Demon Girls & Boys von RukaHimenoshi ================================================================================ Kapitel 82: Kreuzende Pfade --------------------------- Kreuzende Pfade       Trotz des schmerzhaften Ziehens in seinem linken Arm verstärkte Carsten seinen Griff um Laura, klammerte sich an sie als könne sich im nächsten Moment alles um ihn herum in Rauch auflösen. Auch wenn das Schluchzen allmählich abebbte, auch wenn keine Tränen mehr vorhanden schienen, die lähmende Angst war immer noch da. Die Panik vor dem, was geschehen ist. Was noch geschehen könnte… Verloren in Erinnerungen, gefangen in der Wahrnehmung. Keine Macht über sich selbst. Albträume, die ihn selbst dann heimsuchten während er wach war. Stärker als jemals zuvor. Immer noch zitternd hatte Carsten sein Gesicht in Lauras Halsbeuge vergraben. Er konnte nicht atmen. Er bekam keine Luft. Er konzentrierte sich auf ihre Stimme, die ihm dauernd vergewisserte, dass er immer noch er selbst war. Dass er immer noch hier war. Im Hier und Jetzt, bei allen anderen. Ohne diese Worte würde er das nicht wissen. Er konnte es selbst jetzt kaum glauben. Schon wieder verschwamm seine Wahrnehmung. Das Gesicht hatte er in ein Kissen gepresst, sodass man sein Schluchzen nicht hören konnte. Die Bäume und weißen Barockgebäude wurden zu grauen Wänden, zu einem Gefängnis. „Es ist in Ordnung, Carsten. Du bist hier, bei uns allen. Bei mir, Nane, Eagle, Öznur, Anne, Susanne, Herr und Frau Bôss, … Wir sind alle da.“ Die Wände verschwanden wieder, das Kissen hatte auf einmal den Duft von Lauras Körpergeruch, es fühlte sich wie der seidene Stoff ihrer Schuluniform an. Aber nur für einen kurzen Moment. Nicht schon wieder eingesperrt. Bitte! Nicht schon wieder gefangen! Nicht dort! „Hol mich hier raus…“, flehte er sie zitternd an. Plötzlich ertönte Herr Bôss‘ tiefe Stimme. „Du bist draußen, Carsten.“ Er spürte eine große Hand auf seinem Rücken. Laura schien Anstalten zu machen ihn loszulassen, doch Carsten klammerte sich noch stärker an sie. „Nein, geh nicht weg! Lass mich nicht allein!“, schrie er in seiner Panik. Dieses Mal war es Ariane, die er sagen hörte: „Wir lassen dich nicht alleine.“ Kurz darauf spürte er ihre Hand auf seinem Arm. „Doch! Das werdet ihr! Genauso wie Benni!!!“ Carsten schluchzte. „Aber Benni hat dich nicht alleine gelassen!“, widersprach Laura ihm. Er hörte sie ebenfalls schluchzen. „Selbst wenn er gerade nicht bei uns sein kann, er würde uns niemals alleine lassen! Das weißt du!“ Weinend kniff Carsten die Augen zusammen. Wenn er jetzt in dieses Auto stieg war alles vorbei. Es war alles verloren. Er war für immer alleine. „Wartet!“, hörte er die Stimme eines Jungen hinter sich. Sowohl Carsten als auch die hochgewachsenen Männer die neben ihm standen drehten sich um. Ein elfjähiger Junge kam auf sie zu gerannt. Die Haare hatten ein so helles blond, dass sie von weitem weiß wie Schnee erschienen, und verdeckten das rechte Auge. Das sichtbare linke war so schwarz wie die Nacht. „Was willst du, Knirps?“, fragte einer der Männer argwöhnisch. „Wir haben nicht viel Zeit, die Maschine nach Terra fliegt in zwei Stunden.“ Benni ignorierte die beiden und reichte Carsten einen kleinen Zettel. „Hier.“ Irritiert nahm Carsten ihn entgegen. Bennis Schrift war extrem klein aber sehr sauber und daher trotzdem deutlich lesbar. „Ist das eine Telefonnummer?“, fragte er irritiert. Benni nickte. „Ich habe gehört, dass man dort einmal im Monat für zwanzig Minuten telefonieren darf.“ Carsten blickte von dem Zettel auf, die Verwirrung war ihm ins Gesicht geschrieben. Benni zuckte mit den Schultern. „Mit der Nummer kannst du mich jeder Zeit erreichen, wenn du magst.“ Carstens Gedanken überschlugen sich. Hieß das, Benni hatte sich ein Handy gekauft? Aber… Aber er hatte doch keine Ahnung von Elektronik! Und so Sachen waren doch richtig teuer, Benni hätte dafür auf all sein Erspartes zurückgreifen müssen! Wieder sammelten sich Tränen in Carstens Augen. Benni schien verwirrt. „Ist alles in Ordnung?