Demon Girls & Boys von RukaHimenoshi ================================================================================ Kapitel 66: Nur ein kleiner Schritt ----------------------------------- Nur ein kleiner Schritt Die letzten Wochen Durcharbeiten schienen nun wirklich ihren Tribut einzufordern. Noch am selben Abend bekam Carsten leichtes Fieber, was auch den gesamten Donnerstag über nicht sinken wollte. Saya hatte sich für den Rest der Woche Urlaub genommen und übernahm nun gemeinsam mit Laura die restliche Planung, wie diese es bereits angekündigt hatte. Carsten versuchte zwar, zumindest ein bisschen zu helfen und am Zauber weiter zu arbeiten, musste aber sehr bald einsehen, dass dieses Unterfangen sinnfrei war. Im Endeffekt würde er ansonsten noch irgendetwas Falsches einbauen, weshalb alles scheitern könnte. Erst am Freitag ging es ihm wieder gut genug, um das Bett verlassen zu können. Aber trotzdem war er noch zu angeschlagen, um irgendwie hilfreich zu sein. Schweigend schaute Carsten auf sein kaum angerührtes Mittagessen. Sonderlich viel Appetit hatte er auch noch nicht. Plötzlich klingelte es an der Tür. Da Eagle dies zufrieden mit „Na also“ kommentierte und vom Tisch aufstand, um aufzumachen, musste es wohl Öznur sein. Doch Carsten irrte sich. „Krankenbesuch!“ Carsten verschluckte sich an seinem Tee, als Ariane die Küche betrat. Dicht gefolgt von Eagle, der schelmisch grinste als sei er an dieser Situation nicht ganz unbeteiligt. „Nane?! W-was… was machst du denn hier?“, fragte Carsten hustend. Ariane setzte sich auf einen freien Platz neben ihn und schaute Carsten mit einem mitfühlenden Lächeln an, das trotz allem strahlte wie alle Sonnen des Universums zusammen. „Na ja, ich habe freitags nachmittags sowieso nur Freistunden. Und als ich dann noch erfahren habe, dass Sport ausfällt dachte ich mir, dass ich einfach mal vorbeikommen und nach dir schauen könnte. Carsten spürte die Röte auf seinen Wangen. „Das musst du doch nicht…“ „Ich wollte aber.“, widersprach Ariane bestimmt. „Wir haben dich jetzt seit bald einer Woche nicht mehr zu Gesicht bekommen und als Öznur gestern Abend auch noch erzählt hatte, dass du den ganzen Tag krank im Bett lagst, hab ich mir einfach Sorgen gemacht.“ Verlegen wich Carsten ihrem Blick aus, während Eagle Ariane auf die Schulter klopfte. „Ich find das richtig nett von dir. Vielleicht schaffst du es mal, Carsten auf andere Gedanken zu bringen. Er klagt die ganze Zeit nur, dass niemand ihn was machen lässt.“ „Du musstest mir ja unbedingt die Sachen für den Zauber wegnehmen.“ Empört funkelte Carsten seinen großen Bruder an. Das war eigentlich der Hauptgrund, weshalb er nicht hatte an ihm weiterarbeiten können. „Und du weißt genau, wieso.“, erwiderte Eagle und verdrehte die Augen. Ariane schüttelte amüsiert den Kopf. „Das passt zu dir. Komm, iss auf und dann machen wir einen kleinen Spaziergang. Es ist noch mal richtig schön warm geworden, das gute Wetter sollten wir nutzen. Und ich glaube, es tut dir auch ganz gut, mal rauszukommen.“ Während Carsten irgendwie versuchte sein Essen herunterzuwürgen, unterhielt sich Ariane mit Eagle über dessen neue Frisur. Ariane seufzte. „Ich kenne das immer nur von den Mädchen, die sich die Haare schneiden, wenn sie von ihrem Freund verlassen wurden. So ‚Neues-Ich-Mäßig‘, wovon ich eigentlich nicht viel halte. Aber es ist interessant, dass das bei euch so fest in der Kultur verankert ist.“ Sie betrachtete Eagle kritisch. „Trotzdem finde ich das komisch. Die langen Haare passen einfach viel besser zu dir.“ Eagle zuckte mit den Schultern und fuhr sich durch die kurzen schwarzen Haare. „Wem sagst du das. Ich fühl mich selbst immer noch nicht wohl mit dieser Frisur. Aber zumindest ist man nach dem Duschen viel schneller fertig…“ „Das stimmt, ich bekomme auch immer bei Laura mit, wie ewig es dauert bis ihre Haare trocken sind.“, gab Ariane ihm recht. „Kurze Haare sind einfach praktischer.“ Da fiel Carsten auf, dass Arianes Haare nur noch bis zu den Schultern reichten. Das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, waren sie noch um einiges länger gewesen. „Hast du sie dir auch schneiden lassen?“ Ariane nickte. „Dienstag erst. Wie gesagt, ich finde kürzere Haare einfach praktischer.“ Carsten lächelte schwach. „Haben die Mädchen bei dir auch so ein Drama gemacht, wie bei Susanne damals?“ „Ne, zum Glück nicht.“ Nun betrachtete sie Carsten. „Aber dir steht diese Länge richtig gut.“ Während seine Wangen wieder einen rötlichen Ton annahmen, musste Eagle grinsen. „Das stimmt, du wirkst mit den kürzeren Haaren zumindest etwas männlicher.“ „Was soll das denn heißen?