Demon Girls & Boys von RukaHimenoshi ================================================================================ Kapitel 97: Nur ein kleiner Augenblick -------------------------------------- Nur ein kleiner Augenblick       Schweigend setzte sich Carsten auf die kühle, hölzerne Bank und schaute in den strahlend blauen Himmel. Die Sonne tauchte die Blätter der Bäume in leuchtende gelb- und orange-Töne, der See lag ruhig davor und spiegelte die Landschaft. Es war wie eine Pause. Ein kurzes Durchatmen, beinahe, als würde die Natur wissen, dass sie diesen einen Moment des Friedens brauchten. Diese paar Lichtstrahlen, bevor sich alles in tiefste Finsternis hüllen würde. Eine neue Melodie begann, drang durch die Kopfhörer in seine Ohren. Laura hatte ihm das Lied vor wenigen Tagen begeistert gezeigt und obwohl Carsten eigentlich kein großer Fan von Gesang war, hatte es irgendetwas Herzergreifendes. Vermutlich, weil es ihn so sehr an jemanden erinnerte…   ‘There's gotta be another way out I've been stuck in a cage with my doubt I've tried forever getting out on my own But every time I do this my way I get caught in the lies of the enemy I lay my troubles down I'm ready for you now’   Carsten betrachtete Jacks schlafendes Gesicht. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, die rotbraunen Haare waren wie sonst auch leicht verstrubbelt und auf der linken Seite extrem kurz im Vergleich zur rechten. Auch die Piercings gaben ihm ein eigentlich rebellisches Aussehen, aber eben gerade wirkte er einfach nur wie ein Junge, der nach einer ewigen, kräftezehrenden Zeit endlich die Ruhe bekam, die er so dringend brauchte. Bei der Erinnerung an Herr Bôss‘ Erzählung senkte Carsten bedrückt den Blick. Überrascht war er eigentlich nicht und trotzdem traf ihn diese Gewissheit härter als erwartet. Vier bis fünf Jahre lang, beinahe täglich war er… Hatte man ihn… Carsten biss die Zähne zusammen und versuchte die Gedanken daran aus dem Kopf zu schütteln. So ruhig und entspannt hatte er Jack bisher nie schlafen gesehen. Kitos Illusionszauber schien also tatsächlich zu wirken. „Carsten? Hast… du einen Moment Zeit?“ Überrascht schaute Carsten bei der verunsicherten Stimme auf, in Janines helle, blaue Augen. „Ja klar.“ Sein Blick fiel auf die linke Schulter, die sie sich hielt als würde sie ihr Schmerzen bereiten. „Brauchst du Tabletten?“ Janine schüttelte den Kopf, ihr Griff um die Schulter verspannte sich. „Es geht schon…“ So ganz konnte Carsten ihren Worten keinen Glauben schenken. Er betrachtete sie eingehender, Janines Blick jedoch war auf Jack gerichtet. Es fiel ihm schwer ihre Gedanken zu erahnen. Und dennoch meinte er die Zuneigung zu spüren. Irgendetwas in ihren Augen, neben Gewissensbissen und Mitgefühl, was ihm sagte, dass da noch viel mehr in ihrem Herzen verborgen war. Nicht wissend, wie sie es schaffen sollte das zum Vorschein zu bringen. Lächelnd legte Carsten seine Hand auf ihre unverwundete Schulter. „Was brauchst du denn?“ Erschrocken zuckte Janine zusammen, als er sie aus ihren Gedanken riss. „Ich… ähm… Ich wollte wissen, ob… ob du mich begleiten könntest…“ „Klar.“, erwiderte Carsten, leicht verwirrt. Gemeinsam verließen sie das Krankenzimmer, wobei ihm nicht entging, dass Janine noch einmal einen flüchtigen Blick zurückwarf, ehe die Tür sich schloss. Carsten hatte schon eine Vermutung um was, oder genauer um wen es ging. Und so verunsichert wie Janine wirkte, wollte er sie nicht auch noch in Bedrängnis bringen, indem er ein Verhör startete. Er hatte das Gefühl, dass sie das richtige tun wollte und würde. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Während sie die Straßen Kariberas entlangliefen, driftete Carsten mit seinen Gedanken ab.   ‘Bring me out Come and find me in the dark now Every day by myself I'm breaking down I don't wanna fight alone anymore Bring me out From the prison of my own pride My God I need a hope I can't deny In the end I'm realizing I was never meant to fight on my own’   “Was ist das?” “Hm?” Erst jetzt merkte Carsten, dass er die Melodie des Refrains vor sich hin gesummt hatte. „Ach, das Lied. Laura hört es zurzeit rauf und runter und ich bekomme den Ohrwurm gar nicht mehr aus dem Kopf.“ Janine kicherte. „Ach dieses.“ Sie betrachtete Carsten belustigt. „Du kannst es gerne auch richtig singen, du hast eine wirklich schöne Stimme.“ „So ein Unsinn, ich treffe ja nicht einmal die Töne.“, stritt Carsten das Kompliment verlegen ab. „Ach was.“ Doch alsbald starb Janines Lächeln, als sie den Zielort erreichten. Ein Supermarkt, wie Carsten verwundert feststellte. Sehr interessant. Frierend hauchte sie in ihre Hände und blickte schließlich zu Carsten hoch. „Kannst du mit reinkommen? Ich… Ich traue mich nicht alleine, da ich kein Indigonisch verstehe und…“ Carsten unterdrückte das Lachen und nickte ihr lediglich lächelnd zu. „Kein Problem.“ Janine war schon immer extrem schüchtern und introvertiert gewesen. In einen Supermarkt einer unbekannten Region mit einer noch unbekannteren Sprache zu gehen… Carsten konnte nur zu gut nachvollziehen, wie unwohl sie sich dabei fühlen musste. Er folgte ihr in das Innere des Ladens und betrachtete Janine, wie sie sich planlos umschaute. Die Schilder mit der indigonischen Schrift an der Decke konnten ihr dabei natürlich überhaupt keine Orientierung verschaffen. Schmunzelnd beobachtete er, wie sie wahllos in einen der Gänge abbog und schließlich unbeabsichtigt vor den Hygieneartikeln stand. In den letzten Wochen hatte er schon fast vergessen, wie süß sie eigentlich war. „Was suchst du denn?“, stellte er schließlich die erlösende Frage. „Ähm… Die Süßwarenabteilung.“ Carsten schaute sich selbst um und deutete schließlich auf eines der Schilder. „Da hinten.“ Er führte Janine zu besagten Regalen und schaute zu, wie sie unruhig eine ihrer blonden Strähnen um den Finger wickelte, während ihr Blick die Reihen entlangwanderte. Schließlich fand sie, wonach sie gesucht hatte. Kekse. Carsten lächelte in sich hinein. Trotz all dem war sie immer noch so aufmerksam und sensibel wie damals, als er sie kennengelernt hatte. Das war die Janine, die er in letzter Zeit so bitter vermisst hatte. Und die sich offensichtlich nicht entscheiden konnte, welche Marke sie wohl am ehesten nehmen sollte. Carsten beschloss ihr so gut es ging zu helfen. Die Situation war ihr vermutlich ohnehin schon unangenehm genug. Er wies auf eine der Packungen. „Diese hier isst Benni immer am liebsten, falls dir das die Entscheidung erleichtert.“ Dankbar lächelte Janine ihn an und nahm sie aus dem Regal. „Wie gut, dass man sich auf Bennis Urteil immer so gut verlassen kann.“ Carsten nickte, schaffte es jedoch nicht den Anflug an Schmerz gänzlich zu unterdrücken. Was auch Janine nicht entgangen war. Sanft berührte sie seinen Arm. „Wir werden ihn retten. Ganz sicher.“ Er seufzte. „Leichter gesagt als getan…“ „Tut mir leid…“ Bedrückt senkte Janine den Blick. „Ich weiß… Worte holen ihn nicht zurück.“ Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, bis Janine sich eine Strähne aus dem Gesicht strich und meinte: „Mehr… mehr wollte ich nicht.“ Carsten nickte nur und begleitete sie zur Kasse. Eigentlich war er vollkommen überflüssig. Den Betrag konnte Janine an dem Display ablesen und die Verabschiedung des Kassierers erwiderte sie mit einem scheuen Lächeln. Und trotzdem… Als sie draußen waren atmete Janine erleichtert durch. „Danke.“ Carsten lachte auf. „Ich habe doch gar nichts gemacht.“ „Oh doch, mehr als du glaubst…“ Ihr Blick fiel auf die Kekse, wirkte trotz allem verunsichert. „Er wird sich darüber freuen, garantiert.