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Demon Girls & Boys

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Schon mal eine kleine Information vorweg: Eigentlich wäre in diesem Kapitel eine gewisse Szene gewesen, wegen der man es erst hätte lesen können, wenn man volljährig ist. (Ich wollte es unbedingt ausprobieren, mal sowas zu schreiben... XD Um eine Erfahrung reicher geworden, yäy!)
Allerdings fand ich es blöd, dass man dann überhaupt keinen Zugriff auf das Kapitel hat, wenn man nicht volljährig ist oder keinen animexx Account hat. Daher habe ich die Szene raus genommen und die ursprüngliche Stelle mit Auslassungspunkten markiert.
Man kann die Geschichte auch ohne ganz gut verstehen, wobei einem ein paar kleine Informationen fehlen. Aber das war noch der beste Kompromiss, den ich für mich/alle finden konnte.
Liebe Grüße und viel Spaß ^^ Komplett anzeigen

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Die Listen des Bereuens

Die Listen des Bereuens

 

 

 

Schweigend saß Öznur mit dem Rest der Mädchen sowie Florian, Konrad, Rina und Saya im Wohnzimmer. Selbst ohne ihre Dämonensinne konnten sie alle den Großteil des Streits hören. Wie konnte Eagle Carsten nur so etwas zutrauen? Ausgerechnet Carsten? Einer der hilfreichsten, selbstlosesten Personen die Öznur je kennengelernt hatte!

War Eagle so verzweifelt? Oder so betrunken? Beides? Sie wusste es nicht. Nur, dass Carsten zu Unrecht so von seinem großen Bruder behandelt wurde. Das hatte er nicht verdient…

Konrads Verlobte seufzte. „Er macht es euch momentan nicht leicht, oder?“

„Na ja… Es ist nun mal eine schwere Zeit für Eagle…“, versuchte Susanne ihn in Schutz zu nehmen.

Florian verschränkte die Arme vor der Brust. „Dennoch… Es schien alles so gut zu laufen. Aber dann hat seine Impulsivität offensichtlich doch die Oberhand gewonnen.“

Verbissen ballte Laura die Hände zu Fäusten. „Aber er hat trotzdem nicht das Recht dazu, seinen Frust an Carsten auszulassen! Er wollte ihm doch nur helfen…“

Irritiert blickte Öznur auf, als plötzliche Stille herrschte. Die allerdings nicht lange andauerte.

„Carsten?! Was hast du?!“, hörte sie Eagle plötzlich leicht panisch fragen. Kurz darauf wurde seine Stimme lauter und verzweifelter. „Saya!“

Man hätte glatt vermuten können Carstens und Eagles Stiefmutter wäre eine Kampfkünstlerin, als sie aufstand und zur Haustür eilte. Besorgt folgte der Rest ihr.

„Ist was passiert?“, fragte Laura verängstigt.

Bei der Haustür angekommen beobachtete Öznur mit angehaltenem Atem, wie Saya die Treppe runter zu Eagle ging, der seinen kleinen Bruder im Arm hielt und leicht aufgebracht meinte: „Er ist plötzlich zusammengebrochen und…“

Gerade im Vergleich zu seiner sonstigen Hautfarbe wirkte Carsten beängstigend blass und sein Atem ging schnell und stockend. Vorsichtig versuchte Saya die Temperatur auf Carstens Stirn zu prüfen, zog die Hand allerdings zurück ohne ihn überhaupt berührt zu haben.

„Bring ihn sofort in sein Zimmer.“, wies sie Eagle an und wandte sich an Susanne. „Kannst du ein paar Tücher nass machen?“

Susanne nickte und verschwand im Haus, während Öznur beobachtete, wie Eagle Carsten vorsichtig hochhob und ihn am Rest vorbei die Treppen nach oben in sein Zimmer trug.

„Hat er einen Rückfall von der Erkältung?“, fragte Ariane besorgt.

Saya nickte ernst. „Ich hatte schon befürchtet, dass so etwas passiert…“

Betreten senkte Laura den Blick. „Es war zu viel…“

„Ist… ist es sehr schlimm?“, erkundigte sich Janine.

Carstens und Eagles Stiefmutter zwang sich zu einem aufheiternden Lächeln. „Er schwebt nicht in Lebensgefahr, falls du das meinst.“

Natürlich war Öznur erleichtert bei Sayas Aussage. Aber so ganz harmlos klang diese Formulierung auch nicht.

Betreten beobachtete sie, wie Saya die Decke des ordentlich gemachten Bettes zur Seite zog und Eagle seinen kleinen Bruder behutsam hinlegte und den Kopf vorsichtig aufs Kissen bettete. Carsten atmete schnell und gepresst, als würde er verzweifelt um Luft ringen. Bei dem Licht schien seine Haut umso blasser und Schweißtropfen rannen ihm über die Stirn. Öznur fragte sich, seit wann Carsten eigentlich schon so mager wirkte.

Kurz darauf kam Susanne mit mehreren befeuchteten und trockenen Handtüchern vorbei, die sie an Saya gab. „Danke.“, meinte diese. „Kannst du vielleicht mal mit deiner Magie seine Temperatur messen? Das geht schneller.“

Susanne nickte lediglich. Sie schloss die Augen und hielt ihre Hand über Carstens Stirn. „41,7 Grad.“

Bedrückt atmete Saya aus und begann, die nassen Tücher fest um Carstens Waden zu wickeln.

„Das ist ziemlich hoch…“, kommentierte Janine beunruhigt.

„Ja… Ich sollte ihm besser ein Fieber-senkendes Mittel geben.“, überlegte Saya laut und wandte sich an Eagle. „Schau mal im Medizinschrank nach ob wir noch Paracetamol oder Ibuprofen haben.“

Ohne irgendetwas darauf zu erwidern verließ Eagle das Zimmer.

