Demon Girls & Boys von RukaHimenoshi ================================================================================ Kapitel 63: Minuten des Schweigens ---------------------------------- Minuten des Schweigens Frustriert warf Öznur einen Blick auf Janine, die den neuen Zauber direkt anwenden konnte, den Carsten den Magierinnen vor kurzem erst beigebracht hatte. Und sie selbst konnte sich noch nicht einmal den Teleport-Zauber merken. Janine war momentan dabei, gegen Carsten einen Trainingskampf auszutragen und stellte sich überraschend gut an, dafür, dass sie eigentlich so ein kleiner, süßer Engel war. Die leuchtenden Magiekugeln und -blitze die auf dem Sportplatz herumzischten und aufeinander krachten hatten schon was Beeindruckendes. Und die Elementarmagie konnte sich auch sehen lassen. „Du bist zu offensiv, achte mehr auf deine Verteidigung!“, wies Carsten Janine an und blockte ihre Luftschnitte mit einer imposanten Steinwand ab, die er, als sie in kleine Teile zersprengt wurde, auf Janine feuern ließ. Als sie Janine erreicht hatten, sahen sie schon fast wie Meteoriten aus. Gerade rechtzeitig schützte Janine sich mit einem Magieschild, doch nach wenigen Treffern zerbrach er. Die restlichen Steinmeteoriten verschwanden, bevor sie sie verletzen konnten. Erschöpft sank Janine auf die Wiese, während Carsten zu ihr rüber kam um ihr noch einige Tipps zu geben. Dafür, dass das sein dritter Trainingskampf war, war er noch viel zu fit. Zerknirscht fragte sich Öznur, ob sie, Susanne und Janine es überhaupt geschafft hatten, ihn auch nur ein bisschen ins Schwitzen zu bringen. Dass Benni mega stark war, war ja allseits bekannt. Aber erst bei den Trainingskämpfen hatten die Mädchen feststellen dürfen, was Carsten eigentlich so alles draufhatte. Auf einmal klingelte ein Telefon in seiner rot-blau karierten Tasche. „Carsten, dein Handy klingelt!“, rief Öznur zu ihm rüber. Carsten half Janine auf die Beine und gemeinsam kamen sie zu Öznur und Susanne, wo Öznur bereits das Handy aus der Tasche geholt hatte und ihm in die Hand drückte. Stirnrunzelnd hob Carsten ab. „Hallo?“ Zwar hätte Öznur durch ihr inzwischen verbessertes Gehör das Gespräch mitverfolgen können, wollte aber nicht zu sehr in die Privatsphäre anderer eindringen. Dennoch war auch für normale Ohren nicht zu überhören, dass die Person am anderen Ende der Leitung ziemlich aufgewühlt schien. Carsten behielt seinen kritischen Blick, doch auch ein Hauch Sorge huschte über seine Gesichtszüge. „Saya, beruhige dich erstmal. Was ist denn passiert?“ Erschrocken beobachtete Öznur, wie Carsten auf einmal ganz blass wurde und sich auf die Wiese setzte. „Was? Und… und was ist mit Eagle?“ Bei seiner schwachen, leicht zitternden Stimme bekam Öznur sofort Panik. War was passiert?! Schweigend hörte Carsten dem zu, was Saya zu sagen hatte und meinte schließlich: „Ja… ja, ich komme sofort.“ Sein alles andere als ruhiger Blick fiel auf Öznur. „Ja, ich bring sie mit. … In Ordnung, bis gleich.“ Noch während Carsten auflegte fragte Öznur ihn mit schriller Stimme: „Ist was passiert?!“ Er legte das Handy zur Seite und fuhr sich mit der Hand über die drei Narben auf seinem Nasenrücken. Vorsichtig legte Janine eine Hand auf seine Schulter. „…Carsten?“ „Chief ist tot…“ Öznurs Herzschlag setzte aus. Was hatte Carsten da gesagt? „Was… wie… Das kann nicht…“, stammelte sie benommen. „Wie konnte das passieren?“, fragte Susanne schwach. „…Er wurde ermordet.“, antwortete Carsten zögernd. „Ich glaube, von Jack.“ Ungläubig starrte Öznur ihn an. „Das ist unmöglich… Wie… wie kann das sein?“ Carsten zuckte mit den Schultern und kniff die Augen zusammen. „Keine Ahnung. Eagle schien Erd-Energie in der Nähe gespürt zu haben und ist dort hin. Als sich nach einer Weile niemand gemeldet hat, ist Saya selbst auf die Suche nach ihnen gegangen.“ Zitternd schlang Öznur die Arme um sich. Ihr war eiskalt. „Und… und Eagle?“ Schon alleine die Frage zu stellen machte ihr Angst. „Er war anscheinend in einen Kampf verwickelt und hat das Bewusstsein verloren. Aber ansonsten ist er unverletzt.“ Zwar war die Situation immer noch grauenhaft, doch als sie hörte, dass es zumindest Eagle halbwegs gut ging kamen Öznur vor Erleichterung die Tränen. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht hinter den Händen. Sie hörte, wie sich Carsten wieder auf die Beine mühte. „Von Sakura fehlt allerdings jede Spur… Höchst wahrscheinlich hat Mars sie entführen lassen, wie Johanna damals.“ Er seufzte. „Saya bat mich, so schnell es geht mit dir nach Indigo zu kommen.“ Öznur nickte nur und versuchte aufzustehen, hätte es ohne Carstens Hilfe allerdings nicht geschafft. Ihre Beine zitterten und waren so schwach, als wären sie weichgekochte Nudeln. Carsten hob sein Handy auf und reichte es Susanne. „Kann jemand von euch Laura abholen, sobald sie fertig ist?“ Susanne nickte lediglich und nahm das Handy entgegen. „Sollen… wir nachkommen?“ Carsten warf einen Seitenblick auf Öznur, die er immer noch stützen musste, damit sie nicht wieder sofort auf den Boden sackte. „Ich weiß nicht… Dort ist wahrscheinlich ohnehin ein ziemliches Chaos.