Zum Inhalt der Seite

Demon Girls & Boys

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Harte Schale weicher Kern

  Harte Schale weicher Kern

 

 

 

„Boah ey, die regt mich so auf!!!“

Mit halbem Ohr, hörte Laura Öznur zu, die aus irgendeinem Grund über Frau Reklöv, ihre Chemielehrerin, schimpfte. Irgendwie war sie mit den Gedanken woanders gewesen.

„Wie kann die uns nur jede Woche abfragen wollen? Ich hab außer dieser Schule noch ein Privatleben und habe nicht vor, am Valentinstag zu büffeln.“, setzte Öznur ihre Schimpftirade fort.

Ach ja, genau. Heute war ja Valentinstag. Kein Wunder, dass Lauras Gedanken bei diesem Thema die Fliege machten. Sie wusste genauso gut wie jeder andere an diesem Tisch, dass Benni kaum Zeit für Freunde oder gar eine feste Freundin hatte, da er als Schulsprecher viel Extraarbeit hatte. So wie heute auch. Es war Valentinstag und er saß da in dem Schülervertretungsraum und kümmerte sich um weiß Gott was, während die anderen Schüler nach der sechsten Stunde Schluss hatten.

Aber gleichzeitig war diese Erklärung auch nur eine Ausrede… Eine Flucht vor der Tatsache, dass Benni wahrscheinlich überhaupt kein Interesse an einer Beziehung hatte. Mit niemandem und schon gar nicht mit…

„Wir haben sie doch erst in der dritten und vierten Stunde. Du könntest in der Pause davor lernen.“, schlug Carsten in seinem herzzerreißend freundlichen Ton vor.

Laura musterte ihren Sandkastenfreund. Carsten hatte sich scheinbar ziemlich schnell von diesem Militärinternat erholt. Seine Hautfarbe hatte wieder den gesunden Braunton und sein einst magerer Körper war zwar nach wie vor schlank, sah nun aber endlich nicht mehr wie ein Skelett mit Haut aus.

Laura war unglaublich froh, ihren besten Freund wieder so lebensfroh und munter neben sich am Esstisch sitzen zu sehen. Sie hatte ihn diese sechs Jahre so sehr vermisst und als sie ihn an jenem Tag dann endlich wieder getroffen hatte, sah er eher aus, als wäre er aus einer Folterkammer gekommen.

Grummelnd entgegnete Öznur: „Ja, klar. Als könnte ich den Stoff in zwanzig Minuten kapieren, wenn ich ihn noch nicht mal nach zwei Stunden verstanden hab.“

„Was verstehst du denn nicht?“, fragte Carsten geduldig.

„Alles!!!“, entgegnete Öznur und es klang wie ein verzweifelter Hilfeschrei. „Ich weiß ja noch nicht mal, was wir überhaupt für ein Thema haben.“

Anne lachte. „Hat es zufälliger Weise etwas mit Redoxreaktionen zu tun?“

Öznurs Augen wurden noch größer, als sie zuvor schon waren. „Woher weißt du denn das?“

Auch Ariane kicherte. „Vielleicht, weil wir auch Frau Reklöv in Chemie haben? Wir müssen ihre Zufallsabfragen auch überleben.“

Öznur verdrehte die Augen und sah selbst mit dieser Mimik noch unglaublich attraktiv und elegant aus. „Wow, was für ein Zufallsgenerator, “, blaffte sie. „Wen nehme ich nun dran, Öznur oder Fräulein Albayrak?“

Carsten schüttelte den Kopf. „Laura hat einen schlechten Einfluss auf dich. So pessimistisch musst du auch nun wieder nicht denken.“

Protestierend hob Laura die Gabel über ihren Kopf. „Ich bin nicht so pessimistisch! Ich kann doch nichts dafür, dass ich bald sterbe oder dass mein Leben an sich beschissen ist!“

Carsten seufzte. „Ich sag’s doch. So pessimistisch muss man auch nun wieder nicht sein.“

„Der Direktor hat schon Recht, was die Finsternis-Energie Beherrscher betrifft. Immer müssen sie schwarzsehen.“, stimmte Susanne ihm zu und strich sich eine ihrer wunderschönen gewellten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Wie gerne hätte Laura auch so schwarze Haare.

Ariane umarmte Laura und drückte sie dabei so fest an sich, dass ihr die Luftwege zugepresst wurden. „Ach Laura, dein Leben ist nicht beschissen! Immerhin hast du doch uns!“

„Mag sein, Nane. Aber wenn ich euch schon habe, dann würde ich doch gerne noch ein Weilchen am Leben bleiben.“, entgegnete Laura mit einer leichten Schwierigkeit beim Sprechen.

Kichernd befreite Ariane Laura wieder aus ihrer Klammerumarmung. Sie gehörte neben Anne zu den körperlich stärksten der Mädchen und wohl auch aller Mädchen dieser Schule und schien ihre Kraft noch nicht ganz einschätzen zu können.

Doch auch wenn Ariane Laura tatsächlich etwas optimistischer denken ließ, hatte sie nichts zu ihrem baldigen Tod geäußert. Was Laura schon etwas kränkte, auch wenn sie ihr keine Vorwürfe machen konnte. Sie war sich sicher, dass jeder der sie kannte und davon wusste so dachte. Bei Carsten und Benni war sie sich nicht ganz so sicher. Aber Benni war, wie Susanne schon sagte, ein Finsternis-Energie Beherrscher und ein richtiger Vorzeigepessimist und Carsten heiterte sie zwar immer auf, widersprach Lauras Zukunftsvorstellungen aber nicht.

Seufzend beschloss Laura, sich zu vergewissern. Sie holte tief Luft und fragte: „Denkt ihr wirklich, dass der Schwarze Löwe so entscheiden wird, dass es mir das Leben kosten wird?“

Eine ungemütliche Stille breitete sich aus. Das Tellergeklapper und Stimmengewirr im Turm schien in die Ferne gerückt zu sein.

Laura beobachtete ihre Freunde, einen nach dem anderen.

Ariane neben ihr gab sich große Mühe, ein nicht mundgeeignetes Stück ihres Steaks zu kauen. Janine betrachtete das Essen auf ihrem Teller und zwirbelte an einer ihrer strahlend blonden Strähnen. Susanne wich ihrem Blick verlegen aus. Lissi musterte ihren Nagellack, wobei sie das ganze wohl überhaupt nicht mitbekommen hatte, da sie Laura erst fragend und dann Lissi-typisch ansah. Anne erklärte Öznur Chemie und Carsten fuhr sich schweigend über die Narben auf seiner Nase.

Laura hatte nicht vorgehabt, alle in so eine unangenehme Situation zu bringen. Niemandem machte sie Vorwürfe, immerhin dachte sie selbst ja auch so.

Schließlich ergriff Carsten das Wort, um das nicht enden wollende Schweigen zu brechen. Er seufzte. „Ich weiß es nicht. Aber es stimmt schon, es ist leichter, das Schlimmste zu erwarten, als optimistisch in die Zukunft zu schauen, in der Angst vielleicht doch enttäuscht zu werden…“

Öznur nickte. „Ja, so kann man es sagen. Niemand möchte am Ende enttäuscht werden, deshalb-“

„Deshalb geht ihr bei mir auch auf Abstand, oder? Ihr wollt mich nicht allzu sehr mögen, damit ihr dann nicht so traurig seid, oder?“, beendete Laura ihren Satz.

Wieder kehrte eine ungemütliche Stille ein. Laura wusste, dass es so war. Anders konnte es nicht sein. Und das beschämte Schweigen der Anderen bestätigte ihre Ansicht.

Carsten knirschte mit den Zähnen. „Hör mal…“, setzte er an, schien die richtigen Worte allerdings nicht finden zu können.

Seufzend stand Laura auf. „Es tut mir leid, ich wollte euch nicht so vor’s Gericht ziehen… Vergesst das eben einfach, ja?“ Dann ging sie.

 

Leise vor sich hin fluchend stapfte Laura zurück in ihr Zimmer in das Mädchengebäude, aber nur, um ihr Schulzeug zu holen und dann für die Hausaufgaben in die Bücherei zu verschwinden. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?! Sie hätte echt die Klappe halten sollen. Das war einfach unfair gewesen.

Wie sonst auch, stolperte sie über eine Wurzel, wenn sie sich nicht auf den Weg konzentrierte. Ein etwas vulgärer Fluch lag auf ihren Lippen, als sie sich aufrichtete und merkte, dass sie sich ihr Knie aufgeschlagen hatte. Aber da sie eine gute Erziehung genossen hatte, blieb er in ihren Gedanken.

Traurig blickte Laura den mittelalterlichen Bücherturm hinauf, der im Wald versteckt abseits der Schulgebäude lag. Das Gemäuer war alt und mit Ranken überwuchert, wirkte aber trotzdem oder vielleicht auch genau deswegen edel und anmutig.

