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Meeresflüstern

Die Hungerspiele der Annie Cresta
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo liebe Lesende!
Es freut mich, dass ihr hierher gefunden habt und meine Fanfiktion gerne lesen würdet - zumindest hoffe ich das.
Ein paar Worte vorweg jedoch noch:

Die ersten zwölf Kapitel wurden hinsichtlich der Rechtschreibung und Grammatik vollständig neubearbeitet. Die originale Geschichte von 2012 bleibt unverändert, nur einige Kapitel werden aufgrund ihrer Länge von 8.000 Worten oder mehr in zwei separate Kapitel aufgetrennt. Weitere Kapitel werden nach und nach überarbeitet und hochgeladen. Das Ende der aktuellen Überarbeitung ist jeweils markiert. Beim Weiterlesen über diese Grenze hinaus können sich somit Ungereimtheiten und ein signifikant schlechterer Schreibstil bemerkbar machen ;) [Stand: 10/21]

Dieses Projekt ist eine echte Herzensangelegenheit von mir und ich freue mich über jeden der "meiner" Annie eine Chance gibt. Ich hoffe ihr habt Spaß beim Lesen und fühlt euch gut unterhalten :)

So long,
Coronet Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Liebste Leser - wer hätte das noch einmal gedacht? Ja, es gibt mich tatsächlich noch und ja, diese Geschichte habe ich tatsächlich noch nicht aufgegeben! Nach all der Zeit habe ich die Energie und den Mut gefunden ein weiteres Kapitel, welches jahrelang unfertig auf meinem PC gelegen hat, fertig zu stellen. Es ist nicht so lang wie manch ein vergangenes Kapitel, aber ich hoffe es wird euch denselben Spaß bringen wie all die vergangenen Kapitel dieser Geschichte. Ebenso hoffe ich, dass ihr die ewige Pause verzeihen könnt. Was mir dazwischen gekommen ist? Sagen wir es mal so: Das Leben. Es ist einfach zu viel passiert in der Vergangenheit, aber jetzt bin ich zurück und Meeresflüstern ebenso!
In diesem Sinne wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen,

eure Coronet Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Was lange währt wird endlich gut? Nach einigen Jahren habe ich heute also dieses Dokument also endlich einmal wieder geöffnet und plötzlich war es einfach alles da. Auch wenn es vielleicht niemanden mehr interessiert, will ich es doch wenigstens lieber später als nie noch beenden, das haben Annie und Finnick einfach verdient.
Vielen Dank an alle die bis hier mitgelesen haben, eure lieben Kommentare waren in manch dunkler Stunde das helle Licht der Hoffnung! Komplett anzeigen

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Ein seichtes Flüstern

Sanft rauschend brechen sich die Wellen am Strand. Sie bringen den Geruch von Tang und das Gefühl von Salz auf den Lippen mit sich. Zu dieser Jahreszeit ist das Wasser noch recht warm, auch wenn die erste Brise vom nahenden Winter verkündet.

Entspannt fühle ich, wie die Brandung meine Füße umspielt, während diese langsam in den feinen Sand einsinken. Ein frischer Wind fährt mir durch die Haare. Wenn ich die Augen schließe, dann erscheint es mir fast, als wäre die Welt friedlich. Gleichmäßig atmend lasse ich alle dunklen Gedanken in meiner Vorstellung fortfliegen, hoch hinauf über das Meer, hinter die zerstörten Befestigungsanlagen am Horizont, die uns einst gefangen hielten, hinein in die Abendsonne. Zurück bleibt nur eine umfassende Leichtigkeit.

Viel zu lange habe ich nicht mehr hier gestanden und dem Meer gelauscht. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit fühle ich mich wieder wie ich selbst. Die unendliche Weite des Ozeans vor mir nährt meine Kraft, anders als die engen Gänge unter der Oberfläche von Distrikt dreizehn.

Flüsternd weckt das Meer alte Erinnerungen in mir wach, an Tage, die ich längst vergessen glaubte. An Menschen, die ich verloren habe. Es ist wie ein guter Freund, der einen nach einem anstrengenden Tag willkommen heißt und in seine Arme schließt.

Ein wehmütiges Lächeln stiehlt sich mir aufs Gesicht, als ich mich an den Tag vor so vielen Jahren erinnere, an dem alles seinen Anfang nahm. Wäre es nicht passiert, dann würde ich heute nicht hier stehen. Dennoch wiegt mein Herz schwer mit den Erlebnissen, die mich hierher geführt haben. Und trotzdem würde ich es wieder tun, jedes Opfer erneut bringen. Er hat auch fest daran geglaubt, bis zuletzt.

Bei dem Gedanken an ihn seufze ich. Es erscheint wie gestern, dass er sein Leben für die Hoffnung gegeben hat. Aber solange das Flüstern des Meeres meine Sinne erfüllt, fühle ich seine Liebe. Eine einsame Träne läuft mir über die Wange und in einem unaufhaltsamen Strudel überwältigen die Erinnerungen mich.

 

***

Es ist tief in der Nacht, als die ruhende Bevölkerung des vierten Distrikts von Panem aus dem wohlverdienten Schlaf gerissen wird. Eine durchdringende Sirene schallt ohne Vorwarnung durch die späte Stunde. Jedem ist klar, was dies bedeutet. Dieser Alarm erklingt nur dann, wenn ihr letzter Tribut in den unsäglichen Hungerspielen zu fallen droht, oder – und das ist der schönere Gedanke – sobald ein Tribut im Finale ist und der Sieg zum Greifen nah erscheint.

Die Hungerspiele, das sind alljährliche wiederkehrende, an Grausamkeit schwerlich zu übertreffende Wettkämpfe, die einst von der Regierung des Landes ausgerufen wurden. Zur Strafe für das Volk, denn die Mutigsten eines jeden Distrikts hatten sich zusammengeschlossen und eine Rebellion gegen die ferne Hauptstadt hinter den Bergen, das sogenannte Kapitol, angeführt.

Die Distrikte – dreizehn an der Zahl – verrichteten alle Arbeit in dem von Naturkatastrophen zerrütteten Land. Sie bestellten die Äcker, schneiderten die Kleidung und fertigten unzählige Geräte. All dies wurde in die Hauptstadt geschickt, welche sich seit jeher in ihrem eigenen Glanz sonnte und sich erhaben über die arme Bevölkerung in den dreizehn äußeren Bezirken wähnte.

Erzürnt von dieser Ungerechtigkeit entbrannte ein fürchterlicher Krieg zwischen Arm und Reich; Leidtragenden und Unterdrückern. Aber das Glück war nicht mit den Widerstandskämpfern und sie fielen dem Kapitol zum Opfer. Der dreizehnte Distrikt wurde vernichtet und als Mahnmal für alle Rebellen in Trümmern zurückgelassen. Erneut wurden die übrigen Distrikte unter der Macht der Hauptstadt begraben, härter und strenger als beim letzten Mal.

Der Preis der Rebellion – das sind die Hungerspiele. Dreiundzwanzig Kinder zahlen ihn jedes Jahr mit ihrem Leben, indem sie sich zur Unterhaltung des Kapitols in einer Arena bis auf den Tod bekämpfen. Das Vierundzwanzigste hingegen erwartet das schlimmste Schicksal. Das eines Siegers.

Die Geschichte, die ich euch erzähle, beginnt mit dem Finale der 65. Hungerspiele in Distrikt vier, dem Ort von Meer und Fisch. Dessen Bewohner sind es, die des Nachts von lautem Alarm aufgeschreckt werden, um sich vor den Fernsehern einzufinden und das große Finale anzusehen. Niemand kann sich dieser Pflicht erwehren, bis auf jene, die an der Schwelle des Todes stehen.

Vom jüngsten Spross bis zum ältesten Greis versammeln sich alle. Den gesamten Tag über sehen sie mit an, wie ihr tapferster Tribut – nicht einmal ganz ein Mann – sich mit einem Dreizack gegen eine viel größere Gegnerin wehrt. Bis zum Nachmittag zieht sich dieser Überlebenskampf, doch am Ende unterliegt das feindliche Mädchen.

Erleichterung, Jubel und Frohsinn machen sich im gesamten Distrikt breit und eilig schafft man alles für ein ausgelassenes Fest herbei. Egal wie betrübend die Spiele jedes Jahr sind, wenn erst einmal der Sieg feststeht, dann gibt es für einen Moment bloß unbändige Freude.

Soweit die gesundheitliche Verfassung es erlaubt, wird der Tribut schnellstmöglich in seinen Heimatdistrikt gebracht und mit ihm eine Auswahl der erlesensten Waren aus dem Kapitol.

Für die kommende Zeit, so viel ist klar, wird es allen gut ergehen. Die nächsten Spiele liegen in weiter Ferne ...

 

***

Lachen erfüllt die engen Gassen im Herzen von Distrikt vier. Aufgestaute Wärme hat die Gesichter gerötet und der Wein, der heute, aber nur heute, reichlich fließt, tut sein Übriges. Zwischen den dicht stehenden Häusern gespannte Lichterketten und bunte Kerzen auf den Tischen schaffen eine Oase des Lichts im Dunkel der Nacht. Heute Abend gilt nicht einmal mehr die Ausgangssperre, ein Ereignis, das niemand freiwillig verschmäht.

Der offizielle Teil der Feierlichkeiten ist längst vorbei. Der siegreiche Tribut, ein athletischer Vierzehnjähriger mit sonnengebräunter Haut und bronzenem Haar, ist bereits auf dem Podest vor dem Rathaus präsentiert worden. Eine Rede wurde gehalten, ein heroischer Zusammenschnitt seiner Highlights aus den Spielen gezeigt. Doch jetzt liegt die reich geschmückte Bühne verlassen da, Tribut und Mentoren haben sich in der Menge verloren.

Die Erwachsenen sitzen dennoch ausgelassen beisammen, während Kinder und Jugendliche in Gruppen durch die Gegend stromern und vergnügt Streiche spielen, Essen stibitzen oder anderweitig diesen besonderen Tag genießen. Er lässt sie all das sonstige Leid vergessen, was sie bis hierhin erfahren haben. Für einen glückseligen Moment scheinen die Hungerspiele nur ein böser Traum zu sein, obwohl sie doch gerade erst geendet haben.

»Annie, Annie, komm!«

Aufgeregt läuft ein Junge von vierzehn Jahren durch die Gassen, flink Haken um die Tische schlagend. Er dreht sich immer wieder um, denn ihm folgt ein schmales Mädchen, dessen dunkle Haare wild hinter ihr her wehen. Sie rennt, so schnell sie kann.

»Warte auf mich!«

Für einen Moment hält er inne, wartet, bis sie zu ihm aufholt, und ergreift dann ihre Hand. Er zieht sie mit sich, ungeduldig an ihrem Arm zerrend.

»Warum hast du es denn so eilig?«

»Die anderen behaupten, der Sieger ist unten beim Strand! Ich will ihn mir unbedingt mal aus der Nähe ansehen! Der jüngste Gewinner aller Zeiten, kannst du dir das vorstellen? So alt wie ich!« Sein ungläubiges Schnauben wird von den Häuserwänden ringsum zurückgeworfen und er läuft wieder los.

Immer weiter führt der Weg die beiden durch das Gewirr aus Gassen, fort von dem Fest. Es ist ein Geheimnis von Distrikt vier, dass jeder Weg, gleich wo er seinen Anfang hat, sein Ende stets am Meer findet.

Von einem sanften Hügel aus, auf dem das Rathaus liegt, erstreckt sich die große Kernstadt bis zum Ozean, wo an einem breiten Betonpier gut vertäut unzählige Fischerboote liegen. Auf der anderen Seite, an den Hängen der Anhöhe, erheben sich düster die Fabriken, in denen Fisch filetiert, portioniert und tiefgefroren abgepackt wird. Jetzt bei Nacht ruhen die Fließbänder.

Etwas weiter ab vom schmutzigen Hafenbecken gibt es allerdings immer noch Streifen naturbelassenen Strandes, in dessen Nähe bloß die Holzhütten der Ärmsten stehen. Windschiefe Schindeln, die hastig zusammen geschustert sind, verhängt mit Tüchern und Plastikplanen. Einige von ihnen nutzen illegale Netze, um wenigstens ein paar kleinere Fische für die Familie zu fangen. Doch selbst hier ruhen die Menschen heute Abend und lassen sich das große Fest auf dem Hügel nicht entgehen. Für viele ist es die einzige Möglichkeit, sich einmal so richtig satt zu essen.

Je mehr sich die beiden Kinder dem Meer nähern, desto stärker werden der Geschmack des Salzes und die Geräusche der Brandung. Allmählich verdunkelt der Weg sich und als sie schließlich keuchend aus der letzten Gasse gerannt kommen, umgibt sie nur noch die blau-schwarze Nacht. Der Strand liegt in tiefster Dunkelheit da, nur in der Ferne schimmern Lichter.

Fasziniert legt das Mädchen ihren Kopf in den Nacken und erblickt die Vielzahl an leuchtenden Sternen. Mit großen Augen späht sie hinauf zu dem entfernten Funkeln. »Wow«, ist alles, was sie flüstert, »ich vergesse immer, wie schön es hier bei Nacht ist.«

Neckisch lacht der Junge an ihrer Seite. »Siehst du, allein dafür hat es sich gelohnt. Mach dir nicht immer so viele Sorgen um die blöden Friedenswächter, heute sind sie alle betrunken beim Fest. Los komm, weiter!«

Gemeinsam laufen sie den Strand hinunter, wo sich bereits eine größere Gruppe von Kindern und Jugendlichen versammelt hat. Einige der Mutigeren unter ihnen haben eine Fackel von dem Fest entwendet, welche nun in den weichen Sand gerammt weiter brennt, ein winziger Fleck Licht in der pechschwarzen Nacht. Aufgeregt tuscheln sie durcheinander.

»Ich habe ihn weglaufen sehen, irgendwo hier war er, wenn ich es euch doch sage!«

»Glaubt ihr, er ist gefährlich?«

»Ich würde so gerne die Geschichten aus der Arena hören!«

Doch weit und breit ist niemand außer ihnen zu sehen. Unentschlossen, was nun zu tun ist, lassen sie sich in einem Kreis um die Fackel nieder. Ein großes Mädchen beginnt, die Heldengeschichte des siegreichen Tributs der diesjährigen Hungerspiele nachzuerzählen. Sie ist reichlich ausgeschmückt und vor allem deutlich heldenhafter, als sie sich in Wahrheit zugetragen hat.

Natürlich hat keines dieser Kinder eigene Erfahrungen mit den Spielen, sodass niemand um die traurige Wirklichkeit weiß. Stattdessen werden die zahllosen brutalen wie auch blutigen Tode der dreiundzwanzig anderen Tribute eher kurz erwähnt.

Schon alleine bei der Vorstellung läuft es den meisten von ihnen insgeheim kalt den Rücken herab, vor allem dem Mädchen mit ihrem Freund. Man kann den Kindern keinen Vorwurf machen, denn sie sind noch so jung und viele wurden von den Eltern davor bewahrt, die Tode direkt anzusehen. Für sie überschattet der vermeintliche Ruhm des Sieges in diesem Moment alles.

Sie verspüren eine ferne Angst vor den Spielen, doch mit dem Fest in vollem Gang, kann sich kaum einer der Vorstellung erwehren, wie es wäre, genau so als Sieger geehrt zu werden. Immerhin gibt es in ihrem Distrikt eine Akademie für all jene, die für die Spiele trainieren wollen. Alle siegreichen Tribute haben sich dort vorbereitet – und sind zu Legenden aufgestiegen.

Genau wie der jüngste Gewinner, der sich freiwillig gemeldet und schlussendlich überlebt hat. In ihrer naiven Sicht funktioniert es. Wenn man einmal gewonnen hat, dann darf man sorgenfrei oben im Dorf der Sieger leben, wo es einem an nichts mangelt – so glauben sie. Doch mit dem Alter wird sich ihre Perspektive ändern.

Das braunhaarige Mädchen hegt keinen dieser Träume. Lieber will sie weiter ihrem Vater bei der Fischerei helfen. Gerne einmal wünscht sie sich, das große Kapitol zu sehen, denn das muss wirklich beeindruckend sein. Doch am schönsten findet sie es hier in ihrem Distrikt, am Meer, wenn das Wetter gut ist und alles im Sonnenschein erstrahlt.

Schon bald hat sie keine Lust mehr, den Geschichten der anderen zuzuhören. Der Junge, mit dem sie hierher gekommen ist, scheint hingegen tief in das Gespräch versunken zu sein und beteiligt sich mit den wildesten Spekulationen über die Geschehnisse in der Arena.

Im schwachen Licht der weit herunter gebrannten Fackel bemerkt niemand, wie sich das Mädchen in die Schatten zurückzieht. Sie läuft die Bucht hinab, die Füße im Wasser. Es ist eigentlich nicht erlaubt, hierherzukommen, doch heute Nacht ist kein Friedenswächter auf Patrouille. Am Strand ist das Meer viel schöner als am Hafen, findet sie. So rein und friedlich. Es ist ein Anblick, den sie sich in ihrem Herz aufbewahren will, für schlechtere Tage.

Im Mondlicht glitzern Steine auf dem Sand. Einer spontanen Eingebung folgend, hebt sie einen davon auf, um ihn über die Wellen hüpfen zu lassen. Vor langer, langer Zeit hat sie einmal ihrer Mutter dabei zugesehen, als sie noch näher am Strand wohnten, bevor sie ein eigenes Fischerboot hatten.

Eine Weile lässt sie gedankenverloren die Kiesel springen, ehe sie mutiger wird. Ein paar Schritte geht sie tiefer ins Wasser und beobachtet, wie es durch ihre Hände gleitet.

Die Friedlichkeit des Moments umgibt sie, die Angst vor den weiß gewandten Soldaten des Kapitols vergessen. Wenn sie die Augen schließt, hört es sich an, als wolle das Meer ihr etwas zuflüstern. Sie vergisst die Zeit, während sie dasteht und auf die Wellen lauscht.

Erst ein verräterisches Plätschern zu ihrer Seite schreckt sie aus ihren Wachträumen. Angsterfüllt versucht sie, einen Schritt zurückzuweichen, in der Erwartung, einen Friedenswächter auf sich zu stapfen zu sehen, sodass sie in dem weichen Schlamm zu ihren Füßen ausrutscht und in das seichte Wasser plumpst. Doch es ist nur ein Junge, kaum älter als sie, der aus dem Meer auftaucht.

Unbeweglich schauen sie den jeweils anderen für einen Moment an, ehe er verschwörerisch einen Finger an seine Lippen legt. Mit großen Augen beobachtet sie, wie er aus dem Wasser kommt, komplett in feinste Kleider gehüllt.

Sie erkennt ihn, ohne ihn zu kennen. Er ist schließlich überall im Fernsehen – der Sieger der 65. Hungerspiele. Hastig wendet sie ihre Augen ab. Unbeabsichtigt hat sie ihn gefunden und mit einem Mal schämt sie sich, hierher gekommen zu sein.

»Ich ... - ich wollte dich nicht stören«, fängt sie zögernd an, aber er unterbricht sie mit einem leisen Lachen, das sie an das Glucksen der Wellen am Rumpf eines Bootes erinnert. Ein so sanftes Geräusch hat sie von einem Jungen, der andere mit einem Dreizack durchbohrt hat, nicht erwartet.

»Das Gleiche wollte ich auch gerade sagen«, meint er amüsiert. »Du siehst beschäftigt aus.«

Zum Glück sieht er in der Dunkelheit nicht, wie rot sie wird. Was hat sie sich nur dabei gedacht, alleine ans Wasser zu verschwinden? Das hat sie nun davon!

»Ach, ich hab doch nur…«, sie gestikuliert etwas hilflos in Richtung des dunklen Strandes, »weg von den anderen gewollt.«

»Hm«, brummt der Junge zustimmend und lässt sich unerwartet neben ihr in der Brandung nieder, wo sie hingefallen ist. »Und ich erst. Dort oben lassen sie einen ja nie in Ruhe.«

Für einen Moment herrscht Schweigen, in dem das Mädchen überlegt, ob sie zeigen soll, dass sie weiß wer er ist, oder ob sie es lieber ignorieren sollte.

Bevor sie eine Entscheidung getroffen hat, spricht der Junge schon weiter. »Außerdem war es eine gute Idee, dieses beschissene Ding, diese Krone, loszuwerden.«

Ob der sichtlichen Frustration in seiner Stimme schaut sie ihn zaghaft von der Seite an. Es ist schwer, die Gefühle auf dem Gesicht des Jungen zu deuten. Er sieht jedenfalls nicht nach Freude aus. Sie findet keine passenden Worte für diese Situation, also nickt sie bloß.

»Sollen doch die Fische sie fressen«, setzt er leise hinzu.

Sie wagt nicht, ihn anzusehen. Seine Stimme zittert so, wie die von ihrem Vater, an dem Tag, da ihre Mutter starb. Damals fielen stumme Tränen seine Wangen herab, wenn er dachte, dass sie wegsah, und sie ahnt, dass es bei dem Jungen ganz ähnlich ist.

Einer der Steine, die sie vorher hat hüpfen lassen, liegt zu ihren Füßen und sie hebt ihn auf. Angenehm glatt schmiegt er sich in ihre Hand. Nervös dreht sie den von den Wellen geschliffenen Kiesel in den Fingern, unsicher, ob sie etwas sagen sollte.

Auf jeden Fall wird sie ihn nicht nach seinen Hungerspielen fragen. Ihr Mitleid will er vermutlich ebenso wenig. Trübsinnig wirft sie den Stein von sich. Je länger das Schweigen andauert, desto mehr wünscht sie sich, sie wäre dem Sieger nie begegnet. Leicht segelt ihr Kiesel über die Wellen, bevor er platschend versinkt.

Das Geräusch lässt den Jungen an ihrer Seite heftig zusammen schrecken, als würde die Sturmflutsirene plötzlich losgehen. Aber er fängt sich schnell wieder und strafft seine Schultern. Stumm hebt er einen anderen Stein auf und wirft ihn ihrem hinterher. Er hüpft nicht so weit wie ihrer.

Lächelnd reicht sie ihm einen zweiten Kiesel. »Neuer Versuch, neues Glück.«

Ungläubig sieht er sie an, doch dann erwiderte er ihr Lächeln.

 

***

Dieses Mädchen, das bin ich. Annie Cresta. Nicht weit in der Zukunft, werde ich ihm, dem strahlenden und doch so traurigen Sieger, wieder begegnen. Wenn mein Leben sich für immer verändert – unser Leben. Hätten wir nur geahnt, was das Schicksal bereit hält ...

Hand in Hand

Der Geschmack von Salz liegt in der Luft am heutigen Tage, dem lang gefürchteten Tag der Ernte. Eine feuchte Wärme durchdringt alles und erwärmt den Distrikt wie einen Topf kurz vor dem Überkochen.

Unter der prallen Sonne glänzen die roten Häuserdächer der Kernstadt einem zweiten Meer gleich. In einer zarten Brise flattern die Wäscheleinen zwischen den Häusern in der Luft und die bunten Kleidungsstücke malen lustige Bilder vor dem Blau des Himmels.

Dieser Tag könnte bestimmt wunderbar werden – wenn da nicht die Ernte wäre. Aber das ist ein dunkler Gedanke, dem ich nicht nachgebe. Zumindest noch nicht. Ich wage es sogar, mir vorzustellen, dass ich diesen Tag und die damit verbundene Auswahl der Tribute unbeschadet überstehen werde.

David, mein Freund, hat es letztes Jahr geschafft, da werde ich das auch. Es ist nur noch diese eine Ernte, die mich von der ‚Freiheit‘ trennt. Wie stehen schon die Chancen, auserwählt zu werden? Ich habe nur einen Tesserastein beansprucht, der mir ein zusätzliches Los eingebracht hat, deshalb ist mein Name bloß acht Mal in der Lostrommel. Manch eine Vierzehnjährige hat mehr Lose als ich. Und selbst wenn es einen trifft – in unserem Distrikt gibt es immer wieder freiwillige Tribute. Dieser Gedanke beruhigt mich endgültig.

Mit dieser Gewissheit sitze ich recht entspannt auf einem alten Pflock, dessen Holz morsch von dem vielen Meerwasser ist, das einst gegen ihn geschwappt ist. Heute fließt hier allerdings kein Wasser mehr, sondern eine Salzwiese erstreckt sich über einige Meter Länge und Breite. Kraut und kleine, weiße Blümchen wachsen darauf, eine Besonderheit unseres Distriktes.

Geschickt winde ich mit meinen Fingern eine Schlaufe in den Stiel einer dieser Salzblumen und ziehe sie fest. Ein weiteres Glied in dem Blumenkranz, den ich flechte, ist fertig.

Andere winden Knoten in dicke Taue oder knüpfen Netze, ich mache das Gleiche mit Blumen. Für die üblichen Freizeitbeschäftigungen in Distrikt vier konnte ich mich noch nie begeistern. Ich helfe meinem Vater natürlich nach der Schule auf unserem Boot, aber in der Freizeit muss ich nicht mehr Netze reparieren als ohnehin schon.

Und nicht nur das. Das Meiste, was meine Altersgenossen trainieren, gefällt mir nicht. Sie gehen in die Trainingsakademie, in der sie nicht nur lernen, die Kunst der Knoten für Fallen zu gebrauchen, sondern sich auch im Werfen von Speeren, Schießen von Pfeilen und dem Ringen ausbilden lassen. Kurzum, sie üben das Waffenhandwerk für die Arena, in der Hoffnung, in die Hungerspiele einzuziehen und dort Ruhm zu erlangen.

Mit Blumenkränzen werde ich es wohl nie zu Ehre oder Geld bringen, aber es erscheint mir sicherer, als mein Leben leichtsinnig aufs Spiel zu setzen. Ich bin zufrieden damit, eine Fischerin zu sein, schließlich habe ich von einem der Besten gelernt – meinem Vater.

Außerdem steht schon länger fest, dass ich nach dieser Ernte heiraten werde. Für keinen Preis der Welt würde ich das in Gefahr bringen. Niemals könnte ich David alleine lassen, ihm meinen Verlust zumuten. Es reicht, jedes Jahr die Eltern derer zu sehen, die ihre Kinder in den Hungerspielen verloren haben.

Ich habe keine Illusionen mehr. Die Spiele sind hart, blutig und grausam. Doch diesen ungünstigen Gedanken schiebe ich jetzt beiseite, denn David kommt über die Salzwiese auf mich zu.

Er trägt seine beste Hose, zusammen mit einem schneeweißen, neuen Hemd. Das muss er sich extra für den feierlichen Anlass gekauft haben. Von weitem strahlt mir bereits sein Lächeln entgegen und steckt mich an. Freudig lasse ich die Hände mit dem unvollständigen Kranz sinken.

Endlich bei mir angekommen legt er seine Arme um meine Taille. »Guten Morgen Sonnenschein«, sagt er vergnügt.

Ich kichere etwas verlegen und antworte: »Alter Schmeichler.«

Nach einem zarten Kuss auf die Wange ergreift er meine Hände und für einen Augenblick sehen wir uns fest in die Augen. Seine sind, typisch für Distrikt vier, von tiefem Blau mit einigen kleinen Sprenkeln in einer undefinierbaren Farbe. Ich kenne diesen Anblick in- und auswendig, so oft habe ich seit unserer gemeinsamen Kindheit in sie geschaut, aber der Blick aus diesen Augen beruhigt meine wirbelnden Gedanken stets. So wie jetzt.

Mit einem schwungvollen Ruck zieht er mich auf die Füße und der unfertige Kranz rutscht zu Boden, doch wir registrieren das kaum. Stattdessen mustert er anerkennend das neue rote Kleid, welches in der Sommerbrise angenehm um meine Beine weht.

Es ist kein kräftiges Rot, sondern ein dunkleres, das dennoch frisch wirkt, wie die überreifen Erdbeeren, die ich am liebsten esse. Die Wahl ist ungewöhnlich für mich, da ich sonst eher ein Fan von helleren Farben bin. Mein kleiner Bruder Cyle hat ganze Überzeugungsarbeit dabei geleistet, für die allerletzte Ernte tatsächlich dieses mutige Kleid auszuwählen. Wer kann einem Neunjährigen mit den bettelnden Augen eines Streuners schon etwas abschlagen?

Überdies ist es die Farbe der Liebe – keine schlechte Wahl für den Tag, der den Rest unseres gemeinsamen Lebens einläuten soll. Vor allem, da der Schnitt schlicht und eher unschuldig ist. In jedem Fall nicht zu gewagt. Nach Möglichkeit will ich heute nicht aus der Masse hervorstechen. Wie ein Fisch plane ich, mit dem Strom zu schwimmen und durch die Maschen des Netzes namens Ernte hinaus in die Freiheit, die nach der jahrelangen Bedrohung durch die Hungerspiele auf mich wartet.

David sagt nichts weiter, sondern fasst stattdessen etwas fester meine Hand. Sein Blick gleitet in die Ferne, über das Meer, wie immer, wenn er sich um die Zukunft sorgt.

Ich stupse ihn leicht in die Seite. »Sollen wir?«

Augenblicklich kehrt das Lächeln auf sein Gesicht zurück, als würden wir zu einem Fest gehen. »Lass es hinter uns bringen.«

Alle Gedanken an den heutigen Nachmittag schieben wir beiseite und konzentrieren uns auf die Zukunft. Langsam und ohne Eile gehen wir über die Wiese zurück in die Stadt, unter den Wäscheleinen hindurch.

Das Einzige woran man merkt, dass der Tag der Ernte ist, ist die Tatsache, dass kaum Menschen auf den Straßen sind, um ihren Geschäften nachzugehen. Und natürlich an den Fischerbooten, die normalerweise schon seit Stunden auf dem Meer wären, aber jetzt allesamt im Hafen liegen.

Hinter den Fenstern der Häuser erkennt man die Schemen derer, die noch dabei sind, sich einzukleiden. Hier in der Stadt wird die gedrückte Atmosphäre deutlicher. Nicht für jeden wird dies heute ein glücklicher Tag. Einige erleben stattdessen ihre erste Ernte. Selbst wir verstummen auf dem Weg.

Distrikt vier an sich ist wirklich schön. Je näher man dem Meer kommt, desto schmaler werden die Häuser. Sie alle sind ein wenig windschief und haben durchlässige Fenster, doch mit ihren kleinen Vorgärten, in denen vorwiegend Salzpflanzen wachsen, und den klapprigen Fensterläden, den rotgedeckten Dächern, sowie den bunt angemalten Türen haben sie ihren eigenen Charme.

Niemals würde ich diesen Distrikt gegen einen anderen tauschen. Dies ist meine Heimat. Wir leben selbst nur in einem kleinen Häuschen in Richtung des Meeres, das wir seit dem Tod meiner Mutter mit Davids Verwandtschaft teilen, da unsere Familien beide kaum Geld haben. Weder arm, noch reich, aber für ein neues Kleid hat es gereicht. Wir haben alles, was es zum Leben braucht. Zumindest meistens.

David und ich wandern langsam durch die wohlhabenderen Viertel des Distrikts, mit den Häusern, die nicht schief vom Wind sind und dichte Fenster haben. Auch hier leben oft mehrere Familien zusammen. Zusammenhalt ist wichtig in unserer Heimat. Abgesehen davon müssen wir auf engstem Raum zusammenleben, denn der Distrikt gehört zu den kleinsten Panems, obwohl wir viele Einwohner haben.

All diese Bewohner finden sich in diesem Moment auf Plätzen im ganzen Distrikt ein. Nur wir, die Kinder im Alter von zwölf bis achtzehn und ihre Familien, gehen zum zentralen Rathausplatz, der in Sichtweite kommt, als David und ich um die letzte Ecke biegen.

Immer mehr Menschen tauchen um uns herum auf, und von einem auf den anderen Moment wird es geschäftig. Von der grauen Fassade des großen Rathauses, das alle übrigen Gebäude überragt, hängen die Banner des Kapitols. Ein stilisierter Adler auf dunklem Grund. Davor befindet sich, wie jedes Jahr, eine braune Holzbühne, die mit einem wahren Meer von Salzwiesen-Kleeblüten geschmückt ist. Blaue Seidenbänder halten die Blüten aufrecht und lenken davon ab, wie baufällig die Bühne eigentlich ist.

Auch die umliegenden Gebäude, in denen sich hauptsächlich Geschäfte befinden, sind herausgeputzt worden. Bunte Ketten mit Wimpeln, die die unterschiedlichsten Motive zeigen, hängen zwischen den Häusern und quer über den Platz. Ich erkenne Fische und goldene Dreizacke, Symbole für Distrikt vier.

Die Deko stammt von den Einwohnern selber. Sie soll den vermeintlichen Wohlstand in der Stadt ganz Panem zeigen. Schließlich geht es uns von allen zwölf Distrikten mit am besten. Wir haben nicht allzu viele Gründe, für Beschwerden, wenn man so will.

Meeresfrüchte sind äußerst gefragt im Kapitol und nicht zuletzt durch die ruhmreichen Sieger der Hungerspiele, die mit dem heutigen Tage die 70. Auflage erreichen werden, haben wir einen beliebten Stand in der fernen Hauptstadt erlangt. Der einzige saubere Zugang zum Meer ist definitiv ein Vorteil. Aber selbstverständlich ist bei weitem nicht alles so rosig …

Auf dem Platz sind einzelne Teile mit Holzpflöcken und dazwischen gebundenen blauen Stoffbahnen abgeteilt, denn während der Ernte verlangt das Kapitol, dass wir uns nach Geschlecht und Alter getrennt aufstellen. Viele Familien stehen davor und verabschieden einander mit innigen Umarmungen und Worten.

Auch ich habe mich heute Morgen schon von meinem Vater und Bruder verabschiedet. Sie sind früher aufgebrochen und müssen sich bereits in der Menge befinden. Dafür haben David und ich einen letzten ungestörten Moment.

Ein paar Augenblicke lang beobachten wir schweigend das Treiben, kleine Kinder, die sich an die Rockzipfel ihrer Mütter drängen, ältere, die eher genervt sind, und Eltern, die vor lauter Sorge die Hände ringen. Egal, wie gut oder schlecht es uns geht, der Schatten der Ernte liegt immerzu über uns.