“ „Das kann ich mir vorstellen…“, merkte Janine bedrückt an. „Dann sehen wir uns… irgendwann später.“ Zu zweit verließen sie den Campus über den westlichen Wald, wo Carsten vor ein bis zwei Stunden erst mit Laura verschwunden war. Außerhalb der Magiebarriere angekommen teleportierte er sie an den Rand Kariberas. Immer noch zitternd, wurde Öznur von Carsten durch ein Gebiet der Hauptstatt Indigos geführt, das sie bisher noch nicht kannte. Hier waren Holzhäuser anstelle der Indigonerzelte aufgebaut, an die häufig noch ein Feld oder eine Obstplantage angrenzte. Karibera war alles andere als eine typische Großstadt. Irgendwann kamen sie bei einem Feld an, auf dem sich viele Personen befanden. Zu viele Personen. Und die meisten trugen schwarze Polizeiuniformen oder waren ganz in weiß gekleidet. Umzäunt wurde das Feld von mehreren Polizeiautos und zwei Krankenwagen, die allesamt das Blaulicht angeschaltet hatten. Öznur spannte sich immer weiter an. Sie wollte da nicht hin. Sie hatte zu große Angst. Als sie den Platz schließlich doch erreicht hatten, kam ihnen ein Polizist entgegen und schien sie wegschicken zu wollen. Doch als er erkannte, dass es sich offensichtlich um Angehörige handelte, wies er auf einen der Krankenwägen und sagte einige Sätze auf Indigonisch. Carsten erwiderte irgendetwas und ging mit Öznur auf diesen Krankenwagen zu. Sie erkannte, wie Saya daneben stand und verstört Fragen zu beantworten schien. Als sie Carsten und Öznur erblickte, kam sie direkt auf die beiden zugeeilt. „Danke, dass ihr gekommen seid.“, brachte sie mit schwacher Stimme hervor und drückte Carsten an sich. Zögernd erwiderte er ihre Umarmung. Nachdem Saya sich etwas beruhigt hatte, schloss sie auch Öznur für einen Moment in die Arme. „…Was ist mit Eagle?“, erkundigte sich Öznur sofort. Zwar meinte Carsten, er habe keine schwerwiegenden Verletzungen, aber trotzdem war sie krank vor Sorge. Saya wies auf den Krankenwagen hinter sich. „Sie wollen ihn gleich ins Krankenhaus bringen. Zwar scheint er unverletzt, aber aufgewacht ist er bisher trotzdem noch nicht.“ Öznur schluckte schwer und versuchte die Tränen zurückzuhalten. ‚Noch nicht aufgewacht‘ klang kein bisschen nach unverletzt. „Und… unser Vater?“, fragte Carsten vorsichtig. Saya wies mit dem Kopf zu der Stelle, wo die meisten Polizisten standen. Vermied es aber, selbst da hin zu schauen. Carsten atmete aus und legte kurz die Hand auf die Schulter seiner Stiefmutter. „Ich komme gleich wieder.“ Überrascht beobachtete Öznur, wie er genau auf die Stelle zuging, zu der Saya gezeigt hatte. Sie schaute etwas planlos zwischen dem Krankenwagen und Carsten hin und her. Derweil band dieser seine etwas längeren schwarzen Haare zu einem Zopf und wechselte einige Worte mit einer Polizistin. Erst jetzt fiel Öznur bewusst auf, dass Carsten für gewöhnlich immer ein Haargummi am Handgelenk hatte, mit dem er sich die Haare zurückband, sobald er irgendwas arzt-mäßiges machte. Die Polizistin reichte ihm ein paar Handschuhe oder sowas in der Art und machte ihm den Weg frei. Und erst jetzt bemerkte Öznur, dass da jemand auf dem Boden lag. Sie unterdrückte einen Würgereiz und wandte sich schnell ab. Wie konnte Carsten da einfach so hingehen?! Sanft berührte Saya Öznurs Arm und wies sie an, mit ihr zum Krankenwagen zu gehen. „Carsten meinte, Sakura sei verschwunden…“, brachte Öznur mit gedrückter Stimme hervor. Saya presste die Lippen zusammen und nickte. Ihr schien der Kampf gegen die Tränen noch schwerer zu fallen als Öznur. „Chief wollte sie eigentlich von der Nachhilfe abholen…“, erklärte sie beklommen. „Und der Lehrer meinte, sie hätten zu zweit das Haus verlassen…“ Nach einigen Schritten bemerkte Öznur, dass Saya stehen geblieben war und sich mit der Hand über die Augen wischte. Wie musste es sich nur anfühlen, wenn an einem einzigen Tag der Ehemann ermordet und die Tochter entführt wurde? Und noch dazu war der eine Stiefsohn momentan nicht bei Bewusstsein… Öznur warf einen Blick auf Carsten, der immer noch bei den Polizisten stand. Er war eben gerade der einzige von Sayas Familie, dem es noch gut ging. Kein Wunder, dass sie ihn so dringend hier haben wollte… Sie suchte nach irgendeinem Weg, wie sie Saya helfen konnte. „Soll ich… Samira benachrichtigen?“ Ein schwaches Lächeln breitete sich auf Sayas Lippen aus und sie schien sich wieder ein bisschen zu fangen. „Sie ist mit Jacob schon unterwegs.“ Öznur nickte nur, war aber tatsächlich etwas erleichtert. Es war schön, wenn man sich so auf seine Freunde verlassen konnte. Ohne es zu wollen schweifte sie mit den Gedanken zu Anne ab. Zu ihrem Streit während der Prüfungsphase. Und bekam direkt ein schlechtes Gewissen. Carsten hatte damals schon Recht gehabt. Es war alles ihre Schuld. Und es war gut möglich, dass sie ihre Freundschaft damit für immer ruiniert hatte. Öznur biss sich auf die Unterlippe und kam erst auf andere Gedanken, als sie mit Saya in den hinteren Teil vom Krankenwagen stieg. Was aber nicht wirklich besser war. Vorsichtig näherte sie sich der Trage, in der Eagle lag und zu schlafen schien. Er wirkte tatsächlich unverletzt. Doch nach dem, was da anscheinend passiert war, konnte Öznur das immer noch nicht glauben. Zitternd nahm sie seine Hand und streichelte mit dem Daumen über den Handrücken. Seine Indigonerhaut wirkte nicht ganz so dunkel, wie sonst. Als sie Eagle mit der anderen Hand über die Wange strich, fielen ihr die Äderchen um seine Augen auf, die sich etwas von der Haut abzuheben schienen und leicht bläulich wirkten. Kurz darauf betrat Carsten den Krankenwagen und betrachtete seinen großen Bruder ebenfalls. „…Und?