Demon Girls & Boys von RukaHimenoshi ================================================================================ Kapitel 5: Ein Traum von Freiheit ---------------------------------   Ein Traum von Freiheit       Ein krächzender, lauter Trompetenton ließ Carsten hochschrecken. Schlaftrunken rieb er sich die Augen und mühte sich aus dem Bett. Es war vier Uhr morgens. Das grenzte schon an Menschenrechtsverletzung! Schlecht gelaunt stieg er aus dem harten, ungemütlichen Bett und schlurfte in das kleine Badezimmer. Übermüdet stützte er sich am Rand des ehemals weißen, nun verkalkten Waschbeckens ab. Seine Hände hatten immer noch die Schürfwunden von vor einer Woche, als er mit einigen anderen Schülern Steine für irgendeinen Bau hatte schleppen sollen. Da er sie nicht desinfizieren konnte, weil es hier keine Krankenzimmer oder ähnliches gab, hatten sie sich entzündet und begannen sofort zu brennen, als er den Wasserhahn öffnete und das Wasser mit unnormal hohem Druck raus geschossen kam. Eigentlich hätte er sich schon an so einen Tagesbeginn gewöhnen müssen, aber es war von Tag zu Tag eine neue Qual. Mit den nassen Händen wischte er sich die Stirn ab. Auch sie hatte noch einige Kratzer von den kleineren Steinen, die nicht zum Schleppen sondern zum Werfen benutzt wurden. Dass die Lehrer nie einschritten… war normal. Leider Gottes.  So sah Carsten schon seit sechs Jahren aus. Immer irgendwo verwundet. Nur die drei diagonal über seine Nase verlaufenden Narben waren die einzigen Wunden, die nicht aus dem FESJ stammten, sondern von einem Unfall mit dem Schwarzen Löwen. Er hatte, wie sonst auch, tiefe Augenringe unter seinen lila Augen, war abgemagert und so blass wie der Tod. Wenn er das nicht selbst bald war. Nein, sterben würde er wahrscheinlich nicht. Aber es würde keinen großen Unterschied mehr machen. Dieses Loch war ein Etwas voller Kummer, Verzweiflung und vor allem Hass. Hass auf alles Legale, auf normales und auf anderes. Erst das eiskalte Wasser, welches wohl dieselbe Temperatur wie außen hatte, ließ Carsten richtig aufwachen. Schnell trocknete er sich ab und zog die trostlose, graue Uniform an, die an Gefängnisanzüge erinnerte. Auf dem Nachttisch lag die Kette mit dem ID-Anhänger. Nichts weiter als ein ovales Metallplättchen, auf dem sein Name, eine Nummer, stand. Hier hieß er nicht Carsten Crow Bialek, sondern Nummer 7984. Diese Kette musste er sich, so wenig Lust er darauf auch hatte, umlegen. Nur kurz schüttelte er seine vom Schlaf zerzausten pechschwarzen Haare, die ihm bis zum Ende des Halses reichten, da zum Kämmen nie Zeit bleib. Er war sowieso schon spät dran. Carsten eilte aus seinem winzigen Einzelzimmer und folgte den übrigen Schülern in den Hof des Militärinternats. Dort wartete bereits ungeduldig der Direktor für den Morgenappell. Um zehn nach vier. „So, da die letzten Schüler auch endlich 34 Sekunden nach dem eigentlichen Beginn eingetrudelt sind, können wir beginnen. Nummer 7591…“ Nacheinander rief der Direktor mit seiner rauen, krächzenden Stimme alle Schüler auf. Diese standen auf und bekamen ihre Anweisungen für den heutigen Tag. Und aufgrund der hohen Anzahl der Schüler dauerte das eine Ewigkeit. „Nummer 7984!“, krächzte der Direktor durch das alte Mikrofon. Mühsam stand Carsten auf. Stühle gab es natürlich nicht auf dem Hof, also durften sich die Jungs in den schönen weißen Schnee setzten. Aber das war das einzige, dass sie von der Außenwelt noch hatten. „Sie helfen heute Morgen wieder in dem Steinbruch. Nach dem Unterricht übernehmen Sie den Küchendienst für Abteil B und am Abend müssen Sie in die Metallfabrik.“ Küchendienst! Immerhin etwas! Auch Carstens Mitschüler aus Abteil B (in diesem Abteil lebten alle ungeraden Zahlen) schienen erleichtert. Denn wenn Carsten kochen musste, dann war es essbar und auch leckerer, als wenn das irgendwelche Lehrer übernahmen. Carsten hatte schon immer eine Leidenschaft für Kochen und konnte das auch sehr gut. Jedenfalls laut den anderen. Auf dem FESJ war es das einzige, was wirklich Spaß machte, wobei die Zutaten zu wünschen übrig ließen. Mit hängenden Schultern folgte Carsten seinen Mitschülern in den Steinbruch nördlich des Wohnheims des FESJ. ((Internat)- für erziehungsschwache Jungs) Alles sah so aus wie immer. Der graue Betonboden wurde von dem schmutzigen Schnee verdeckt, welcher auch die Mauer mit dem Stacheldrahtzaun, die sie von der Außenwelt absperrte, bedeckte. Pflanzen gab es in diesem Metall- Beton Gefängnis nicht. Alles war grau und wirkte erdrückend. Carsten nahm sich eine der alten, schon längst abgenutzten Spitzhacken und begann, Steine von der Felswand abzuklopfen, die zu einem hohen Berg wurde, an dessen Spitze wieder die Mauer mit dem Stacheldrahtzaun entlanglief. Carsten zuckte zusammen, als ein Stein seinen Hinterkopf traf. Genervt drehte er sich um. Vor ihm standen drei lachende Jungs, alle mindestens ein Jahr älter als er. „Na, Indigoner-Bubi? Hat’s aua gemacht?“, sagte der Junge ganz rechts. Er hatte ganz kurzes, braunes Haar. Daran erkannte man, dass er hier neu war, denn bei der ‚Einlieferung‘ bekam man die Haare nahezu kahlgeschoren. Carsten ignorierte ihn und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Doch das half nichts. Dieses Mal traf der Stein seinen Rücken, auf dem auch noch einige, nicht verheilte Wunden waren. „Habt ihr nichts Besseres zu tun?