“ Ehe er sich versah hatte Carsten auch schon weinend die Arme um ihn geschlossen. „Glaubst du das wirklich? Dass wir dich alleine lassen würden?“, hörte er Laura fragen. Langsam, als müsse er sich selbst davon überzeugen, schüttelte Carsten den Kopf. Ariane nahm seine Hand. „Komm Carsten, sieh dich um.“, forderte sie ihn auf. Widerwillig ließ er zu, dass sie seine krampfhafte Umarmung um Laura löste, die einen Schritt zurück ging. Zögernd öffnete Carsten die Augen, in der Angst wieder etwas zu sehen, was nicht zu sehen war. Sein Blick fiel automatisch auf Ariane, die immer noch seine Hand hielt. „Was siehst du?“, fragte sie, mit einem so freundlichen, strahlenden Lächeln, das die Macht zu haben schien all die schwarzen Wolken zu vertreiben und die Sonne wieder scheinen zu lassen. Direkt beschleunigte sich Carstens Herzschlag. „… Dich…“ Ihr Lächeln wurde noch heller. „Und weiter?“ Er schaute auf, dieses Mal in Lauras mit Tränen gefüllte Augen, deren schokoladiges Braun genauso sanft und beschützend wirkten wie der Dachboden, in dessen gemütliche Dunkelheit sich Carsten als Kind so häufig geflüchtet hatte. „…Laura.“ Nach und nach sollte Carsten die Namen aller Leute auflisten, die sich um ihn herum befanden. Eagle, der seinem Blick auswich, anscheinend geplagt von Gewissensbissen, Öznur, die ihre Arme um ihn gelegt hatte und man selbst von weitem ihre Wärme spüren konnte, Anne, Susanne, Herr und Frau Bôss, … Erst, als Carsten die Gebäude der Coeur-Academy nannte, die weniger zerstört aussahen als er befürchtet hatte, war Ariane zufrieden gestellt. „Glaubst du immer noch, dass wir dich alleine lassen würden?“ Carsten schüttelte den Kopf, deutlich weniger zögernd als zuvor. „Na also.“ Einen Moment lang schauten sie sich einfach so in die Augen. Ein Moment, der länger war als notwendig. Es war fast so, als würden sie sich beide erhoffen, dass der andere irgendetwas machte. Doch schließlich zwang Carstens Schüchternheit ihn dazu, die Augen abzuwenden. Dennoch… Es war keine Einbildung, er hatte wirklich den Eindruck, dass Arianes Weg ihn in die Realität zurückgebracht hatte. „Danke…“ Er konnte ihr Lächeln regelrecht spüren. „Kein Ding.“ Carsten hörte Eagle seufzen. „Tut mir leid, wegen vorhin.“ Doch er schüttelte den Kopf. „Es ist schon okay, du-“ „Lissi!“ Susannes geschockter Schrei ließ ihn aufschrecken. Verwirrt beobachtete er, wie Susanne ihrer Schwester entgegeneilte, die auf die Gruppe zu gerannt kam. Oder eher gestolpert. Stimmt, wo war Lissi eigentlich gewesen?, fragte er sich. „Ein Glück, es geht dir gut!“ Lissi fiel Susanne so sehr in die Arme, dass sie ihre ältere Zwillingsschwester damit fast umwarf. Als Carsten realisierte, dass sie verletzt schien, ging auch er schnellen Schrittes zu den beiden rüber, dicht gefolgt vom Rest. Derweil erkundigten sich beide Schwestern aufgebracht bei der jeweils anderen, ob sie in Ordnung seien. Verwirrt versuchte Carsten die Situation zu verstehen. Erst jetzt fiel ihm auf, wie blutgetränkt Susannes Schuluniform war. Die Risse auf Höhe ihres rechten Schlüsselbeins ließen vermuten, dass es Susannes eigenes Blut war, doch so wie sie sich verhielt… Sie wirkte gänzlich unverletzt. Bei Lissi wiederum waren die Kratzer und Prellungen deutlich sichtbar. „Was ist denn passiert?“, erkundigte er sich und kniete sich neben die beiden. „Unterweltler…“, meinte Lissi nur, vollkommen außer Atem. Carsten gefror das Blut in den Adern. „Was?!“, fragte die Direktorin schockiert. Während Anne die Situation genauer erklärte, fiel Lissi plötzlich Carsten um den Hals. „Ich weiß, dass ich das nicht sagen sollte, aber: Danke…“ Damit hatte sie alle nun völlig verwirrt, Carsten am meisten. „W-wie meinst du das?“ „Diese… diese blutrote Kuppel. Die war von dir, nicht wahr?“ Bedrückt nickte Carsten. Er wollte gar nicht daran denken müssen… Und doch drohten die Erinnerungen, ihn wieder gefangen zu nehmen. „Das… Du… Damit wurden die Unterweltler zurückgedrängt.