“, fragte Öznur zögernd und konnte immer noch nicht glauben, wie er es geschafft hatte sich Chiefs Leiche anzusehen ohne dabei direkt in Ohnmacht zu fallen. „Der Verletzung nach zu urteilen war es wirklich Jack…“ Bedrückt lehnte er sich gegen eine freie Stelle der Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum sollte er sowas tun?“ Öznur biss die Zähne zusammen und drückte Eagles Hand noch fester. „Das fragst du noch? Selbst, wenn das bei dir damals irgendwie ein Unfall war… Schon vergessen, dass er auch für den Tod von Bennis Opa verantwortlich ist?“ Darauf wusste Carsten wohl nichts zu erwidern. Einer der Sanitäter informierte sie, dass sie nun losfahren würden und die Tür schloss sich. Öznur setzte sich auf den naheliegendsten Klappstuhl und schnallte sich an. Eine Weile sagte niemand etwas, während der Wagen durch Karibera zum Krankenhaus fuhr. Auch die Leiterin dieses Krankenhauses selbst war wohl in ihren traurigen Gedanken versunken. Mitleidig beobachtete Öznur, wie sie sich gegen ihren Stiefsohn gelehnt und den Kopf auf seine Schulter gelegt hatte. Carsten blickte geistesabwesend in die Ferne und strich seiner Stiefmutter mit dem Daumen über den Handrücken, wie Öznur vorhin erst bei Eagle. Beim Krankenhaus angekommen wurden sie bereits von Bennis Eltern erwartet. Sofort nahm Samira ihre beste Freundin in die Arme. Nun schien Saya endgültig ihren Gefühlen zu unterlegen und krallte sich leise schluchzend an den Ärmeln von Samiras Jacke fest. Während die Sanitäter Eagle in das Krankenhaus brachten, wandte sich Jacob an Carsten und legte ihm schweigend die Hand auf die Schulter. Carsten startete ein Gespräch auf Japanisch, aber Öznur war sich ziemlich sicher, Jacks und Bennis Namen dabei heraus zu hören. Mit ruhiger Stimme erwiderte Jacob etwas, während auch sie das Krankenhaus betraten. Irritiert blinzelte Öznur. Für einen Augenblick hatte sie den Eindruck, Carsten würde mit Benni und nicht mit dessen Vater sprechen. Je länger sie nun wusste, dass Jacob und Benni Vater und Sohn waren, desto mehr Ähnlichkeiten fielen ihr auf. Nicht nur das Aussehen, auch die Gesichtszüge, Gestiken und sogar die Art zu reden war ähnlich. Und das, obwohl sich Benni nie an seinem Vater hatte orientieren können. Obwohl er ihn kaum kannte. Öznur war froh, sich zumindest etwas ablenken zu können. Aber lange funktionierte das leider nicht. Sie gingen direkt in das Zimmer, in das auch Eagle gebracht wurde. Auf dem Weg dorthin wurden sie, insbesondere Saya, von einem Haufen Beileidsbekundungen überschüttet. Erst hatte sich Öznur noch gefragt, wie aufgesetzt das alles wohl war. Aber sehr bald erkannte sie, dass diese Neuigkeit wirklich jeden schwer getroffen hatte. Verbissen rief sie sich in Erinnerung, dass Eagles und Carstens Vater immerhin Indigos Häuptling war. Die Region hatte vor kurzem im Prinzip seinen König verloren. Eine Welle an Angst überschwemmte Öznur. Hieß das, dass Eagle jetzt den Platz seines Vaters einnehmen musste? Jetzt schon?!? Obwohl er in etwa zwei Wochen überhaupt erst volljährig wurde?! Was dachten die Indigoner darüber? Würden sie jemanden, der noch nicht einmal ganz mit der Schule fertig war überhaupt akzeptieren?! Würde Eagle diesem Druck standhalten können?! Panik stieg in Öznur auf. Was würde dann aus ihnen werden? Hätte Eagle noch die Zeit für eine Freundin? Oder würde sie nur noch mitansehen können, wie er unter dem Druck zusammenbrach? Während sich Öznur auf den Rand des Bettes setzte, fragte sie sich verzweifelt, wann er endlich wieder aufwachen würde. Ihr Blick fiel auf Carsten, der schweigend neben Jacob am Fenster lehnte und hinaus in den naheliegenden Wald schaute. „Denkst du… denkst du Eagle schafft es?“, fragte sie ihn mit zitternder Stimme. Offensichtlich aus den Gedanken gerissen drehte sich Carsten zu ihr um. „Er wacht schon wieder auf, keine Angst.“, meinte er beschwichtigend. „Das-das mein ich nicht…“ Schluchzend wischte sich Öznur eine Träne von der Wange. „Denkst du, er kommt damit klar? Mit allem, was passiert ist? Und… was noch passieren wird?“ Carsten wandte den Blick ab und ballte die Hand zur Faust. Garantiert hatte er sich das schon selbst gefragt. „Er schafft das.“, meinte er schließlich. „Er muss es schaffen.“ Doch Öznur fiel auf, dass er nicht so überzeugt klang wie sonst. Dass auch er seine Zweifel hatte. „Das ist einfach zu früh…“, schluchzte sie. Die Angst wurde größer. „Eagle kann nicht jetzt schon Häuptling werden!“ „Was bleibt ihm groß für eine Wahl?“, fragte Carsten verbittert. „Habt ihr nicht Regeln für sowas?! Irgendeine Übergangsregierung! Oder irgendwas, was ihm den Einstieg erleichtern kann!