Die Antinomie des Lügners von genek ================================================================================ Kapitel 1: Die Antinomie des Lügners ------------------------------------ Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu geben, dass Aufzüge als solche Orte des Geschehens merkwürdiger Begegnungen und Gespräche sein müssen. In einem zu engen Raum in dem mehrere Menschen rein zweckgebunden zusammen gepfercht wurden, scheint eigentlich alles andere als eine angespannte, etwas unbehagliche Atmosphäre ziemlich unmöglich, wenn man einmal darüber nachdenkt. Tatsächlich gab es sicher in Literatur und Film unzählige Beispiele für folgenschwere Fahrstuhlbegegnungen, sei es das klischeehafte Fast-Liebespaar, das plötzlich ungehemmt übereinander herfällt oder das klischeehafte tief-innen-drin-immer-noch-verliebt Ex-Ehepaar, das plötzlich ungehemmt übereinander herfällt oder das klischeehafte Kollegen-Konkurrenten-Gespann, das plötzlich ungehemmt übereinander herfällt, wenn auch in einem etwas anderen Sinne. Ja, es gab sicher eine ganze Menge Beispiele für solch missliche Lagen. Aber Yuri Petrov war schwer davon überzeugt, dass seine momentane Situation mindestens ebenso absurd war. Dabei hatte alles so völlig harmlos begonnen, als er vor einigen Minuten den Aufzug betreten hatte, um vom Gerichtssaal im zweiten Stock zu seinem Büro im siebten zu gelangen. Fünf Etagen, vielleicht neun Meter, die zu überwinden waren, für ihn eine völlig alltägliche Art der Transportation. Nur, dass an diesem Tag alle Vorzeichen wohl auf Katastrophe standen, denn der Fahrstuhl blieb auf dieser lächerlich kurzen Strecke plötzlich stehen, das Licht ging aus, dann wieder an und eine freundliche Stimme aus dem Notrufsprechanlagenlautsprecher informierte ihn, dass es zu einem kompletten Stromausfall in diesem Teil der Stadt gekommen war und er sich keine Sorgen zu machen brauche, das Problem würde umgehend behoben. Nun war Yuri von Natur aus nicht leicht in Panik zu versetzen und schon gar nicht durch solche Lappalien; Geduld war einer seiner besten Tugenden. Nein, das Problem war vielmehr, dass sich im letzten Moment noch ein Passagier im zweiten Stock dazu gesellt hatte und nun ebenso mit ihm festsaß. „Ich habe wirklich kein Glück mit Aufzügen“, stellte Barnaby Brooks Jr. in diesem Augenblick trocken fest. „Pardon?“, fragte Yuri, mehr der Höflichkeit halber als aus wirklichem Interesse. Sein Gegenüber lächelte fast schon nostalgisch als es antwortete: „Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich das zweifelhafte Vergnügen einen Sprengsatz an einem Aufzugkabel entfernen zu dürfen. Sie erinnern sich sicher, der Anschlag auf-“ „Ich erinnere mich“, fiel Yuri ihm ins Wort und lächelte schief. „Und ich kann wohl von Glück sagen, dass ich somit in bester Gesellschaft in dieser Situation bin. Einer der Vorteile, wenn man für das Justizbüro arbeitet ist schließlich, dass man so gute Kontakte zu euch Heroes pflegt.“ Brooks schien einen Augenblick lang irritiert, ehe er mit einem amüsierten Schnauben antwortete. „Oh, in der Tat, um Ihre Sicherheit brauchen Sie sich absolut keine Sorgen machen, Richter Petrov.“ „Es ist sehr beruhigend, das zu wissen, Herr Brooks.“ Da Yuri weder unter Klaust- noch Akrophobie litt – letzteres wäre in Anbetracht der Tatsache, dass er in der Lage war zu fliegen auch irgendwie komplett widersinnig – war er selbstverständlich alles andere als beunruhigt. Stromausfälle waren in den oberen Arealen Sternbilds zwar nicht allzu häufig, aber es war bei weitem Nichts völlig ungewohntes oder verstörendes. Der Grund für seine gesteigerte Reizbarkeit war vielmehr, dass er sinnlos Zeit verlor, die er sinnvoller anderweitig nutzen könnte. Es wartete noch eine ganze Menge Arbeit auf ihn, so wohl offizielle Aufgaben des Justizbüros als auch Recherchen im Rahmen seines privaten Engagements zur Säuberung der Stadt, wenn man es freundlich formulieren wollte. Allerdings war Brooks offenkundig der Ansicht, dieser Moment wäre der ideale Zeitpunkt für ein längeres Gespräch. „Darf ich Sie etwas fragen?