Hausaufgaben in einem Meer aus Büchern und alten Schriften. Toller Valentinstag. … Eigentlich klang es tatsächlich toll, würde man das Wort ‚Hausaufgaben‘ weglassen, stellte Laura fest.

 

Gerade als Laura mal wieder der Quadratischen Ergänzung drohte, sie solle doch einfacher sein, sonst nehme sie sich den Erfinder dieses Schwachsinns vor, tippte von hinten ein dunkler Finger auf die Aufgabe. „+0,25 –0,25. Du musst erst die Binomische Formel ergänzen, und dann den ergänzten Wert wieder abziehen, damit du an der Gleichung an sich nichts veränderst.“

Überrascht drehte sich Laura zu Carsten um, doch der setzte sich wortlos auf den Stuhl neben sie und beobachtete, wie Laura die Aufgabe fertig rechnete.

Laura gefiel es nicht, dass ein Musterschüler sie bei der Arbeit beobachtete. Sie müsste sich gerade ja völlig blamiert haben. Voller Unbehagen rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her und klappte schließlich ihr Rechenheft zu.

„Was willst du?“, fragte sie Carsten. Zu ihrer Erleichterung klang ihre Stimme so normal, wie sie sich eigentlich kein bisschen fühlte.

Falls Carsten ihre Unsicherheit tatsächlich gehört hatte, dann ließ er sich das nicht wirklich anmerken. Aber er klang auch nicht so unbeschwert wie sonst, als er fragte: „Hast du vielleicht Lust mit in die Stadt zu kommen? Oder willst du den ganzen Tag über im Dunklen hocken?“

Als Laura nichts erwiderte, seufzte er. „Dann mach doch wenigstens ein Licht an. Das ist nicht gut für deine Augen.“

„Ach, warum machst du dir denn Sorgen um meine Gesundheit? Ob ich ein paar Monate früher oder später sterbe, macht nun auch keinen Unterschied mehr.“ Innerlich schallte sich Laura für diese Aussage. Sie war ihr einfach über die Lippen gerutscht. So viel zum Thema Verständnis…

„Wenn du nochmal sowas sagst, überlege ich mir meine pazifistischen Prinzipien noch einmal.“, stieß Carsten zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Es macht sehr wohl einen Unterschied, wann du stirbst, und sei es auch nur um ein paar Minuten.“

Unsanft biss sich Laura auf ihre Zunge, die ohne ihre Erlaubnis zu arbeiten schien. „Tut mir leid…“, brachte sie schließlich hervor.

„Schon gut.“ Verlegen fuhr sich Carsten mit der gesamten Hand über seine Narben. Es war eine typische Geste von ihm und dabei sah er immer und immer wieder zuckersüß aus. Auch wenn es sadistisch klingen mag, die Narben standen ihm verdammt gut.

„Warum willst du denn in die Stadt?“, fragte Laura, um das bevorstehende Schweigen zu verhindern.

„Hm… lass mal überlegen… Ich habe in den letzten Jahren nur das triste Grau meiner ehemaligen Schule gesehen… Ist ja nicht so, dass ich da mal eine andere Umgebung erkundschaften will.“, meinte er sarkastisch und grinste Laura so an, dass seine strahlend weißen Zähne glänzten.

Laura lachte. Natürlich schaffte er es immer noch, sie aufzumuntern. Immerhin hatte er darin auch jahrelange Erfahrung. „Na gut, ich komm mit.“

Ihre Zusage brachte mit einem Schlag ein begeistertes Strahlen in seinen Gesichtsausdruck. „Das ist schön. Endlich können wir zu dritt mal wieder einen Ausflug machen.“

Laura hörte abrupt mit dem Lachen auf. „Zu dritt?“

Achselzuckend entgegnete Carsten: „Klar, was hast du denn anderes erwartet? Benni muss unbedingt mal wieder unter Menschen kommen. Der lebt zurzeit ja noch abgeschotteter als ich in den letzten sechs Jahren.“

Unruhig rubbelte Laura ihren Arm. Mit einem Schlag war ihr eiskalt und kochend heiß zur selben Zeit geworden. Benni mied sie immer noch so gut es ging und sogar in den Sportstunden, die sie gemeinsam hatten, blieb er abgesondert. Carsten hatte schon Recht, ihm täte so ein Ausflug in die Stadt mal ganz gut. Aber würde er sie dann nicht auch weiterhin links liegen lassen? Das war noch schlimmer, als sein kalter Blick, mit dem er sie immer angesehen hatte zu Beginn des Schuljahres.

Als habe er ihre Gedanken gelesen, seufzte Carsten. „Ich dachte, zwischen euch sei wieder alles in Ordnung.“

Traurig senkte Laura den Blick. „Von wegen, er behandelt mich wie einen Kochtopf. Ich bin ihm völlig schnuppe.“

Carsten lachte. „Das kann nicht sein. Kochtöpfe würde er einen nach dem anderen in Stücke hacken, wenn er dann nicht für den Schaden aufkommen müsste.“

Laura lächelte, doch ihre Augen erreichte es nicht. „Du übertreibst. Er macht einen großen Bogen um sie, genauso wie bei mir zurzeit.“

Nun senkte auch Carsten den Kopf. „Wenn man überhaupt keine Gefühle entgegengebracht bekommt, dann ist das manchmal sogar noch schlimmer als wenn man unschöne Emotionen zu spüren kriegt, oder?“

Und da war sie wieder, die ungemütliche Stille. Besonders in der unendlichen Ruhe der Bücherei kam sie sehr gut zur Geltung.

Laura verstand Carstens Aussage. Er hatte alle möglichen Emotionen zu spüren bekommen. Da war der Hass, von seinem Bruder auf ihn, die verzweifelte Zuneigung seiner Mutter, der Spott seiner kleinen Schwester, die freundschaftlichen Gefühle von ihr und wahrscheinlich auch Benni und den ach so großen Interesse seines Vaters, wie wenn Lissi eine Klassenarbeit betrachtet.

So trostlose Gespräche kamen wenn, dann nur selten zwischen den beiden vor und nun lag es an Laura, Carsten etwas glücklicher zu machen. „Ich ziehe mich schnell um, dann können wir losgehen. Das Schlimmste wäre eh, wenn mein Cousin hier auftauchen würde.“ Oh ja, das wäre tatsächlich viel schlimmer.

Genauso wie vorhin bei Laura, erreichte sein schwaches Lächeln nicht, dass seine Augen mitstrahlen konnten.

Laura schnappte ihre Schulsachen und lief schnellen Schrittes zurück in das Mädchenwohnheim. Vielleicht würde es ja auch gar nicht so schlimm werden, wie sie es erwartete. Abgesehen davon würde sie schon gerne wissen, wie Carsten es geschafft hatte, Benni zu überreden. Mit denselben Argumenten wie bei ihr? Unwahrscheinlich.

In ihrem Zimmer traf sie auf Ariane, die von ihrem Bett aus fernsah.

Als sie aufsah und Laura erblickte, schien ihr Gesichtsausdruck für den Bruchteil eines Herzschlags etwas planlos, doch dann schaltete sie mit der Fernbedienung auf Pause und kam auf Laura zugestürmt.

„Da ist ja unsere Zitrone! Wir haben uns schon gefragt, ob du überhaupt wieder hier auftauchst.“

Laura überraschte immer noch diese Geschwindigkeit und unglaubliche Kraft, mit der Ariane sie kurz an sich drückte. Vermutlich typisch Weißer Hai.

Trotz der Früchteart, mit der Ariane Laura beschrieben hatte, musste sie nach Luft schnappend grinsen, bevor sie es schaffte sich aus dem Griff zu befreien.