“ „Nicht, dass ich wüsste. Indigos Regierung ist so ähnlich aufgebaut wie Yamis. Parallel zum Siebenerrat haben wir die Stammesoberhäupter. Und den Vorsitz bei uns übernimmt im Prinzip der Häuptling.“ „Aber das heißt, dass zumindest die Stammesoberhäupter ihn unterstützen werden, nicht wahr?“ Schluchzend nahm Öznur Eagles Hand und klammerte sich daran. Carsten warf einen Blick auf seinen großen Bruder. „Hoffen wir es…“ Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und die restlichen Mädchen von der Coeur-Academy kamen hereingestürmt. Ganz an der Spitze war Laura, die Carsten sofort um den Hals fiel. „Warum muss ich ständig irgendwie in ein Krankenhaus kommen, nachdem ich beim Schwarzen Löwen war?!“, schluchzte sie verzweifelt. Sanft strich Carsten ihr übers Haar. „Wie… wie geht’s dir?“, erkundigte sie sich vorsichtig. Er seufzte. „Keine Ahnung… Ich weiß nicht, was ich denken soll.“ Laura verstärkte ihren Griff. „…Und Eagle?“ Erneut schaute Carsten zu seinem großen Bruder rüber, senkte aber schließlich bedrückt den Blick. „Ich hoffe, du hast bessere Neuigkeiten.“ Nun war auch Öznur neugierig. Hatte sie endlich ihre Prüfung bestanden? Laura löste sich aus der Umarmung. Einen Moment lang war sie in eine schwarze Aura der Finsternis gehüllt. Als diese verschwand hatte Laura Katzenohren in derselben Farbe wie ihre Haare und unter ihrem Minirock lugte ein ebenso rötlicher Katzenschwanz hervor. Ein schwaches Lächeln breitete sich auf Carstens Lippen aus. „Ich dachte dein Dämon sei ein Löwe.“ Laura legte den Kopf schief und ihre Öhrchen zuckten. „Wie meinst du das?“ Lissi lachte auf. „Findest du nicht auch, dass Lauch einfach unglaublich knuffig ist, Cärstchen?“ Laura drehte sich zu den übrigen Mädchen um und schien leicht verärgert. „Und wie meinst du das?“ Trotz der furchtbaren Situation musste auch Öznur lachen. Während jeder andere von ihnen dank seiner Dämonenform eher eine erotische, verführerische Ausstrahlung bekommen hatte, war Laura einfach nochmal viel süßer geworden. Okay, so ganz stimmte das nicht. Sie hatte schon diese typische Aura, die jeder von ihnen besaß. Und konnte mit Sicherheit auch verführerisch sein. Aber so, wie sie gerade einfach nur verärgert die Backen aufblies und die Katzenohren anlegte, war sie einfach nur unglaublich goldig. Immer noch lächelnd streichelte Carsten Laura über den Kopf. „Immerhin hat dieser Tag zumindest ein positives Ereignis.“ Lauras Wangen färbten sich rötlich. „Hör auf, mich wie eine Katze zu behandeln.“ Belustigt fing Carsten an, sie am Kopf zu kraulen. Als ein ungewolltes Schnurren aus Lauras Kehle drang, lachten auch alle anderen Anwesenden los. Mit hochrotem Kopf verbarg Laura ihr Gesicht in Carstens T-Shirt. Schmunzelnd drückte Carsten sie an sich und legte seinen Kopf auf ihren. „Das hilft wirklich… Danke.“ Öznur beobachtete, wie sich Lauras Katzenohren und der Schwanz etwas senkten, während sie die Umarmung erwiderte. Nach einer Weile fiel Carstens Blick auf Eagle. „Laura, kannst du mit deiner Energie mal schauen, ob dir bei Eagle irgendetwas auffällt?“ „Hä?“ „Ich habe eine Vermutung, bin mir aber nicht ganz sicher. Ich will nur wissen, ob du irgendwie Energie bei ihm spüren kannst.“ „Klar wird sie Energie bei ihm spüren können. Selbst von hier aus merkt man, dass von seinem Körper die Wind-Energie ausgeht.“, meinte Anne, während Laura zu dem Bett rüber ging, in dem Eagle immer noch schlief. Wie als könnte sie sich so besser konzentrieren, schloss Laura die Augen und streckte ihre rechte Hand aus. Irritiert runzelte sie die Stirn. „Das ist komisch… Ich spüre ganz eindeutig ein bisschen Finsternis-Energie.“ Carsten nickte und schaute wieder aus dem Fenster. „Also doch.“ „Also hat Benni Eagle… außer Gefecht gesetzt?“, sprach Susanne seine Gedanken aus. Zögernd nickte er. „Eine andere Erklärung gibt es nicht. Es ist eindeutig, dass Jack für Chiefs Tod verantwortlich ist… Seht ihr diese Aderspuren um Eagles Augen? Ich vermute, er hat die Kontrolle über sich verloren, als er unseren Vater gefunden hat. Das Feld sah ziemlich verwüstet aus, beinahe so als habe dort ein Sturm getobt. Wahrscheinlich kam es zu einem Kampf zwischen ihm und Jack. Und Benni wollte die Sache so schnell und schmerzlos wie möglich beenden.“ Öznur schluckte schwer. Deswegen war Eagle also anscheinend unverletzt und trotzdem nicht bei Bewusstsein. „Wie… schmerzlos ist es?“, fragte sie besorgt. „Es kommt darauf an, wie plötzlich und wie viel Energie benutzt wird.“, erklärte Laura. „Wenn man ganz vorsichtig ist, fühlt es sich einfach nur so an, als wäre man müde und schläft ein.“ „Bei mehr Energie fühlt man sich auf einmal ganz kraftlos.“, ergänzte plötzlich Anne. „Schön ist es nicht. Aber auch nicht schmerzhaft.“ Überrascht schaute Öznur sie an, wandte aber schließlich den Blick ab. Erst vorhin hatte sie noch an ihren Streit gedacht… Und schon wieder nagte das schlechte Gewissen an ihr. Wie lange war das schon her? Über zwei Monate definitiv. Und so wirklich ausgesprochen hatten sie sich seitdem auch nicht… Anne kam zu ihnen rüber und betrachtete Eagle. „Im Prinzip wird einem doch einfach nur die Energie aus dem Körper gezogen, nicht wahr? Und nun ist Eagle nicht bei Bewusstsein, weil sie sich erst einmal regenerieren muss. Wie als Laura damals durch die Teleportationen zusammengebrochen war. Stimmt doch soweit, oder?