“, erklärte sie. Das Zittern in ihrer Stimme verriet, was für eine Angst Lissi gehabt haben musste. Instinktiv erwiderte Carsten die Umarmung. „Aber… ist mit dir alles in Ordnung? Geht es dir gut?“ Er spürte Lissi nicken und meinte sogar ein schwaches Schluchzen zu hören. „Dank dir…“ Im nächsten Moment überforderte sie Carsten vollkommen, indem sie ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Kichernd löste sich Lissi aus der Umarmung und erwiderte auf sein hochrotes Gesicht: „Sorry Cärstchen, aber das musste einfach sein.“ Während Carsten noch darum bemüht war sich zu fangen, berichteten Lissi und Anne vom Angriff. „Oh nein, das wolltest du uns also die ganze Zeit sagen?!“, stellte Öznur betroffen fest. Geräuschvoll atmete Anne aus. „Ihr hättet mich ja zumindest zu Wort kommen lassen können, statt mir dauernd Taktlosigkeit vorzuwerfen.“ Auch Susanne traf diese Erkenntnis hart. „Es tut mir so leid… Ich… Es… Es ist alles meine Schuld! Ich hätte dir besser zuhören müssen!“ Anne schüttelte den Kopf. „Du kannst wohl am wenigsten dafür.“ „Aber…“ Betreten schaute Susanne ihre Zwillingsschwester an, doch diese winkte ab. „Es ist alles in Butter Susi, wirklich.“ Carsten war überrascht, wie normal Lissi direkt wieder wirkte. Besonders, da sie vor wenigen Sekunden noch extrem aufgelöst gewesen schien. Frau Bôss schaute in Richtung Westwald. „Selbst wenn Carstens Barriere sie zurückgedrängt hat…“ „Nun haben sie freie Bahn.“, beendete der Direktor ihren Satz. Eine Zeit lang schauten sie alle in die Richtung, mit der Befürchtung eine gesamte Legion würde sich aus der Finsternis des Waldes materialisieren. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen… „… Ein Erdbeben?“, fragte Laura ungläubig. „Das hat uns gerade noch gefehlt.“, kommentierte Anne verbissen. Der Boden vibrierte, begleitet von einem tiefen Grollen. Eagle war der erste, der die Ursache des Bebens ausmachen konnte. Sein Ausdruck sprach Bände über den Zorn und Hass, den er zu spüren schien, als er mit unheimlicher Stimme sagte: „Jack.“ Innerhalb eines Wimpernschlages hatte Eagle die Dämonenform angenommen und sich mit ausgebreiteten Flügeln in die Höhe gestoßen. „Warte!“, rief Carsten seinem großen Bruder hinterher, doch natürlich ohne Erfolg. Taumelnd sprang er auf die Beine und folgte Eagle in westliche Richtung. Doch natürlich war er viel zu langsam. Carsten teleportierte sich an den Anfang des Westwaldes. Ohne Eagle durch die Baumkronen aus den Augen zu verlieren teleportierte er sich immer weiter nach vorne, soweit seine Sicht es zuließ. Die Spuren des Sturmes waren im Wald deutlich sichtbar. Der Wind hatte alle restlichen Blätter von den Bäumen gefegt und er musste aufpassen, dass nicht einer der abgebrochenen Äste oder Stämme im Nachhinein noch umstürzte. Carsten stolperte und stürzte, als er einen Ast übersah, der vom Laub verdeckt worden ist. Angestrengt versuchte Carsten zu Eagle aufzuholen. Der Blutverlust des vorigen Zaubers war da alles andere als dienlich. Irgendwann bedeckte schwarze Asche den Waldboden, doch Carsten hatte nicht die Kraft sich auch darüber Gedanken zu machen. Und trotzdem… Der Weg wirkte auf einmal noch unebener als er zuvor schon war. Carsten kämpfte viel häufiger um Gleichgewicht und diese seltsame Asche wirkte gänzlich fehl am Platz. Schwer atmend hielt er inne und stützte sich auf den Knien ab, während er seinen Gedanken die Möglichkeit gab sich zu sortieren. Sollten laut Lissi nicht die Unterweltler in den Westwald zurückgedrängt worden sein? Die Unterweltler im Westwald, das Erdbeben, anscheinend durch Jack verursacht, die Aschehaufen… Carsten stieß einen Fluch aus als er die Puzzelteile zusammensetzte und teleportierte sich direkt weiter in die Richtung, soweit es ihm möglich war. So geleitet von Hass wie Eagle gerade war musste Carsten unbedingt verhindern, dass sein großer Bruder etwas sehr, sehr Dummes anstellte. In der Ferne erkannte Carsten eine Lichtung, auf die er sich direkt teleportierte. Genau in diesem Moment konnte er Eagle landen sehen, etwa einen Kilometer entfernt. Noch ein Teleport, direkt vor seinen großen Bruder. „Eagle, hör auf!