„Ich war in der Bücherei.“, erklärte sie, während sie ihren Kleiderschrank nach etwas sowohl warmem, als auch hübschem durchsuchte. „Dann kam Carsten vorbei und wollte wissen, ob ich mit in die Stadt komme.“

Ariane gab einen empörten Laut von sich. „Also Laura, das geht jetzt aber echt nicht!“

Laura hielt bei einem ihrer Miniröcke inne. „Wieso nicht? Wir schreiben in dieser Woche doch keine Arbeit mehr.“

Laura hörte ein klatschendes Geräusch, was sie als einen Schlag auf die Stirn interpretierte. „Das mein ich nicht! Und außerdem schreiben wir am Freitag Chemie. Da sieht man wieder, wie hass erweckend Frau Reklöv ist. Aber was ich meine ist: Wir haben uns alle schon darauf geeinigt, dass wir den eisk- Verdammt, ich meine Benni, dir überlassen. Okeee, in Ausnahme von Lissi, die das noch nicht ganz bis kein bisschen kapiert zu haben scheint… und wohl nie kapieren wird… Aber jetzt auch noch Carsten? Das geht zu weit du Kirsche.“

Laura lachte auf. „Keine Sorge, ich glaube Carsten will sowieso versuchen, Amor zu spielen und Benni und mich wieder in Einklang zu bringen.“

Ariane ließ sich wieder auf ihr Bett plumpsen. „Süß ist er schon…“

Laura zog den Rock, bei dem sie innegehalten hatte raus. „Ahaaaaaaaa. Das klingt ziemlich eindeutig.“

Ariane lachte auf, und sofort wurde es Laura warm ums Herz, als täten sich nach einem kalten Regenschauer die Wolken auf und sie stünde mitten in strahlendem Sonnenschein. Ariane schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Carsten ist ein total lieber, herzlicher Mensch. So viel steht fest. Aber ich weiß echt nicht, ob er mein Typ wäre.“

„Was wäre denn dein Typ?“, fragte Laura und zog einen Pulli und ihre Lieblingsjacke aus dem Schrank. Zusammen mit Overkneestrümpfen und einer hautfarbenen Strumpfhose.

„Hm, gute Frage, keine Ahnung. Vielleicht- Was für eine süße Jacke!“, quietschte Ariane plötzlich auf.

Lauras Lieblingsjacke war aus Kunstfell und super flauschig. Sie liebte es, sich an diese Jacke zu kuscheln.

Laura lächelte schwach auf, als sie plötzlich ein extremer Husten überkam. Sie hatte das Gefühl, ihre Lunge würde in tausend Teile explodieren und ihr den Atem rauben. Und doch wurde er von Sekunde zu Sekunde die verstrich immer heftiger. Laura bemühte sich, die Augen zu öffnen und erkannte ein paar Blutstropfen auf ihrer Hand. Sie presste den Handrücken gegen ihren Mund, um einen weiteren Hustanfall zu verhindern, doch erfolglos.

Ariane war inzwischen zu ihr rübergekommen. „Laura?! Was ist los?!“, rief sie und die Panik in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Verzweifelt klammerte sich Laura mit beiden Händen an Ariane.

„Ich hab Angst- Ich will nicht sterben!“ Sie brachte die Sätze kaum hervor. Ihr Husten mischte sich mit Schluchzern und einige Tränen liefen ihre Wange hinunter.

Ein weiterer Hustanfall schüttelte sie, und wieder hustete sie etwas Blut in ihren Ärmel.

„Ich hab Angst!“, schrie sie heiser. Ihre Stimme klang dem Ende nahe und erstarb in weiteren Schluchzern.

Ariane schien mit der Situation ziemlich überfordert, doch Laura war ihr dankbar, dass sie nicht fortging um Hilfe zu holen.

Genau in dem Moment flog die Tür auf und kurz darauf hielten sie zwei weitere Arme sicher fest. „Du brauchst keine Angst zu haben. Alles wird gut.“, hörte sie Carsten tröstend auf sie einreden. Mit einer Hand klammerte sich Laura an Carstens Pulli, mit der anderen hatte sie immer noch Arianes Arm.

„Ich will nicht sterben…“, schluchzte sie wieder. Der Husten war inzwischen abgeebbt und ließ ihren Tränen nun mehr Freiraum, die durch ihre Wimperntusche wie schwarze Diamanten an ihren Wangen herunterliefen.

Laura wurde kochend heiß und vor ihrem inneren Auge sah sie Sterne vorbei zischen. Das letzte, was sie wahrnahm, war ein Schwindel als wäre man die ganze Zeit im Kreis gelaufen wäre und die tröstende Wärme ihrer Freunde.

 

~*~

 

Seufzend hielt Carsten Lauras zitternden Körper fest. So schlimm war es noch nie, entsann er sich. Laura selbst schien das Bewusstsein verloren zu haben. Die Wimperntusche, die sie immer nur dezent auftrug, war von den Tränen verwischt worden und hinterließ schmale, leicht dunkle Spuren auf ihrem Gesicht.

Benni, der die ganze Zeit tatenlos auf der Türschwelle stehen geblieben war, kam nun zu ihnen rüber. Carsten konnte es immer noch nicht fassen, dass sein bester Freund so kaltblütig geworden war. Vor sechs Jahren hätte er noch halbwegs so reagiert, wie Carsten selbst.

Benni nahm Carsten und Ariane Lauras immer noch vor Angst zitternden Körper ab, hob sie hoch, als hätte sie das Gewicht einer Feder und nicht das eines, wenn auch schmalen und recht kleinen, Mädchens. Behutsam legte er sie auf ihrem Bett ab.

Ariane musterte Lauras schlafendes Gesicht, in dem man ihre Angst immer noch sehen konnte. „Ich bin mir nicht ganz sicher, aber kann es sein, dass es noch nie so schlimm gewesen war?“

Gedankenversunken holte Carsten einen nassen Waschlappen aus dem Bad, um Lauras überhitzte Stirn zu kühlen. „Ich glaube nicht. Jedenfalls bezweifle ich, dass sie davor schon Blut gehustet hatte…“

Ariane setzte sich auf die Kante von Lauras Bett. „Ihr seid gerade zur richtigen Zeit gekommen. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte… Woher wusstet ihr das?“

„Benni hat… wie soll ich sagen… übermenschliche… hm, eher vampirische Sinne, die bei ihm wie eine Alarmanlage funktionieren, wenn er sie nicht gerade gezielt einsetzt. Er meinte, Laura ginge es nicht gut.“, erklärte Carsten.

Das gab Ariane den Anlass, Benni wütend anzufunkeln. „Warum hast du eigentlich nichts gemacht? Ich glaube, es täte Laura mal ganz gut, auch etwas Zuneigung von dir, gerade von dir, zu erhalten.“

Doch, wie konnte es auch anders sein, gab Benni keine Antwort. Carsten wusste nicht, wie er sein Schweigen deuten sollte.

Ariane anscheinend auch nicht, doch sie verwarf seufzend den Gedanken nachzufragen. Stattdessen wandte sie sich an Carsten. „Was macht Karystma eigentlich? Und falls das nochmal passiert, was ich zwar nicht hoffe, aber was zu erwarten ist, was soll ich dann tun?“

„Karystma entstand während des magischen Krieges. Viele Leute glauben, ein Dämon habe diese Krankheit während des Krieges erschaffen, aber direkt nachgewiesen wurde es offensichtlich nicht. Sie greift spezielle Teile des Körpers an, die von Person zu Person unterschiedlich sein können. Bei Laura ist es die Lunge, dass sieht man an ihrem Husten und auch an dem Blut, was dabei war… und an ihrer schlechten Ausdauer, da ihre Lunge bei viel Sport nicht die benötigten Mengen an Sauerstoff aufnehmen kann und sie dann Sauerstoffmangel hat. Wie wir ihr helfen können… Hm, eigentlich hast du alles richtig gemacht. Ich habe schon oft nach Gegenmitteln gesucht aber wenn ich die Ursache der Krankheit, also den Erschaffer und Auslöser nicht kenne, kann ich auch kaum was ausrichten… Das Wichtigste ist also, einfach an ihrer Seite zu bleiben…“, erklärte Carsten.

Ariane war inzwischen besorgniserregend ruhig geworden. „Also war es tatsächlich so…“, murmelte sie.

Carsten wunderte sich über Arianes ungewöhnlich düstere Stimmung, sagte aber nichts. Wenn er es hätte wissen sollen, dann hätte sie es höchstwahrscheinlich erzählt und ihrer melancholischen Stimmung nach zu urteilen, war es auch kein gern gesehenes Gesprächsthema.

Es verging eine viertel Stunde, bis Laura mühselig ihre Augen öffnete.

 

~*~

 

Laura hatte das Gefühl, man hätte ihr die Lunge rausgeholt, als sie tief durchatmen wollte und lauter kleine Bläschen in ihrem Inneren wie Sterne explodierten.

Erschöpft sah sie sich um. Verschwommen nahm sie wahr, dass Carsten neben ihr auf der Bettkante saß und Ariane auf der anderen Seite. Nur in Bruchstücken kehrten ihre Erinnerungen zurück und als sie die Erkenntnis übermannte, dass ihre Krankheit tatsächlich zurückkehrte –und das auch noch in dem höchsten Stadium– wäre sie beinahe glatt wieder in Tränen ausgebrochen.

Ihr Körper zitterte immer noch, fast so als würde er unter Strom stehen und ihre Arme und Beine schienen eingeschlafen und hatten bei jeder Bewegung, die sie mit ihnen durchzuführen versuchte, dieses widerliche Kribbeln.

Carsten musterte sie mit Sorge und zugleich vorsichtig, als habe er Angst, alleine sein Blick könne in ihr den nächsten Hustenanfall wecken.