“, sagte Carsten aufmunternd.   ‘In the end I'm realizing I was never meant to fight on my own’   Seufzend schaltete er die Musik aus und summte den letzten Abschnitt des Liedes noch einmal vor sich hin. Den Ohrwurm war er trotzdem nicht losgeworden. Bei der nächstbesten Gelegenheit würde er sich deshalb mal bei Laura beschweren müssen. Carsten richtete sich von der Bank auf und streckte sich. Nachdem er Janine zurück zum Krankenhaus begleitet hatte, war er selbst einfach kopflos in der Gegend rumgelaufen und hatte sich plötzlich an diesem Ort wiedergefunden. Ob das wirklich nur ein Zufall war? Seine Gedanken wanderten zum letzten Mal, als er hier gewesen ist. Und besonders zu der Person, die damals bei ihm war… Mit einem bedrückten Seufzen setzte sich Carsten wieder hin. Fragte sich, was Ariane nach den jüngsten Ereignissen wohl nun von ihm hielt. Ob sie wirklich so zuversichtlich war, wie sie sich gab. Ob sie ihm immer noch zutraute, dass er das schaffen würde. Ob er sie tatsächlich besiegen könnte, die… Kaum machte sich die schwarze Magie in seinem Kopf breit, begannen seine Hände zu zittern. Carsten biss die Zähne zusammen, versuchte das Gefühl irgendwie loszuwerden. Dieses eigenartige Drängen. Bilder zuckten durch seinen Kopf. Finsternis. Blut. Irgendetwas raubte ihm den Atem. Versuchte ihn in die Dunkelheit zu zerren. Er schüttelte sich. Nein. Nein! Er musste dagegen ankämpfen! Er musste- „Carsten?“ Erschrocken fuhr Carsten zusammen. Als er aufblickte sah er, wie Arianes braungrüne Augen ihn besorgt musterten. „Alles okay?“ Und sofort war Leere in seinem Kopf. Gähnende Leere, die ihn noch nicht einmal einen klaren Satz formulieren ließ. „Ähm… ja, klar.… Alles… Ich… Mir… okay.“ Ariane erwiderte darauf lediglich ein bedrücktes Lächeln und setzte sich schließlich neben ihn. Ein unangenehmes Schweigen entstand, was Carsten umso mehr verunsicherte, je mehr Minuten verstrichen. Vorsichtig wagte er einen Blick zur Seite. Ein beklemmendes Gefühl zog seinen Magen zusammen. „Nane?“ Auch wenn die hellbraunen Haare ihr Gesicht verbargen, konnte Carsten vereinzelte Tränen sehen, die auf ihre schwarze Strumpfhose tropften. Schniefend wischte sich Ariane mit dem Handrücken über die Augen und meinte schließlich mit zitternder Stimme: „Sag mal… Du hattest doch mal gemeint, wir haben unseren eigenen Willen…“ Betreten erinnerte sich Carsten an ihre Diskussion, kurz bevor die Coeur-Academy angegriffen wurde. Zögernd nickte er. „Ich wollte das nicht… Nichts von all dem. Ich will keine Kriegerin sein, die die Welt vor dem Bösen beschützt!“ Carsten versuchte den Schmerz in seinem Herzen zu unterdrücken, als Ariane endgültig in Tränen ausbrach. Vorsichtig legte er die Arme um sie. Verstärkte seinen Griff, als sie schluchzend ihr Gesicht in seiner Brust vergrub. Vollkommen aufgelöst, übermannt von Gefühlen, die sie vermutlich all die Zeit in ihrem Herzen unter Verschluss gehalten hatte. „Der Weiße Hai hat mich nie gefragt, ob ich seine Besitzerin sein will!“, schrei sie. „Er war plötzlich da und meinte, ich solle mit niemandem darüber sprechen! Noch nicht einmal mit meiner Schwester! Er überredete mich, dass es besser wäre die Academy zu besuchen, damit ich meine Familie beschützen kann! Dabei… dabei…“ Was Ariane eigentlich sagen wollte, erfuhr Carsten nicht. Brauchte er auch gar nicht, er konnte es sich schon denken. Den Wunsch, ein normales Leben zu führen. Ein normaler Mensch mit einer ganz normalen Familie, eine gewöhnliche Schule, … Nichts Besonderes zu sein. Nicht für das Schicksal der Welt verantwortlich sein zu müssen. Nicht… sowas. Einen Moment lang kamen Zweifel in ihm auf. Zweifel, ob er wirklich der Richtige war, der Ariane ausgerechnet jetzt zur Seite stehen konnte und sollte. Schließlich war auch er ‚nicht normal‘. Ganz und gar nicht. Doch so, wie sie sich an ihn klammerte, blieb ihm ohnehin keine andere Wahl. Er konnte nur gebrochenen Herzens warten, bis ihr Gefühlsausbruch vorüber war. Ohne darüber nachzudenken, küsste er sie auf den Scheitel, legte bedrückt seinen Kopf auf ihren. Hielt sie im Arm… und wartete. „… Tut mir leid…“, meinte Ariane schließlich schniefend und befreite sich aus der Umarmung. Verwirrt betrachtete Carsten sie. „Wieso?