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Demon Girls & Boys

von

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Minuten der Tränen

Minuten der Tränen
 


 

Seufzend starrte Carsten auf Sisikas Notizen, deren Lesbarkeit sich mit steigender Seitenzahl eher verschlechterte als verbesserte. Es war gut, dass er sich so früh wie möglich darum gekümmert hatte. Neben Programmpunkten während der eigentlichen Zeremonie musste auch noch ein festliches Abendessen organisiert werden. Und ‚je mehr hohe Tiere eingeladen sind und kommen, desto besser‘, schrieb seine Mutter.

Um die Einladungskarten hatte sich Carsten sehr bald nach dem Observationszauber gekümmert. Und er konnte von Glück reden, dass er Magier war und sich dadurch die Arbeit immens erleichtern konnte. Denn alle Karten sollten Handgeschrieben sein. Von wem, war allem Anschein nach egal. Aber wichtig war, dass der angehende Häuptling seine Unterschrift darunter setzte.

Carsten fragte sich, ob das eigentlich Urkundenfälschung war, die er da betrieben hatte. Denn er hatte Eagle eigentlich nur um eine Unterschrift auf einem leeren Blatt gebeten und anschließend einen Stift so verzaubert, dass er diese auf alle Karten schrieb.

Natürlich hatte Eagle sofort gespottet, Carsten wolle wohl ein Autogramm von ihm haben. Aber gefragt, wofür er diese Unterschrift eigentlich bräuchte, hatte er trotzdem nicht.

Carsten fragte sich, ob sein Bruder wohl schon eine Ahnung hatte, was da auf ihn zu kam. Er wusste, dass er Eagle irgendwie in die Planung einweihen musste. Direkt nach dem Observationszauber hatte er auch trotz seiner Erschöpfung einen Versuch gestartet. Doch wie erwartet reagierte Eagle sofort mit Verärgerung und hatte alsbald auf Durchzug geschaltet.

Carsten seufzte. Er machte die Sache damit nicht gerade einfacher…

Aber dafür waren Sisikas Notizen eine große Hilfe. Anscheinend hatte seine leibliche Mutter an einigen Stellen auch mit Magie getrickst, um sich die Arbeit zu erleichtern. Denn ‚als würde ich jede dieser verdammten Dinger selbst schreiben. Pah, nicht mal im Traum käme mir das in den Sinn.‘

Schmunzelnd las Carsten diesen Satz ein zweites Mal durch und musterte anschließend den Einladungskarten-Berg, der sich vor ihm auftürmte. Ja, nicht mal im Traum würde er das ganze selbst schreiben.

Öznur war sofort nach der Schule wieder nach Indigo gekommen und hatte Carsten direkt darum beneidet, dass er die Biologieklausur hatte ausfallen lassen können. Beim Abendessen hatten Carsten und Eagle Öznur und Saya von dem Observationszauber erzählt. Gerade seiner Stiefmutter schien das Wissen, dass es Sakura den Umständen entsprechend gut ging, immens zu helfen. Öznur wiederum war schwer beeindruckt, wie tolerant Jack und Benni gegenüber den ‚monatlich wiederkehrenden Frauenproblemen‘ waren. Auch, wenn es immer noch keine gute Idee war Jacks Namen in Eagles Gegenwart zu erwähnen.

Nach dem Abendessen hatte sich Carsten wieder an seinen Schreibtisch gesetzt, während Eagle und Öznur in Eagles Zimmer verschwunden waren.

Seufzend blickte er auf Sisikas Programmliste und verglich sie mit der auf seinem Zettel. Auf dem bisher nur ‚Programm‘ stand. Noch eine Weile starrte er die Blätter an und hoffte insgeheim, dass sich die Tabelle auf magische Weise von selbst schreiben würde.

Aber natürlich geschah nichts.

Plötzlich nahm er Geräusche wahr, die aus dem Nebenzimmer zu kommen schienen. Schlagartig schoss ihm das Blut in den Kopf, als er ein Stöhnen hörte und erkannte, was oder eher wer die Ursache dieser Geräusche war. Hastig kramte er nach seinem Mp3-Player und den Kopfhörern und erhöhte die Lautstärke sofort auf das Maximum.

Verbissen funkelte er den Mp3-Player an, als ausgerechnet Chopins Trauermarsch startete.

Carsten versuchte sich weiter auf die Planung zu konzentrieren. Doch natürlich war das unmöglich. Alleine bei dem Wissen, was sie da im Nebenzimmer gerade machten, breitete sich vor Scham ein flaues Gefühl in seinem Magen aus. Mit schweißnassen Händen schloss er das Notizbuch, verließ mit schnellen Schritten sein Zimmer und eilte die Treppe hinunter.

Noch bevor er die Haustür öffnen konnte, hörte er Saya seinen Namen rufen. Seufzend ging er ins Wohnzimmer, wo er seine Stiefmutter lesend auf der Couch fand. Halbwegs erleichtert stellte Carsten fest, dass man zumindest hier nichts aus dem oberen Stockwerk hören konnte.

Alleine bei dem Gedanken daran fühlte er sich sofort wieder unwohl und beschämt.

„Entschuldige, ich hoffe, ich störe nicht.“, meinte Saya.

„N-nein, ganz und gar nicht…“, stotterte Carsten und dachte bei ‚stören‘ direkt wieder an Eagle und Öznur.

Saya wies auf einen Sessel. „Falls du Zeit hast… Ich würde gerne mal mit dir reden.“

Carsten schluckte. ‚Ich will mit dir reden‘ war nie die Einleitung für ein angenehmes Gespräch. Er wusste zwar nicht, was er falsch gemacht haben könnte, aber trotzdem fühlte er sich wie ein kleines Kind, das gleich von seiner Mutter zurechtgewiesen wurde.

Zögernd setzte er sich auf den Sessel und zwirbelte das Kabel der Kopfhörer um seinen Finger.

Der Blick, den Saya ihm zuwarf, war allerdings alles andere als vorwurfsvoll. Er war eher besorgt. „Wie geht es dir?“

„W-wie meinst du das? Mir… mir geht es gut.“, stammelte Carsten und ignorierte das unwohle Gefühl in seinem Bauch.

Traurig musterte Saya ihn. Und seufzte schließlich. „Carsten, du weißt, dass ich dir sehr dankbar bin, dass du so viel machst, in dieser… schweren Zeit.“

Langsam nickte Carsten. Worauf wollte sie hinaus?

„Und ich hoffe du weißt auch, dass du das nicht alleine machen musst.“, fügte sie hinzu. „Falls du Hilfe brauchst, egal was… Du kannst jeder Zeit kommen und darum bitten.“

„Es geht schon, wirklich. Ich habe ja gerade erst mit der Planung für… halt dafür angefangen. Und Koja hat auch schon versprochen, ihre Kontakte spielen zu lassen.“

Saya seufzte. „Ich meinte nicht nur die Planung für die Zeremonie.“ Sie warf Carsten einen mitfühlenden Blick zu. „Du kannst darüber reden, wenn du magst.“

Die Bauchschmerzen wurden stärker als Carsten verstand, worauf Saya hinauswollte. Er senkte den Blick. „Ich komme schon zurecht.“

„Wirklich?“, hakte seine Stiefmutter vorsichtig nach.

„Ja, wirklich…“ Seine Hände begannen zu schwitzen und er fühlte sich unter ihrem Blick immer unwohler.

Saya legte das Buch zur Seite und kam zu Carsten rüber. Sanft legte sie ihre Hand auf seine zitternde. „Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich dir das wirklich erzählen soll…“, setzte sie an, „Ich weiß nicht, ob es dir hilft. Aber ich möchte, dass du weißt… Chief hat dich immer geliebt.“

Überrascht schaute Carsten auf. Die Bauchschmerzen waren so stark, dass ihm inzwischen etwas übel wurde.

Sanft strich Saya ihm über die Wange. „Ich weiß nicht, ob du ihn nach allem noch lieben kannst, oder ob du ihn inzwischen hasst. Aber-“

Ruckartig stand Carsten auf. „Ich komme zurecht …wirklich.“

Sayas trauriger Blick machte die Sache nur noch schlimmer. „Lass sie raus, Carsten. Lass deine Gefühle endlich raus. Egal welche, friss sie nicht in dich hinein.“

Sie wollte seinen Arm nehmen, doch Carsten wich von ihr weg. Die Übelkeit wurde immer stärker. Er hatte den Eindruck, sein Magen drehe sich um. Ihn überkam sogar ein leichter Schwindel.