„Wie geht es dir?“, fragte er besorgt.

Laura versuchte, sich aufzusetzen, ließ es aber bleiben, als ihre Gliedmaßen wieder so fürchterlich kribbelten.

„Dem Tode geweiht.“, antwortete sie. Es sollte eigentlich sarkastisch klingen doch mit ihrer bedrückten Stimmung gelang nur ein schluchzendes Geräusch.

Carsten legte einen Arm um ihre Schultern, half ihr sich aufzusetzen und drückte sie an sich. „Selbst wenn, du hast immer noch drei Monate. Die musst du bis aufs kleinste Ausmaß genießen können.“

Ariane lehnte sich nun auch zu ihr rüber. Ihr Gesichtsausdruck wirkte nicht mehr so sorglos wie zuvor, sondern leicht traurig und sogar ein bisschen reserviert. Trotzdem nahm sie Laura auch –auf die sanfte Art– in den Arm. „Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind alle für dich da. Und übrigens: Das was du vorhin in der Mensa gesagt hast, dass mit dem wir würden deshalb auf Distanz gehen, dafür könnte ich dich grün und blau schlagen! Keine Ahnung, was du dir dabei gedacht hast aber ich versichere dir, das ist absoluter Humbug!“

Schwach lachte Laura auf. „Ist schon okay, ich glaube… Ehrlich gesagt glaube ich, dass es eher umgekehrt ist. Dass ich versuche euch auf Distanz zu halten, weil…“ Zitternd atmete sie aus. Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. „Weil ich Angst habe, dass wenn… wenn ich dieses Leben zu sehr genieße und dann…“

Vorsichtig nahm Carsten sie in den Arm. „Ist schon gut.“

Mit einem schwachen Schluchzen vergrub Laura ihr Gesicht in seiner Brust. „Tut mir leid…“

„Ist schon gut.“

Ariane strich ihr über den Arm. „Danke, dass du uns das anvertraut hast.“

Laura spürte, wie alleine die Berührungen der beiden bereits dazu im Stande waren, dass sie sich langsam begann zu beruhigen. Es war nur zögerlich, als fiele es ihrem Körper schwer sich zu entspannen. Aber dennoch löste sich allmählich dieser schmerzhafte Knoten in ihrem Herzen.

„… Geht es wieder?“, erkundigte sich Carsten nach einer Weile sanft und lockerte die Umarmung etwas.

Schwach nickte Laura.

Carsten richtete sich auf. „Am besten du bleibst noch etwas im Bett, um dich noch ein bisschen auszuruhen. Wir können auch ein anderes Mal zu dritt in die Stadt.“, meinte er und rieb sich die Schläfen. Es war ungewohnt ihn so erwachsen zu sehen. Besonders im Vergleich zu den sechs Jahren zuvor, als sie ihn das letzte Mal vor der Zeit im FESJ gesehen hatte.

„Aber dann kannst du doch nicht-“, startete Laura, brach aber ab als sie Carstens entschuldigenden Blick sah.

„Ich brauche wirklich mal was Anderes zum anziehen, außer die Schuluniformen, die ich über ein halbes Jahrzehnt getragen habe. Die gehen mir langsam auf die Nerven und natürlich hat in Indigo niemand daran gedacht, dass ich irgendwann einmal überhaupt diese Anstalt verlassen würde.“

Laura musterte ihn. Tatsächlich war die Hose von der Schuluniform, aber den Pulli kannte sie nicht. Es war ein eintöniger, schwarzer Kapuzenpulli, der ihm an den Armen etwas zu kurz schien und an sich gar nicht den farbfrohen Geschmack Carstens traf. Wenn Laura drauflosraten müsste hätte sie gesagt, das wäre typisch für Benni, der einfach nie etwas Farbiges trug. Nur schwarz.

Als sie sich vergewissern wollte, sagte Carsten auch schon: „Von Benni will ich mir nicht noch mal was ausleihen müssen. Hast du mal in seinen bedürftigen Minikleiderschrank gesehen? Nur schwarz von den Socken bis zu der Jacke, die er trägt. Wie kann man so eintönig herumlaufen?“

„Wie kann man so quietschbunt herumlaufen?“, kam die Gegenfrage.

Laura musste darauf achten, dass ihr Mund nicht aufklappte. Benni hatte sie überhaupt nicht wahrgenommen! War er schon die ganze Zeit da?! Mit einem Schlag wurde ihr ihre Panikattacke bei ihrem Hustenanfall unglaublich peinlich. Schließlich war sie wie ein Springbrunnen in Tränen ausgebrochen! Plötzlich schämte sich Laura für ihre Reaktion. Obwohl es doch eigentlich keinen Grund gab, sich zu schämen. So etwas war normal. Aber eben nicht für Benni und sie wollte nicht, dass er sie für einen Waschlappen hielt.

„Du könntest ruhig etwas freundlicher gekleidet sein! Weißt du, wie abweisend schwarz wirkt?“, fragte Carsten. Farben waren auch damals schon ein Diskussionsthema der beiden gewesen und wie sonst auch startete Carsten es und zwar immer aus demselben Grund: Bennis Modegeschmack, der nun mal in die Gothic- und Emorichtung ging.

Laura beschwerte sich deswegen nie. Die Farbe Schwarz stand ihm besonders wegen seiner hellen Haar- und Hautfarbe und dem nachtschwarzen Auge verdammt gut und auch in diesem Kapuzenpulli mit der weißen Skeletthand, die mit einem Knochenstift das Wort Death schrieb, sah er extrem sexy und an sich verdammt gut aus. An seinen langen Beinen trug er eine schwarze Jeans mit Nietengürtel.

Verdammt noch mal, der ist ja echt hübscher, als Gott erlaubt, dachte Laura und sie merkte, dass sich etwas Speichel in ihrem Mund sammelte. Beschämt schluckte sie und versuchte sich zusammenzureißen. Es konnte doch nicht wahr sein, dass er sie so durcheinander brachte!

Benni schüttelte auf Carstens Kommentar nur seufzend den Kopf und Carsten ließ das Thema auch ruhen.

Und so endeten diese Diskussionen auch immer. Laura fühlte sich fast so, wie vor sechs Jahren, wäre da nicht der stechende Schmerz in ihrer Brust, der sie in der Gegenwart gefangen hielt. Nur zu gerne hätte sie jetzt wie damals über den Meinungsunterschied der beiden gelacht. Meist war Carsten derjenige gewesen, der Benni auf irgendeine Art und Weise zurechtwies und sich damit auf eine gehörige Diskussion mit dem von Natur aus sturen Benni einließ. Doch nie endete eines dieser Gespräche offiziell, da Benni Carstens Ansicht kalt ließ und Carsten Benni nicht wirklich beeinflussen wollte, sondern einfach nur versuchte, ein bisschen an ihm zu rütteln, um vielleicht eines Tages doch etwas zu erreichen.

Laura liebte diese Gespräche, da Benni, der eher von der stillen Seite kam, stur auf

seiner Ansicht verharrte und so sein rebellischer Charakter besonders gut zur Geltung kam. Und auch, da der sonst so schüchterne und eher rücksichtsvolle Carsten plötzlich ein Temperament zeigen konnte, was man nie und nimmer von ihm erwartet hätte. Und dennoch trugen die beiden diese Diskussionen immer rücksichtsvoll und mit einem leicht neckischen Ton aus. Sie wollten einander nicht verletzen. Niemals.

So sehr hätte sich Laura gewünscht, diese Vergangenheit in die Gegenwart zu befördern.

Vielleicht konnte sie es ja versuchen? Wenn sie sich schon mit nur noch drei Monaten begnügen sollte, dann sollte sie ihre Zeit so verbringen, dass sie es nicht bereuen würde.

„Ähm, ich würde schon gerne mitkommen…“, startete Laura ihren Versuch.

Carsten musterte sie kritisch. „Du siehst nicht so aus, als könntest du mitten auf der Straße zusammenbrechen… und selbst wenn, wäre notfalls Benni noch da. Also natürlich.“ Sein kurz distanzierter Blick wandelte sich in ein strahlendes Lächeln.

Laura atmete erleichtert auf. Sie hatte schon gedacht, er würde sie dazu verdonnern, tagelang das Bett zu hüten, bis sie sich wirklich besser fühlte. Auch wenn sie dann vielleicht das Glück gehabt hätte, die Chemie Arbeit sausen zu lassen, hätte sie ihm widersprochen und dickköpfig darauf beharrt, mitzukommen. Aber sie wusste, dass Carsten wusste, dass diese Anfälle sie immer nur plötzlich überkamen, wie ein Gewitter, das ohne Vorzeichen auf sie eindonnerte.