“ „Weil…“ Sie wischte mit der Hand über die Augen, suchte in ihrer Jacke nach einem Taschentuch. Als sie sich weitestgehend gesammelt hatte, seufzte sie. „Ich wollte mich eigentlich bei dir entschuldigen. Und nicht… mich ausheulen.“ Entschuldigend lächelte sie ihn an. „Aber anscheinend musste es einfach mal raus.“ Carsten war umso verwirrter. „Es gibt nichts, weshalb du dich entschuldigen müsstest.“ „Doch und im Prinzip… ist es genau das.“ Sie lehnte sich gegen die Holzbank und zog die Beine an. „Es tut mir leid, dass ich vorhin nichts machen konnte, als du… bei der Schlacht halt. Ich wollte, aber… es ging nicht. Nichts ging in dem Moment. Und jetzt schon wieder. Ich heule hier rum und dabei bist du doch derjenige, der Unterstützung braucht. Der von uns allen am meisten darunter leidet.“ Allmählich verstand er was sie meinte. Und dennoch… „Ariane, wie es mir geht kann noch lange nicht das relativieren, was du fühlst. Und das sollte es auch überhaupt nicht.“ Sanft legte er die Hand auf ihre Wange, die immer noch etwas feucht war, und strich mit dem Daumen die Überreste einiger Tränen weg. „Wir alle leiden darunter, jeder auf seine Weise. Und wenn deine Gefühle dir sagen es geht nicht mehr, dann geht es nicht mehr.“ Aufmunternd lächelte er sie an. „Oder hast du etwa vor noch eine Bahn zu schwimmen, wenn du dich kaum mehr über Wasser halten kannst?“ Schwach lachte Ariane auf und schüttelte den Kopf. Schließlich erwiderte sie seinen Blick amüsiert. „Wie immer. Diejenigen mit den besten Ratschlägen können sie am wenigsten selbst befolgen.“ „Ähm…“ Erst jetzt fiel Carsten auf, was er da gerade tat. Beschämt zog er seine Hand zurück und vermied es, ihr in die Augen zu schauen. Stattdessen betrachtete er den See, wenige Meter von ihnen entfernt. Die Hitze stieg in seine Wangen als er merkte wie Ariane näher an ihn rückte, sodass sie sich nun ohne jegliches Zutun bereits berührten. Es kostete etwas Zeit und noch mehr Überwindung, bis er es schließlich schaffte seinen Arm um ihre Schultern zu legen. Er konnte nicht sagen, wer sich hier eigentlich gegen wen lehnte. Nur, dass sich eine ungewöhnliche Ruhe in ihm ausbreitete. Ein Moment des Friedens und der Zweisamkeit, den er nie für möglich gehalten hätte. Selbst die schwarze Magie erschien machtlos. Sogar Mars wirkte bezwingbar. Carsten schloss die Augen und legte wie zuvor seinen Kopf auf den von Ariane. Diese beruhigende Wirkung und das Gefühl von Geborgenheit erinnerte ihn an Kitos Illusionszauber. Ließ alle Sorgen und Ängste verschwinden. Ariane kuschelte sich noch näher an ihn. Sie zitterte leicht und dennoch konnte er ihre Körperwärme durch die Jacke hindurch spüren. Carsten konnte sich nur zu gut vorstellen, dass die vorige Situation ihr den Rest gegeben hatte. Er hatte schon bei dem Erdrutsch in Öznurs Heimatdorf die Sorge gehabt, dass dieses Erlebnis sie noch eine ganze Weile beschäftigen würde. Und jetzt Zeuge einer solchen Schlacht zu werden… Und was auch immer sie ansonsten noch erwarten würde… Kein Wunder, dass es irgendwann zu viel wurde. Ihr Schluchzen echote immer noch in seinen Ohren, ließ Carstens Herz nach wie vor schwer werden. Gab es denn nichts, womit er sie aufheitern könnte? Blinzelnd öffnete er die Augen wieder, betrachtete den See, der sich vor ihnen ausbreitete. Ein verstohlenes Lächeln huschte über seine Lippen. „Komm mal mit.