“ Carsten kannte die Antwort schon, auch wenn er fragte. Es hatte keinen Sinn, sich irgendwie aufzuregen. Der Junge in der Mitte lachte schadenfroh. Seine orangenen Haare waren recht lang, dafür, dass er erst seit einem und einem viertel Jahr hier war. „Nein, haben wir nicht.“ Das hatte Carsten sich schon gedacht. Aber was konnte er tun? Nichts. Ihm blieb nichts weiter übrig, als sie zu ignorieren. „Was haste denn? Hat dich der Schnee eingefrorn? Du bis einfach nich gemacht für diese Welt. Kleiner Schwächling.“, blaffte der orangehaarige. „Sehr witzig, 9510.“, entgegnete Carsten nur und versuchte sich nicht weiter ablenken zu lassen. So schwach war auch nun wieder nicht. Aber drei gegen einen? Total fair. „Hey, Spaßt! Hör mir gefälligst zu!“, rief 9510, packte Carsten und schlug ihm mitten ins Gesicht. Einige Schüler, die das mitbekommen hatten, hörten mit ihrer Arbeit auf und beobachten lachend, wie Carsten zurücktaumelte und sich etwas Blut von der Nase wischte. Unsanft packte 9510 ihn am Kragen. „Mich einfach so zu ignorieren! Ich werd dir schon Maniern beibringn!“, schrie er, schlug Carsten mehrmals ins Gesicht und stieß ihn schließlich mit dem Kopf gegen die Steine, die sie eigentlich bearbeiten sollten. Carsten fasste sich an die Schläfe. Blut lief an seinem Auge vorbei, über die Wange und tropfte von seinem schmalen Kinn auf den Hals hinunter. Wieder setzte 9510 zum Angriff an. Aus Reflex duckte sich Carsten und 9510s Faust traf auf die harten, vereisten Steine. „Pff, na guat. Für heut lassn wir’s.“, meinte er, rieb sich seine Hand mit den neuen Schürfwunden und verschwand mit seinem Gefolge. Carsten stützte sich an einem Vorsprung ab und mühte sich wieder auf die Beine. Da kam der Aufseher. „Was zum Teufel geht hier vor sich!?!“, brüllte er und blieb direkt vor Carsten stehen. „Aha, wie ich sehe, setzt sich da jemand lieber hin, als seine Arbeit auszurichten. Nun denn, komm bitte mal mit. Ich werd dir den Ehrgeiz schon einbrennen.“ Das kann doch nicht wahr sein! In Gedanken stieß Carsten einen Fluch aus, aber ihm blieb nichts weiter übrig, als dem Aufseher zu folgen. Die Wahrheit interessierte den sowieso nicht. Gerechtigkeit gab es hier nicht. Carsten ging wie immer mit zwei Metern Abstand hinter dem Aufseher her. Dieser bog in den Strafraum ein, welchen die Schüler Folterkammer getauft hatten. Er holte ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber aus einer Schublade welche in eine der Wände neben einer eisernen Jungfrau, die da angeblich nur zur Zierde stand, eingebaut wurde und kritzelte etwas drauf. Dann schob er es Carsten zu. „Bitte hier einmal unterschreiben.“ Carsten warf einen Blick auf das Blatt, aber es war überflüssig. Er wusste bereits was da stand.   7984 hat sich während des Sozialdienstes unerlaubt von seiner Arbeit abgewandt. Daher erteile ich, Aufseher Torsten Lothar Zanotiw ihm die Strafe „Brandkessel“. Torsten Lothar Zanotiw Unterschrift des Aufsehers                                                             Unterschrift des Schülers   Seufzend nahm Carsten den Kugelschreiber in die verkratzte Hand und unterschrieb mit seinem Nummernamen. Grinsend zog der Aufseher das Blatt weg und verstaute es in seiner Westentasche. „Nun denn, bereit?“, fragte er und Carsten konnte die Schadenfreude regelrecht spüren. Dieser Sadist schien es zu lieben, wenn seine Schüler das gerade aus dem Ofen kommende Metall auf den Rücken gepresst bekamen. Widerwillig nickte er. Was sollte er auch sonst machen? Abhauen war keine schlaue Alternative. Er folgte dem Aufseher durch die linke Tür, die in einen kochend heißen Raum führte. Dafür wurde die Wärme natürlich benutzt. Für die Strafen. Und nicht für eine mal angenehme Dusche. Der Aufseher drehte eine Zange zwischen seinen Fingern. „Zieh dein Oberteil aus.“, befahl er Carsten. Dieser gehorchte. Auch über seiner Brust und auf seinem Rücken waren mehrere Kratzer. Doch die sollten nicht alleine bleiben. Carsten beobachtete, wie der Aufseher ein ungefähr kopfgroßes Metall aus dem Ofen holte und kniff bei dem Anblick dieses rot glühenden Horrors die Augen zusammen. „Umdrehen.“, sagte der Aufseher belustigt und schien sich bereits auf das Kommende zu freuen. Wieder gehorchte Carsten. Ohne irgendeine Vorwarnung, stemmte der Aufseher das Metallstück gegen Carstens Rücken. Sofort breitete sich ein brennender Schmerz in Carstens Körper aus. Ein Schmerz, der ihm den Atem raubte, ihn komplett zu übernehmen schien. Ein unmenschlicher Schmerz. Er nahm Carsten alle Hoffnung und Träume an die Zukunft. Gab ihm das Gefühl, ganz allein auf dieser Welt zu sein. Ein Nichts. Ein Haufen Elend. Schmerzverzerrt biss sich Carsten auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Nein, er würde nicht schreien. Diesen Triumph gönnte er dem Idioten nicht. Nach fünf endlosen Sekunden befreite er Carsten von dem glühenden, unmenschlichen Etwas. Das war weg, doch es hinterließ diesen stechenden Schmerz und den widerlichen Gestank verbrannter Haut. Carsten sackte auf die Knie. Er versuchte zu atmen und dabei einen Würgereflex zu verhindern. Ihm war kotzübel. Und das Metallteil schien auch nicht wirklich weg zu sein. Es war immer noch da, um seinem Rücken weiter zu schaden. Beinahe hätte sich Carsten vergewissern wollen, ob es wirklich in dem Eimer mit Eiswasser lag und zufrieden mit seiner Tat vor sich hin zischte. „Los, aufstehen. Und dass du mir dieses Mal nicht auf die Idee kommst, zu faulenzen.