“, schrie er und schlitterte mehrere Meter zurück, als er Eagle festhielt und seinen Ansturm getrieben von Zerstörungswahn und Mordlust abfing. „Lass mich los!“, forderte Eagle ihn lautstark auf. „Es ist nicht so, wie du vermutest! Du musst dich beruhigen!“ Natürlich war jeder Appell an Eagles Vernunft erfolglos. „Bitte, beruhige dich!“ „Wie kannst du das von mir verlangen?! Der Arsch hat unseren Vater getötet!“ „Bitte!“, schrie Carsten, dessen Stimme bereits heiser von seinem vorigen Gefühlsausbruch war. Tatsächlich wurde Eagles Widerstand schwächer. Während Carsten sich eben noch mit aller Kraft gegen seinen großen Bruder hatte stemmen müssen, gewann allmählich die Erschöpfung die Oberhand, sodass er sich nun eher gegen ihn lehnen musste, um stehen bleiben zu können. „Was ist denn los?!?“, hörte er Ariane rufen. Natürlich hatte sie als die schnellste der Gruppe noch am ehesten zu ihnen aufschließen können, doch auch der Rest hatte sie alsbald eingeholt. Selbst die Magierinnen, die von ihnen allen am langsamsten waren. Einen Moment lang herrschte absolute Stille. Vorsichtig ließ Carsten von Eagle ab und wollte selbst schauen, was genau hier vor sich ging. Doch plötzlich… „Gotsch!“ Ariane sprintete an ihnen vorbei und gerade, als sich Carsten umgedreht hatte, sah er, wie Ariane lachend und weinend zugleich ihrer kleinen Schwester um den Hals fiel. Unglauben spiegelte sich auf Carstens Gesichtszügen, als er nach und nach erkannte, wer sich da alles befand. Als er beobachtete, wie Ariane nach all der Zeit endlich wieder mit ihrer kleinen Schwester vereint war, sie endlich wieder bei sich in Sicherheit hatte und in die Arme nehmen konnte, füllten sich Carstens Augen mit Tränen. Sehen zu können, wie das Licht endlich wieder gänzlich zu Ariane zurückkehrte war das schönste, was er sich vorstellen konnte. Endlich wieder ihr heiteres Lachen zu hören, das selbst die tiefste Finsternis erleuchtete. Ein erleichtertes Aufatmen. Ein Innehalten, um diesen Moment genießen und in sich aufsaugen zu können. Und endlich, nach all der Zeit, hatte Carsten wirklich wieder Hoffnung. Nicht diese trügerische Hoffnung begleitet von Selbstzweifel, als er meinte den Zauber fertig gestellt zu haben. Nein, einfach Hoffnung. Sakuras Stimme war die nächste, die er hörte. „B-Bruderherz?“ Das brachte Eagle wohl gänzlich aus seiner Rage zurück. „Sakura?“ Sakura unterdrückte ein Schluchzen und rannte zu Eagle, wo sie ihm weinend in die Arme sprang. Eagle fing seine kleine Halbschwester auf und Carsten konnte nicht sagen, wer sich stärker an den jeweils anderen klammerte. Die Worte sprudelten nur so aus Sakura heraus, als wolle sie in kürzester Zeit alles was sie mit sich herumgetragen hatte loswerden. Eagle strich ihr immer wieder über die inzwischen kurzen, strubbeligen Haare und redete auf einmal so beruhigend auf sie ein, dass man sich gar nicht mehr vorstellen konnte wie er vor wenigen Minuten noch drauf und dran war, von Hass geleitet einen der hier Anwesenden in Stücke reißen zu wollen. Carstens Blick fiel auf Jack und sofort überkam ihn Sorge als er all die Verletzungen sah. Blutergüsse, Knochenbrüche, … Der anscheinend mit seinem T-Shirt improvisierte Druckverband war nicht dazu in der Lage, die tiefe blutende Wunde an seinem linken Arm gänzlich zu stoppen. Und eine noch frischere Wunde an seiner linken Schulter schien bisher überhaupt nicht behandelt. Auch fielen ihm die Äderchen in und um seine Augen auf, die immer noch orange hervorstachen und leicht pulsierten. Es war also wirklich Jack gewesen, der die Unterweltler mit seiner Erd-Energie besiegt hatte. Doch bevor Carsten dazu kam zu ihm zu gehen, bemerkte er Anne, die auf zwei etwas weiter hinten stehenden Personen zuging. „Ist das… Sultana?