Sich mit einem Schlag wieder lebendig fühlend, sprang Laura auf und umarmte Carsten so heftig, dass sie schon Arianes Kraft damit Konkurrenz machen konnte.

Nachdem sie Carsten befreit hatte, wandte sie sich an Ariane. „Wenn du willst, kannst du auch mitkommen.“ Schließlich war Ariane diejenige gewesen, die Laura tatsächlich die ganze Zeit über beigestanden hatte.

Ariane überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. „Sorry, aber mein Freund wartet. Der Fernseher wird schon ungeduldig.“

Mit einem schelmischen Grinsen, zwinkerte Ariane Laura zu, die ihr Lachen nicht hätte verhindern können. „Ich dachte, du wärst mit der Speisekammer zusammen!“

Ariane ermahnte sie dazu, leise zu sein. „Psst, sei still! Sonst, hört der Fernseher das noch!“

Auch Carsten schüttelte lächelnd den Kopf. „Dann zieh dich schnell um. Wir warten außen.“, sagte er schließlich und verließ mit Benni das Zimmer.

Erleichtert entledigte sich Laura ihres blutbefleckten Pullis und ihrem Rock, der auch ein bisschen was abbekommen hatte, um sich die Sachen, die sie sich rausgesucht hatte, anzuziehen.

Ariane hatte es sich schon wieder auf ihrem eigenen Bett bequem gemacht, ließ den Fernseher aber weiterhin stillstehen.

„Laura, es tut mir echt leid, dass ich dich darauf noch mal ansprechen muss, aber ich kann nicht einfach so tun, als wäre das vorhin nicht gewesen…“, begann sie zögernd. „Also vielleicht sollten wir die anderen darüber informieren. Du musst ja nicht dabei sein, ich kann es ihnen auch so sagen, aber damit sie halt was dich und… nun ja… deine Krankheit betrifft auf dem Laufenden sind. Vielleicht sollten wir auch sicherheitshalber die Direktoren informieren.“

Laura hatte beim Anziehen innegehalten. „Ähm… ja, klar. Ich weiß, dass das sein muss. Danke…“, stotterte sie und zog sich fertig an.

Als sie ins Bad ging, um sich die Haare zu kämmen, entfuhr ihr ein erschrockener Schrei.

Ariane kam, wie als wäre der Tod im Hause, hereingestürmt. „Was ist los?!?“, rief sie besorgt.

„Ich sehe ja fürchterlich aus!“, entfuhr es Laura und beobachtete ihr Spiegelbild. Das Gesicht, was ihren Blick erwiderte, war blasser als blass und wurde von einer komplett verwuschelten Haarmähne umrahmt, die in alle Himmelsrichtungen abstand und der Schwerkraft zu trotzen schien. Um die Augen herum war die Wimperntusche, die Laura immer nur dezent verwendete, völlig verwischt und lief in einzelnen Streifen ihre Wangen herunter und zeichneten somit den Weg ihrer Tränen nach, die dort zuvor flossen.

Ariane konnte nicht an sich halten und lachte lauthals los. „Ich hätte nicht geahnt, dass das dein größtes Problem ist.“

„Nein! Aber dann hat mich auch Benni so gesehen! Auch wenn ich ihm egal bin, das war ihm sicher nicht entgangen! Wie peinlich…“ Laura funkelte die Wimperntusche wütend an, die friedlich auf einem Regal neben dem Waschbecken stand. Wäre die doch wenigstens wasserdicht gewesen!

Arianes Lachen beruhigte sich langsam. „Also ich muss da mal ein Wörtchen mitreden. Es stimmt schon, dass Benni ziemlich distanziert ist, aber so ganz egal würde ich das nicht nennen. Zum Beispiel, als du das Bewusstsein verloren hattest, war er es gewesen, der dich in dein Bett gelegt hatte. Zwar hab ich es nicht ganz mitbekommen, wegen dem Schrecken den du mir eingejagt hast, aber er wirkte schon sehr sanft und fürsorglich. Was ich ihm eigentlich nie zugetraut hätte.“

Laura verbarg das Gesicht hinter den Händen. „Er hat mich ins Bett getragen? Oh Gott… wie peinlich…“

Ariane schnaubte amüsiert. „Wie du es interpretieren willst, bleibt deine Sache. Also gut, ich geh jetzt endlich wieder Fernsehen. Viel Glück bei deiner… äh… Frisur…“

Grinsend verließ sie das Badezimmer.

Nach einigen gewaltsamen Kämmakten und nachdem sie auch sonst wieder halbwegs so, wie vorher aussah, schnappte sich Laura ihre Kuscheljacke und verabschiedete sich von Ariane, die ihr „Viel Glück“ wünschte.

Tatsächlich warteten Carsten und Benni seelenruhig an dem Brunnen auf dem großen Platz auf sie. Laura entging nicht, dass der größte Teil der Schülerinnen sich zu den beiden Jungs umdrehten und als sie Laura sahen, entweder neidisch oder beneidend dreinschauten.

Carsten strahlte ihr schon einige Meter bevor sie sie erreicht hatte entgegen und wirkte dabei fast so wie der kleine Carsten, den sie noch in Erinnerung hatte.

„Also, gehen wir.“, meinte er und lief voraus. Laura folgte ihm lachend, während Benni in gemächlichem Tempo hinterher schlenderte.

Sie hatte das Gefühl, ein Déjà-vu zu durchleben, jedenfalls was die Rollenverteilung betraf. Wieder wurden Kindheitserinnerungen geweckt. Der lebensfrohe Carsten, dicht gefolgt von Laura, deren Laune von ihm angesteckt wurde und schließlich Benni, der zwar nicht allzu begeistert schien, doch trotzdem dabei war. 

Das Timing war perfekt. Kaum waren sie an der Bushaltestelle angekommen, bog auch schon der Bus um die Ecke, der in 60-minütigen Abständen von der Stadt kam.

Carsten ergatterte einen vierer Sitzplatz und setzte sich an das Fenster gegen die Fahrtrichtung. Laura setzte sich sofort ihm gegenüber. Sie wunderte sich, dass Benni ihnen so problemlos gefolgt war, obwohl sie und Carsten fast gerannt waren und dass er sich dann auch noch neben sie setzte, als wäre es eine Selbstverständlichkeit.

Wobei tatsächlich beides nüchtern erklärbar war.

Von Bennis normaler Ganggeschwindigkeit mal abgesehen, mussten Laura und Carsten am Ende des meterlangen Marathonweges erst einmal nach Luft schnappend stehen bleiben und warum er neben ihr saß lag nur daran, dass er kein so großer Fan von Fahrten in irgendeinem geschlossenen Gefährt mit Rädern oder Flügeln war und dort schnell Reisekrank wurde. Da saß er dann zumindest lieber in Fahrtrichtung.

Nach der zwanzigminütigen Fahrt stiegen sie an der Haltestelle aus, wo sie schon mit den Mädchen den Bus verlassen hatte und wo noch alles ein Geheimnis gewesen war.

Und auch wie einst, bogen sie in die Einkaufsstraße ein. Doch dieses Mal gab es keine Lissi, die Zwischenstops machte und so kamen sie schnell an ihrem Ziel an: Einem Modegeschäft für junge Erwachsene.

„Also dann, viel Spaß noch.“, verabschiedete sich Carsten, verschwand in dem Geschäft und ließ eine verwirrte Laura mit Benni zurück.

„Ähm… Hä?“, brachte Laura sehr geistreich zustande.

Als sie sich nach Benni umdrehte, war dieser schon am Gehen.

„Hey, warte mal!“, rief Laura ihm hinterher und packte ihn am Ärmel seines bis zu den Knöcheln gehenden, offenen Mantels. „Wo willst du denn hin?!“

„Einen Bekannten besuchen.“

Laura schnaubte. „Toll. Und ich?“

Benni zuckte mit den Schultern, befreite seinen Ärmel aus Lauras Griff und ging weiter. Laura war nicht wirklich in Einkaufstimmung, also hastete sie ihm hinterher, bis er freundlicherweise seine Schritte verlangsamte und sie ihn einholen ließ.

„Weiß Carsten, dass du einfach so weggehst?“, fragte sie, als sie langsam wieder zu Atem kam. Die Nachwirkungen ihres Hustenanfalls waren immer noch nicht ganz verklungen und ihre Ausdauer ließ sie wie immer auch im Stich.

Benni nickte. „Wir treffen uns dann im Park.“

Sie gingen eine Straße entlang, die Laura nach einer Weile sogar wiedererkannte. Bei einem kleinen, unscheinbaren Geschäft machten sie halt und betraten es.