“ Er richtete sich auf und zog die etwas verwirrte Ariane mit auf die Beine. „Was ist denn?“ „Schlittschuhe hast du nicht zufälligerweise dabei, oder?“, fragte er, während er mit ihr runter an den Rand des Sees ging. „Nein, wies-“ Ariane stockte, als sie verstand, was er meinte. „Wir haben erst Oktober, es ist noch viel zu warm.“ Grinsend erwiderte Carsten ihren Blick. „Wozu bin ich Magier?“ Erst jetzt als er sie losließ, war ihm überhaupt aufgefallen, dass er Arianes Hand gehalten hatte. Er schüttelte den Anflug an Verlegenheit und Unsicherheit ab und betrachtete den See, der ruhig vor ihnen lag und im Sonnenlicht glitzerte. Carsten streckte seine Hand aus und sprach den Zauber. Ein eisiger Wind fuhr durch ihre Haare, wirbelte heruntergefallene Blätter auf. Frost legte sich über die Grashalme vor ihren Füßen, es begann zu knacksen. Kleine Eisschollen entstanden, wurden immer größer und größer. Ihr helles, kaltes Blau breitete sich immer weiter über den See aus, bis die glatte Oberfläche ihn komplett bedeckte. Vorsichtig ging Carsten einen Schritt vor. Kaum berührte er das Eis, verwandelten sich seine Schuhe und eiserne Kufen bildeten sich an den Sohlen. Er drehte sich zu Ariane um. „Und?“ „Der Wahnsinn!“ Ihre Begeisterung, dieses Strahlen in ihren Augen, ließ Carstens Herz leichter werden. So blöd war die Idee wohl tatsächlich nicht. Grinsend schaute sie ihn an. „Vom wandelnden Erste-Hilfe-Kasten zu Tiefkühltruhe und Kleiderschrank in einem. Echt praktisch.“ „Na ja…“ Beschämt lachte Carsten auf und streckte ihr nach einigem Zögern die Hand hin. Ariane seufzte. „Dabei sollte ich eigentlich dich aufmuntern…“ „Tust du doch.“ Belustigt erwiderte sie sein schüchternes Lächeln, ergriff die Hand und trat ebenfalls aufs Eis. Automatisch wandelten sich ihre Schuhe in weiße Schlittschuhe. Carsten ließ sich ein bisschen zurück rutschen. Es war ein ungewohntes Gefühl nach langer Zeit wieder auf dem Eis zu stehen. Angst und Unsicherheit kroch in ihm hoch. Er hatte mindestens sechs Jahre lang keine Schlittschuhe mehr getragen, also was, wenn… Ein Ruck fuhr durch seinen Körper, als Ariane plötzlich losfuhr und ihn hinter sich her zog. Erschrocken suchte er sein Gleichgewicht zurück, während sie lachend meinte: „Ich dachte du wolltest Eislaufen und nicht Eisstehen.“ Beschämt lächelte er. Als Ariane merkte, dass er sich gefangen hatte, ließ sie seine Hand los und düste voraus, deutlich sicherer auf den Beinen. War ihr Hobby nun Eiskunstlauf oder Eissprint? Langsam wagte sich auch Carsten mehr in die Mitte des Sees. Er war selbst überrascht, wie schnell die Unsicherheit verschwand und das vertraute Gefühl zurückkehrte. Es brauchte vielleicht zehn Minuten und schon hatte er den Eindruck, die sechsjährige Pause wäre nie gewesen. Oder zumindest nicht so lange. Etwas selbstbewusster traute er sich nun auch ein paar einfachere Figuren. Ariane hatte sich in der Zeit schon längst wieder eingelaufen und testete bereits die ersten Sprünge aus. Bei ihrer Geschwindigkeit und mit der Kraft, mit der sie sich abstieß, flog sie problemlos mehrere Meter. Aufgewirbelte Eiskristalle glitzerten im Sonnenlicht als sie nach einer zweifachen Drehung auf dem rechten Bein landete. Ein begeistertes Strahlen entstand in ihren Augen als sie bemerkte, dass ihr der Sprung gelungen war. Ein süßer Freudenruf begleitet von einer enthusiastischen Geste brachte sie für einen Moment aus dem Gleichgewicht, ehe sie sich zu Carsten umschaute, als hoffte sie er habe den Sprung mitbekommen. Blut schoss in seine Wangen als er realisierte, wie offensichtlich er sie beobachtet hatte. Grinsend kam Ariane zu ihm rüber. „Ich hatte ewig daran geübt und selbst letzten Winter habe ich ihn so gut wie nie hinbekommen! Hätte niemals gedacht, dass der direkt jetzt schon klappt!