„Ich sagte doch schon ich komme klar!“ Sein Tonfall war schroffer als beabsichtigt. Saya wollte ja eigentlich nur helfen. Aber dieses stechende Gefühl im Herzen, diese Übelkeit…

Und dann auch noch Sayas trauriger Blick…

„Ich… Ich geh mal ein bisschen frische Luft schnappen.“ Schnell wandte sich Carsten ab und stolperte zur Haustür. Er wusste nicht, ob Saya noch einmal nach ihm rief. Er wusste auch nicht, wie er ohne hinzufallen die Treppen vor der Tür herunterrennen konnte.

Schwer atmend erreichte er den naheliegenden Waldrand, als ihm durch die Übelkeit das Abendessen wieder hochkam. Keuchend stützte er sich an einem Baumstamm ab. Hoffte, dass der Schwindel bald nachließ.

Irgendwann schaffte er es, sich hustend und taumelnd aufzurichten.

Mit schleppenden Schritten spazierte er am Waldrand entlang und schaute in den leicht bewölkten Himmel. Der kalte Abendwind ließ ihn schaudern. Irgendwann lehnte er sich gegen einen Baumstamm und sank auf den Boden. So ganz war die Übelkeit noch nicht verschwunden. Und nun kam auch die Erschöpfung durch.

Carsten spürte, wie der Schlafmangel der letzten Tage an ihm zu nagen begann. Und trotz der wirren Gedanken die in seinem Kopf kreisten, trotz der Kälte die ihn zittern ließ, wurden seine Augen immer schwerer.
 

Eagle legte sich neben Öznur ins Bett und schloss die Augen, sog den Duft ihres Parfüms ein, während sich Öznur mit ihrem warmen Körper gegen ihn kuschelte und ihren Kopf auf seine Brust legte. Er hätte nicht gedacht, wie beruhigend alleine die Anwesenheit einer Person sein könnte. Wie nur kleine Gesten wie eine Umarmung bereits so viel bewirken konnten.

Öznur spielte mit einer Strähne seines schwarzen Haares, während Eagle allmählich begann, wegzudösen. Die letzte Nacht hatte ihn wohl doch mehr erschöpft als gedacht. Und dieses beruhigende Gefühl, wie Öznur in seinen Armen lag, nahm ihm auch die restliche Anspannung. Eine Anspannung, die er schon gar nicht mehr bewusst wahrgenommen hatte.

Er war wohl tatsächlich ein bisschen eingenickt. Zumindest kam das Klopfen gegen die Zimmertür so unerwartet, dass er sich sogar etwas erschrak.

„Eagle, hast du einen Moment?“, kam Sayas Stimme aus dem Flur und wirkte ziemlich aufgebracht. Ein Hauch Sorge überkam ihn. Was war denn los?

„Warte kurz.“, rief er zur Tür und richtete sich auf, um seine Boxershorts anzuziehen.

Öznur gab sich anscheinend damit zufrieden, den Großteil ihres verführerischen Körpers mit der Bettdecke zu verbergen.

Eagle ging zur Tür rüber und drehte den Schlüssel um. Seit Sakura mal zu einem ungünstigen Zeitpunkt hineingeplatzt war, hatte er es sich zur Gewohnheit werden lassen das Zimmer sicherheitshalber abzuschließen. Er war zwar alles andere als verklemmt, aber irgendwo lag auch bei ihm eine Schmerzensgrenze.

Als er die Tür öffnete sah er, dass Saya genauso aufgelöst war wie sie klang. Sie schien sogar etwas geweint zu haben… Automatisch wurde Eagle unwohl zumute.

„Was ist denn los?“, fragte er vorsichtig und ließ seine Stiefmutter ins Zimmer.

„Ich… Es ist… Carsten…“, druckste sie.

Eagle spürte, wie eine leichte Panik in ihm aufstieg. Was war mit Carsten, dass Saya sogar gegen Tränen ankämpfen musste? Selbst bei seinen schlimmen Verletzungen damals hatte sie sich mehr zusammenreißen können!

Direkt schossen Eagle Erinnerungen an seinen Vater in den Kopf. Wie er da auf dem Boden lag. Dieser leere Blick. Das ganze Blut.

Öznurs Stimme riss ihn aus diesen Erinnerungen heraus. „Setz dich doch erstmal…“, riet sie Saya vorsichtig.

Immer noch aufgewühlt setzte sich Saya auf Eagles Schreibtischstuhl. „Ich… ich hätte nicht mit ihm reden dürfen. Dass… Er…“

Als sie nicht weitersprach, fragte er: „Worüber hast du mit ihm geredet?“

Saya senkte den Blick. „Über… euren Vater…“

Sofort verspannte sich Eagle wieder.

„Ich…“ Sie seufzte. „Ich hatte Sorge, dass er versucht das alles zu verdrängen und alle Gefühle in sich hineinzufressen. Ich wollte ihm irgendwie helfen, sich mit… mit Chiefs Tod… auseinanderzusetzen. Aber…“

„Aber das ist doch gut.“, widersprach Öznur ihr. „Ich hab heute erst mit den anderen Mädels darüber geredet und auch sie hatten gemeint, dass es ganz gut wäre, wenn Carsten mal jemanden zum Reden hat. Da Benni ja… nicht da sein kann.“

Betrübt schüttelte Saya den Kopf. „Ich glaube nicht, dass das geholfen hat… Ich weiß nicht… Vielleicht habe ich die falschen Worte verwendet. Bin es falsch angegangen. Ich weiß es einfach nicht!“

Eagle runzelte die Stirn. „Aber was ist denn jetzt passiert?“

„Carsten meinte die ganze Zeit nur stur er käme zurecht, obwohl es ihm deutlich anzusehen war, dass er nicht damit zurechtkommt. Irgendwann ist er aus dem Haus gestürmt und seitdem… auch nicht mehr wieder gekommen…“

Tatsächlich wischte sich Saya eine Träne aus den Augen.

„Wann war das?“, hakte Öznur nach.

„Vor bald einer Stunde. Ich weiß, ich sollte mir keine Sorgen machen. Wahrscheinlich braucht er jetzt einfach etwas Zeit für sich. Besonders nach… sowas. Aber… aber seit Chief…“ Saya schluchzte.

Vorsichtig ging Eagle vor ihr in die Hocke und legte ihr eine Hand auf den Arm. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus und ohne es zu wollen, ging etwas von Sayas Angst auch auf ihn über. Auch ihm gefiel es gar nicht, dass Carsten so lange alleine irgendwo draußen verschwunden war.

Verdammt, eigentlich sollte er sich keine Sorgen machen! Carsten war scheiß stark! Das hatte er erst letzte Nacht unter Beweis gestellt. Und trotzdem…

Eagle biss die Zähne zusammen. Er hatte gesehen, wie fertig Carsten die letzten Tage wirkte. Gerade heute… Die Verletzungen von Eagles Wutausbruch… Die tiefen Augenringe, die Bände über eine schlaflose Nacht schrieben… Wie platt er nach dem Observationszauber war… Eagle hatte all das gesehen, und doch nicht wirklich wahrgenommen. War all die Zeit nur mit sich selbst beschäftigt. Obwohl er genau wusste, was Carsten alles momentan für ihn tat!

Und Eagle wollte sein Bruder sein?!

Öznur richtete sich etwas im Bett auf. „Keine Angst, es wird schon nichts passiert sein.“

„Wir suchen gleich nach ihm.“, ergänzte er, doch so beruhigend er wirken wollte, so unruhig fühlte er sich. Auch ihm ging die Sache mit Chief und Sakura nicht aus dem Kopf. Selbst, wenn Eagle nirgends den Einsatz von Energie spürte, befürchtete er automatisch, dass Carsten in einen Kampf verwickelt war. Und dass Eagle auch dieses Mal zu spät kommen würde. Dass er ihn nicht würde retten können…

Ruckartig stand Eagle auf und schlüpfte in seine Jeans.

Saya nickte, immer noch ganz durcheinander. „Danke. Ich weiß nicht, ob ich… die richtige wäre momentan.“

Öznur schüttelte den Kopf. „Du solltest keine Schuldgefühle haben. Klar ist das gerade schrecklich, aber… aber ich glaube, dass du ihm damit geholfen hast. Auch, wenn es vielleicht nicht so wirkt… Schon alleine an Carstens Reaktion hat man doch gemerkt, dass er seine Gefühle wirklich in sich hineingefressen hat! Jetzt wurde er zumindest dazu gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen!“

Bedrückt atmete Saya aus. „Ich hoffe, du hast Recht…“

Sie verließ das Zimmer, damit sich Öznur und Eagle in Ruhe anziehen konnten. Eagle selbst wurde immer ungeduldiger. Er versuchte sich die ganze Zeit einzureden, dass es unnötig war sich Sorgen zu machen. Aber es half nichts.