“ Laura nickte. „Glaube schon.“ „Also wenn Benni Laura damals mit der Finsternis-Energie wieder auf die Beine bringen konnte, müsste doch nur jemand von uns etwas von seiner Energie an Eagle weiter geben. Carsten kann die Energien umwandeln. Es ist somit egal, dass niemand von uns Eagles Wind-Energie besitzt.“ „Stimmt, wie bei mir damals in Spirit. Damit dürfte Eagle sehr bald wieder aufwachen.“, gab Ariane ihr recht. Zitternd ballte Öznur die Hand zur Faust. „Wie kommst ausgerechnet du auf diese Idee?“, fragte sie Anne. Die Anspannung in Annes Stimme war nicht zu überhören. „Weil es damals meine Energie war, die Carsten an Ariane weitergeleitet hatte. Und ich genau weiß, wie es sich anfühlt, wenn die Finsternis-Energie einen außer Gefecht setzt.“ Mit einem Zischen schaute sie zu Laura rüber, die inzwischen wieder bei Carsten auf der Fensterbank saß. „Ich glaube eher Öznur meinte, wie es dazu kommt, dass ausgerechnet du einen Vorschlag bringst wie wir Eagle helfen können.“ Ariane schaute sie fragend an. „Er kann momentan wahrscheinlich jede Hilfe gebrauchen, die er kriegen kann. Zumindest will ich nicht in seiner Haut stecken müssen.“, antwortete sie schulterzuckend. Lissi gab ein anerkennendes Pfeifen von sich. „Krass Banani, so empathisch bist du selten. Besonders, wenn es um einen Jungen geht.“ Anne warf ihr einen warnenden Blick zu. „Jetzt hör mal, mir wird schon alleine bei der Vorstellung es hätte auch genauso gut meine Mutter sein können kotzübel.“ Öznur und die meisten anderen Mädchen senkten betroffen den Blick. „Wird er jetzt wirklich… Häuptling?“, fragte Janine zögernd. Carsten nickte betrübt. „Wahrscheinlich. Auch wenn ich nicht weiß, wie es jetzt weitergehen soll.“ Öznur drückte Eagles Hand gegen ihre Wange. „Erst einmal sollten wir ihm helfen, damit er wieder aufwacht… Du kannst gerne meine Energie dafür nehmen, Carsten.“ Bedrückt seufzte Laura. „Ich frage mich, ob er überhaupt aufwachen will…“ Carsten nickte deprimiert und schaute zu den Mädchen rüber. „Wäre es okay für euch, wenn ihr rausgeht? Ich habe keine Ahnung, wie Eagle reagieren wird, wenn er aufwacht. Aber ich glaube es ist besser, wenn er… nicht den Eindruck hat dauerhaft Stärke zeigen zu müssen.“ „Aber das muss er doch gar nicht!“, widersprach Laura. Carsten lächelte sie traurig an. „Natürlich nicht. Aber du weißt doch, wie verdammt stolz er ist.“ Verbissen senkte Laura den Blick und legte ihre Katzenohren an. Carsten strich ihr über eines der Öhrchen. „Ich verstehe ja, dass du richtig froh bist, endlich auch deine Dämonenform zu besitzen. Aber es ist wahrscheinlich besser, wenn du sie wieder verbirgst.“ Wieder breitete sich ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen aus. „Das Kraulbedürfnis ist einfach zu groß.“ Sofort wurden Lauras Wangen leicht rötlich und amüsiert beobachtete der Rest, wie sie mit einem schwarzen Auflodern ihre Dämonenform verbarg und schließlich wieder normal aussah. Lissi kicherte. „Ich glaube, Bennlèy wird sie in ihrer Dämonenform gar nicht mehr loslassen wollen. Er liebt Tiere und er liebt Lauch. Und jetzt hat Lauch auch noch Katzenöhrchen und schnurrt, wenn man sie kuschelt.“ Auch der Rest musste bei dieser Vorstellung schmunzeln. Außer Laura natürlich, deren Gesicht sich wieder hochrot färbte. Amüsiert legte Jacob eine Hand auf Lauras Schulter und warf Carsten einen Blick zu. „Bitte holt ihn bald da raus, das möchte ich unbedingt sehen.“ Carsten lachte auf. „Nicht nur du.“ Aber leider wurde die Stimmung sofort wieder ernst, als Jacob zur Tür ging. „Ich schaue mal, wie es Saya geht.“ Bedrückt nickten die Mädchen und folgten ihm aus dem Zimmer raus, bis nur noch Öznur und Carsten zurückblieben. Sie strich Eagle über die Wange. „Zumindest haben wir dank Laura noch einen kleinen Hoffnungsschimmer.“ Carsten nickte und setzte sich auf die andere Seite des Bettes. Fragend schaute Öznur ihn an. „Wie geht es eigentlich mit dem Zauber voran?“ „Langsamer als mir lieb ist.“, antwortete er verbissen. Traurig lachte Öznur auf. „Und wahrscheinlich bist du trotzdem viel schneller als alle anderen Magier zusammen.“ Seufzend richtete sie ihren Blick wieder auf Eagle. „Wann denkst du, würde er eigentlich aufwachen?“ „Wer weiß… Ich kann mir schon vorstellen, dass er einen Tag durchschlafen würde.“ „Wollen wir… ihm wirklich die Energie geben? Also ich meine… Weil…“, stammelte sie, „Ich will ja auch, dass er aufwacht. Unbedingt! Aber…“ „Ich verstehe, was du meinst. Aber es macht keinen Unterschied ob er jetzt oder irgendwann später er aufwacht. Die Realität bleibt dieselbe…“ Beeindruckt aber auch verwirrt und mitleidig musterte sie Carsten. Er wirkte für die gegenwärtige Situation immer noch erstaunlich beherrscht. Warum? War auch er zu ‚stolz‘, um ihnen gegenüber seine wahren Gefühle zeigen zu können? Oder versuchte er sie zu verdrängen, um vollauf für den Rest seiner Familie da zu sein? Carsten erwiderte ihren Blick und hielt ihr die linke Hand hin. Zitternd legte Öznur ihre Hand in seine, während sie mit der anderen immer noch Eagles hielt. Carsten atmete tief durch. „In Ordnung. Leite deine Energie einfach in mich.