“ Beschämt stand Carsten auf und stellte den noch nicht ganz geleerten Teller in den Kühlschrank. „Alles okay?“, fragte Eagle besorgt. „Ja, ich habe nur immer noch kaum Appetit. Ich esse den Rest nachher.“ „Wenn du meinst… Dann geh ich mal zum Training. Viel Spaß euch.“, verabschiedete sich Eagle, erhob sich vom Stuhl und verließ das Zimmer. Auch Ariane stand auf. „Dann lass uns auch mal gehen.“ Immer noch verunsichert nickte Carsten und folgte ihr nach außen. Gemeinsam spazierten sich durch Kariberas alten Stadtkern an den Tipis vorbei. „Wie kommt es eigentlich, dass ihr sowohl in Zelten als auch normalen Häusern lebt?“, erkundigte sich Ariane neugierig. „Die Indigoner waren früher ein Nomandenvolk und hielten sich selten lange an einem Ort auf. Da wären richtige Häuser einfach unpraktisch gewesen. Aber seitdem durch die Gründung Damons Indigo existiert, ist das nicht mehr der Fall.“, erklärte Carsten. „Die Tipis sind nur noch für diejenigen, die ein bisschen an dieser Tradition festhalten wollen oder, um den Kindern zu zeigen, wie es früher war. Sie werden durchaus genutzt und gepflegt, aber kaum jemand wohnt wirklich regelmäßig in einem Zelt, bis auf ältere Indigoner wie Koja.“ „Irgendwie finde ich das schön, wie sehr Indigo versucht seine Traditionen zu pflegen.“, kommentierte Ariane beeindruckt. Seufzend fuhr sich Carsten durch die kürzeren Haare. „Für meinen Geschmack etwas zu sehr…“ Ariane wollte etwas erwidern, hielt aber stockend inne, als sie den freien Platz erreichten, in dessen Mitte der Marterpfahl thronte. Zu seinen Füßen war ein hölzernes Podest aufgebaut, auf welchem Chiefs Leichnam lag. Die Hände waren über seine Brust gekreuzt und auf seinem Haupt trug er eine Federkrone. Um ihn herum lagen Unmengen an Blumen- und Federkränzen, welche meist mit Bändern geschmückt waren. Eine schimmernde Aura umgab den Leichnam. Eine Magie, welche ihn in gewisser Weise einfror und den Körper am Zerfall hinderte. Schaudernd griff Ariane nach Carstens Arm. „Liegt… er schon die ganze Zeit hier?“ „Ja, so soll auch das Volk die Möglichkeit haben sich von ihm zu verabschieden, bis er morgen… bestattet wird.“ Ein kalter Wind fuhr an Carstens Nacken vorbei und erneut brachen die Schuldgefühle über ihn herein. Noch nicht einmal der Anblick von Chiefs leblosen Körper löste eine emotionale Reaktion in ihm aus… Wie konnte Carsten nur so herzlos sein?! Er spürte, wie Ariane seine verspannte Hand nahm und direkt beschleunigte sich sein Herzschlag. Gleichzeitig bekam er die Angst, dass Ariane ihn fragen würde wie es ihm ging. Dass er auch ihr gegenüber diese Maske des trauernden Sohnes würde aufsetzen müssen. Obwohl er sie nicht anlügen wollte. Aber die Wahrheit konnte er noch weniger sagen… Er wollte einfach gar nichts sagen müssen! Er wollte gar nicht darüber reden! „Können… wir woanders hin?“, fragte Ariane zögernd. Carsten nickte und sie kehrten Chief und dem Zentralplatz den Rücken zu. Als er nach einigen Metern erkannte, dass Ariane ihn wohl nicht nach seinem Gefühlszustand fragen würde, atmete Carsten erleichtert auf. Doch sein Herzschlag konnte sich trotzdem nicht beruhigen, da Ariane immer noch seine Hand hielt. Sehr wahrscheinlich ohne überhaupt zu merken, was sie damit in Carsten auslöste. Wie durcheinander sie ihn alleine mit dieser Berührung machte. Während sie am Fluss am Rande Kariberas entlangspazierten, überlegte Carsten angestrengt, ob er es irgendwie schaffte einen Schritt zu machen, um ihr endlich näher zu kommen. Um nicht einfach nur tatenlos zu warten, bis sie vielleicht irgendwann mal zufällig Interesse an ihm bekundete. Was sehr unwahrscheinlich war. Doch seine Überlegungen blieben ohne Erfolg. Für alle direkten Wege war er viel zu schüchtern und für die indirekten fehlte ihm der notwendige Einfallsreichtum. Bis auf den Husten durch seine Erkältung brachte er nichts über die Lippen. Ariane betrachtete ihn besorgt. „Du siehst ziemlich platt aus. Wollen wir eine kleine Pause machen? Nicht, dass es zu viel wird.“ Verlegen wich Carsten ihrem Blick aus und nickte. Ariane holte eine kleine Decke aus ihrem Rucksack und breitete sie auf der Wiese aus, sodass sie sich nicht ins Gras setzen mussten. Irritiert musterte Carsten sie, als sie auch Servietten und eine Brotdose mit Kuchenstücken auspackte. „Hattest du das von Anfang an geplant?“ „Klar.“, erwiderte Ariane und reichte Carsten ein Kuchenstück. „Hier, den hab ich vorgestern in HL gemacht. Eigentlich sollte Laura ihn euch schon am Mittwoch mitbringen, aber natürlich hat sie es vergessen. Zum Glück kann Susanne diesen frischhalte-Zauber.