“, erzählte sie begeistert. Carsten brachte lediglich ein Lachen zustande, vollkommen überfordert wie süß sie ihre Begeisterung zeigte. Und noch überforderter, als Ariane ihn am Rücken etwas nach vorne schob. „Jetzt bist du dran! Den Axel habe ich bisher kein einziges Mal geschafft, ich will sehen, wie du das machst!“ „W-was? Aber… aber ich…“, stammelte er. Aufmunternd lächelte Ariane ihm zu. „Es muss ja nicht direkt der zweifache sein, nach einer so langen Pause. Einfach reicht völlig.“ „Ähm…“ „Na los!“, feuerte sie ihn an und schubste ihn erneut etwas nach vorne. Carsten gab sich geschlagen, irgendwie zumindest. Wenn er sich da mal nicht blamieren würde… Dennoch war es ein schönes Gefühl, diese Geschwindigkeit, diese Freiheit. Der eisige Wind befreite seinen Kopf. Er hatte schon ganz vergessen, warum ihm Eislaufen früher so viel Spaß gemacht hatte. Erst jetzt, wo er sich daran erinnerte, wie schön es war ungehindert über die weißen Weiten fahren zu können, wurde ihm bewusst, wie sehr er das eigentlich vermisst hatte. Nachdem er eine Zeit lang rückwärts gefahren war, um sich zu sammeln drehte er sich um, trat nach vorne, holte Schwung und sprang. Eine kurze Schwerelosigkeit ließ seinen Magen flattern, bis er nach über einer Umdrehung rückwärts auf dem rechten Fuß wieder landete. Schwer atmend wurde er langsamer, bemerkte jetzt erst das Zittern seiner Hände, die ohne die Handschuhe langsam taub wurden. Hatte er den Sprung gerade tatsächlich geschafft? Ohne hinzufallen? „Woooow, das war der Wahnsinn!“, jubelte Ariane begeistert. Direkt stieg die Röte in Carstens Gesicht. Er kam sich wie ein blöder Angeber vor. „A-ach was…“ „Nein, wirklich! Wie hast du das gemacht?!“ Schon war Ariane bei ihm und schaute ihn erwartungsvoll an. „Ich… ähm…“ Sie merkte, wie ihre Neugier ihn nur noch mehr verunsicherte, daher ließ sie das Thema kichernd ruhen. „Das wird noch in einigen Trainingssessions enden. Ich hoffe das weißt du, Sensei.“ Carsten lächelte schüchtern, aber etwas erleichterter. „Ist das eine Drohung?“ Ariane zuckte mit den Schultern. „Kommt darauf an, wie geduldig du bist.“ „Nicht so geduldig wie Benni zumindest.“ „Ach, so schlecht wie beim Messerwerfen werde ich mich dabei hoffentlich nicht anstellen.“, merkte sie kichernd an. „Aber du bist doch richtig gut geworden.“, stellte Carsten irritiert fest. „Ja, weil Benni das Bedürfnis unterdrückt hat, mich bei den dämlichsten Fehlwürfen meinem Schicksal zu überlassen.“, erzählte sie lachend und deutete an, wie ein Messer ihr senkrecht auf den Kopf fiel. Nun musste auch Carsten lachen. „Wie gnädig von ihm.“ Gut eine Stunde verbrachten sie damit, sich auf dem Eis zu verausgaben. Carsten war überrascht, wie viele der Sprünge er trotz allem noch direkt auf Anhieb schaffte, selbst zweifache bekam er nach einigen Versuchen wieder hin. Dennoch schaffte es Ariane regelmäßig, ihn mit irgendwelchen Aktionen aus der Bahn zu werfen. Mindestens dann, wenn ihm bei ihrer Geschwindigkeit allein beim Zusehen schon schwindelig wurde. Entsprechend waren ihre Sprünge auch deutlich kraftvoller und weiter als seine eigenen. Nach einer Weile wagte sich Carsten irgendwann an einen zweifachen Axel. Mit aller Kraft sprang er ab und zog die Arme an. Doch bei der Landung rutschte er zur Seite weg. „Alles okay?“, hörte er Ariane besorgt fragen, die kurz darauf auch schon neben ihm kniete. Carsten rieb sich die kalten Hände, die er sich bei dem Sturz etwas aufgescheuert hatte. „Ja, alles in Ordnung. Ich hatte wohl nicht genug Schwung.“ Ariane betrachtete die leichte Rotfärbung kurz und klopfte ihm schließlich etwas Eis vom Jackenärmel. „Nächstes Mal denkst du bitte an mehr Schutzausrüstung, Herr Kleiderschrank.“ Carsten lachte beschämt. „Zu Befehl.“ „Danke.“ Ein liebevolles Lächeln bildete sich auf Arianes Lippen. Sie hatte schöne, volle Lippen. „Ähm… W-was? Wo-wofür?