Kurz darauf standen sie vor der Haustür und schauten in die Nacht. Inzwischen war die Sonne untergegangen, was die Suche nicht gerade erleichterte.

Das dachte sich auch Öznur. „Toll, und wo fangen wir an?“, fragte sie seufzend.

„Kannst du mir etwas Licht machen?“, erkundigte sich Eagle.

Öznur ließ eine kleine Flamme über ihrer Hand tanzen, die ihnen auch direkt etwas Wärme spendete. So langsam schien sich der Sommer zu verabschieden.

Eagle untersuchte die Wiese vor dem Haus und entdeckte an einer Stelle abgebrochene Grashalme.

„Da lang.“, meinte er und folgte den Fußspuren Richtung Wald.

„Krass, wie machst du das?!“, fragte Öznur beeindruckt, als er sie über ein Feld lotste.

„Fährtenlesen? Sowas lernt man schon im Kindergarten.“ Eagle suchte den Waldrand ab und war froh, dass der Mond trotz der Wolken noch für etwas Licht sorgen konnte. So tat die gute Sehfähigkeit, die er dank seiner Dämonenform hatte, ihr übriges.

Tatsächlich erkannte er aus der Ferne, wie Carsten gegen einen Baumstamm lehnte. Zwar war er unverletzt und schien zu schlafen, aber trotzdem überkam Eagle direkt wieder etwas Panik.

Sofort beschleunigte er seine Schritte und Öznur musste schon rennen, um mithalten zu können.

„H-hast du ihn gefunden?“, fragte sie keuchend.

Schließlich hatten sie den Waldrand erreicht. Carsten schien wirklich nur zu schlafen, was Eagle wieder etwas aufatmen ließ. Aber so wie sein kleiner Bruder das Gesicht verzog, war es kein schöner Traum. Er murmelte irgendwas im Schlaf, doch Eagle verstand kein Wort. Das war weder Indigonisch noch Damisch.

„Was sagt er?“, fragte er Öznur irritiert.

Diese zuckte mit den Schultern, wirkte aber auch besorgt. „Keine Ahnung… Es könnte Deutsch sein.“

Eagle hob eine Augenbraue. „Deutsch? Das ist doch-“ … Terras Regionssprache.

Auch Öznur schien das zu denken.

Das nächste, was Carsten sagte wirkte panischer, verzweifelter. Und Eagle war sich sicher, dass es keine Einbildung war. Es liefen tatsächlich ein paar Tränen über Carstens Wangen.

Wie gelähmt konnte Eagle nichts anderes machen als zuschauen. Er wollte ihm irgendwie helfen, schaffte es aber nicht einmal ein Wort über die Lippen zu bekommen.

Wenn sein kleiner Bruder schon im Schlaf was auf Deutsch von sich gab, war es eigentlich eindeutig, wovon er träumte. Was ihn da unterbewusst immer noch belastete.

Und es war auch eindeutig, wer die Schuld daran trug…

Öznur nahm Eagles Hand und riss ihn damit aus den verzweifelten Gedanken. „Du solltest ihn wecken…“

„…Ich?“

Öznur nickte. „Ich mach mich zurück zur Academy. Carsten braucht dich gerade, Eagle. Er braucht seinen großen Bruder. Ich würde da nur im Weg sein.“

„Aber-“

Sie nahm sein Gesicht zwischen die Hände und lächelte ihm mutmachend zu. „Du kriegst das hin.“

Eagle wich ihrem Blick aus. Kämpfte weiterhin gegen das schlechte Gewissen an, im Prinzip für diesen Albtraum verantwortlich zu sein. „Ich bin der falsche dafür…“

„Nein, gerade du bist der richtige.“, widersprach Öznur ihm bestimmt. „Und jetzt hör auf, deinen kleinen Bruder noch länger warten und leiden zu lassen. Das ist ja kaum auszuhalten, wie du dich gerade anstellst! Jetzt hab gefälligst Eier in der Hose und sprich mit ihm! Du suchst doch schon die ganze Zeit nach einem Weg, deine damaligen Aktionen wieder gut zu machen. Was wäre da besser, als wenn du ihm hilfst das endlich zu verarbeiten?!“ Am Ende wurde ihr Ton wirklich extrem schroff und auch ein bisschen vorwurfsvoll. Aber das und ihr stoischer Blick half tatsächlich, wieder rationaler denken zu können.

Eagle gab sich geschlagen und nickte schwach. Trotzdem fühlte er sich nicht sonderlich besser.

Öznur warf ihm ein aufheiterndes Lächeln zu und küsste ihn. „Ich komm morgen wieder nach der Schule vorbei. Und dann bringe ich auch mal Laura mit. Sie hat mir schon vorhin eine wütende Nachricht geschickt, wie ich es wagen konnte sie nicht mitzunehmen.“

Sie küsste ihn erneut und kramte anschließend den Zettel mit dem Teleport-Zauber aus ihrer Hosentasche.

„Und mach jetzt ja keinen Rückzieher.“, wies sie Eagle an, bevor sie den Zauber sprach und in einer roten Flamme verschwand.

Geräuschvoll atmete Eagle aus. Er fühlte sich kein Stück wohl dabei. Er war nie gut in irgendwelchen Gesprächen dieser Art gewesen. Und dem zufolge, was Saya erzählt hatte, wusste er auch gar nicht, ob Carsten überhaupt reden wollte…

Als Carsten leise wimmerte beschloss Eagle, ihn zumindest von diesem Albtraum zu erlösen. Vorsichtig kniete er sich vor seinen kleinen Bruder und rüttelte ihn an der Schulter. „Carsten, wach auf.“

Carsten kniff die Augen zusammen, warf den Kopf zur Seite und schrie etwas.

Das unwohle Gefühl wurde stärker. Das schlechte Gewissen wuchs.

Eagle packte ihn an beiden Schultern. „Wach auf!“

Mit einem Keuchen schreckte Carsten hoch. Eagle spürte ihn unter seinem Griff zittern, während er sich schwer atmend umschaute, als müsste er erst realisieren wo er war. Immer noch durcheinander wischte sich Carsten mit der Hand über die Augen.

„Eagle?“, fragte er mit schwacher Stimme, die wie der Rest seines Körpers zu zittern schien, „Was…“

„Saya hat total den Aufriss gemacht, dass du verschwunden bist.“, erklärte Eagle.

Carsten senkte den Blick, erwiderte aber nichts.

Schweigend setzte sich Eagle neben ihn und wartete, bis Carsten von alleine beginnen würde zu reden. Doch er schwieg und Eagle wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger, ungeduldiger. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und begann selbst ein Gespräch. „Es sah so aus, als hattest du einen Albtraum.“

„Kann sein…“, meinte Carsten nur.

Eagle seufzte. Er wollte also nicht darüber reden. Eigentlich war das auch klar gewesen.

Erneut breitete sich Schweigen aus. Eagle hasste diese Ruhe. Er war sowieso nicht der geduldige Typ. Aber jetzt, wo das schlechte Gewissen an ihm nagte, war es noch unerträglicher. Und die richtigen Worte zu finden, um dieses grauenhafte Schweigen endlich zu brechen, schien unmöglich.

Eagle gab es auf. Er würde es nie schaffen das FESJ anzusprechen. Jetzt noch weniger, seit er wusste wie sehr Carsten immer noch darunter litt.

Er senkte den Blick. „Wie kann es eigentlich sein, dass du mich nach all dem immer noch nicht hasst?“

„Keine Ahnung…“ Fröstelnd verschränkte Carsten die Arme vor der Brust. „Du bist mein Bruder, ich kann dich einfach nicht hassen…“

Das half in keiner Weise, das schlechte Gewissen zu lindern. „… Und… unseren Vater?“

Keine Antwort. Mal wieder. Carsten war ja schon fast so wortkarg wie Benni damals.

Eagle lehnte sich gegen den Baumstamm und betrachtete den Mond. Das Licht wirkte irgendwie kalt.

Verspannt atmete er durch und versuchte, über einen anderen Weg Carsten zum Reden zu bringen. Mit einem Thema, was er selbst lieber verdrängen würde. „Du hattest vorhin irgendwas über Einladungskarten gesagt…“

„Sie sind schon fertig. Du musst dir keine Gedanken darüber machen, wenn du nicht magst.“, erwiderte Carsten.

Die Anspannung wuchs. „…Wann…“

„… Kommenden Samstag.“

Eagle wusste nicht, ob es die Kälte dieser Septembernacht war, die ihn schaudern ließ. Irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu. „Schon?“, fragte er schwach.