“ Mit geröteten Wangen und einem gestotterten ‚Danke‘ nahm Carsten das Stück entgegen. Ariane hatte schon häufiger Kuchen nach dem Hauswirtschaftslehre-Unterricht an die anderen verteilt und jeder war sich einig, dass sie von allen am besten backen konnte. Und es schien ihr auch viel Spaß zu machen. Auch dieser Kuchen war wie immer sehr lecker. „Sag mal… Du backst gerne, oder?“, versuchte Carsten irgendwie ein Gespräch zu starten. „Ja, das stimmt. Einfach so zwischendurch eher weniger, aber wenn Geburtstage oder so anstehen, komme ich gerne mit einem Kuchen dazu. Oder Plätzchen in der Weihnachtszeit…“ Gedankenverloren schaute sie auf ihr Kuchenstück. „Ich habe gerne mit meiner Schwester zusammen gebacken. Wobei… eigentlich saß sie immer nur daneben und hat mit mir gequatscht, während ich alles gemacht habe.“ Traurig lachte sie auf. Betrübt senkte Carsten den Blick. Es war ja klar, dass sein Gesprächsthema wieder zu einer gedrückten Stimmung führen würde. Aber andererseits… Momentan konnte man wohl kaum von Ariane erwarten, über unbeschwerliche Themen zu reden. Nicht, wenn sich ihre Schwester in einer Zelle bei Mars befand… Und eigentlich sollte er selbst zurzeit auch nicht über unbeschwerliche Themen reden können… Wieder kam das schlechte Gewissen. Wieder kam der Gedanke, dass er sich nicht richtig verhielt. Dass er eigentlich traurig sein sollte. Schließlich führte Ariane das Gespräch fort: „Özi hatte erzählt, dass ihr Gotsch und Johannes mit eurer Schwester beim Observationszauber gesehen habt.“ Carsten nickte. „Ja… Sakura scheint momentan ziemlich… schwierig zu sein. Aber ich hoffe, dass sie mit ihnen klarkommt.“ Ariane seufzte. „Wundert mich nicht, wenn sie erfahren hat, dass ihr Vater ermordet wurde…“ Carsten schluckte ein noch nicht gekautes Kuchenstück ganz hinunter. „J-ja… Stimmt…“ Ariane überhörte zum Glück das schlechte Gewissen in seiner Stimme und meinte stattdessen: „Wenn wir schon beim Backen sind: Wie kommt es eigentlich, dass du so gerne und gut kochst?“ „Gut?“ „Richtig gut. Also mir hat es zumindest immer geschmeckt.“ Und wieder färbten sich seine Wangen rot. „Ä-ähm… Also… Im Prinzip hat mir Koja das Kochen früher ein bisschen beigebracht. Und ich habe dann immer gerne was für Benni und Laura gemacht, als wir im Grundschulalter waren. Besonders Laura hatte sich immer so sehr gefreut, wenn ich für sie gekocht habe… Dieses Gefühl, wenn jemand der sonst nur wenig isst sich immer und immer wieder noch etwas aus dem Topf nimmt… Ich kann gar nicht beschreiben, wie schön das ist.“ In Erinnerungen verloren lehnte sich Carsten zurück und schaute in die Ferne. Hatte die kleine Laura vor Augen, die hungrig den dritten Teller belud und anschließend verschlang. Ariane kicherte. „Ich kann es mir gut vorstellen. Laura erwähnt häufig genug in der Mensa, dass sie viel lieber etwas essen würde was du gemacht hast.“ Carsten lachte auf. „Ich kann ja nächstes Schuljahr neben dem Sanitätsdienst auch noch Küchendienst machen.“ „Das geht?!“, fragte Ariane ungläubig. „Klar geht das. Janine hat doch hin und wieder Küchendienst und fehlt deshalb beim Unterricht.“, erwiderte Carsten irritiert. „Echt?!“ Ariane klang noch überraschter. Verwirrt schaute Carsten sie an. „Wusstest du nichts davon?“ Nun gut, da Janine und Carsten nicht in Arianes Klasse waren bekam sie es vielleicht nicht so regelmäßig mit wie die Magier. Aber Carsten hätte schon gedacht, dass Janine den Mädchen davon erzählt hatte. Doch Ariane schüttelte den Kopf. „Gar nichts.“ „Vielleicht hatte sie Angst, dass ihr sie nach dem Grund fragt…“, überlegte Carsten. Auf Arianes fragenden Blick hin erklärte er: „Janine kann doch aufgrund der… speziellen Verhältnisse nicht genug Geld aufbringen, um die Schulgebühren zu bezahlen. Im Prinzip hat die Schule für solche Fälle ein spezielles Stipendium.“ „Hat sie?“, fragte Ariane und klang überrascht und fasziniert zur selben Zeit. „Das ist ja richtig cool! Ich hatte mich schon häufiger gefragt, wie Ninie auf die Coeur-Academy gehen kann, obwohl ihre Familie eigentlich so… so arm ist… Aber ich habe mich nie getraut zu fragen… Weißt du, wie es funktioniert?“ „Natürlich, ich bekomme es selbst.“, antwortete Carsten. „Echt jetzt?!“ Carsten lachte auf. Irgendwie war Ariane mit ihrem überraschten und gleichzeitig faszinierten und interessierten Blick einfach total süß. „Janine, Benni, ich, … Wir alle drei nutzen dieses Angebot. Im Prinzip brauchst du einen entsprechend guten Notenschnitt und musst dich ehrenamtlich irgendwie in der Schule beteiligen. Janine hilft beim Küchendienst, ich bin im Sanitätsdienst und Benni ist in der Schülervertretung und kümmert sich gleichzeitig in den Stallungen um die Einhörner. So bleiben einem die Kosten erspart und je besser dein Notenschnitt ist und je mehr du dich ehrenamtlich engagierst, desto mehr Taschengeld bekommst du auch.