“ Unsanft zog der Aufseher Carsten wieder auf die Beine und warf ihm sein Oberteil zu. Benommen zog Carsten es über und versuchte dabei, nicht an der frischen Wunde zu scheuern, was sowieso keinen Sinn machte. Es würde garantiert fünf Monate dauern, bis er das Brennen nicht mehr spürte. Wenn er nicht etwas nachhelfen würde… Aber das war verboten. „Auf, an die Arbeit!“ Der Aufseher stieß Carsten nach vorne und traf natürlich genau die Brandwunde. Carsten funkelte ihn aus den Augenwinkeln noch mal an und verschwand dann taumelnd aus der Folterkammer. Er war einfach zu feige, sich Befehlen zu widersetzen. Er konnte sich einfach nicht rebellisch verhalten, auch wenn sein bester Freund in diesem Fach ein Meister war. Da fiel ihm ein Zettel in seiner Hosentasche ein. Er hatte es gestern völlig vergessen! Schnell rannte er wieder in die Folterkammer, wobei er Mühe hatte, nicht gleich umzukippen und reichte dem Aufseher den Zettel. „Hm, na gut. Aber denk dran, nur zwanzig Minuten. Und danach geht es sofort zur Arbeit!“ Seufzend nickte Carsten und rannte in das Hauptgebäude des FESJ, zu den Telefonzellen. Er brauchte jetzt einfach mal eine Abwechslung von diesem hoffnungslosen Alltag. Wollte einfach mal von etwas anderem hören als nur Arbeit und Strafe. Er tippte die Nummer ein und nach noch nicht einmal zwei Sekunden wurde auf der anderen Seite der Hörer abgenommen. „Danke. Du hast meinem Wecker die Arbeit erspart.“, meldete sich eine sarkastische und trotzdem ruhige Stimme am anderen Ende der Leitung. „Entschuldige, habe ich dich geweckt?“, fragte Carsten und bereute seinen Anruf fast. „Hab ich dir doch gesagt.“ Die Stimme klang nicht vorwurfsvoll und auch nicht verschlafen, aber das konnte täuschen. Trotzdem, wenn Carsten diese Stimme hörte, hatte er das Gefühl, seinem Zuhause, seinem wahren Zuhause, viel näher zu sein. Doch er hatte ein schlechtes Gewissen. Es war erst halb sechs. „Tut mir leid.“, entschuldigte er sich. „Du bist noch schlimmer als Laura.“ Carsten wusste sofort, dass Benni auf der anderen Seite der Leitung die Augen verdrehte, ohne es überhaupt sehen zu müssen. „Wie geht’s dir?“, fragte Benni besorgt. Carsten lachte. Einerseits klang es verzweifelt, andererseits aufgemuntert. „Seit wann machst du dir Sorgen um mich?“ „Du hast das letzte Mal vor vier Monaten angerufen.“ „Ich darf nur einmal im Monat telefonieren.“, widersprach Carsten, aber ihm fiel auf, dass er in den letzten vier Monaten nur einmal seine Mutter angerufen hatte. Sonst nutzte er seine Chance nie. Warum eigentlich? „Eigentlich wollte ich dir zum Geburtstag gratulieren… nachträglich. Alles Gute.“, sagte Carsten. Von Bennis Seite kam keine Reaktion, aber das kannte Carsten nur zu gut. Benni war kein Mensch vieler Worte. Carsten lächelte. „Du hast dich nicht verändert.“ „Sollte ich?“ „Etwas freundlicher wäre nett. Du sitzt immerhin nicht in diesem Gefängnis fest.“ „Keinen Bock. Und was das Gefängnis betrifft, da kommst du in den nächsten Wochen raus.“ Carstens Augen weiteten sich. „Wie willst du das denn anstellen?“ „Ich werde nichts machen.“, antwortete Benni. Warum hatte Carsten das Gefühl, dass er nicht der einzige war, der aus Bennis Antworten nicht schlau wurde? Carsten seufzte. „Hast du nicht genauere Informationen?“ Aber Benni wechselte das Thema. „Haben die dir wieder eine Metallplatte aufgedrückt?“ Wieder seufzte Carsten. Natürlich bemerkte Benni es. Bei seinem Scharfsinn… Nur, dass er so genau wusste, welche Strafe es war, wunderte Carsten. Aber er hatte nicht vor, zu fragen. Er bekäme ja doch keine klare Antwort drauf. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Zähler. Noch zwölf Minuten. Es war gar nicht mal so schlecht, dass sich Benni immer kurz hielt. Aber da war noch eine Sache, die er unbedingt von ihm wissen musste. „Was ist jetzt eigentlich mit Laura?“ „Was?“ Benni schien nicht sonderlich gut darauf anzusprechen sein, aber auch das wusste Carsten bereits. „Du weißt, was ich meine. Und gib dieses Mal eine klare Antwort!“ „Sie ist auch auf dieser Schule.“ „Das ist keine klare Antwort. Benni, ich hab nicht viel Zeit!“ „Mehr gibt’s nicht.“ Meinte Benni damit, mehr würde er nicht erzählen, oder es gibt nicht mehr erzählenswertes? „Benni… Bitte!“, flehte Carsten. Noch zehneinhalb Minuten. „Es geht…“ Das war Bennis Antwort. Aber es hieß wohl, dass sie sich so mehr oder weniger doch endlich vertragen hatten. Carsten schreckte auf, als schnelle Schritte den Gang hinunter kamen. Vorsichtig spähte er aus einem kleinen Glasfenster, welches für das einzige Licht in der Telefonzelle sorgte. „Verdammt“, zischte er, unbeabsichtigt auf Indigonisch, seiner Muttersprache. Warum musste 9510 ausgerechnet jetzt kommen? „Ähm Benni, ich habe da gerade ein Problem…“ Benni schien es schon verstanden zu haben, bevor Carsten die Schritte überhaupt bemerkt hatte. „Wozu bist du Magier?“ „Aber ich- ich darf hier doch nicht einfach-“ „Gutmütiger Trottel.“ „So krass musst du mir das nicht sagen!“ „…“ Mal wieder keine Reaktion von Bennis Seite. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und 9510 trat ein. „So mein Lieber, deine Zeit ist nun abgelaufen.“ „Zisch ab, hier gibt es genug Telefone.“, antwortete Carsten schroff. Benni hatte Recht, er durfte sich das alles nicht einfach gefallen lassen. „Ich will gar nicht telefonieren.