“ Öznur nickte und konzentrierte sich darauf, ihre Feuer-Energie über ihre Hand in Carstens zu schicken. Gleichzeitig beobachtete sie fasziniert, wie eine rote Aura um ihre Hände loderte. Die andere Hand hielt Carsten über Eagles Brust. Die Energie leuchtete grau und schien zu wehen, wie als hätte jemand den Wind sichtbar gemacht. Ein schwacher Sturm fuhr durch ihre Haare. Als er sich legte, verzog Eagle für einen Moment das Gesicht und Öznur fiel ein Stein vom Herzen, als er langsam die Augen öffnete. Mit schwacher Stimme sagte er irgendetwas auf Indigonisch. Carsten antwortete ihm. Wahrscheinlich war er immer noch so erschöpft und durcheinander, dass er instinktiv seine Muttersprache benutzte. Zögernd strich Öznur ihm wieder mit dem Daumen über den Handrücken, traute sich aber nicht, etwas zu sagen. Carsten schien eine Frage zu stellen, auf die Eagle mit einem schwachen Kopfschütteln reagierte. Anschließend fiel sein Blick endlich auf Öznur. „Wie geht es dir?“, fragte sie vorsichtig. Zitternd atmete Eagle aus und richtete sich im Bett auf. Mit der Hand, die Öznur nicht hielt, fuhr er sich durch die langen, etwas verstrubbelten Haare. „Ist er wirklich…“ „…Ja.“, antwortete Carsten. Eagle biss die Zähne zusammen und die Hand in Öznurs verspannte sich. Die andere ballte er zur Faust. „Und Jack?“ Öznur hatte noch nie so viel Hass und Zorn in einer Stimme hören können. Sie konnte es regelrecht spüren. Diese bodenlose, unbändige Wut. Ein kalter Wind streifte ihre Wangen. „Wahrscheinlich wieder bei Mars. Und… Sakura auch.“ „Was?!?“ Ein plötzlicher Windstoß zerrte an ihnen und warf die Blumenvase auf dem Nachttisch mit lautem Klirren zu Boden. Schützend hielt sich Öznur die Hand vors Gesicht. Mit einem Fluch versuchte Eagle aufzustehen, doch Carsten hielt ihn zurück. „Lass mich los.“, forderte Eagle seinen kleinen Bruder mit bedrohlicher Stimme auf. „Leg dich wieder hin.“, erwiderte dieser. „Als würde ich einfach so liegen bleiben können! Dieses Arschloch hat unseren Vater ermordet! Und Sakura entführt!“, brüllte Eagle und riss sich von Carsten los. „Dafür wird er bezahlen!“ „Wir hatten doch schon damals bei Johanna ausdiskutiert, dass ein übereilter Angriff reiner Selbstmord wäre.“, argumentierte Carsten ruhig. „Selbst, wenn Konrad uns noch mehr Informationen liefern könnte wissen wir immer noch nicht, wie wir überhaupt gegen einen Gottesdämon kämpfen sollen, sollten wir ihm zufällig begegnen.“ „Dann begegnen wir ihm halt einfach nicht!“, widersprach Eagle stur und richtete sich auf. War allerdings noch so geschwächt, dass er direkt wieder aufs Bett sackte. Schweren Herzens beobachtete Öznur, wie er sich erneut durch die Haare strich. Durch die Erschöpfung schien auch der Zorn wie weggeblasen und Eagle wirkte einfach nur noch müde und verzweifelt. Vorsichtig rückte sie etwas näher an ihn und zog ihn in eine sanfte Umarmung. Eine Zeit lang schien er noch gegen diese trostspendende Geste anzukämpfen. Doch irgendwann gab er nach und lehnte seinen Kopf gegen Öznurs Schulter. Schweigen breitete sich im Raum aus. Eagle sagte nichts und machte nichts, sondern lehnte einfach nur an Öznur. Als schien er immer noch nicht ganz realisiert zu haben, was da passiert war. Als würde noch irgendetwas in ihm gegen diese Wahrheit ankämpfen. Auch am Tag darauf war die Stimmung bedrückt und kaum jemand sagte ein Wort. Etwas widerwillig waren die meisten Mädchen zur Coeur-Academy zurückgekehrt, da sie ohnehin nichts würden ausrichten können. Nur Öznur war in Indigo geblieben und hatte bei Eagle übernachtet. Obwohl er das Krankenhaus noch am selben Tag hatte verlassen können, wirkte er extrem neben der Spur. Häufig hörte er ihnen nicht zu und wenn er sich doch irgendwie am Gespräch beteiligen wollte, vergaß er kurz darauf schon, was die anderen gesagt hatten. Öznur konnte nichts anderes machen als ihm einfach Gesellschaft zu leisten. Auf keinen Fall wollte sie ihn jetzt alleine lassen müssen. Auch Carsten war bei seiner Familie geblieben, was Saya besonders half. Er schaffte es irgendwie, der ruhige Pol zu sein, bei dem man sich einfach geborgen fühlte. Und gleichzeitig schien er auch das ganze Organisatorische zu übernehmen. Schon am ersten Tag nach Chiefs Tod quellte der Briefkasten über von Kondolenzbriefen. Und das war ein Sonntag. Die Medien berichteten nur noch davon. Am Samstagabend wollten sie einfach nur gemeinsam einen Film im Fernsehen schauen, aber nichts lief. Es wurde nur noch von dem grauenhaften Mord am Häuptling gesprochen. Zum Glück hatte Carsten den Fernseher ausgeschaltet, bevor Eagle auf die Idee gekommen war, ihn mit seiner Wind-Energie kurz und klein zu schneiden. An sich schwankten Eagles Stimmungen eigentlich nur zwischen besorgniserregend ruhig und beängstigend aggressiv. Das erste Opfer war sein Computer gewesen, als er sich mit Zocken ablenken wollte und selbst im Onlinespiel nur noch darüber geredet wurde. Aber zumindest ließ er seinen Frust nur an Gegenständen aus. Als Carsten ihn mal indirekt zu einem Trainingskampf herausgefordert hatte, damit er endlich mal wirklich Aggressionen abbauen konnte, hatte Eagle einfach nur mit dem Kopf geschüttelt und fiel kurz darauf wieder in eine schweigsame Phase. Bedrückt starrte Öznur auf ihre Tasse mit dem dampfenden Kaffee. Es war Nachmittag und sie war mit Saya alleine zuhause. Carsten war zu seiner Oma gegangen, da diese wohl am ehesten eine Ahnung hatte, wie es jetzt weitergehen sollte. Eagle war am Trainieren, in der Hoffnung, dadurch etwas Ablenkung zu bekommen. Und Öznur und Saya saßen schweigend am Tisch und tranken Kaffee. Eagles und Carstens Stiefmutter seufzte bedrückt. „Carsten ist ein Engel. Ich würde das alles gar nicht schaffen, erst recht nicht alleine.