“ „Wahnsinn, davon wusste ich nichts.“ „Es wird auch nicht jedem angeboten, sondern nur denen, die nach Ansicht der Direktoren finanzielle Unterstützung brauchen.“ Ariane musterte Carsten irritiert. „Du und Benni?“ „Vergiss nicht, dass Benni bis April noch nicht einmal wusste, wer seine Eltern waren. Er hatte zwar nie hungern müssen, aber Eufelia verdiente nichts und folglich hat er bereits von klein auf gearbeitet. Ich weiß nicht, ob seine Eltern versucht haben ihn über Nicolaus finanziell zu unterstützen. Aber da es nicht zu auffällig sein durfte, werden es wenn, dann nur sehr kleine Beträge gewesen sein. Ohne das Stipendium hätte er niemals die Coeur-Academy besuchen können. Und da der Direktor mich ohnehin unter… besonderen Umständen kennengelernt hat, hat er mir das Stipendium sofort angeboten. Unabhängig davon, aus welcher Familie ich stamme. Ich glaube zwar, dass sie das Schulgeld bezahlt hätten, aber…“ Bedrückt senkte Carsten den Blick. „…Aber was?“, fragte Ariane vorsichtig nach. Er seufzte. „Ich… war irgendwie froh finanziell von ihnen unabhängig sein zu können…“ Auch Ariane seufzte bedrückt. „Irgendwie kann ich das sogar verstehen, wenn die letzte Schule, für die sie bezahlt haben das… ähm… halt diese Schule war…“ Irritiert fragte sich Carsten, warum es Ariane vermied den Namen seiner vorherigen Schule auszusprechen. Hatten Eagle oder Saya den Mädchen etwa irgendwas erzählt?!? Oder hatten sie sie gar in alles eingeweiht, was vorgestern geschehen war?! Zitternd verschränkte Carsten die Arme vor der Brust. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass sie davon wussten. Es war ihm schon unangenehm genug, dass inzwischen bereits Eagle und Saya es erfahren hatten. Dass sie miterleben mussten, was für Auswirkungen diese Zeit auf Carsten hatte… „…Wie lange warst du nochmal dort?“, fragte Ariane zögernd. „Sechs Jahre…“ Bedrückt atmete sie aus. „Das ist wirklich lang…“ Carsten senkte den Blick. Zitterte immer noch, obwohl es eigentlich angenehm mild war. Plötzlich klopfte Ariane ihm auf die Schulter. „Hey, du hast es überstanden! Ist das nicht die Hauptsache? Und über diesen Weg hast du es auch auf die Coeur-Academy geschafft. Wer weiß, vielleicht hätten wir uns ansonsten nie kennengelernt.“ Als Carsten bei Arianes optimistischem Ton aufschaute, stellte er fest, dass ihr Gesicht relativ nah an seinem eigenen war. Sofort schlug ihm das Herz bis zum Hals. Nun gut, wenn man es genau nahm, war schon noch recht viel Abstand zwischen ihnen. Aber nicht so viel wie sonst. Und das reichte schon aus, damit Carsten erneut die Röte in den Kopf stieg. Trotzdem musste er bei ihren Worten lächeln. „Ja, das hätte sein können…“ Eigentlich müsste er jetzt endlich den nächsten Schritt wagen. Alles in Carsten schrie, dass dies die perfekte Gelegenheit war. Er wollte sie ja nicht direkt küssen, das wäre viel zu unhöflich und würde Ariane nur überrumpeln. Nur eine Umarmung. Ein paar Worte. Das würde schon ausreichen! Doch Carsten brachte kein Wort über die Lippen. Schaffte es nicht, auch nur einen einzigen Muskel zu bewegen. Schließlich vergrößerte sich der Abstand zwischen ihnen wieder, als Ariane sich ein weiteres Kuchenstück aus der Brotbox holte. Bedrückt atmete Carsten aus. Er war so ein gutmütiger Trottel. „Aber ich finde es trotzdem richtig schön, dass die Schule so etwas anbietet.“, kehrte sie zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. „Besonders, da sie ja offensichtlich einigen damit helfen kann.“ Carsten schaffte es lediglich, daraufhin zu nicken. So ein verdammter gutmütiger Trottel. Während Ariane das nächste Stück aß, schaute sie auf den See hinaus. Carsten verfluchte sich derweil immer noch selbst, die Gelegenheit nicht ergriffen zu haben. Warum fiel ihm das so schwer?! „Warst du schon mal Eislaufen?“, fragte Ariane plötzlich. Überrascht blickte Carsten auf. „Ja, häufig. Wie kommst du denn darauf?