Daran ändern auch alle sogenannten Karrieros, die sich nach jahrelangem Training freiwillig als Tribut melden, nichts. Der Moment, in dem ein Name aus der Menge verlesen wird, wird jedes Jahr von Stille und nervösen Blicken begleitet.

Je näher wir der Absperrung kommen, desto größer wird meine Furcht, dass sich ausgerechnet dieses Mal keine Karrieros melden werden. Was, wenn niemand für Essen und ein Dach über dem Kopf sein Leben riskieren muss?

Es gibt zwei Gründe, warum jemand aus Distrikt vier zum Karriero wird. Um Ruhm und Reichtum in den Spielen zu gewinnen – oder, um einem Leben am Rande der Armut zu entfliehen. Jeder weiß, dass die Trainerin in der heruntergekommenen Lagerhalle, die als Akademie dient, hin und wieder Straßenkinder aufnimmt, die umsonst trainieren dürfen, während die Kinder der Stadtbevölkerung dafür zahlen. Immerhin sieben Mal hat uns dieses Training den Sieg beschert.

Mein Blick gleitet zu dem Grüppchen Jugendlicher in bester Festtagskleidung, die schon vor der Bühne stehen und sich lautstark unterhalten. Das einzige Gelächter auf dem Platz kommt aus ihrer Richtung. Ansonsten stechen die Schüler der Akademie vor allem durch ihre ausgeprägten Muskeln hervor.

Viele, die seit der frühen Kindheit auf den Booten ihrer Eltern aushelfen, haben ebenfalls kräftige Arme und Schultern, aber das ist nichts im Vergleich zu den trainierten Karrieros. Von denen, die bloß in den Fabriken arbeiten, will ich gar nicht erst anfangen. David arbeitet dort seit einiger Zeit und die langen Stunden am Fließband sind zwar auszehrend, aber nicht körperlich fordernd.

Ich erkenne ein paar von den Akademietributen aus der Schule, doch niemand von ihnen ist achtzehn. Meist melden sich die Karrieros erst, wenn sie volljährig und bestmöglich trainiert sind. Je früher sie in die Spiele gehen, desto größer die Chance, dass sie es nicht schaffen. Trotzdem baue ich darauf, dass sich einer der Sechzehnjährigen heute melden könnte. Jüngere Tribute erfreuen sich im Kapitol oft großer Beliebtheit, vermutlich wegen des hohen Risikos.

David holt mich mit einem sanften Stupser aus meinen Gedanken zurück in die Wirklichkeit. Er zieht mich an sich und drückt mir einen zögerlichen Kuss auf die Stirn, ehe er leise »Möge das Glück mit uns sein« murmelt.

Bedrückt von seinem Stimmungswandel und der allgemeinen Atmosphäre schließe ich ihn in die Arme. »Ja, möge das Glück mit uns sein«, erwidere ich genauso still.

Langsamen Schrittes geht David zu den Reihen der erwachsenen Männer, die allesamt Verwandtschaft unter den Kindern und Jugendlichen auf dem Platz haben. Es kommt mir falsch vor, das erste Mal ohne ihn durch die Absperrungen zu gehen. Wir kennen einander von Kindesbeinen an und waren schon immer die besten Freunde. Vermutlich stand es deswegen für unsere Eltern nie außer Frage, dass wir eines Tages heiraten würden.

Abgesehen davon ist diese Verbindung ein wahrer Segen für beide Familien. Jedes Paar bekommt vom Kapitol zur Hochzeit eine Kiste mit Getreide, Öl und anderen kostbaren Waren, die wir gut gebrauchen können. Etwas Besseres kann ich mir nicht vorstellen.

David und ich wissen einfach alles voneinander und die Liebe, die ist irgendwann von ganz alleine entstanden. Nach der Ernte können wir endlich unser Leben genießen … wenn ich nicht gezogen werde. Jetzt, wo er fort ist, drängen sich mir schnell wieder einige der ungemütlichen Gedanken auf und malen Schreckensbilder in meinem Kopf.

Ich bin bloß eine von vielen, warum sollte es ausgerechnet mich treffen? Erneut kämpfe ich die Vorstellung nieder. Sechs Ernten sind schon überstanden, da wäre es eine unglaubliche Laune des Schicksals, würde das Glück uns heute verlassen.

Ich darf nicht länger darüber sinnieren, was das für David, meinen Vater und Bruder, einfach alle bedeuten würde ... fast ist es so, als würden mir die Gedanken die Luft abschnüren. Also atme ich tief durch, straffe die Schultern und gehe bis ganz vorne zur Bühne, um mich bei den anderen Mädchen meines Alters einzureihen.

Wir tauschen kurze Blicke. Ein paar von ihnen kenne ich aus der Schule und matt lächeln wir einander an. Aufgeregtes Tuscheln umgibt mich und einige wedeln sich mit kleinen Fächern Luft zu. Diese finalen Sekunden dehnen sich zu einer Ewigkeit, in der ich am liebsten die Zeit anhalten würde.

Auf der anderen Seite des Platzes erkenne ich, wie die Teams des Kapitols ihre letzten Kameras aufbauen und die haushohen Leinwände noch einmal überprüft werden. Jeder Moment dieser Ernte wird für die Ewigkeit festgehalten.

Nun doch nervös, greife ich nach der großen Spange, die am Hinterkopf meine hüftlangen braunen Haare zurückhält. Obwohl sie perfekt sitzt, ziehe ich sie zurecht und streiche über ihre glatte Oberfläche. Es ist eine Jakobsmuschel, ein besonders großes Exemplar. Die Schale mit der metallenen Klammer darin ist eines der wenigen Andenken, die von meiner Mutter zurückgeblieben sind. Sie war es, die einst die Spange in die rosig schimmernde Muschel geklebt hat und sie mir zum ersten Schultag geschenkt hat. Hoffentlich bringt sie mir heute Glück.

Surrend erwachen die Stromgeneratoren auf dem Platz zum Leben. Auf den dunklen Leinwänden flackert es und dann sehen wir das sich drehende Emblem des Kapitols.

Mit einem Schlag spüre ich, wie alle verdrängte Anspannung wieder aufbrodelt, beinahe in der schwülen Hitze greifbar wird. Jetzt wird es ernst.

Mein letzter Blick wandert zu Davids braunem Schopf in der Ferne, der seine Augen fest auf die Bildschirme gerichtet hat. Wird schon werden.

Auch ich wende mich der Bühne zu, die noch völlig leer ist. Dennoch ist kein Wort mehr zu hören, ja, es ist gar so still, dass man über das Knistern der Generatoren das Pfeifen des Windes in den Gassen hört.

Drei, zwei, eins… null.

 

 

Verräterisches Glück

Mit einem Knall öffnet sich die schwere Tür des Rathauses und angeführt von einer hochgewachsenen Frau erscheint das Team aus Distrikt vier. Vorne weg stolziert natürlich Cecilia Sae, genannt Cece. Sie ist die Betreuerin, welche vom Kapitol geschickt wird. Hauptsächlich führt sie durch die Ernte, aber zumindest auf dem Papier sorgt sie vor den Hungerspielen für die Tribute.

Ihr heutiges Ensemble besteht aus einem orangenen Blazer mit farblich dazu passendem Ballonrock, der zu allem Übel in der Sonne seine Farbe wechselt. Bestimmt zwanzig Zentimeter lange Absätze heben sie in Schwindel erregende Höhen und wie immer erscheint es wie ein Wunder, dass sie überhaupt geradeaus laufen kann.

Die Krone wird dem ganzen allerdings durch Ceces neuerliche Verunstaltungen aufgesetzt: Zwei goldene Blumenranken winden sich von beiden Augenwinkeln hinab zum Mundwinkel. Es ist nicht bloß ein schlichtes Tattoo, nein, die Blüten wölben sich unter ihrer straff gespannten Haut hervor, als wollten sie daraus hervorbrechen.

Dazu trägt sie knallpinken Lippenstift und Lidschatten, was mir in meiner Kindheit regelmäßig Albträume mit ihr in der Hauptrolle beschert hat. Jetzt entlockt mir die Aufmachung nur noch ein müdes Grinsen. Aus heutiger Sicht sind diese Kapriolen der Kapitolbewohner lächerlich.

Hinter ihr folgen, wie Lämmer, Bürgermeister Southshore und seine Ehefrau. Blass und unscheinbar schleichen sie mit gesenkten Köpfen auf die Bühne. Ihre feine Leinenkleider sind im Vergleich zu Ceces Ensemble ärmlich. Und überhaupt sehen beide so aus, als wünschten sie sich weit weg von der Ernte. Nicht, weil sie Angst vor der Auswahl haben, sondern vor ihrem eigenen Volk.

Zwar hält Southshore jede seiner Reden mit Inbrunst, aber er traut sich nie, dabei den Kopf vom Rednerpult zu heben. Er weiß, dass ihm andernfalls aus hunderten Augenpaaren Verachtung entgegenschlägt.

Auf sie folgen schlussendlich die fünf verbliebenen Sieger. Zwei Frauen und drei Männer. Sie verblassen allesamt gegen Ceces Auftritt, was schon eine Leistung ist. Es spricht einmal mehr dafür, wie verrückt die Betreuerin aus dem Kapitol ist. Im Vergleich zu ihr ist das Lächeln der Sieger schmal und sie winken zwanghaft in Richtung der Kameras in dem Versuch, sich genauso fröhlich wie sie zu präsentieren.

Die Fünf sind nicht alle, die einst siegreich waren, doch mehr sind von ihnen bis zum heutigen Tage nicht geblieben. Die anderen sind gestorben und böse Zungen behaupten, dass das Kapitol seine Finger im Spiel hatte ...

Da es seit vier Jahren keinen neuen Sieger gegeben hat, ist es ungewiss, ob es bald noch weniger sind. Immerhin ist die älteste, Mags, schon über 80. An ihre Spiele erinnert sich niemand mehr. Wenn ich die runzlige kleine Dame ansehe, kann ich mir unmöglich vorstellen, dass sie einst jemanden getötet hat. Sie sieht nicht anders aus als die alten Fischersfrauen, die unten am Hafen mit zittrigen Fingern kaputte Netze flicken.

Andererseits bedeutet diese traurige Bilanz der jüngsten Hungerspiele auch, dass in den vergangenen Jahren acht Tribute in der Arena gestorben sind. Die Bürde, die auf dem Team lastet, muss groß sein, denn mit jedem erfolglosen Spiel sinken wir wieder in der Gunst des Kapitols. Da ist es auch egal, dass unser letzter Sieger der begehrte und beliebte Finnick Odair ist. Ihm wird es so oder so gut ergehen und das weiß er wahrscheinlich genau.

Auf jeden Fall bringt er ein suggestives Grinsen hervor – nicht für das Publikum, sondern für die Kameras, die alles live ins Kapitol übertragen. Die Zuschauer lieben ihn, im wahrsten Sinne des Wortes. Ständig hat er eine neue Liebschaft in der Hauptstadt und frönt dort einem ausschweifenden Lebensstil. Von sämtlichen Siegern ist er der unangefochtene Liebling und damit spielt er so leichtfertig, wie er Knoten knüpfen kann.

Kaum zu glauben, dass ich mal Mitleid mit ihm hatte. Aber er hat mich eines Besseren belehrt – ihm gefällt dieses Leben offensichtlich. Allein schon deswegen kann ich ihn von allen Siegern am wenigsten leiden. Sicherlich verschwendet er keine großartigen Gedanken an seine Tribute, denen er ein Mentor sein soll, sondern beschäftigt sich lieber mit seinen Betthäschen.

Das Kapitol ist seinem Aussehen verfallen, das schon ganz in Ordnung ist, wenn auch keine Seltenheit für jemanden aus dem Distrikt. Wie viele hat er grün-blaue Augen, ein paar Sommersprossen und von der Sonne ausgeblichenes, bronzenes Haar. Die Stylisten der Hungerspiele haben allerdings dafür gesorgt, dass jeder zuerst seinen durchtrainierten Körper bemerkt und der Rest ist Geschichte.

Ich kenne Odair eigentlich nur aus dem Fernsehen, wenn man mal von der flüchtigen Begegnung vor vielen Jahren an einem dunklen Strand absieht, aber das war scheinbar nicht derselbe Mensch.

Gegen ihn wirken die anderen Sieger langweilig, bis auf eine große Frau mit glattem schwarzen Haar und muskulösen Armen, die finster dreinblickt. Amber Hart ist ständig von einer düsteren Aura umgeben, die einen nicht vergessen lässt, wie sie in ihren Hungerspielen Tribute mit bloßen Händen erwürgt hat. Die Bilder haben sich eingebrannt.

Als letztes bleiben Trexler und Floogs, ein seltsames Doppelgespann, das sich schweigsam gibt. Trexler ist ein wahrer Schrank von Mann und fast zwei Meter groß und trotzdem gelingt es ihm, im Hintergrund unterzugehen. Floogs hat ein steifes Bein seit seinen Spielen und humpelt hinten drein.

Alle Beteiligten nehmen jetzt Platz auf der Bühne, um sich die Rede des Bürgermeisters anzuhören, die traditionell immer die Ernte eröffnet. Schwerfällig erhebt Southshore sich und wankt auf das Mikrofon zu. Er quält sich wie jedes Jahr durch seine wohlklingend formulierten Ausführungen über die dunklen Tage und das Kapitol, vor allem jedoch darüber, wie anmaßend die unwürdigen Distrikte waren.

Sogar Cece unterdrückt bei diesen gnadenlosen Übertreibungen ein Gähnen. Ich will nicht sagen, dass sie sympathisch ist, aber trotz all ihrer Lächerlichkeit gleichen wir uns zumindest in dieser Hinsicht.

»… und darum schicken wir dem Kapitol jedes Jahr zwei unserer Kinder, als Tribut für unsere Vergehen. Auf dass wir die dunklen Tage nie vergessen!«, schließt der Bürgermeister seine Rede.

Der große Moment ist gekommen und damit kehrt die Aufregung zurück in meine Glieder. Vor lauter Nervosität kribbeln mir sogar die Fingerspitzen.

Cece erhebt sich und streicht ihren glänzenden Rock glatt. Sie stolziert zu dem kleinen Tisch, auf dem die rundbauchigen Gläser voller Lose stehen, jeder ihrer Schritte exakt bemessen. »Fröhliche Hungerspiele! Und möge das Glück stets mit uns sein!«, ruft sie so laut, dass es eine Rückkopplung gibt und ein schriller Ton über den Platz jagt.

Dieses Jahr nähert sie sich zuerst dem Glas mit den Jungennamen. Sie streckt ihre Hand mit den künstlichen Fingernägeln tief in das Behältnis, vollführt einige gedehnte Bewegungen, ehe sie sich einer hungrigen Möwe gleich auf ein Los stürzt und es unter den anderen hervorzieht. Triumphierend hält sie es in die Höhe.

Eisernes Schweigen liegt über dem Festplatz, während sie eine ihrer Krallen hinter das Siegel schiebt und den Zettel langsam auseinanderfaltet. Es sind diese Sekunden, in denen jeder sich selbst der Nächste ist und für sich bangt.

Jetzt ist das Los entfaltet, Cece liest die Beschriftung, ihr Gesicht hellt sich auf und sie ruft kraftvoll einen Namen. »Pon Amberson!«

Ich kenne ihn flüchtig. Er ist ein kleiner, gerade zwölfjähriger Junge aus der Schule. Mutig tritt er aus der Menge hervor, während sich die Kameras auf ihn richten. Distrikt vier hält kollektiv den Atem an und wir warten auf den lauten Ruf eines Freiwilligen. Nicht einmal seine Mutter schreit nach ihm.

Mit kleinen Schritten durchschreitet der blonde Junge die Reihen, welche sich respektvoll vor ihm teilen und erklimmt schließlich die Tribüne. Keine Regung zeichnet sich auf seinem Gesicht ab, nicht einmal als Cece mit ihren Klauen seinen Arm ergreift. Er zuckt kurz zusammen, blickt dann aber wieder starr geradeaus, auf der Suche nach einem Retter.

Noch immer hat kein Freiwilliger gerufen und selbst Ceces Blick wandert jetzt für einen Moment fragend über die Menge. In den vergangenen Jahren gab es mindestens einen mutigen Karriero, insbesondere wenn das Los ein junges Kind getroffen hat. Cece scheint das allumfängliche Schweigen genauso wenig zu behagen wie den Zuschauern, nur aus anderen Gründen.

Selbst ich bin angespannt und verwirrt. Tief graben sich meine Fingernägel in die Handinnenfläche, obwohl es nicht einmal um mich geht.

Cece trippelt nun doch zum Mikrofon. »Freiwillige?«, ruft sie, leiser als vorher.

Unbeantwortet verhallt ihre Frage. Nein, dieses Jahr meldet sich keiner. Niemand will für Pon Amberson sein Leben riskieren. Ich höre bloß den Wind durch die Gassen pfeifen.

»Unser männlicher Tribut für die siebzigsten Hungerspiele heißt Pon Amberson! Einen großen Applaus bitte für Pon!«

Sie beugt sich zu dem Jungen herab und zischt etwas in sein Ohr, woraufhin er den Arm hebt und der Menge winkt, das Gesicht immer noch eine ungläubige Maske.

Wie betäubt applaudiere ich für ihn, zusammen mit den anderen, bevor Cece auch schon zum nächsten Glas schreitet.

Schmerzhaft verkrampfen sich sämtliche Eingeweide in mir und ich breche in kalten Schweiß aus. Stumm flehe ich, dass es gleich für immer vorbei sein wird. Acht Lose tragen meinen Namen. Acht Chancen, dass mein Leben genauso zerstört wird wie das von Pon Amberson eben gerade. Plötzlich erscheint mir die vermeintliche Sicherheit vom Vormittag völlig irrational.

Erneut fahren Ceces Krallen durch die Zettel, fassen einige an und lassen sie wieder fallen. Schlussendlich zieht sie einen hervor, tief vom Grund des Glases. Mir ist danach, mich zu übergeben, und gleichzeitig wird mein Mund staubtrocken.

Langsam entfaltet Cece den Zettel, liest den Namen, schreitet zum Mikrofon, räuspert sich einmal, dann erklingt es schrill und unreal:

»Annie Cresta!«

Ich höre nichts außer dem Rauschen meines eigenen Bluts. Das verstehe ich nicht … welcher Name wurde gesagt? Warum regt sich niemand? Starren mich etwa alle an?

Ein Mädchen in der hinteren Reihe gibt mir einen unsanften Stoß in die Rippen. »Geh schon!«, zischelt sie mir zu.

»Wieso?«, hauche ich ungläubig, doch sie stößt mich nur erneut vor.

Fast stolpere ich über meine eigenen Füße, finde in letzter Sekunde Halt und trete durch den Gang, der sich vor mir auftut, wie schon bei Pon. Als wenn alle Angst hätten, mich zu berühren. Mit gesenktem Kopf gehe ich zu der Bühne, die sich drohend vor mir aufrichtet. Die Blicke der Sieger begleiten ausdruckslos meinen Weg und ich sehe, wie die alte Mags Odair etwas zuflüstert.

Wie ich hinauf gelange, ist unbegreiflich, denn sämtliche Gliedmaßen gehorchen mir nicht länger. Mit einem Mal stehe ich jedenfalls da und höre das Schweigen auf Ceces Nachfrage nach Freiwilligen. Und während ich dieses Schicksal noch anzweifele, schlägt sie ihre Hände gegeneinander, ein harscher Ton in der Stille. Es dauert eine Weile, aber dann steigt der gesamte Distrikt ein. Ich fühle, wie Galle in mir aufsteigt.

Zittrig reiche ich Pon die Hand auf Ceces Befehl hin, nicke ihm zu und erhebe meinen Arm, um der gesichtslosen Masse vor der Bühne zu winken. Irgendwer Fremdes muss die Kontrolle über mich übernommen haben. Anders kann ich mir nicht erklären, wie ich tatsächlich der Menge zuwinke. Schreit jemand nach mir? Ich weiß es nicht.

»Fröhliche Hungerspiele!«, ruft Cece den Standardsatz, der den Beginn des Grauens einläutet.

Grobe Hände packen meine Arme und drängen mich in Richtung Rathaus, doch ich hege ohnehin keinerlei Gedanken an Flucht. Alle Sicherheit und Zufriedenheit ist auf einen Schlag verschwunden. Nur unscharf nehme ich weichen Teppichboden, holzgetäfelte Wände und die Stimme von Bürgermeister Southshore wahr. Türen klappern, dann finde ich mich in einem großen Raum wieder. Die Hände lassen von mir ab und plötzlich bin ich alleine.

An Ort und Stelle sacke ich auf die Knie. Auf den dunkelblauen Teppich fällt ein einzelner Tropfen. Ich bin gezogen worden! ICH! Verwirrt schüttle ich den Kopf, aber das ändert nichts an der Lage.

David! Was wird er nur tun? Die Gedanken an ihn und meine Familie kehren mit voller Wucht zurück. Sie mussten das alles mit ansehen!

Von all diesen Eindrücken wird mir schwindelig und ich wanke hinüber zu einem Sofa, das mitten in dem Raum steht. Ohne irgendwelche Fragen zu stellen, setze ich mich auf eine Ecke und starre die gegenüberliegende Eichentür an.

Alles, was ich empfinde, ist … Leere. Weder Angst noch Wut sind in mir, sondern nur dieses große Nichts, als würde ich mein Schicksal von außen betrachten.

Eben waren David und ich glücklich zusammen und nun warten die Hungerspiele darauf, mich zu einer willenlosen Spielfigur zu machen. Erst jetzt, in der Stille des Rathauses, bemerke ich, wie sich meine Hände in den Saum des roten Kleides gekrallt haben. Ich löse sie und lege sie in auf den Schoß, unsicher, worauf ich überhaupt warte.

Nach wenigen Minuten wird die Tür endlich aufgerissen und im Rahmen erscheint mein Vater, Cyle an der Hand. Als er mich sieht, reißt der Kleine sich los und stürmt geradewegs in meine Arme. Ich schließe sie um ihn, völlig perplex.

Langsamer kommt unser Vater in den Raum. Auf den ersten Blick erkenne ich den Ausdruck in seinem Gesicht. Es ist wie damals, nachdem meine Mutter gestorben ist. Er versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich bemerke den Glanz, der sich über seine Augen gelegt hat. Stumm setzt er sich neben mir auf die Couch und legt seinen Arm um uns beide.

Ich lehne mich an seine Schulter und dann fließen auch schon die Tränen, welche sich bis eben zurückgehalten haben.

»Annie … hör auf zu weinen! Hör auf!«, flüstert mein Bruder. Er ist doch erst neun. Er begreift es noch gar nicht. So fest wie möglich, drücke ich ihn an mich. Es ist schwer, die Tränen zurückzuhalten, aber für ihn will ich stark sein.

Er löst sich aus der Umarmung und streckt mir etwas in seinen kleinen Händen hin. Im Gegensatz zu mir ist er blond und kommt eher nach meiner Mutter, einer klassischen Schönheit. Das Einzige, was wir gemeinsam haben, sind unsere grün-blauen Augen.

Der traurige Blick darin reißt an meinem Herzen und ich brauche alle Kraft, um nicht weiter zu weinen. Trotzdem laufen mir einige stumme Tränen über die Wangen. Ich sehe hinab auf den Gegenstand in seinen Händen. Es ist eine feine Goldkette.

»Ich weiß, sie eignet sich nicht für Arena, aber zumindest als Andenken, bevor ... In dem Medaillon ist ein Bild von uns allen ...«, mein Vater senkt den Blick, »wir haben sie nur als Vorsichtsmaßnahme eingesteckt – ich hätte nie geglaubt, dass du sie wirklich brauchen wirst.«

Heftig nach Atem ringend, fahre ich Cyle durch die verwuschelten Haare. »Niemand hat damit gerechnet«, entgegne ich unter verzweifelten Schluchzern.

»Ich hoffe sie bringt dir Glück.« Die kräftigen Arme meines Vaters schließen sich um mich und nehmen mir fast die Luft. Mit belegter Stimme flüstert er: »Ich liebe dich, meine Kleine. Vergiss das nie.«

Ich nicke und versuche, die Tränen zu verdrängen. Schniefend beuge ich mich zu meinem Bruder hinab und drücke auch ihn an noch einmal. Ich presse das Gesicht in seine Haare und sauge ihren Duft auf. »Deine große Schwester wird immer für dich da sein, versprochen«, flüstere ich hilflos. Es ist eine Lüge, doch etwas anderes kann ich ihm nicht sagen.

Kaum habe ich den Satz beendet, da ist unsere gemeinsame Zeit schon wieder vorbei. Bevor sie gehen, dreht mein Vater sich ein letztes Mal um. »Du bist stark«, formt er mit den Lippen. Tapfer nicke ich, um ihn nicht zu enttäuschen.

Als Nächstes erscheint Davids ganze Familie. Der Einzige, der fehlt, ist er selbst. Sie wünschen mir viel Glück, sprechen ihr Beileid aus und versprechen, sich gut um meinen Vater und Bruder zu kümmern.

Ich lasse es geschehen, aber geistig bin ich längst nicht mehr anwesend. Der Abschied von Cyle war schlimm genug.

Seine Eltern reden viel und merken gar nicht, dass ich selbst nichts sage, außer »Danke«. Fast bin ich dankbar, dass David nicht hier ist. Vermutlich würde ich es sonst nicht einmal bis ins Kapitol schaffen.

Erst ganz zum Schluss drückt seine Mutter mir einen Zettel in die Hand. »Er wollte nicht kommen, weil es so schmerzhaft ist. Euer letzter Abschied war so schön, sagt er. Und er will es dir nicht schwer machen. Aber ich soll dir das hier geben, als Erinnerung ...«, erklärt sie.

Sobald sie weg sind, falte ich den Zettel auseinander.

Mein Herz wird immer nur dir gehören. David.

Mehr steht nicht darauf. Dazu hat er eine seiner typischen, ungelenken Zeichnungen auf den unteren Rand gemalt. Ich erkenne den alten Bootsschuppen, in dem wir als Kinder immer gespielt haben. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, so schmerzhaft es auch ist. Ein Splitter der verblassten Erinnerungen, die nun noch viel endgültiger erscheinen, kommt in mir auf und schickt schwache Wärme durch mein Herz.

Ich falte den Zettel und stecke ihn in das Medaillon. Es ist oval und hat kaum Verzierungen, bis auf eine schmale Blumenranke. Das Bild im Inneren ist schon einige Jahre alt und zeigt mich, meine Eltern und Cyle glücklich vor unserem Boot, der Peppersheep.

Ein paar letzte Tränen bahnen sich ihren Weg über mein zerbrochenes Lächeln, dann werde ich von den Friedenswächtern abgeholt und zum Zug, der uns in das Kapitol bringen wird, geführt.

Ich drehe mich nicht um.

 

Haltung bewahren

Den kurzen Fußweg, der uns zu dem Zug bringt, legen wir schweigend zurück. Nur Cece ist bei uns, die Sieger sind offenbar schon fort. Friedenswächter in weißen Rüstungen säumen den Weg. Sie stehen den Rücken zu uns gewandt Spalier, um die Bevölkerung zurückzuhalten, aber das ist gar nicht notwendig, denn die meisten Bürger sind bloß stumme Zeugen unserer Abführung. Hin und wieder lese ich Dankbarkeit in den Gesichtern, dass es sie nicht getroffen hat.

Die Sonne hat ihren Zenit mittlerweile überschritten und brennt erbarmungslos auf uns herab, einem Scheinwerfer gleich, der die Szene für die Kameras ausleuchtet. Ihr gnadenloses Licht lässt keinen Fehltritt zu.

Bereits nach wenigen Schritten bereue ich die Tränen, die während der Verabschiedung geflossen sind. Sie glitzern verräterisch unter den Sonnenstrahlen und offenbaren jedem Zuschauer meine Schwäche. Ich versuche, das Gesicht vom Publikum abzuwenden, damit das betroffene Starren der Leute mich nicht länger verfolgt.

Den Kameras, die von bunt schillernden Kameramännern in käferartigen Anzügen getragen werden und die jede Sekunde dieses Weges aufzeichnen, denen entgehen meine Tränen genauso wenig. Auf der Suche nach dem perfekten Bildmaterial laufen die Männer um mich und Pon herum, knien sich auf den Boden und halten schonungslos auf unsere Gesichter drauf.

In diesem Moment werden die Aufnahmen vermutlich im Kapitol gezeigt und die Tränenspuren auf meinen Wangen dominieren in voller Größe die Leinwände. Kein gelungener Start für diese unfreiwilligen Hungerspiele.

Dank der zahlreichen Karrieretribute im Distrikt weiß ich genau, was wichtig ist, um die Spiele zu überleben, und ich begehe so ziemlich jeden Fehler, den es gibt. Der erste Auftritt eines Tributes ist maßgeblich dafür, mit wie vielen Sponsoren man rechnen darf. Wer sich als zimperlich präsentiert, gewinnt selten die Gunst des Publikums. Und wer es nicht schafft, die Bevölkerung des Kapitols zu überzeugen, dem wird das Glück in der Arena erst recht nicht hold sein.

Letztenendes bestimmen die Zuschauer die Hungerspiele. Ihr Geld geben sie nur dem, der seine Rolle am besten spielt. Zwar ist es nicht unmöglich, ohne Unterstützung zu gewinnen, doch das geschieht nur äußerst selten. Den meisten Tributen gehen die Lebensmittel zu schnell aus, oder sie schaffen es gar nicht erst, an eine Waffe zu gelangen. Gibt es dann keinen spendierfreudigen Sponsor, haben sich die Spiele bei den stärksten Kandidaten schon unschön entwickelt.

Ob es wenigstens Pon gelingt, das Publikum für sich einzunehmen? Möglichst unauffällig riskiere ich einen Blick auf meinen Mittribut. Auch er scheint einige Tränen vergossen zu haben, doch im Gegensatz zu mir, versucht er nicht, sie zu verbergen. Stattdessen hat er sein Haupt trotzig erhoben und blickt direkt in die ihn konfrontierenden Kameras, allerdings lächelt er nicht.

Er ist merklich um eine selbstbewusste Haltung bemüht, aber seine Schultern sind verspannt und die Hände, die er zu Fäusten geballt hat, zittern leicht. Trotzdem gibt er einen besseren Eindruck ab als ich. Nur die Tatsache, dass die Kameramänner in die Knie gehen müssen, damit sie auf einer Höhe mit ihm sind, erinnert mich daran, dass er erst zwölf – ein Kind – ist.

Jetzt schwenken die Kameras zumindest kurzzeitig von uns ab, um stattdessen das Gebäude einzufangen, dass sich vor uns erhebt. Strahlend weiß leuchtet es in der Sonne – der Bahnhof. Gläserne Türen mit elegant geschwungenen Griffen, roter Teppich in der Lobby und reichlich goldene Verzierungen an der Fassade zeigen deutlich, dass dieser Bau, ebenso wie das Rathaus, aus der Hand des Kapitols stammt.

Hier kommen die Besucher aus der Hauptstadt an, da wäre alles unter diesem Niveau undenkbar. Der Frachtbahnhof, in dem die großen Container mit Eis und dem frischem Tagesfang gefüllt werden, dem hingegen mangelt es an jeglichem Glanz. Der Gestank von totem Fisch weht dort durch die zugigen Hallen und alles ist von grauer Farbe.

Den Bahnhof für den Personenverkehr habe ich noch nie betreten, denn wir Leute aus den Distrikten können nur mit besonderer Genehmigung verreisen. Der einzige Zug, mit dem wir fahren, ist der Frachtzug. Und selbst dieses Vergnügen ist nur jenen vorbehalten, die dafür eine Lizenz aus dem Kapitol erhalten haben und sie dürfen niemals aussteigen.

Ich kenne niemanden, der bloß einmal in seinem Leben mit so einem Zug gefahren ist oder gar die Hauptstadt gesehen hat. Meine Familie zählt zu den glücklichen mit einem eigenen Boot und tagein, tagaus haben wir die Zeit auf dem Meer verbracht, auf der Suche nach neuen Fischgründen.

Neben den weit geöffneten Türen des Bahnhofes sind zwei Leinwände aufgebaut, ähnlich denen bei der Ernte. Sie zeigen dem gesamten Distrikt die letzten Meter auf unserem Weg in Überlebensgröße. Zum ersten Mal wird mir der Anblick vorgeführt, den ich Panem gerade biete und Bestürzung macht sich in mir breit.

Meine Augen sind tiefrot, die Schultern hängen durch und auch sonst vermittle ich einen hilflosen Eindruck, der sich nicht einmal ansatzweise verbergen lässt. Die Verabschiedung von allen, die ich liebe, verlangt ihren Preis. Mehr noch – der Abschied von meinem Leben. Bis eben war mir nicht klar, dass dieser Ort das Letzte sein wird, was ich von Distrikt vier sehe, bevor der sichere Tod wartet.

Schon laufen wir auf die breiten Treppenstufen des Bahnhofs zu. Hektisch drehe ich mich um und suche die Menge nach einem bekannten Gesicht ab. Das darf nicht meine letzte Erinnerung an die Heimat sein! Aber alle Leute, die sich hinter den Reihen der Friedenswächter drängen, sehen gleich teilnahmslos aus. Selbst wenn David da wäre, wie sollte ich ihn in dem Meer aus Menschen erkennen?

Schon werde ich weitergestoßen. Es ist keine Zeit, stehen zu bleiben und gar rührselige Verabschiedungszeremonien zu zelebrieren. Wir sollen in das Kapitol, so schnell wie möglich. Die Zähne fest aufeinandergepresst, richte ich den Blick auf Ceces wackelndes Perückenungetüm in weiter Ferne und setze den Weg fort.

Vielleicht kann ich mit diesem Moment der Schwäche später doch Sympathien gewinnen, wenn ich im Interview davon erzähle, wie ich meinen Verlobten zurückgelassen habe. Mitleid ist besser als keine Sponsoren, denn die werde ich brauchen …

Fast stolpere ich aufgrund meiner wirr umher tanzenden Gedanken über die Stufen hinauf zum Bahnhof. Benommen fange ich mich und folge zügig Cece und Pon, den Blick wie unter Scheuklappen direkt auf das Ziel gerichtet. Endlich lassen wir die gesichtslose Menge hinter uns und ich muss nicht länger darum kämpfen, etwas vorzugeben, das ich nicht empfinde.