“ „Das ist einfach unglaublich… Wie kann er jetzt noch die Nerven behalten und sich um so etwas kümmern wie… eine Beerdigung. Oder… eine Krönung…“ Zitternd verstärkte Öznur ihren Griff um die Kaffeetasse. Den Gedanken, dass Eagle nun Häuptling werden müsste verdrängten sie alle so gut es ging. Der Betroffene selbst am meisten. Er hatte kein einziges Mal bisher gefragt, wie so eine Zeremonie ablief und was er dafür tun musste. Zumindest hatte er solche Fragen nie ausgesprochen. Was er dachte wusste Öznur nicht. Sie wusste momentan gar nichts. Nur, dass das alles furchtbar war. Und dass sie Angst hatte. Angst um Eagle. Aber auch Angst um Carsten. „Er ist zu ruhig.“, äußerte Öznur ihre Sorgen verbissen. „Du denkst es also auch…“ Bedrückt rührte Saya mit dem Löffel in ihrer Tasse herum. Öznur nickte. „Natürlich reißt er sich mit aller Kraft zusammen, um so gut es geht helfen zu können. Aber…“ „Es wirkt so, als würde er alles in sich hineinfressen.“ Verzweifelt schaute Öznur Carstens Stiefmutter an. „Kannst du da nichts machen?“ Saya senkte den Blick. „Was sollte ich schon ausrichten können? Carstens Bezugsperson ist schon immer Benni gewesen. Und danach Laura.“ Verbissen ballte Öznur die Hand zur Faust. Sie erinnerte sich daran, dass Carsten häufiger Benni als großen Bruder oder Laura als kleine Schwester bezeichnet hatte. Im Prinzip die Geschwister, die er eigentlich durch Eagle und Sakura hätte haben sollen. „Ja, aber… Du bist doch seine Mutter! Vielleicht nicht vom Blut her, aber…“ „Ich weiß nicht, ob er das auch so sieht.“ „Wieso sollte er das nicht so sehen?“, fragte Öznur schockiert. „Eagle und Carsten nennen mich beide konsequent nur bei meinem Vornamen. Und zumindest bei Eagle weiß ich, dass er Chief immer mit dem indigonischen Wort für Vater angesprochen hat.“ „Na und? Man kann auch jemanden als seine Mutter betrachten, wenn man sie nur bei seinem Vornamen nennt! Benni hat Samira und Jacob auch immer nur beim Namen genannt und ich habe selbst miterlebt, wie er sie mal als seine Eltern bezeichnet hat. Und das, obwohl er sie kaum kennt.“, widersprach Öznur betroffen. Saya seufzte. „Bei Benni ist das etwas Anderes. Sie sind schließlich wirklich seine Eltern und mussten unter besonderen Bedingungen voneinander getrennt werden.“ „Aber du betrachtest Carsten und Eagle doch auch als deine Kinder, obwohl ihr nicht blutsverwandt seid. Oder?“ „Natürlich.“ Öznur zuckte mit den Schultern. „Also warum sollte es bei ihnen anders sein? Gerade Carsten ist jemand, der Leute zu seiner Familie zählt, obwohl er nicht mit ihnen verwandt ist. Und Eagle und Sakura scheinen auch ein richtiges Bruder-Schwester-Verhältnis zu haben, obwohl sie ‚nur‘ Halbgeschwister sind.“ Als Sakuras Name fiel kniff Saya verzweifelt die Augen zusammen. Öznur senkte den Blick und hoffte, dass es ihr genauso gut ging wie Johanna und Johannes. Sie fragte sich, ob Carsten mit seiner Schwarzmagie schon nach ihr geschaut hatte. Eigentlich wäre das so mit eines der ersten Dinge gewesen, die Öznur gemacht hätte, wäre jemand ihrer Schwestern entführt worden. …Wenn sie Schwarzmagie beherrschen und sich den Zauber merken könnte. Aber so übertrieben Ritual- und auswendiglern-lastig wie das alles schien würde sie ohnehin nie Schwarzmagie lernen können. Nach einer Weile meinte Saya schließlich: „Du weißt, wie schwer es unsere Familie häufig hatte…“ Zögernd nickte Öznur. „Aber trotzdem… Gerade du warst doch diejenige, die diese Familie irgendwie zusammengehalten hat. Du hast Carsten damals sogar das Leben gerettet, indem du ihn an Sisikas Stelle ausgetragen hast! Du wurdest die Mutter, die Carsten und Eagle ansonsten nicht hätten! Und die ihnen eine kleine Schwester gegeben hat!“ Traurig lächelte Saya. „Das sind schöne Worte… So habe ich nie darüber nachgedacht.“ „Was dachtest du denn?“, fragte Öznur irritiert und trank einen Schluck von dem Kaffee, der inzwischen etwas zu kalt für ihren Geschmack war. „Es ist schwierig zu beschreiben… Man könnte sagen, ich habe mich immer wie ein Eindringling in dieser Familie gefühlt. Ein Ersatz für Sisika, der seiner Aufgabe nie gerecht werden könnte. Chief und ich haben versucht, nach Sisikas Tod wieder eine normale Familie aufzubauen. Eine Zeit lang ging auch alles gut. Es war den Umständen entsprechend harmonisch, und wir mochten uns auch sehr. Sakura wurde geboren…“ Traurig lächelte Saya. „Chief hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Sie war von Anfang an sein kleiner Engel. Aber… Er konnte Sisikas Tod einfach nicht verkraften. Musste eine lange Zeit gegen Depressionen kämpfen. Und mehr als eine gute Freundschaft konnte sich zwischen uns auch nie entwickeln.