Öznur schaute ihm hinterher und wusste nicht, was sie denken sollte. Selbst wenn Eagle wirklich so über Carstens eigentlich nur lieb gemeinte Aktion dachte… Hatte er ausgerechnet jetzt damit ankommen müssen?! Hatte er nicht sehen können, wie schlecht es Carsten schon die ganze Zeit über ging?!?

Öznur biss die Zähne zusammen als Eagle mit einer Packung Paracetamol zurückkam, die er Saya gab. Aber sie schaffte es, sich ihre Kommentare zu verkneifen. Sie konnte ihm nicht hier und jetzt die Meinung sagen. Immerhin ging es auch Eagle momentan alles andere als gut. Und noch dazu brauchte Carsten Ruhe.

Sanft strich Saya ihrem Stiefsohn einige Strähnen aus der verschwitzten Stirn. „Carsten, kannst du dich aufrichten?“

Als sie eine Stelle berührte, die mit den weißen indigonischen Mustern verziert war, kniff Carsten plötzlich die Augen zusammen und gab einen erstickten Schmerzenslaut von sich.

„Carsten?“, fragte Laura besorgt.

Kritisch runzelte Saya die Stirn und betrachtete die Muster eingehender. „Kann jemand von euch vielleicht die Bemalung mit Magie entfernen?“

„Denkst du, er ist verwundet?“, erkundigte sich Susanne betroffen.

Saya nickte. „Er schien bereits vorhin Schmerzen gehabt zu haben.“

Vorsichtig sprach Susanne einen Zauber. Ihre Stimme zitterte so sehr als befürchtete sie, Carsten damit noch mehr Leid zuzufügen. Zwar verzog er leicht das Gesicht, aber es schien zum Glück nicht so schlimm und kurz darauf waren die Muster auch schon verschwunden. Dachte Öznur zumindest.

Florian runzelte die Stirn. „Das sieht stark nach Verbrennungen aus.“

„Hä? Wieso denn das?“, fragte Laura irritiert und betrachtete Carstens linke Körperhälfte eingehender. Auch Öznur schaute genauer hin. Und tatsächlich, die Muster waren immer noch da. Nur dieses Mal waren sie rötlich und mit vielen kleinen Brandblasen versehen, von denen einige sich sogar geöffnet hatten.

Öznur schauderte. „Aua…“

„Aber warum ist Carsten so verletzt? Das hat gar nicht wie schwarze Magie gewirkt…“, bemerkte Ariane und wandte betreten den Blick ab.

„Es könnte eine abgewandelte Form unserer schwarzen Magie sein.“, vermutete Konrad nachdenklich. „Wir arbeiten sehr stark mit Zeichen und Symbolen und die Verletzungen wirken auf mich wie ein Blutzoll.“

Nachdenklich verschränkte Florian die Arme vor der Brust. „Indigoner verwenden also noch schwarze Magie in ihren Zeremonien, obwohl diese als verboten gilt? Ihr seid mir ein seltsames Volk.“

„Du hast gut reden, mit deiner Glitzer-Nation.“, erwiderte Eagle leicht bissig.

Der Elb runzelte die Stirn und ein warnender Unterton lag in seiner Stimme. „Wie meinst du das?“

„Ich glaube, wir alle sollten uns lieber heim machen und ins Bett gehen.“, warf Konrad ein, bevor Eagle in seinem ohnehin schon gereizten Zustand noch einen weiteren Streit begann. „Carsten braucht unbedingt Ruhe und bei einer Ärztin als Mutter ist der Rest von uns ohnehin eher überflüssig.“

„Finde ich auch. Auf jetzt, lasst uns gehen.“, gab Anne ihm Recht und ging zur Zimmertür.

„Werde schnell wieder gesund, okay?“ Vorsichtig nahm Laura Carstens rechte Hand und drückte sie sanft. Anschließend verließen sie sein Zimmer, auch, wenn sich niemand dabei sonderlich wohl fühlte.

Im Flur gab es nur eine betrübte Verabschiedung und der Großteil machte sich auf den Heimweg. Als der Rest das Haus verlassen hatte funkelte Öznur Eagle wütend an.

„Was?“, entgegnete dieser und klang immer noch ziemlich unfreundlich.

„Du kannst ein richtiges Arschloch sein, weißt du das?“

„Das hast du schon öfter gemeint.“, erwiderte er schulterzuckend und ging zur Küche, um sich eine Flasche mit hochprozentigem Alkohol aus dem Regal zu holen. „Möchtest du auch?“

„Nein. Und du hast ohnehin schon genug getrunken, also lass es.“

Ihre Aussage ignorierend füllte sich Eagle ein Schnapsglas voller als notwendig und kippte es mit einem Schluck hinunter. Noch bevor er sich erneut einschenken konnte, riss Öznur ihm die Flasche aus der Hand.

„Öznur, lass den Scheiß, sonst-“, fuhr Eagle sie verärgert an.

„Sonst was? Denkst du nicht, dass du schon genug angestellt hast?!“

„Angestellt?! Warum denkt auf einmal jeder, dass man mich wie ein kleines Kind behandeln muss?!“, rief er noch wütender.

Öznur hasste diesen Ton. Durch Eagles tiefe Stimme hatte er immer etwas Einschüchterndes und jagte ihr sogar ein bisschen Angst ein. Aber sie hatte nicht vor, sich davon verunsichern zu lassen. Und jetzt schon gar nicht.

Doch bei einem Blick in seine Augen verblasste ihr Ärger ein bisschen. Eigentlich wirkte Eagle einfach nur müde und verzweifelt. Und so langsam bekam sie den Eindruck, dass seine Wut nicht gegen sie, sondern viel mehr gegen sich selbst gerichtet war.