Als wir in die kühle Bahnhofshalle eintreten, senke ich den Blick gen Boden und betrachte meine Füße, die mich mit unsicheren Schritten immer näher dem Zug entgegentragen. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, als ich höre, wie die Glastüren hinter uns geschlossen werden. Da sind Trauer und andere Gefühle, die ich nicht benennen kann, da ich sie nicht einmal völlig erfasse. Ich gehe in die Hungerspiele. Ich, Annie Cresta. Jetzt, in diesem Moment.

Wir treten aus der Haupthalle hinaus auf den Bahnsteig. Der Zug ist ein riesiges, rot-schwarzes Ungetüm, der einen imposanten Anblick bietet. Seine Form erinnert an die Fische, die in den kleinen Lagunen am Rande der Salzwiesen schwimmen. Die Fenster sind verspiegelt, sodass man von außen nicht hereinsehen kann. Nicht, dass wir an bewohnten Gegenden vorbeifahren würden. Für uns geht es direkt ins Kapitol, ohne Umwege durch die übrigen Distrikte.

Ein sachter Stoß in den Rücken erinnert mich daran, weiter zu laufen. Die Friedenswächter wagen es nicht, uns vor den Kameras allzu hart anzupacken. Das würde dem Publikum in der Hauptstadt nicht gefallen.

Doch ich kenne die Schattenseiten, aus den Zeiten, wenn niemand zusieht. Strafen sind im Distrikt an der Regel. Nur, weil wir einer der Lieblinge des Kapitols sind, heißt das nicht, dass wir viele Freiräume haben. Die Soldaten in der weißen Rüstung umgeben uns immerzu, vierundzwanzig Stunden am Tag, jede Woche, jeden Monat.

Nie werde ich den Tag vergessen, als mein Vater Cyle das Fischen beibringen wollte. Normalerweise müssen alle Ausflüge auf das Meer außerhalb der regulären Arbeitszeit beglaubigt werden, da man sonst einer Verurteilung wegen Ressourcendiebstahls entgegensieht. Diese Erlaubnis besaß er nicht, da sie den Wert von einem Monatsgehalt hat. Pure Verschwendung.

Mein Vater hat sich extra eine abgeschiedene Bucht ausgesucht, um Cyle den Umgang mit dem Fischerspeer beizubringen. Doch sie wurden erwischt und die Friedenswächter brachten ihn ins Gefängnis. Den kleinen Cyle schickten sie alleine nach Hause. Es brauchte ganze fünf Tage, bis unser Vater abgemagert und am Ende seiner Kräfte zu uns zurückkehrte. Seitdem sind wir darauf bedacht, den Soldaten des Kapitols aus dem Weg zu gehen.

Vor mir öffnet sich jetzt die Tür des Zuges und offenbart den dunklen Einstieg. Als Erste betritt Cece den Zug, dann folgen nacheinander Pon und ich über die metallenen Stufen. Die Kameras und Friedenswächter bleiben draußen, nehmen ein letztes Mal auf, wie wir uns auf der Schwelle umdrehen und beide stumm winken. Keiner von uns hat Abschiedsworte. Ich wüsste ohnehin nicht, was es zu sagen gibt, wenn man seinem Tod entgegenfährt. Schweigen ist vermutlich besser.

Die Stufen werden eingefahren, ein warnendes Piepen ertönt und wir werden aufgefordert, von der Tür zurückzutreten. Mit einem Zischen gleitet diese zu. Das Licht von draußen wird abgeschnitten und wir stehen im Dunkeln.

Angespannt atme ich aus und das letzte bisschen Haltung verlässt mich endgültig. Meine Schultern sacken nach unten und ich schlinge Halt suchend die Arme um den Oberkörper. Der Gedanke an ein warmes Bett, am besten Zuhause, erscheint mir unglaublich verlockend. Nur ist das in weite Ferne gerückt. Ab sofort ist es mein Schicksal, ein Tribut zu sein.

Es flackert kurz und dann flutet strahlendes Licht das Zuginnere. Lächelnd steht Cece unter dem Schein der Lampe und mustert uns für einen Moment, ehe sie begeistert in die Hände klatscht. Erschrocken zucken Pon und ich zusammen.

»Willkommen an Bord des Zuges Richtung Kapitol, meine Lieben!« Freudestrahlend sieht sie erst Pon, dann mich an. »In einer halben Stunde gibt es ein vortreffliches Abendessen, genau hier«, sagt sie, während sie auf eine Schiebetür hinter sich deutet, »in unserem Speisewagen. Zieht euch etwas Feines an, macht euch frisch, was immer euch beliebt. Eure Abteile sind den Gang runter, links für Annie, rechts für Pon!«

Sie schickt sich an, in einen anderen Waggon zu gehen, dreht sich dann aber doch noch einmal um und ergänzt: »Wir haben bereits ein paar Sachen rausgesucht. Nutzt die Zeit für euch. Ihr werdet nicht mehr oft alleine sein.«

Ceces Lächeln lässt nach. Sie strahlt längst nicht so sehr wie auf der Bühne. Aus der Nähe betrachtet ist sie bloß eine Frau auf besonders hohen Schuhen, deren Make-Up zu dick aufgetragen ist.

Stumm nickte ich und betrachte, wie sie davon stöckelt, ehe mir bewusst wird, wie kalt es hier drinnen ist. Draußen kann man fast an Land schwimmen, so schwül ist es, doch in dem Waggon, der komplett in dunklen Farben ausgestattet ist, herrschen Temperaturen wie in einem Gefrierabteil, die mir eine Gänsehaut bescheren.

In diesem Moment ruckt es auch schon und ich erkenne durch das Fenster, dass wir uns behäbig in Fahrt setzen. Zuerst im Schneckentempo zieht der kleine Bahnsteig vor meinen Augen vorbei, dann werden wir immer schneller und die Friedenswächter unschärfer, bis wir schließlich auslaufen und zwischen den letzten Häusern hindurch fahren. Es gibt keine Punkte in der Landschaft mehr, die man ausmachen könnte, alles zieht immer rasanter an uns vorbei. Wir verlassen Distrikt vier.

Als ich mich auf den Weg ins Abteil mache, ist Pon bereits fort. Meine Unterkunft lässt sich schnell finden. Ein Messingschild neben der Tür verkündet, welches ‚Annies Abteil‘ ist. Es hat augenscheinlich nicht lange gebraucht, das alte Schild meiner Vorgängerin durch ein neues zu ersetzen.

Die Tür gleitet vor mir auf und ich finde mich in dem wohl luxuriösesten Raum wieder, den ich je gesehen habe. Weicher Teppich bedeckt den Boden, die Wände sind mit Holz getäfelt und von der mit Stuck besetzten Decke hängt ein elektrischer Kronleuchter.

In der Mitte des Raumes thront das Bett, ein wahres Monstrum. Zwei schwere Daunendecken und unzählige Kissen türmen sich darauf. Zuhause habe ich zwar den Luxus eines eigenen Betts genossen, doch dieses hier ist doppelt so groß. Überwältigt werfe ich mich auf die frischen Laken und es federt es zurück. Es fühlt sich an, als würde ich schweben, so weich und anschmiegsam ist die Matratze.

Einen Moment liege ich bloß da und starre an den perlenbehangenen Kronleuchter. Doch sobald ich die Augen schließe, tauchen wieder mein Vater, Cyle und David auf. Ich fasse nicht, wie weit weg sie schon sind. Eben erst haben wir uns noch gesehen.

Vor allem bei Papa und Cyle sind meine Gedanken, denn um David mache ich mir – komischerweise – weniger Sorgen. Er wird klarkommen, das spüre ich. Sollte ich … nicht zurückkehren, so kann er immer noch eine Frau kennenlernen und mit ihr eine Familie gründen. Er ist ein liebenswerter Mann, sicher wird jemand anderes ihn genauso lieben, wie ich.

Vorstellungen vom Tod drohen, mich zu überwältigen. Bis eben hatte ich keine Zeit, zu überlegen, wie es sich wohl anfühlen wird. Tränen steigen wieder in mir auf, also stehe ich auf, um das Zimmer weiter zu erkunden.

Außer dem Bett gibt es noch einen Sekretär, auf dem ein Stoß cremefarbener Blätter und eine Schreibfeder liegen, eine große Kommode, sowie einen Nachttisch mit einer kitschigen Blumenvase voller Rosen. An der Wand gegenüber hängt ein bodentiefer Spiegel. An einem Haken daneben baumelt ein Bügel, über dem ordentlich gefaltet einige Kleidungsstücke hängen. Das sind vermutlich die von Cece benannten feinen Sachen für das Abendessen.

Allerdings hat sie mit keinem Wort erwähnt, dass wir uns nicht etwas anderes aussuchen dürfen. Ich ziehe wahllos eine Schublade der Kommode auf. Lauter Oberteile aus feinsten Stoffen liegen darin, farblich sortiert. Auffällig ist, dass sich die Auswahl auf grüne und blaue Teile beschränkt – die Standardfarben unseres Distrikts, wegen des Meeres.

In der Schublade darunter finde ich dazu passende Röcke und Hosen. Langärmelige Kleidung suche ich vergeblich, alles passt zu den Temperaturen draußen. Hoffentlich wird es noch wärmer in diesem Zug, andernfalls fange ich mir eine Erkältung ein, bevor die Hungerspiele überhaupt begonnen haben.

Mit einigen Verrenkungen schaffe ich es, den Reißverschluss meines roten Kleids zu erreichen und aufzuziehen. Interessiert wühle ich durch die vielfältigen Kleidungsstücke, ziehe komplizierte Wickelblusen und knielange Hemden hervor, bis ich mich für eine schlichte Bluse aus schillernd blauem Stoff und eine helle Hose entscheide.

Die Sachen sitzen wie angegossen, als wenn sie gewusst hätten, dass ich Tribut werde. Ein wenig unheimlich ist es schon, ebenso wie das rasch angebrachte Namensschild. Ob sie wohl jedes Jahr für alle erdenklichen Größen diese Kleidung schneidern und dann schnell die richtigen Sachen herbeischaffen? Woher wissen sie überhaupt, was mir passt?

Ich wage gar nicht, weiter darüber zu sinnieren. Stattdessen wende ich mich den Schuhen im untersten Fach der Kommode zu. Die restliche Zeit bis zum Abendessen verbringe ich damit, sie alle der Reihe nach anzuprobieren. Die meisten von ihnen haben Absätze und fühlen sich gänzlich falsch an meinen Füßen an. Daheim habe ich nur flache Stiefel. Hohe Schuhe sind den Bewohnern des Kapitols vorbehalten – und Tributen.

An und für sich mag ich Kleider. Nicht solche, wie sie in der Hauptstadt populär sind. Schlichte Stücke aus weichen Stoffen, das gefällt mir. Mode, wie sie früher einmal getragen wurde, die ich nur aus den Schulbüchern kenne. Der Zirkus des Kapitols erscheint mir dagegen völlig verrückt und abgehoben.

Niemals würde ich mir die gesamte Haut färben lassen oder Ähnliches. Mit dem wenigen Geld, das mir jeden Monat blieb, habe ich immer versucht, die ganze Familie bequem und praktisch einzukleiden. Dazu habe ich in der Freizeit passende Accessoires aus Muscheln oder Treibholz gebastelt. Viele der Mädchen waren zwar neidisch auf diese Basteleien, aber richtige Freundinnen habe ich trotzdem nicht gefunden. Was mich nicht stört, ich bin gerne allein.

Die Suche nach einem passenden Schuh beschäftigt mich, bis es Zeit für das Abendessen ist, wie ein sanfter Gong verkündet. Mit weichen Schlappen ausgestattet, kehre ich zum Speisewaggon zurück, in dem außer Cece, die nun ein neues, weniger spektakuläres Kostüm trägt, bloß Finnick Odair sitzt.

Ihre Blicke haften auf mir, als ich ein leises »Guten Abend« nuschle und den Waggon durchquere. Möglichst weit von dem ehemaligen Sieger entfernt setze ich mich neben Cece, die Handflächen unter die Oberschenkel geschoben und die Schultern hochgezogen. Das Schweigen, genauso wie das Ausbleiben einer Begrüßung gefallen mir nicht. Ich fühle mich wie ein Fisch, der von der Lebensmittelkontrolle inspiziert wird.

Aber dann räuspert Cece sich mit einem langen Blick auf mein Outfit. »Hübsch siehst du aus.«

Aus der Ecke Odairs ertönt ein Lachen, laut und unpassend. »Falsch«, behauptet er dreist, »wunderhübsch, Cece.«

Röte steigt mir in die Wangen, obwohl sein Kompliment – wenn man es denn so nennen will – plump und viel zu offensichtlich erscheint. Stumm starre ich auf die Tischplatte, in der stillen Hoffnung, so einer weiteren Konversation entgehen zu können. Glücklicherweise verbergen meine langen Haare Odair vor mir. Ich frage mich, ob er sich wohl an unsere erste Begegnung vor fünf Jahren erinnert.

Ein Kichern von Cece dringt zu mir durch und ich höre, wie sie sagt: »Finnick, du alter Schmeichler, bring sie doch nicht in Verlegenheit!«

Durch den Vorhang aus Haaren hindurch linse ich zu ihm herüber, darauf bedacht, nicht von ihm bemerkt zu werden. Seine Aufmerksamkeit brauche ich momentan wirklich nicht.

Scheinbar gelangweilt spielt er mit den Zuckerwürfeln in einem kleinen silbernen Schälchen, das auf dem Tisch steht. Gerade als er sich einen in den Mund schiebt, tauchen Mags, Trexler und Floogs mit Pon im Schlepptau auf. Erleichtert atme ich auf.

Sogar Cece scheint erfreut, nicht mehr mit uns beiden alleine zu sein. »Wo ist denn Amber?«, fragt sie, jetzt wieder aufgekratzt und voller Energie.

»Hat gesacht, sie will in ihrem Abteil bleib’n«, nuschelt Trexler, der selten verständlich redet, wie ich aus vereinzelten Fernsehaufnahmen erinnere. Das ist das erste Mal, dass ich den hünenhaften Mann in der Realität sprechen höre, und es erscheint mir, als wenn er das ohnehin nicht gerne täte.

Die anderen bleiben stumm und füllen die freien Stühle. Mags geleitet Pon, der jetzt eine metallisch blaue Weste und ein steifes weißes Hemd trägt, zu seinem Platz und lässt sich neben ihm sinken. Sie kommt mir im Vergleich zu den übrigen Mentoren normal und freundlich vor, ohne größere Probleme oder Neurosen.

Amber, schätze ich als Einzelkämpferin ein, Trexler ist der Abweisende, Floogs der Zurückhaltende und Odair … er ist zu viel von allem. Ihn kann ich am wenigsten einschätzen.

 

Fremde Schicksale

Unser Abendessen wird unter großen silbernen Kuppeln verborgen von Dienern hereingetragen. Mit ausladenden Gesten heben sie die Hauben von den Platten und enthüllen dampfende Eintöpfe, Braten, gewürzte Kartoffeln und unzählige kleinere Leckereien.

Kerzen werden auf dem Tisch entzündet, während alle zu ihrem Besteck greifen. Ein jeder scheint hungrig zu sein und auch ich merke, wie sich das Magenknurren bemerkbar macht. Trotz all der Furcht vor dem, was kommen wird, bekomme ich dank der verführerischen Düfte Lust, zu essen.

Eine Zeit lang sind nichts als Essensgeräusche zu vernehmen. Zum ersten Mal im Leben schmecke ich so etwas Fantastisches wie Wildtierfleisch. Es zergeht einem förmlich auf der Zunge. Mehrmals nehme ich nach, was sonst gar nicht meine Art ist. Der Fisch, wie wir ihn zu Hause essen, ist lecker, doch gegen dieses köstliche Ragout oder den Braten kommt er nicht an. Sogar die Sieger, die sicherlich des Öfteren so eine Mahlzeit genießen, beladen sich die Teller reichlich.

Schließlich bricht Cece das Schweigen und versucht bemüht, eine Unterhaltung in die Gänge zu bekommen. Offenbar bin ich nicht die Einzige, die keine Lust darauf hat, denn die Sieger geben vor, mit ihrem Essen beschäftigt zu sein, während Cece zwanghaft Bemerkungen über die »spektakuläre Ernte«, den »herzzerreißenden Abschied« oder die »fabulösen Kleider« macht. Sie bedenkt einfach alles mit einem sorgsam gewählten Adjektiv.

Die Antworten auf ihre Fragen fallen allerdings nur spärlich aus, selbst Odair, der sonst so gerne im Rampenlicht steht, hält sich zurück.

»Das sieht ja aus wie deine Frisur, Cece.«

Wir sind beim dritten Gang angelangt, als Pon diese kleine Bemerkung fallen lässt, harmlos und lieb lächelnd. Vor uns steht ein merkwürdig gewachsenes Gemüse, das unbestreitbare Ähnlichkeit mit den wilden Ringellocken auf dem Kopf unserer Betreuerin hat.

Krampfhaft bemühe ich mich, nicht zu lachen, doch es will sich nicht zurückhalten lassen. Alle aus Distrikt vier brechen in Gelächter aus, selbst die Mentoren, die bis eben mit düsteren Mienen in ihrem Essen stocherten. Die Einzige, die dies weniger amüsant findet, ist Cece, aber sie lässt sich nichts anmerken und lächelt uns schmallippig an. Pon wirft sie dennoch ein verzücktes Grinsen zu, ihm nimmt sie die Bemerkung scheinbar nicht übel. Was nicht verwunderlich ist, denn er grinst unschuldig und wird etwas rot um die Nase. Ihm scheint aufzugehen, wie peinlich ihr das Gelächter ist.

Danach ist das Eis gebrochen und langsam kommen wir mit den Mentoren ins Gespräch, zu Ceces sichtlicher Freude. Wir reden über Belangloses aus unserem Distrikt, wie die Sanierung des Piers oder das Kleid der Bürgermeisterfrau bei dieser Ernte. Nur die Hungerspiele wagt niemand anzusprechen, genauso wenig wie das Geschehen der kommenden Tage. Es ist, als würde all dies gar nicht existieren. Viel mehr fühlt sich an wie alte Freunde, die entspannt beim Abendessen zusammensitzen.

Irgendwann gesellt sich auch Amber zu uns und lässt sich ein wenig von der Stimmung anstecken, was ich der muskulösen Frau ehrlich gesagt gar nicht zugetraut hätte. Doch sie lächelt Floogs und Trexler an und erzählt mit gesenkter Stimme sogar einige Anekdoten von lustigen Zwischenfällen im Kapitol, die meist auf Kosten von Cece gehen.

Alle beobachten gerade Pon, wie er versucht ein Röschen des Cece-Lockengemüses mit einer Gabel ans andere Ende des Tisches in ein Glas zu befördern, als ich mich satt sowie einigermaßen zufrieden zurücklehne. Es ist schon spät, aber wenigstens haben wir für diesen einen Moment die Hungerspiele vergessen.

Pon scheint der geborene Entertainer zu sein, denn trotz des trüben Anlasses spielt er vergnügt mit dem Gemüse, im Übrigen ein Verhalten, dass daheim niemals geduldet werden würde. Er schafft es, dass alle Spaß an dem Gabelschleuderspiel finden, so absurd das klingen mag. Innerhalb kürzester Zeit hat er sogar die sonst so griesgrämige Amber für sich eingenommen.

Sie nimmt sein Spielchen ziemlich ernst und liefert sich ein konzentriertes Duell mit ihm, angefeuert von Odair. Mags hingegen ist bereits beim ersten Versuch mit ihren knochigen alten Händen gescheitert, beobachtet das Finale aber mit einem Lächeln. Trexler und Floogs unterhalten sich mit gesenkter Stimme, sodass ich kein Wort verstehe.

Ich beobachte das Geschehen schweigend, ohne an dem Spiel teilzunehmen. Pon wird bestimmt Sponsoren finden, wenn er sich weiterhin so präsentiert. Da wird sein anfänglicher Auftritt heute sicherlich schnell vergessen, ebenso wie die Tränen. Vermutlich braucht er nur Zeit, um mit der Situation warm zu werden. Erstaunlich, für einen Zwölfjährigen. In der Arena hingegen ...

Kurz schließe ich die Lider und atme durch, denn meine dunklen Gedanken mischen sich wie Gift in die heitere Atmosphäre. Da bemerke ich, dass Finnick Odairs Augen auf mir ruhen. Vorwurfsvoll sehe ich zu ihm hinüber, aber er zieht bloß ungerührt einen Mundwinkel zu seinem typischen Grinsen hoch, anstatt sich ertappt abzuwenden.

Schließlich bin ich diejenige, die zuerst wegsieht. Mein Nacken kribbelt unangenehm, sodass ich sicher bin, dass sein Blick weiterhin auf mir liegt. Warum kann er nicht jemand anderen anstarren? Diese Intensität, mit der er mich mustert, als sei ich unerwartet vor seinen Augen aus den Tiefen des Meeres gekrochen … irgendwie überfordernd.

Erinnert er sich vielleicht doch an unsere erste Begegnung? Ich verwerfe den Gedanken gleich wieder, denn damals waren wir beide so viel jünger. Und bei allem, was er an diesem einen Tag gesehen und erlebt hat, habe ich sicherlich keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich habe ihm ja nicht einmal meinen Namen genannt.

Ein ums andere Mal bin ich Cece dankbar, als sie das Essen mit einem bestimmten Klatschen unterbricht. Ihre Worte, die darauf folgen, ernüchtern mich allerdings sogleich. »Es ist Zeit für die Zusammenfassung der Ernte.« Im Handumdrehen verschwindet die Leichtigkeit aus unserer kleinen Gesellschaft und Ernsthaftigkeit nimmt ihren Platz ein.

Der Gedanke daran, zum ersten Mal die Gesichter der zweiundzwanzig anderen Tribute zu erblicken, denen ich im Kapitol begegnen werde, bringt meine Handflächen zum Schwitzen. Die Erinnerung, dass diese Hungerspiele bitterer Ernst sind, holt mich wie ein Faustschlag in die Magengrube wieder ein.

Unglücklich folge ich Cece in den angrenzenden Waggon, in dem sich gegenüber einer gemütlichen Sitzgruppe ein überdimensionierter Fernseher befindet. Leise ist die Hymne des Kapitols zu vernehmen und auf dem Bildschirm dreht sich das Wappen mit dem Adler immerzu um die eigene Achse. Wir werden gebeten, uns zu setzen, ehe einer der Diener, der wie aus dem Nichts erscheint, die Aufzeichnung startet.

Die Mentoren nehmen in Korbstühlen Platz, Cece und wir Tribute dagegen auf einem Sofa. Ich kann mich nicht fallen lassen, obwohl die Kissen weich wie ein Wattebausch sind, sondern sitze auf der vordersten Kante, die Hände im Schoß gefaltet.

»Prägt euch die Tribute gut ein, damit ihr wisst, mit wem ihr ein Bündnis schließen wollt«, rät Floogs uns. »Dann könnt ihr im Training gleich auf sie zugehen.«

Ich nicke zwar, habe aber nicht vor, mich mit irgendwem zusammenzuschließen. Insbesondere nicht mit Karrieros, die nur darauf aus sind allem und jedem ein Messer in den Rücken zu stechen.

Die Aufzeichnung beginnt mit einer kurzen Rede des üblichen Moderatorenduos, bestehend aus Caesar Flickerman und Claudius Templesmith, die eine Menge Spannung und Dramatik versprechen, ehe das Wappen von Distrikt eins, ein Edelstein, eingeblendet wird. Der Schnitt erfolgt auf eine Bühne, wo die Betreuerin unter ohrenbetäubendem Jubel auftritt und mit einem breiten Strahlen in die gläserne Kugel greift.

Die Spannung im Publikum ist groß, aber man liest keine Furcht aus den Gesichtern, sondern Hoffnung. Wer immer gezogen wird, ist egal. Bevor der Name die Lippen der Frau vollständig verlassen hat, recken sich unzählige Hände in die Höhe, begleitet von einem vielstimmigen Ruf. »Ich melde mich freiwillig!«

Zum Glück erspart das Kapitol uns die langwierige Auswahl der Tribute, bei der alle Gelegenheit bekommen, ihre Fertigkeiten vorzuführen, bevor das Publikum mit seinem Applaus für einen Kandidaten stimmt. Wir sehen nur die Auftritte der auserwählten Karrieros, beide achtzehn, groß gewachsen und wild entschlossen, diese Spiele zu den ihren zu machen. Jubel brandet auf, als sie einander grimmig die Hände reichen, dann erfolgt der Rückschnitt auf Caesar und Claudius, die Belanglosigkeiten über die Freiwilligen und ihren Mut austauschen.

Entmutigt knete ich die Finger und stelle mir vor, diesen beiden in naher Zukunft in der Arena zu begegnen. Ihre Namen bleiben mir nicht im Gedächtnis, aber die Gewaltbereitschaft, die in ihnen lauert, schon. Ich beschließe, beim Training einen großen Bogen um sie zu machen.

Ein ähnliches Bild zeigt sich uns auch in Distrikt zwei, in dem der Junge übermütig hinaus schreit, dass er sich freiwillig meldet, bevor überhaupt ein Zettel gezogen wurde. Einen Moment gibt es Streit über das einzuhaltende Protokoll, doch dann holt die Betreuerin ihn überglücklich zu sich auf die Bühne. Das Mädchen wird ausgelost, aber sie stürmt entschlossen nach vorne und verkündet, dass sie ihren Platz nicht an Freiwillige abgibt.

Erst in Distrikt drei bietet sich ein anderes Bild. Lauter graue, furchtsame Augen blicken hinauf zu der Bühne und der gequält erscheinenden Betreuerin, die zwei unglückliche Kinder auslost. Erwartungsgemäß gibt es keine Freiwilligen.

Normalerweise sehen wir zuhause nur die Porträts der fremden Tribute, nicht ihre Ernte. Die Zusammenfassung bleibt üblicherweise dem Kapitol vorbehalten und so bin ich schockiert angesichts der Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern.

Während die Kommentatoren sich in den vorhergehenden Distrikten zurückgehalten haben und lediglich den Mut der Freiwilligen bewundert haben, kommt jetzt Aufregung in die Sache. Beide Tribute aus Drei sind schmächtig und man sieht ihnen an, dass sie kaum genug Kraft haben, aufrecht zu stehen. Kein Wunder, sie leben im Technik-Distrikt. Dort wird mit dem Kopf, nicht den Muskeln gearbeitet.

Mags lässt ein kleines Seufzen hören, ansonsten bleibt es totenstill. Schon ist diese Szene vorbei und damit kommen Pon und ich an die Reihe. Als das Wappen mit dem Anker und den sechs Fischen eingeblendet wird, fragt Caesar Flickerman sich, ob dem schönsten Distrikt Panems dieses Jahr wieder ein Sieg bevorsteht. Sie sehnen sich eindeutig nach Freiwilligen, Karrieros wie Finnick oder Amber es waren, mit großem Mut und noch mehr Stärke.

Ich erlaube es mir, kurz zu meinem Mittribut hinüber zu schauen. Pon sitzt genauso steif da wie ich, die Hände im Schoß gefaltet. Er blinzelt nicht einmal, sondern schaut stumm zu, wie sein Gang zur Bühne gezeigt wird.

Sogar die Kommentatoren halten den Atem mit Distrikt vier an. Bei einem Schnitt auf eine Frau mittleren Alters, die wohl Pons Mutter ist, seufzen sie übertrieben tief. Vorsichtig schaue ich erneut zu Pon herüber, dem geräuschlos eine Träne über die Wange rinnt. Er versucht, so stark zu sein, doch er ist erst zwölf. So jung von der Familie getrennt zu werden, kann ich mir nicht vorstellen.

Mir ist unbegreiflich, dass er immer noch so gefasst ist und nicht anfängt, lautstark zu schluchzen. Ich denke an meinen Bruder Cyle, der ihm so ähnlich sieht mit den blonden Locken. Das Bedürfnis, Pon beschützen zu wollen, flammt in mir auf. Wie gerne würde ich der Frau, die weinend zu Boden sinkt, als sich kein Freiwilliger meldet, ihren Sohn wiedergeben. Dann würde wenigstens einer von uns zurückkehren …

»Sieh nur, wie tapfer du aussiehst«, quiekt Cece erfreut und zerreißt damit die empfindliche Stille brutal. »Nicht so verheult wie die aus Drei.« Sie verdreht die Augen und gibt Pon einen Klaps auf die Schulter. Er lässt es stumm über sich ergehen.

Die anfängliche Nervosität weicht langsam Resignation, als Cece ihre Hand in das zweite Glas versenkt und mein Name über den Platz hallt. Ein Kameraschwenk übersieht mich zuerst, ehe ich vorgestoßen werde. Das Mädchen, das nach vorne stolpert, erkenne ich nicht wieder. Ihre Miene zeigt keine Regung, sie sieht aus wie ein desinteressierter Beobachter. Wie in Trance. Nicht komplett hilflos, aber verunsichert.

Das ebenfalls ausdruckslose Gesicht meines Vaters wird für einen Moment gezeigt – und dann David. Er hat den Kiefer fest aufeinandergepresst. Unmöglich zu sagen, was in ihm vorgeht. Cyle dagegen, dessen Augen sich geweitet haben und der irritiert an Papas Hemdsärmel zupft, schafft es, dass sich mein Herz zusammenzieht. Ich wende den Blick ab.

»Oh Annie, du siehst so schön aus«, lobt Cece mich. »Ich wette, deine wunderschönen langen Haare und die süßen Sommersprossen werden dir einige Verehrer einbringen!«

Ich erwarte fast, dass Odair sich erneut zu einem unpassenden Spruch hinreißen lässt, aber sein Blick ist scheinbar am Fernseher festgefroren. Ausnahmsweise erinnert er mich mit dem angespannten Kiefer und der Dunkelheit in seinen Augen wieder an den traurigen Jungen, dem ich einst begegnet bin.

Langsam werden die Kommentare der Moderatoren lauter, Claudius ereifert sich darüber, dass Distrikt vier so unterdurchschnittliche Tribute wie selten zuvor hat und die Freiwilligen wohl lieber den Sommer genießen wollen. Insgesamt spricht uns keiner der beiden große Chancen zu, obwohl wir immer noch aus einem Karrieredistrikt entstammen. Ihre Enttäuschung ist allgegenwärtig und so wird unsere Ernte rasch ausgeblendet. Es darf keinerlei kostbare Sendezeit verschwendet werden. Und obgleich ich mir selber kaum Hoffnung mache, ärgert mich diese Herabwürdigung. Als wären wir zum Scheitern verurteilt.

Ambers abfälliges Schnauben kommt mir da gerade recht. »Die kleinen Goldstücke aus Eins und Zwei sind doch jedes Jahr gleich. Gut mit dem Messer, besser mit dem Schwert. Wenn’s vernünftig läuft, haben sie keine Chance gegen Tribute, deren Können man nicht direkt an der Nasenspitze erkennt.«

Die nächsten Distrikte bieten wenig spannende Tribute. Bei fast allen Ernten fließen viele Tränen. Caesar und Claudius nehmen mit überzogener Dramatik in der Stimme Anteil an all den bewegenden Einzelschicksalen, aber ihre sensationslüsternen Mienen sprechen eine andere Sprache.

Von dem einem traurig lächelnden Mädchen, das anscheinend ihr Schicksal akzeptiert hat, bis hin zu dem resignierten Jungen, der von den Friedenswächtern auf die Bühne gezerrt werden muss, ist alles dabei. Manche versuchen zu verbergen, wie sie wirklich fühlen und wenden sich gleich den Kameras zu, in der Hoffnung, das Publikum auf sich aufmerksam zu machen, doch meist wirkt es bemüht.

Einzig ein Junge aus Distrikt neun sticht aus der Masse hervor, als er, nachdem ein anderer ausgelost wurde, ruhig aus den Reihen hervortritt und die Frage nach Freiwilligen kräftig bejaht. Aus dem emotionalen Aufschrei des Gezogenen erfahren wir, dass es sein bester Freund ist, der für ihn in die Arena gehen wird.

Dieser Auftritt ist es, der neben den Karrieros einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlässt. So gefasst, wie er nach vorne schreitet und sich meldet, speichere ich ihn als ernstzunehmenden Gegner ab.

Die Kommentatoren hingegen mutmaßen, dass er kaum Erfolg haben wird, da die Tribute aus Neun fast immer früh sterben. Ich bin mir trotzdem sicher, dass seine Geschichte einige Leute im Kapitol bewegen wird. Auf jeden Fall sehen seine Chancen bislang besser aus als die Meinen.

Der tapfere Junge bekommt von einer Mentorin den Arm um die Schultern gelegt. In ihren Augen spiegeln sich die Tränen. Ich registriere einen neidischen Stich in meinem Herzen und frage mich, ob wir uns auf die Sieger aus Distrikt vier genauso verlassen können.

Auf den ersten Blick scheinen sie nicht übermäßig viel Erfolg zu haben, wenn man sich die letzten vier Jahre anguckt, in denen unsere Tribute spätestens am Ende von ihren einstigen Verbündeten getötet wurden. Aber was erwartet man schon von einem Schönling, einer alten Frau, zwei komischen Käuzen und einer wie Amber? Eben, nicht viel. Mit dieser bescheidenen Aussicht muss ich mich wohl abfinden.

Das Ende der Zusammenfassung ist erreicht und eine Übersicht mit allen Tributen wird eingeblendet, zusammen mit ihrem Alter. Neben Pon gibt es nur eine weitere Zwölfjährige, die meisten sind um die sechzehn oder fünfzehn. Ich schaue mir jedes Gesicht einzeln an und versuche, sie mir einzuprägen, immerhin werden dies meine Gegenspieler in der Arena sein.

»Hmm ... ein durchmischtes Feld«, meint Floogs ruhig. »Auf den Jungen aus Neun solltet ihr achten. Die Tributin aus Distrikt zehn ist zumindest sehr kräftig, damit könnte sie einen Vorteil haben. Die Tribute aus Fünf und Sieben haben einen vergleichsweise selbstsicheren Eindruck gemacht, die solltet ihr nicht unterschätzen. Vor allem nicht, weil Johanna Mason die Mentorin aus Sieben ist. Vielleicht eine gute Chance für ein Bündnis, falls ihr nicht den Karrieros zugeneigt seid.«

Ich bin überrascht von seiner umfassenden Analyse. Schon tut es mir leid, dass ich ihm als Mentor nichts zugetraut habe. »Danke«, platzt es aus mir heraus.