“ Ariane seufzte und klang wieder bedrückter. „Ich musste gerade einfach daran denken. Bis zu meiner Einschulung in der Coeur-Academy war ich immer mit Gotsch Schlittschuhlaufen. Wir haben sogar gemeinsam einige Eiskunstlaufkurse besucht. Sie hatte mir damals die Hölle heiß gemacht, als das durch die Coeur-Academy nicht mehr ging… Jetzt bereue ich es, damit aufgehört zu haben…“ Bedrückt beobachtete Carsten, wie sich Ariane mit der Hand über die Augen wischte. „Jetzt würde die Saison wieder losgehen…“, meinte sie trostlos. „Und meine Schwester würde sich im Internet alle Wettkämpfe anschauen und von ihrem Lieblings-Eiskunstläufer schwärmen…“ Ariane schluchzte und wischte sich weitere Tränen aus dem Gesicht. Zögernd verringerte Carsten den Abstand zwischen ihnen. Mehr brauchte er nicht zu machen, denn Ariane lehnte sich sofort gegen ihn und klammerte sich an seine Jeansjacke. „Ich habe so eine Angst um sie…“ Mit einem stechenden Gefühl im Herzen legte Carsten die Arme um Arianes Schultern und fragte sich, wie häufig sie in letzter Zeit schon wegen ihrer Schwester geweint hatte. Plötzlich erinnerte er sich an Jacks Kommentar während des letzten Observationszaubers. Wenn Benni für Sakura ‚den Kopf hinhielt‘, damit man sie am Leben ließ… Galt dann auch dasselbe für Johanna?! Doch, das war definitiv der Fall. Carsten war sich hundertprozentig sicher. Johannes war als Dämonenbesitzer wahrscheinlich in Sicherheit, aber Johanna und Sakura waren nur am Leben, weil Benni sie vor Mars beschützte. Weil er für sie den Kopf hinhielt. Um zu verhindern, dass ihnen dasselbe widerfuhr, wie seinem Großvater… Zitternd verstärkte er den Griff um Ariane, die sich immer noch schluchzend an ihn klammerte. „Wir werden sie da rausholen.“, versuchte er irgendwie tröstend auf Ariane einzureden. „Johanna, Sakura, Johannes, … Benni… Wir werden alle da rausholen.“ Diese nickte weinend. „Wir müssen.“ Während Carsten Ariane weiter im Arm hielt kam er zu dem Entschluss, dass es besser wäre ihr zu verschweigen, wie gefährlich die Situation für Johanna eigentlich war. Sie musste jetzt schon genug durchstehen. Damit würde er es nur noch schlimmer machen. Carsten überlegte verzweifelt, wie er sie irgendwie aufheitern konnte. Wie er ihr einen kleinen Funken Hoffnung geben könnte… Doch momentan schien alles so hoffnungslos… „Hör mal…“, setzte Carsten stockend an, „Wenn… wenn Johanna wieder da ist, dann können wir doch alle gemeinsam Schlittschuhlaufen gehen.“ Was rede ich denn da für einen Mist?! „Selbst, wenn es noch nicht so kalt ist, ich… ich kann uns ja einfach einen See einfrieren.“ Verdammt, sei still! Ariane kicherte. „Das würdest du machen?“ Toll gemacht. Verdammter gutmütiger Trottel., fuhr sich Carsten in Gedanken an. Doch sein Mundwerk hörte trotzdem nicht auf seinen Kopf. „Natürlich!“, antwortete er prompt. Lächelnd löste sich Ariane aus der Umarmung und erwiderte seinen Blick. „Das ist echt süß von dir.“ Carsten brachte daraufhin nur ein verlegenes Lachen über die Lippen. Oh Gott, wieso musste er sich in ihrer Gegenwart immer nur so peinlich verhalten? Wieso konnte er sich nicht ein einziges Mal zusammenreißen?!? Ariane betrachtete Carsten einen Moment, was ihn noch verlegener machte. Schließlich meinte sie: „Ich find die Idee wirklich schön. Weißt du was, wenn alles vorbei ist sollten wir tatsächlich mal Eislaufen gehen.“ Verunsichert lächelte Carsten. „Wobei ich nicht weiß, ob wir Laura in Schlittschuhe bekommen können. Als Kind ist sie mal im Teich eingebrochen und traut sich seitdem nicht mehr aufs Eis.“ Belustigt zuckte Ariane mit den Schultern. „Irgendwie überrascht mich das nicht. Aber die anderen müssen ja nicht unbedingt mitkommen. Lissi und Anne nerven eh nur ständig rum und eigentlich wäre ein Tag ohne den ganzen Rest auch mal ganz schön.“ Carstens Herzschlag beschleunigte sich. Hatte er Ariane da richtig verstanden? Meinte sie damit, dass sie nur mit ihm Schlittschuhlaufen gehen wollte? Nur sie beide? Zu zweit?! „Ähm… gerne…“, druckste er überfordert. Ariane schien zwar immer noch bedrückt, doch trotzdem warf sie ihm ihr strahlendes Lächeln zu. „Aber erstmal solltest du wieder gesund werden. … Willst du noch ein Stück Kuchen?“ „G-gerne…“, widerholte Carsten sich stotternd, immer noch völlig aus der Bahn geworfen. Ariane wollte sich der Brotdose zu wenden, wich allerdings plötzlich zurück. Verwirrt schaute Carsten in die Richtung, in die auch Ariane blickte. Und begab sich instinktiv in Abwehrhaltung. Mit ruhigen Schritten kam Jack auf sie zu und blieb wenige Meter von ihnen entfernt stehen. „‘N Abend.“ „Was willst du?“, fragte Ariane. Der feindselige Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Sorry, ich wollte euer Date nicht unterbrechen.“, kommentierte Jack, woraufhin Carsten noch verlegener wurde. Doch Jack nahm keine Notiz davon und hielt stattdessen eine kleine Papiertüte hoch. „Ich sollte nur einen Botengang machen.“ Kritisch richtete sich Carsten auf, doch Ariane packte seinen Arm. „Carsten, halt dich fern von ihm!