Bedrückt stellte sie die Flasche ab, ging auf Eagle zu und zog ihn sanft in eine Umarmung. „Lass uns einfach ins Bett gehen, damit dieser ätzende Tag endlich vorbei ist.“

Eagle erwiderte die Umarmung erst nur zögernd und vorsichtig. Aber schließlich verstärkte er seinen Griff. Kein Laut kam über seine Lippen. Doch so, wie er sich an sie klammerte, hatte Öznur schon eine Ahnung was momentan in ihm vorging. Er zitterte sogar noch stärker als auf dem Weg zu der Krönungszeremonie, wo er die ganze Zeit über verkrampft ihre Hand gehalten hatte.

Während sich Öznur unsicher überlegte, ob sie etwas sagen sollte, wurden ihre Gedanken von einem vorsichtigen Klopfen gegen die Küchentür erlöst.

Überrascht drehte sie sich um und sah, wie Saya am Türrahmen lehnte und die beiden bedrückt betrachtete. Aus den Augenwinkeln bemerkte Öznur, wie sich Eagle grob mit der Hand über ein Auge wischte.

Es geht ihm richtig scheiße…, stellte sie schweren Herzens fest.

„…Wie geht es Carsten?“, erkundigte sich Eagle zögernd. Er schien es wirklich zu bereuen, Carsten in seinem ohnehin angeschlagenen Zustand im Prinzip den Rest gegeben zu haben.

„Ich habe es geschafft ihm die Medizin zu geben und jetzt schläft er. Morgen dürfte das Fieber niedriger sein, aber ich werde trotzdem nachts hin und wieder mal nach ihm schauen.“, antwortete sie.

Eagle wandte den Blick ab. „Ich… Es…“ Er seufzte. „Es tut mir leid.“

Saya kam zu ihnen rüber und nahm Eagle die Federkrone ab, die er bisher noch getragen hatte. „Du musst dich nicht bei mir entschuldigen. Sag das lieber Carsten, wenn es ihm wieder besser geht.“

Eagle nickte daraufhin nur. Saya lächelte schwach und legte die Krone zur Seite. „Setzt dich. Wir befreien dich jetzt erst einmal von den ganzen Malereien.“

„Ich fühl mich immer mehr wie ein kleines Kind.“, erwiderte Eagle verbissen, klang aber nicht mehr wütend. Eher müde. Und verzweifelt. Und einfach total hoffnungslos.

Während er sich hinsetzte, reichte Saya Öznur ein Abschminktuch und begann selbst, die weißen Streifen aus seinem Gesicht zu entfernen. „Dann sei ein kleines Kind, wenn es dir hilft.“

Freudlos lachte er auf. „Carsten zufolge hilft das kein bisschen. Nein… Es macht alles nur noch schlimmer. Ich mache alles nur noch schlimmer. Wegen mir ist Carsten jetzt…“

Überrascht blickte Öznur vom Abschminken auf. Er nahm sich das ja noch stärker zu Herzen als gedacht.

„Eagle, du brauchst dir nicht die Schuld dafür zu geben, dass Carsten krank ist. Das hat er sich selbst zu verantworten. Sich, seiner Ruhelosigkeit und dem unaufhörlichen Helferdrang.“, redete Saya ruhig auf ihn ein. „Selbst wenn ihr euch nicht gestritten hättet, dann wäre er halt oben vor seinem Zimmer zusammengebrochen. Dieser Abend und insbesondere dieses… Ritual…“ Schaudernd widmete sie sich den dunkelroten Streifen auf Eagles Schulter. „Schwarze Magie wurde nicht grundlos verboten. Ehrlich gesagt… Es passt mir nicht, dass er das lernen musste.“

„Nicht nur dir…“ Eagle seufzte. „Ich hätte ihm trotzdem nicht solche Vorwürfe machen sollen. Das Schlimme ist, dass ich noch nicht einmal so denke! Keine Ahnung, warum sowas aus meinem Mund kam!“

Saya war fertig, und wuschelte Eagle durchs kurze schwarze Haar. „Eine weiterer Punkt auf deiner Liste an Sachen, die du im Nachhinein bereust?“

„Die war doch ohnehin schon lang genug…“, erwiderte er bedrückt.

Öznur erinnerte sich, Saya spielte auf seine Amtsantrittsrede an. Bis auf den letzten Teil hatte sie die Rede richtig gut gefunden. Genaugenommen wären ihr fast die Tränen gekommen, als Eagle mit der Sache mit dem ‚Bereuen‘ angefangen hatte. Ja, auch sie hatte eine Liste, die länger war als ihr lieb war. Und ganz oben stand immer noch die Sache mit Anne…

„…Aber Carsten wird wieder gesund?“, erkundigte sich Eagle erneut.

Öznur runzelte irritiert die Stirn. „Natürlich wird er das! Er hat nur Fieber!“

„Ich weiß!“, erwiderte Eagle verbissen. „… Trotzdem…“

Öznur richtete sich wieder auf und legte die Arme um Eagles Schultern. „Ich find’s echt süß, dass du dir inzwischen solche Sorgen um deinen kleinen Bruder machst. Aber übertreib’s bitte trotzdem nicht. Carsten wird wohl kaum einen Helikopterbruder haben wollen.“

Während Saya amüsiert kicherte, schnaubte Eagle empört. „Ich bin kein Helikopterbruder. Ich mach mir nur Sorgen… Ich weiß nicht, irgendwie…“, stammelte er, nicht wissend, wie er seine Gefühle in Worte fassen sollte.

Nachdenklich ging Saya zur Kaffeemaschine und machte sich einen Espresso. „Du hast Angst auch ihn zu verlieren, nicht wahr?“

Eagle nickte und lehnte sich gegen Öznur. „Ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht, weil er Mutter wirklich zu ähnlich sieht. Oder, weil inzwischen sogar sie und Vater nicht mehr da sind… Ich…“

Sanft strich Öznur Eagle über die Wange, während sie mit aller Kraft ihre Tränen zurückhalten musste. Er hatte Recht, Carsten war der einzige aus seinem ursprünglichen Familienkreis, der noch übrig war. Natürlich betrachtete Eagle auch Saya und Sakura als Familie. Aber die beiden hatten immer noch das ‚Stief‘ vor Mutter und das ‚Halb‘ vor Schwester.