“, fragte Carsten geistlos, als er ihr wieder in die Augen schaute. Schwach lachte Ariane auf und wies auf die Eisfläche. „Dafür. So falsch es sich anfühlt, einfach zu lachen und Spaß zu haben… Es hilft wirklich.“ „Warum fühlt es sich falsch an?“ „Weil…“ Sie seufzte. „Weil um uns herum gerade eigentlich die Welt untergeht… Und wir… Gerade wir…“ „… sollten deshalb diese Möglichkeit haben.“, beendete Carsten bestimmt ihren Satz. Lächelnd zuckte er mit den Schultern. „Es heißt nicht umsonst, Lachen sei die beste Medizin.“ Ariane kicherte. „Und hier haben wir wieder den Erste-Hilfe-Kasten.“ „Hey, warum eigentlich nur Gegenstände?“ Carsten hatte keine Ahnung, warum er diese sinnlose Frage eigentlich stellte, bevor sie überhaupt in seinen Kopf kommen konnte. Doch zumindest brachte sein eigenartiger Kommentar Ariane wieder zum Lachen. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Einen kurzen langen Moment, bei dem Carsten das Herz bis zum Hals schlug. Würde sie… Oder… Oder sollte er… Plötzlich hielt Ariane die zur Faust geballte Hand zwischen ihnen. Irritiert blinzelte er. Bei dem Kurzschluss in seinem Kopf war es ihm unmöglich, diese Geste zu verstehen. „Es steht noch eine Revanche aus, schon vergessen?“, sagte sie, leicht amüsiert aber irgendwie auch ein bisschen… Die Verlegenheit ließ Carstens Gesicht tiefrot werden, als er die Andeutung verstand. Gleichzeitig konnte er sich das Lachen nicht verkneifen. Ariane kam jetzt doch nicht ernsthaft auf das Schere-Stein-Papier-Spiel von neulich zurück? Dieses Mal war er es, der sich mit einem Schulterzucken darauf einließ. Doch die Sache hatte sich schnell geklärt. Sie hatte Papier. Er Stein. Carsten gab ein gequältes Stöhnen von sich und ließ sich aufs Eis fallen, während Ariane zeitgleich ein Jauchzen ertönen ließ und aufsprang. Obwohl er den Eindruck hatte die Hitze in seinem Kopf könnte das Eis zum Schmelzen bringen, musste er lachen, während Ariane die Arme hob und einen kleinen Siegestanz vollführte. In was hatte er sich da nur schon wieder reinbefördert? „Ich sagte ja, dass du den nächsten Schritt machen musst.“, meinte sie triumphierend, was Carstens Situation in keiner Weise besserte. Als nach einer Weile immer noch keine Reaktion von ihm kam, beugte sich Ariane besorgt über ihn. „Alles okay?“ „… Das fragst du mich nicht im Ernst.“, nuschelte er beschämt. Sie kicherte. „Komm, steh auf. Es ist doch garantiert kalt.“ Tatsächlich merkte Carsten die Kälte in seinem Rücken überhaupt nicht, sosehr wurde sie von der Hitze in seinen Wangen überschattet. Dennoch setzte er sich wieder auf. Lächelnd schüttelte Ariane den Kopf. „Tut mir leid, das war fies von mir.“ „A-ach was…“ Oder was auch immer er sonst darauf erwidern sollte. Er ließ sich von Ariane auf die Beine ziehen, jedoch half dies auch nicht, um das beschämte Schweigen zu brechen. Carsten schaute zurück zum Festland, wo die ersten Häuser Kariberas in der Ferne sichtbar waren. Doch auch dort fand er nichts, was ihm ermöglichte seine Schüchternheit zu überwinden. Stattdessen nahmen Zweifel und Unsicherheit weiter und weiter zu. „… Carsten?“ Erschrocken zuckte er zusammen als Ariane ihre Hand auf seinen Rücken legte. Betroffen murmelte sie eine Entschuldigung und fragte: „Ist… es schon wieder die Schwarzmagie?“ Verwirrt betrachtete Carsten sie. Wie kam sie… Verbissen wandte er den Blick ab als er verstand. „Nein.“ Eigentlich war es klar, dass Ariane so dachte. Es war nachvollziehbar, dass sie direkt die Befürchtung hatte, die schwarze Magie könne ihn wieder in die Finsternis reißen, kaum, dass sich sein Blick trübte. Er konnte es verstehen, ihre Sorge. Wenn es jemand anderen betreffen würde… Er hätte auch diese Angst. Aber… „Willst… du das überhaupt?