Floogs schenkt mir ein Lächeln. »Nun, eure Entscheidung eilt nicht. Schlaft eine Nacht – oder auch zwei – darüber.«

Die abschließende Hymne Panems beendet diesen Abend. Cece teilt uns mit, dass wir morgen früh aufstehen müssen, denn unser Tagesprogramm wird straff. Nach der Ankunft im Kapitol geht es sofort in das Erneuerungscenter, wo uns Stylisten auf die Eröffnungszeremonie vorbereiten werden.

»Schlaft euch gut aus, mit Augenringen macht ihr euren Teams keine Freude.« Mit diesen Worten verlässt sie eilig den Waggon und lässt uns alleine zurück.

 

Das Lied der Meerjungfrau

Ich bleibe unschlüssig auf der Couch sitzen, während die anderen in ihre Abteile zurückkehren. Alle, bis auf einen. Ausgerechnet Finnick Odair bleibt gemeinsam mit mir in dem nur noch von Dämmerlicht beleuchteten Raum.

Er lässt nicht, wie erwartet, einen Spruch vom Stapel, sondern beobachtet mich schweigend. Der Versuch, ihn zu ignorieren, misslingt. Ich habe keine Erklärung dafür, warum mich sein stummer Blick so verrückt macht. Vielleicht weil er überlegen könnte, ob ich in seine Ansammlung von Liebesbekanntschaften passe?

Das kann ich definitiv verneinen. Immerhin bin ich keine billige Dame des Kapitols, die sich wild kichernd an seinen Hals hängt, sondern ein Tribut, auf dem Weg zum Schafott – und folglich nicht im mindesten an einer Affäre interessiert.

Ich kratze meinen ganzen Mut zusammen und drehe mich zu ihm um. »Was ist?«, zische ich. Es soll vorwurfsvoll klingen, doch das tatsächlich Gesprochene klingt wehleidig.

Es scheint ihn nicht im Geringsten zu kümmern, er zuckt nur mit den Schultern. »Ich frage mich bloß, was in dir vorgeht, kleine Meerjungfrau.«

Wenn ich könnte, würde ich jetzt gerne eine Augenbraue hochziehen. Woher nimmt er diese Dreistigkeit mir einfach solche Kosenamen an den Kopf zu werfen? Aus seinem Mund klingt es falsch und unecht. Doch anstelle ihm ordentlich Konter zu geben, gewinnt meine Schüchternheit die Oberhand und ich erröte, wie schon beim Essen.

»Sieh mich bloß nicht so an«, bringe ich hervor. Odair lacht leise. »Und nenn mich nicht so!«, setze ich erzürnt von seiner Frechheit hinzu.

Das scheint sein Stichwort zu sein und er steht auf und geht hinüber zur Tür. Kurz bevor er aus dem Abteil verschwindet, dreht er sich noch einmal um und wirft mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann. Seine Mundwinkel zucken leicht, als würde er grinsen wollen, aber dann seufzt er nur und schließt für einen Moment die Augen. Täusche ich mich, oder liegt Wehmütigkeit in seinen Zügen?

»Gute Nacht ... störrisches Fischmädchen.« Jetzt breiten seine Lippen sich doch zu einem Lächeln aus und einmal mehr erröte ich.

So eine Unverschämtheit! Ich schüttele den Kopf. Was immer sein Problem ist, er ist die Gedanken nicht wert. Lieber stehe ich auf und gehe zurück in mein Abteil.

Dort lasse ich Kleidung fallen und stelle mich unter die unglaublich geräumige Dusche. Zwar hatten wir zuhause einen Waschhahn, doch gegen all die verschiedenen Programme, die diese Duschkabine bietet, erscheint er mir lachhaft. Es scheint Optionen zu geben, die einem die Haare waschen und trocknen, eine Enthaarung vornehmen oder mysteriöse Öle anwenden. Zumindest glaube ich, das den kleinen Abbildungen neben den Knöpfen entnehmen zu können. Wahllos drücke ich eine der vielen bunten Tasten und bereue es kurz darauf wieder. Abwechselnd prasseln heißes und kaltes Wasser auf mich herab.

Ich zucke bei jedem eisigen Strahl zusammen und die siedenden Ströme verbrühen einen beinahe, doch sobald das Programm endlich durchgelaufen ist und ich mit rosa glänzender Haut aus der Dusche taumle, geht es mir besser. Ich ziehe eines der vielen Nachthemden aus der Kommode und sinke in das riesige, weiche Bett. Als ich mich auf die Seite rolle, denke ich fest daran, wie sich dieser ganze Irrtum sicher rasch auflöst. Wenn ich aufwache, sind wir wieder in Distrikt vier.

In meinen Träumen stehe ich auf einer Salzwiese. In der Nähe wogt das Meer. In den Händen halte ich einen Blumenkranz, den ich David zeigen will. Vorfreude breitet sich in mir aus. Wir haben uns immer hier getroffen, nicht weit vom Hafen entfernt. Möwen kreischen. Die Geräusche der Heimat haben etwas Beruhigendes, ich entspanne mich.

In der Ferne taucht eine unscharfe Gestalt auf. Langsam nähert sie sich mir. Ich will ihr freudig entgegenlaufen, doch plötzlich reißt der Nebel auf, der sie umgibt. Statt David steht Odair vor mir und ruft lachend »Hallo Fischmädchen!«. An dieser Stelle schrecke ich aus meinem Traum auf – und bin natürlich nicht in Distrikt vier. Über mir hängt derselbe perlenbehangene Kronleuchter wie schon beim Einschlafen. Ich bin immer noch im Zug Richtung Kapitol.

Draußen ist es dunkel, kein Licht fällt durch das Fenster herein. Ich höre das leise Prasseln von Regentropfen auf das Dach des Zuges. Für einen Moment bleibe ich auf dem Rücken liegen und genieße das beruhigende Geräusch. Zu Hause habe ich dem Regen gerne zugehört, wie er sanft von der Dachrinne perlt.

Bei Unwetter kam meist mein kleiner Bruder zu mir ins Bett gekrabbelt und ich habe ihm eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt oder ein Lied gesungen. Ich erinnere mich an all die Märchen von Seemännern, Meerjungfrauen und anderen Meeresbewohnern, die ich in der Kindheit geliebt habe. Es gibt viele dieser Mythen aus unserem Distrikt, die schon vor hunderten Jahren geschrieben wurden.

Die meisten von ihnen ranken sich um die Bewohner der Meere. Nicht nur Meerjungfrauen, sondern auch andere wundersame Geschöpfe werden darin erwähnt. Mein größter Alptraum als Kind war lange Zeit die fürchterliche Seeschlange, an die ich jetzt mit einem amüsierten Grinsen zurückdenke. Wie unbeschwert ich damals doch war.

Seufzend setze ich mich auf und blicke aus dem Fenster. Mittlerweile haben wir die bewohnten Gebiete endgültig hinter uns gelassen und fahren durch die leere Ebene um das Kapitol herum, die es von den Distrikten separiert. Erste Vorboten auf die Hauptstadt lassen sich erahnen, riesige Schilder, die ich aufgrund der Geschwindigkeit nie ganz lesen kann. Gerade überqueren wir einen dunklen See, der sich unheimlich zu den Seiten ausstreckt wie schwarze Tinte.

Ich lehne mich gegen das Kopfteil des Bettes. Schon jetzt fühlt es sich an wie ein anderes Leben, dass ich unter der sengenden Sonne als Tribut ausgelost wurde. Versuch, positiv zu denken, rede ich mir ein. Bis die Spiele beginnen, bleibt noch Zeit. Aber wofür? Was bedeutet diese Zeit schon, wenn ich sie ohne die Personen verbringe, die mir am meisten bedeuten?

Die Antwort lauert in meinem Hinterkopf. Training. Mir ist klar, was die Spiele mit sich bringen. Sie sind nicht einfach nur ein Todesurteil für dreiundzwanzig Kinder, nein, sie sind Furcht, Kampf und Qual. Eine Woche haben wir Zeit, zu trainieren. Eine Woche, um uns alles anzueignen, wovon das Überleben abhängt. Und eine Woche, in der ich lernen muss, zu töten.

Niemals erschien mir eine Tätigkeit ferner. Unfreiwillig drängt sich der Gedanke auf, wie es wohl ist, das Schwert zu erheben und durch den Leib eines Gegners zu stechen. Ein Leben zu beenden, den letzten Atemzug eines sterbenden Menschen zu spüren, bis nur der Kanonendonner bleibt, der das Ende eines Tributs verkündet.

Ich lege den Kopf zwischen die angezogenen Knie und schlinge meine Arme um die Beine. An so etwas darf ich nicht denken! Ich bin keine Mörderin, ich traue mich doch kaum, einen Fisch tot zu hauen. Wie sollte ich noch Schrecklicheres vollbringen?

Fest schließe ich die Lider und beschwöre den Gedanken an meine Familie herauf. Lieber habe ich ihre traurigen Gesichter vor Augen, als ein Gedankenschwert zu schwingen. David und Papa, was würden sie wohl in diesem Moment zu mir sagen? Ich sehe David vor mir. Er packt meine Schultern, sieht mich tief an und sagt: »Du packst das! Wenn du willst, kannst du alles.«

Er hat sich immer darauf verstanden, mir Mut zu machen und das Beste in mir zum Vorschein zu bringen. Er meinte stets, dass ich mich nicht verstecken müsse. Ich sei schön und intelligent und sowieso das tollste Mädchen, was er kenne. Daraufhin habe ich jedes Mal angefangen zu lachen. Auch jetzt stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich wünschte, ich müsste mir diese Worte nicht vorstellen, sondern könnte sie hören.

Plötzlich werde ich von einem kleinen Rumsen aus den Gedanken gerissen. Den Atem anhaltend lausche ich, ob neuerliche Geräusche ertönen. Eine Weile ist es ruhig, dann wieder – rums. Irritiert, aber auch neugierig schlage ich die Bettdecke zurück, um an der Tür zu horchen. Außer dem Rauschen meines Blutes vernehme ich nur Stille. Schon will ich ins Bett zurückkehren, da ertönt erneut ein entfernteres Rumsen.

Merkwürdige Geräusche, die des Nachts im Zug ertönen, gehen mich nichts an. Irgendwo an Bord sind Friedenswächter, die sich um unsere Sicherheit kümmern. Es ist nicht so, als würde ich gerne durch den dunklen Zug schleichen, aber mir drängt sich der Gedanke an Pon auf, dessen Zimmer ganz in der Nähe ist. Ich sollte wenigstens nach ihm sehen. Mit dem Vorhaben, notfalls vorzugeben, etwas zu trinken holen zu wollen, verlasse ich meinen Raum.

Im Gang brennen zum Glück noch die Wandlampen, wenn auch nur auf unterster Stufe. In ihrem spärlichen Schein erkenne ich, dass niemand im Flur ist, also schleiche ich in Richtung Speisewagen. Kurz vor der Verbindungstür, offenbart sich der Grund für das Rumsen:

Die Tür, welche in Pons Zimmer führt, kann sich nicht schließen, da ein Hausschuh auf der Schwelle liegt. Immer wieder versucht die Tür, zuzugleiten, und stößt gegen den Widerstand. Ein Blick in den Raum zeigt, dass Pon nicht da ist. Ich schubse den Schuh hinein und die automatische Tür gleitet geräuschlos zu.

Pon selber finde ich zum Glück schnell im Speisewaggon an dem Tisch, wo wir am Abend zu vor gegessen haben. Scheinbar findet er auch keinen Schlaf. Er sitzt auf einer der Bänke und hat die Knie ans Kinn gezogen, den Blick trübselig auf die dunklen Fenster gerichtet.

Erstaunt sieht er mich an, als ich eintrete. »Oh, hallo«, sagt er leise.

Ich stelle fest, dass es das erste Mal ist, dass wir miteinander reden. Bisher beschränkte unser Kontakt sich auf das Händeschütteln bei der Ernte. Ich lächle leicht. »Hey Pon. Was machst du hier?«

»Ich denke an das, was heute kommt«, flüstert er, den Blick jetzt gen Boden schweifend.

Ich lasse mich zu ihm auf die Bank gleiten, wahre aber ein Stück Abstand. Am Fenster laufen die Regentropfen entlang und malen Muster. »Es ist schwer, nicht daran zu denken«, gestehe ich. »Genau das hat mich auch aufgeweckt.«

Der kleine Junge seufzt viel tiefer, als ein Zwölfjähriger sollte. »Wie wohl das Kapitol aussieht?« Die Wange auf die Knie gelegt schielt er zu mir herüber.

»Hm …«, murmle ich gedehnt und lehne mich zurück, »ich stelle es mir hell erleuchtet vor. Bestimmt gibt es an jeder Ecke Straßenlampen. Und die Häuser, die sind groß und geräumig, voller Fenster.«

»Manche von ihnen ragen bis hinauf in die Wolken«, wirft Pon ein. »Außerdem glänzt alles, wie im Fernsehen. Bestimmt gibt es keine dreckigen Straßen oder Hafenratten.«

»Und überall laufen bunt gekleidete Leute herum, wie Papageien«, ergänze ich.

Er kichert, ehe er ernst wird. »Trotzdem habe ich Angst.«

Ich blicke auf meine Hände, die schon wieder zittern. »Ich auch.«

Ein wenig verlegen sitzen wir da, ehe Pon die Stille durchbricht. »Ich vermisse Distrikt vier.«

Da kommt mir eine Idee. »Möchtest du vielleicht ein Lied hören?«

Pon nickt stumm, ein wenig überrascht von dem plötzlichen Themenwechsel, aber ich muss an meinen Bruder und seine Lieblingslieder denken. Im Schneidersitz rutsche ich näher an Pon heran und traue mich, sachte den Arm um seine schmalen Schultern zu legen.

 

Tief unten,

Im Meer,

Im bunten Riff,

Wer lebt dort wohl?

Es ist die kleine Meerjungfrau,

In ihrem Muschelsplitterhäuschen.

 

Sieh,

Wie sie mit den Wellen schwimmt,

Hör,

wie lieblich sie singt,

Ein kleines Wunder im Meer.

 

Sieh,

Wie ihr Haar schimmert,

Hör,

Wie klar ihre Stimme ist,

Ein kleines Wunder im Meer.

 

Tief unten,

Im Meer,

Im bunten Riff,

Dort lebt die kleine Meerjungfrau,

Sie schwimmt mit den Wellen.

Ewig.

 

Ich bin nicht die beste Sängerin und singe eigentlich ausschließlich für Cyle, doch Pon stimmt es glücklich. Er legt seinen Kopf an meine Schulter. »Wie gerne hätte ich mal eine Meerjungfrau gesehen …«

»Ich bin sicher, das wirst du«, beruhige ich ihn und halte seine kindliche Hoffnung am Leben.

Für einen Moment verharren wir so, während der Zug uns unaufhaltsam näher an das Kapitol bringt.

»Leider dürfen wir nicht beide gewinnen«, meint Pon unvermittelt.

Für seine zwölf Jahre beeindruckt er mich immer wieder. Wäre er älter, er könnte der perfekte Karrieretribut sein. Mein jüngeres Ich hätte wahrscheinlich ununterbrochen Tränen in den Augen.

Caesar und Claudius haben Pon bereits unterschätzt, den Fehler werde ich nicht machen. Unser Team hat er gestern Abend um den Finger gewickelt, nun hängt es vor allem von seiner körperlichen Stärke ab und … vom Glück.

»Leider nicht. Aber wir müssen auch keine Feinde sein«, gebe ich leise zu bedenken. Er nickt. »Na komm, wir sollten zurück ins Bett und noch ein wenig schlafen«, versuche ich meine beste Große-Schwester-Stimme aufzulegen.

Ich muss ihn wenigstens ein bisschen beschützen. So viel, wie es mir angesichts der Arena möglich ist. Zumindest die größte Angst werde ich ihm doch wohl nehmen können?

In mir wächst der Beschluss, dass so jemand wie dieser Junge nicht sterben kann – nicht sterben darf. Die Erinnerung an seine ohnmächtige Mutter ist immer noch allzu präsent in meinen Gedanken. Stumm bringe ich ihn zurück zu seinem Zimmer. Vor der Tür bleiben wir stehen.

»Danke für das Lied, Annie. Du bist keine üble Sängerin«, sagt er und grinst, »aber auch nicht perfekt. Nicht so wie eine Meerjungfrau.«

»Das übe ich noch«, erwidere ich mit einem Zwinkern. »Schlaf gut, Pon.« Ich beobachte, wie er in seinem Abteil verschwindet, und gehe dann in das andere.

Pon wird Sponsoren bekommen, dessen bin ich mir sicher. Eigentlich sollten meine Sorgen sich um mich drehen, denn ich habe viel mehr Defizite als der wackere Pon. Aber dafür habe ich keine Kraft heute Nacht.

Müde gleite ich zurück in das riesige Bett. Von weiteren Träumen mit Finnick Odair bleibe ich zum Glück verschont. Doch sobald die ersten Sonnenstrahlen meine Augenlider kitzeln, fühle ich mich gleich weniger optimistisch. Es ist morgens – der Morgen unserer Ankunft im Kapitol.

 

 

Meer aus Farben

»Liebe Zuschauer, was halten Sie von unseren Tributen? Haben Sie schon einen Favoriten? Ich finde, dieses Jahr erwartet uns wieder eine vielfältige Mischung! Wird uns ein Außenseiter verblüffen oder kann Distrikt eins seine Siegesserie fortsetzen? Was meinst du, Claudius?

Nun Caesar, Distrikt neun hat uns dieses Mal eine schöne Überraschung beschert – ich bin gespannt, ob sie noch mehr davon bereithalten. Einzig von Distrikt vier bin ich ziemlich enttäuscht, ihr Kampfgeist hat stark nachgelassen. Nicht ein Freiwilliger!

Abwarten, Claudius, wie sich die Tribute bei der Eröffnungszeremonie präsentieren werden. Denn Sie wissen – noch ist alles möglich! Bleiben Sie dran, es wird spannend! Wir sehen uns heute Abend bei Capitol TV, Ihrem staatlichen Sender rund um die Hungerspiele.«

 

Als ich den Speisewagen für das Frühstück betrete, ist außer mir nur Cece da. Sie ist aufgerüscht wie immer und trägt Kostüm Nummer drei. Ihre bunte Lockenpracht hat sie zur Feier des Tages mit goldenem Glitzerstaub eingesprüht. Erfreut sieht sie auf, während ich unschlüssig in der Tür stehe. »Setz dich, setz dich«, flötet sie.

Auf dem Tisch reiht sich Leckerei an Leckerei, wie schon gestern Abend. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Ich nehme mir gleich zwei der luftigen Brötchen, die ganz anders schmecken als das Brot aus unserem Distrikt, in dem immer etwas Algen eingebacken werden. Auch an Wurst und Obst spare ich nicht. Alles ist so neu und ungewohnt, dass jeder Bissen ein Erlebnis ist. Es kann nicht schaden, wenn ich ein bisschen an Gewicht zulege, denn in der Arena wird Nahrung Mangelware sein. Wenigstens ergeht es mir ein einziges Mal im Leben in diesen letzten Tagen richtig gut.

Schließlich kommt auch der verschlafene Pon zu uns. Verschwörerisch lächelt er mich an und ich grinse zurück. Erst als wir beide fast fertig sind mit dem Frühstück und ich gierig die Reste mit einem Stück Brot aufwische, eröffnet Cece das Gespräch.

»Also, heute ist euer großer Tag! Deswegen müssen wir noch einmal alles durchgehen. Ihr wisst, dass heute Abend die große Wagenparade ist? Natürlich tut ihr das!«, sie lacht gackernd auf und wirft den Kopf in den Nacken, sodass es ein Wunder ist, dass ihre Perücke nicht herunterrutscht. »Eure Stylisten erwarten euch bereits vor Ort und morgen beginnt dann schon das Training! Da wir das Glück haben, fünf Sieger zur Verfügung zu haben, dachten wir, dass ihr jeweils zwei Mentoren als Trainer an die Seite gestellt bekommt.«

Ich nicke lustlos und spüle die Reste des Frühstücks mit Orangensaft hinunter. Solange Cece redet, werden meine düsteren Gedanken wenigstens leiser.

»Ihr könnt euch natürlich entscheiden, ob ihr zusammen oder getrennt trainiert! Aber das Wichtigste sind erst mal eure Outfits heute Abend! Ich bin überzeugt, dass ihr entzückt sein werdet! Wir haben uns etwas ganz Besonderes ausgedacht! Also, beeilt euch, wir sind bald da.« Fröhlich strahlend schenkt sie sich noch eine Tasse gelblichen Tees ein und macht sich mit dieser auf den Weg, um unsere Mentoren zu wecken.

Seufzend blicke ich ihr nach. Sie lässt uns ja nicht einmal die Chance, etwas zu sagen. Gleichzeitig frage ich mich, was Cece wohl unter ‚besonders‘ versteht. Ihr Kleidungsstil spricht nicht gerade für sie. »Ich hoffe, dass sie uns nicht in Fischkostüme stecken, so wie die Tribute vor ein paar Jahren …«, murmle ich an Pon gewandt.

Er grinst. »Oder Taucheranzüge in der Hitze!«

Die Outfits bei der großen Eröffnungsfeier, bei der wir uns das erste Mal dem Kapitol präsentieren werden, sind ein heikles Thema. Mitunter werden die Tribute in die grässlichsten denkbaren Kostüme gesteckt. Das Problem ist, dass manche der Stylisten die Besonderheiten der Distrikte etwas … eigenwillig interpretieren. Vor zwei Jahren steckten unsere Kandidaten in schillernden Stofffetzen, die angeblich an Fische erinnern sollten, und davor waren es hautenge Taucheranzüge. Und oft genug kommt es vor, dass die Tribute beinahe nackt, wie ein Stück Fleisch, präsentiert werden. So entblößt vor den hysterischen Massen aufzutreten muss die Hölle sein.

Pon ist das entscheidende Quäntchen zu jung, als dass er sich davor fürchten bräuchte, aber was wird der Stylist aus mir machen? Finnick Odair ist schließlich das beste Beispiel für jemanden, der sich vor allem dank des Aussehens Aufmerksamkeit gesichert hat. Ich bezweifle trotz seines Auftretens, dass er sich mit vierzehn dafür entschieden hat, in einem durchlässigen Fischernetz aufzutreten. Irgendein exzentrischer Modeschöpfer wird daran schuld sein. Hoffentlich bin ich nicht sein nächstes Opfer.

Draußen vor dem Fenster zieht die Landschaft inzwischen gemächlicher vorbei. Bald werden wir das Kapitol erreichen. Zur Ablenkung wende ich mich den Erdbeeren zu, die Pon in einer Obstschale entdeckt hat. Ich bin eigentlich längst satt, teile sie aber dennoch mit Pon. So werden die unablässigen Gedanken an das Kapitol und die Hungerspiele noch einen Moment von meinem Lieblingsobst zurückgedrängt.

»Probier sie mal mit Zucker«, haucht mir urplötzlich jemand von hinten zu. Erschrocken wirble ich herum – und funkle geradewegs Odair in die Augen. Er hält eine Schale mit Zuckerwürfeln in der Hand und zieht eine Augenbraue hoch, als er mich schon wieder erröten sieht. »Vielleicht entspannt dich das etwas«, ergänzt er und stellt die Schüssel auf dem Tisch ab.

Von der Seite höre ich ein unterdrücktes Prusten und sehe Amber, die hinter ihm hereingekommen ist, und versucht, ein Lachen zu unterdrücken. Möglichst kühl greife ich nach einem Zuckerwürfel und zerbrösle ihn über den restlichen Erdbeeren.

Zucker gab es daheim zuletzt, als Odair die Spiele gewonnen hat. An dem Tag seiner Rückkehr gab es ein großes Festmahl für alle Einwohner, bei dem ich zum ersten Mal überhaupt einen süßen und klebrigen Kuchen gegessen habe. Der Süßstoff ist ein seltenes Gut, den das Kapitol streng rationiert. Die meisten Distrikte bekommen ihn nur, wenn einer ihrer Tribute siegreich ist. Mit den Jahren habe ich den Geschmack fast wieder vergessen. Doch Odair hat nicht zu viel versprochen, die Erdbeeren schmecken jetzt noch intensiver.

Bei meinem überraschten Gesichtsausdruck breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Nicht so übel, oder?«

Ich schüttle den Kopf. »Das ist ... fast schon zu süß. Aber nur fast.«

Gerade setzt er zu einer Erwiderung an, da schreit Pon laut auf und deutet aus dem Fenster. Draußen kommen die ersten Häuser in Sicht. Der Zug biegt um die Kurve und verlangsamt sich zusehends. Die Aussicht ist unglaublich. Ein riesiger See mit einer großen Fontäne erstreckt sich vor uns, umsäumt von gläsernen Türmen. Dahinter liegt im Morgendunst verborgen die eindrucksvolle Skyline der Hauptstadt.

Das Panorama verschlägt mir die Sprache. So sehr uns das Kapitol straft, ich muss gestehen, der Anblick dieser riesigen Stadt mitten in den Bergen hat etwas Majestätisches. Staunend beobachten wir, wie die Prunkbauten näher kommen.

Die Bahn schwebt auf den Schienen ein gutes Stück über der Erde, sodass wir einen perfekten Ausblick auf die Menschenmassen haben, die unten auf den farbenfroh gepflasterten Straßen flanieren. Die ganze Stadt sieht wie ein einziges buntes Meer aus. Das Beeindruckendste sind die Gebäude, von denen einige bis in den Himmel zu reichen scheinen. Kein Vergleich zu den kleinen Hütten und Häusern daheim. Ehe wir uns versehen, läuft der Zug schon in den Bahnhof ein.

Unmengen von auffällig gekleideten Leuten drängen sich am Bahnsteig, nur um uns zu sehen. Selbst durch die geschlossenen Fensterscheiben ist ihr Jubel hörbar. Aber in Wirklichkeit warten sie nur darauf, dass wie in der Arena sterben. Und doch fühlt es sich für einen Moment an, als wären wir etwas Besonderes und nicht die zum Tode verurteilten Tribute.

Ruckend stoppt der Zug. Cece kommt zurück in den Waggon gehastet und faucht, dass wir uns beeilen sollen. In aller Eile greife ich nach der letzten Erdbeere, doch Finnick schnappt sie mir vor der Nase weg. Zeit, mich darüber zu ärgern, bleibt nicht, denn schon werden wir Richtung Ausgang gedrängt. Hinter den geschlossenen Türen höre ich die Menge unsere Namen brüllen. Obwohl es immer noch kühl ist, werden meine Handflächen feucht.

Cece packt mich und Pon bei den Schultern. »Denkt daran – Winken, winken und noch mehr winken«, flötet sie, dann öffnet sich zischend die Tür und die Show beginnt.

Jubel schlägt uns entgegen wie eine Flutwelle. Cece schreitet winkend die Stufen hinab, dann folgen wir Tribute und die Mentoren bilden die Nachhut. Der Hüne Trexler stützt die alte Mags, die mit unserer flinken Betreuerin nicht Schritt halten kann und auch Floogs mit dem steifen Bein humpelt hinten drein. Wieder schirmen Friedenswächter uns von der Menge ab, wofür sie, anders als in Distrikt vier, ganze Arbeit leisten müssen.

Mich beschleicht das Gefühl, dass mindestens die Hälfte des Jubels allein Finnick Odair gilt, dennoch ist es überwältigend. Sogar die Luft scheint hier anders zu riechen, irgendwie blumiger. Zaghaft hebe ich meine Hand und bewege sie ein wenig hin und her.

Pon dagegen stellt sich viel besser an. Er strahlt über das ganze Gesicht und schwenkt ausgelassen den Arm. Das Kapitol liebt es. Blumen werden uns zugeworfen und säumen unseren Weg.

Bei der Hälfte des Wegs legt Odair mir von hinten die Hand auf die Schulter. »Stell dir vor, diese Leute wären alles bloß Familienangehörige und Freunde von dir. Tu so, als würdest du dich freuen, sie zu sehen. Und wenn das nicht funktioniert, stell dir vor du bist in einem Park mit vielen exotischen Tieren, die alle nur darauf warten, von dir gestreichelt zu werden«, flüstert er mir ins Ohr.

Sein Vergleich klingt zwar absurd, aber tatsächlich hilft die Vorstellung, dass der Mann im gelben Federmantel, der lautstark meinen Namen ruft, bloß ein komischer Vogel ist. Ich muss das Kichern zurückhalten, während ich mir einen langen Schnabel anstelle seines tiefrot geschminkten Munds denke. Dem Vogelkerl scheint das Grinsen in meinem Gesicht zu gefallen und er wirft Luftküsse zurück.

Ich bin etwas angewidert davon, doch Odair schiebt mich mit sanftem Druck auf die Schulter weiter. »Ignorieren oder erwidern«, zischt er aus dem Mundwinkel, während er selber seinen Fans zuzwinkert und Liebesbekunden erwidert.

Und schon finde ich einen neuen Paradiesvogel, dem ich zuwinken kann. Odairs Tipp ist das erste Vernünftige, was er von sich gegeben hat. Vielleicht taugt er doch zum Mentor. »Danke«, flüstere ich ihm zu.

Vor dem Bahnhof warten noch mehr Menschen auf uns. Wir werden zu einem großen schwarzen Auto mit getönten Scheiben geführt. Cece seufzt schwer. Sie scheint enttäuscht, dass unser kleiner Auftritt schon wieder vorbei ist. »Sie lieben euch!«, ruft sie begeistert aus. Sobald wir eingestiegen sind, drückt sie sich an das Fenster, um einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das leiser werdende Publikum zu werfen.

»Na klar lieben sie uns.« Amber verdreht die Augen. »Sie können es doch gar nicht abwarten, dass die beiden sich zusammen mit den anderen die Köpfe einschlagen.«

Mags wirft ihr einen strengen Blick zu und sie schmeißt sich mit verschränkten Armen in einen Sitz im Heck.

Erleichtert, der Menge entkommen zu sein, lasse ich mich in das weiche Lederpolster neben Pon fallen, dessen Strahlen langsam verblasst. Die älteste Siegerin setzt sich uns gegenüber und streicht ihm zärtlich über die Hand. »Keine Sorge, jetzt werdet ihr bloß ein wenig frisiert. Das wird vielleicht ein bisschen komisch, aber euch erwartet nichts Schlimmes.«

Verlegen schiebe ich meine Hände, die das Zittern seit gestern nie ganz eingestellt haben, unter die Oberschenkel.

»Ich bin stolz auf euch! Und heute Abend werdet ihr ihnen noch eine viel bessere Show bieten, das habe ich im Gefühl«, mischt Cece sich lautstark ein.

Ich bin froh, dass der Fahrer aufs Gas tritt und wir zumindest diese Menge endlich hinter uns lassen. Erst jetzt bemerke ich die Anspannung in meinen Gliedern. Schultern und Kiefer sind total verkrampft und ich spüre, wie sich Bauchschmerzen ankündigen.

Die Hungerspiele haben bereits begonnen.

Fleischbeschau

Das Vorbereitungsgebäude ist ein riesiger Glaskomplex, in dem jeder Distrikt seinen eigenen Bereich hat. Von den anderen Tributen sehen wir nichts. Pon und ich werden getrennt in kleine geflieste Kabinen zur ‚Einstellung auf Beauty Zero‘ gebracht. Was immer das heißen mag.

Eine blecherne Stimme aus einem Lautsprecher in der Ecke verkündet mir, dass ich mich nun ausziehen müsse, um geduscht zu werden. Nur widerstrebend komme ich der Bitte nach. Das Gefühl vieler unsichtbarer Kameras auf mir schickt Gänsehaut über meinen entblößten Körper. Einzig die neue Kette und die Muschelspange von Mama behalte ich an.

Eine Klappe in der Wand öffnet sich und mir wird befohlen, alle Sachen hineinzulegen. Kaum habe ich das getan, schnappt sie zu. Dafür erschrecken mich nun eiskaltes Wasser und Seife, die von der Decke herabrieseln.

Nachdem ich den Duschgang überstanden habe, meine Haare von einem automatischen Haartrockner geföhnt und geglättet wurden und ich nach Blumen dufte, öffnet sich ein Durchgang in ein größeres Zimmer.

Wände und Boden sind auch hier vollständig gekachelt. Das komplett metallene Interieur erinnert an die Fabriken, in denen der fangfrische Fisch ausgenommen wird. Verloren liegt ein zarter Seidenmantel auf einem Hocker mitten im Raum. Nach einem Moment des Überlegens schlüpfe ich hinein und setze mich. Zwischen all dem blanken Stahl ist es kalt. Mir läuft ein neuerlicher Schauer über den Rücken. Ich muss daran denken, wie viele Tribute vor mir hier wohl hergerichtet wurden, nur um anschließend ihr Leben in der Arena auszuhauchen. Schön bis in den Tod.

Endlich gleitet eine verborgene Tür am Ende des Raumes auf und drei glitzernde Personen betreten ihn. »Oh schaut nur! Was für eine Schönheit! Aus dir können wir viel rausholen, Roan wird begeistert sein«, zwitschert die Kleinste von ihnen, die aussieht wie ein menschlicher Kolibri, ganz in schillernde Blau- und Grüntone gekleidet. Sie kommt bemerkenswert geschwind auf ihren hohen Schuhen herangelaufen und umfasst meine Wangen mit ihren schmalen Händen. »Wunderbar klare Poren, Liebes! Und was für eine entzückende Haarspange! Keine Sorge, diese Sommersprossen kriegen wir bestimmt versteckt.«

Ich spüre ihren Atem auf der Haut, während sie mich gründlich mustert. Sämtliche Widerworte bleiben mir im Hals stecken und ich ertrage es, dass sie ungeniert Gesicht und Haare befingert, obwohl ich ihr am liebsten sagen würde, dass meine Sommersprossen genauso zu mir gehören wie die blau-grünen Augen.

Die anderen beiden erklären, dass sie das Vorbereitungsteam sind. Roan, der hauptverantwortliche Stylist, fehlt noch. Bevor ich ihm vorgeführt werde, werden die drei mich komplett ‚überholen‘. Was das bedeutet, soll ich in den nächsten Stunden deutlich zu spüren bekommen.