Dasselbe schien auch Saya zu denken, doch weder sie noch Öznur konnten etwas dazu sagen.

„Ihr solltet schlafen gehen.“, meinte Saya schließlich. „Der Tag war lang genug.“

Öznur nickte und auch Eagle richtete sich auf. Nach einem kurzen „Gute Nacht“ verließen sie die Küche und gingen nach oben. Vor Carstens Zimmer hielt Eagle kurz inne und schien zu überlegen, ob er reingehen und nach seinem kleinen Bruder schauen sollte.

Öznur zog ihn an der Hand in Richtung seiner Zimmertür. „Komm, bevor du ihn noch ausversehen weckst. Carsten braucht den Schlaf.“

Betrübt nickte Eagle und ging weiter, in sein eigenes Zimmer, wo er sich der Länge nach auf das große Bett fallen ließ.

Öznur war immer fasziniert, wie verschieden Eagles und Carstens Zimmer wirkten. Carstens Zimmer war neben den wichtigsten Möbeln nur spärlich eingerichtet und alleine die vielen Bücher im Regal und auf dem Schreibtisch ließen vermuten, dass es bewohnt war. In Eagles Zimmer herrschte eine viel größere Unordnung, im Regal standen keine Bücher, sondern Computerspiele und freie Plätze auf Schränken oder an der Wand waren mit verschiedenen Waffen ausgestattet. Darunter ein Sportbogen und viele Schwerter. Am eindrucksvollsten war das Großschwert in einer Ecke des Raumes. Der restliche freie Platz war mit sonstigen Trainingsgeräten wie Hanteln und Gewichten zugestellt und Eagles Klamotten langen in alle Winde verstreut auf dem Boden herum.

Darauf bedacht nicht über eine Kurzhantel zu stolpern, ging Öznur zu Eagle rüber ins Bett und legte sich neben ihn. Er reagierte nicht darauf. Wahrscheinlich war er mal wieder mit der Frage beschäftigt, warum all das passieren musste. Warum hatte sein Vater sterben müssen? Warum hatte er ausgerechnet jetzt schon zum Häuptling gekrönt werden müssen? Und warum lag nun auch noch Carsten im Zimmer nebenan mit Verbrennungen und hohem Fieber im Bett?

Bedrückt legte sich Öznur auf die Seite, um Eagles Profil besser betrachten zu können. Die abstehenden kurzen, pechschwarzen Haare. Die hellen, regelrecht orange wirkenden Augen, die ausdruckslos auf die Decke schauten. Seine Nase, die durch einen unglücklichen Bruch vor einigen Jahren nicht mehr gerade, sondern leicht krumm war. Und die Lippen, die Öznur so gerne küsste.

Gedankenverloren streichelte sie Eagle über die Wange mit den hohen Wangenknochen. Sie wollte ihn nicht mehr so betrübt und verloren sehen. So kurz vorm Zerbrechen. Sie wollte ihm irgendwie helfen…

Vorsichtig richtete Öznur sich etwas auf und küsste Eagle sanft auf die Lippen. Für einen Moment erwiderte er ihren Blick, als wäre er sich nicht sicher was er nun machen sollte. Oder eher, was er machen wollte. Wollte er weiterhin schweigend in seinen tristen Gedanken versinken oder wollte er sich irgendwie ablenken? Mit Öznur eine Zeit lang einfach alles vergessen.

Seine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Er packte Öznur und zog sie näher an sich. Öffnete seine Lippen, um ihre Zunge mit einem leidenschaftlichen Kuss zu empfangen. Der Alkoholgeschmack störte Öznur nicht, sie war einfach froh ihm tatsächlich helfen zu können. Mit einer Form der Nähe, die nur sie ihm geben konnte.

[...]

 

Öznur hatte gar nicht wirklich mitbekommen, dass sie eingeschlafen war. Erst als sie verwirrt die Augen öffnete fiel ihr auf, dass das Zimmerlicht nicht mehr brannte. Fröstelnd zog sie die Decke weiter nach oben, richtete sich auf und schaute sich um. Der Grund für die eisige Kälte war das geöffnete Fenster, stellte sie fest als sie Eagle sah, der schweigend an der Fensterbank lehnte und hinaus in den Sonnenaufgang schaute. Die Sonne beleuchtete die dunklen Wolken mit einem feurigen Rot und auch Eagles Gesicht wurde in die flammenden Strahlen getaucht.

Bedrückt stellte Öznur fest, dass er an einer Zigarette zog und ihren Rauch in die kalte Luft ausatmete. Seit etwa einem Monat hatte Eagle eigentlich versucht mit dem Rauchen aufzuhören, da sich Öznur so häufig über den Zigarettengestank beschwert hatte. Und es lief bisher auch ziemlich gut! Doch seit dem Vorfall mit seinem Vater vor einer Woche…

Bedrückt betrachtete Öznur den frisch gekrönten Häuptling. Den tiefen Augenringen nach zu urteilen schien er nicht sonderlich gut geschlafen zu haben. Falls er überhaupt geschlafen hatte.

„…Guten Morgen…“, grüßte sie ihn zögernd.

Da Eagle nichts darauf erwiderte richtete sich Öznur auf und ging zu ihm rüber ans Fenster. Vorsichtig setzte sie etwas Feuer-Energie frei, um nicht allzu sehr zu frieren, und schlang anschließend die Arme um seinen nackten Oberkörper.

„Wie geht es dir?“, erkundigte sie sich nach einer Weile.

Eagle antwortete lediglich mit einem knappen Schulterzucken. Öznur seufzte. Gestern Nacht war trotz allem nur eine Ablenkung gewesen. An der Situation selbst konnte sie rein gar nichts ändern.

Sanft berührte sie sein Kinn und drehte seinen Kopf zu sich, um ihn zu küssen. Doch bei dem Zigarettengestank hielt sie inne. Alkohol war überhaupt kein Problem, aber diesen Geruch mochte sein kein bisschen.