„Tut mir leid… Das ist der späteste mögliche Termin…“

Eagle ballte die zitternden Hände zu Fäusten. Diese Nachricht traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. „Vater hatte mir mal erzählt, dass man nicht viel Zeit hat… Aber ich dachte…“

„Entschuldige… Ich… ich wollte dir früher Bescheid sagen, aber…“

Eagle rückte etwas vom Baumstamm weg, um sich auf den Boden zu legen. Sein Herz raste und ihm war scheiß schwindelig. „Schon gut, ich wollte es ja gar nicht wissen.“ Geräuschvoll atmete er aus. „Ich hatte schon immer Angst davor gehabt, dass dieser Tag kommen würde. Ich hab den Extraunterricht früher immer gehasst deshalb. Ständig trug ich diesen Gedanken mit mir rum, dass ich den Scheiß deshalb lerne, weil Vater eines Tages sterben wird.“ Er lächelte bedrückt. „In meiner rebellischsten Phase hab ich mich dem Unterricht ganz verweigert. Keine Etikette, keine Politik, nichts. Das gab ziemlichen Stress daheim, bis sie endlich gecheckt hatten, warum ich das Ganze nicht lernen wollte. Und weißt du, was Vater daraufhin gesagt hat?“ Eagle bekam Carstens Kopfschütteln gar nicht mit. Stattdessen lachte er verbittert. „Er meinte, er hätte nie geplant, dass ich erst nach seinem Tod Häuptling werden sollte. Er wollte nicht, dass ich dasselbe erleben muss wie er damals mit seinem Vater. Er hatte vor, mich nach meinem Schulabschluss nach und nach einzuarbeiten und dann, wenn er den Eindruck hat, dass ich es auch alleine hinbekomme, zurückzutreten und mir die Krone zu überlassen. Das Arschloch meinte, er wolle der erste Häuptling sein, der vor seinem Tod das Amt niederlegt! Und was macht er?! Genau das Gegenteil! Lässt sich einfach so von jemandem umbringen!!!“, schrie Eagle. Er biss die Zähne zusammen, um nicht zu schluchzen. Kniff die Augen zu, um die Tränen zurückzuhalten.

Er spürte, wie Carsten eine Hand auf seine Schulter legte. Doch es half nicht, um sich zusammenzureißen. Erleichterte nicht den Kampf gegen die Tränen. Im Gegenteil.

„Reicht es nicht schon, dass die Stammesoberhäupter ständig spotten, ich schaffe es nicht mal den Titel des stärksten Kämpfers zu bekommen?! Dass sie sich andauernd darüber lustig machen, wie impulsiv und unkontrollierbar ich sei?! Schwärmen stattdessen, dass es noch nie einen besseren Häuptling als Chief gab?!“ Der ganze Kampf um Selbstbeherrschung brachte nichts. Eagle spürte, wie sich trotzdem Tränen aus den Augen stahlen. Frustriert schlug er auf den Boden. „Und statt irgendwie zu helfen, macht er es noch schlimmer! Dieser verdammte-“ Sein eigenes Schluchzen unterbrach ihn.

Eagle hatte keine Ahnung, wann er das letzte Mal so seinen Gefühlen unterlegen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, seit dem Tod seiner Mutter je geweint zu haben. Wann er das letzte Mal so wütend, traurig und verzweifelt gleichzeitig war.

Carsten schwieg weiterhin. Er hatte immer noch einfach nur die Hand auf Eagles Schulter gelegt. Wartete, bis sich Eagle wieder beruhigte.

Was gar nicht so einfach war, wie gehofft. Jetzt, da er wusste, dass in nicht mal mehr einer Woche sein Amtsantritt war, wurde Eagle erst so richtig bewusst, dass sein Vater nicht mehr da war. Dass er nie mehr wiederkommen würde. Dass er ihn alleine gelassen hatte. Genauso wie seine Mutter…

Wie als habe er seine Gedanken gelesen, meinte Carsten plötzlich: „Du bist nicht alleine.“

Eagle wandte den Kopf und sah, dass Carsten ihn mit einem traurigen Lächeln anschaute. Es war dasselbe Lächeln wie das von seiner Mutter, deren Fotos er sich innerhalb des letzten Tages so häufig angeschaut hatte.

Eagle wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und schaute hinauf in den bewölkten Nachthimmel. Nach einer Weile beruhigte er sich tatsächlich wieder etwas. Auch, wenn dieses beklemmende Gefühl in seinem Herzen nicht verschwinden wollte.

Schließlich schaffte er es, sich Carsten zuzuwenden. „Und du auch nicht … Also rede doch endlich mal mit jemandem über das, was dir zu schaffen macht.“

Carsten wich seinem Blick aus. Er schien immer noch nicht reden zu wollen.

Eagle richtete sich wieder auf. „Jetzt hör mal, ich hab dir hier gerade mein Herz ausgeschüttet. Jetzt erwarte ich, dass du zumindest auch mal in Tränen ausbrichst, damit ich mich wieder halbwegs männlich fühlen kann.“

Aber obwohl das erdrückende Gefühl immer noch da war, hatte Eagle tatsächlich den Eindruck eine Last wäre von seinen Schultern genommen worden. Als hätte es wirklich geholfen, sich mal bei jemandem auszusprechen. Und vielleicht hatte es auch geholfen, mal nicht der Starke sein zu müssen… Was trotzdem ein bisschen erniedrigend und peinlich war.

Aber Carsten schwieg trotzdem.

Eagle runzelte die Stirn. So langsam verstand er, warum Saya versucht hatte mit ihm zu reden. Das wirkte ja nahezu krankhaft. Allmählich fragte sich Eagle, ob es nicht besser war jemand professionelles einzustellen.

Carsten hatte wieder frierend die Arme verschränkt, als er schließlich meinte: „Du, Saya, Öznur, Laura, … Jeder fragt mich ständig, wie es mir geht. Was… wollt ihr denn von mir hören? Was soll ich euch erzählen?“

Eagle war verwirrt. „Irgendwas. Einfach alles, was dir durch den Kopf geht.“

„Das tu ich doch!“, schrie Carsten verzweifelt. „Ich kümmere mich doch schon um alles, was wir für Samstag brauchen!“

„Es geht nicht um Samstag!“, widersprach Eagle ihm und versuchte ruhig zu bleiben und vorerst zu verdrängen, was am Samstag auf ihn lauerte. „Es geht um unseren Vater! Sein Tod wird dir wohl kaum am Arsch vorbei gegangen sein, du musst doch irgendwas fühlen!“

Carsten zuckte bei Eagles Worten zusammen. Und schien seine Tränen endlich nicht mehr zurückhalten zu können.

Doch aus einem anderen Grund, als Eagle vermutete.

„…Das kann ich nicht…“, schluchzte Carsten leise.

„Wie meinst du das?“ Eagle wollte ihm eine Hand auf die Schulter legen, doch Carsten stand ruckartig auf und wich zurück.

„Damit meinte ich, dass ich das nicht kann!“ Verzweifelt schaute er Eagle an. Sein Körper zitterte, als stünde er kurz davor unter einer tonnenschweren Last zusammenzubrechen. „Jeder erwartet von mir, dass ich in Tränen ausbreche und Chiefs Tod betrauere, aber… das kann ich nicht!“

Eagle senkte den Blick. Eigentlich hätte er es sich ja schon denken können… „Du hasst ihn also wirklich…“

„Nein! Ich hasse ihn nicht!“, schrie Carsten und die Verzweiflung wuchs. „Aber… ich kann ihn auch nicht lieben, es ist… er…“ Er schien dem unsichtbaren Druck nicht mehr standhalten zu können. Carsten sackte auf die Knie und krallte die Finger in den erdigen Boden. „Er… ist mir egal…“

Eagle war endgültig verwirrt. „Was?“

„Ich empfinde nichts für ihn! Wie soll ich zu jemandem Gefühle aufbauen können, bei dem ich an einer Hand abzählen kann wie häufig er sich in meinem ganzen Leben mit mir unterhalten hat?! Ich kann mich noch nicht einmal daran erinnern, dass er mir jemals in die Augen geschaut hat!!!“

Schweren Herzens sah Eagle, wie sich Carsten schluchzend und zitternd krümmte. Und wieder konnte er nur wie gelähmt zuschauen. Wusste nicht, was er tun oder gar sagen sollte. „Aber… Es belastet dich doch!“, widersprach er seinem kleinen Bruder schließlich. Er ging zu ihm rüber und packte Carsten an den Schultern, sodass er dazu gezwungen war ihn anzuschauen. „Du brichst doch hier nicht gerade grundlos in Tränen aus!“

„Was mich belastet?! Was mich belastet ist, dass ich als sein Sohn nicht so fühlen dürfte! Dass ich um ihn trauern sollte und dass jeder auch genau das von mir erwartet! Aber ich kann es nicht!!! Sosehr ich es auch versuche, ich kann es verdammt nochmal nicht!!!“

Mit bebenden Händen klammerte er sich an Eagles Armen fest. „Ich finde Chiefs Tod ja schlimm. Aber was mich daran so fertig macht ist, dass er so furchtbare Auswirkungen auf dich hat. Dass du so darunter leiden musst! Und Saya! Aber… ich schaffe es einfach nicht, als Chiefs Sohn zu trauern…“

Betroffen hörte Eagle diese Worte und wusste nichts darauf zu erwidern. Hatte keine Ahnung, wie er Carsten diese Schuldgefühle nehmen sollte. Er hatte Recht, jeder hatte von ihm irgendeine Reaktion bezüglich ihres Vaters erwartet. Hatte gedacht, wenn er ihn nicht lieben kann, dann müsste er ihn wohl hassen.