Die Kolibrifrau, die sich als Rosetta vorstellt, nimmt mir den dünnen Mantel ab und setzt ihre Begutachtung am Rest meines gänsehautüberzogenen Körpers fort. Beschämt versuche ich, mich mit den Händen zu bedecken, doch sie zieht mein Handgelenk mit sanftem Druck zurück. »Nichts, was ich nicht schon gesehen hätte. Keine Sorge, wir haben rein professionelle Interessen!«

Sie klemmt sich eine kleine Lupe an ihr linkes Auge, an der sie immer wieder hin und her dreht. Langsam gleitet ihr Blick über jeden Zentimeter unbedeckter Haut, begleitet von leisem Gemurmel, dessen Sinn sich mir nicht erschließt. Ihre beiden Kollegen nicken hingegen verständnisvoll und machen eifrig Notizen auf einer Art gläserne Scheibe.

Ich bekomme einen Eindruck davon, wie sich Schlachtvieh fühlen muss, kurz bevor es dem Ende entgegensieht. Nach eingehender Musterung übergibt die Frau mich den anderen, mit der knappen Anweisung, eine gründliche Enthaarung vorzunehmen. Daheim sind solche Sachen nebensächlich, doch hier wird anscheinend großer Wert auf eine glatte, makellose Haut gelegt. Ich verstehe nicht, warum die Härchen so störend sind, da ich mit der Tatsache aufgewachsen bin, dass der Mensch Haare am Körper hat. Aber ich stelle keine Fragen, sondern ergebe mich lieber meinem Schicksal.

Es dauert nicht lange und ich bereue es, nichts gesagt zu haben. Den Rücken auf einem kalten Metalltisch, liege ich da wie ein Fisch auf dem Trockenen, während das Vorbereitungsteam mit großen Wachstreifen jeden Zentimeter von mir bearbeitet. Ich bin der festen Überzeugung, dass sie nicht nur Härchen, sondern auch den Rest meiner Haut entfernen, so sehr brennt die Prozedur.

Ab und zu kommt die Kolibrifrau zu mir, um mich zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Ihr wildes Geplapper springt von einem Thema zum nächsten, ganz wie ein Kolibri von Blume zu Blume schwirrt. Es hat fast schon hypnotische Wirkung, dem melodischen Auf und Ab ihrer Stimme zu lauschen. Ich habe wirklich das Gefühl, dass sie ein Vogel ist.

Endlich sind die drei zufrieden mit meiner neuen Haarlosigkeit. Ich falle beinahe um, als ich gebeten werde, aufzustehen, so sehr schmerzen sämtliche Gliedmaßen. Das anstehende Bad erscheint mir jetzt besonders verlockend. Aber schnell stellt sich heraus, dass der grünliche Schaum wenig angenehm ist, sondern erst recht brennt. Mit zusammengepressten Lippen lasse ich auch das über mich ergehen, ebenso wie die darauffolgende zweite Musterung. Erneut werde ich mit Pinzetten bearbeitet, abgeduscht und eingecremt, ehe mir der Seidenmantel wieder übergestreift wird.

Inzwischen habe ich kein Gefühl mehr in Armen und Beinen, abgesehen von einem dumpfen Kribbeln. Mein Zeitgefühl ist ebenso abhandengekommen. Auf jeden Fall bin ich schon eine Ewigkeit hier drinnen.

Zur Abwechslung wird nun das Gesicht bearbeitet. Die kleine Kolibrifrau umschwirrt mich, während sie meine Augenbrauen zupfen, und redet unablässig davon, wie hübsch ich bin und was für eine Schande es sei, dass so eine Schönheit wie ich in einem Distrikt geboren wurde.

Mitunter frage ich mich zwar schon, wie es wäre, ein sorgloses Leben im Kapitol zu genießen. Aber wenn ich mir diese schrill gekleideten, affektierten Leute so angucke, dann bin ich doch froh, bloß aus Distrikt vier zu sein. Obwohl mein Vorbereitungsteam auf seine Weise irgendwie drollig ist. In ihrer ungebremsten Begeisterung erscheinen sie mir wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal am Riff tauchen darf und all die bunten Fische und Korallen sieht.

Der Frieden hält jedoch nicht lange. Die Stimmen meiner Crew werden immer lauter und schaukeln sich gegenseitig hoch, bis ich vorsichtig ein Lid hebe. Die Hände in die Hüften gestemmt, stehen sie voreinander und streiten sich darüber, wie sie meine Haare färben sollen.

Kolibrichen, deren richtigen Namen ich vergessen habe, scheint der Meinung zu sein, dass mir grüne Highlights hervorragend stehen würden. Die beiden anderen, Vivette und Alexis, sind hingegen überzeugt davon, dass Gold viel besser zu meinem Kostüm passen wird. »Süße, du willst doch sicher keine grünen Strähnchen haben, oder?«, versucht Vivette verzweifelt, mich auf ihre Seite zu ziehen.

»Eh … ich bevorzuge es natürlich«, antworte ich, überrascht, dass überhaupt nach meiner Meinung gefragt wird.

»Siehst du, Rosetta? Grüne Strähnchen sind ja so was von OUT!«

»Ach ja? Gold ist ja wohl seit fünf Jahren out!« Kolibrichen funkelt ihre Kollegin unter ihren mit Glitzersteinen besetzten Wimpern heraus an.

Angesichts ihres inbrünstigen Streits über Haarfarben muss ich ein Grinsen unterdrücken. Ich kann ihnen nur schwer sauer sein, wenn sie so unbedarft wie Kinder miteinander zanken.

»Es ist die Farbe der Sieger. Und das ist derzeit sowas von im Trend«, mischt Alexis sich ebenfalls ein.

Interessant, was gerade im Kapitol angesagt ist und hauptsächlicher Lebensinhalt dieser drei Gestalten zu sein scheint. Gold ist sicherlich nicht hässlich, aber ich kann mir nur schwer Haare in dieser Farbe vorstellen. Grün ist allerdings keine bessere Wahl. Ich stelle es mir vor wie schleimige Algen.

»Ich bitte dich, Meerjungfrauen leben im Meer! Und grün ist eine Meeresfarbe!«, giftet Kolibri Alexis wiederum an.

»Meerjungfrauen, ihr majestätisches Haupt, bedeckt von rotem Goldhaar …«, summe ich leise vor mich hin, denn bei Kolibrichens Worten fällt mir gleich dieses alte Lied aus Distrikt vier ein. Jedes kleine Kind daheim weiß, dass Meerjungfrauen in den Legenden rote Haare haben. Ihre Strähnen sind so wertvoll wie pures Gold, darum wird es manchmal auch Goldhaar genannt.

Plötzlich packt Vivette mich an der Schulter. »Rot, welch ausgezeichnete Idee! Hörst du Rosetta? Hast du gehört, was sie gesungen hat?«

Kolibrichen rollt mit den Augen. »Ist ja gut, ich hab es doch gehört. Und ja, rot ist in der Tat eine ausgezeichnete Idee. Ich erzähle gleich Roan davon!«

Begeistert begutachten mich die drei. »Es wird dir ausgezeichnet stehen, vertrau uns!«, rufen sie alle gleichzeitig »Das wird Blicke auf sich ziehen!«.

Ich nicke stumm, bis Kolibri die beiden anderen wegscheucht und sie anweist, nicht so aufdringlich zu sein. Sie zwinkert mir verschwörerisch zu und verschwindet dann, um Roan zu holen. Ich freue mich nicht darauf, schon wieder nackt begutachtet zu werden.

 

Ich weiß nicht, was ich von Roan halten soll. Er muss bestimmt schon 50 Jahre alt sein, aber er sieht aus wie ein grotesker, altersloser Hybrid. Ich habe ihn ein paar Mal im Fernsehen gesehen, doch die Wirklichkeit ist weitaus ungnädiger. Ich erkenne die Falten, die auch seine vielen Schönheitsoperationen nicht glätten konnten, genauso wie die unzähligen Schichten von Make-up, die ihn nur aus der Ferne besser aussehen lassen, solange die Kameras nicht zu nah dran sind.

Seine Haare sind knallblau gefärbt und vor einiger Zeit hat er sich sogar für ein Paar Kiemen unters Messer gelegt. Jeder Zentimeter seiner Erscheinung strotzt nur so vor Klischee über Distrikt vier. Nach all den Jahren, die er unser Stylist ist, scheint er eine gewisse Obsession für das Meer entwickelt zu haben.

Zuletzt erregte er Aufsehen, als er die Tribute in hautenge Netze, besetzt mit echten Fischschuppen, zwängte. Vor allem der Geruch sorgte tagelang für Gesprächsstoff im Kapitol.

Wir sitzen uns im Nebenraum meines Erneuerungsstudios gegenüber, er voll bekleidet in einem geschuppten Anzug, ich in dem dürftigen Seidenmantel. Noch hat er kein Wort gesagt und lässt seinen Blick ebenso prüfend über mich gleiten, wie ich ihn gerade mustere. Schlussendlich zieht er einen Mundwinkel hoch und winkt Kolibrichen näher zu sich heran. »Rot ist gut. Es wird sie … wilder machen. Sonst ist sie doch recht langweilig. Hübsch, aber trist.«

Er dehnt die Worte beim Sprechen in die Länge, sodass man ungeduldig an seinen Lippen hängt und darauf wartet, dass er endlich fertig ist. Die ganze Zeit über ruht sein Blick unveränderlich emotionslos auf mir. Mich beschleicht das Gefühl, dass er versucht, die Gedanken von mir abzulesen. »Aber wenn sie erst mal eine Meerjungfrau ist …«, er schnalzt mit der Zunge. »Steh auf!«

Ich komme mir nur umso mehr wie Schlachtvieh vor, als Vivette daraufhin den Seidenmantel wieder von meinen Schultern zieht und ihm stolz ihre Arbeit präsentiert. Roan schreitet einmal um mich. Sein Blick brennt auf mir wie die sengende Berührung einer Qualle. Ich merke, wie seine Augen über meine Brüste gleiten und seine aufgespritzten Lippen zucken. Er lässt ein kleines Seufzen hören. »Da müssen wir polstern«, murmelt er. »Sonst sieht man nachher nichts.«

Zum Schluss greift er nach einer Haarsträhne und reibt sie zwischen den Fingern. Ich muss dem Drang widerstehen, seine Hand wegzuschlagen. »Schneidet den Spliss und bringt sie zum Glänzen, dann könnt ihr Färben«, weist er das Vorbereitungsteam an. »Keine Strähnchen, alles. Und lasst die Spange.«

Kaum, dass er losgelassen hat, ziehe ich mir hastig den Mantel wieder an. Das gierige Flackern in seinen Augen ist mir nicht entgangen, obwohl er sich so enttäuscht gibt. Nach seiner Begutachtung fühle ich mich wertlos und beschmutzt.

Vermutlich bin ich das für ihn auch, nicht mehr als ein Stück Fleisch, das er der hungrigen Zuschauermeute schmackhaft präsentieren will. Jeder weiß, dass er ein guter Freund von Präsident Snow ist und somit einer der größten Befürworter der Hungerspiele. Dieser ganze Zirkus ist sein Lebensinhalt.

Mein Vorbereitungsteam geleitet mich zurück in das Erneuerungsstudio, wo Alexis das Haarfärbemittel vorbereitet. In der Zwischenzeit bekomme ich die Gelegenheit etwas zu essen, was nach dem langen Tag auch nötig ist. »Keine Sorge, die Farbe hält nur für den heutigen Tag«, teilt mir Kolibrichen mit, während ich einen Hähnchenschenkel verspeise.

Das erleichtert mich zumindest ein wenig. Dann kann meine Familie wenigstens ihre langweilige Annie in der Arena wiedererkennen.

Ich habe großen Hunger und würde am liebsten noch mehr probieren, doch Alexis rückt mit dem Färbemittel an und Vivette zückt ein Fläschchen Nagellack, sodass ich wehmütig den halben Schenkel zurücklege.

Während sie mich in stinkende Gerüche hüllen, versuche ich, die Gedanken treiben zu lassen. Vor meinem inneren Auge beschwöre ich die Salzwiesen daheim herauf, das wogende Meer. Lange währt diese Entspannung allerdings nicht, denn das Fluchen von Vivette, die eine Nagellackflasche fallen gelassen hat, holt mich in die Gegenwart zurück.

Mit grün schimmernden Fingernägel und neuer Haarpracht – die ich in Ermanglung eines Spiegels nicht sehe – bringt das Team mich anschließend wieder in das Nebenzimmer, wo Roan bereits mit meinem Kleid wartet. Oder besser gesagt mit den Stoffstücken, die eins darstellen sollen. Ich erkenne nicht, wie sie zusammenhängen, aber es ist offensichtlich, dass ich dem Kapitol einen großzügigen Blick auf meinen Körper geben werde.

»Du wirst stark aussehen«, flüstert mir Kolibrichen ins Ohr, als sie sich an dem Kleid zu schaffen macht.

Ich glaube ihr nicht, doch sobald ich in den Spiegel sehen darf, zeigt sich mir ein ganz anderer Mensch. Meine hüftlangen Haare sind jetzt dunkelrot und heben sich deutlich von dem bauchfreien grünen Oberteil und dem Rock, die mit ein paar dekorativen Schnüren verbunden sind, ab. Passend dazu pinselt Vivette mir ein schuppiges Muster auf die Beine. Zusammen mit den Schuhen sehen sie aus wie eine Flosse. Als Clou binden sie mir noch ein silbernes Fischernetz um die Hüfte.

Ich mag zwar eine sehr kitschige Meerjungfraueninterpretation sein, aber der Aufzug lässt mich wie eine von den typischen Karrieretributen wirken, die selten ihre Reize verbergen. Unter all dem Make-up, das Kolibrichen mir ins Gesicht gezaubert hat, erkennt man meine Durchschnittlichkeit nicht mehr, genauso wenig wie die Sommersprossen. Im Gegenteil, mit dem tiefen Ausschnitt und dem kurzen Rock scheint es, als wolle ich dem gesamten Kapitol den Kopf verdrehen. Auf eine verquere Art und Weise sehe ich tatsächlich stark anstatt schüchtern aus.

Angesichts meines Aufzugs bin ich gespannt, wie wohl der kleine Pon aussieht, den ich gleich unten, in den ‚Ställen‘ treffen werde, wie man mir sagt. Mitsamt dem Vorbereitungsteam fahre ich in das Erdgeschoss herunter, von dem aus die Wagenparade starten wird. Uns empfängt ein würziger Duft nach Stroh.

Überall stehen Pferde, die vor die kleinen Streitwagen gespannt werden auf denen sie uns durch die Straßen des Kapitols ziehen werden. Aber viel aufregender ist der Anblick dahinter – zum ersten Mal sehe ich die anderen Tribute. Es macht mir Angst, dass sie plötzlich zum Greifen nahe sind. Wieder werden die Hungerspiele ein Stück realer. Ich merke, dass die Bauchschmerzen zurückkehren.

Wir sind Distrikt vier, was bedeutet, dass unser Streitwagen einer der Ersten ist, die das Studio verlassen. Ich werde keine Zeit haben, mich auf die Situation einzustellen.

Pon und sein eigenes Vorbereitungsteam sind bereits am Wagen, gemeinsam mit Amber und Cece. Schon von weitem erkenne ich das breite Strahlen unserer Betreuerin. Überschwänglich winkt sie das Team heran. Bei ihr angekommen, nimmt sie mein Gesicht in die Hände und brüllt mir über den Lärm von knapp vierundzwanzig anderen Grüppchen »Schön siehst du aus« entgegen.

Aber ich habe nur Augen für Pon, den sie augenscheinlich passend zu mir als Nix darstellen wollen. Auch er hat rote Haare bekommen und trägt eine Hose, die ähnlich wie mein Rock in Silber und Grün schimmert. Sein schmächtiger Oberkörper ist frei bis auf ein silbernes Fischernetz, das sie zu einer Weste verarbeitet haben.

Am schlimmsten ist jedoch der klägliche Versuch, Pon mit Make-up Bauchmuskeln aufzumalen. Man erkennt es nur von Nahem, aber ich frage mich, ob die Leute im Kapitol wirklich glauben werden, dass ein Zwölfjähriger solche Muskeln hat. Angesichts der beiden Vorbereitungsteams, die aufgeregt schnatternd zusammen stehen und wieder einmal den Eindruck von Zootieren vermitteln, bin ich mir da nicht sicher.

Pon lächelt mir zu und schlüpft zwischen den Erwachsenen an meine Seite. »Du hast eindeutig das bessere Outfit von uns beiden erwischt.« Er deutet auf seine eigenartige Weste und schneidet eine Grimasse.

Seufzend zupfe ich an dem kurzen Rock herum, was mir einen kritischen Blick vom Kolibri einbringt. »Findest du? Es kommt mir ein bisschen sehr gewagt vor.«

Er grinst. »Wir sind alle albern. Guck dich mal um.«

Und er hat recht, die meisten Tribute hat es nicht besser erwischt. Distrikt drei, der Technologiedistrikt, ist in metallisch wirkende Ganzkörperanzüge gehüllt und die armen Kinder aus Zwölf sind augenscheinlich nackt und nur von einer dunklen Schicht Kohlestaub bedeckt. In Anbetracht dessen schätze ich mich doch glücklich in meinem Outfit.

Eine knackende Stimme aus einem Lautsprecher verkündet, dass wir noch zwei Minuten haben. Aufregung macht sich breit. Hektisches Summen wie im Bienenstock wird laut und die Stylisten nehmen den letzten Feinschliff an ihren Tributen vor. Pon und ich werden von Kopf bis Fuß überprüft, ein paar Falten zurechtgezupft und schlussendlich eine große Menge Haarspray auf unsere Frisuren gesprüht, damit sie ja nicht im Fahrtwind zerstört werden.

Hustend und mit tränenden Augen steigen wir auf den Streitwagen. Noch eine Minute. Ich kämpfe darum, nicht an der Haarspraywolke zu ersticken, da drückt Roan uns beiden jeweils einen großen, goldenen Dreizack in die Hand. Es ist keine echte Waffe, dafür ist er zu leicht und die Spitzen enden in harmlosen Rundungen. Mit einer erhobenen Augenbraue versichert Amber uns grinsend, dass wir zumindest etwas gefährlich aussehen. Damit ist unser Aufzug komplett. Jetzt heißt es warten.

Ich schaue mich ein letztes Mal in der großen Halle um. Am Wagen aus Distrikt sechs erspähe ich Odair, der sich – wie sollte es anders sein – mit einer Frau aus dem Kapitol unterhält. Die übrigen Mentoren sehe ich nirgends. Die Lautsprecherstimme verkündet, dass es noch dreißig Sekunden bis zur Eröffnung sind. Gemächlich küsst Odair die Dame auf die Wange und macht sich dann auf den Weg zu uns.

Bei uns angekommen, schnappt er sich eine Handvoll Zuckerwürfel aus einem Spender und füttert damit beiläufig die dunkelbraunen Pferde, während er uns mustert. Im Gegensatz zu Roan verharren seine Augen an anständigen Stellen. Sein übliches Grinsen bleibt ebenfalls fort. »Wohin ist denn Annie verschwunden?«, fragt er neckisch.

Diesmal werde ich nicht rot, dafür ist seine Frage zu offensichtlich. »Sie wurde in eine kitschige Meerjungfrau verwandelt«, informiere ich ihn und wedle mit einer Strähne meines gefärbten Haares. »Wenigstens ohne Algen auf dem Kopf.«

Er lächelt. Nicht hämisch, als wolle er mich auslachen. Es erweckt mehr den Anschein von ... Mitleid? Aber wer weiß schon, was in Finnick Odair vorgeht. »Gut so.« Dann lehnt er sich vor und ergreift meine und Pons freie Hände. »Fühlt euch so, als ob ihr bereits die Sieger wärt. Stellt euch vor, das wären alles Leute aus Distrikt vier. Zeigt Freude, selbst wenn ihr keine fühlt«, weist er uns beide an. »Lacht und winkt, Hauptsache ihr steht nicht steif da. Ab heute Abend seid ihr nicht mehr euer altes Selbst.«

»Zehn Sekunden«, unterbricht ihn eine Ansage.

Zum Abschluss drückt er noch einmal meine Hand und nickt uns Tributen zu. »Schön und stark«, wispert er, dann erklingt das Signal, dass die Wagenparade eröffnet und er tritt zurück.

Mit einem Ächzen schieben sich die großen Torflügel auseinander und lassen den Jubel der Menge herein. Laute Rufe und Pfeifen branden über uns hinweg wie eine Springflut. Alle Gedanken an Odairs rätselhaftes Benehmen werden von der Welle fortgerissen. Ein Rucken geht durch den Wagen und wir setzen uns in Bewegung.

Ich muss mich dem Kapitol beweisen.

 

Der Blumenkranz

Eine riesige Sonne strahlt mir direkt ins Gesicht. Oder sind es doch nur Scheinwerfer? Ich erkenne nichts, als wir das Erneuerungscenter verlassen. Überall ist Licht und Lärm. Beinahe vergesse ich, mich am Wagen festzuhalten, und falle hinab. Haltsuchend greife ich nach der Rosendekoration und umklammere sie mit der freien Hand, während ich mit der anderen den Dreizack halte. Jubel und Geschrei drängen von überall auf uns ein. Musik dröhnt.

Es braucht einen Moment, bis ich mich zurechtfinde. Vor uns erstreckt sich die lange Hauptstraße des Kapitols, genannt Korso, beleuchtet von unzähligen Lichtmasten. Auf riesigen Tribünen entlang des Weges sitzt unser buntgekleidetes Publikum und jubelt uns frenetisch zu.

Es ist unmöglich, sich zu entscheiden, wohin man zuerst sieht. Rufe und Lichter prasseln erbarmungslos auf mich ein wie Gewitterregen. Genau jetzt würde ich am liebsten Zuhause am Strand sitzen, weit weg von allen Menschen. Finnick Odairs Worte kommen mir wieder in den Sinn. Schön und stark. Ich muss mein Bestes geben. Wenigstens für diejenigen, die mir in Distrikt vier zusehen.

Auf einer riesigen Leinwand wird live unser Wagen übertragen. Auf der linken Seite ist eine Großaufnahme von Pon zu sehen, der breit lächelnd den Massen zuwinkt und sie in seinen Bann zieht. Auf der rechten Seite bin ich, mit zusammengepresstem Kiefer und schreckensgeweiteten Augen, bleich wie eine Ertrunkene. Ich hebe mühsam die Mundwinkel und beobachte, wie sich das Bild langsam verändert.

Wieder einmal hilft mir Odairs Tipp, indem ich mich der Vorstellung hingebe, dass diese Leute nicht auf unseren Tod warten, sondern dass wir längst ihre Helden sind. Mit jedem Meter, den wir zurücklegen, verschwindet mein altes Selbst mehr. Ab sofort bin ich nur noch Annie, die Tributin.

Ich löse die Hand vom Rand des Wagens und fühle, wie ein Teil der Anspannung mich verlässt, als ich der Menge zuwinke. Mein schönstes Lächeln auf den Lippen, winke ich erst zaghaft, dann aber immer überzeugender. Das Publikum macht es zum Glück einfach, denn sofort höre ich hunderte Menschen nach mir rufen.

Zu meiner Linken verteilt Pon inzwischen lässige Handküsschen, was allerlei begeisterte Schreie unter den Zuschauern auslöst. Einen abwegigen Moment lang überlege ich, ob ich auch Küsschen verteilen könnte, komme dann aber zu dem Schluss, dass ich es nicht übertreiben sollte.

Die Kameras lassen von uns ab, um sich auf die nachfolgenden Wagen zu richten, und genauso schnell, wie sie uns geliebt haben, wendet das Publikum sich den nächsten Tributen zu. Vorsichtig atme ich aus. Jetzt, wo wir nicht länger im Fokus stehen, geht es mir schon viel besser.

Dennoch werfen die Leute uns immer noch eifrig Blumen zu. Von überall her kommen sie geflogen, die verschiedensten Arten von ihnen. Die meisten landen an den Seiten der Straße, außerhalb unserer Reichweite. Das ist auch besser so, sonst müssten wir uns in Acht nehmen, besonders vor den geliebten Rosen des Präsidenten mit ihren Dornen.

Der überwiegende Teil des Publikums ist erwachsen, doch vereinzelt sehe ich Kinder, die mit großen Augen dem bunten Treiben folgen. Ich bezweifle, dass sie begreifen, was hier geschieht. In ihren runden Gesichtern steht nur Begeisterung für die aufregenden Kostüme geschrieben. Ihnen kann ich kaum böse sein. Sie können nichts dafür, hier aufzuwachsen.

Ich lächle einem kleinen Mädchen zu, das in ein wahrlich buntes Blumenmusterkleid gehüllt ist und einen dazu passenden Blumenkranz trägt. Schon die Jüngsten werden hier auf den Modezirkus vorbereitet.

Erstaunt sieht sie mich an, dann breitet sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus. Sie zupft am Ärmel ihrer Mutter und stupst sie an, doch deren Aufmerksamkeit ist ganz bei den Tributen aus Distrikt Zwölf, die gerade alle mit ihrer Nacktheit verblüffen, wie uns die Leinwände zeigen. Vermutlich muss ich Roan danken, dass er mir immerhin noch einen Rest Stoff zugestanden hat, um meine Würde zu bewahren.

Wir nähern uns dem zentralen Platz vor dem Trainingscenter und ich winke ein letztes Mal dem Mädchen zu. Sie lässt von ihrer Mutter ab. Aber anstatt zurückzuwinken, rupft sie sich den Blumenkranz aus dem Haar und pfeffert ihn in meine Richtung. Hastig beuge ich mich weit nach vorne, so dass unser Streitwagen in eine fast schon bedrohliche Schräglage gerät, und fange den Kranz auf, bevor er auf der Straße landet. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht weil sie die Einzige ist, die mich nicht voller Erwartung an einen spektakulären Tod ansieht.

Der Blumenkranz ist genauso gearbeitet, wie die, die ich früher immer geflochten habe. Irgendwie schön, dass wir uns wenigstens darin gleich sind, die Distriktkinder und die Kapitolkinder. Insgeheim frage ich mich, ob es noch mehr Gemeinsamkeiten gibt?

Vorsichtig lege ich mir den Kranz auf mein rotes Haar und nicke dem Mädchen zu, das gerade von ihrer Mutter ausgeschimpft wird, wohl weil es seinen Blumenschmuck weggeworfen hat. Als sie sieht, wie ihre Tochter mir zulächelt, dreht auch sie sich um und betrachtet mich.

Für einen Moment sehe ich niemand anderen als die Mutter, wie sie traurig dem Mädchen über den Kopf streichelt. Sie weiß, dass ich bald sterben werde, im Gegensatz zu ihrem Kind. Ich frage mich, ob die Kleine die Hungerspiele in diesem Jahr wohl sehen wird. Oder ob sie überhaupt ahnt, warum wir hier sind.

Meine Gedanken werden von den beiden losgerissen, sobald unser Wagen eine Kurve beschreibt und der zentrale Platz in Sicht kommt. Ich muss zugeben, dass all die hohen Gebäude, die ihn umgeben, beeindruckend sind, besonders das zwölf Stockwerke große Trainingscenter. Davor thronen auf einer gewaltigen Tribüne die wichtigsten Menschen dieses Landes, Präsident Snow und seine Entourage an engsten Vertrauten, Stylisten und Spielmacher.

Berauscht von all den Sinneseindrücken und Erlebnissen kommt mir eine gewagte Idee. Ich stupse Pon leicht an und deute auf unsere Dreizacke. Wenn wir die Dinger schon haben, können wir sie auch nutzen. »Auf drei?«

Pon versteht sofort und nickt begeistert.

Ich richte den Blick auf das Podium mit dem Präsidenten und flüstere leise: »Eins, zwei … drei!«

Langsam heben wir unsere Dreizacke in die Höhe. Nicht zeitgleich, wie ich aus dem Augenwinkel registriere, denn Pon zögert einen Moment, aber das Ergebnis zählt. So müssen sich stolze Karrieros fühlen, denke ich, als wir die Plastikwaffen in die Luft recken und wie eine Fackel hochhalten.

Das Lächeln vergesse ich auf diesen letzten Metern, stattdessen haftet mein Blick starr auf der finalen Tribüne und damit Präsident Snow. Wenigstens erscheine ich so weniger wie ein wehrloses Opfer.

Unser Wagen wird immer langsamer. Die sorgsam dressierten Pferde scheinen zu wissen, dass hier Endstation ist. Unmittelbar vor uns erhebt sich das Trainingscenter, in dem wir die nächste Woche verbringen werden. Die letzte Woche ihres Lebens für dreiundzwanzig von uns. Ich schlucke. Die Pferde bleiben stehen und wir kommen direkt vor dem gewaltigen Eisentor des Gebäudes zum Halt.

Ein endgültiger Tusch erklingt, dann versiegt die Musik. Stille senkt sich über den Platz. Das Tor öffnet sich nur zweimal im Jahr. Beim ersten Mal verschwinden vierundzwanzig Tribute hindurch, doch beim zweiten Mal kommt nur einer von ihnen wieder heraus, um alleine in seinen Distrikt heimzukehren.

Auf allen Bildschirmen wird nun Präsident Snow eingeblendet, wie er sich zu seiner üblichen Ansprache erhebt. Jeder, der alt genug ist, kennt die Rede auswendig, in der er uns sämtliche Verfehlungen der Vergangenheit vorhält und wiederholt, warum die Hungerspiele unsere gerechte Strafe sind. Nur hat diese Rede auf jeden eine unterschiedliche Wirkung. Während die Tribute aus Eins und Zwei regelrecht begeistert sind und ein blonder Karriero sogar alle Wörter mitsprechen kann, sind die aus den ärmeren Distrikten, wie Drei und Sechs, in einer Schockstarre und starren gebannt hoch zum Präsidenten.

Mein Blick und der des Jungen aus Neun, der mich bei der Ernte so beeindruckt hat, treffen sich. Einen Moment lang taxieren wir einander, dann nickt er knapp und wendet sich ab. Wie ich beobachtet er lieber die anderen. Besonders die Tribute aus Distrikt elf und zwölf sind wahnsinnig angespannt, was angesichts ihres Alters kein Wunder ist.

Zusätzlich zu Präsident Snow werden jetzt auch wieder unsere Gesichter übertragen. Ich versuche, möglichst gelassen auszusehen, als die Kameras auf mich und Pon draufhalten, doch das ist gar nicht einfach. Mit Staunen bemerke ich, dass sich die roten Haare in der einbrechenden Dunkelheit bezahlt machen, da sie unter dem Scheinwerferlicht schimmern wie flüssiges Feuer. Mein Gesichtsausdruck erscheint da eher zweitrangig.

»Mögen wir auch dieses Jahr wieder spannende Spiele erleben und einen rumreichen Sieger unter diesen vierundzwanzig tapferen Mädchen und Jungen finden!«, beendet Präsident Snow begleitet von lautem Jubel seine Rede.

Die Nationalhymne folgt und wir drehen eine letzte Runde um die sogenannte Siegessäule, die den Mittelpunkt des zentralen Platzes markiert. Sie illustriert eindrucksvoll das Ende des Krieges und glänzt ganz in Weiß und Gold.

Ehe ich mich versehe, ist die Runde schon vorbei und unser Wagen wird von dem Tor zum Trainingscenter verschluckt. In der riesigen Halle dahinter wartet bereits das versammelte Vorbereitungsteam, das sich voller Begeisterung auf uns stürzt. Sogar Roan sieht erfreut aus. Von allen Seiten stürmen sie gleichzeitig auf uns ein, sodass ich gar nichts mehr verstehe. Lediglich unser Grüppchen an Mentoren, jetzt inklusive Trexler und Floogs, hält sich dezent zurück.

Erst als sich das Knäuel von Stylisten um uns löst, nickt Amber mir mit hochgezogenen Augenbrauen zu. Odair beachtet unsere Ankunft jedoch nicht weiter, seine Aufmerksamkeit widmet er lieber den fremden Tributen. Irgendwie ärgert mich das ziemlich. Aber getragen von der Hochstimmung der Parade, sehe auch ich mir meine Gegner zum ersten Mal richtig an.

Die Karrieros haben sich bereits zusammengefunden. Kichernd stupsen sie einander an und deuten auf die Jüngeren unter uns. Die meisten von denen machen, dass sie wegkommen und fliehen mit ihren Teams in Richtung Fahrstühle.

»Ihr habt im Training noch genug Zeit, euch zu beschnuppern«, verkündet Cece fröhlich und scheucht auch Pon und mich vom Streitwagen.

Riesige, gläserne Aufzüge warten darauf, uns Tribute nach oben zu bringen. Jeder Distrikt hat eine gesamte Etage für sich. Demzufolge sind wir in einer der unteren Ebenen, die über einen wenig spektakulären Ausblick verfügt, wenn man Cece Glauben schenkt. Darüber bin ich eigentlich ganz froh, denn weit oben fühle ich mich nicht wohl. Schon die Fahrt in dem gläsernen Fahrstuhl finde ich beängstigend, da man sieht, wie der Boden verschwindet. Mit einem dezenten Ping spuckt uns der Aufzug schließlich in der vierten Etage wieder aus.

Beeindruckt von der riesigen Fläche, die allein uns zur Verfügung steht, drehe ich mich einmal im Kreis. Schon der Eingangsbereich ist gigantisch. In Distrikt vier würden hier mehrere Familien Platz finden. Staunend gehe ich zu einem der Fenster, die vom Fußboden bis zur Decke reichen. Trotz Ceces Warnung stelle ich fest, dass sich die vierte Ebene ein gutes Stück über den umliegenden Gebäuden befindet. Selbst von hier unten kann ich den gesamten Korso in all seiner Pracht erkennen.