“, fragte Öznur ungläubig. Sie und die restlichen Mädchen, sowie Eagle und die Direktoren hatten bis zum Ende nicht gewusst, dass sich Annes Mutter ebenso in den Fängen von Mars befunden hatte. Entsprechend konnte niemand seinen Augen trauen, als Anne vor Sultana stand, die von Janine gestützt wurde, und meinte: „Bist wohl tatsächlich noch am Leben.“ Annes Mutter erwiderte auf die brüske Aussage ihrer Tochter lediglich lächelnd: „Du kennst mich doch.“ Trotzdem war Annes Erleichterung deutlich spürbar als sie ihre Mutter -sehr zu deren Überraschung- in die Arme schloss und mit schwacher Stimme sagte: „Wohl nicht gut genug.“ Trotz ihrer immer noch besorgniserregend schlechten Verfassung erwiderte Sultana die Umarmung. „Ninie!“ Janine hatte sich nur wenige Schritte von Mutter und Tochter entfernt, da wurde sie auch schon von Susanne in die Arme geschlossen. Unter Tränen erkundigte sich Susanne, ob mit Janine alles in Ordnung sei. Eine Zeit lang beobachtete Carsten einfach nur, wie die Erleichterung sie alles Vergangene vergessen ließ. Wie jeder einfach nur froh war, dass es dem jeweils anderen gut ging. Doch nicht bei allen kam dieses Gefühl gänzlich an. Suchend ließ Carsten seinen Blick über die Gruppe schweifen und er wusste, dass Laura haargenau dasselbe tat. Wolf und Chip waren zwar bei Johannes und Jack, aber… Ein alles andere als erleichtertes Gefühl breitete sich in Carstens Brust aus, als er auf die vier zuging. Wo ist Benni? Doch die Frage blieb in Carstens Hals stecken. Er konnte nicht fragen. Er wollte nicht fragen. Er wollte es nicht wissen, die Wahrheit. Und er wusste nicht, ob er Jack in dessen aktueller Verfassung auch noch damit belasten sollte. Mit der undankbaren Aufgabe ihnen zu erklären, warum ausgerechnet Benni nicht dabei sein konnte. Carsten schluckte das unangenehme Gefühl runter, versuchte es zumindest, und zwang sich zu einem Lächeln. „Wirst du zumindest dieses Mal medizinische Hilfe annehmen?“ Jack verstand die Andeutung, doch auch sein Lächeln wirkte nicht ganz echt, als er sarkastisch antwortete: „Vielleicht solltest du mich trotzdem erstmal k.o. schlagen, bevor schon wieder was schiefläuft.“ Carsten lachte auf. „Ich soll einen Verletzten verprügeln?“ Jack schien noch irgendeinen sarkastischen Kommentar erwidern zu wollen, doch es war mehr als offensichtlich, dass er am Ende seiner Kräfte war. Carsten wusste: Er und Sultana mussten so schnell es ging in ein Krankenhaus. Doch er wollte die herzlichen Wiedervereinigungen nicht jetzt schon unterbrechen müssen. Daher machte er sich erst einmal ein Bild von Jacks Verletzungen. Was den Drang ihn in ein Krankenhausbett zu stecken nur verstärkte. Irgendwann ging Herr Bôss an ihnen vorbei und kniete sich zu einer weiteren Person, die Carsten bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Er hatte sie nicht bemerkt, da sie auf dem Boden lag. Mit einem unwohlen Gefühl in der Brust richtete sich Carsten auf und kam zu dem Direktor rüber. Auch Laura folgte ihm, die ursprünglich zu Wolf und Chip wollte. Als sie erkannte wer das war, schlug sie die Hände vor den Mund als wolle sie ein Schluchzen eindämmen. Und auch Carstens Magen drehte sich herum. Es war ein junger Mann, wenige Jahre älter als Carsten und Laura, vielleicht so in Eagles Alter. Die Haare hatten eine orangene Färbung, aber am Haaransatz konnte man erkennen, dass er eigentlich strohblond war. Die himmelblauen Augen starrten ihn und Laura mit leerem Blick an, der Mund war leicht geöffnet. Carsten wusste, warum Laura so Schwierigkeiten hatte die Tränen zurückzuhalten. Und ihm erging es nicht anders. Es wirkte fast so, als wolle dieser Junge ihnen noch etwas sagen. Eine letzte Botschaft. ‚Es tut mir leid.‘ Herr Bôss runzelte kritisch die Stirn. „War das nicht der Junge, der dir im FESJ das Leben so zur Hölle gemacht hat?“ Schweren Herzens kniete sich Carsten auf die andere Seite. War er das wirklich gewesen? Natürlich sah er fast genauso aus wie früher und doch… Irgendwie… „… Nein.