“ „Nur zu.“ „Sie boten einst an, dass ich mich jederzeit an Sie wenden könnte, wenn – nun, wenn sich ein Problem ergibt“, begann Brooks, gewohnt höflich und offenkundig seine Worte sorgsam wählend. Yuri wandte sich seinem Gesprächspartner nun das erste Mal seit Beginn dieser etwas unerwartet verlaufenen Fahrstuhlfahrt wirklich zu und musterte ihn eingehend. Die Art und Weise mit Brooks sein Anliegen vorbrachte, überraschte ihn. Barnaby Brooks Jr. war bekannt und geachtet als jemand, der sich perfekt an jegliche Etikette und Regeln hielt und den Leuten bisweilen mit seiner fast schon zwanghaften Höflichkeit und Distanziertheit etwas auf die Nerven ging. Yuri hatte ihn als den Typ Mann eingeschätzt, der selbst bei einer solchen Gefälligkeitsbitte im Voraus einen Termin über seine Sekretärin vereinbarte und sich von seinen Kassenzetteln doppelte Durchschläge anfertigen ließ. Ihm dämmerte, dass ihr Zusammentreffen nicht so ganz zufällig zu Stande gekommen sein könnte und musste unwillkürlich lächeln. „Das habe ich in der Tat. Sofern es in meiner Macht steht, werde ich Ihnen gerne behilflich sein.“ Brooks schien einen Moment zu zögern, ehe er fortfuhr. „Es geht um Lunatics Überfall auf den Gefängnistransport von Albert Maverick.“ Die auf diese Bemerkung folgende vollkommene Stille wurde erneut von der freundlichen Frauenstimme aus dem Lautsprecher unterbrochen, die ankündigte, dass das Problem sofort behoben sein würde und sich erneut für die Unannehmlichkeiten entschuldigte, aber Yuri nahm es kaum wahr. Für einen winzig kleinen Moment nur überkam ihn das Gefühl absoluter Sicherheit, dass Brooks ihn durchschaut hatte mit einer Intensität, die sein Herz für einen Schlag aussetzen ließ. Natürlich war dieser Gedanke lächerlich, er hatte stets sorgsam darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen, und sollte Brooks etwas herausgefunden haben, das ihn belastete, wäre es mehr als nur unvorsichtig und nahezu suizidal, ihn auf diese Weise dermaßen beiläufig damit zu konfrontieren. Und dennoch vermeinte er mit einem Mal, Brooks Blick stechender auf sich zu fühlen, als würde sein Gegenüber jede seiner Reaktionen genauestens beobachten. „Wie Sie sicher wissen, Herr Brooks, handelt es sich um eine nicht abgeschlossene Ermittlung. Die Daten, die mir persönlich bezüglich dieses Vorfalls bekannt sich, dürfte ich also nicht an sie weiter geben, selbst, wenn ich wollte“, erklärte Yuri ruhig und freundlich. „Natürlich“, Brooks lächelte glatt und machte eine vage Handbewegung. „Verzeihung, natürlich sind Sie rechtlich verpflichtet, nichts über noch offene Fälle zu an Unbefugte weiterzutragen.“ Einen Moment lang herrschte unangenehme Stille, in der Yuri überlegte, ob er es riskieren sollte, nachzubohren. Schließlich siegte bei ihm die Neugier und er fragte: „Aber wenn Sie mir die Frage gestatten, was interessiert Sie denn insbesondere an diesem Vorfall?“ Brooks wirkte kurz irritiert und das sonst dauerpräsente leicht überhebliche Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Aus seiner Stimme troff deutlich erkennbar mühsam unterdrückte Bitterkeit, als er antwortete. „Sie wissen über Maverick Bescheid, Richter Petrov. Er hat sich auf unendlich feige Art und Weise jeglicher Befragung bezüglich Uroboros entzogen.