Als ich meine Fingerspitzen auf die Glasscheibe lege, verändert sich der Ausblick plötzlich. Wo eben noch das Kapitol im Abendrot erstrahlte, erstreckt sich nun eine lange Straße, auf der lauter buntgekleidete Menschen flanieren. Erschrocken weiche ich zurück und betrachte irritiert das Geschehen, bis Amber sich neben mich stellt und abfällig schnaubt. »Herzlichen Glückwunsch, du hast herausgefunden wie der Zoom funktioniert.«

»Was für ein Zoom? Ist das ... echt?«

Ich höre ein Räuspern hinter mir und Floogs gesellt sich zu uns. »Wenn du die Scheibe berührst und die Finger auseinanderziehst, kannst du näher an eine Stelle heranzoomen und das Geschehen dort beobachten«, erklärt er hilfsbereit.

»Bis auf wenige Meter«, ergänzt Trexler, der ihm offenbar auf Schritt und Tritt folgt. Ich habe die beiden wirklich noch nie getrennt gesehen, fällt mir auf.

»Mach das bloß weg«, grummelt Amber und wendet sich ab. »Bei dem Anblick wird mir ganz schlecht.«

Floogs tippt ein wenig auf der Scheibe herum und erneut verändert sich die Szenerie. Ein goldenes Feld, das sich unter blauem Himmel in die endlose Weite erstreckt, erscheint. Staunend betrachte ich das Bild, das täuschend real scheint.

»Wow …«, entfährt es mir, »als wäre es echt!«

»Das ist das einzige Talent des Kapitols«, höhnt Amber. Floogs und Trexler seufzen fast synchron, wofür sie einen bissigen Blick von ihr ernten. Mit lauten Schritten stampft sie in einen dunklen Flur davon.

»Keine Sorge, sie ist zu jedem so«, versucht Floogs mich ein wenig aufzumuntern. »Dafür kann sie kämpfen wie sonst keiner von uns.«

Auch wenn ich das nicht unbedingt beruhigend finde, schenke ich ihm ein Lächeln. Ich beschließe, dass Floogs in Ordnung ist.

Cece, die jetzt auf einer kleinen Empore steht, auf der sich ein großer Esstisch befindet, klatscht in die Hände und bittet uns, ihr einen Moment Aufmerksamkeit zu schenken. »Heute Abend exakt um zwanzig Uhr gibt es Abendessen und keine Minute später! Diese Gelegenheit werden wir nutzen, um endlich unsere Taktik zu besprechen, damit wir ordentlich Sponsoren für euch finden! Bis dahin habt ihr Freizeit. Erkundet ruhig unsere Ebene!«

Unschlüssig sehe ich den anderen nach, die alle in ihre Räume gehen. Ich frage mich, was man hier schon unternehmen soll – abgesehen davon, den Ausblick zu genießen.

 

Hinter der Fassade

Mein Zimmer ist riesig und an Luxus nicht mehr zu überbieten. Im Gegensatz dazu ist das Abteil im Zug ein Witz. Immer wieder streiche ich über die seidenen Bettlaken, auf denen ich ruhe, nur um mich von ihrer Existenz zu überzeugen. Froh, endlich dem Meerjungfrauenkostüm entkommen zu sein, genieße ich die Stille und das Gefühl von Schwerelosigkeit, das meinen müden Körper ergriffen hat.

Kolibrichen hat nicht zu viel versprochen, die rote Haarfarbe ist während des Duschens fast vollständig verschwunden. Lediglich ein Kupferstich ist zurückgeblieben. Gedankenverloren fahre ich mit der Hand durch die langen Strähnen. In der gedimmten Beleuchtung glänzen sie jetzt vornehm.

Und doch ist es nur eine künstliche Veränderung, nichts von Natur aus Schönes. Es sollte nicht so sein und das gefällt mir nicht. Das Kapitol versucht, uns alles zu nehmen. Aber lieber bin ich durchschnittlich, als mich unter Make-up und falschen Haaren zu verlieren. Innen drin werde ich ohnehin immer die langweilige Annie bleiben.

In diesem Moment klopft es an der Tür. Überrascht schrecke ich auf. »Ja?«, frage ich, unsicher, wer es sein könnte.

Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit. »Hallo Annie.« Es ist Mags, die ich nicht mehr gesehen habe, seit wir den Zug verlassen haben. Sie schlüpft herein und lässt sich behäbig neben mir auf das Bett sinken. »Ich hoffe du hast nichts dagegen?«

»Oh ... nein, natürlich nicht.« Ich rutsche ans Kopfende, um etwas Distanz zwischen uns zu bringen.

»Entschuldige bitte, dass ich bei der Parade nicht dabei war«, erklärt sie und nickt zu ihrem Krückstock, »Im Alter wollen die Knochen nicht mehr so ... doch deswegen bin ich nicht hier. Ich möchte mich gerne in Ruhe unterhalten, bevor Cece wieder Trubel macht.« Sie zwinkert mir zu. »Das macht sie am liebsten.«

Mir entweicht ein kleines Kichern bei dieser Bemerkung.

Mags legt lächelnd ihre Hand auf meine und drückt sie. »Ich weiß, wie schwer die Wagenparade ist. Ihr habt eure Sache heute Abend gut gemacht. Wenn ihr so weitermacht, habt ihr gute Voraussetzungen.« Unter zusammengezogenen Augenbrauen hervor schaut sie mich streng an. »Ich muss ehrlich sein, Kind – du hast Glück mit deinem Aussehen. Das allein reicht aus, um ein paar Sponsoren zu gewinnen. Aber um dein Überleben zu sichern, brauchen wir mehr. Bisher bist du sehr ... ruhig. Wie ist Annie Cresta wirklich, frage ich mich? Und wer möchte sie sein, wenn die Spiele beginnen?«

Angesichts des ermunternden Ausdrucks in Mags runzligem Gesicht bildet sich ein Kloß in meinem Hals. »Ich bin ...« Der Satz verhallt unbeendet. Mir fällt keine Antwort ein. Es gibt vieles, das ich nicht bin. Mutig, tapfer, stark, interessant, stolz ... die Liste ist lang. »Ich bin hier, um zu sterben.«

Mags legt ihre Stirn in Falten und schüttelt den Kopf. »Warum? Weil du nicht freiwillig hier bist?«

Ich verschränke meine zitternden Finger vor den Knien. »Natürlich! Ich bin keine Karriero und schon gar nicht vorbereitet. Das ganze Kapitol hat gesehen, wie ich fast vom Wagen gefallen bin oder wie ich nach der Ernte geweint habe! Ich bin nur ... ein Opfer.«

»Die meisten Menschen scheinen auf den ersten Blick anders, bis wir ihr wahres Potential entdecken.« Mags streicht über meine Schulter. »Wer bin ich beispielsweise für dich?«

»Ähm ...«, entweicht es mir wenig geistreich. Rätselhafte alte Frau ist keine Antwort, die ich laut äußern werde.

»Nur heraus damit, so leicht kannst du mich nicht verletzen.«

Ich schaue auf meine verschränkten Hände. »Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß gar nicht, welche Spiele Sie gewonnen haben oder wie. Sie sind schon so lange Mentorin, vermutlich sind Sie ... erfahren«, sage ich ungelenk. »Na ja, ansonsten sind Sie eigentlich ganz nett. Wie ich mir eine Großmutter vorstelle.«

»Das ist nett von dir. Aber tu mir den Gefallen, lass das Sie weg, ich fühle mich schon alt genug mit dem Krückstock. Ich bin Mags.« Sie lächelt, als ich nicke. »Also, Annie, lass mich dir etwas erzählen«, fährt sie fort. »Ich war siebzehn und eine der ersten Freiwilligen, die Panem je gesehen hat. Die elften Hungerspiele waren anders. Keine Wagenparade, keine jubelnden Zuschauer und kein luxuriöses Appartement. Wir hatten nur Gerüchte gehört, was während der Spiele geschah.«

Überrascht sehe ich die alte Frau an. Mir ist nicht einmal in den Sinn gekommen, dass sogar sie eine Karriero war. »Gab es denn damals schon die Akademie?«

»Nein. Ich habe alleine geübt, im Schutz der Dunkelheit am Strand. Es gab damals auch kein Trainingscenter, also waren wir alle sehr schlecht vorbereitet. Übernachtet haben wir in einem vom Krieg zur Hälfte zerstörten Schulgebäude. In den Nächten vor den Spielen sind zwei von uns einfach verhungert. Allesamt waren wir schwach und standen längst an der Klippe zum Tod.«

Gebannt lausche ich Mags Geschichte und wage es nicht, Luft zu holen. Diese Hungerspiele klingen ganz anders als das, was mir bevorsteht.

»Glücklicherweise war die Arena nur ein staubiges altes Stadion mitten im Kapitol, keine perfektionierte Falle der Spielmacher. Wir waren eng zusammengepfercht und die Ersten sind schnell gestorben. Ich habe mich mit einigen Tributen aus anderen Distrikten zusammengeschlossen, damit wir bessere Chancen haben. Das lief gut, aber je weniger wir wurden, desto mehr wurde mir bewusst, dass auch diese Tribute meine Feinde waren.« Mags schließt ihre Augen und umfasst ihren Krückstock fester, sodass ihre Knöchel weiß hervortreten. »In der sechsten Nacht habe ich die letzten drei von ihnen im Schlaf getötet.«

Meine Augen werden groß. Ich muss aussehen wie eine Kapitolbewohnerin, die zum ersten Mal das Meer sieht. Die wahre Mags ist eine eiskalte Mörderin?

»Am nächsten Tag war ich die letzte Überlebende«, beendet die Mentorin ihre Erzählung. »Was denkst du nun?«

»Das ... das muss-«, ich beiße mir auf die Lippe, »schwierig gewesen sein.« Trotz ihrer Geschichte kann ich mir das alles nur schwer vorstellen. »Sie – du klingst kaltherzig.«

Mags nickt. »Und was glaubst du, wenn ich dir erzähle, dass in Distrikt vier meine Geschwister auf mich gewartet haben? Weißt du, ich bin in einer Großfamilie aufgewachsen, wir waren fünf Kinder. Nach dem Tod unserer Eltern während der dunklen Tage hatten wir nur noch einander. Wir haben gehungert, manchmal wochenlang. Auf dem Markt habe ich abends die stinkenden Fischreste zusammengekratzt, damit wir etwas zu essen hatten. Jeden Taler habe ich für ein Boot gespart, damit wir selber rausfahren können.«

Verwirrt gucke ich sie an. »Wieso hast du freiwillig deine Geschwister alleine gelassen? Was, wenn du gestorben wärst? Du hast sie doch geliebt, oder?«

Wieder nickt sie. Ihr Blick gleitet in die Ferne, als würde sie alles noch einmal vor sich vorbeiziehen sehen. »Ja, das habe ich. Und deswegen bin ich Tribut geworden. Um sie zu retten, mit dem Preisgeld aus den Spielen. Für mich war es damals der einzige Ausweg. Ich war so naiv, ich dachte, es würde reichen, genügend zu trainieren. Ich wusste nicht...«, sie bricht ab und wendet ihren Blick aus der Vergangenheit zurück zu mir, »dass es mich verändern würde.«

Traurig sehe ich sie an. Das Bedauern in ihren Augen scheint echt. Es ist nur zu erahnen, wie viel die Hungerspiele sie gekostet haben.

»Was ich dir aber eigentlich sagen wollte«, fährt Mags fort, »ist, dass jeder Tribut voller Überraschungen steckt, sogar die Karrieros. Sie folgen bloß den Regeln dieses Spiels. Genau das ist deine Chance. Nutze das System! Du brauchst nicht körperlich stark sein, um Stärke zu demonstrieren. Du musst nur auf dich selbst vertrauen. Dann kannst du etwas von dir retten, während du ihnen eine falsche Vorstellung lieferst.«

Ihre Anweisungen hören sich wie Poesie an. »Ich soll also mitspielen«, stelle ich fest.

»Genau Annie. Ich weiß, dass du das kannst. Heute bei der Parade hast du genau das gezeigt. Egal welche Strategie Cece dir heute vorschlägt, hab das immer im Hinterkopf. Das Wissen hat den meisten von uns das Leben gerettet.«

»Aber kann ich so auch ... jemand anderen retten?« Ich verschlinge die Finger fester ineinander und warte gespannt auf Mags Antwort.

»Wenn du es möchtest.« Sie stellt meine Überlegung nicht in Frage. »Es zeugt von großem Mut, nicht für sich selber kämpfen zu wollen. Aber vergiss nicht, dass du es ebenso wert bist.«

Mit diesen Worten verlässt sie hinkend den Raum. Nachdenklich blicke ich ihr hinterher. Damit habe ich nicht gerechnet. Wie Mags wohl früher war? Vielleicht habe ich meinen Mentoren bisher unrecht getan. Ob sie genauso traurige Geschichten haben? Wer steckt wirklich hinter ihren Fassaden? Und was wird aus mir, wenn ich erst mitspiele?

Während ich so dasitze und nachdenke, meldet sich langsam mein Appetit zurück. Jetzt, da vorerst alle Anspannung von mir abgefallen ist, scheint die Aussicht auf ein neues Festmahl wieder verlockender. Bis zum Abendessen ist allerdings noch Zeit. Mein knurrender Magen lässt mir jedoch keine Ruhe, sondern treibt mich aus dem Bett. Vielleicht kann ich zur Überbrückung irgendwo einen kalten Hähnchenschenkel auftreiben. Ich schnappe mir ein Paar Pantoffeln und verlasse das Zimmer.

Die Lichter im Flur sind gedimmt, was nach den gleißenden Scheinwerfern eine Wohltat ist. Die blauen Wände geben mir das Gefühl, unter Wasser zu schwimmen. Ob die Farbe absichtlich gewählt wurde? Nur für uns Leute aus Distrikt vier, oder ist das Zufall? Kennt das Kapitol Zufälle?

Auf Zehenspitzen schleiche ich hinüber in das Wohnzimmer mit der Empore. Dunkel erhebt sich draußen vor der Glasfront die hell erleuchtete Skyline der Hauptstadt. Ich frage mich, was sich gerade hinter diesen Fenstern abspielt. Sitzt dort ein junges Pärchen bei seinem ersten gemeinsamen Abendessen? Guckt eine Familie die Wiederholung der Wagenparade?

Es gibt genug Dinge in meinem Leben, über die ich mir Sorgen machen muss, also wende ich mich ab und betrete die Empore mit dem Esstisch. Und tatsächlich, ich werde nicht enttäuscht. In der Küchenzeile summt ein kleiner Kühlschrank. Ich vergesse alle Vorsicht und reiße seine Tür auf. Mein Herz macht einen Satz, als ich die vielen Leckereien erblicke. Lauter Schälchen stapeln sich darin, manche mit Speisen von daheim gefüllt, andere hingegen sind mir völlig unbekannt.

Sogar eine kleine Schüssel mit den säuerlich-süßen Früchten, die an krummen Bäumen entlang der Küste wachsen, finde ich. Schon als Kind gehörten sie zu meinem Lieblingsobst. Ich lege mir eine in den Mund und lasse ihre straffe Schale platzen, sodass mir der köstliche Saft über die Zunge rinnt. Erst einmal auf den Geschmack gekommen, staple ich weitere Delikatessen in den Armen, bevor ich meine Beute zum Tisch schaffe.

»So so, Miss Cresta, sind wir eine kleine Naschkatze?«

Ertappt gefriere ich zur Salzsäule. Da sitzt er, unbemerkt in den Schatten. Wie konnte ich ihn nur übersehen? »Verdammt Odair! Erschreck mich nicht so«, entfährt es mir wütend.

Aber er lacht nur leise. »Du hast Glück, ausnahmsweise teile ich mal.« Erst jetzt realisiere ich, dass er mir zuvorgekommen ist und sich schon an einigen Leckereien bedient hat, die vor ihm auf dem Esstisch verteilt sind. »Lass mich dir helfen«, bemerkt er, immer noch grinsend über meine Überraschung, und steht auf, um den Stuhl neben seinem vom Tisch abzurücken. »Lassen Sie sich nieder, Madame«, bittet er mit einer übertrieben tiefen Verbeugung, bei der er beinahe den Boden berührt.

Prustend folge ich seiner Einladung und stelle meine kleine Auswahl vor mir ab. Wortlos schiebt Odair seine Beute – darunter eine Schale tiefroter Kirschen – näher zu mir. Während ich noch überlege, was zuerst dran ist, registriere ich aus dem Augenwinkel, wie er mich mustert. Nichts Neues also. Ich bin mir sicher, dass er damit schon viele Tribute vor mir völlig aus dem Konzept gebracht hat. Aber nach dem Gespräch mit Mags stellt sich mir die Frage, welches Spiel er wirklich spielt. Ist da doch noch eine Spur von dem Jungen, der aus dem Meer kam?

»Also, was war deine Strategie?«, setze ich ihm den sprichwörtlichen Dreizack auf die Brust.

Verwundert sieht er mich an. »Welche Strategie?«

»Wie hast du das Kapitol von dir überzeugt?«

Für einen Moment glaube ich, einen Schatten über sein Gesicht gleiten zu sehen, doch der Augenblick verfliegt schnell. »Oh, ich war einfach mein charmantes Selbst«, antwortet er zwinkernd.

Dieses Mal bin ich diejenige, die ihn abwartend mustert. Er lehnt sich zurück und schnappt sich eine Kirsche, die er sich mit hoch erhobenen Augenbrauen langsam zwischen die Lippen schiebt, als er meinen Blick bemerkt. Aber seine freie Hand hat sich auf dem Tisch zu einer Faust geballt. Ich glaube ihm kein Wort.

Viel mehr bin ich mir sicher, dass Finnick Odair etwas verbirgt – die Frage ist nur was. Und aus irgendeinem wahnwitzigen Grund bin ich entschlossen, ihm zumindest eine Wahrheit zu entlocken. Das Geheimnis um den Zucker. Er ist sein ständiger Begleiter, sogar jetzt hat er eine Schüssel mit den reinen weißen Zuckerwürfeln vor sich stehen.

»Mich würde es nicht wundern, wenn du im Alleingang sämtlichen Zucker im Kapitol verputzt«, stelle ich fest. »Ist das nicht ein wenig … ungesund?«

Er lässt ein langes Schnaufen hören. »Glaubst du wirklich, dass wir uns darum Sorgen machen sollten?«

Ich zucke mit den Schultern. »In meiner Lage vielleicht nicht, aber an deiner Stelle – ja.«

»Weißt du, Annie … man sollte alles Schöne genießen, solange es einem in diesem kurzen Elend namens Leben vergönnt ist. Du weißt nie, wann es vorbei ist. Also schlag zu, bevor es zu spät ist.« Das Lächeln ist von seinen Lippen verschwunden.

Sein Stimmungsumschwung deprimiert mich. Ich ziehe die Knie ans Kinn und stütze den Kopf darauf. »Gibst du mir was ab?«, frage ich leise.

Wortlos wirft er mir einen Zuckerwürfel zu. Pure Süße breitet sich in meinem Mund aus, kaum, dass er die Zunge berührt hat. Obwohl ich die vielen Nachspeisen des Kapitols bereits lieben gelernt habe, überwältigt mich der reine Zucker im ersten Moment. Als ich gerade anfange, den Geschmack zu genießen, ist er schon wieder verflogen und zurück bleibt nichts, außer einem klebrigen Film.

»Uhh, so süß«, schüttelt es mich. »Warum pur? Du kannst doch alles andere haben. Pudding, Früchte ...«, ich deute auf die Schüsselchen um uns herum. »Ist das nicht besser?«

Odair mustert die Zuckerschale vor sich und seufzt dann noch einmal. »Das ist eine lange Geschichte. Aber ich ahne, dass du sie trotzdem hören willst.« Und zack, ist es wieder da, sein perfektes Unschuldslächeln. »Vor meinen Spielen gab es, genauso wie jetzt, all diese gesüßten Speisen im Überfluss. Das meiste davon hatte ich schnell über. Er ist schrecklich bunt, klebrig und künstlich – wie viele Leute hier.«

Der Vergleich ist irgendwie passend, obwohl mir der Nachtisch schmeckt, aber ich unterbreche ihn nicht. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet, während er erzählt, als könne er die Vergangenheit im Dunkel des Zimmers lauern sehen. Seine Augen schimmern geheimnisvoll in dem dürftigen Licht von draußen. Sie sind meeresgrün, ein Ozean voller Wehmut, wie bei unserer ersten Begegnung.

»Bevor man uns in die Arena brachte, gab Mags mir einen Zuckerwürfel. Ich weiß bis heute nicht, wieso. Er landete in meiner Hosentasche. Und zwei Tage später, nachdem ich den ersten Tribut getötet hatte … da fiel er mir wieder ein. Es hat mich umgehauen. Vor lauter Süße schien ich einen Augenblick lang zu schweben. So ist es mit allem Guten, das uns widerfährt. Ein Moment bittersüßer Unbeschwertheit, erkauft mit einem Leben voller Konsequenzen.«

Er greift einen Zuckerwürfel und krachend verschwindet er zwischen seinen Zähnen. »Nach meinem Sieg kam jeden Monat eine Zuckerlieferung. Niemand ist je auf die Idee gekommen ihn so zu essen. Auch ich nicht. Doch bei der ersten Ernte als Mentor habe ich vor lauter Aufregung die ganze Schale Zuckerwürfel, die für den Kaffee gedacht waren, im Alleingang vernichtet.« Er grinst bei der Erinnerung. »Cece hat sich damals tierisch aufgeregt. Sie war noch nicht so lange dabei, erst das zweite Jahr. Schätze, ein Mentor mit Zuckerschock gehörte definitiv nicht auf ihren Plan.«

Das kann ich mir gut vorstellen, immerhin bringt sie schon die kleinste Verspätung aus der Fassung.

»Bestimmt eine halbe Stunde hat sich auf mich eingeschimpft. Nur mit Mühe und Not hab ich die Ernte durchgehalten. Mir war so schlecht von dem ganzen Zucker, dass ich unmittelbar nach der Ernte meinen ganzen Mageninhalt auf ihre neuen Schuhe entleert habe – du kannst dir denken, was los war.«

An dieser Stelle bricht das Kichern haltlos aus mir hervor. Die Vorstellung des allseits beliebten – und begehrten – Finnick Odair, wie er Cece auf die Füße erbricht, ist einfach zu komisch. Zum Glück stimmt er in mein Lachen ein.

»Wäre ich nicht der Mentor, hätte sie mich vermutlich einen Kopf kürzer gemacht«, fährt er schmunzelnd fort. »Und trotzdem mag ich den Geschmack von Zucker immer noch. Er erinnert mich daran, dass alles gut wird. Daran, dass mein Sieg die Hoffnung zurück in den Distrikt gebracht hat. Und deswegen lautet meine Devise – erfreu dich am Leben, solange du kannst.«

»Hm …«, murmele ich unschlüssig. Er hat gut Reden, schließlich ist er ein Überlebender und kann das süße Leben noch sehr lange genießen, wie seine umfassende Liste an Liebschaften eindrucksvoll zeigt.

Sein Blick fällt auf die vielen Dessertschälchen. »Nur für den Fall, dass dir bald keine Zeit mehr bleibt …« Er räuspert sich. »Du solltest nichts bereuen.« In seiner rauen Stimme schwingt Schmerz.

»Dafür habe ich zu viel Angst«, gestehe ich.

Langsam hebt er den Blick und wir sehen einander direkt in die Augen. »Jeder hat Angst.« Das kleine Zittern in seiner Stimme ist lebendiger Beweis seiner Aussage.

»Aber ich will nicht töten müssen, um zu leben!« Die Worte ersticken an den Tränen, die in mir aufwallen. »Was wäre das für ein Leben?«

Er reißt seine Augen von meinen los und starrt mit zusammengezogenen Augenbrauen auf die Tischplatte zwischen uns. »Möchtest du nicht weiterleben für all diejenigen, die dir wichtig sind? Lohnt es sich nicht, dafür zu kämpfen?«

»Dreiundzwanzig andere haben denselben Traum«, erwidere ich. Mein Hals ist trocken. »Ich werde bald tot sein.«

Ich merke nicht, wie er aufsteht, doch plötzlich kniet er vor mir und seine Arme schließen sich um mich. »Sag so etwas nicht! Warum ist dir dein Leben so egal? Willst du es einfach wegwerfen?« Er spricht ganz leise, aber seine Lippen sind so nah an meinem Ohr, dass mir sein Atem am Hals kitzelt. »Tu das nicht. Noch bist du nicht tot.«

»Nein – so ist das nicht … wegen Pon …«, stammele ich, überwältigt von der überraschenden Nähe. Steif sitze ich da und wage es nicht, auch nur mit dem kleinen Finger zu zucken. Leider kann ich nicht einfach wie eine seiner Verehrerinnen in Ohnmacht fallen.

»Du musst es wenigstens versuchen«, fleht er.

»Aber Pon ...«, halte ich dagegen. »Er ist so jung!«

»Ich weiß.« Ein kaum merkliches Zittern läuft durch seinen Körper. Wie damals am Strand frage ich mich, ob der starke Sieger etwa weint? »Verdammt Annie, das weiß ich alles. Ihr habt das beide nicht verdient. Und trotzdem kann ich euch nicht einfach dem Tod überlassen.«

Hunderte Gedanken rasen durch meinen Kopf und schlussendlich platzen die wohl unüberlegtesten Worte überhaupt aus mir hervor. »Wie wäre es mit einem Stück Zucker? Ich habe gehört, so erträgt sich das Leben leichter.«

Ich spüre, wie Finnick einen tiefen Atemzug nimmt, bevor ein kurzer Lacher durch meine Haare fährt. »Warum nicht«, haucht er und lässt dann endlich los.

Seine Augen sind gerötet, doch er dreht sich schnell weg und greift in die Zuckerschale. Wie der Sommerhimmel nach überraschendem Platzregen aufklart, verschwinden Furcht und Trauer aus seinem Gesicht und das typische Grinsen legt sich wieder auf seine Züge. Er versucht, mich mit einem Zuckerwürfel zu füttern, und führt sein übliches Geplänkel fort, als wäre nie etwas passiert.

Eine Weile sitzen wir beisammen und teilen uns die Leckereien, bis wir kugelrund und pappsatt sind. Eine letzte Frage stelle ich Finnick allerdings noch. »Welche Strategie sollte ich deiner Meinung nach verfolgen?«

Er zuckt mit den Schultern. »Überleben? Alle anderen Pläne sterben genauso schnell wie der erste Tribut.«

»Ich meinte für das Training und die Interviews.«

»Genauso. Am Ende muss man auch das nur überleben.«

»Also soll ich keine Rolle spielen?«

Genervt seufzt er. »Wen solltest du spielen wollen? Wenn du die Spiele nicht einmal gewinnen willst, glaubst du wirklich, du musst dich vor dem Kapitol verstellen?«, fragt er mich mit bitterem Unterton. »Sie werden dir aus der Hand fressen, wenn du ihnen erzählst, dass du dich für jemand anderen opferst.«

Plötzlich wird mir klar, was Finnick Odair bedrückt. Es ist die Furcht, wieder zwei Tribute zu verlieren und bloß mit Särgen nachhause zurückzukehren. Dann sinkt Distrikt vier weiter in der Gunst des Kapitols. Und es gibt zwei neue Gräber auf dem Friedhof. Ob ihn die Toten wohl in seine Albträume verfolgen? So oder so, mein Verhalten macht ihm das Leben schwer.

»Entschuldige«, sage ich betreten, »ich sollte mir wenigstens Mühe geben.«

»Ist es so falsch, wenn ich will, dass du überlebst?«

Ich schüttle schnell den Kopf. Er ist Mentor, natürlich will er das.

»Und dennoch muss ich deine Entscheidung respektieren«, fügt er hinzu. Zu meinem Erstaunen streicht er mir über die Hand, ehe er wieder mal grinsend den Raum verlässt. Bloß, dass er mich diesmal nicht nur mit rotem Kopf zurücklässt, sondern auch mit Herzklopfen.

Auf dem Weg zurück in mein Zimmer denke ich darüber nach, ob er diese Masche wohl schon bei anderen Tributen abgezogen hat. Ist das alles Teil eines Spiels? Bei Finnick Odair weiß ich einfach nicht weiter.

Wer bist du?

 

Flüsterndes Meer

Ich blicke auf das ruhige Meer. Scheinbar endlos erstreckt es sich vor mir. Bis zum Horizont und weiter. Seufzend betrachte ich die zarten Wellen, die sich nicht unweit von mir am Strand brechen. Über all dem liegt der Schein der untergehenden Sonne. Es ist perfekt. Und nicht echt, nur eine Projektion des Kapitols.

Erinnerungen an Distrikt vier steigen auf, obwohl der Sand in der Bucht dort nicht so ebenmäßig aussieht. Aber egal, wo das Meer ist - bei seinem Anblick fühle ich mich zuhause. Gegen den breiten Fensterrahmen gelehnt, genieße ich den Ausblick noch ein wenig länger.

Vorsichtig löse ich mein Medaillon vom Hals. Im Licht der tiefroten Sonne erscheint mir sein goldener Glanz umso intensiver. Wie ein warmer Tropfen Honig glüht es unter den Strahlen. Ich öffne den Verschluss und betrachte das Bild, das mein Vater hineingelegt hat.

Bei dem Anblick überkommt mich diesmal ein friedliches Gefühl, anstelle der Tränen. Schon zu viele sind geflossen. Ich hoffe bloß, dass es ihm und Cyle gut geht. Und dass mein Andenken in ihren Herzen unbeschadet überdauern wird.

Doch in dem Medaillon ist noch etwas anderes, das mir nun in den Schoß fällt – Davids Abschiedsbrief. Nicht einmal zwei Tage sind seither vergangen und trotzdem ist die Erinnerung daran an den Rand meines Bewusstseins verdrängt worden. Nicht weil ich vergesse. Sondern weil das Kapitol keinen klaren Gedanken mehr zulässt.

Jede Sekunde ist so voller Aufregung – immerzu drehen sich alle Überlegungen bloß darum, wie ich sterben werde und was in den Hungerspielen auf mich wartet. Wie erging es meiner Familie wohl, als sie die Wagenparade gesehen haben? Ich werde es nie erfahren.

Mit einem Kloß im Hals falte ich den Zettel auseinander.

Mein Herz wird immer nur dir gehören.

Nur diese paar Worte. Mehr brauche ich nicht, um seine Gefühle zu verstehen. Wir kennen einander in- und auswendig. Die kleine Zeichnung des Bootschuppens dazu, in dem wir seit unserer Kindheit jeden Nachmittag verbracht haben, lässt mich endgültig zur Ruhe kommen. Wenigstens diese schönen Momente kann mir keiner nehmen.

Ich schließe die Augen und lasse meine Gedanken wandern, zurück zu der Zeit in Distrikt vier. Ich erinnere mich an einen verregneten Nachmittag, an dem David und ich heimlich zum Strand gelaufen sind und im Regen getanzt haben. Danach waren wir beide eine Woche krank, doch ich werde nie vergessen, wie schön dieser Tag war.

Oder die unzähligen Stunden, in denen wir gemeinsam Taue und Segel für die Schiffe flickten, stets in fantasievolle Geschichten über Tiefseemonster versunken. Damals war das Leben so einfach, jede mögliche Entwicklung schien vorhergezeichnet. Die Hungerspiele lauerten zwar im Hintergrund, eine dunkle Wolke, die sich einmal im Jahr vor unsere Sonne schob. Aber nach der Ernte kam das Glück immer zurück. Bis jetzt.

Zwischen die Erinnerungen an David drängen sich Bilder aus der Schule und wie wir im Unterricht das erste Mal die Spiele gesehen haben. Es waren jene, die Amber gewonnen hat. Manche Szenen kann ich heute noch vor meinem inneren Auge sehen. Wie ihre Hände sich um den Hals eines Tributs schlingen und den lila Farbton, den sein Gesicht annimmt. Seitdem mag ich keine Blaubeeren mehr.

Kurz darauf kamen Finnicks Spiele. Ich erinnere mich, wie alle in der Schule aufgeregt darüber getuschelt haben, dass sich ein Junge aus unserer Stufe freiwillig gemeldet hat. Die meisten fragten höhnisch, ob er sich umbringen wolle. Wieder andere waren traurig, dass ausgerechnet der beliebte Finnick Odair, dem immer ein Witz auf den Lippen lag, bald sterben würde. Da er mir nie zuvor aufgefallen war, berührte mich seine Entscheidung wenig.

Anders sieht es da mit seinen Spielen aus. Ich erinnere noch genau, wie wir auf dem großen Schulhof stehen und verfolgen, wie er sich durchschlägt. Jeder Tote auf seinem Weg wurde von einer Welle des Jubels begleitet. Als ich es nicht mehr aushielt, rannte ich davon. Darauf folgte der erste Streit mit David. Er konnte nicht verstehen, warum ich Finnick nicht zujubeln wollte.

Nur mit Mühe kann ich mich aus dieser Gedankenspirale ziehen, indem ich über Davids Zeichnung auf dem Papier fahre. Wieso nur wird jede Erinnerung an ihn davongetragen wie ein Blatt im Wind, um stattdessen die Hungerspiele hereinzulassen?

Ungebeten drängt sich mir wieder der Gedanke an Finnick auf. Nicht an den Jungen von damals – weder an den blutbefleckten Karriero, noch den gebrochenen Sieger – sondern an den verwirrenden Mentor, der er heute ist. An das strahlende Lächeln, unter dem so viel mehr lauert. Warum bringt jede Überlegung mich zurück zu ihm, obwohl ich ihn nicht leiden kann?

Es führt zu nichts, weiter zu träumen, denn ein sanfter Gong ruft zum Abendessen. Ich gleite vom Fensterbrett. Die Sonne auf dem elektronischen Fenster hat sich inzwischen blutrot gefärbt und die Simulation nähert sich genau so dem Ende wie dieser Tag. Mit einem Druck auf Glas verschwindet das Bild von dem Meer und was bleibt, ist der dunkle Anblick des Kapitols unter einem sternenlosen Himmel.

Ich realisiere, was mir gefehlt hat, kurz bevor ich durch die Tür schlüpfe. Das Flüstern des Meeres.

 

Strategie

Das Abendessen verläuft – wie erwartet – nicht sonderlich ereignisreich. Cece versucht, ein fröhliches Gespräch am Laufen zu erhalten, doch die Einzigen, die darauf eingehen, sind die Stylisten, die anscheinend ebenfalls in unserem Appartement ein- und ausgehen dürfen. Ich verfolge ihr Gequassel lediglich mit einem Ohr, da es sich auf die teuren, aber hässlichen Kleider der anderen Tribute und Eskorten beschränkt.