Wieder erklang das Windspiel, doch die schwarzhaarige Frau, die sie vor fast einem Monat begrüßt hatte, war nicht zu sehen. Sofort ging Laura auf die Bücherregale zu und bewunderte die alt und edel zugleich aussehenden geschriebenen Kunstwerke. Die Legenden vom magischen Krieg sah sie nicht mehr. Vielleicht war es nur einmal im Angebot gewesen.

Laura war so vertieft in die Bücher gewesen, dass das freundliche ‚hohoho’ von Nicolaus sie regelrecht hochschrecken ließ.

Kaum drehte sie sich um neunzig Grad, sah sie auch schon den etwas rundlichen Mann mit den schneeweißen Haaren und dem langen Bart. Laura bemühte sich, halbwegs normal für ihre Verhältnisse zu wirken, als sie den Weihnachtsmann, zwar ohne rote Bommelmütze aber in einem gemütlichen roten Pulli und schwarzen Hosen sah.

„Oh, hallo Herr Wei-he.“ Beinahe hätte Laura Weihnachtsmann gesagt und sie war dankbar, dass Nicolaus’ Name dem so ähnlich war, dass das nicht weiter auffiel.

„Wenn das nicht das junge Fräulein Lenz ist. Guten Tag, meine Liebe.“, grüßte Nicolaus sie.

Bei der Vertrautheit, mit der er sie ansprach, wurde Laura sofort wieder ganz warm ums Herz.

Dann wandte sich Nicolaus Benni zu. „Benedict, wie schön, dich auch mal wieder zu sehen.“

Laura konnte ihren Augen kaum trauen, als Nicolaus tatsächlich mit seiner rechten Hand, die jederzeit ein zweijähriges Kind wohlbehütet und sicher über eine belebte Straße führen könnte, ohne dass dieses Kind auch nur den leisesten Hauch von Angst verspüren würde, dass er mit dieser Hand über Bennis Kopf wuschelte und dabei dessen Haare zerzauste. Ja, er kannte Benni schon, seit dieser noch ein Baby war. Aber dass er so vertraut mit jemandem umging, vor dem man eher Angst haben würde, wunderte Laura schon ein bisschen.

In seinem zwar faltigen, aber trotzdem noch hübschen Gesicht lag so viel Liebe und Zuneigung, dass sich Laura wieder wie ein kleines Kind fühlte und sich auf den Schoß des Weihnachtsmannes setzen wollte, um ihm zu erzählen, was sie sich von ganzem Herzen wünschte. Was für ein Pech, dass die Feiertage schon vorbei waren.

„Ach so, ich wollte mich noch bei Ihnen für Ihre Hilfe letztens bedanken und- Hier sind auch Mangas?!?!?!“ Kaum fielen die Comics in Lauras Blickfeld, wurde sie sofort abgelenkt.

Nicolaus lachte wieder sein warmes Weihnachtsmannlachen. „Das ist ein yamisches Geschäft, was hast du denn anderes erwartet?“

Doch Lauras Aufmerksamkeit war schon voll und ganz zu den Mangas übergegangen. Trotzdem verfolgte sie das Gespräch zwischen Benni und Nicolaus aus Neugierde weiter.

Nicolaus lachte wieder. „Ihre Leidenschaft für Manga könnte dir noch zum Verhängnis werden.“

Benni entgegnete wie üblich nichts, aber Laura vermutete, dass er leicht nickte.

Sie verbrachte mindestens zwanzig Minuten damit, alle möglichen Mangas durchzustöbern, während Benni Nicolaus im Laden half und die Sachen erledigte, die für einen alten Mann mit Knieproblemen etwas schwierig sein könnten.

Schließlich meinte Benni, sie sollten sich langsam zum Park aufmachen, da Carsten schon an der Schlange zur Kasse stand. Seine krassguten Sinne ließen Laura immer wieder staunen.

Also trennte sie sich widerwillig von der Mangaecke, ging aber nicht, ohne dass sie sich drei Stück gekauft hatte. Und davon bekam sie einen, dank Bennis Arbeit, geschenkt.

„Es ist schön, zu sehen, dass ihr euch wieder vertragt.“, sagte Nicolaus zum Abschied.

„Ähm… Nun ja…“, begann Laura wieder drauf los zustottern.

Nicolaus lachte sein ‚hohoho’. „Pass gut auf sie auf, sonst gibt’s keine Geschenke mehr für dich.“, scherzte er.

Benni verdrehte die Augen, aber Laura riss ihre ganz weit auf. Das mit den Geschenken war ganz offensichtlich ein Scherz, aber wie kam er darauf?

Nicolaus klopfte Benni auf die Schultern und verabschiedete sich von Laura mit einem besonders für sein Alter erstaunlich starken Händedruck. „Aber ich meine es ernst, passt gut aufeinander auf.“

 

Gemeinsam gingen Laura und Benni die Einkaufspassage entlang zum Park, der in dem Zentrum der Stadt lag. Dass sich unterwegs einige Leute zu ihnen umdrehten und sie musterten, war Laura nicht entgangen. Normalerweise hatte sie das Gefühl, die neugierigen Blicke der Bürger wären mit Abfälligkeit überhäuft, doch hier in Cor, wo niemand ihr Gesicht kannte, da das Jugendschutzgesetz so etwas in der Art von den ‚berühmten‘ Kindern verlangte, um sie bis zu ihrer Volljährigkeit vor den Papparazi zu schützen, konnte sie diese Blicke nicht so gut deuten. Irgendwie schienen sie und Benni wohl einfach aufzufallen.

Natürlich wusste Laura, dass dieses Klischee Dämonenverbundene seien Engel völliger Schwachsinn war. Aber man konnte nicht leugnen, dass die Dämonen mit ihrem Einfluss die Aura und somit den Gesamteindruck veränderten.

Laura warf einen Blick auf Benni, der nicht darauf erpicht schien, ein Gespräch mit ihr zu starten. Wahrscheinlich würde er sowohl mit als auch ohne der Segnung des Schwarzen Löwen so göttlich aussehen…

„Wie hatte Herr Weihna- he das eigentlich mit dem ‚keine Geschenke‘ gemeint?“, fragte sie, um einen Grund für ihre Gafferei eben zu haben. Und dabei hatte sie sich doch tatsächlich prompt versprochen.

Statt ihr, wie bei einem normalen Gespräch in die Augen zu schauen, blickte Benni einfach nur geradeaus. „Zum Geburtstag war er es immer, der mir was geschenkt hatte.“, entgegnete er nur.

„Was?! Heißt das, dass du außer von Carsten, mir und Nicolaus von niemandem sonst was zum Geburtstag geschenkt bekommen hattest?“

„Fast. Sollte es einen Grund geben?“, fragte Benni zurück.

Laura runzelte ihre Stirn. „Natürlich. Es ist der Tag deiner Geburt. Und zu Weihnachten?“, löcherte sie weiter, um herauszufinden, ob Nicolaus vielleicht tatsächlich die Rolle des Weihnachtsmanns übernommen hatte.

Benni schüttelte nüchtern den Kopf. „Und was soll da bitte der Anlass sein?“

„Na die Geburt von Jesus. Kommt dann nicht auch zu dir der Weihnachtsmann?“, meinte Laura und verglich in Gedanken ihren jährlichen Geschenkhaufen mit Bennis drei bedürftigen Päckchen.

„Meinst du diese erfundene Person von Cola?“, fragte Benni und Laura erkannte, dass Feiertage wohl keine große Bedeutung für ihn hatten.

Laura schob schmollend ihre Lippe vor. „So ganz erfunden ist er auch nun wieder nicht. Herr Weihe sieht ihm in der allgemeinen Vorstellung zum Verwechseln ähnlich.“ So, jetzt war es raus.

Jeder andere hätte wohl losgelacht. Jeder andere halt, aber nicht Benni, der desinteressiert mit den Schultern zuckte.

„Magst du Herr Weihe nicht?“, fragte Laura und konnte es sich eigentlich gar nicht vorstellen, dass jemand diesen Opa nicht mögen könnte.

„Sollte ich?“, kam die Gegenfrage, die für Benni so typisch und für Laura so Aggressionsauslösend war, wie als würde man mit den Fingernägeln über die Tafel kratzen. Benni schien das zu wissen, da er kurz darauf mit einer menschlicheren Antwort herauskam, die Laura trotzdem überraschte. „Doch.“

Laura lächelte zufrieden. Na also, es ging doch. Nun musste er nur noch lernen, dass Geburtstag, Weihnachten und Ostern toll sind.

„Warum stehst du deinem Geburtstag eigentlich so gleichgültig gegenüber? Es ist doch immerhin der Tag deiner Geburt.“, fragte Laura.

Wieder verdrehte Benni die Augen. „Du nervst.“

Das war nun wie ein Schlag in den Bauch für Laura, und zwar mit der üblichen Kraft, die Benni bei Kämpfen verwendete und nicht mit der stark abgeschwächten, wie wenn er Carsten eine Kopfnuss oder einen Rippenstoß verpasste.