“, antwortete Carsten schließlich. „Das ist ein früherer Schulfreund von Benni.“ Während er Laura leise schluchzen hörte, schloss Carsten Max‘ Augen. Es breitete sich eine beinahe erdrückende Stille aus. Anscheinend hatte nun auch der Rest realisiert, dass es einen gegeben hatte, der den Preis für diese Wiedervereinigung hatte zahlen müssen. Diese Ruhe wirkte andachtsvoll, um nicht zu sagen ehrfürchtig, während die schweigsame Dankbarkeit beinahe spürbar war. Nach geraumer Zeit war es Johannes, der das Schweigen brach. „Er war witzig…“, meinte er mit gesenktem Blick. „Er hat so fröhlich gewirkt. Und er hat sich so gefreut nach Hause zu kommen.“ Jacks Stimme klang rau und kraftlos, als er fragte: „Hat jemand von euch Kontakt zu seiner Familie?“ Laura nickte, schaffte es aber nicht sich anzubieten, Jannik die Nachricht zu überbringen, dass sein Cousin bei einem Flucht- und/oder Rettungsversuch gewaltvoll ums Leben gekommen ist. Auch Herr Bôss bemerkte dies. „Wenn du uns die Kontaktdaten geben kannst, kümmern wir uns darum.“, bot er zuvorkommend an. Erneut schluchzte Laura und wischte sich mit dem Arm Tränen aus den Augen, während sie nickte. „Danke…“ Es brauchte einige Zeit, bis sich der Großteil von ihnen gefangen hatte. „Und… was machen wir jetzt?“, fragte Öznur schließlich. Carstens Blick fiel erst auf Jack, dann auf Sultana. „Vielleicht gehen wir erst einmal zum Krankenhaus in Indigo.“, schlug er vor. Von Anne bekam er direkt ein bestätigendes Nicken. Eagle schien nicht so glücklich damit. „Warum ausgerechnet Indigo?“ Carsten seufzte. „Weil Saya die Leiterin von Kariberas Krankenhaus ist?“ „Na und?“ Er musste jetzt doch nicht ernsthaft mit seinem großen Bruder darüber diskutieren, warum Indigo die beste Wahl war. Oder? Zum Glück bekam er Unterstützung vom Direktor. „Es gibt nicht viele Orte, wo die Sicherheit zumindest halbwegs gewährleistet ist.“ Seufzend schaute er in Richtung Osten, wo sich der Schulcampus befand. „Und momentan habt ihr einen weniger. Selbst wenn Carsten mit seiner schwarzen Magie den Schaden auf ein Minimum reduzieren konnte, wird es ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen alles wiederaufzubauen. Und gerade Verletzte sollten wir daher lieber woanders unterbringen.“ Frau Bôss nickte. „Besonders, da wir selbst unter normalen Bedingungen im Krankensaal nicht für solch ernsthafte Verletzungen gewappnet sind.“ Trotzig verschränkte Eagle die Arme vor der Brust. „Und deshalb soll ausgerechnet Indigo den Kopf hinhalten? Erwartet ihr allen Ernstes von mir, dass ich das Leben von meinem ganzen Volk aufs Spiel setze, nur, um eine Horde Jugendlicher und Verletzter unterzubringen?“ „Eine Horde Jugendlicher?!“, entrüstete sich Öznur, „Jetzt hör mal, Freundchen, vor kurzer Zeit hast du selbst noch zu dieser ‚Horde Jugendlicher‘ gezählt!“ Anne schnaubte. „Ist dir das Erwachsensein etwa jetzt schon zu Kopf gestiegen?“ Seufzend atmete Carsten aus. Auch wenn Eagle unnötig schnippisch war, sehr wahrscheinlich aus dem Grund, da es sich bei einem der Verletzten um Jack handelte, musste er doch einsehen, dass sein großer Bruder recht hatte. Aber… Es war das Beste, wenn die Gruppe zusammenblieb. Das hatte sich nun schon bei Johannes und Janine unter Beweis gestellt. Und gerade für Jack war es in seinem miserablen Zustand besonders wichtig, ihn in Sicherheit zu wissen. „Wo sollen wir denn sonst hin?“, fragte Carsten, die Hoffnung von vorhin längst wieder verloren. Er senkte den Blick. Herr Bôss hatte recht, die Coeur-Academy konnte ihnen erst einmal keinen Schutz mehr bieten. Viele Hauptstädte anderer Regionen Damons hatten zwar auch eine Magiebarriere, jedoch… „Du hattest doch selbst einmal gesagt, Indigo sei die Region mit der meisten Kampfkraft. Aber vielleicht können wir ja mal mit Florian reden, in Ivory würden wir vielleicht auch aufgenommen werden…“ Carsten wusste, dass er diese Aussage von Eagle nicht persönlich nehmen sollte. Und trotzdem… Würde er nun wirklich eher in Ivory um Asyl bitten müssen? Eher als in seiner ursprünglichen Heimatregion? Ob Eagle seinen deprimierten Blick interpretieren konnte wusste Carsten nicht. Dennoch fiel er ihm anscheinend auf. Zumindest meinte Eagle schließlich seufzend: „Wir können es ja erstmal als eine Übergangslösung betrachten.