“ Immer noch mit pochendem Herzen legte Carsten seine Hand auf Arianes Schulter. „Es ist schon okay, ich-“ „Nichts ist okay! Carsten, der Typ hat deinen Vater-“ Stockend hielt sie inne. „Und… und dich hätte er damals auch schon fast…“ Sie verstärkte ihren Griff. Jack seufzte. „Glaub mir, ich hätte auch lieber Benni den Botenjungen spielen lassen. Aber wie ihr euch sicher vorstellen könnt, ist das keine gute Idee.“ Irritiert hielt Carsten inne. Hatte Jack Benni eigentlich schon immer bei dessen Spitznamen genannt? Letztens beim Observationszauber war das auch schon so gewesen, doch Carsten war sich ziemlich sicher, dass Jack am Anfang Bennis vollen Namen benutzt hatte. Vorsichtig befreite sich Carsten aus Arianes Griff und ging zu Jack rüber. Dennoch hielt er genug Abstand, um notfalls auf einen Angriff reagieren zu können. Carsten wusste einfach nicht, wie er von Jack denken sollte. Ariane hatte Recht, er hatte schon so viel Schaden angerichtet. Er war für den Tod von Nicolaus verantwortlich, hatte Carsten selbst bereits lebensgefährlich verwundet und nun musste Eagle viel zu früh in die Fußstapfen seines Vaters treten… Und dennoch… Nach alldem was passiert war, hatte Carsten trotzdem den Eindruck Jack vertrauen zu können. Vorsichtig streckte er die Hand aus und Jack reichte ihm die Tüte. Als Carsten ihren Inhalt herausnahm stellte er fest, dass es sich um schwarze, zu einem Zopf geflochtene Haare handelte. „Morgen ist es soweit, nicht wahr?“, vergewisserte sich Jack. Carsten nickte und betrachtete immer noch Sakuras Haare. „…Danke.“ „Nichts zu danken. Ich bin nur froh, dass sie dadurch zumindest etwas Ruhe gegeben hat.“ Inzwischen war auch Ariane zu ihnen rübergekommen und betrachtete Jack kritisch. „Wehe unseren Geschwistern stößt irgendetwas zu. Ansonsten-“ Jack seufzte. „Jaaa, jaaa, ich weiß schon. Spar dir deine Drohungen.“ Carstens Hand begann zu zittern und die Papiertüte knitterte unter seinem Griff. Erneut erinnerte er sich an Jacks Kommentar über Benni bei dem Observationszauber. Und nicht nur das… Ohne es zu wollen schoss ihm die Schwachstelle des Banns durch den Kopf. Dass Mars ihn brechen könnte, wenn er Benni zu seinem Dämonenbesitzer machen würde… Verbissen schaute Carsten Jack in die grasgrünen Augen und meinte schließlich mit zitternder Stimme: „Jack, bitte… Pass auf Benni auf…“ Kurz erwiderte Jack seinen Blick. „Mach ich.“ Anschließend drehte er sich um und ging. Benommen schaute Carsten ihm hinterher, bis er in dem orange-schwarz lodernden Portal verschwunden war. Anschließend setzte er sich wieder auf die Decke, nicht wissend, was er denken sollte. Ariane folgte ihm verwirrt. „Was ist? Was hat er gesagt?“ Erst jetzt bemerkte Carsten, dass Jacks letzten Worte auf Deutsch gewesen sind. Er betrachtete Sakuras Zopf, den er immer noch in der Hand hielt. „Es scheint doch nicht alles so hoffnungslos wie wir denken…“ Immer noch irritiert setzte sich Ariane neben ihn. „Wie meinst du das?“ Carsten blickte zu der Stelle, an der Jack vor kurzem verschwunden war. „Es könnte gut sein, dass wir einen unerwarteten Verbündeten bekommen haben.“ Erst als die Sonne beinahe hinterm Horizont verschwunden war, kehrten Carsten und Ariane zurück, wo sie bereits von Eagle, Öznur und Saya am Essenstisch empfangen wurden. Öznur grinste. „Ihr wart aber ganz schön lange unterwegs.“ Beschämt wich Carsten ihrem amüsierten Blick aus und setzte sich neben seinen großen Bruder auf den freien Stuhl, während Ariane ihm gegenüber Platz nahm. „Wo ist Laura? Ich dachte, sie kommt auch wieder, um zu helfen.“, erkundigte sich Carsten irritiert. Saya schüttelte den Kopf. „Sie übt für morgen.“ Ariane kicherte. „Sie war ja auch schon den ganzen Vormittag über total nervös.“ „Was habt ihr denn ansonsten noch geplant?“, erkundigte sich Carsten neugierig, doch Saya winkte ab. „Lass dich überraschen.“ Unauffällig deutete sie auf Eagle, der schweigend sein Essen betrachtete ohne überhaupt die Intention zu besitzen, es auch nur anzurühren. „…Bist du sehr nervös?“, fragte Ariane vorsichtig. Da Eagle nicht darauf reagierte, antwortete schließlich Saya: „Er verhält sich schon so, seit er von dem Training gekommen ist.“ Besorgt legte Öznur ihre Hand auf Eagles Arm. „Das wird schon mit morgen. Du schaffst das.“ Das Geschirr klapperte, als Eagle den Stuhl zurückschob und verärgert schnaubend aufstand. „Leckt mich doch am Arsch.“, meinte er nur und verließ die Küche. Kurz darauf fiel laut krachend die Haustür in die Angeln. Eine Weile lang herrschte Schweigen, bis Öznur bedrückt ausatmete. „Er ist noch gereizter als letztes Wochenende…“ „Wer kann es ihm verübeln…“, erwiderte Ariane und senkte den Blick. Saya schaute Carsten fragend an. „Denkst du, du könntest versuchen mit ihm zu reden? Weder mit mir noch mit Öznur hat er auch nur ein Wort wechseln wollen.