“ Carsten schauderte. Leute zu verprügeln war wohl sein einziges Hobby. Besonders dann, wenn sie eigentlich schon genug gelitten hatten. Carsten warf noch einen Blick auf den Zähler. Knapp über fünf Minuten blieben ihm noch. „Du bist immer noch ein Magier.“, kam es von dem Ende der Leitung auf Indigonisch. Carsten atmete tief durch. „Venaterukhironera!“ Aus dem Nichts tauchte ein mächtiger Windstoß auf und ließ den Deppen den ganzen Weg den er gekommen war zurückfliegen. So stark wollte Carsten ihn eigentlich nicht machen. Erleichtert atmete er auf. „Danke, diese Ein-Wort-Standpauke habe ich gebraucht.“ „Ich kann dir nicht immer Schimpfwörter an den Kopf knallen, wenn du Probleme hast…“ …Aber Spaß machen würde es schon, beendete Carsten in Gedanken Bennis Satz. „Ich kann nicht nach Lust und Laune zaubern! Und schon gar nicht hier!“ „Weichei.“ „Ja, gut, ich hab’s kapiert.“ „Hoffe ich doch…“ Na toll, noch eine Minute. „Ähm… Benni, ich hab kaum mehr Zeit.“ „Okay. Noch zwei Wochen, das müsstest du ohne Probleme schaffen.“ Ein Klack war zu hören. Benni hatte aufgelegt. Carsten wurde einfach nicht schlau aus ihm. Aber ihm reichte die Gewissheit, bald von hier verschwinden zu können. Weiß Gott, wie. Er glaubte Bennis Worten einfach mal. Was sollte ihm auch anderes übrigbleiben? Ohne Hoffnung und einen Glauben an die Zukunft war man hier verloren. Genauso, wie wenn man eigentlich nicht von der eher gewalttätigen Seite kam. Doch all die Kraft die er am Anfang noch hatte, wurde von Tag zu Tag, von Strafe zu Strafe schwächer. Er konnte nichts mehr ausrichten. Nur noch zusehen, wie er sich immer mehr dem Drang hingab, einfach sein Leben zu beenden. Carsten schüttelte seinen Kopf und rief sich Bennis Stimme in Erinnerung. Angsthase, würde dieser jetzt garantiert sagen. So war Benni halt. Aber er wollte damit nie was Schlechtes. Es war wie ein Schlag auf den Hinterkopf, der Carsten an das Licht in der Welt erinnern sollte, für das es sich lohnte zu kämpfen und hin und wieder mal einige Regeln zu brechen. Licht… Warum übermittelte Benni Carsten dieses Gefühl und glaubte selbst nicht daran? Hoffnung, Liebe, Freude… Das alles waren für ihn Fremdwörter. Er verstand sie nicht. Aber warum denn? So schwer war das doch nicht! Carsten zuckte zusammen. Er hatte die Brandwunde doch tatsächlich vergessen! Und auch seine Arbeit! Wenn er sich nicht beeilte, würden die vielleicht doch mal die eiserne Jungfrau benutzen, die angeblich noch nicht mal im magischen Krieg angewandt wurde, sondern nur dazu diente, den Gefangenen Angst und Schrecken einzujagen. Mit schnellen Schritten ging Carsten zurück zu dem Steinbruch. Sein Körper war immer noch wie gelähmt und wollte nicht so recht mit dem Arbeiten fortfahren. Doch Carstens Verstand übermannte ihn.   Erleichtert, dass er sogar die ersten Unterrichtsstunden überlebt hatte, obwohl ihn der Schmerz immer noch quälte, ging Carsten in die Pause. Er hatte sich seinem Regelbefolgerdrang widersetzt und auf Bennis Frage Wozu bist du ein Magier? mit einem starken Heilzauber geantwortet. Heilungen waren Carsten ein Leichtes. Bennis Lehrmeisterin war sowohl eine Meisterin der Kampfkunst als auch der Magie. Eigentlich unmöglich, doch so war es nun mal. Während es Benni durch ihr Training bereits im Grundschulalter mit den wahren Profis aufnehmen konnte, unterrichtete sie Carsten in allen möglichen Formen der Magie. Seien es Angriffszauber, Verwandlungen, Tränke oder Heilmethoden. Letztere lagen Carsten am meisten und er half seiner Mutter immer im Krankenhaus. Bis sein Bruder sich dann durchgesetzt hatte, weil er Carstens Glück nicht hatte ertragen können. Und das war die Folge davon. Das FESJ, das Gefängnis, die Hölle auf Erden. Wieder zurück in der höllischen, realen Welt, musste sich Carsten eingestehen, dass er sich nicht so in seinen Traumwelten verlieren durfte. Die Pausen waren die gefährlichste Zeit des ewigen Tages, da seine Feinde hinter jeder Ecke, hinter jedem Schüler oder gar hinter ihm lauern könnten. Unsicher drehte sich Carsten um, aus Angst, jede Sekunde würde ihn jemand auf seinen verbrannten Rücken schlagen. Trotz des Heilzaubers tat er immer noch schrecklich weh. „Na du? Suchste was? Vielleicht deine Eier?“ Ein brutaler Schlag raubte Carsten den Atem. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er wieder das rot glühende Metall vor Augen. Er bemühte sich, gerade stehen zu bleiben und sich nicht vor Schmerz zu krümmen. „Wir müssn ma redn.“, sagte 9510 und zerrte Carsten zu einem kleinen Schülerkreis. Alle hatten Zigaretten oder sonst was in der Art zwischen den Lippen oder hielten hochprozentigen Alkohol in der Hand. Bei dem Geruch von Gras wurde Carsten wieder schlecht und er versuchte hustend, den Rauch weg zu fächeln. „Oh, kann unser Bubi Drogen nich leidn? Das tut mir aba Leid, ich wollt dir was anbietn.“ 9510 strich sich mit einer unbenutzten Kippe eine seiner orangenen Strähnen aus dem Gesicht. „Nein danke, ich kiffe nicht.“, sagte Carsten und versuchte das Zittern in seiner Stimme so gut es ging zu überspielen. 9510 seufzte. „Schade. Vielleicht eine Zigarette?“ Carsten schüttelte entschlossen den Kopf und sah 9510 stur an. „Wat soll dat? Imagewechsel? Seit wann biste denn so rebellisch?“ der Junge mit den ganz kurzen, fast rasierten braunen Haaren lachte. Der restliche Kreis um Carsten herum begann es ihm gleich zu tun. 9510 grinste. „Scherz beiseite. Kommen wir zum eigentlichn Grund.