“, fragte er zögernd. Er spürte Arianes irritierten Blick auf sich ruhen, schaffte es jedoch nicht, ihr in die Augen zu schauen. Stattdessen betrachtete er das leicht verkratzte Eis zu seinen Füßen. „Du meintest vorhin, dass… du nichts von alldem willst. Also…“ Er ballte die kalten, zitternden Hände zu Fäusten, versuchte nicht so deprimiert zu wirken, wie er sich fühlte. „Also was ist dann mit…“ Ariane schien einen Moment zu brauchen, bis sie es schaffte den Inhalt seiner Worte zu interpretieren. Schließlich realisierte sie, was er meinte und gab einen Mix aus Seufzen und Stöhnen von sich. „Ach Mann, Carsten! Warst du eigentlich schon immer so pessimistisch?! Oder ist das wegen Benni und Laura nur nie aufgefallen?“ „Ich meine das ernst, Nane.“ „Deshalb ja!“ Demonstrativ stellte sie sich in sein Blickfeld und schaute empört zu ihm hoch. „Nur weil es Situationen gab, die ich so nicht geplant hatte, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht dankbar dafür bin, dass es so gekommen ist, wie es kommen musste.“ „Aber vorhin, da… du meintest doch…“ „Du bist ja noch schlimmer als Laura.“, sagte Ariane trocken, aber auch ein bisschen bedrückt und zeitgleich vorwurfsvoll. „Es kann doch nicht sein, dass du dich davon direkt verunsichern lässt.“ Was Carsten jedoch umso mehr verunsicherte. „Na ja, aber… was… Wenn du meintest, dass du nichts von alldem wolltest… Dann…“ Ariane seufzte. „Okay, ein Beispiel. Wolltest du auf das FESJ?“ Er schüttelte den Kopf. Nein, natürlich nicht. „Aber du warst dort. Und nur deshalb konnte Herr Bôss dich zu uns an die Coeur-Academy bringen.“ Aufmunternd lächelte sie ihn an. „Verstehst du, was ich meine?“ Wie betäubt nickte er. Ja, er verstand es. Aber trotzdem… „Und… Aber… Was willst du dann?“ Ariane stöhnte auf, offensichtlich komplett überfordert mit seiner Begriffsstutzigkeit. „Vielleicht, dass du mich endlich küsst?“ „W-was?“ Carstens Herzschlag setzte aus. Sie hatte doch gerade nicht wirklich… Was… Wie… Ihre Wangen waren ohnehin durch das Eislaufen leicht gerötet, doch nun ließ es die Verlegenheit umso deutlicher erscheinen, als sie meinte: „Ich… ich sagte doch schon, dass ich mich sowas nicht traue.“ Das Blut in seinem Kopf schien zu kochen. Hatte sie… hatte sie das wirklich so gemeint? Wollte sie wirklich, dass… Aber… Ariane merkte, wie er mit dieser Situation überhaupt nicht klarkam. Bedrückt lächelte sie. „Ist schon gut, tut mir leid. Ich will nicht, dass du dich irgendwie zu irgendwas gezwungen fühlst…“ Seufzend wandte sie sich ab, schaute in die Ferne zu den leuchtenden Blättern der Bäume und dem blauen Himmel. Das Licht der Sonne ließ ihre grünbraunen Augen umso strahlender erscheinen und die herbstliche Landschaft verlieh ihren Haaren einen leichten Rotton. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Sanftes, Elegantes und zugleich wirkte sie durch die Sommersprossen und die stupsige Nase süß und frech. Die Aufregung beschleunigte seinen Herzschlag. Sollte er wirklich einfach… Konnte er… Wieder wanderte sein Blick zu ihren Lippen. Erschrocken schüttelte Carsten den Kopf. Verwirrt wandte sich Ariane ihm zu. „Was ist?“ Zitternd atmete er durch, versuchte das Pochen in seiner Brust zu ignorieren. Er strich ihr mit den Fingern über die leicht gerötete Wange. Zögerte… Doch bevor die Unsicherheit siegte, beugte er sich vor und küsste sie. Es war nur ein Moment. Ein kurzer, langer Moment, in welchem sich ihre Lippen berührten. Er kam Carsten unwirklich, beinahe nicht real vor und dennoch belehrten seine Sinne ihn eines Besseren. Ihre Gesichter waren sich immer noch näher als unter normalen Umständen üblich, als Carsten seine Augen öffnete und Arianes Lächeln schwach erwiderte. Bevor sein Kopf die Situation überhaupt verarbeiten konnte, zog er Ariane noch näher an sich und küsste sie erneut. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)