“ Damit ließ sich der Rest zumindest halbwegs zufriedenstellen. Carsten warf einen prüfenden Blick auf die Verletzten. So kritisch ihre Situation auch war, ein Teleport war der schnellste und sicherste Weg. Selbst wenn es ihnen extrem viel Energie kosten würde. „Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“, meinte er deshalb. Missbilligend schüttelte Janine den Kopf. „Wie kannst du ihm nach all dem noch helfen wollen?“ Ihm? Irritiert schaute Carsten zwischen Janine und Jack hin und her. Jacks Seufzen nach zu urteilen war etwas ganz gewaltig schiefgelaufen. „Er ist verletzt, ich muss ihm helfen.“, erinnerte Carsten sie an seine Prinzipien. Freudlos lachte sie auf. „Lernst du denn nie dazu? Müssen wir dich etwa daran erinnern was geschehen ist, als du ihm das letzte Mal deine Hilfe angeboten hast?“ Ein kalter Schauer fuhr über Carstens Rücken als er ihren abfälligen Ton hörte. Was war passiert? Janine ging zu Jack rüber und kniete sich vor ihn. „Kannst du eigentlich irgendwas anderes, außer Leuten zu schaden oder sie direkt umzubringen?“ Obwohl ihr Kommentar ihn sichtbar verletzte, zwang Jack sich zu einem sarkastischen Lächeln. „Ich kann ziemlich gute Burger machen.“ „Oh ja, das stimmt!“, gab Johannes ihm begeistert recht. Zischend griff Janine nach Jacks verletzter Schulter und drückte zu. Carsten stockte der Atem als er Jack aufschreien hörte und sah, wie er sich unter ihrem Griff krümmte. Was… Wie… War das wirklich Janine? Ihre Janine?! Das liebenswerte Mädchen, dass trotz ihres schweren Lebens in Armut immer noch versuchte, das Gute im Menschen zu sehen? Die schon so viele wichtige Leute verloren hatte und trotz allem immer noch lachen konnte? War das wirklich sie?!? „Janine, lass ihn los!“, hörte Carsten sich rufen. „Warum?!“, schrie sie derweil Jack an. „Warum will jeder dir ständig helfen, obwohl du nur Leid und Zerstörung verursachst?! Wie kannst du es wagen, überhaupt noch am Leben zu sein?!?“ Carstens Kehle schnürte sich zu, nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen oder zu machen. Was ging hier vor sich?! Dem Rest schien es ähnlich zu ergehen. Niemandem war es möglich etwas dagegen zu unternehmen. Ihr Blick, verzerrt von Hass und Zorn, glich eher einer karikativen Maske die man zu Karnevalszeiten trug. Die Hand mit der sie Jacks blutende Schulter zu zerquetschen schien, wirkte eher wie die Klaue eines Ungeheuers. Das war nicht Ninie. Nur Johannes ließ sich davon nicht ganz einschüchtern. Er zerrte an ihrem anderen Arm, wollte sie weg von Jack ziehen. „Tantchen, hör auf!“ „Halt du dich da raus!“, fuhr sie ihn an. Das gelbe Lodern um ihren Körper ließ Johannes abrupt zurück stolpern. Obwohl er sich vor Schmerz krümmte, keuchte und hustete, suchte Jack noch das Gespräch. „Janine… jetzt hör… ich…“ „Sprich mich nicht an!“ Es kam Carsten wie in Zeitlupe vor. Ein lautes Pochen, beinahe wie ein Herzschlag, echote über der Waldlichtung. Für einen Moment lang noch waren Jacks grüne Augen vor Schreck weit aufgerissen, dann, ganz langsam, schlossen sich die Augenlider, während er zur Seite umkippte. Allmählich ebbte das gelbe Lodern um Janines Körper ab, doch ein beängstigendes Rauschen hinterließ es in ihren Ohren. „W- was hast du gemacht?!“, fragte Öznur schockiert, ihr Ton schrill von Aufregung. Janine klang beängstigend ruhig als sie sich aufrichtete und antwortete: „Ihn vergiftet.“ Susanne ging einen Schritt auf Janine zu, wagte es aber nicht ihr zu nahe zu kommen. „… Ninie?“ „Ihr wolltet ihn doch ins Krankenhaus bringen. So macht er uns zumindest keinen Ärger.