Eagle wusste nicht, was ihn mehr traf. Dass Carsten rein gar nichts für ihren Vater empfand, oder, dass er sosehr unter diesen Schuldgefühlen litt.

Carstens schluchzte immer noch verbittert und zitterte am ganzen Körper. Vorsichtig zog Eagle ihn in eine Umarmung. Hoffte, dass diese Geste wirklich so beruhigend war wie sie normalerweise sein sollte. Er spürte, wie sich Carsten an sein T-Shirt krallte und den Tränen leise schluchzend freien Lauf ließ.

Es brauchte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich Carsten endlich wieder halbwegs beruhigen konnte. Eagle fühlte sich selbst schuldig, nicht früher erkannt zu haben, was da so in ihm vorging. Wie sehr Carsten insgeheim litt. Und noch schlimmer war, dass Eagle genauso wie jeder andere unwissend diese Schuldgefühle in ihm verstärkt hatte. Er machte sich wahrscheinlich schon selbst mehr als genug Vorwürfe, nicht so zu fühlen, wie er eigentlich sollte. Und dann kamen Eagle, Saya und alle anderen an, und verlangten regelrecht von ihm, dass er gefälligst zu trauern hatte.

Irgendwann schaffte es Eagle, Carsten dazu zu überreden wieder nach Hause zurückzukehren, bevor Saya vor Sorge noch einen Herzstillstand bekam. Welche sofort auf sie zugestürmt kam, kaum dass sich die Haustür geöffnet hatte.

Eagle beobachtete, wie Carsten immer noch niedergeschlagen den Blick abwandte und mit schwacher Stimme eine Entschuldigung murmelte. Doch Saya nahm davon überhaupt keine Notiz. Stattdessen packte sie Carsten einfach nur erleichtert und drückte ihn fest an sich. Zögernd erwiderte Carsten die Umarmung. Nach einer Weile lockerte Saya den Griff, um auch Eagle zu sich zu ziehen.

„Bleibt ja bei mir, hört ihr? Ich könnte es nicht verkraften, würde auch noch jemandem von euch etwas zustoßen…“, wies sie die Brüder mit zitternder Stimme zurecht.

Mit einem schwachen Lächeln legte Eagle einen Arm um die Schultern seiner Stiefmutter, die circa einen Kopf kleiner als er war. „Dasselbe gilt für dich. Es reicht mir schon eine Mutter verloren zu haben.“

Aus irgendeinem Grund schluchzte Saya bei seinen Worten und verstärkte ihren Griff um die beiden Brüder. „Ihr zwei… Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viel ihr mir bedeutet…“

Eagle drückte Saya fester an sich. Sonderlich überrascht war er von ihren Worten nicht. Aber trotzdem freute er sich darüber. Leise lachte er auf. „Ich glaube, du hast noch viel weniger Ahnung davon, wie sehr wir dich brauchen.“

Aus den Augenwinkeln bekam Eagle mit, wie Carsten zwar nichts darauf erwiderte, aber immer noch mit Tränen in den Augen nickte und sich zitternd an Sayas Pulli und Eagles T-Shirt krallte.
 

Jetzt, da Eagle wusste, wie er wirklich fühlte, konnte Carsten seinem großen Bruder kaum mehr in die Augen schauen.

Er hätte selbst nicht von sich gedacht, so wenig, oder eher gar nichts, für seinen Vater zu empfinden. Erst, als der Anruf von Saya kam hatte er es realisieren müssen. Sein erster Gedanke hätte eigentlich ‚Mein Vater ist gestorben‘ sein sollen. Doch er dachte direkt ‚Eagle wird jetzt schon seinen Platz einnehmen müssen‘. Er hatte sich sofort gefragt, wie es Eagle ging und wie er diesem Druck würde standhalten können. Dann dachte er an Saya, wie schrecklich es ihr nun gehen müsste. Dann kam die Sorge um Sakura dazu. Aber kein einziges Mal verspürte er auch nur einen Funken Trauer über den Tod seines Vaters. Obwohl er sein Sohn war. Obwohl er eigentlich hätte losweinen sollen!

Zitternd verschränkte Carsten die Arme vor der Brust. Er fühlte sich wie ein Monster. Ein herzloses Monster.

Plötzlich kitzelte es in seiner Nase und er musste niesen. Schniefend holte Carsten ein Taschentuch aus der Hosentasche.

Eagle seufzte und stellte eine Tasse Kaffee vor ihm ab. „Das kommt davon, wenn du nachts bei diesen Temperaturen im T-Shirt herumwanderst. Wehe du kommst jetzt auf die Idee krank zu werden.“

„Es geht schon.“, murmelte Carsten und wich erneut dem Blick seines großen Bruders aus. Wobei auch er selbst den Eindruck hatte, sich durch gestern Nacht eine leichte Erkältung eingefangen zu haben.

Inzwischen war Mittwochnachmittag, also nur noch drei Tage bis zu Eagles Amtsantritt. Die Einladungskarten hatte Carsten zwar heute Vormittag per Magie verschickt, doch ein Programm hatte er immer noch nicht auf die Beine stellen können.

Koja war zu Besuch gekommen und wies nun Eagle an, sich endlich hinzusetzen. Dieser verzog das Gesicht. „Muss das sein?“, fragte er auf Indigonisch.

„Du kennst die Tradition.“

Seufzend gab Eagle sich geschlagen und nahm auf dem Stuhl Platz.

Während Carsten den Kaffee trank beobachtete er, wie seine Großmutter auf Dryadisch sang und Eagles Haare zu einem langen Zopf flocht, welchen sie mit zwei gewobenen Bändern befestigte. Immer noch singend nahm sie ein Messer und schnitt den Zopf oberhalb des ersten Bandes ab. Während Saya Eagles wirren Haare zu einer richtigen Frisur zurechtschnitt, legte Koja den abgeschnittenen Zopf in eine mit Samt ausstaffierte Holztruhe.

Als Saya die Haarschneidemaschine rausholte, bekam Carsten plötzliches Herzrasen. Schwer atmend wandte er den Blick ab und versuchte, das summende Geräusch zu ignorieren. Er fokussierte seinen Blick auf den Kaffee, der durch seinen zitternden Griff in der Tasse hin und her schwappte.

„Crow, geht es dir nicht gut?“, erkundigte sich seine Großmutter auf Indigonisch.

„N-nein, alles in Ordnung…“, stammelte Carsten, während Koja seine Temperatur prüfte. „Wenn wir hier fertig sind gehst du sofort ins Bett und ruhst dich aus.“, meinte sie daraufhin.

„Ernsthaft, wehe du wirst krank.“, kommentierte Eagle.

Kaum war das Geräusch verklungen und der Haartrimmer aus seinem Blickfeld verschwunden stellte Carsten fest, dass es ihm sofort etwas besser ging.

So schaffte er es nun auch Eagles neue Frisur zu betrachten. Es war ungewohnt, ihn mit so kurzen Haaren zu sehen. Oben waren sie ein bisschen länger als an den Seiten, wie es Carsten bei vielen Jungs von der Coeur-Academy kannte. Eigentlich stand Eagle diese Frisur ganz gut, aber es wirkte irgendwie trotzdem falsch. So kurze Haare passten einfach nicht zu einem Indigoner.

Eagle verzog das Gesicht und fuhr sich durch den Haaransatz am Hinterkopf. „Das fühlt sich komisch an.“

„Du gewöhnst dich schon daran, keine Sorge.“ Saya strich ihm einige lose Strähnen von den Schultern. Auch sie hatte kürzere Haare, die ihr bis zum Kinn reichten.

„Ich hasse diese Tradition.“ Eagle seufzte.

Derweil hatte Koja wieder mit ihrem dryadischen Lied begonnen und flocht nun Carstens Haare zu einem Zopf. Wobei sie bei ihm nicht so lange brauchte wie bei Eagle, immerhin gingen Carstens Haare nur bis zur Mitte der Schulterblätter. Gingen. Auch diesen Zopf befestigte sie mit zwei gewobenen Bändern und schnitt ihn ab, um ihn neben Eagles und Sayas in die Truhe zu legen.