“ Öznur schluckte schwer und musste gegen die Tränen ankämpfen. „… Bereust du es?“ Saya schüttelte den Kopf. Zwar immer noch unsagbar traurig, aber auch überzeugt. „Kein bisschen. Ich war ohnehin nie die Romantikerin, die auf die Liebe ihres Lebens gewartet hat. Ich wollte schon immer den Leuten helfen und das konnte ich auch. Ich konnte meinen Berufswunsch verwirklichen und habe einer meiner besten Freundinnen in der schwersten Zeit ihres Lebens noch Hoffnung geben können. Konnte dafür sorgen, dass sie… mit reinem Gewissen diese Welt verlassen konnte.“ Öznur wischte sich eine Träne aus den Augen. „Aber… Das ist doch richtig schön! Wie kannst du da noch Zweifel haben?!“ „Es… fiel mir schwer, mich als Teil dieser Familie sehen zu können. Wie gesagt, Chief und ich waren nach allem immer noch nur gute Freunde. Und Eagle und Carsten… Na ja, ich habe ja schon gesagt, dass ich nicht weiß, ob sie mich als ihre Mutter betrachten. Deswegen habe ich mich bei Chiefs Entscheidungen auch nie einmischen können. Ich hatte nicht den Eindruck… das Recht dazu zu haben.“ „…Deshalb hast du nichts gemacht, als Chief Carsten auf das FESJ geschickt hat?“ Saya nickte betrübt. „Ich habe schon auf ihn eingeredet und ihm deutlich meine Meinung dazu gesagt. Aber Chief verharrte auf seiner Entscheidung.“ Sie strich sich durch die braunen Haare. „Ich habe bis heute nicht verstanden, warum er ihn nicht einfach zu Eufelia geschickt hat. Warum es ausgerechnet das FESJ sein musste.“ Öznurs Kehle schnürte sich zu. „Denkst du… er hasste Carsten so sehr?“ „Nein. Er hat ihn genauso wie seine anderen Kinder geliebt. Nur die Erinnerung an Sisika brach ihm immer wieder das Herz, wenn er Carsten angeschaut hat. Aber deshalb verstehe ich auch nicht, was er damit bezwecken wollte. Und… jetzt werden wir es auch nie mehr von ihm erfahren können…“ Zitternd verschränkte Öznur die Arme vor der Brust. Ja, sie würden es nie mehr von ihm erfahren können. Weil er tot war… Ermordet… „Glaubst du… Carsten weiß, dass sein Vater ihn geliebt hat?“, fragte sie nach einer Weile. „Ich weiß es nicht… Aber irgendwie kann ich mir das schwer vorstellen.“ Bedrückt seufzte Saya. „Vielleicht hilft ihm das Wissen, um damit fertig zu werden.“, überlegte Öznur. „Vielleicht weiß er gerade gar nicht, was er fühlen soll. Weil er denkt, dass sein Vater ihn schon immer gehasst hat.“ Saya nickte nachdenklich. „Vielleicht…“ Ihr Gespräch setzte sich noch eine ganze Weile fort. Saya erzählte von Chief, Sisika, Kindergeschichten über Eagle, Carsten und Sakura, einfach alles Mögliche. Einfach, um irgendwie zu sprechen und das verkraften zu können. Irgendwann wurde die Haustür aufgerissen und dem energischen Stampfen nach zu urteilen war Eagle zurückgekommen. „Scheiße, warum können mich die Leute nicht einfach mal in Ruhe lassen?!“, donnerte er wütend, als er in die Küche kam. „Egal wo, immer kommt jemand auf einen zu und will reden! Ich kann dieses ganze „Mein Beileid“ und „Das muss furchtbar sein“ nicht mehr hören!“ Ein Windstoß fuhr durch Öznurs und Sayas Haare und das Geschirr klapperte. Öznur schluckte schwer und rief sich in Erinnerung, dass Eagle sie nie verletzen würde. Auch, wenn er momentan häufig kurz davor war, die Kontrolle über seine Energie zu verlieren. Sie stand vom Küchentisch auf und ging zu ihm rüber. Sanft nahm sie sein Gesicht zwischen die Hände. „Nimm es ihnen nicht übel, sie wollen nur helfen.“ „Das hilft kein bisschen.“ Eagle wandte verärgert den Blick ab und wollte sich aus Öznurs Griff befreien, ließ es dann aber doch bleiben. Vorsichtig küsste Öznur ihn auf den Mund. „Dann trainiere doch einfach hier in der Nähe des Hauses. Die Indigoner und Journalisten scheinen ja zumindest genug Anstand zu besitzen, euch etwas Privatsphäre zu lassen.“ Eagle atmete geräuschvoll aus und setzte sich auf einen freien Stuhl. „Willst du einen Kaffee?“, bot Saya ihm an. „Was Stärkeres wär mir lieber.“ Saya ging zur Kaffeemaschine, stellte eine Tasse drunter und schaltete sie an. Überrascht beobachtete Öznur, wie sie anschließend zum Schnapsregal ging und tatsächlich ein kleines bisschen aus einer Flasche in den schwarzen Kaffee schüttete. „Sowas?“ Sie stellte die Tasse vor Eagle auf den Tisch und wuschelte ihm sanft durchs Haar. Beeindruckt bemerkte Öznur, wie Eagle sich daraufhin tatsächlich etwas beruhigte. „Ich dachte, du wärst Ärztin.“, meinte er nur. „Gerade deshalb.“, erwiderte Saya und zwang sich zu einem aufheiternden Lächeln. Tatsächlich brachte ihr Kommentar ein schwaches Lachen über Eagles Lippen. Es tat weh, ihn so sehen zu müssen. Dieser ständige Kampf gegen die Gefühle. Und immer noch schien er diese ganze Situation nicht wahrhaben zu wollen. Schweren Herzens stellte sich Öznur hinter Eagle und legte ihm die Arme um die breiten Schultern. Wieder schien er sich erst gegen diese Geste wehren zu wollen. Und wieder gab er schließlich doch nach, lehnte den Kopf zurück, gegen Öznur, und schloss die Augen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)