“ Carsten wollte es schon gar nicht wissen. Warum suchte der eigentlich einen Grund, um ihn zu verprügeln? Eigentlich war das doch überflüssig. Jedenfalls für jemanden wie 9510. „Ich will, dass du die nächsten zwei Wochen unterrichtsunfähig bist.“, sagte er. Carsten legte den Kopf schief. Warum denn das?, fragte er zweifelnd. „Mehr musste nich wissn. Aba eins sag ich dir, wenn du es morgen wagst, zu kommen, bist du mehr als krankenhausreif.“ „Ich möchte wissen, warum.“, sagte Carsten entschlossen. Die Sache mit auf Krank machen, brachte ihn zwar in Versuchung, aber da gab es hundertprozentig einen Haken. Wie könnte es auch anders sein? „Ich sag dir nur eins. Ich will hier raus, und du hinderst mich dran.“, antwortete 9510. Wie jetzt? Ich helfe ihm, hier raus zu kommen, wenn ich nicht in die Schule gehe? Carsten verstand nicht, was er damit meinte, als ihm Bennis Worte wieder einfielen. ICH werde nichts tun. Das hieß vielleicht so viel, dass Benni selbst nichts ausrichten konnte, aber Carsten sehr wohl. Doch Benni schien zu wissen, dass er es schafften würde. „Hey, hörste mir zu?! Also? Ab morgn kein Unterricht mehr für dich.“ 9510 boxte Carsten ins Gesicht, als wäre es eine Vorwarnung, was passieren würde, wenn Carsten doch käme. Benommen taumelte Carsten einige Schritte zurück und nickte. 9510 ging lachend davon. „Was für ein Angsthase!“, rief er als er und seine Gruppe ihn alleine zurückließen. Trotzig rieb er sich die Nase. Als würde er tatenlos zusehen, wenn ein wahrer Verbrecher, wie 9510 frei kam und er weiterhin in der Hölle festsaß. Über 9510 erzählte man sich viele Gerüchte. Die meisten waren nur aus Langeweile und vor der Flucht vor dem trostlosen Alltag entstanden, aber an einem war wirklich etwas dran. Mehrere Mordversuche und beinahe tödlich endende Prügeleien. Das passte zu ihm wie angegossen. Der Tag verging genauso trostlos, wie alle anderen Tage bisher. Sogar der Küchendienst konnte Carsten nicht wirklich aufheitern und durch die Brandstrafe schlief er auch nicht gut. Mal wieder verschlafen und von dem krächzenden Trompetenton geweckt, rannte Carsten zu dem Morgenappell und versuchte, weder 9510 noch seinen Anbetern über den Weg zu laufen. Wie immer stand der Direktor gelangweilt auf seiner kleinen Bühne und wartete, bis sich jeder in den nun durch die Schuhe matschig gewordenen Schnee setzte. Angeekelt setzte sich Carsten nicht wie die anderen in den Schneidersitz, sondern auf die Knie, während der Direktor zu sprechen anfing. „Bevor ich euch eure heutigen Aufgaben verteile, habe ich etwas Wichtiges anzukündigen. So wie alle acht Jahre, führt unsere Schule dieses Jahr, zu Beginn des neuen Schuljahres die FGDW/ Freigesprochen durch Wissens-Prüfung aus, welche nächste Woche Freitag stattfindet. Derjenige mit der höchsten Punktzahl wird von seiner Anklage freigesprochen und darf eine Staatsschule besuchen. Wenn die Punktzahl sogar weit über der Durchschnittsleistung oder gar kaum verbesserbar ist, schreiben wir diesem Schüler sogar eine Empfehlung für eine Eliteschule. Also, möge der Schlauste seinen Lohn erhalten. So und nun zu euren heutigen Aufgaben…“ Carsten konnte es nicht glauben. Das hatte Benni wohl gemeint! Was sonst? Deshalb wollte 9510 auch verhindern, dass er ab heute nicht mehr kam. Doch der würde Carsten nicht mehr aufhalten können. Er würde keine acht Jahre bis zur nächsten Prüfung warten. Ein Feuer loderte in Carsten auf. Nicht das schmerzhafte, quälende vom Vortag. Sein Kampfgeist war erwacht. Carsten fühlte sich so stark wie nie zuvor. Er könnte es nun mit jedem aufnehmen. Keine Brandstrafe der Welt konnte ihn eben davon abhalten. Die Zeit bis zur Pause verging so wie immer. Zu seinem Glück musste Carsten dieses Mal nicht im Steinbruch, sondern außerhalb der Schule, im Atomkraftwerk direkt nebenan arbeiten. Dort war er 9510 los. Doch sein Glück sollte nicht ewig anhalten. Ein schmerzhafter Stoß in die Rippen ließ Carsten hochschrecken. „Du verwichstes Arschloch! Ich hab dir doch gesagt, dass du nich kommen sollst!“, brüllte 9510 Carsten ins Ohr, packte ihn am Kragen und brach ihm mit einem einzigen Schlag seine Nase. Sofort liefen Bluttropfen über seine blassen, nahezu blauen Lippen. Grob befreite sich Carsten aus 9510s Griff. „Dieses Mal wirst du mich nicht aufhalten können.“ 9510 knurrte. „Das werden wir ja sehen.“ Er verpasste ihm einen Schlag in den Bauch und Carsten fing sich noch rechtzeitig mit den Händen ab. Der Schmerz in seiner Nase war kaum zu spüren, aber es fühlte sich trotzdem eklig an. Schmerzhafter war der Tritt ins Gesicht, den 9510 ihm verpasste. Carsten stöhnte auf und versuchte, einen weiteren Tritt abzuwehren. Erfolglos. 9510s Gefolge half nach, Carsten bewegungsunfähig zu machen. Sie packten ihn an den Schultern, so dass er 9510 wehrlos ausgeliefert war. Brutal trat dieser auf Carsten ein. Dabei wiederholte er immer wieder einen Satz. „Du wirst mir nich im Weg stehen!!!“ Und was sollte Carsten jetzt machen? Das schien wohl doch sein Grab zu werden. Gutmütiger Trottel. Wozu bist du Magier?, hallte es in Carstens Kopf. Stimmt. Benni würde zurückschlagen. Als 9510 ihn kurz mit seinen Schlägen verschonte, schrei Carsten: „Fesagatikegacöh!“ Eine strahlende Druckwelle schleuderte 9510 und die beiden, die Carsten gefasst hatten von ihm weg. Atemlos beobachtete Carsten sein Werk. Er hatte ewig nicht mehr gezaubert oder sonst wie gekämpft und war überrascht, wozu er alles in der Lage war. „Sarinjara.