“ Seufzend fuhr sich Carsten über die Narben auf seiner Nase. „Worüber soll er dann mit ausgerechnet mir noch reden? Es ist doch offensichtlich, dass er Angst vor morgen hat.“ „Trotzdem, vielleicht kannst du ihm ja irgendwie helfen!“ Flehend schaute Öznur ihn an. Die Sorge um ihren Freund war nicht übersehbar. Sich geschlagen gebend richtete Carsten sich auf. „Ich kann es zumindest versuchen…“ Noch während auch er die Küche verließ rief seine Stiefmutter ihm hinterher: „Zieh eine Jacke an, du bist immer noch erkältet.“ „Ja, mach ich.“ Carsten schloss die Haustür hinter sich und schlüpfte in eine etwas wärmere Sweatjacke, als der kalte Wind ihn frösteln ließ. Zögernd ging er die Stufen vor dem Haus hinunter und fragte sich, wo Eagle wohl hingegangen sein könnte. Carsten schaute in Richtung Wald, wohin er sich neulich erst selbst geflüchtet hatte. Doch schließlich folgte er dem entgegengesetzten Weg, auf den Stadtkern zu. Derselbe Weg, den er heute Mittag bereits mit Ariane entlangspaziert war. Die Erinnerung daran ließ Carstens Herz wieder schneller schlagen. Während er seinen Weg fortsetzte überlegte er, ob er Arianes Frage nach einer Verabredung vorhin tatsächlich richtig verstanden hatte. Ob sie wirklich nur mit ihm Schlittschuhlaufen gehen wollte. Nur sie beide. Zu zweit. Schließlich erreichte Carsten den zentralen Platz und das erste was ihm auffiel war, dass der Wind schlagartig aufhörte zu wehen. Es schien als würde kein einziges Lüftchen es auch nur wagen sich zu rühren. Carsten betrachtete den Ort, der beinahe wie leergefegt schien. In der Mitte stand immer noch der Marterpfahl und zu dessen Füßen befand sich immer noch das Podest mit Chiefs leblosem Körper und all den Blumen und Federn. Mehrere Meter davor saß Eagle im Schneidersitz und schaute ausdruckslos auf den grauen Adler, welcher an der Spitze des Pfahls thronte. Zögernd ging Carsten zu seinem großen Bruder rüber und setzte sich neben ihn. Nach einer Weile fragte Eagle plötzlich: „Du kennst dich nicht zufälligerweise mit Zeitreisen aus?“ Carsten schüttelte den Kopf. Eagle seufzte. „Es wäre auch zu schön gewesen.“ Wieder breitete sich ein gefühlt ewiges Schweigen aus. Und erneut war es Eagle, der dieses Schweigen brach. „Wusstest du, dass unser Großvater mein Vorgänger war?“ „Du meinst Chiefs Vater, Amar?“ Einen Moment lang hielt Eagle inne, doch schließlich nickte er. „Damals hatte der Graue Adler anscheinend schon angekündigt, dass ich der nächste Dämonenbesitzer werden sollte. Deshalb kam Mutter wohl auch auf die Idee mich Eagle zu nennen.“ „Woher weißt du das?“ „Saya hatte es mir neulich erzählt.“ Carsten betrachtete seinen großen Bruder nachdenklich. Es war immer noch ungewohnt, Eagle mit so kurzen Haaren zu sehen. Aber andererseits fand Carsten seine eigene Haarlänge auch nach wie vor unangenehm… Sie weckte ständig Erinnerungen. Grausame Erinnerungen an eine fürchterliche Zeit… Eagle erwiderte seinen Blick. „Was ist?“ „Hast… hast du den Mädchen irgendetwas erzählt? Von… neulich?“, fragte Carsten mit schwacher Stimme. Geräuschvoll atmete Eagle aus. „Ich hatte ja schon immer gedacht Benni sei verschlossen. Aber nach den letzten Tagen… Da glaube ich irgendwie, dass du sogar ihn übertriffst.“ Verunsichert senkte Carsten den Blick. Vor einiger Zeit hatte Benni mal etwas ganz Ähnliches zu ihm gesagt… „Als du diesen Albtraum hattest… Öznur hatte das auch mitbekommen.“, fuhr Eagle schließlich fort. „Vorgestern hat sie mich dann ausgefragt, ob ich mit dir darüber geredet habe und wie es dir geht. Falls du es genau wissen willst, ich habe nur gemeint, dass du wohl noch etwas Zeit brauchst um das zu verarbeiten. Und dass du alles andere als gerne darüber redest. Wahrscheinlich hat sie das dann auch dem Rest der Mädchen erzählt.“ Carsten atmete auf. Eagle schnaubte. „Ich bin immer noch der Meinung, du solltest dir Hilfe holen. Aber Saya meint, dass das rein gar nichts bringt, wenn du das nicht von dir aus möchtest.“ „Ich… ich komme schon zurecht.“ Nervös zupfte Carsten an seinem Haargummi, den er eigentlich gar nicht mehr brauchte und nur aus Gewohnheit noch am Handgelenk trug. „Wie du schon sagtest, ich brauche einfach noch etwas Zeit…“ Bedrückt atmete Eagle aus, erwiderte aber nichts mehr darauf. Stattdessen fragte er: „Hat zumindest dein Date mit Ariane dich auf bessere Gedanken bringen können?“ Sofort wurde Carstens Gesicht wieder tiefrot. „Das war kein Date.“ „Da wird dein restlicher Freundeskreis aber was ganz anderes behaupten.“, erwiderte Eagle und klang leicht amüsiert. „Und? Was war nun?