„Tut mir leid-“, brachte Laura betroffen hervor. Er sagte nur dann etwas über seine Gefühle, wenn wirklich alle seine Nerven der Ansicht waren, dass es sein musste. Und das war sogar für die Verhältnisse einer ruhigen Person, die sehr selten Gefühle zeigte, verdammt selten. Also musste sich Laura auch eingestehen, dass sie wirklich zu weit gegangen war. Viel zu weit.

Beschämt senkte Laura denk Blick und ließ das Thema in Ruhe.

Wieder breitete sich ein Schweigen aus. Doch im Gegensatz zu Carsten, war so etwas bei Benni normal.

Inzwischen hatten sie den Park erreicht, ein verschneites Paradies. Laura war sich sicher, dass Carsten den Treffpunkt gewählt hatte und sich nun extra Zeit lies, um den beiden alleine etwas Zeit an diesem romantischen Ort zu lassen. Bei dem Gedanken wurde Lauras Gesicht trotz des kalten Windes, der ihr entgegenpeitschte, kochend heiß.

Bei dem Gedanken an Carsten fiel ihr außerdem noch etwas ein, was sie von Benni wissen wollte.

„Hey, ähm… sag mal… Kannst du mir eine Frage ehrlich beantworten?“, fragte Laura, auch wenn es nicht die Frage war, die sie stellen wollte. Davor musste sie sich noch vergewissern, dass Benni ihr auch wirklich die Wahrheit sagen würde.

„Habe ich dich je angelogen?“, konterte Benni trocken mit einer Gegenfrage.

Mit einem unsanften Schlag erinnerte sich Laura an den Herbst vor eineinhalb Jahren. Da war das auch ein Thema gewesen. Und sie hatte ihm nicht vertraut, obwohl er nie log.

Wirklich nie, erinnerte sie sich, bei einem Rückblick in ihrem Leben.

Ein flüchtiges Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Stimmt…“, dann atmete sie tief durch, um sich auf das bevorstehende vorzubereiten. „Was ich wissen will… ist… denkst du eigentlich… dass der Schwarze Löwe mich… ähm… verlassen wird?“

Erst nach einigen Schritten fiel Laura auf, dass Benni stehen geblieben war. Doch statt sich umzudrehen, blieb sie mit dem Rücken zu ihm gewandt stehen. Sie wollte nicht, dass er doch die Tränen sah, die sich in ihren Augen sammelten.

Laura zitterte am ganzen Leib, als Benni mit tiefer, ernster Stimme schließlich antwortete: „Was ich denke, spielt dabei keine Rolle.“

Sie bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu dämpfen. „Ich will es aber trotzdem wissen.“

Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Nein.“

Laura hatte das Gefühl, dass der Boden unter ihren Füßen verschwand, und sie in die Tiefe fallen würde, um mit einem Schreck aufzuwachen. „…Was?“

Unerwarteter Weise wiederholte Benni seine Antwort ausführlicher. „Ich denke, er wird dich nicht verlassen.“

Laura konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Doch nun kamen sie eher aus Freude und Erleichterung. Wie konnte ausgerechnet Benni von allen am optimistischsten denken? War das überhaupt erlaubt?!

Schniefend wischte sie sich mit der Hand über die Augen.

Laura hörte ein Knirschen im Schnee. Einen kurzen Moment lang schien alles still zu stehen.

Bis sie plötzlich von zwei starken Armen umfasst wurde.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen und in ihrem Bauch breitete sich ein eigenartiges Kribbeln aus.

Der Griff war zwar fest, aber nicht erdrückend. Doch trotzdem fiel es Laura schwer, zu Atem zu kommen.

Was ging hier vor sich?!

„B- Benni? Warum-“ Statt ihre Frage zu beenden, klappte sie ihren Mund wieder zu.

Es war angenehm. Gemütlich und warm. Laura wollte nicht, dass Benni sie wieder losließ.

Doch genau in dem Moment lockerte er seinen Griff.

Immer noch mit rasendem Herz drehte sich Laura um, um ihm wieder ins Gesicht sehen zu können. Zu ihrer Enttäuschung hatte er immer noch den neutralen, ernsten Ausdruck, wie davor. Wie hatte Ariane das mal genannt? Pokerface. Dieses Wort sagte alles über ihn aus.

Benni wich allerdings ihrem Blick aus. „Entschuldigung. Deine Jacke ist… sehr flauschig…“

Laura wusste nicht, wie sie hätte reagieren sollen. Hatte er sie etwa nur deswegen umarmt?!? Das konnte doch nicht wahr sein!

„… Ähm scho- schon… okay…“

Um ihre Enttäuschung so gut es ging zu überspielen, begann sie ihren Weg im Park fortzusetzen.

Bei einem gefrorenen Teich hielt Benni wieder an. „Hier treffen wir uns.“, erklärte er.

Laura nickte stumm. Sie war immer noch von Enttäuschung zerfressen.

Sie beobachtete, wie Kinder jubelnd und voller Freude über das Eis rannten, ausrutschten und ihre Gleichgesinnten jagten. Dabei fiel Lauras Blick besonders auf einen kleinen blondhaarigen Jungen, etwa in der vierten Klasse. Schließlich sah er auch zu ihr rüber. Und für eine Weile schien die Zeit stehen zu bleiben. Er hatte ein süßes Gesicht, mit noch kindlichen Zügen. Aber in seinen braun-grünen Augen war ein seltsames Funkeln, was ihn für sein Alter schon sehr mächtig und weise wirken ließ.

Lauras Aufmerksamkeit schien ihn etwas abgelenkt zu haben, denn er kam ins Wanken, fasste aber schnell wieder Fuß und grinste Laura kess an, bevor er auf seinen Schlittschuhen weiter zischte.

„Dieser Junge dort, er ist… seltsam.“, sagte Laura zu Benni.

Dieser warf einen kurzen Blick auf die Eisfläche und wusste sofort, wen Laura gemeint hatte.

„Energie.“, entgegnete er nur.

Laura sah ihn verwirrt an. „Was?“

„Hier sind zwei weitere Quellen, von denen Energien ausgehen.“, antwortete er, „Die eine ist der Junge. Die andere…“ Kritisch schaute er sich um.

Genau da knackste es vor ihren Füßen. Erschrocken wich Laura zurück, als das Eis zu brechen begann. Risse breiteten sich krachend auf der Oberfläche aus und zerteilten sie in wankende Eisschollen, an deren Rändern das Wasser emporschwappte.

Schreiend flohen die Kinder von der Eisfläche zurück zu ihren Eltern, rechtzeitig bevor sich auch die letzte Scholle von dem Festland löste.

Atemlos beobachtete Laura das Geschehen auf dem Teich. Diese Risse sahen seltsam aus. Sie waren viel zu gezielt, als schien die Natur ein Symbol aus Wasser und Eis formen zu wollen.

Ein panischer Aufschrei löste Lauras Blick vom Boden. Der Junge von vorhin stand in der Mitte des Teiches. Es war nur noch diese einzige Scholle übrig, auf der man sicher stehen konnte. Umgeben von Wasser.

Vom Rand aus waren verzweifelte Rufe zu hören, höchst wahrscheinlich von seiner Familie.

Ein eisiger Wind erfasste Lauras Haare. Ein Tornado, der in einem immer enger werdenden Kreis um den Teich stürmte und das Wasser zu einem unbarmherzigen Strudel formte.

Wie gelähmt beobachtete Laura, wie der Strudel alle Schollen verschluckte. Und den Jungen mit ihnen.

Sie wusste nicht, was sie tat, als sie in den Sturm schrie: „Mach doch irgendetwas!!!“

Auch wusste sie nicht, für wen diese Aufforderung eigentlich bestimmt war, bis ihr Benni plötzlich seinen Mantel in die Hand drückte und mit einem souveränen Kopfsprung in das bitterkalte, tosende Wasser eintauchte.

Kurz darauf ebbte der Sturm ab, doch sowohl von Benni als auch dem Jungen fehlte jegliche Spur.

Das aufgebrachte Gemurmel nahm Laura kaum wahr, auch nicht das verzweifelte Geschrei der Mutter des Jungen. Sie stand nur da, starrte auf die Stelle, in die Benni eingetaucht war und klammerte sich an seinen Mantel, als könne dieser verhindern, dass sie zusammenbräche.

„Laura, was ist denn hier los?!?“

Wie aus einem Traum gerissen, drehte sich Laura um und sah Carsten, gefolgt von Öznur. Beide kamen mit schnellen Schritten auf sie zu.

„Tut mir leid, dass es länger gedauert hat. Unterwegs hatte ich Öznur getroffen, die mich unbedingt noch in irgendeinen besonderen Laden mitschleppen musste.“, erklärte Carsten.