“, murmelte er. Die gebrochene Nase war so, als wäre sie nie gebrochen gewesen und auch all seine anderen Verletzungen schienen nie gewesen zu sein. Sogar die Brandwunde war fast überhaupt nicht mehr zu spüren. Langsam bekam Carsten trotzdem Panik. Was, wenn jemand es mitbekommen hatte? In raschen Schritten entfernte er sich von der Stelle, an der er vor einigen Sekunden noch glaubte, er würde hier seinen letzten Atemzug tun. Gedankenversunken strich Carsten über die drei Narben in seinem Gesicht. Bald würde er frei sein. Wieder erklang dieser unschöne Trompetenton, was bedeuten sollte, die Pause war vorbei. Zum ersten Mal seit Jahren, passte Carsten im Unterricht wieder richtig auf. Er hatte nie Probleme, die Themen zu verstehen und zehnseitige Texte konnte er nach höchstens zwei Mal lesen auswendig aufsagen. Daher kannte er auch so viele Mizeroandras, Zaubersprüche der Dryaden welche durch den magischen Krieg zerstört wurden und in Vergessenheit gerieten, ebenso wie ihre Schöpfer. Dryaden waren, soweit Carsten wusste, nur noch ein Mythos. Ausgestorben. Ermordet von Menschen, die ihre Evolution nicht in den Griff bekamen. Die nur zerstören konnten. Seufzend wandte sich Carsten seinen Schulaufgaben zu, die für ihn schon aus der Zeit der Antike zu stammen schienen. Einfach nichts Neues.   Die zwei Wochen vergingen wie im Flug. Carsten bemühte sich, 9510 so oft es ging zu meiden (als versuchte er das nicht immer…) doch hin und wieder trafen sie doch aufeinander, wie ein Meteor, der auf die Erde prallte. Nur dass Carsten zu dem Meteoren wurde. Er würde sich nicht länger an die Regeln halten, wenn das hieße, sein Leben stünde auf dem Spiel und er würde weiterhin hier gefangen bleiben. Der ‚gutmütige Trottel‘ war für diese kurze Zeit mal der ‚sture Rebell‘. Der Tag der Prüfung war anders als sonst. Er durfte endlich mal bis um sechs Uhr ausschlafen! Und keine krächzende Trompete, sondern ein krächzender Wecker ließ ihn aufwachen. Gutgelaunt ging Carsten in die Dusche und drehte das Wasser auf, doch er zuckte bei der Wärme sofort zusammen und stellte sie wieder auf kalt. Warum auch immer, er fand das kalte Wasser viel angenehmer. Nur die Schuluniform, sein Zimmer und der Rest der Schule wirkte immer noch trostlos und streng. Carsten folgte seinen Mitschülern in die Cafeteria, in der die Prüfung geschrieben wurde. Die Tische waren nicht mehr diese Gruppentische, die Carsten so hasste, da er immer einen Platz neben Verbrechern bekam, sondern Einzeltische, die eineinhalb Meter getrennt voneinander standen. Immerhin war in der Cafeteria kein Platzmangel und für jeden war ein Tisch vorhanden. Es blieb sogar einer über. Carsten setzte sich ganz nach hinten und sah sich um. Die Plätze neben ihm waren schon belegt und 9510 sah er auf der anderen Seite der Cafeteria. Carsten atmete erleichtert auf. Jetzt könnte nur noch eine Katastrophe verhindern, dass er den Test schrieb. Alle Lehrer waren anwesend, auch der sadistische Aufseher von vor über einer Woche. Der Direktor teilte die Fragebögen, bestehend aus zehn Blättern, verdeckt auf den Tischen aus und nahm sie Schülern, die bereits auf das erste Blatt gelunst hatten wieder ab. Einmal Regelverstoß und der Traum platzte. Nachdem er alle ausgeteilt hatte, begann er die ‚Prüfung zur Freiheit‘, wie Carsten sie getauft hatte, kurz zu erklären. „Nun denn. Euer großer Tag, euch zu beweisen, ist gekommen. Die Prüfung besteht aus zehn Teilen: Mathematik, Damisch, Deutsch, Latein, Biologie, Chemie, Physik, Erdkunde und Geschichte. Jeder Teil bringt 25 Punkte. Mathematik, Damisch, Deutsch und Geschichte jeweils 50 Punkte. Ihr habt drei Stunden und fünfzehn Minuten Zeit. Versucht so viele Aufgaben wie möglich zu lösen. Ich wünsche euch viel Erfolg.“ Gleichzeitig drehten alle Schüler die Fragebögen um. Nun war nur noch das Rascheln des Papiers und das Kratzen der Stifte zu hören. Hin und wieder ein Seufzen von Schülern, die keine Ahnung mehr hatten, was sie antworten sollten oder ein Lehrer, der einen seiner Sprösslinge beim Spicken erwischte und diesem ohne wenn und aber das Blatt abnahm. Gemeinsam mit anderen Schülern gab Carsten ungefähr eine halbe Stunde vor Schluss ab. Er war zufrieden mit dem Ergebnis. Es gab keine Frage, die er nicht hätte beantworten können und keine Aufgabe, die er zum Haare-Raufen fand. Alles hatte er gelöst, Fragen blieben keine offen. Nun wartete er mit den übrigen Schülern auf dem Schulhof. Was die Korrektur der Arbeiten betraf, so waren die Lehrer darin wahre Meister, das musste man ihnen lassen. Und darunter gab es keine Ausnahmen. Gegen Abend sollte das Ergebnis bekannt gegeben werden, so lange musste Carsten noch ausharren. Bis zum Abend hatten sie zum ersten Mal Freizeit und viele der Schüler nutzten die Gelegenheit, um noch mal ein bisschen zu schlafen oder sie verschwanden in die Raucherecke, die genauer gesehen der ganze Schulhof war. Nur Carsten blieb in der Nähe der Cafeteria. Er sah auf die große, alte Uhr, die garantiert um einiges älter als das Hauptgebäude selbst war. Und das Hauptgebäude war schon im magischen Krieg ein wichtiger Ort für auszubildende Soldaten gewesen. Carsten wusste nicht, wie lange er schon dort im Schnee saß und die grauen Wolken beobachtete, die das blau des Himmels in sich aufgesaugt hatten. Nur, dass es bald so weit war. Die Brandwunde hatte er fast ganz geheilt. Aber da es dieselbe Stelle war wie einst vor sechs Jahren, schien sie dennoch ihre Spuren auf seiner Haut zu hinterlassen… Energische Schritte, die vom Schnee gedämpft wurden, kamen auf ihn zugehastet. Carsten musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer da kam. Wutentbrannt, mit nur noch größerer Lust zu töten. „Du kleiner- Ich hab dich gewarnt!