Mit dem nächsten Gang geht die Unterhaltung über zu einem neuen Trend, bei dem man sich tierische Gesichtsmerkmale implantieren lässt. Roan ist natürlich gut informiert mit seinen Kiemen – die im Übrigen funktionslos sind, wie er langatmig erklärt. Überraschenderweise hält Cece nichts von dem Trend und winkt nur ab, als der Vorwurf laut wird, sie solle ein wenig Solidarität mit ‚ihrem‘ Distrikt zeigen.

»Nein danke, ich war einmal am Hafen. Fische sind wirklich eklig, ganz zu Schweigen von dem Gestank! Damit will ich nicht assoziiert werden.«

Ich schmunzle. Niemand daheim würde unsere Lebensgrundlage je so abwerten. Wenn wir nicht das Meer hätten, würde es uns ähnlich elend ergehen wie den Bewohnern von Distrikt elf oder zwölf. Zum Glück sind viele Leute aus dem Kapitol ganz wild auf unseren Fisch und insbesondere die Meeresfrüchte. Aber die meisten haben vermutlich keine Ahnung, wie die Nahrung zu ihnen kommt. Für sie existiert nur das, was sie von uns in kleinen tiefgefrorenen Blöcken geliefert bekommen.

Cece jedenfalls scheint ziemlich angewidert von der Wirklichkeit, so wie sie ihre Lippen schürzt. Mit einem Blick auf das Wildfleisch auf meinem Teller fällt mir auf, dass ich selber auch nie einen Hirsch in freier Wildbahn gesehen habe. Wie sieht es wohl in Distrikt zehn aus, wo das Fleisch verarbeitet wird? Fühlt sich das Vieh dort genauso schlecht wie ich heute Morgen im Erneuerungscenter?

Meine Überlegungen werden von Ceces durchdringender Stimme erstickt. »Also, ihr Lieben! Wir haben uns hier ja nicht nur zum Essen versammelt, sondern auch, um für unsere beiden wunderbaren Tribute die richtige Strategie zu finden!« Sie lächelt breit in die Runde. »Ich selber habe natürlich unendlich viele Ideen«, fährt sie – für meinen Geschmack zu selbstgefällig – fort, »aber jeder von uns sollte die Chance haben, etwas beizutragen!«

In den folgenden Momenten offenbart sich für mich, warum Mags bereits vor dieser offiziellen Zusammenkunft zu mir gekommen ist. Jeder der Stylisten hat nämlich eine wunderbare und gänzlich schockierende Idee parat, um es einmal mit Ceces Worten auszudrücken. Ich nenne es lieber gequirlten Fischmist.

Keiner der Vorschläge ist auch nur ansatzweise hilfreich oder umsetzbar. Pons Stylistin schlägt beispielsweise vor, dass man mich ja als junge Mutter präsentieren könnte, wo ich doch ein so gutes Verhältnis zu Pon habe. Woher sie plötzlich ein Kind nehmen will, ist mir schleierhaft, genauso wie diese Behauptung die Sponsoren begeistern soll. Aber ich begreife, dass die Bewohner des Kapitols gänzlich anders denken. Vielleicht ist es ja gerade im Trend eine junge, mordende Mutter zu sein.

Zum Glück widersetzt Cece sich diesem Vorschlag. Unsere Mentoren hingegen halten sich überwiegend aus dem Durcheinander heraus, aber ich ahne, dass das ebenfalls eine Strategie ist. Zumindest Mags, Floogs und sogar Finnick haben bewiesen, dass wir ihnen nicht egal sind.

Als die Ideen der Stylisten schließlich immer lustloser werden, sieht Cece hoffnungsvoll zu den Siegern herüber. »Jetzt haben wir ja viele wunderbare Vorschläge gesammelt, aber von euch haben wir noch nichts gehört. Ihr habt doch sicher auch sehr viele Ideen für die zwei?« Fragend zieht sie ihre pinkgefärbten Augenbrauen in die Höhe.

In aller Ruhe legt Mags ihre Gabel nieder, wischt sich den Mund an der Serviette ab und lächelt der Eskorte dann zu. »Meine Liebe, ich glaube, unsere Tribute brauchen keine derartig … unkonventionellen Strategien. Wir haben uns bereits zusammengesetzt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir es einfach halten.«

Ceces Augenbrauen verschwinden in ihrer künstlichen Haarpracht. »Was heißt das, ‚einfach halten‘?«

»So, wie sie sich bis jetzt präsentiert haben, haben sie schon ein Image. Wir bauen es lediglich aus«, mischt sich Floogs ein.

Ich bin überrascht, dass sie anscheinend die Zeit gefunden haben, an unserer Strategie zu arbeiten, da Mags und Finnick mir erst vorhin ganz unterschiedliche Sachen geraten haben.

»Um es kurz zu fassen: Annie bleibt die zurückhaltende Schönheit, während Pon unser aller Sonnenschein ist«, beendet Amber sarkastisch wie immer die Diskussion.

Cece sieht eingeschnappt drein, zuckt dann aber mit den Schultern. »In Ordnung für euch?«, fragt sie an Pon und mich gewandt.

Wir tauschen einen kurzen Blick, bevor wir nicken. Diese Rollen dürften uns nicht schwerfallen, da sie am nächsten dran sind an der Wahrheit.

Zufrieden mit der Antwort, geht Cece gleich zu einem neuen Thema über – dem Training. »Wie ihr sicher wisst«, erklärt sie mit Blick zu uns Tributen, »habt ihr in den kommenden Tagen Zeit, mit euren Mentoren zu trainieren. Um das Ganze einfacher zu gestalten, wird jeder von euch zwei feste Mentoren zugewiesen bekommen. Außerdem könnt ihr euch entscheiden, ob ihr gemeinsam trainiert werden wollt, oder ob ihr eure kleinen Trainingsgeheimnisse für euch bewahren wollt.« Sie unterstreicht die Worte mit einem verschwörerischen Zwinkern.

Pon und ich müssen nicht einmal einen Blick wechseln, um darauf zu antworten. »Ich habe nichts zu verbergen«, erwidere ich mit einem Schulterzucken.

»Ich auch nicht.« Der Kleine grinst und zwinkert mir genauso zu wie eben Cece.

»Wunderbar, dann kann ich es ja offiziell machen«, flötet unsere Betreuerin und klatscht in die Hände, »Pon, du wirst von Trexler und Finnick trainiert, während du, Annie, Amber und Floogs zur Seite gestellt bekommst. Mags dient als Ansprechpartnerin für alle sonstigen Themen, aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen.«

Großartig. Mein Schicksal hängt an der Siegerin, die ihre Opfer mit bloßen Händen getötet hat und einem Sieger, den ich noch nie kämpfen gesehen habe, der dafür aber ein steifes Bein hat. Was sollen die beiden mir beibringen? Allein der Gedanke, mit Amber zu trainieren, schnürt mir die Kehle zu.

Dagegen hat Pon mit Finnick das Glück auf seiner Seite. Mit Speer oder Dreizack würde ich zumindest lieber kämpfen als mit den blanken Fäusten. Andererseits ist es verständlich, dass man keine wertvolle Trainingszeit mit unserem fähigsten Sieger an mich verschwenden will, die sich selber aufgegeben hat. Letztlich ist Pon derjenige, der sich mehr bemüht.

Mags lächelt uns aufmunternd an. »Morgen früh um acht beginnt das Training, seid also bitte pünktlich hier. Im Anschluss an das Gemeinschaftstraining findet euer privates Training statt. Als vierter Distrikt haben wir das Center von neunzehn Uhr an für uns. Habt ihr dazu noch Fragen?«

Wir Tribute schütteln den Kopf.

»Schön«, bringt Cece sich zurück ins Gespräch, »dann können wir uns ja jetzt dem Nachtisch wid-«

Aber die folgenden Worte werden ihr von dem stummen Auftritt eines aufgeregten Mädchens in roter Uniform abgeschnitten. Wild gestikulierend läuft sie auf den Tisch zu, die Augen weit aufgerissen. In schneller Reihenfolge bewegt sie ihre Hände, aber ich werde daraus nicht schlau. Cece scheint jedoch zu verstehen, denn ihre Wangen färben sich dunkelrot und sie schnappt empört nach Luft.

»Ich will den Nachtisch!«, stößt sie gereizt hervor. »Er kann nicht weg sein. Wo soll er denn hin sein? Hat er etwa Beine bekommen?«

Es braucht einen Moment, bis die Erkenntnis in mir aufblüht. Das Dessert ist Finnick und mir zum Opfer gefallen. Peinlich berührt starre ich auf die Tischplatte. Das kommt davon, wenn man sich einfach bedient. Aus dem Augenwinkel registriere ich, dass Finnick sich auf die Innenseite der Wange beißt, in dem Versuch, ein Lachen zu unterdrücken, aber das Funkeln in seinen Augen verrät ihn.

Verzweifelt scheint die Bedienstete Cece zu erklären, dass es keinen Nachtisch mehr gibt. Oder, zumindest nicht viel, denn alles haben wir nicht verputzt. Die Hände ringend macht das Mädchen schließlich kehrt und rennt zurück in die Richtung, aus der sie kam.

Peinlich berührt wendet Cece sich uns zu. »Ich muss mich entschuldigen. Da meint dieses unnütze Ding doch tatsächlich, dass wir keinen Nachtisch mehr haben.« Sie schüttelt den Kopf. »Keine Sorge, das klären wir.«

Ich wische die schwitzigen Handflächen an der Sitzfläche meines Stuhls ab. Hoffentlich rastet Cece nicht aus, wenn sie erfährt, was Finnick und ich getan haben. Trotzdem bin ich neugierig und lehne mich zu Floogs, der neben mir sitzt, und frage, wer das Mädchen war. Mitleidig seufzt er.

»Eine Avox. Die stummen Diener des Kapitols. Sie bedienen die Tribute in ihrer Zeit im Trainingscenter.«

»Stumm?«, frage ich überrascht.

Statt mir zu erklären, was es damit auf sich hat, macht er eine simple Geste. Ich blicke auf seine Finger, die diskret eine Schere formen. Verdutzt starre ich ihn an, bis sich mir die einzige plausible Schlussfolgerung offenbart.

»Sie – sie haben keine Zunge mehr?« Entsetzen breitet sich in mir aus, als Floogs bestätigend nickt. Unwillkürlich fährt meine Hand an die Lippen. »Wie furchtbar …«

Finnick gegenüber von uns ist anscheinend auf die Unterhaltung aufmerksam geworden. Er lehnt sich über den Tisch herüber, seine Stimme bloß ein zynisches Flüstern. »Nicht für das Kapitol. Stumme Diener sind besser als Laute. Sie lassen sich besser bestrafen und kleinhalten.«

Da kommt die stimmenlose Avox auch schon mit einer Etagere zurück, die mit den kläglichen Resten des Desserts bestückt ist. Offenbar haben Finnick und ich mehr verputzt als gedacht. In Ceces Augen brodelt bereits ein Sturm und bevor sie in Rage gerät, stehe ich auf und gehe dazwischen.

»Es tut mir wirklich Leid Cece … ich hatte Hunger und naja, das Einzige, was ich finden konnte – war anscheinend der Nachtisch im Kühlschrank. Das wusste ich nicht. Es ist meine Schuld.«

Bemüht, nicht in Finnicks Richtung zu sehen, starre ich auf die Wand hinter Cece. Am Tisch herrscht Schweigen. Alle Blicke ruhen auf mir. Ich beobachte, wie Ambers Augenbrauen langsam hochwandern. Dann fängt sie dröhnend an zu lachen. Der Rest meiner Mentoren fällt mit ein und es dauert nicht lange, bis sie sich Lachtränen aus den Augenwinkeln wischen, vor allem Finnick. Von der Avox ernte ich einen dankbaren Blick.

Lediglich Cece sieht aus, als ob sie auf eine Zitrone gebissen hätte. »Nun, äh, danke für die Aufklärung. Ich bin erschüttert über diesen Mangel an Disziplin.« Sie entlässt die Dienerin mit einer Geste. »Wenn ihr nicht bald in die Arena gehen würdet, gäbe es morgen keinen Nachtisch, aber so ... mache ich eine Ausnahme.«

Erleichtert, dass sie nicht allzu sauer ist, lasse ich mich wieder auf meinen Platz sinken. Der vermeintliche Mangel an Disziplin ist mir angesichts des nahenden Tods ziemlich egal. Finnick schenkt mir dafür ein amüsiertes Lächeln und nickt anerkennend.

Auch Pon grinst breit. »Annie, das war cool, den Nachtisch zu klauen«, flüstert er. »Aber nächstes Mal will ich ebenfalls was abhaben, ja?«

Ich muss lachen und fahre ihm durch die blonden Locken. »Versprochen.«

 

Als sich unsere kleine Runde langsam auflöst und die Stylisten das Appartement verlassen bin ich ziemlich dankbar. Endlich hat das Geschnatter ein Ende. Sie mögen ja durchaus Unterhaltungswert haben, aber nach einem so langen Abendessen gehen sie einem wirklich auf den Keks.

Pon gähnt herzhaft und sein Kopf rutscht auf meine Schulter. Inzwischen muss es mitten in der Nacht sein, denn die meisten Lichter in der Skyline des Kapitols sind verloschen. Ich fühle, wie auch mir die Lider immer schwerer werden.

Cece, die eben noch Roan verabschiedet hat, kommt herbeigestöckelt und beobachtet uns. »Wir sollten jetzt alle ein wenig schlafen gehen. Morgen wird ein anstrengender Tag«, flötet sie, genau wie gestern im Zug. Welcher Tag wird eigentlich nicht anstrengend?

Erleichtert machen Pon und ich uns auf den Weg in die Schlafzimmer. »Gute Nacht«, murmle ich schläfrig zu ihm und will gerade durch die Tür schlüpfen, da zupft er an meinem Ärmel.

»Annie?«

»Ja?«

Bedröppelt blickt er zu Boden. »Singst du mir noch einmal das Lied von der Meerjungfrau vor?«

Sein Anblick zieht an meinem Herz, so sehr erinnert er in diesem Augenblick an Cyle. »Natürlich«, sage ich mit einem Lächeln auf den Lippen.

In seinem Zimmer lasse ich mich auf die Kante des großen Bettes sinken und warte, bis er sich fertig eingekuschelt hat. Dann beginne ich leise zu singen.

 

Tief unten,

Im Meer,

Im bunten Riff,

Wer lebt dort wohl?

Es ist die kleine Meerjungfrau,

In ihrem Muschelsplitterhäuschen.

 

Sieh,

Wie sie mit den Wellen schwimmt,

Hör,

wie lieblich sie singt,

Ein kleines Wunder im Meer.

 

Ich beobachte, wie Pons Atem gleichmäßiger wird, während er mit geschlossenen Augen den Versen lauscht. Er ist nicht bloß eine Erinnerung an Cyle – sein fröhliches Lächeln und kindlicher Witz haben sich längst einen eigenen Platz in mein Herz gebrannt. Seufzend streiche ich ihm eine Locke aus der Stirn. Wenn seine Familie nur wüsste, wie tapfer er ist.

 

Sieh,

Wie ihr Haar schimmert,

Hör,

Wie klar ihre Stimme ist,

Ein kleines Wunder im Meer.

 

Tief unten,

Im Meer,

Im bunten Riff,

Dort lebt die kleine Meerjungfrau,

Sie schwimmt mit den Wellen.

Ewig.

 

Als die Schlussnote verklingt, ist Pon eingeschlafen. Müde bette ich den Kopf neben seinem auf das Kissen. Sämtliche meiner Glieder wiegen tonnenschwer und hindern mich daran, zu gehen. Ich beobachte das Bild, welches er statt der Stadtansicht eingestellt hat. Ein großer Mond steht über einem in den Schatten liegenden Feld. So schön und so falsch, genau wie das künstliche Meer. Stumm wie ein Avox, nicht einmal ein Flüstern zu hören. Mit diesem letzten Gedanken drifte ich langsam in den Schlaf.

 

Vom Schicksal gezeichnet

Ich wache früh auf am Morgen des ersten Trainingstages. Die Sonne über dem Feld ist noch nicht aufgegangen, lediglich ein schmaler Lichtstreifen am Horizont kündigt den neuen Tag an. Vorsichtig, um Pon nicht zu wecken, setze ich mich auf und strecke die verspannten Glieder.

Dafür, dass ich die Nacht auf der unbequemen Bettkante verbracht habe, war mein Schlaf tiefer als erwartet. Schwindelig ist mir trotzdem und ich wünschte, es wäre möglich, die Fenster zu öffnen, um eine kühle Meeresbrise hereinzulassen. Stattdessen sind wir hier eingesperrt und können nicht einmal die stickige Stadtluft hereinlassen.

Wackelig stehe ich auf und fühle, wie ein stechender Schmerz in meinen Kopf schießt. Anscheinend war es doch ein Fehler, hier einzuschlafen. Zumindest habe ich nichts geträumt – und wenn, erinnere ich mich nicht. Das ist auch besser so, der letzte Traum steckt mir noch in den Gliedern.

Pon schläft friedlich, seine Arme weit ausgestreckt, die Decke ans Fußende des Betts gestrampelt. Ich greife nach dem dünnen Stoff und schüttle ihn sanft über die schmale Gestalt meines Mittributs. Tief in Träumen versunken, regt er sich nicht einmal.

Auf Zehenspitzen schleiche ich aus dem Zimmer. Draußen im Flur ist alles dunkel, nur eine einzige Lampe spendet spärliches Licht. Glücklicherweise ist mein Raum nur ein paar Schritte den Gang hinunter und ich fantasiere bereits von einer warmen Dusche und dem weichen Bett ganz für mich allein, da erspähe ich einen Schatten im Flur. Wie ertappt halte ich inne, obwohl es kaum schlimm sein kann, früh morgens aufzustehen.

Die Gestalt löst sich aus dem Dunkel und verwandelt sich in den ewig grinsenden Finnick Odair, der in einem grässlich glänzenden dunkelgrünen Anzug steckt und aussieht, als sei er gerade von einer Party zurückgekehrt. Wenn ich mir die Lippenstiftspuren an seinem Hemdkragen so ansehe, liege ich damit wohl richtig. Das Schicksal scheint es wirklich darauf anzulegen, dass sich ausgerechnet unsere Wege in den unmöglichsten Situationen immer wieder kreuzen.

»So früh schon auf?«, fragt er mit einem langen Blick in Richtung von Pons Zimmertür. »Schon bereit fürs Training oder ...?«

»Sicher nicht. Ich will einfach nur in mein Zimmer.« Zu dieser Zwielichtstunde habe ich keine Energie für fröhliches Geplänkel und das Hämmern der Kopfschmerzen, die sich stetig steigern, drückt die Laune bloß weiter. Das Parfümgemisch, das Finnick anhaftet und Bilder von seinen Liebschaften im Kapitol vor meinem geistigen Auge erweckt, tut sein Übriges.

Finnick geht nicht darauf ein, sondern seufzt. »Du siehst aus, als ginge es dir nicht gut. Albträume?«

Gereizt reibe ich mir die Stirn, hinter der eine wütende Sirene ihr schreckliches Lied singt, wie metallene Fingernägel auf Glas. »Schönen Dank auch«, pfeffere ich ihm entgegen, »es kann halt nicht jeder so ein absolut fehlerfreier Schönling sein. Ich bin einfach nur müde!«

Ohne ihm noch einen Blick zu gönnen, stapfe ich an Odair vorbei. Der Schwindel nimmt zu und im Moment würde ich alles für eine frische Brise geben, die das Gedankenchaos klärt. Ich habe die Abgeschiedenheit meines Zimmers fast erreicht, als es passiert. Nur für einen Wimpernschlag wird mir schwarz vor Augen, doch das reicht, damit ich stolpere. Eine Hand presse ich an den Kopf, in dem sich alles dreht, mit der anderen versuche ich, mich an dem Türrahmen abzustützen, greife jedoch ins Leere.

»Hoppla«, murmle ich, aber die Worte geraten zu einem unverständlichen Nuscheln.

Finnick taucht blitzschnell und lautlos wie ein Schatten an meiner Seite auf. Ohne nachzudenken, ergreife ich seine ausgestreckte Hand und lasse mich von ihm stützen. Seine Finger sind angenehm kühl und ich könnte schwören, dass der Geruch des meilenweit entfernten Meeres unter all den fremden Parfüms des Kapitols noch immer an ihm haftet.

»Alles in Ordnung?«, fragt er, frei von anzüglichem Grinsen.

Ich nicke. »Nur ein wenig schwindelig.«

»Na, das sah mir nicht nach ‚ein wenig‘ aus. Lass mich dir helfen.« Sein Blick gleitet allerdings an mir vorbei, den dunklen Flur hinunter.

Erst jetzt erkenne ich die kleine Kamera, die dort kaum wahrnehmbar in der Ecke, direkt unter der Decke, hängt. Nehmen sie uns etwa die ganze Zeit über auf? Die unangenehme Erkenntnis durchfließt mich eisig kalt. Ist das hier nur ein Spiel für die Kameras? Wer sieht diese Szenen alles? Zerreißt man sich im Kapitol zum Frühstück das Maul darüber, wie Finnick Odair die dumme, naive Annie um seinen kleinen Finger wickelt?

Von einer neuen Welle des Zorns gepackt, entwinde ich mich aus seinen Armen. »Danke, aber ich brauche deine Hilfe nicht«, erkläre ich so laut und deutlich, wie es mir möglich ist. Dann öffne ich die Tür und verschwinde in das ruhige Zimmer dahinter.

Schwankend sinke ich auf die Bettkante und lege zwei Finger an die Innenseite des Handgelenks. Stetig pulsierend strömt das Blut durch meine Adern; schlägt mein Herz viel schneller, als es sollte. Ich zwinge mich, gleichmäßig ein- und auszuatmen, während ich langsam bis zehn zähle. In der Schulzeit hatte ich oft mit heftiger Nervosität zu kämpfen, deshalb hat Mama mir einige solcher Tricks beigebracht, die helfen, das mentale Gleichgewicht wiederzufinden, wie sie es nannte. Seitdem ist es besser, aber manche Situationen bringen trotzdem Rückfälle. Und momentan habe ich das Gefühl, dass alles über mir einstürzt wie eine wütende Flutwelle.

Ein altbekanntes Zittern verbreitet sich durch meinen Körper und Übelkeit gesellt sich zu Kopfschmerz und Schwindel wie ein alter Freund. Ich presse die Fingerspitzen gegen die Schläfen in dem verzweifelten Versuch, den zunehmenden Druck auszugleichen. Die Tür klappert leise, doch ich schaffe es nicht, den Kopf zu heben, um zu sehen, wer hereingekommen ist. Es ist ohnehin egal, denn es kann nur einer sein. Finnicks Hand berührt zaghaft meine Schulter und er bückt sich runter zu mir.

»Annie, ich sehe, das etwas nicht stimmt. Hast du Schmerzen?« Seine Frage ist frei von jeglichem Scherz. »Ich bin dein Mentor, weißt du. Ich bin hier, um dir zu helfen, nichts anderes.«

Diese Ernsthaftigkeit in seiner Stimme erinnert an unser abendliches Gespräch bei gestohlenem Dessert. Ich bin mir einfach nicht sicher, ob das nun der wahre Finnick Odair ist oder ob es alles Teil der Show ist. Letztlich drängen mich die hämmernden Schmerzen dazu, ehrlich zu sein, und ich nicke, ohne aufzusehen.

Mitfühlend streicht er mir über den Rücken. »Nur Kopfschmerzen oder ist da noch mehr?«

Vor lauter Übelkeit schaffe ich es nicht, eine Antwort hervorzupressen, also nicke ich bloß ein weiteres Mal. Einen Moment lang sitzt er schweigend neben mir, während seine Hand kleine Kreise auf meinem Rücken beschreibt. Ob das Teil seines Spiels ist? Gibt es sogar in diesem Raum Kameras? Gestern glaubte ich noch, eine Wahrheit entdeckt zu haben, doch mit der Entdeckung einer Überwachungskamera stellt sich mir aufs Neue die Frage, was echt und falsch ist, nicht nur in Bezug auf Finnick. Und es wäre mir definitiv lieber, wenn er mich nicht nutzen würde, um sein Image zu pflegen. Vermutlich ist meine Rolle hierbei ohnehin egal, schließlich ist er es, den die Kameras verfolgen und ich werde bald tot sein. Spätestens in ein paar Wochen hat man mich vergessen.

Nachdem Finnick mir keine weitere Antwort entlocken kann, fragt er, ob er jemand anderen holen solle. Ich nicke bloß, immer noch zitterig von dem Schwindelanfall. Genauso leise wie Finnick gekommen ist, geht er aus dem Zimmer und lässt mich alleine zurück.

Mit einem Seufzen fahre ich mir durch die Haare. Vermutlich ist es besser, wenn er nichts von meiner Schwäche ahnt. Diese unvermittelte Freundlichkeit wirft nur Fragen bei mir auf. Seine Gemütslage wechsel wie das Meer. In einem Moment ist er sanft, sorgsam und dann ist er plötzlich wieder ein wildes Wellenspiel aus Selbstsicherheit und Flirts. Es muss daran liegen, dass er ein Sieger ist. Niemand wird einfach so Sieger. Ich habe genug Karrieretribute gesehen, um zu wissen, dass ihre körperliche Stärke alleine nicht reicht. Viele verlassen sich auf ihre Muskeln und genau diese trügerische Sicherheit lässt sie verwundbar zurück. Man braucht einen eisernen Willen, darf keine Sekunde lang an diesem Weg zweifeln, so sagt man daheim. Wahrscheinlich hinterlässt das Spuren. Wenn ich an Finnicks Stelle wäre, würde ich alles verdrängen wollen, so viel ist sicher. Doch selber habe ich ohnehin weder körperliche noch geistige Stärke, da muss ich mir nichts vormachen.

In diesem Moment öffnet sich meine Tür erneut, und Mags schlüpft hindurch. Die ältere Mentorin balanciert ein kleines Tablett in den Händen und lächelt mich ermutigend an. »Ich habe Medizin dabei«, flüstert sie, während sie es auf einer Kommode platziert. »Keine Sorge, du bist nicht die Erste, der das passiert.«

Sie füllt ein feines, weißes Pulver in ein Wasserglas und reicht es mir. Ohne Zögern lege ich den Kopf in den Nacken und trinke den milchigen Inhalt aus.

Zusätzlich zu dem Wasser hat sie mir auch ein kleines Frühstück mitgebracht, bei dessen Anblick mein Magen begierig knurrt. »Danke Mags«, murmle ich und ziehe das Tablett näher. Kleingeschnittenes Obst liegt neben einem Seetangbrötchen von daheim. Nicht so aufregend im Vergleich zu den sonstigen Mahlzeiten im Kapitol, aber beruhigend bekannt.

Währen ich esse, legt Mags mir mitfühlend ihre faltige, kalte Hand auf die Stirn. Wie meine Mutter es getan hat, wenn ich als Kind Fieber hatte. Ausgerechnet jetzt vermisse ich sie fürchterlich.

»Nimm es nicht zu ernst«, brummelt Mags vor sich hin. »Noch hast du das ganze Training vor dir. Halb so schlimm.«

Ich weiß nicht, ob mich das wirklich beruhigen sollte. Schließlich wartet in den Tagen danach nur der Tod. Als Mags sich wieder auf den Weg in ihr eigenes Zimmer macht, um die letzte Stunde Schlaf nachzuholen, verschwinde ich unter der Bettdecke und warte, bis das Mittel seine Wirkung zeigt. Es dauert nicht lange, da fallen Schwindel und Übelkeit einfach von mir ab. Stattdessen schwebe ich auf kleinen Wölkchen, die nach zuhause duften. Die Umgebung blüht förmlich auf und jeglicher Schmerz verblasst. Ich hoffe, dass es nicht das ist, wofür ich es halte.

Morfix.

In den Distrikten erzählt man sich so einiges über die Wirkung dieses Schmerzmittels. Morfix lässt alle Gebrechen verschwinden, egal ob im Körper oder im Geist, doch bringen tut es Abhängigkeit. Jeder kennt die gelbe, eingefallene Haut der von Sucht gezeichneten Sieger, die einmal zu oft das Vergessen herbeigesehnt haben. Ein weiterer Verdienst des Mittels, egal ob Morfix oder nicht, ist, dass auch diese Sorgen eine nach der anderen davonfliegen. Hauptsache, es geht mir besser.

Entspannt sinke ich in die weichen Kissen zurück und widme mich den Resten des Frühstücks. Durch mein Fenster sehe ich, wie die ersten Sonnenstrahlen die Wolkendecke durchbrechen und das Kapitol in ihr Gold tauchen. Selbst hier, am unfreundlichsten Ort auf Erden, kann nichts diesen Anblick verderben. Mit besserer Laune widme ich mich dem noch warmen Brötchen und lasse den Blick durch das Zimmer schweifen.

Bis auf das Bett ist alles überwiegend steril eingerichtet. Grautöne dominieren die Wände. Auflockerung bringen lediglich ein paar Einrichtungsgegenstände aus Holz, wie die Kommode, auf der Mags das Tablett abgestellt hat. Meine Neugier wird durch ein gebogenes Stück Metall erweckt, das auf dem Nachttisch liegt. Rein vom Äußeren her ist kein Zweck ersichtlich, also lege ich das Brötchen beiseite und nehme den Gegenstand in die Hand. Erstaunt wende ich ihn hin und her, denn er ist leichter als erwartet. Die Oberseite gibt unter meinen Fingerspitzen nach und erhellt sich dann. Lauter Symbole erscheinen auf dem Silber. Eine Fernbedienung? Wahllos drücke ich auf eine der leuchtenden Nummern, und mir offenbart sich das dazugehörige Gerät: Mit ohrenbetäubendem Krach erwacht die Wand direkt gegenüber von meinem Bett zum Leben. Eine Frau tanzt zu einem albernen Lied vor mir, in ein buntes Federkleid gehüllt. Hastig betätige ich verschiedene Regler, um den Ton auf ein angemessenes Niveau zu bringen.

Für eine Weile betrachte ich fasziniert den Tanz, ehe mich die Neugier packt. Daheim haben wir nur einen Fernsehsender zur Auswahl, dessen Programm aus Nachrichten, staatlich veranlassten Sendungen und den Hungerspielen besteht. Doch hier verbirgt sich hinter jeder Nummer auf der Fernbedienung eine neue Welt. Bei der Vierzehn bleibe ich schließlich hängen. Schon die Musik, die ertönt, bevor das Bild umspringt, kommt mir unangenehm bekannt vor. Kurz darauf erkenne ich die prächtig geschmückte Straße von gestern Abend auf dem Bildschirm. Sie zeigen eine Wiederholung der Wagenparade.

Ich habe nichts verpasst, gerade nimmt Präsident Snow Platz in seiner Ehrenloge. Zum ersten Mal betrachte ich unseren Regenten näher. Er verzieht keine Miene, sondern blickt gleichgültig in die Menge seiner Untertanen herab. Sein Gesicht spricht allerdings eine eigene Sprache. Die Wangen sind eingefallen und trotz allem Make-Up auf seinen Zügen bemerke ich, dass seine Lippen trocken, gar eingerissen sind. Gesund sieht anders aus.

Von Snow schneiden die Kameras zu dem Streitwagen von Distrikt Eins. Gestern hatte ich keine Augen dafür, doch die Tribute sehen umwerfend aus. Vor allem das Mädchen, groß gewachsen und mit einem Wasserfall blonder Locken, fällt auf. Ihr Kleid besteht aus durchsichtigem Stoff besetzt mit unzähligen Glitzersteinchen, die das Scheinwerferlicht reflektieren.

Distrikt Eins – Luxusgüter. Ja, sie sieht wahrlich wie ein Diamant aus. Ebenso ihr Partner, der neben ihrem Glanz jedoch verblasst. Beide winken freudig dem Publikum zu und die Reaktion ist erwartungsgemäß euphorisch.

»Shine aus Distrikt Eins macht ihrem Namen alle Ehre, sehen Sie nur, wie sie scheint!«, brüllt Claudius Templesmith.

Dagegen erscheint Distrikt Zwei ungleich martialischer. In ihren Rüstungen, vermutlich an Bilder aus alten Geschichtsbüchern angelehnt, machen sie dem Ruf der Karrieretribute alle Ehre. Ich sollte umschalten, ruft eine Stimme in mir. Bald folgt der Auftritt von Pon und mir. Doch ich bewege mich keinen Zentimeter, bis unser Wagen von den Kameras erfasst wird.

Der Anblick verschlägt mir die Sprache. Eines muss ich Roan lassen, er hat es geschafft, uns selbstsicher zu präsentieren. Trotzdem flackert die Angst in den Augen von Pon und mir und für einen Karrieredistrikt sind wir nur kurz zu sehen.

Ausgerechnet der folgende Wagen aus Distrikt Fünf, dem Stromversorger des Landes, zieht mehr Blicke auf sich. Üblicherweise zählen sie nicht zu den Favoriten, doch in ihren diesjährigen Anzügen wirkt es eindrucksvoll so, als stünden sie unter Strom. Und im Gegensatz zu uns trägt das Outfit nicht die Tribute, sondern die Tribute ihr Image. Das Mädchen ist bereits achtzehn, wie ich Templesmiths Kommentar entnehme.

»Nora und Circe … vielleicht hält Distrikt Fünf ja dieses Jahr eine Überraschung für uns bereit?«

Aus den übrigen Distrikten folgen viele jüngere Kinder in denkbar unvorteilhaften Kostümen. Bloß das Mädchen aus Sieben, mit der feuerroten Naturmähne, sorgt für Aufsehen, da es komplett reglos dasteht und trotzig geradeaus sieht. Die schiere Anzahl der Tribute überwältigt mich. Wir sind nicht länger separate Schicksale auf den Festplätzen ferner Distrikte. Zum ersten Mal wird mir klar, dass die vierundzwanzig von uns sich bald in der Arena begegnen werden. Jeder will siegen, jedem steht ein Stück Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Egal ob es die stolze Shine aus Eins ist oder das drahtige Mädchen aus Sieben. Jeder hat seine Geschichte und niemandem kann man das Recht auf den Gewinn absprechen. Ich schlucke. Zum ersten Mal wird mir die Dimension der Hungerspiele bewusst.