„Was ist?“, fragte Eagle, obwohl er den Grund ihres Zögerns eigentlich kennen müsste.

Öznur seufzte erneut und gab ihm stattdessen einen kurzen Kuss auf die Wange. „Lass uns runter einen Kaffee trinken gehen. Vielleicht ist Saya wach und kann uns sagen wie es Carsten geht.“

Ihre Idee schien Eagle zu gefallen, denn während sich Öznur anzog rauchte er seine Zigarette fertig und drückte sie im Aschenbecher auf der Fensterbank aus. Bei einem kurzen Blick fiel Öznur auf, dass da schon drei weitere Stummel lagen.

Mist, er ist wohl extrem rückfällig geworden., bemerkte sie verbissen.

Tatsächlich trafen sie in der Küche auf Saya, die wohl genauso wie Eagle kein Auge hatte zudrücken können. Doch zumindest erzählte sie, dass Carstens Fieber inzwischen um einen Grad gesunken war, was Eagle und Öznur erleichtert aufatmen ließ.

Mit den dampfenden Kaffeetassen in der Hand kehrten sie allerdings sofort in sein Zimmer zurück. Er schien momentan wohl einfach seine Ruhe haben zu wollen.

Wieder lehnte Eagle schweigend am Fenster und holte sich eine neue Zigarette aus der Packung, um sie sich anzuzünden. Doch sein Feuerzeug schien den Geist aufgegeben zu haben. Mit einem lauten indigonischen Fluch warf Eagle es in die entfernteste Ecke und hielt Öznur die Zigarette hin. „Kannst du mal?“

„Ich bin kein Feuerzeug.“

„Öznur, bitte.“

Doch sie schüttelte den Kopf. „Die wievielte ist das? Nummer fünf? Alleine heute? Nichts da, es reicht.“

„Wolltest du mich vorhin deshalb nicht küssen?“

„Du weißt, wie ich den Geruch hasse. Und den Geschmack erst recht.“, erwiderte Öznur und schluckte ihren Ärger hinunter. Eagle brauchte sie gerade. Dringender denn jäh. Seine Raucherei durfte nicht ausgerechnet jetzt zu einem Streit führen.

Dieser schnaubte verärgert. „Stell dich nicht so an.“

„Ich mag es halt nicht! Und abgesehen davon ist das total ungesund, was du da machst.“

„Fängst du schon wieder an mich wie ein kleines Kind zu behandeln?!“

„Du verhältst dich ja auch andauernd wie eins!“ Verdammt, Öznur schaffte es nicht sich im Zaum zu halten. Sie hatte keine Kontrolle über das, was sie da von sich gab. Dass Eagle wieder mit dem Rauchen anfing frustrierte sie einfach zu sehr.

„Und wie soll ich mich deiner Meinung nach sonst verhalten?!“

„Vielleicht so, wie es sich für einen Häuptling gehört?“ Diese Worte rutschten einfach so über ihre Lippen. Und Öznur bereute sie direkt. Nicht das. Nicht ausgerechnet das!

Eagle schaute sie einen Moment einfach nur sprachlos an, als bräuchte er Zeit um ihre Worte zu verstehen. Doch sehr bald formten sich seine Lippen zu einer verärgerten schmalen Linie während er den Kiefer anspannte. Die bernsteinfarbenen Augen verengten sich zu wütenden Schlitzen. Schmale Furchen bildeten sich auf der Stirn.

„Eagle, ich… So meinte ich das nicht…“, stammelte sie verzweifelt. „Ich wollte doch nur-“

„Spar dir deine Ausreden.“ Ein eisiger Wind zog durch den Raum. So eisig wie Eagles Stimme. „Es ging dir all die Zeit nur um meinen Stand, nicht wahr?“

„Hä?“

„Jetzt spiel hier nicht die Dumme!“, donnerte er und der Wind tobte immer stärker. „Du bist genauso wie die anderen Mädchen! Jede einzelne von euch!“

„Eagle, wovon redest du?!“, schrie Öznur verzweifelt.

Der schneidende Wind fühlte sich genauso verletzend an wie seine Worte. Seine tiefe Stimme dröhnte so laut wie der tosendste Sturm. „Du weißt genau wovon ich rede! Und?! Bist du nun zufrieden?!“

Öznur stolperte einige Schritte zurück und kämpfte erfolglos gegen die Tränen an. „Nein! Kein bisschen!!! Dir geht es grauenhaft, Carsten ist krank und jetzt fängst du auch noch auf einmal damit an, mich anzuschreien! Wie soll ich da bitte schön zufrieden sein?!?“

„Als würdest du dich für meine Situation auch nur einen Dreck interessieren! Sag schon! Wie ist es so vom Häuptling gefickt zu werden?! War’s geil?! Kannst du damit jetzt vor den anderen angeben?!?“

Verzweifelt ballte Öznur die Hände zu Fäusten und kniff die Augen zusammen. Bei dem brennenden Schmerz in ihrem Herzen konnte sie auch die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Darum geht es mir doch gar nicht… Darum ging es mir nie!“, schluchzte sie laut und erwiderte Eagles Blick, der immer noch von Wut verzerrt war. „Glaub mir doch!!!“

Aber es half nichts. Eagle schüttelte den Kopf und wandte sich ab, dem Fenster zu. Der Wind wurde etwas schwächer, war aber immer noch eisig kalt. „Geh.“, meinte er plötzlich.