Der plötzliche Luftzug in seinem Nacken fühlte sich direkt seltsam an. Und genauso unangenehm. Verwundbar. Fast so wie damals im-

Als Saya mit der Haarschneidemaschine auf ihn zu kam wich Carsten erschrocken zurück und stieß dabei die Kaffeetasse um. Das Herzrasen war wieder da. Panik stieg in ihm auf.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Saya besorgt und wollte auf ihn zu gehen.

Carsten stolperte zurück. Stieß mit dem Rücken gegen den Küchenschrank. Das Herzrasen wurde stärker, Schwindel überfiel ihn. Er spürte die Kälte in seinem Nacken. Die Verwundbarkeit. Sah den Haarschneider in Sayas Händen. Hatte die grauen Wände vor Augen. Grau, wie in einem Gefängnis. Ohne Hoffnung. Ohne Gerechtigkeit. Nur Gewalt. Leid. Verzweiflung. Hoffnungslosigkeit.

Er hörte das Knarzen eines Stuhls und spürte, wie jemand ihn an den Armen packte. „Reiß dich zusammen!“, brüllte Eagle in sein Ohr.

Gepresst versuchte Carsten langsam und regelmäßig zu atmen. Suchte mit zitternden Händen nach etwas, wo er sich abstützen konnte.

Vorsichtig half Eagle ihm, sich auf den Boden zu setzen und wartete, bis sich Carstens Herzschlag wieder beruhigte, bis sein Keuchen zu einem normalen Atmen wurde.

„Was ist denn los mit dir?“, fragte Eagle, die Sorge in seiner Stimme war nicht zu überhören. Auch Saya kam zu ihm rüber und legte die Hand auf Carstens geschwitzte Stirn, um wie Koja die Temperatur zu überprüfen. Anschließend strich sie ihm über die Wange. „Carsten?“

„Es… es geht schon…“, brachte er mühsam hervor. „Kann ich… mir die Haare nicht einfach selbst schneiden?“

Eagle wandte sich um und betrachtete die Maschine, die Saya auf dem Tisch abgelegt hatte. „Du hast doch nicht ernsthaft wegen diesem Ding ne Panikattacke bekommen, oder?“

Zitternd kniff Carsten die Augen zusammen, nachdem auch er zum Tisch rüber geschaut hatte.

Er merkte wie Saya und Eagle einen Blick austauschten. Eine Weile herrschte Schweigen.

Schließlich setzte Eagle zögernd an: „Damals im FESJ-“

Unwillkürlich zuckte Carsten zusammen als habe man ihn geschlagen.

Sein großer Bruder stockte. „Also… hatten sie dir dort…“

„Eine HT-3S987… Fragt mich nicht, wieso ich das noch weiß…“, meinte Carsten mit bebender Stimme.

Bedrückt atmete Saya aus. „Auch noch haargenau dasselbe Modell.“

Eagles Griff um Carstens Arme verstärkte sich. „Carsten, das ist nur eine Maschine zum Haareschneiden.“

„Ich weiß! Aber… aber…“

Lautstark fluchend stand Eagle auf und ging zum Küchentisch, um den Haartrimmer zu betrachten. „Saya, so geht das nicht. Carsten muss zu ‘nem Psychiater.“

„N-nein! Ich… es geht schon! Ich komme klar!“, widersprach Carsten hastig.

„Einen Scheiß kommst du!“, brüllte Eagle. „Du bekommst Panik, wenn du eine Maschine siehst! Zuckst schon zusammen, wenn man nur den Namen dieser Anstalt nennt! Und sag mir nicht, dass dein Albtraum gestern reiner Zufall war!“

Die Wut und Verzweiflung in Eagles Stimme war nicht zu überhören und Carsten fragte sich automatisch, ob sein großer Bruder sich immer noch Vorwürfe machte es veranlasst zu haben, ihn auf diese Schule zu schicken.

„Carsten, stimmt das?“, fragte Saya besorgt.

„I-ich…“, stammelte Carsten, wusste aber nichts darauf zu erwidern. Er zitterte immer noch am ganzen Körper und der Schwindel wurde wieder stärker. „Ich will nicht zu einem… Psychiater…“

Was sollte ihm eine Therapie auch helfen? Würde er nicht dort über alles reden müssen? Über alles?!? Alles, was dort vorgefallen war?!?

„Ich will das nicht!“, schrie Carsten panisch.

Sanft nahm Saya ihn in die Arme und strich ihm über die inzwischen kürzeren Haare. „Schon gut, du musst nicht, wenn du nicht magst.“

„Aber-“, setzte Eagle an, wurde allerdings von Saya angewiesen still zu sein.

Zitternd klammerte sich Carsten an seine Stiefmutter. Was war nur los mit ihm?

Nach einer Weile ließ das Zittern endlich nach und auch der Schwindel ging zurück.

„Ich kann dir die Haare auch einfach mit einer Schere schneiden.“, schlug Saya ihm fürsorglich vor.

Carsten nickte schwach. „Aber… bitte nicht zu kurz… Nur so… wie bei dir.“

„Kein Problem.“, erwiderte Saya. Sie küsste ihn auf die Stirn und half ihm hoch, um sich wieder auf den Stuhl zu setzen.

Das Schweigen während Saya ihm die Haare schnitt war unerträglich. Nur das Geräusch der Schere füllte den Raum.

Als das auch schließlich verstummt war, wuschelte Saya ihm über den Kopf und fragte: „Ist das so in Ordnung?“

Carsten betrachtete sich im Spiegel, den seine Stiefmutter ihm hinhielt. Tatsächlich war die Frisur nur etwa genauso kurz wie Annes. Und trotzdem… Dieses erdrückende Gefühl der Verwundbarkeit hörte einfach nicht auf.

„J-ja… Das ist okay…“, meinte Carsten nur.

Schließlich schaltete sich Koja ein. „Crow, bist du dir sicher? Du weißt, was die Leute denken werden.“

Carsten senkte den Blick. Ja, bei der Länge würden sie das denken, was er auch wirklich fühlte. Dass ihm sein Vater in Wahrheit egal war.

Aber wollte er wirklich so kurze Haare wie Eagle haben? Nur, um den Schein des trauernden Sohnes aufrecht erhalten zu können?

Alleine die Vorstellung daran ließ Carsten zittern. Wieder kam die Angst. Die Verwundbarkeit. Und gleichzeitig brachen erneut Schuldgefühle über ihn herein.

„Sollen sie doch denken was sie wollen…“, erwiderte Carsten schwach.

Er merkte, wie Eagle bedrückt die Arme vor der Brust verschränkt hatte und fragte sich, ob sein großer Bruder Wort halten und das gestrige Gespräch vor dem Rest verschweigen würde. Doch ihm in die Augen schauen konnte er immer noch nicht.

Saya strich ihm über die Wange. „Hauptsache, du fühlst dich wohl damit.“

Während sie die auf dem Boden herumliegenden Haare zusammenkehrte, zauberte Koja die Kaffeeflecken von der Tischdecke. Carsten und Eagle saßen schweigend am Tisch, jeder seinen eigenen hoffnungslosen Gedanken nachgehend.

Plötzlich klingelte es an der Tür. Eagle blickte auf. „Das müssen Öznur und Laura sein. Die werden gleich den Schock ihres Lebens bekommen.“

„Ich mache auf, ich wollte ohnehin gleich wieder gehen.“ Koja nahm die Holztruhe und wuschelte Carsten noch einmal durch die kurzen Haare. „Und du legst dich gleich ins Bett, Crow. Und lass dir von deinem faulen großen Bruder einen Kräutertee machen.“

„Hey!“, äußerte Eagle empört, doch Koja kniff ihm nur schmunzelnd in die Wange.

Sie verließ das Zimmer und kurz darauf hörten sie, wie Koja in gebrochenem Damisch Laura und Öznur mitteilte, sie seien in der Küche.

Die Reaktion der Mädchen war genau wie erwartet, als sie den Raum betraten.

„Was ist denn hier passiert?!“, fragte Öznur erschrocken.

Eagle seufzte. „Sieht man das nicht?“

„Doch, sehr gut sogar.“, erwiderte Laura und ging zu Carsten, um ihn zur Begrüßung zu umarmen.

Carsten war erleichtert, dass Laura ihn nicht nach seinem Wohlergehen fragte. Tatsächlich half alleine ihre Anwesenheit, ihn wieder zu beruhigen und das Geschehnis vor wenigen Minuten wich weiter weg in die Ferne.