“ Yuri nickte und fragte sich, wie es wohl unter der höflichen Fassade des jungen Mannes brodeln musste. Wenn man plötzlich erfuhr, dass der eigene Ziehvater für den Tod der Eltern verantwortlich war und einen zu allem Überfluss auch noch Zeit seines Lebens gehirngewaschen hatte, was wiederum all die Werte, für die man bislang gelebt hatte, hinterfragte - das war sicherlich nicht die Sorte Trauma, die man in recht kurzer Zeit überwinden konnte. Hätte er ein halbwegs normales Empathieempfinden gehabt, hätte er mit großer Wahrscheinlichkeit Mitleid für den jungen Hero empfunden, da war sich Yuri sicher. So blieb es bei einem rein technischen Interesse. „Nach dem Löschen seiner Erinnerungen war Mavericks Gehirn schwer geschädigt“, erklärte er so lediglich völlig sachlich und sah Brooks bei der Bemerkung zusammenzucken. „Auch mit den besten medizinischen Methoden hätte man ihm keinerlei Informationen bezüglich dieser ominösen Uroboros-Gruppierung mehr-“ Brooks fiel ihm harsch ins Wort. „Vielleicht heute noch nicht, aber was, wenn es morgen möglich wäre? Maverick war die einzige Verbindung zu Uroboros, die es noch gab“, hier räusperte er sich und fuhr sehr leise fort: „Ich weiß nicht, ob Sie das nachvollziehen können, welche Bedeutung es für mich hatte und hat, alles über den Tod meiner Eltern herauszufinden.“ „Nun doch, ich denke, das kann ich“, erwiderte Yuri trocken, doch Brooks überhörte offensichtlich seinen Zynismus. „Allerdings wird Sie das ewige Nachdenken über was-wäre-wenn-Situationen nicht weiterführen.“ In diesem Moment ging ein Rucken durch den Fahrstuhl, ehe er sich mit einem leisen Surren erneut in Bewegung setzte. Yuri blickte zur Anzeige über der Tür; die Leuchtanzeige sprang von drei auf vier. „Sie nehmen es sehr gelassen hin, dass ein Selbstjustiz ausübender NEXT mit seiner verqueren Auffassung von Gerechtigkeit Ihre potentiellen Zeugen eliminiert.“ Yuri wandte sich erneut Brooks zu, dessen Gesichtsausdruck nun völlig undurchschaubar war und wägte seine Antwort wohlweislich ab. „Ich wollte damit nicht ausdrücken, dass ich die Taten dieser Person gutheiße. Wenn diese Person schließlich vor Gericht endet, was bei so fähigen Heroes ja nur eine Frage der Zeit ist“, das freundliche Lächeln stand im starken Kontrast zum zart durchscheinenden Sarkasmus, „dann wird sie für all das gerade stehen müssen, was sie getan hat, einschließlich des Mordes an Albert Maverick. Allerdings ist es sinnlos, über das zu diskutieren, was schon geschehen ist. Sie sollten Ihre Energien auf das Jetzt fokussieren, Herr Brooks.“ „Das ist eine sehr pragmatische Einstellung.“ „Oha? Das klingt ja beinahe so, als hätten Sie Zweifel betreffend meinem Engagement für meinen Beruf.“ In diesem Moment kündigte ein leises Klingeln an, dass der siebte Stock erreicht war, die Stahltüren glitten nacheinander auf und gaben den Blick auf den dahinterliegenden hell erleuchteten Gang frei. „Nun, wie dem auch sei, ich fürchte, wir müssen unsere Unterhaltung hier beenden, wenn Sie-“ Yuri wandte sich mit einem freundlichen Nicken zum Gehen und hatte schon mit einem Fuß die Schwelle überschritten, als Brooks doch noch antwortete. „Nein, Sie haben Recht.“ Brooks lehnte mit verschränkten Armen an der Wand der Fahrstuhlkabine und musterte ihn. „Ich war nicht untätig was die Recherche des Falls angeht. Lunatic ist uns stets einen Schritt voraus, so scheint er bestens über den Ablauf des Gefangenentransports informiert gewesen zu sein. Ich denke, dass ich auch als Laie in polizeilichen Ermittlungen durchaus den Schluss ziehen kann, dass dieser Umstand darauf hindeutet, dass Lunatic in irgendeiner Weise den Behörden zugehörig ist oder sich anderweitig Zugang zu internen Daten verschaffen kann.