„Was?“ Zitternd ging Öznur zu Eagle rüber. „Nein, ich kann dich nicht alleine lassen. Ich will dich nicht alleine lassen! Nicht ausgerechnet jetzt!“

Sie wollte seinen Arm nehmen, doch Eagle wehrte sie grob ab. „Verschwinde! Bevor ich noch mehr sage, was ich bereuen könnte!“

Schluchzend wischte sie sich die Tränen von der Wange. „Bevor du noch mehr sagst, was du bereuen könntest?! Was meinst du damit?! Willst du direkt Schluss machen, oder wie?!“

„Lass mich einfach in Ruhe!“

„Eagle, ich-“

„Hau ab!“

„Aber…“, stammelte Öznur. Sie wollte das nicht. Sie konnte ihn doch nicht hier und jetzt zurücklassen! Sie wollte ihm doch nur helfen! Verhindern, dass er unter dem ganzen Druck zusammenbrach! Doch Eagle ließ sie nicht. Zeigte ihr nur die kalte Schulter…

Öznur senkte den Blick. „Wenn du mich unbedingt loswerden willst… Okay, von mir aus. Ich gehe! Aber… denk bloß nicht, dass ich dich so einfach aufgebe. Wenn… wenn du mich irgendwie brauchst…“ Mehr brachte sie nicht mehr über die Lippen. Schluchzend stolperte sie zur Tür und verließ sein Zimmer.

Im Flur wäre sie fast in Saya gerannt, die ihr verheultes Gesicht natürlich unmöglich übersehen konnte.

„Was ist passiert?“, fragte sie besorgt.

Schluchzend krallte sich Öznur an Sayas Pulli, die sie sanft in die Arme nahm.

„Pass… pass bitte auf Eagle auf…“, bat sie seine Stiefmutter mit zitternder Stimme. „Ich… Er… Wir…“

Saya schien nicht viel mehr Informationen zu brauchen. Vorsichtig befreite sie Öznur aus der Umarmung, um ihr in die Augen schauen zu können. „Gib ihm etwas Zeit für sich. Ich bin sicher, dass er bald merken wird, wie sehr er dich braucht.“

„G- glaubst du?“, fragte Öznur schluchzend und wischte sich über die Augen.

Mit einem überzeugten Lächeln nickte Saya. „Ich passe in der Zeit auf, dass er keine Dummheiten macht.“

„O-okay… Danke…“

„Möchtest du etwas? Einen zweiten Kaffee? Was zu Essen?“, erkundigte sie sich fürsorglich.

Öznur schüttelte den Kopf und konnte immer noch nicht glauben, was da gerade eigentlich passiert war. „Ich geh zurück zur Coeur-Academy…“

„In Ordnung… Ich hoffe, du kommst bald wieder.“

„Das hoffe ich auch…“ Bedrückt umarmte Öznur Saya noch einmal. Sie warf einen letzten Blick auf Eagles Zimmertür, ehe sie schweren Herzens die Treppe herunterstieg und das Haus verließ, während sie betete, dass Saya Recht behalten würde.

 

Der Weg über den Campus der Coeur-Academy fühlte sich genauso grauenhaft an, wie der Weg an die Stadtgrenze von Karibera zuvor. Öznur hatte kein Auge für die schönen, farbigen Blätter der Bäume. Es interessierte sie nicht, dass ihre Schule so herrliche Barockgebäude hatte. Das einzige, was sie überhaupt wahrnahm, war der mit Wolken verhangene Himmel.

Sie wusste gar nicht, ob sie überhaupt Lust darauf hatte mit den Mädchen darüber zu reden. Denn natürlich würden sie sofort erkennen, dass etwas passiert war. Aber andererseits wollte sie jetzt auch nicht alleine sein…

Immer noch schluchzend ging Öznur über das riesige Sportgelände und betrat schließlich den Fitnessraum, in der Hoffnung dort eins der Mädchen beim Training zu treffen. Natürlich war die einzige, die irritiert von der Hantelbank aufblickte, ausgerechnet Anne. Warum hatte sich Öznur auch genau für diesen Ort entschieden?!

„Was ist denn mit dir passiert?“, kommentierte Anne ihr Erscheinungsbild, während sich Öznur zögernd neben den Aufbau mit den ganzen Gewichten setzte. Jetzt wieder verschwinden konnte sie auch nicht mehr.

„Eagle und ich, wir… wir haben uns gestritten…“, erklärte sie und wieder brachen die Tränen über sie herein. Alleine die Erinnerung an Eagles Blick und seine Worte taten unglaublich weh. Rissen ihr Herz in tausende kleine Stücke.

Anne richtete sich auf, aber nicht, um Öznur irgendwie Trost zu spenden, sondern nur, um weitere Gewichte an der Langhantel zu befestigen. Schließlich erwiderte sie aber doch etwas: „Erst mit Carsten und jetzt mit dir. Er scheint im Moment ziemlich auf Konfrontation aus zu sein.“

„Aber…“, schluchzte Öznur, wusste aber nicht, was sie sagen sollte.

Immer noch teilnahmslos fuhr Anne mit ihrem Training fort. Nachdem sie die Gewichte mehrere Male hochgestemmt hatte und die Hantel wieder in die Halterung legte, betrachtete sie Öznur, deren Schluchzen sich kaum gebessert hatte. „Worüber habt ihr euch denn gestritten?“

„Ich… Keine Ahnung!“, schrie Öznur verzweifelt. „Eagle hat mir auf einmal vorgeworfen, dass ich genauso wie die anderen Mädchen bin und nur was von ihm will, weil er mal der Häuptling wird! …Also… Weil er inzwischen…“

Anne hielt beim Anbringen weiterer Gewichte inne. „… Hat er denn Recht?“

„Was?!? Nein! Niemals!!! Warum sollte er sowas von mir denken?!?“

„Ehrlich gesagt wäre ich gar nicht so überrascht.“, antwortete sie schulterzuckend.

„Aber… Wieso…“ Entgeistert starrte Öznur Anne an, während immer mehr Tränen ihre Augen verließen und sich ihr Herz immer mehr zusammenzog. Traute sie ihr so etwas wirklich zu? Und noch schlimmer: Traute Eagle ihr so etwas wirklich zu?!?