Laura betrachtete mit ihren großen Augen seine neue Frisur, während Öznur immer noch schockiert schien. „Ernsthaft, wieso? Und noch dazu ihr alle?!“, fragte sie entgeistert und fuhr Eagle durch den kurzen Schopf.

„In Indigo ist das eine Tradition.“, begann Saya zu erklären, „Bei einem Todesfall schneiden sich die engsten Angehörigen die Haare ab, welche dann bei der Feuerbestattung zusammen mit dem Leichnam verbrannt werden. Im Glauben der Indigoner gibt man so einen Teil von sich dem Toten mit, in der Hoffnung, so eine Verbindung zu ihm zu haben und ihn eines Tages wieder zu sehen.“

Öznur runzelte die Stirn und fuhr immer noch durch Eagles Haare, während sie inzwischen auf seinem Schoß saß. „Haben Indigoner deshalb normalerweise immer lange Haare?“

„Ja, im Prinzip schon.“, gab Saya ihr Recht.

„Bekommt man bei kurzen Haaren dann auch so Beerdigungs-Kommentare, wie wenn ich nur schwarz trage?“, vergewisserte sich Laura.

Eagle nickte. „Wobei kurze Haare hier insgesamt ein Ausdruck der Trauer sind und nichts mit irgendwelchen Stilrichtungen zu tun haben. Jeder Indigoner denkt sofort, dass du eine wichtige Person verloren hast, wenn deine Haare nicht mindestens schulterlang sind. Dass jemand aus Prinzip kurze Haare trägt gibt es zwar auch hin und wieder, aber nur sehr selten. Die meisten tragen dann eher lange Haare mit Side- oder Undercut. Das war damals ein richtiger Kulturschock, als ich gesehen habe, dass in allen anderen Regionen kurze Haare gang und gäbe sind.“

Öznur schauderte. „Das glaube ich, wenn sie bei euch eine so krasse Bedeutung haben.“

„Aber irgendwie ist das auch eine schöne Geste…“, ergänzte Laura nachdenklich.

Bedrückt senkte Carsten den Blick. Ja, die Geste an sich fand er auch schön. Aber so aufgesetzt, wie das alles bei ihm war… Erneut brach das schlechte Gewissen über ihn her.

Plötzlich kitzelte es in seiner Nase und er musste wieder niesen, was alle Aufmerksamkeit auf ihn richtete.

Eagle seufzte. „Du hast dich wirklich erkältet, oder?“

„Es geht schon…“, erwiderte Carsten und putzte sich die Nase.

Sein großer Bruder warf ihm einen warnenden Blick zu und richtete sich auf, um den Wasserkocher anzuschalten. „Nichts geht bei dir momentan. Du machst jetzt das, was Koja gesagt hat, und legst dich ins Bett.“

Laura nickte. „Besser ist das, du siehst richtig fertig aus.“

Seufzend gab Carsten sich geschlagen und ging hoch in sein Zimmer. Als er am Flurspiegel vorbeikam, hielt er kurz inne und betrachtete sein Spiegelbild. Laura hatte Recht, er sah wirklich fertig aus. Mindestens genauso fertig, wie er sich auch fühlte. Schaudernd wandte er den Blick von seinen kürzeren Haaren ab. Eine Frisur, die man von ihm erwartete. Da er ein Sohn sein sollte, der um seinen Vater trauerte. Eine Verkleidung, nichts weiter. Eine Maske, die er den anderen zuliebe aufsetzen musste.

Zitternd legte sich Carsten in sein Bett. Ohne es zu wollen schweifte er mit den Gedanken zu jenem Tag ab, als er in dem Internat ankam. Dort hatte man seine Haare nicht sanft zu einem Zopf geflochten, wie Koja es getan hatte. Dort hatte man ihn grob gepackt und so viel es ging abgeschnitten, obwohl Carsten sie weinend darum gefleht hatte aufzuhören. Und das war ihnen nicht kurz genug. Sie nahmen die Maschine und schnitten immer mehr ab. Immer mehr und mehr, bis nur noch kurze Stoppeln übrig waren und darunter blutige Kratzer von der unsanften Behandlung.

Wenn man es so sah, waren seine kurzen Haare damals auch ein Ausdruck der Trauer gewesen. Nur, dass es sich um keinen Verwandten oder guten Freund gehandelt hatte, der verstorben war. Eher hatte Carsten den Eindruck es selbst gewesen zu sein. Es war sein eigener Tod.

Zitternd drehte sich Carsten auf die Seite und versuchte, diese Erinnerungen auszublenden. Erinnerte sich stattdessen verzweifelt an das befreiende Gefühl, als er neben Herr Bôss das Eingangsportal der Coeur-Academy passiert hatte. Klammerte sich an die vielen Farben, die er nach all den Jahren endlich wiedersehen durfte. Erinnerte sich daran, zum ersten Mal Laura und Benni wieder getroffen zu haben, die sich irgendwie verändert hatten und gleichzeitig doch immer noch dieselben waren. Lauras sanfte Berührung, ihre Freude und Erleichterung, trotz des Leids, was sie damals noch hatte mit sich herumtragen müssen. Bennis fester, stützender Griff und die ruhige Stimme, die eine lange Zeit sein einziger Lichtfunken in der grauen Ödnis war.

Die Erinnerungen daran halfen Carsten, wieder zu Verstand zu kommen. Klar denken zu können. Mühsam richtete er sich auf, unterdrückte ein weiteres Niesen und setzte sich wieder an den Schreibtisch. An dem leeren Blatt von gestern hatte sich nicht viel geändert. Wobei, zumindest die indigonischen Traditionen hatte er bereits eintragen können. Die Trommler, die musikalische Untermalung für die Feuerbestattung, die Krönungszeremonie und der darauffolgende Federtanz, …

Ein Klopfen lies Carsten hochschrecken. Vorsichtig trat Laura mit einer dampfenden Tasse Tee ein und schaute Carsten empört an.

„Du bist genauso schlimm wie Benni.“, meinte sie nur und stellte den Tee neben Carsten ab.

Gedankenverloren drehte Carsten den Stift auf seinem Daumen, während er wieder die Programmliste betrachtete. Neugierig schaute Laura ihm über die Schulter. „Federtanz?“

„Einer unserer traditionellen Tänze. Beim Amtsantritt des Häuptlings wird er immer von drei jungen Frauen getanzt. Jedes Mädchen lernt ihn bereits in der Grundschule.“, erklärte Carsten.

„Das klingt nach einem schönen Tanz.“, kommentierte Laura und kicherte. „Müssen du oder Eagle auch tanzen?“

Lächelnd schüttelte Carsten den Kopf. „Ich bin für die Tätigkeiten des Stammesmagiers zuständig. Koja meinte vorhin, sie müsse als älteste Magierin Kariberas die Position der Stammesältesten übernehmen und außer mir gibt es keinen weiteren Magier.“

„Was musst du dann machen?“

Carsten hielt für einen Moment inne, der Stift rutschte ihm aus der Hand. „… Chiefs Leiche anzünden… Ohne Magie wäre der Gestank nicht zumutbar…“

Zögernd legte Laura eine Hand auf seine Schulter.

Nach einer Weile fragte sie stockend, um das Gespräch irgendwie aufrecht zu erhalten: „Und… Eagle?“

„Überwiegend rumsitzen und ehrfurchtsvoll aussehen. Wichtig ist der Eid bei der Krönung und die Antrittsrede vor dem Festmahl…“ Carsten seufzte. „Der Eid ist einfach nur die Sätze der Stammesältesten nachsprechen. Aber bei der Rede…“

Laura nickte betrübt. „Er wird sich was Gutes einfallen lassen müssen…“

„Ich glaube immer noch nicht, dass er sich darum überhaupt kümmern möchte.“ Ein weiteres Seufzen. „Wahrscheinlich sollte ich ihm sicherheitshalber etwas schreiben, was er dann einfach nur auswendig lernen muss…“

Laura verstärkte ihren Griff um seine Schulter. „Du packst das, wie alles andere bisher auch. Und dafür, dass du dich beklagst nichts für das Programm zu haben, ist das doch schon richtig viel.“

Verbissen packte Carsten den Stift. „Nein, es ist zu wenig. Viel zu wenig. Ich habe die Pflichtpunkte für die indigonischen Traditionen. Aber das ist auch alles.“

„Hä? Was fehlt denn noch?“

„Der Beitrag von den anderen Regionen.“ Verbittert atmete Carsten aus. „Die Einladungskarten dürften heute Vormittag bei den entsprechenden Persönlichkeiten angekommen sein, aber bis auf Yami und Dessert habe ich bisher noch keine Zusagen erhalten. Und selbst von den beiden kam noch kein Angebot, etwas zu dem Programm beitragen zu wollen.“ Carsten hielt das in Leder gebundene Notizbuch hoch. „Sisika schreibt hier, dass Leon Lenz damals bei Chief sofort einen Programmpunkt hinzugesteuert hat… Genauso wie viele andere Regionsvertreter.“

„Denkst du… Denkst du sie nehmen Eagle nicht ernst genug?“ Die Betroffenheit in Lauras Stimme war nicht zu überhören.