“ Die Türen des Aufzugs begannen sich zu schließen und zogen sich sofort wieder zurück, denn Yuri stand immer noch auf der Schwelle und hatte sich keinen Millimeter gerührt. Er hatte still Brooks Schlussfolgerungen gelauscht und konnte nicht umhin, ihm dafür gewisse Anerkennung zu zugestehen. Ihm war bewusst gewesen, dass von allen Heroes am ehesten Brooks ein Problem für ihn werden könnte, und nun bewies sich, dass dieser Verdacht korrekt gewesen war. Gleichzeitig überlegte ein Teil von ihm, ob es ihm wohl gelingen würde, sein Gegenüber außer Gefecht zu setzen, bevor dieser zur Verteidigung übergehen oder jemand auf dem Flur auftauchen und die Lage beobachten konnte. Die Chancen dafür standen allerdings ziemlich schlecht, wie sich Yuri eingestehen musste, und zudem würden sich ein Ausbruch blauer Flammen und ein toter Hero im Justizgebäude nur sehr schwer vertuschen lassen. Die Türen unternahmen einen erneuten Anlauf, sich zu schließen, und Yuri stand noch immer untätig da, und wusste nicht, wie er auf die plötzliche Konfrontation reagieren sollte. Mittlerweile war er sich absolut sicher, dass Brooks ihn absichtlich in dieser Situation abgepasst hatte. Er räusperte sich und versuchte, möglichst ruhig zu klingen, als er antwortete. „Das ist eine plausible Schlussfolgerung, Herr Brooks. Nur, wenn Sie bereits so viel im Alleingang herausgefunden haben, was wollten Sie dann von mir?“ Brooks schenkte ihm ein merkwürdiges Lächeln. „Sie warnen, Richter Petrov. Ich weiß nicht, ob Sie sich bewusst waren, in welcher Lage Sie sich befinden.“ Yuri erwiderte das Lächeln. „Wie ungeheuer aufmerksam von Ihnen. Wie ich sehe, hat Sie Ihr Partner mit seinem überbordenden Beschützerinstinkt angesteckt, Herr Brooks. Aber seien Sie versichert, dass ich sehr vorsichtig bin, was meine Arbeit angeht.“ „Oh, davon bin ich überzeugt.“ Einen Moment lang sahen sich die beiden an, und jeder versuchte die unbewegte Miene des anderen zu deuten. Yuri fragte sich, wie viel Brooks tatsächlich ahnte, oder ob er sich nur einbildete, dass Brooks ihn unterschwellig bedroht hatte und dass er tatsächlich nur im Trüben fischte, ohne wirklich zu wissen, wer im personenreichen Justizbüro in irgendwelche dunklen Machenschaften verstrickt war. Was auch immer der Fall sein sollte, Yuri war sich sicher, dass Brooks bewusst versuchte, ihn aufs Glatteis zu führen mit seiner Warnung, doch den Gefallen, sich in diesen sorgsam gespannten Fallstricken zu verheddern, würde er ihm nicht tun. „Wie dem auch sei, ich danke Ihnen für Ihre Warnung und verspreche Ihnen, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, die Angelegenheit Lunatic in den Griff zu bekommen“, entgegnete er schließlich und trat endgültig in den Gang hinaus. Die Metalltüren begannen erneut, sich – diesmal erfolgreich – zu schließen, und er konnte Brooks durch die schmalere werdende Öffnung immer noch lächeln sehen. „Davon bin ich überzeugt. Ich werde auch in Zukunft ein Auge auf Sie haben, um Ihre Sicherheit zu gewährleisten, Richter Petrov. Ich bin sicher, bis bald.“ Bevor Yuri irgendetwas antworten konnte, waren die Türen zugefallen und er hörte, wie sich der Fahrstuhl erneut in Bewegung setzte. Einen Moment lang starrte er noch auf das kalt glänzende Metall und fragte sich, wo eigentlich genau der Unterschied zwischen einer Drohung und einem Versprechen war, und wer von ihnen beiden gerade eben eigentlich was geäußert hatte. Dann wandte er sich ab und ging den Gang hinunter in sein Büro. Er hatte noch viel zu tun, denn es galt nun mehr denn je, umsichtiger zu planen. Und was die Sache mit Brooks anging, so war er sich sicher, würde noch einiges auf ihn zukommen. ---Finis--- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)