Anne erwiderte ihren Blick. „Du hast schon so häufig auf unseren Stand angespielt. Beneidest uns ständig darum, dass wir ‚reichen Schnösel‘ alles in den Arsch geschoben bekommen. Warum solltest du da nicht auf einen gutaussehenden Häuptlingssohn anspringen?“

„Ich bin nicht deshalb mit Eagle zusammen!“, rief Öznur empört und schluchzte erneut. „Ich liebe ihn! Deshalb!“

Anne betrachtete sie für einen Moment. Schließlich legte sie das Gewicht zur Seite und setzte sich auf die Hantelbank. „Und du hast wirklich keine Hintergedanken? Dass du dir aufgrund seines Standes Vorteile verschaffen könntest?“

„Niemals!“ Öznur ballte die Hände zu Fäusten. „Warum sollte ich sowas wollen?!“

Anne zuckte mit den Schultern. „Oh, es gibt mehr als genug Leute, die das wollen.“

Irritiert betrachtete Öznur sie und wischte sich erneut Tränen von der Wange. „So ein Unsinn…“

Anne hob eine Augenbraue. „Du hast wirklich keine Ahnung, oder?“ Sie seufzte. „Reich heiraten, sich hochschlafen, … Solche Formulierungen gibt es nicht ohne Grund. Noch nie darüber nachgedacht? Ich bin nicht grundlos so genervt von Beziehungen. Und das hat nichts mit meinem ‚Vaterkomplex‘ zu tun, bevor du mal wieder damit ankommst. Egal, was für ein Geschlecht: Immer, wenn jemand Interesse an mir geäußert hat, hab ich sehr bald erfahren dass das nichts mit mir selbst und meinem Charakter zu tun hat. Die Leute sind allesamt nur auf das Geld und den Einfluss den du hast aus. Ehrlich gesagt wäre ich verwundert, wenn Eagle solche Erfahrungen nicht gesammelt hätte.“

Wie eingefroren hielt Öznur inne. Was hatte Anne da gesagt?

„Du… du meinst also…“, stammelte sie, „So ein Unsinn, warum sollte jemand so etwas machen wollen?“

„Dass du so naiv bist hätte ich auch nun wieder nicht gedacht.“, kommentierte Anne ihre Ungläubigkeit.

„Nein, das nicht, aber… Aber trotzdem… Warum denkt Eagle dann, dass ich- dass ich auch so bin?!“ Erneut brachen die Tränen über Öznur herein. Zitternd und frierend schlang sie die Arme um sich. Natürlich fand sie die Vorstellung furchtbar, dass Eagle solche Erfahrungen gemacht haben könnte. Aber dass er sie für eins dieser Mädchen hielt war dadurch umso verletzender.

Öznur kniff schluchzend die Augen zusammen. Und all das passierte ausgerechnet jetzt, wo es ihm doch ohnehin so schlecht ging.

Hatte er nicht gestern Nacht erst gesagt, er wolle nicht, dass auch noch zwischen ihnen etwas passierte?! War das ‚Danke, dass du da bist‘ einfach so daher gesagt, weil es in die Situation passte? War all das bedeutungslos gewesen?! Ihre gesamte Beziehung?!? Ein Zeitvertreib?!?!

Noch während Öznur in ihren verzweifelten Gedanken zu versinken drohte spürte sie, wie jemand eine Hand auf ihre Schulter legte.

„Hey, der Typ hat auch Carsten gestern unterstellt er wolle seinen Platz als Häuptling einnehmen. Und das ist wohl das letzte, was man von diesem gutmütigen Trottel erwarten würde. Wahrscheinlich ist Eagle im Moment einfach viel zu durcheinander, um auch nur annähernd rational denken zu können.“

„Meinst du… meinst du wirklich?“ Zitternd setzte Öznur die Brille ab und wischte sich über die Augen. Sie versuchte, Anne durch den Tränenschleier anschauen zu können. Doch sie sah alles nur verschwommen.

Anne atmete geräuschvoll aus und setzte sich vor ihr im Schneidersitz auf den Boden. „Ja, mein ich.“

„Also… denkst du, ich sollte nochmal mit ihm reden?“ Mit zitternden Händen tastete Öznur nach ihrem Smartphone, hielt aber inne als sie sah, wie Anne mit dem Kopf schüttelte.

„Du erwartest doch nicht ernsthaft ausgerechnet von mir Beziehungstipps.“, meinte sie und klang leicht genervt. „Aber falls du zur Ausnahme mal wirklich Wert auf meine Meinung legst: Ich würde warten, bis er sich meldet. Lass ihn erst einmal in Ruhe, sodass er realisieren kann was für eine Scheiße er da gebaut hat. Und vielleicht will er ja auch selbst erstmal mit jemand anderem drüber reden. …Wenn er irgendwann mal wieder klar denken kann.“

Natürlich war Öznur alles andere als glücklich über Annes Meinung. Am liebsten würde sie diese Worte einfach ignorieren und Eagle anrufen. Sie wollte doch nur, dass wieder alles in Ordnung war. Dass er seine Worte bereits bereute, mit einer riesigen Entschuldigung ankam und alles war vergeben und vergessen.

Aber dummerweise sagte ihr Kopf, dass Anne Recht hatte. Sie sollte ihm etwas Zeit geben… Besonders, wenn er wirklich schlechte Erfahrungen mit anderen Mädchen gemacht hatte. Öznur erinnerte sich, Eagle hatte mal erzählt, dass die meisten von seinen Beziehungen nicht sonderlich lange anhielten. Sie hatte eigentlich immer gedacht, dass die Richtige einfach nie dabei gewesen ist. Dass sie die Richtige für ihn war! Aber vielleicht steckte wirklich noch mehr dahinter…

Bedrückt seufzte Öznur und steckte ihr Handy zurück in die Hosentasche.

Anne hob daraufhin eine Augenbraue als hätte sie nicht erwartet, dass Öznur ihren Rat tatsächlich befolgen würde.

