura hoch. „Meine Eltern!“

Carsten packte sie an den Schultern und drückte sie zurück in die Kissen. „Sie wissen Bescheid.“

Laura schloss die Augen, als wolle sie dieses Problem vorerst verdrängen.

„Du musst etwas essen.“, meinte Carsten, aber Laura drehte den Kopf zur Seite. „Keinen Appetit.“

Überraschenderweise erwiderte Carsten nichts, sondern setzte sich an den Tisch, um selbst etwas essen zu können.

„Geht ihr jetzt alle wieder in den Unterricht und lasst mich alleine?“, fragte Laura fünf Minuten vor Pausenende.

Die Gruppe schaute sich an, jeder mit gemischten Gefühlen kämpfend.

„Zur Zeit kann dir nichts passieren.“, antwortete Susanne schließlich.

Laura vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen. „Also lasst ihr mich alleine.“

Kopfschüttelnd drückte Susanne Laura eine Mütze in die Hand. „Du bist nie allein.“

Ungläubig schaute Laura zwischen Susanne und der Mütze hin und her. „Wie hast du das geschafft?“

Susanne lachte auf. „Ich hätte es wohl nie geschafft. Die hat dir dein Schutzengel besorgt.“

Laura runzelte die Stirn. „Ich habe keinen Schutzengel. Wenn ich einen hätte, dann…“, meinte sie bedrückt.

„Oh doch, den hast du. Schutzengel agieren immer nur im Verborgenen, aber du weißt, wenn es hart auf hart kommt, sind sie für dich da. Und du kannst dich auf deinen Schutzengel verlassen. Deshalb bist du nie allein.“ Susanne drückte kurz Lauras Hand und wies die anderen an, ihr nach draußen zu folgen.
 

„Wann denkt ihr, kommt sie dahinter?“, fragte sie in die Runde, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.

„So wie Laura zurzeit neben der Spur ist, dauert das wohl noch eine Weile.“, stellte Ariane seufzend fest. „Aber ich war überrascht, was für einen Sinn deine Aussage tatsächlich macht. Auch wenn sich mir bei dem Gedanken alle Härchen aufstellen, irgendwie ist er tatsächlich etwas in der Art, wie Lauras Schutzengel.“

Carsten seufzte. „Wobei ich mir zurzeit Sorgen um unseren ‚Schutzengel‘ mache. Er wirkt irgendwie… übermüdet…“

„Frag ihn doch einfach, was los ist.“, schlug Öznur vor. „Mit dir und seit neustem auch Susanne redet er ja.“

„Aber ich sehe ihn so gut wie nie…“ Bedrückt schüttelte Carsten den Kopf. „Ich mache mir wirklich Sorgen um Benni… Etwas stimmt nicht mit ihm.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Regina_Regenbogen
2020-08-06T20:33:22+00:00 06.08.2020 22:33
Ich finde es schön, dass in diesem Kapitel Susanne mehr in den Mittelpunkt kam. Ich mag sie sehr, aber sie geht meistens etwas unter. Auch wenn der Anlass mit ihrem gestohlenen ersten Kuss natürlich sehr unschön war. Es war lieb, dass Benni so offen mit ihr geredet hat. Da sie irgendwie die einzige ist, die (abgesehen von Anne) nicht auf ihn steht oder denkt, wie gut er aussieht, ist es auch verständlich, dass er nur ihr gegenüber so freundlich ist. Und sie ist auch die einzige, außer Carsten, die Bennis Gefühle für Laura erkennt. Ich fand es voll schön, wie sie das Laura erklärt hat.
Es ist auch traurig, dass sie denkt, dass Lissi sich von ihr entfernt. Und Benni hat Recht, sie ist so unsicher wie Carsten. Ich mag diese beiden lieben, vernünftigen Unsicheren.
Dass Laura so einen heftigen Anfall hatte, ist wirklich besorgniserregend. Und Eagle ist so unreif. *Augen verdreh*
Johannes hat echt extrem viel Energie.
Wie zum Henker kommt Laura auf die Idee, dass der Bus zu einem Monster wird? XD Das war so lustig.
Antwort von:  RukaHimenoshi
08.08.2020 14:00
Ja, Susanne vernachlässige ich insgesamt leider viel zu sehr, obwohl sie doch so eine gute, liebe Person ist. :(
Lauras Fähigkeiten sich in Sachen reinzusteigern haben hier halt ihr volles Ausmaß angenommen. X'D Andererseits, wenn die große Liebe schon von Wein vergiftet wurde, sich man selbst schon häufiger in gefährlichen Situationen wiedergefunden hat (bzw. ohnehin davon ausgeht nicht mehr lange zu leben) PLUS an einer Schule für Kampfkünstler und Magier ist... So ganz abwegig ist der Gedanke da eigentlich nicht. :'D
Antwort von:  Regina_Regenbogen
09.08.2020 02:09
Da hast du wohl Recht. Auf jeden Fall war es superlustig, wie Laura sich angestellt hat. Echt niedlich.
Die ruhigen Charaktere gehen leider schnell unter. Obwohl sie so wichtig sind, drängen sie sich halt nie in den Vordergrund, und so nehmen die lauten Charaktere eben den meisten Platz ein. Manchmal muss dann erst jemand mit ihnen interagieren oder etwas Bestimmtes passieren, damit sie strahlen können. :)


Zurück