“, brüllte 9510 und packte Carsten an der Kehle. „Ich kill dich, du Arsch!“, schrie er. Carsten versuchte ruhig zu atmen, aber 9510 drückte so fest zu, dass er seine Atemwege blockierte. „Lass los, sonst…“, keuchte Carsten. „Was sonst? Willste mich mit ein bisschen hex, hex und pling, pling in nen Frosch verwandln, oder wie? Spar dir deine Luft. Lang wirste sie nich mehr habn.“ Carsten musste sich eingestehen, dass er Recht hatte. 9510 drückte so fest zu, dass er nicht mehr richtig reden konnte, geschweige denn einen Zauber aussprechen. Was sollte er tun? Ihm fiel nichts ein… 9510 hob seine freie Hand, um zum Schlag auszuholen. Carsten versuchte sich noch einmal zu befreien, aber erfolglos. Sein Griff war zu fest. 9510s Hand schnellte vor und traf direkt Carstens linkes Auge. Aus Reflex kniff Carsten beide Augen zusammen, um den nächsten Schlag nicht sehen zu müssen. Doch in diesem Moment lockerte 9510 seinen Griff etwas. „Agaritai Marilliew!“, rief Carsten schnell, dem nun etwas mehr Atemraum blieb. Eine gewaltige Welle erhob sich über Carstens Kopf und brach auf 9510 ein. Carsten bekam noch nicht mal einen Spritzer ab, doch 9510 lag klitschnass und bewegungsunfähig am Boden. Seine beiden Handlanger kamen dazu gerannt und halfen ihm auf die Beine. Doch in diesem Augenblick kam der Direktor, Boris Adenauer aus der Cafeteria. „Darf ich erfahren, was in Gottes Namen hier vor sich geht?!“, brüllte er, außer sich vor Wut. „Ähm, nun ja…“, setzte 9510 an, schien aber zu benommen, um antworten zu können. Dafür ergriff der Handlanger mit den viel zu kurzen Haaren das Wort: „Meister Adenauer! Nummer 7984 hat unbefugte Gewalttätigkeiten an unserem Mitschüler 9510 ausgeübt.“ Verärgert ballte Carsten die Hände zu Fäusten. Er hätte sich denken müssen, dass diese Idioten zu Gunsten ihres Anführers lügen würden. Was hätte er anderes erwarten sollen? Die Wahrheit? So etwas existierte hier bekanntlich nicht. „So, so. Wie schade… Ich wollte gerade das Ergebnis bekannt geben. Sie 7984, haben mit gewaltigem Abstand das beste Ergebnis! Volle Punktzahl! Aber dieser Vorfall eben… Ich kann keinen brutalen Magier in die Welt lassen, damit würde ich meine Aufsichtspflicht verletzen. Wobei es mich wundert, dass Sie hier überhaupt in der Lage sind zu zaubern… Seltsam… Nun denn, der Aufseher kann sich ja Ihnen annehmen.“ der Direktor seufzte gespielt. „Nun, der mit der zweitbesten Punktzahl würde dann natürlich freigesprochen, und das wäre-“ „Ich habe mich nur gewehrt!“, unterbrach Carsten Herr Adenauer. Als wäre sein blaues Auge nicht Beweis genug. Wieder seufzte Herr Adenauer. „Dazu einfach noch jemanden unterbrechen und lügen. Ich weiß nicht, was später mal aus Dir werden soll, mein Junge.“ „Ich lüge nicht!“, widersprach Carsten, aber sein Kampf war vergebens. Was konnte er schon gegen den Direktor ausrichten? Ein Zucken durchfuhr seine Fingerspitzen und er kam in Versuchung, eine weitere Welle loszuschicken. Herr Adenauer schien genug gehört zu haben. „Torsten?! Ist der Ofen mit den Strafmetallen heiß genug?“ Der Aufseher kam zu dem Direktor gehastet. „Selbst verständlich.“, antwortete er, mit einer tiefen Verneigung. „Wie schön! Dieser junge Mann muss wohl etwas Dampf ablassen. Würdest Du ihn bitte in den Strafraum begleiten?“, forderte Herr Adenauer den Aufseher auf. Wieder verneigte sich dieser. „Selbstverständlich. Los, komm mit!“ Mit einer gewaltigen Kraft packte er Carsten am Handgelenk und zerrte ihn mit sich. Nein! Kann nicht einmal etwas fair sein?!?, schrie es in Carstens Kopf. Sein gesamter Körper zitterte. Er wollte nicht noch einmal diesen Horror spüren. Einmal einige Monate nachdem er ‚eingeliefert‘ worden war und dann vor gerade mal zwei Wochen… Das war mehr als genug. Er konnte nicht mehr! Panisch schnappte Carsten nach Luft. Ein schwummriges Gefühl breitete sich in seinem Kopf aus und ließ seine Sicht unscharf werden. „Seien Sie doch nicht so hart zu dem armen Jungen. Er ist wirklich unschuldig. Ich habe es gesehen, falls Sie einen ehrlichen Zeugen brauchen.“, sagte eine tiefe, ruhige Stimme. Überrascht schaute Carsten auf. Ein sehr großer Mann, mit langen rosaroten Haaren und einem schwarzen Mantel lehnte nicht weit entfernt aus einem Fenster im Erdgeschoss. „Herr Bôss! Wie lange sehen Sie denn zu?“, fragte Herr Adenauer und klang irgendwie eingeschüchtert. Er schien genauso überrascht, wie Carsten. Herr Bôss schwang sich über das Fensterbrett nach draußen zu ihnen. „Lange genug. Sie gehen wirklich nicht gerecht mit ihren Schülern um.“ „I-Ich konnte doch nicht ahnen, dass-“, stotterte Herr Adenauer. „Das habe ich mir gedacht. Ich rate Ihnen, dem Jungen die Empfehlung zu geben. Er hat sie sich reichlich verdient.“ Herr Bôss Worte klangen eher wie ein Befehl und nicht nach einem Ratschlag. „S- Selbstverständlich. Aber welche Schule würde einen Schüler mit einer solchen Akte aufnehmen?“ Herr Adenauer schien Carsten den Triumph nicht wirklich zu gönnen, das war anzumerken. Herr Bôss lachte. „Also ich würde ihn gerne an der Coeur-Academy aufnehmen. Jemanden mit so viel Potential gibt es nicht alle Tage.