“ „Aber… Wieso…“ Unglauben regierte Arianes Stimme. „Das ist doch kein Grund, ihn direkt…“ „Keine Sorge, ich habe das Gift direkt wieder neutralisiert. Er wird schon nicht sterben. Auch, wenn er es verdient hätte.“ Laura war die erste, die unter Tränen das aussprach, was die Welt von allen zum Einsturz gebracht hatte. „Ninie, du hast ihn gefoltert!“ „Na und?“ Janine zuckte mit den Schultern. „Auge um Auge…“ Carsten biss die Zähne zusammen. „… Und die ganze Welt wird blind.“ Gefühlskalt erwiderte Janine seinen Blick, als er sie fragte: „War es das? Wolltest du Rache?“ „Er hat bereits viel zu viel Schaden verursacht.“ „Wolltest du Rache?“, wiederholte Carsten seine Frage. Janines steinerne Fassade schien zu bröckeln. „Er hat meine Mutter getötet!“ „Wolltest du Rache?!“ „Ja!!!“ Tränen quollen aus ihren Augen, als Janine auf dem Boden zusammenbrach. Trotz ihrer vorigen Angst war Susanne direkt bei ihr, um sie in die Arme zu nehmen. Auch Carsten ging zu ihr rüber, doch noch während er seine Hand auf ihre Schulter legen wollte, hielt er inne. „… Fühlst du dich nun besser?“, fragte er stattdessen. Ihr Gesicht in Susannes Schuluniform vergraben schüttelte Janine schluchzend den Kopf. Das hatte sich Carsten gedacht. Seufzend entschied er, Janine und ihre aufgewirbelten Gefühle erst einmal Susanne zu überlassen und kniete sich stattdessen zu Jack, um seinen gesundheitlichen Zustand zu überprüfen. Als ginge es ihm nicht schon miserabel genug. Sein Herz schlug schwach, aber regelmäßig. Aber für eine Teleportation… Der Rest schien sich noch nicht sicher, wie er auf all das reagieren sollte. Carsten betrachtete Eagle, der immer noch Sakura im Arm hielt und zu Janine und Susanne schaute. Entsetzen zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Schließlich bemerkte er, dass Carsten ihn beobachtete. „Merk dir ihren Blick.“, meinte Carsten daraufhin nur. „Du hattest vorhin genau den gleichen.“ Bedrückt wandte sich Carsten wieder Jack zu. Auch Herr Bôss war zu ihnen rübergekommen und strich Jack die braun-roten Haare aus der verschwitzten Stirn. Carsten wusste, dass sich die beiden von früher kannten. Und egal woher, sie schienen ein durchaus gutes Verhältnis gehabt zu haben. Zumindest, wenn Carsten den besorgten Blick des Direktors richtig deutete. „Ein Teleport könnte kritisch werden.“, stellte Herr Bôss ebenso wie Carsten zuvor fest. Dieser nickte. Als hätte Jack es nicht schon schwer genug… Plötzlich kniete sich Laura neben ihn und hielt ihm die Hand entgegen. Etwas verwirrt schaute Carsten von ihren eleganten Fingern zu ihrem mitfühlend lächelnden Gesicht. „Komm schon, Benni hatte mir damals doch auch immer Energie gegeben.“, erinnerte sie ihn an früher, als ihr eigener Körper kaum einer einzigen Teleportation hatte standhalten können. Dankbar nahm Carsten Lauras Hand und während sie ihre Finsternis-Energie an ihn gab, leitete er sie in Form von Erd-Energie an Jack weiter. Erleichtert atmete er auf, als Jack zwar nicht wieder aufwachte, aber sein Herzschlag zumindest an Stärke gewann. Nach einer Weile meinte Frau Bôss plötzlich: „Ihr solltet euch auf den Weg machen.“ Ihr Mann nickte. „Wir kümmern uns hier um das Notwendige und… vielleicht findet sich ja ein etwas ruhigeres Zeitfenster, wo wir bei euch vorbeischauen könnten.“ Dankbar nickte Carsten den beiden zu. Er wüsste nicht, was sie ohne die Hilfe der Direktoren machen sollten. Es wirkte alles so viel, so erdrückend… Er warf einen letzten Blick auf Max, der auf der Wiese lag als würde er friedlich schlafen. Wäre nur diese blutige Wunde über seinem Herzen nicht… Verbissen kniff Carsten die Augen zusammen und versuchte mit aller Kraft nicht mit den Gedanken zu Benni abzudriften. Nach dem Grund zu fragen, weshalb ausgerechnet er nicht dabei sein konnte. Erfolglos. Und noch schlimmer: Eigentlich wusste Carsten es bereits. Er weigerte sich nur, es einsehen zu müssen. Versuchte zu verdrängen, dass sie Benni für immer verloren haben könnten. Das er ihn für immer verloren haben könnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)