Schwer atmend stützte sich Öznur auf ihren Knien ab. „Hey, du musst zugeben, dass du etwas Beratung gebraucht hast. Nur so Hemden kannst du nicht tragen.“

Laura warf einen Blick auf die Unmengen von Tüten, die Carsten in den Händen hielt. Da Öznur keine einzige trug, schlussfolgerte sie, dass er ihr wohl auch ihre Tüten abgenommen hatte.

Trotz der gegenwärtigen Situation, musste Laura in sich hineinlachen. Carsten war nun mal ein Gentleman. Darauf konnte auch das FESJ keinen Einfluss nehmen.

Carstens Blick wanderte von Lauras immer noch aufgebrachtem Blick zu ihren Händen, die sich immer noch an Bennis Mantel klammerten. „Warum hast du Bennis Jacke? Und wo ist der überhaupt?“, fragte er verwundert.

Mit aufgewühlter Stimme erzählte sie Carsten und Öznur, was passiert war und dass Benni irgendetwas mit Energie erwähnt hatte.

Während Öznur fast ebenso aufgebracht reagierte wie sie, mit „Das ist ja schrecklich!“ und „Wie kann so etwas passieren?!?“, ging Carsten das alles erstaunlich ruhig an.

„Ich glaube nicht, dass sie ertrunken sind. Sie scheinen… wie vom Erdboden verschluckt.“, meinte er.

Laura seufzte. „Und jetzt?“

Sie beobachtete, wie Polizisten ankamen und begannen, die Zeugen zu verhören. Einer mühte sich damit ab, die Mutter des Jungen zu beruhigen, ein weiterer, älterer kam auf die Gruppe zu.

„Abwarten und Fragen beantworten.“, antwortete Carsten. „Auf jeden Fall müssen wir hierbleiben.“, sagte er, aber eher mit einem warnenden Ton an den Polizisten gewandt, der nur zwei Meter von ihnen entfernt war. „Ich habe das Gefühl, dass wir nichts Anderes machen können, als geduldig zu bleiben.“ Carsten hatte wieder diese überzeugende, autoritäre Stimme, die verriet, dass er es zweihundertprozentig wusste.

Der Polizist nickte und ging zu einem seiner Kollegen.

Laura wunderte sich, dass Carsten sogar einen erwachsenen Mann überzeugen konnte. Insbesondere, da er doch eigentlich so schüchtern war. Aber sie hatte nichts dagegen, auf ein Verhör konnte sie nur zu gut verzichten. Sie wusste selbst nicht wirklich mehr, als die übrigen und wer würde ihr schon abkaufen, dass Energie mit im Spiel war? Jedenfalls, ohne sich dabei selbst zu verraten.

Öznur ließ mit ihrer Feuer-Energie den Schnee unter ihnen schmelzen und die nun zum

Vorschein kommende, strahlend grüne Wiese aufwärmen.

Auf diesen Platz setzten sie sich und taten das, was Carsten vorgeschlagen hatte.

Abwarten.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (6)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  totalwarANGEL
2021-05-29T19:42:15+00:00 29.05.2021 21:42
Wenn Benni die ganze Zeit arbeiten muss, ist er wenigstens vor den Weiberhorden sicher, die ihm nachstellen. Ich wette, er macht das genau deshalb. ( ͡° ͜ʖ ͡°)
Aber Carsten ist doch aus einer Folterkammer gekommen... ¯\_(ツ)_/¯
Warum hasst eigentlich jeder Redoxreaktionen?
Ja, wenn es mal um die Wurst geht, ziehen sie den Schwanz ein und keiner bekommt einen Ton hervor. Herrlich.
Carsten hat recht. Wie sagen schon Nightwish: "It's hard to light a candle, easier to curse the dark instead."
Was ist denn daran sadistisch? Narben sind cool.
O, Arme Laura. T_T
Benni steht auch jeden Morgen vor der Wahl "Nehme ich einen schwarzen Pulli aus der linken oder der rechten Seite des Schrank"...
Was, der Rock hat auch Blut abbekommen? Wie viel kam denn da raus? Ist da überhaupt noch was übrig? (.)(.)
Tja, wenn Männer eine Hose wollen, dann kaufen sie eine Hose.
XD Der Kerl sieht aus wie der Weihnachtsmann und heißt auch noch Nicolaus. XD
Moment! Benni arbeitet und Laura bekommt den Lohn. ^^
Wenn ich so darüber nachdenke, der Typ MUSS der Weihnachtsmann sein!
Die erfundene Person von Cola. XD XD XD
Klar ist Ostern toll. Da spielt man mit den Eiern. Und Weihnachten...
Okay... die Nummer mit dem See kam jetzt doch etwas überraschend. Bin gespannt was da abgeht.

Oje, da habe ich wieder viel Blödsinn geschrieben. :D
Antwort von:  RukaHimenoshi
30.05.2021 09:53
Haha, das ist auf jeden Fall ein sehr netter Nebeneffekt. XD

Das Nightwish-Zitat ist ja cool!!! /(°o°)\ Wuaaaaas?! Das ist von Last Ride of a Day?!?!?!? Ich hatte das früher rauf und runter gehört und nie rausgehört!!!!!!! X'D

Der Schrank-Kommentar!!!! Göttlich!!!!!!! Und so passend!!!!!!!!!!! 🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣🤣

Ach was, das war kein Blödsinn. Es war sehr unterhaltsam!!! 😁
Antwort von:  totalwarANGEL
30.05.2021 11:55
Das ist auch schwer herauszuhören bei der Knatschstimme von Annette. Ich habe das auch erst deutlich bei der Live-Version mit Floor verstehen können. XD (Man hätte aber auch die Lyrics lesen können...)
Schön, wenn mein Schwachsinn unterhaltsam war. :)
Antwort von:  RukaHimenoshi
30.05.2021 12:04
Das stimmt, ich musste auch erstmal ein Lyric-Video schauen. XD (Oh Mann, und es ist sogar im Refrain X_X XD)
Ich muss unbedingt mal wieder mehr Nightwish konsumieren! Die neueren Lieder kenne ich so gut wie gar nicht, dabei hat Floor eine richtig schöne Stimme!

Dein Schwachsinn ist immer unterhaltsam ;D
Antwort von:  totalwarANGEL
30.05.2021 13:55
Alpenglow, Greatest Show On Earth, Harvest, Tribal und Noise kannst du dir mal geben. ;)
Antwort von:  RukaHimenoshi
30.05.2021 16:00
Vielen Dank für die Empfehlungen, werde ich definitiv machen! 😁
Antwort von:  totalwarANGEL
30.05.2021 19:56
Dann kannst du Our Decades In The Sun und Music gleich mit aufschreiben. Das hab ich vergessen gehabt. Ist auch schön, wenn auch zu ruhig für meinen Geschmack.
Antwort von:  RukaHimenoshi
31.05.2021 12:37
Haha, nun bin ich ganz plötzlich auf einem absoluten Nightwish-Trip. Irgendwie bin ich nie ganz bei Floor angekommen und habe eigentlich immer nur die Alben mit Annette und Tarja rauf und runter gehört. Gott, hab ich was verpasst! /(°o°)\ Nun muss die ganze verlorene Zeit der letzten Jahre innerhalb weniger Tage wieder aufgeholt werden. ;D
Antwort von:  totalwarANGEL
31.05.2021 15:03
Wie konntest du nur! Ich finde Floor ist das beste, was Nightwish jemals passiert ist. (Das war zwar eigentlich Marco, aber der ist ja nicht mehr dabei...)
Okay, wir sollten hier vielleicht lieber über deine Story als über Nightwish reden. ;)
Antwort von:  RukaHimenoshi
01.06.2021 21:28
Ich bitte demütigst um Verzeihung! 🙇🏻‍♀️ Ich werde Buße tun, indem ich gaaanz viel Nightwish mit Floor an der Front hören werde! X'D
Haha ach was, Nightwish ist doch auch ein nettes Thema. Kleiner "Spoiler": In einem späteren Kapitel wird die Band sogar einmal kurz erwähnt. ;)
Antwort von:  totalwarANGEL
01.06.2021 21:39
Was, Nightwish hat es in deine Fantasiewelt geschafft. :O
Antwort von:  RukaHimenoshi
01.06.2021 21:54
Haha, ja. Ich schnappe mir ganz gerne Sachen aus unserer Welt und baue sie ein. Bands oder auch Mangas/Animes, Bücher und so weiter. Manche werden namentlich erwähnt, bei anderen gibt es nur Andeutungen. ;D
Falls du dir beispielsweise Jacks T-Shirt vom Cover-Bild genauer anschaust, könntest du angedeutet das Slayer-Logo erkennen. 🤭


Zurück