Verdammt noch mal, das alles war doch garantiert nur wegen dieses einen Streites damals während der Prüfungsphase! Nur deswegen hatte sich Öznur so unwohl dabei gefühlt, sich ausgerechnet Anne anzuvertrauen. Und nur deswegen war Anne auch immer noch so distanziert! Nur, weil Öznur ihr bescheuertes Mundwerk nicht hatte kontrollieren können! Weil sie sich wie die Zicke des Jahrhunderts hatte benehmen müssen! Weil sie Anne an das schlimmste erinnert hatte, was ihr je widerfahren ist.

Verlegen wich Öznur ihrem Blick aus. „Dafür, dass du eigentlich noch überhaupt keine Erfahrungen in Beziehungen hast, kannst du ziemlich gute Ratschläge geben…“

„Das hat nichts mit Erfahrung zu tun, sondern nur mit logischem Denken. Solltest du auch mal ausprobieren. Funktioniert ganz gut.“, erwiderte Anne sarkastisch.

Die Kälte in Öznur breitete sich immer weiter aus. „Ich glaub nicht, dass ich das kann… Du weißt doch, was für eine Niete ich in Mathe bin…“

„Ja, das hab ich mitbekommen.“

Anne schien sich wieder aufrichten zu wollen, doch Öznur hielt sie hastig zurück. „Warte! Moment! Ähm…“

Obwohl es Öznur noch immer nicht schaffte ihr in die Augen zu schauen, spürte sie Annes Blick auf sich ruhen. „Was denn noch?“

„Ich…“ Öznur hatte keine Ahnung, wie sie das in Worte fassen konnte. War es überhaupt möglich, so etwas auszusprechen? „Ich… ähm… Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich… ne ziemlich dumme Gans bin.“

„Das weiß ich schon längst.“, meinte Anne daraufhin nur. So eine Antwort passte zu ihr.

Öznur atmete tief durch und schaffte es endlich ihren Blick zu erwidern. Anne hatte die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete sie kritisch. „Sonst noch was? Ansonsten würde ich nämlich ganz gerne weiter trainieren.“

Musste sie es ihr noch schwerer machen als es ohnehin schon war?! Trotzdem nickte Öznur verunsichert. „Ja… Also… Ich wollte…“ Sie seufzte. „Es tut mir leid, dass ich so eine dumme Gans war. …bin…“

Eine Zeit lang herrschte Schweigen und Öznur fühlte sich unter Annes Blick immer unwohler. Sie konnte einfach nicht herausfinden, was er zu bedeuten hatte. Was dachte sie? War diese Entschuldigung ausreichend? Oder war sie in Wahrheit kurz vorm Ausrasten?

Öznur merkte, wie Anne die Hände anspannte als sie sagte: „Ja, du bist wirklich eine dumme Gans. … Das hatte ganz schön lang gedauert.“

Für einen kurzen Moment war Öznur verwirrt. Anne war nicht wütend? Hatte nicht vor, ihr eine rein zu hauen?! Irgendetwas stimmte da doch nicht…

„Ich… es… es tut mir leid…“, stammelte Öznur. Sie hatte den Eindruck, sich gar nicht oft genug entschuldigen zu können. „Wirklich, es tut mir so leid! Also-“

„Ja, ja, ist schon gut! Ich hab’s kapiert.“, unterbrach Anne sie und verdrehte die Augen.

Wieder brach Öznur in Tränen aus. Doch dieses Mal war es nicht wegen Eagle. „Glaub mir doch, ich will das irgendwie wieder gut machen!“

Anne stöhnte auf und klang leicht genervt. „Dann hör auf zu heulen. Du bist ja schon genauso schlimm wie Laura!“

„Aber…“ Verzweifelt versuchte sich Öznur zusammenzureißen. Doch es brachte nichts. Diese ganze Situation war ohnehin schon schlimm genug. Und dann kam noch ihr blöder Streit mit Anne dazu. Als hätten sie keine anderen Sorgen! Nein, Öznur hatte sich ja unbedingt durch diese dämliche Klausurenphase wie eine absolute Bitch verhalten müssen! „Glaub mir doch… Es tut mir leid…“, schluchzte sie.

Wieder spürte sie, wie Anne eine Hand auf ihre Schulter legte. „… Ich glaube dir.“, erwiderte Anne nach einigem Zögern. „Aber dafür hörst du jetzt auch endlich mal mit dieser Heulerei auf.“

Öznur brachte nur ein Nicken zustande, schaffte es aber trotzdem nicht sich zu beruhigen. Stattdessen fiel sie Anne um den Hals und umarmte sie ganz fest.

Eigentlich war Anne kein Fan von Umarmungen und das machte sie auch mit einem entnervten Stöhnen deutlich. Aber trotzdem wies sie Öznur nicht von sich. Im Gegenteil. „Du bist wirklich eine dumme Gans.“, meinte sie nur erwiderte die Umarmung.

Öznur schluchzte. „Ich weiß.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Regina_Regenbogen
2020-09-28T07:38:03+00:00 28.09.2020 09:38
Ich muss aufhören zu lesen und anfangen zu arbeiten. :'D
Anne hat das echt toll gemacht, auf ihre Weise zumindest. Ist auch interessant zu erfahren, dass Eagle auch in Beziehungssachen schlechte Erfahrungen gemacht hat. Das erklärt sein Verhalten. Öznur passt so gut zu ihm, weil sie sich einfach auch so bescheuert verhalten kann und ihm aber auch Kontra gibt und sie beide sehr temperamentvoll sind.
Schön, dass zumindest der Streit zwischen Anne und Öznur nun endlich beendet ist.
Antwort von:  RukaHimenoshi
28.09.2020 21:16
"Öznur passt so gut zu ihm, weil sie sich einfach auch so bescheuert verhalten kann" DAS gehört eingerahmt X'''D
Aber ja, das Temperament der beiden passt sehr gut zusammen. ;)
Und glaub mir, ich bin auch froh, dass der Zickenkrieg endlich vorbei ist. ^^"


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