“, fügte er hinzu und wirkte tatsächlich etwas neugierig. „Ähm… Also…“, stammelte Carsten und wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. „Sie… ähm… mag anscheinend Schlittschuhlaufen…“ „Klingt doch gar nicht mal schlecht, das hast du früher auch gerne gemacht, oder?“, kommentierte Eagle. „J-ja, schon… Aber… Ähm… Ich bin inzwischen sicherlich total aus der Übung und…“ Verwirrt musterte Eagle ihn. „Was druckst du denn so herum? Es ist ja nicht so, als hättet ihr direkt ein Date zum Schlittschuhlaufen ausgemacht, oder?“ Carsten schluckte schwer. Eagle hob eine Augenbraue. „Nicht dein Ernst.“ „Wenn… Wenn jemand meint es sei schön einen Tag ohne den ganzen Rest zu verbringen dann… ähm… ist das dann direkt ein Date?“ Eagle lachte leise auf und klopfte Carsten auf die Schulter. „Du bist wirklich schmerzhaft unschuldig. In dieser Formulierung klingt mir das definitiv danach.“ Carstens Wangen fühlten sich kochend heiß an. Also hatte Ariane das wirklich so gemeint?! „Hey, du kannst dich glücklich schätzen, dass zumindest sie endlich mal die Initiative ergreift. Von dir kann man ja offensichtlich nichts erwarten.“, meinte Eagle und verdrehte die Augen. „Du solltest dringend was gegen diese übertriebene Schüchternheit machen.“ Carsten wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Eagle hatte ja Recht, seine Schüchternheit brachte schon ihn selbst allmählich um den Verstand. Doch etwas dagegen machen? Das war leichter gesagt als getan. Wie sollte er das bitteschön anstellen? Wieder breitete sich das Schweigen aus, doch dieses Mal war es Carsten, der es brach: „Hast du… dir bereits überlegt, was du morgen sagen wirst?“ Er merkte, wie sich Eagle verspannte und ein kalter Wind durch seine kurzen Haare fuhr. „Ja, hab ich.“ „Hast du ein Problem damit, wenn ich es mir nachher mal durchlese?“ „Willst du dich in alles was ich mache einmischen?“, fragte Eagle schroff. „N-nein!“, widersprach Carsten hastig. „Es interessiert mich nur.“ Sein großer Bruder warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Halt dich doch einfach mal da raus. Abgesehen davon gibt es nichts zu lesen, ich hab mir nur über einige Punkte Gedanken gemacht. Und wehe ich soll dir jetzt davon erzählen.“ Für einen Moment betrachtete Carsten seinen großen Bruder. „Wieso bist du eigentlich hierher gekommen, wenn du offensichtlich nicht an morgen denken möchtest?“ „Aus ‘ner Kneipe hättet ihr mich doch sofort wieder rausgezerrt.“ „Trotzdem…“ Carsten schaute zu dem Podest mit dem Leichnam ihres Vaters. „Warum gerade dieser Ort?“ Bedrückt seufzte Eagle. „Keine Ahnung.“ Er stand auf und ging zu dem hölzernen Konstrukt. Zögernd folgte Carsten ihm und beobachtete, wie er seinen Vater betrachtete. Eagles Kiefermuskulatur verspannte sich und Carsten war sich nicht sicher, ob er vor Zorn oder Trauer die zitternden Hände zu Fäusten ballte. „Alle sagen, er sieht so aus als würde er nur schlafen.“ Der verbitterte Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Ich hab keine Ahnung, wie sie so etwas behaupten können. Auf mich wirkt das kein bisschen so. Er bewegt sich nicht, er atmet nicht… Er liegt einfach nur da wie eine Statue… Als… bestünde er aus totem Stein…“ Stockend streckte Eagle seinen Arm aus, als wolle er die Hand seines Vaters nehmen. Seine Finger bebten. Zitternd atmete Eagle aus und berührte vorsichtig Chiefs Handrücken. Erneut fiel Carsten auf, wie windstill es momentan war. Schaudernd verschränkte er die Arme. Trotz seiner Jacke fühlte es sich eisig an. „Er ist auch genauso kalt…“, meinte Eagle gedrückt und nahm die Hand seines Vaters schließlich ganz in die seine. Während Carsten weiterhin beobachtete, wie Eagle Chiefs Hand hielt, fragte er sich, was wohl momentan im Kopf seines großen Bruders vorging. War er traurig oder wütend? Verwirrt oder verzweifelt? Wollte er weiterkämpfen oder einfach aufgeben? Wahrscheinlich war es alles und nichts gleichzeitig. Zitternd atmete Eagle aus und drückte die Hand seines Vaters noch einmal kurz, bevor er sie losließ. Schließlich erwiderte er Carstens Blick. „Lass uns zurückgehen, bevor deine Erkältung wieder schlimmer wird.“ „Eagle-“, setzte Carsten an, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Stattdessen zwang ihn seine Erkältung zu einem Husten. Sein großer Bruder warf ihm ein schwaches, freudloses Lächeln zu. „Es ist schon okay. Und jetzt komm, du bist immer noch krank.“ Sie machten sich gemeinsam auf den Rückweg, doch Eagle warf trotzdem einen letzten Blick über die Schulter. Betrachtete ein letztes Mal seinen Vater. „Morgen also…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)