„Ich befürchte es.“ Frustriert lehnte sich Carsten im Stuhl zurück und würde den Stift am liebsten gegen die Wand feuern. „Er ist weder volljährig, noch hat er bisher einen Schulabschluss. Du hast doch selbst bei dem Krisentreffen damals gesehen, wie wenig diese Leute von uns ‚Kindern‘ halten.“

„Aber das tut jetzt doch nichts zur Sache!“, rief Laura verärgert, „Gerade, weil er noch so jung ist sollten sie ihn doch mit aller Kraft unterstützen wollen!!!“

„Wem sagst du das…“

„Das ist so unfair…“, schluchzte sie.

Bedrückt wandte sich Carsten seiner besten Freundin zu und sah, dass sich Tränen in ihren Augen gesammelt hatten. Wobei es wohl eher Wuttränen waren, ihrem Blick nach zu urteilen. Grob wischte sie sich über die Augen und atmete tief durch. „Was hat denn O-Too-Sama damals als Programmpunkt beigetragen?“

„Deine Mutter scheint irgendetwas auf der Koto gespielt zu haben.“

„Das passt zu ihr…“ Nervös zwirbelte Laura eine ihrer langen Haarsträhnen. Schließlich atmete sie erneut tief durch und schaute Carsten mit festem Blick an. „Wenn das der Fall ist, dann trag doch einfach mich ein.“

„Was?!“

Laura trat von einem Fuß auf den anderen. „Schau mich nicht so überrascht an, ich will nur irgendwie helfen…“

„N-nein, ich… Also…“ Carsten wusste nichts darauf zu erwidern. Ihr Vorschlag machte ihn so sprachlos, dass er sie einfach nur ungläubig anstarren konnte. „W-was… was möchtest du denn machen? Flöte spielen?“

Beschämt lachte sie auf. „Niemals. Darin bin ich nicht gut genug, um auch nur halbwegs irgendjemanden mit beeindrucken zu können.“

„So schlecht bist du nicht…“, widersprach Carsten, immer noch komplett aus der Bahn geworfen.

„Aber nicht gut genug.“ Kopfschüttelnd deutete sie auf den Federtanz. „Auch in Yami gibt es traditionelle Tänze und natürlich hat mich O-Too-Sama von klein auf in eine Buyō-Schule geschickt.“

Carsten erinnerte sich. „Stimmt, du hattest damals häufig Tänze mit dem Fächer geübt… Deshalb wusste Benni auch sofort, welche Waffe am besten zu dir passt.“

„… Darüber hatte ich nie nachgedacht…“

Amüsiert bemerkte er, wie sich Lauras Wangen leicht rötlich färbten. Er war froh, dass sie heute mit Öznur vorbeigekommen war. Schon alleine die für Laura typischen Reaktionen halfen, in dieser bedrückenden Situation zumindest etwas Normalität zu haben. Und jetzt unterstützte sie ihn unerwarteter Weise auch noch bei dem Programm…

Zitternd legte Carsten den Stift zur Seite.

Laura betrachtete ihn besorgt. „Ist alles in Ordnung?“

Erschrocken quietschte sie auf, als Carsten sie plötzlich in eine Umarmung zog und fest an sich drückte.

„Danke…“, brachte er mit schwacher Stimme über die Lippen.

Er spürte, wie Laura die Umarmung erwiderte. „Ich bin froh, wenn ich irgendwie helfen kann. Selbst wenn es nur sowas ist…“

„Nur sowas?“ Carsten verstärkte seinen zitternden Griff. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr das gerade hilft…“

„Ja, aber…“ Vorsichtig befreite sich Laura wieder aus der Umarmung und schaute ihn irritiert an. „Das ist doch selbstverständlich. Warum hast du nicht einfach mal gefragt, ob wir dir helfen können?“

„Es… Ich…“

Empört stemmte sie die Hände in die Hüften. „Mensch, Carsten! Ist das jetzt die Erkältung, wegen der so durch den Wind bist oder traust du uns wirklich so wenig zu?! Es gibt wohl keinen Indigoner, der bessere Kontakte in die hohen Kreise anderer Regionen hat als dich! Und noch nicht einmal das nutzt du?! Kamst du überhaupt mal auf die Idee jemanden von uns zu fragen? Mich? Anne? Florian? Vielleicht sogar Konrad oder Bennis Eltern?“

Tatsächlich musste Carsten einsehen, dass Laura Recht hatte. Und er war überrascht von sich selbst, dass er bisher noch nicht daran gedacht hatte, einfach direkt in seinem Bekanntenkreis zu fragen.

Carsten atmete aus und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Irgendwie war ihm unnatürlich warm und kalt zur selben Zeit. „Nein, du hast Recht… Ich… Ich weiß einfach nicht… was zurzeit mit mir los ist…“

Bedrückt seufzte Laura und zog ihn wieder in eine Umarmung. „Wie viel hast du letzte Nacht geschlafen?“

Carsten schaffte es nicht, zu antworten.

„Und die Nacht davor?“, hakte sie nach.

Carsten holte Luft, brachte aber wieder keine Antwort über die Lippen.

„Dachte ich’s mir doch. Darf ich raten: Den Tag über kümmerst du dich um die Planung für Eagles Amtsantritt, während du nachts noch irgendwie versuchst am Zauber weiter zu arbeiten. Genauso wie all die letzten Wochen bevor dein Vater… bevor das passiert ist. Immer arbeitest du bis spät nachts und gönnst dir keine Sekunde Pause.“

Für einen Moment verstärkte sie ihren Griff und dann ließ sie Carsten abrupt los und schnappte sich den Zettel mit dem Programm.

„Laura!“ Carsten sprang auf und wollte den Zettel wieder an sich nehmen, doch Laura wich ihm aus.

„Nichts da, du hast genug gemacht. Ich gehe damit jetzt zu Saya und wir kümmern uns um den Rest. Und du legst dich gefälligst hin und ruhst dich aus. Und zwing mich nicht, dir auch noch die Notizen für den Zauber wegnehmen zu müssen.“

Als Carsten den dickköpfigen Blick in ihren Augen sah, musste er sich eingestehen keine Chance gegen Laura zu haben. Und ebenso musste er einsehen, dass sie Recht hatte. Er hatte es übertrieben mit seinem Arbeits- und Helferdrang. Die ganzen letzten Wochen schon. Da war es eigentlich klar, dass sein Körper es ihm irgendwann heimzahlen würde.

Bedrückt lachte er auf und setzte sich auf die Bettkante. „Alles klar, du hast gewonnen. Ich versuche zumindest mich auszuruhen, bis die Erkältung überstanden ist.“

Laura atmete auf und stellte ihm die Teetasse auf den Nachttisch. „Na endlich. Es kann doch nicht sein, dass ich ausgerechnet einen angehenden Arzt darüber zurechtweisen muss, wie man mit seiner Gesundheit umzugehen hat.“

Mit einem schwachen Lächeln trank er einen Schluck von dem Tee und legte sich anschließend hin. Er schien noch erschöpfter als gedacht, denn er bekam nicht einmal mehr mit wie Laura das Zimmer verließ.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Regina_Regenbogen
2020-09-27T19:52:14+00:00 27.09.2020 21:52
Das hast du so schön geschrieben, auch wenn es nicht "schön" war. Es war einfach emotional und nachvollziehbar und überzeugend, die Gefühle von Eagle und Carsten und Carstens Panik und seine Reaktionen. Das hat mich total berührt. :'( :'( Echt toll! ♡
Und es war schön zu sehen, wie Laura - einfach indem sie Laura ist- Carsten so beruhigt. Und dass sie für ihn da ist und ihm etwas Arbeit abnimmt. Danke, Laura! Das hat sie toll gemacht.
Antwort von:  RukaHimenoshi
28.09.2020 21:01
Vielen Dank, diese nicht "schönen" Momente richtig rüber zu bringen war mir extrem wichtig. T~T Gerade die Szene mit Carsten und Eagle versteht sich, wo einfach die ganze Dramatik mit ihrem Vater ihren Höhepunkt findet.
Antwort von:  Regina_Regenbogen
28.09.2020 22:03
Du hast wirklich ein Talent dafür. Du bringst Dramatik und Emotionalität immer super rüber!
Antwort von:  RukaHimenoshi
28.09.2020 22:33
Ich Dramaqueen. X'D


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