“ Sowohl Carstens, als auch Herr Adenauers und 9510s Augen weiteten sich zur gleichen Zeit. „In die Coeur-Academy?! Das is doch ‘n Witz! Der auf ner Elite Schule mit so nem hohen Niveau?!?“, schrie 9510. „Denkst du, du würdest da eher hingehören?“, fragte Herr Bôss, aber für ihn war die Sache schon beschlossen. Trotzdem wandte er sich Carsten zu. „Ich möchte dich natürlich zu nichts zwingen. Wenn du unbedingt hierbleiben möchtest, dann werde ich dich nicht aufhalten.“ Herr Bôss klang leicht belustigt. Carsten befreite sich aus dem Griff des Aufsehers. Diese Frage zu stellen war überflüssig. Herr Bôss lachte. „Habe ich es mir doch gedacht. Am besten, du packst deine Sachen, falls du hier überhaupt eigene Sachen besitzen darfst. Wir müssen in zweieinhalb Stunden im Flugzeug sitzen. Das letzte Mal hatte ich meinen Flieger schon verpasst gehabt und meine Frau war alles andere als amüsiert davon gewesen.“ Herr Adenauer stöhnte genervt auf. „Schon gut, schon gut. Nimm ihn mit. Ich habe nichts dagegen. Los, hol deine Sachen.“ Schnell rannte Carsten in sein einsames Zimmer. Er konnte es nicht glauben! Er würde innerhalb der nächsten Stunde frei sein! Frei von dieser trostlosen Hölle! Es war fast wie ein Traum. Doch Carsten wollte nicht aufwachen. Viel hatte er tatsächlich nicht im FESJ haben dürfen. Nur wenige Kleinigkeiten, die er schnell in einer Tasche verstaut hatte. Carsten ging zur Tür und hielt noch einmal inne, um seine ehemalige Zelle ein letztes Mal zu begutachten. Er erinnerte sich nur zu gut an den ersten Tag im FESJ. Wie er in Mitten zweier Polizisten hier ankam. Abgeführt wie ein Verbrecher hatte er sich gefühlt. Als er zum ersten Mal sein kleines, einengendes Zimmer sah, mit dem Gitter vor dem Fenster, der Gestank, der ihm sofort in die Nase stieg und von dem ihm sofort schlecht wurde. Das Essen, ungenießbar und Brechreiz auslösend. Kein Wunder, dass er so mager war. Am Anfang hatte er sich davon immer übergeben müssen und so richtig gebessert hatte es sich nie. Die Schüler, die in ihm von Anfang an den herzlichen Jungen sahen, ihn erst ausnutzten, bis er sich anfing zu wehren und dann zurückschlugen. All das war nun Vergangenheit. Er würde jetzt aus dem Zimmer gehen und es nie wieder betreten müssen. Zum letzten Mal würde er die graue Welt sehen, die ihn so lange von der Zivilisation getrennt hatte. Er konnte es immer noch nicht glauben. Er rannte regelrecht aus dem Wohnheim zu dem Haupttor, an dem Herr Bôss ihn schon mit einem Taxi erwartete. „Nun denn, dann wollen wir mal.“, sagte Herr Bôss. Carsten nickte. Herr Adenauer schüttelte ihm zum Abschied noch die Hand und wünschte ihm viel Glück. Von seinen Mitschülern wollte sich Carsten nicht verabschieden. Er war fast schadenfroh, als sich das schwere eiserne Tor schloss. Mit ihm auf der richtigen Seite. Aber Carsten bereute seine Gefühle sofort. Er konnte sich nicht über das Leid seiner Mitschüler freuen, egal was sie ihm alles angetan hatten. So ein Leben, wie er es nun ganze sechs Jahre geführt hatte wünschte er niemandem. Herr Bôss öffnete den Kofferraum, wo Carsten seine kleine Tasche verstaute. Dann stieg er ein. Er atmete noch ein letztes Mal den Gestank seines alten Gefängnisses ein, bevor sich die Autotür schloss. Er war frei!   Herr Bôss lachte auf. „Du scheinst dich dort ja sehr wohl gefühlt zu haben, hm?“ „Es war der Horror.“, antwortete Carsten. Er genoss nun jeden Atemzug, beobachtete alles Geschehen um ihn herum ganz genau. Ihm war noch nie aufgefallen, wie bunt und farbenfroh die Welt sein kann! Sie saßen im Flugzeug auf dem Weg nach Cor und Carsten hätte lieber die Landschaft, die unter ihnen vorbei zog betrachtet, als den Haufen Anmeldeformulare ausfüllen zu müssen. Schwarz auf weiß hatte er heute genug gesehen. Er wollte lieber die ganzen Farben in sich aufsaugen. Diese neuen Farben, die er alle schon längst vergessen hatte. Herr Bôss schien seine Gedanken zu lesen. „Du kannst dich ruhig auch erst einmal mit etwas Anderem beschäftigen. Diese Formulare sehen zwar viel aus, sind aber schnell ausgefüllt.“ Trotzdem füllte Carsten sie weiter aus. Es fehlten nur noch zwei von circa dreißig Blättern. „Du bist fleißig, dass muss man dir lassen. So einen perfekten Einserschnitt gibt’s selten. … Von den mündlichen Noten mal abgesehen. Bist wohl eher der schweigsame Schüler, hm? Na da kenne ich noch jemanden.“, meinte Herr Bôss, der Carstens Akte durchlas. Plötzlich begann er zu lachen. „Na sieh mal einer an! Mehrfache Arbeitsverweigerung, Prügeleien, Beschädigung des Schuleigentums und weiß Gott was sonst. Warum hab ich das Gefühl, dass du damit nicht wirklich was zu tun hast?“ Carsten seufzte. „Ich werde halt nicht wirklich gemocht…“ Herr Bôss nickte. „Hab ich mir schon gedacht. Mitleid bekommt man geschenkt, aber den Neid hast du dir problemlos erarbeitet.“ Carsten nickte nur und legte die beiden letzten Zettel zur Seite. Er war fertig. „Flott. Kein Wunder, dass du alle Aufgaben lösen konntest.“, meinte Herr Bôss, sichtlich beeindruckt. Carsten hatte noch nie so viel Bewunderung bekommen. Es fühlte sich… seltsam an. Ungewohnt eben. Genauso wie diese Freiheit, die er auf einmal hatte. Jetzt kann es nur noch besser werden, dachte Carsten fröhlich und beobachtete die Landschaft unter ihm. Kleine Dörfer zogen unter ihnen vorbei, Wälder, größere Städte… Und sie waren alle so farbenfroh und fröhlich! Schließlich setzte das Flugzeug zum Landeanflug an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)