Während Snows Rede werden immer wieder einzelne Tribute herangezoomt und unter die Lupe genommen. Ich versuche, mir so viele Gegner wie möglich zu merken, bevor ich ihnen im Trainingscenter das erste Mal gegenüberstehe. Besonders fällt mir noch das Mädchen aus Zehn auf. Trotz ihres albernen Outfits, bestehend aus Jeanshosen und Karobluse, beeindrucken ihre kräftigen Muskeln nebst finsterem Blick mich. Lauernd gleiten ihre Augen über uns übrige Tribute, als würde sie nach Opfern Ausschau halten.

Ich schiebe mir den letzten Bissen in den Mund und schalte endlich den unsäglichen Fernseher ab. Eine warme, wohl temperierte Dusche später stehe ich in der Trainingskleidung, die bei meiner Rückkehr auf dem gemachten Bett wartete, im Wohnzimmer. Pon trägt die gleichen Kleider wie ich, inklusive der großen Vier auf dem Rücken, und tritt von einem Fuß auf den anderen. Lange haben wir nicht, um uns mit der Situation anzufreunden, denn Cece und ihr straffes Zeitmanagement scheuchen uns zum Fahrstuhl. Ich weiß schon jetzt nicht mehr, wie oft ich ihr dankbar war, dass ihre Pläne mich vor ängstlicher Starre gerettet haben.

Auf Ceces Forderung hin haben die Mentoren noch ein paar letzte Ratschläge für uns, bevor wir in den Keller fahren. »Beeindruckt sie, ohne euer größtes Talent zu offenbaren«, empfiehlt Amber. Floogs dagegen klopft mir ermunternd auf die Schulter und sagt: »Du bist stark, Annie.« Finnick beschränkt sich auf ein wohlwollendes Lächeln – kein Kameragrinsen.

Im Keller angekommen, schubst Cece uns bestimmt aus dem Fahrstuhl, nicht ohne noch einmal zu betonen, wie stolz sie auf ihre zukünftigen Sieger ist. Als könnten wir beide es schaffen.

Pon und ich tauschen einen langen Blick. »Dann mal auf ins Training.« Um ein Lächeln bemüht, strubble ich durch Pons Locken.

»Stärke bewahren«, wiederholt er flüsternd einen Rat unserer Mentoren und sieht dabei zum ersten Mal aus wie ein Zwölfjähriger. Klein und so blass, dass seine Sommersprossen deutlich hervortreten.

Ich nicke ihm zu, denn die aufbauenden Worte bleiben mir auf halbem Weg in der Kehle stecken. Gleich begegnen wir uns auf Augenhöhe. Wir und zweiundzwanzig andere Schicksale, von denen jeder nur eins will. Leben.

Überleben.

 

Purpurea

Die Trainingshalle ist ein unangenehmer Ort. Es braucht nicht lange, bis ich das herausfinde. Da wir uns im Keller befinden ist es kälter als in den oberen, sonnendurchfluteten Stockwerken. Die Wände reichen weit in die Höhe und sind mit Metall verkleidet, sodass ich mich an das Erneuerungscenter erinnert fühle. Einige Meter über dem Boden hängt ein Kletternetz und auf der gesamten Fläche sind die verschiedensten Trainingsstationen verteilt. Ständer mit Schwertern, Speeren und bedrohlich funkelnden Messern warten auf uns.

Die Tribute aus Eins und Zwei haben sich bereits zusammengefunden und verfolgen die Ankunft von Pon und mir mit abschätzigen Blicken. Aus Richtung der ärmeren Distrikte schlägt uns Angst entgegen. Augen werden hastig abgewendet, wohin ich auch sehe. Der Ruf des Karrieredistrikts eilt uns voraus, obwohl wir bisher nichts getan haben, um diesen Eindruck zu festigen.

Unschlüssig stehen wir einen Moment in der Tür, ehe Shine, das blonde Mädchen aus Eins, sich erbarmt und zu uns schlendert. Aus der Nähe betrachtet ist sie noch hübscher als im Fernsehen. Trotz ihrer achtzehn Jahre lässt ihr herzförmiges Gesicht mit der Stupsnase sie jünger – gar niedlich – wirken. Ihr Blick gleitet von den Zehenspitzen bis zu meinem Haaransatz, dann breiten sich ihre Lippen zu einem Lächeln in bester Caesar-Flickerman-Manier aus.

»Zeigt heute, was ihr drauf habt, wenn ihr bei uns mitmachen wollt. Auch wenn’s für dich schwer wird, Kleiner.« Sie zuckt mit den Schultern und wickelt eine Locke um ihren Zeigefinger. »Sorry, aber du bist halt erst Zwölf.«

Anstatt eine Antwort abzuwarten, dreht sie sich auf dem Absatz um und schreitet zu ihren Verbündeten zurück.

Nach einem Augenblick der Erstarrung folgen Pon und ich ihr in die Halle zu dem Ring aus wartenden Tributen. Lange dauert es nicht, bis die Letzten zu uns stoßen, und eine gestählte Frau in weißer Friedenswächteruniform das Training offiziell eröffnet. Im Gegensatz zu den Bewohnern des Kapitols trägt sie keinerlei Make-Up. Was sich vermutlich damit erklären lässt, dass das überwiegende Gros der Soldaten aus Distrikt Zwei stammt und dort ausgebildet wird. Diese Frau begleitet also jedes Jahr Leute aus ihrer eigenen Heimat in den Tod.

»Hoffen wir auf eine ertragreiche Trainingswoche«, beendet sie ihren Vortrag über die Regeln – im Prinzip nur ‚nicht gegeneinander kämpfen‘ und ‚niemanden verletzen‘. »Die Stationen sind jetzt für euch eröffnet.«

Die Karrieretribute werfen uns einen vielsagenden Blick zu und verziehen sich in Richtung der Schwertkampfstation. Pon zögert kurz, dann läuft er in kleinen Schritten zu einer Bogenstation. Über die Schulter sieht er mich fragend an, doch ich schüttle nur den Kopf. An einem Bündnis habe ich kein Interesse, also gilt es auch niemanden zu beeindrucken. So wäre mir das Erwachen mit einem Messer in der Brust garantiert. Ganz zu schweigen davon, dass ich keinerlei bestehende Kampftalente habe. Das wird Shine schon früh genug bemerken und dann bin ich Fischfutter in ihren Augen. Oder was immer man in Distrikt Eins dazu sagt.

In der Ecke finde ich eine unscheinbare Station, abgeschirmt von den meisten Blicken, und beschließe kurzerhand, dort anzufangen, bis ich einen besseren Überblick habe. Zwischen lauter Pflanzen hockt ein kleiner Mann, der mich anstrahlt, sobald ich näher komme. »Schön, dass mir mal jemand aus Distrikt Vier Besuch abstattet! Die meisten deiner Distriktgenossen sind nicht sonderlich erpicht darauf, Giftpflanzen zu studieren.« Mit vollem Elan schiebt er verschiedene Töpfe mit Grünzeug in meine Richtung.

In den nächsten Stunden lerne ich, anhand der Blätter auf die Genießbarkeit von Pflanzen zu schließen, wie man Vergiftungen behandelt und Gifte einsetzt, um anderen zu schaden. Als kleine Prüfung sortiere ich einige Gewächse den Kategorien ‚unbedenklich‘, ‚sofort tödlich‘ und ‚schleichend tödlich‘ zu. Zufrieden sehe ich auf mein Werk hinab und will dem Trainer Bescheid geben, da hockt sich jemand neben mir hin und schüttelt langsam den Kopf.

»Digitalis purpurea – höchst giftig«, belehrt mich die Tributin und schiebt eine Pflanze mit rosa Blüten in eine andere Kategorie. Ihre Augen huschen über die Anordnung. »Zwei Fehler. Ein Glück, dass du nicht in der Arena bist.«

Auch dem Trainer steht der Mund offen, doch er beeilt sich, zu nicken. »In der Tat, da haben wir wohl eine Pflanzenkennerin!«

Das dunkelhäutige Mädchen mit dem seidenglatten Haar kommt mir bekannt vor. Distrikt Fünf, durchzuckt mich die Erkenntnis. Ohne blaue Stromblitze auf ihrer Kleidung sieht sie anders aus, doch die gerade Haltung und die stille Berechnung in ihren braunen Augen ist die Gleiche. Nora, flüstert Claudius Templesmiths Stimme mir ein.

Sie deutet noch einmal auf die rosa Blüten meiner Fehleinschätzung. »Jeder Teil dieser Pflanze ist höchst giftig, bereits eine kleine Menge reicht aus, um einen erwachsenen Menschen zu töten. Im Volksmund auch roter Fingerhut genannt. Allerdings wurde diese Pflanze in den dunkeln Tagen durch das Kapitol genetisch verändert, sodass sogar eine Berührung mit ihren Pollen ausreicht, um eine Vergiftung zu verursachen. Sofort tödlich also. Du erkennst diese Pflanze jederzeit an ihren schlauchförmigen, rot bis rosafarbenen Blütenblättern, die in Trauben von dem großen Hauptstiel herabhängen.«

Betreten wische ich die Hände an der Hose ab. Schon schnürt sich mein Hals zu. Habe ich aus Versehen die Pollen berührt?

»Danke für die Warnung«, würge ich hervor.

Nora grinst und wendet sich an den Trainer. »Dieser Pflanze wurden die Pollen entfernt, richtig?«

»Oh, ja. Den meisten Pflanzen hier wird ihr giftiger Wirkstoff entzogen, damit kein Tribut auf ... dumme Gedanken kommt.«

Er lächelt und widmet sich jetzt völlig Nora, um sie über ihre Kenntnisse auszufragen. Staunend beobachte ich, wie sie spielend leicht noch mehr Pflanzen kategorisiert.

»Woher kommt es, dass du so viel hierüber weißt? Ich dachte, Distrikt Fünf ist eher ... staubig und trocken. In der Schule haben wir gelernt, dass ein Großteil des Distrikts Wüste ist.«

»Richtig. Umso wichtiger, dass wir ein paar Pflanzen kultivieren, die unser Überleben sichern. Nicht jeder von uns arbeitet in der Stromgewinnung, auch wenn man im Kapitol so tut. Wobei wir aus manchen Gewächsen sogar Energie gewinnen können. Aber die Biomasseverfahren sind noch nicht so ausgereift, wie beispielsweise Hydroenergie.«

Ich verstehe kein Wort, betrachte aber dafür mit umso mehr Bewunderung, wie sie sich ein paar seltene Kreuzungen des Kapitols erklären lässt. Doch egal wie sehr ich versuche, mir all das zu merken, ich begreife, dass das Gespräch mein Verständnis bei weitem übersteigt. Also sehe ich mich an den übrigen Stationen um.

Ein Großteil der Tribute ist an den Kampfstationen verteilt. Shine demonstriert gerade umjubelt von den Karrieretributen ihre Schwertkampfkünste. Eine nach der anderen zerteilt sie eine Reihe Schaumstoffpuppen und zementiert damit ihre Favoritenrolle. Ich suche Pon, den ich schließlich hoch oben über dem Hallenboden in dem Kletternetz erspähe. Beruhigt wende ich mich ab und beschließe, der verlassenen Tarnstation einen Besuch abzustatten. Eine gelangweilte Frau sitzt neben einer Reihe an Farbtöpfen und liest auf einem papierdünnen Gerät. Es dauert, bis sie den Kopf von den bunten Bildern und grellen Schriften hebt.

»Ah, die Meerjungfrau«, stellt sie fest. »So beliebt, wie du und dein kleiner Partner sind, solltest du dich lieber an anderen Stationen vergnügen. Sonst war’s das recht bald mit den Sponsoren.«

»Ah ... was?« Ich und beliebt? Das habe ich nicht erwartet. Nicht wenn es Tribute wie Shine – oder auch Nora – gibt.

»Es ist das Outfit. Ist es immer. Na ja und der Kleine ist halt süß. Bis zu den Trainingsbewertungen reicht das vielleicht. Aber dann müsst ihr was Handfestes vorweisen.« Eine Hand mit entsetzlich langen Fingernägeln schließt sich um meinen Unterarm. Die Trainerin greift mit der Rechten einen Pinsel und beginnt, helles Blau aufzutragen.

Betroffen starre ich die Frau an. Also verzaubert Pon wirklich das Kapitol. Eigentlich sollte mich das freuen, doch es will mir nicht so recht gelingen.

»Wie komme ich in der Arena an solche Farben? Kann man sie von den Sponsoren bekommen?«, frage ich, um das Gespräch in sinnvollere Bahnen zu lenken.

Zur Antwort erhalte ich bloß ein trockenes Lachen. »Das sind Übungsfarben. In der Arena musst du dir was einfallen lassen. Nimm Erde oder Kalk. Je nachdem, wie die Arena aussieht. Aber wenn du schlau bist, lernst du, mit einer Waffe umzugehen.«

Die hellblauen Wirbel, die die Trainerin auf meinen Unterarm malt, nehmen die Form von Schuppen an. Schön und völlig überflüssig in der Arena. »Warum lernen wir dann nicht gleich, uns mit Dreck zu tarnen?«

»Oh, stell nicht so viele Fragen«, seufzt die Frau. »Glaub mir, es ist besser für dich. Geh einfach und lerne etwas Sinnvolles.«

Ist das ein Affront gegen das Kapitol? Gegen die Hungerspiele? Mir drängt sich die Vorstellung auf, wie viele Tribute sie bereits in den Tod begleitet hat. Vermutlich geben nicht nur manche Mentoren irgendwann auf.

»Hm, hübsch«, schreckt mich Noras Stimme von hinten auf. Sie tritt an uns heran und mustert das entstehende Fischschuppenmuster auf meinem Arm. »Wie passend für Distrikt Vier. Vielleicht hast du ja Glück und die Arena wird eine Unterwasserwelt. Auch wenn die Chancen dafür verschwindend gering sein dürften.«

Entgegen aller Anspannung zucken meine Mundwinkel nach oben. Sie hat ja recht, das hier ist absolut lächerlich. »Vielleicht reicht ein kleiner Bach, damit ich davonschwimmen kann«, halte ich dennoch dagegen.

Nora lächelt, mindestens ebenso breit wie Shine. Aber nicht nur das, auch ihre Augen strahlen. »Entschuldige, ich habe mich bei den Pflanzen gar nicht vorgestellt. Ich bin Nora, Distrikt Fünf. Falls die große Nummer auf meinem Rücken es noch nicht verraten hat.«

»Wäre mir fast entgangen«, schmunzle ich. »Aber tatsächlich hätte ich es auch so gewusst. Du hast gestern einige Aufmerksamkeit bei der Wagenparade erregt. Da sind wir wohl Leidensgenossinnen. Ich bin Annie, Distrikt Vier.«

Wir grinsen beide verlegen, dann wendet Nora sich an die Trainerin. »Kann man hier auch etwas ... Sinnvolles lernen? Etwas, das nicht hübsch aussieht, sondern Leben rettet?«

Die Frau rollt mit den Augen, mischt uns dann aber ein paar Braun- und Grüntöne, die denen in der Arena näher kommen und erklärt, wie wir damit unsere Kleider oder Rucksäcke tarnen können. Nora und ich bepinseln uns wie Kleinkinder mit Farben und zum krönenden Abschluss dürfen wir das Werk mit Zweigen und Blättern dekorieren. Wir sehen aus wie die menschliche Karikatur eines Baumes und ich bin froh, dass die Karrieretribute im anderen Teil der Trainingshalle beschäftigt sind.

»Schau uns nur an«, spöttelt Nora, »da bekomme ich glatt noch mehr Angst vor dem Mädchen aus Sieben.«

Ich schnaube leise – immerhin ist die beliebteste Waffe der Siebener eine Axt –, doch als ich Noras Blick durch die Halle folge, sehe auch ich die rothaarige Tributin, die sich an der Schwertkampfstation verausgabt. Ihr fehlt Shines eleganter Schliff, aber in ihren Schlägen liegt eine Wut, angesichts derer das Lächeln von meinem Gesicht rutscht.

Bis zum Mittagessen verbringe ich die Zeit mit Nora bei den Überlebensstationen. Wir reden nicht viel, aber ich gestehe, sie ganz nett zu finden. Ihre Fröhlichkeit ist ansteckend und lässt mich fast vergessen, wozu wir hier sind. Auf dem Weg zum Essenssaal am anderen Ende der Halle kommen wir jedoch an den Waffenständern vorbei. Interessiert mustert Nora die glänzenden Trainingswaffen.

»Nach dem Essen will ich das Messerwerfen üben, denke ich. Das habe ich schon mal zuhause ausprobiert, nur aus Spaß, mit meinem Bruder. Die ganze Baumsache wird mir wohl kaum das Leben retten, wenn die Karrieremeute es auf mich abgesehen hat. Was meinst du?«

Ihre Offenheit angesichts der Trainingsstrategie verblüfft mich. Ist das ein Trick? Hofft sie, dass ich ihr etwas von mir verrate? Amber hat schließlich davor gewarnt, mein wahres Können (wenn ich es denn hätte) zu zeigen. Die meisten Tribute demonstrieren ihre Fähigkeiten erst in der Einzelstunde vor den Spielmachern.

»Willst du deine Vorteile nicht ... geheim halten?«

Ein Schatten huscht über Noras Züge. »Oh, es ehrt mich, dass du denkst, es macht noch einen Unterschied. Dabei bin ich bloß das Mädchen aus Fünf.« Sie lächelt wieder, ehe sie sich zu schnell von mir abwendet. Vielleicht bin ich naiv, doch ihre Worte hören sich aufrichtig an.

»Dann sind wir schon zwei einfache Mädchen«, erwidere ich. »Vielleicht finden wir ja noch unsere Superkräfte. Du kennst dich immerhin schon mit Pflanzen aus.«

Nora lacht leise. Von hier an ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass wir die Mittagspause gemeinsam verbringen. Die Karrieretribute indes machen es sich in der Mitte des Speisesaals an einer langen Tafel bequem und reden so laut miteinander, dass niemandem entgeht, wie sie von ihren Trainingserfolgen erzählen.

Pon sitzt am Tisch neben ihrem, bloß eine Armlänge zwischen sich und den anderen Tributen. Er winkt mich zu sich. Einen Moment zögere ich und tausche einen fragenden Blick mit Nora, die nur mit den Schultern zuckt. Also setzen wir uns dazu, was Shine veranlasst, ihre Augenbrauen hochzuziehen.

»Wir hatten uns schon gefreut, deine Fähigkeiten zu bewundern«, ruft sie lauter als nötig herüber. »Ehrlich, Cresta, du enttäuschst mich.«

Ihr Mittribut kichert. »Sie wollte wohl lieber Erde fressen mit Fünf. Die beiden brauchen eigentlich kein Mittagessen mehr.«

Prompt erröte ich und werfe Nora einen um Entschuldigung heischenden Blick zu. Die hat ihre Augen fest auf das Essen gerichtet, ihre Miene wie versteinert. Sicher bereut sie es, sich mit mir abzugeben. Niemand will zur Zielscheibe der Karrieretribute werden.

»Das Beste kommt immer zum Schluss«, versuche ich einen Witz und würde mir am liebsten gleich darauf die Zunge abbeißen.

Shine hält eine Hand vor den Mund, aber ihr Lachen höre ich trotzdem. Grinsend lehnt sich ihr Partner in seinem Stuhl zurück. Wahrscheinlich wägt er in Gedanken ab, wie er mich in der Arena töten wird. »Süß, wie überzeugt du bist. Man weiß gar nicht, wer putziger ist, du oder der Zwölfjährige.«

Pon setzt sich sofort aufrechter hin und funkelt den gefühlt doppelt so großen und breiten Tribut aus Eins an. Rote Flecke zieren seine Wangen. »Wenigstens werden wir nicht an Vergiftungen sterben. Das wäre der peinlichste Tod.«

Die athletische Tributin aus Distrikt Zwei fährt sich durch das raspelkurze braune Haar und mustert ihre Verbündeten mit erhobener Augenbraue. »In Sachen Peinlichkeit hat er recht. Die Leute würden lachen, wenn ausgerechnet die Tribute von Eins sich im Arenaschlamm suhlen, weil sie die falschen Beeren gegessen haben. Adieu Favoritenrolle.« Sie winkt dem Einser und das Lächeln auf ihrem androgynen Gesicht hat etwas Haifischartiges. »Kann schnell gehen, schließlich ist die Arena ... unberechenbar.«

Damit ist klar, dass sie ihre beiden Bündnispartner am liebsten zum Frühstück verspeisen würde. Meine Vorurteile gegenüber den Karrieretributen sehen sich einmal mehr bestätigt. Das Trainingscenter ist ein Raubtierkäfig und wer nicht aufpasst, wird gefressen, lange bevor die eigentlichen Hungerspiele beginnen.

»Du kannst ja unsere Vorkosterin sein, Maylin, wenn du dich so gut auskennst.« Der Einser spießt ein Stück Fleischstück auf seine Gabel und Stille legt sich über den Speisesaal.

Die meisten Tribute sitzen alleine, ein paar bei ihren jeweiligen Distriktpartnern. Wo immer ich hinsehe, begegnen mir schreckgeweitete Augen. Außer bei dem Mädchen aus Sieben, das stur auf ihre Portion Reis mit Huhn sieht. Niemals kann ich mit allen hier Frieden schließen.

Mir ist der Appetit vergangen. Meinen Nachtisch schiebe ich zu Pon, dann gehe ich zur Tablettrückgabe. Auf halbem Weg stolpert etwas – oder besser jemand – gegen mich. Strauchelnd greife ich nach dem Tisch der Tribute aus Zwölf. Hinter mir steht ein kleines Mädchen, eine weitere Zwölfjährige. Aus kugelrunden Augen starrt sie zu mir hoch, doch wie bei einem Fisch kommen aus ihrem Mund keine Worte, obwohl er sich öffnet und schließt.

»Alles gut«, murmle ich hastig. Die Situation ist für uns beide peinlich genug.

Mit hochrotem Kopf bringt die Kleine noch ein »Entschuldigung« hervor, dann flitzt sie eilig fort.

Zum ersten Mal haben die Leute aufrichtig Angst vor mir. Ein falsches, eigenartiges Gefühl, wo ich doch selber kein Stück mutiger als die Kleine bin. Alles nur wegen des Rufs von Distrikt Vier. Sollte ich mich darüber freuen? Eher nicht. Wenn die übrigen Tribute erstmal verstanden haben, dass ich wehrlos bin, wird sich das Blatt wenden – bald.

 

Nach der Mittagspause hat sich die Trainingshalle verändert – in einem kleinen Raum, rund vier Meter über dem Hallenboden, sitzen plötzlich Kapitolbewohner und betrachten uns wie einen Haufen lästiger Ameisen. Sie tragen alle eine Art schwarz-rote Uniform, doch einer sticht trotzdem aus der Masse hervor. Er thront auf einem samtenen Sessel und auf seinem von unzähligen Operationen gezeichneten Gesicht ist keine Regung zu erkennen. Auf eine groteske Art erinnert er mich an den Präsidenten. Auf einmal wird mir klar, woher ich den Mann kenne – es ist der oberste Spielmacher. Victorius Savage.

Die zusätzliche Beobachtung gefällt mir nicht im Mindesten und ich spiele mit dem Gedanken, mich erneut in der hintersten Ecke bei den Überlebensstationen zu verstecken. Aber Pon packt meinen Arm.

»Annie, die anderen wollen Speerwerfen üben. Komm mit, bitte. Das können wir beide. Da kannst du sie bestimmt beeindrucken. Dann lassen sie dich in Ruhe!«

Schweren Herzens folge ich Pon zu den Karrieros an einer Station, die gut sichtbar entlang der Stirnseite der Halle aufgebaut ist. Wir bieten den Spielmachern einen exzellenten Ausblick auf unser Können. Ihre Augen scheinen sich wie Messer in meinen ungeschützten Rücken zu bohren.

Maylin macht den Anfang. Sie greift einen Speer, wiegt ihn kurz in der Hand und streckt sich, dann hebt sie die Waffe auf Schulterhöhe. Drei, vier Schritte nimmt sie Anlauf. Sekunden später werden wir Zeugen, wie die Speerspitze sich in der Zielscheibe versenkt. Nicht überragend, aber sie hat getroffen. Ein Tribut wäre schwer verwundet.

Shines Versuch ist von ähnlichem Glück gekrönt. Sie schnalzt kurz mit der Zunge und ihre Hand ballt sich zu einer Faust. Doch als sie sich zur mir dreht, trägt sie wieder ihr unnatürliches Lächeln zur Schau. Mit einer Verbeugung fordert sie mich dazu auf, ihren Platz an der Stoßlinie einzunehmen.

Widerspruch ist zwecklos. Ich greife einen Speer und trete vor. Das Metall liegt eiskalt in der Hand. Vor lauter Aufregung rutscht mir der blanke Schaft fast zu Boden, so sehr schwitze ich. Die einfachen Holzspeere zuhause sind ganz anders als diese Waffen. Bei diesem ist das Material leichter, der Schwerpunkt auf der falschen Höhe. Mein Heimvorteil dürfte verschwindend gering sein. Aber ein Rückzieher ist nicht möglich.

Einatmen, ausatmen. Ich hebe den Speer. Schließe die Augen. Stelle mir vor, dass ich einen wahnsinnig dicken Fisch erlegen will. Ein Lächeln huscht über meine Lippen. Wie in Trance nehme ich Anlauf. Drehe den Oberkörper, lassen den Arm vorschnellen. Der Speer fliegt mir aus der Hand. Ich spüre einen kalten Lufthauch und Sekunden später gibt es einen harten Schlag. Erst dann öffne ich die Augen. Die schlanke Waffe steckt vibrierend in der Zielscheibe. Nicht mittig – aber näher als Maylin oder Shine gekommen sind.

Überrascht starre ich auf mein Werk, dann zu den Karrieretributen. Auch auf ihren Gesichtern liegt eine Mischung aus Verwunderung und Anerkennung. Allen voran Shines Partner, dessen Namen ich immer noch nicht weiß, betrachtet mich mit neuem Interesse. Aber zu dem Stolz in mir gesellt sich ein weiteres Gefühl. Bedauern. Den Umgang mit dem Speer, den mein Vater mir als kleines Kind beibrachte, sollte niemals zu dem werden, was ein Leben nimmt. Es so zu benutzen ist ... falsch.

Die übrigen Karrieretribute werfen zwar nicht so genau wie ich, doch die Wucht, mit der sie die Zielscheibe treffen, gleicht das aus. Alle von ihnen könnten lebenswichtige Organe verletzen. Zum Schluss ist Pon an der Reihe. Im Gegensatz zu mir hält er die Augen offen, ohne Durchatmen oder Moment des Zögerns. Er hebt den Arm und der Speer fliegt. Knackend trifft die Spitze auf die Scheibe. Ich zucke zusammen, die Hände auf halbem Weg zu den Ohren, so laut ist der Einschlag. Mein Herz pocht wie wild, aber niemand bemerkt es. Alle haben Pon umringt, dessen Speer im roten Mittelpunkt der Zielscheibe steckt.

Die zitternden Finger zu Fäusten geballt, wende ich mich ab. Die Blicke der Spielmacher in ihrer Loge ruhen aufmerksam auf unserer Gruppe. Sie betrachten uns Tribute voll sensationslüsternem Hunger, freuen sich wahrscheinlich schon auf das Drama, das ihnen die großen Bündnisse jedes Jahr bringen. Vielleicht denken sie darüber nach, mit welchen Fallen sie die einzelnen Distrikte gegeneinander aufbringen können. Steifen Schrittes entferne ich mich von der Trainingsstation und den Karrieretributen. Pon kommt auch alleine klar, so viel ist sicher. An der Station für das Feuermachen erspähe ich Nora und beschließe, es ihr gleichzutun.

»Genug mit den Karrieros gespielt?«, fragt sie, als ich mich neben ihr auf das simulierte Waldstück setze. Den Vorwurf in ihrer Stimme bilde ich mir bestimmt nicht ein.

Ich seufze. »Das habe ich nur für meinen Distriktpartner getan. Und du? Hast du etwa schon genug vom Messerwerfen?«

Sie übergeht meine Frage. »Will der Kleine sich etwa den Karrieros anschließen?«

Unbestimmt zucke ich mit den Schultern. Wer weiß, was Pon nach diesem Trainingstag vorhat? Klar, er ist erst zwölf – aber bis zu Finnicks Sieg hat auch niemand geglaubt, dass ein Vierzehnjähriger es schaffen kann.

Nora beobachtet mich aus dem Augenwinkel. »Was ist mit dir? Was willst du?«

»Ihn beschützen. Um jeden Preis.« Darüber brauche ich nicht nachdenken. Diese Antwort ist die einzig mögliche.

»Verstehe«, murmelt Nora und sieht auf den schwelenden Rauch aus dem kleinen Blätterhaufen zwischen ihren Knien. Sie pustet hinein und mehr Qualm steigt empor. »Weißt du ... ich kann nicht mit potentiellen Karrieros zusammenarbeiten. Entschuldige, Annie. Aber ich habe auch jemanden zu beschützen.« Sie steht auf und geht, ohne sich noch einmal umzusehen.

Stumm schaue ich der großen Fünf auf ihrem Rücken nach. Wenn Pon nicht wäre, hätte ich sie gerne um ein Bündnis gebeten. Aber so wie es steht, kenne ich sie viel zu kurz, um den Verlust wirklich zu bedauern. In Ermanglung einer besseren Aktivität versuche ich, den Blätterhaufen zum Brennen zu bekommen. Zunächst atme ich bloß Rauch ein, doch am Ende züngeln die ersten Flammen empor. Einigermaßen stolz mustere ich den kleinen Brand.

»So so, Feuermachen kannst du also auch.«

Aufgeschreckt wirble ich herum. Hinter mir steht Shines Distriktpartner. Ich könnte mich ohrfeigen, nicht bemerkt zu haben, wie er sich angeschlichen hat.

»Ehrlich beeindruckend. Aus Blättern könnte ich kein Feuer machen.«

»Ach, das ist nicht mein Verdienst -« Schon will ich erwähnen, dass Nora die Grundlage geschaffen hat, kann mich aber im letzten Moment bremsen. Die Stärken der anderen sollte ich den Karrieros nicht offenbaren.

»Wessen denn dann?«, erkundigt sich der Einser natürlich dennoch, eine Augenbraue erhoben.

»Das musst du selber herausfinden.«

Zum zweiten Mal an diesem Tag grinst der Karriero über meine Worte. »Gefällt mir. Ich bin Slay.«

Das ekelhaft arrogante Grinsen würde ich ihm nur zu gerne aus dem Gesicht wischen. Jetzt begreife ich, warum alle Welt Finnick so sehr liebt – er hat wenigstens Herz und einen gewissen Charme kann ich ihm nicht absprechen. Slay dagegen ist einfach von sich selbst eingenommen.

»Annie, aber das weißt du ja eh.«

»Auf gute Zusammenarbeit?«

Jetzt bin ich dran, die Augenbrauen hochzuziehen. Warum möchte ausgerechnet dieser Karriero mich in seinem Team haben? »Mal sehen ...«

Zum Glück unterbricht eine Lautsprecherdurchsage meine Antwort und verkündet, dass der Trainingstag vorbei ist. In der Reihenfolge unserer Distrikte dürfen wir zurück nach oben fahren. In Gedanken wähne ich mich bereits unter der Dusche, da schließt Shine zu mir auf. Im Vorbeigehen ergreift sie mein Handgelenk. Ihre geflüsterten Worte kommen aus dem Nichts, wie eine kleine Schnittwunde, die plötzlich im Meerwasser brennt.

»Noch bist du nicht dabei. Bilde dir ja nichts auf Slays Interesse ein. Er mag dich nur, weil du gut aussiehst. Aber ich dulde keine Schwäche, weder seine noch deine.«

Shines hübsche Lippen verziehen sich zu einem grausamen Lächeln, das so gar nicht zu ihrer liebenswerten Erscheinung passt. Ich nicke, will sie loswerden, aber sie lässt nicht los. Im Gegenteil, ihre Fingernägel bohren sich tiefer in meine Haut.

»Wir werden sehen, wie schwach du bist.« Dann verschwindet sie im Fahrstuhl und winkt spöttisch in die Menge, ehe sie mit Slay nach oben entschwindet.

Endlich in unserer Etage angekommen, wartet zum ersten Mal seit einer kleinen Ewigkeit Ruhe auf Pon und mich. Niemand ist da, nicht einmal Cece. Hinter den Glastürmen des Kapitols versinkt die Sonne bereits wieder und taucht den Wohnbereich in Honiggold. Fern vom steten Waffenklirren bemerke ich erst die Verspannungen in meinen Schultern.

»Zeit für eine Dusche«, bekunde ich das Bedürfnis nach kühlem Wasser.

Pon grinst. »Und ein schönes Abendessen. Hoffentlich mit Nachtisch!«

Ein Lachen bricht aus mir hervor. Ohne die Blicke der Karrieros traue ich mich wieder, ihn zu umarmen. Er drückt ebenso fest zu und einen kleinen Moment verharren wir so. Aber schließlich gewinnt der Schweißgeruch Oberhand.

Unter der Dusche lege ich den Kopf in den Nacken und schließe die Augen, in dem Versuch, mir vorzustellen, dass ich in einem der berüchtigten Sommerregen von Distrikt Vier stehe. Doch die Gedanken werden immer wieder von Shine durchbrochen. Von dem bösartigen Lächeln auf ihren pinken Lippen, die mich so sehr an die giftige Purpurea erinnern. Beide absolut tödlich.

Mit einem Mal ist das Wasser eisig. Ich drehe am Hitzeregler, doch die Kälte kommt aus meinem Inneren. Sie wird mich nie mehr loslassen. Die Angst ist ab sofort ein Teil von mir. Ich kann sie nur verdrängen, nicht besiegen.

 

Wille und Wirklichkeit

Unser Training ist das Topthema beim heutigen Abendessen. Doch selbst angesichts des drohenden Todes und allem, was damit einhergeht, kann ich dem Geruch von Köstlichkeiten offenbar nicht widerstehen, denn mein Magen knurrt weithin wahrnehmbar. Eine Weile probiere ich mich durch die Gerichte, während Pon von seinem Tag erzählt. Als ich schließlich an der Reihe bin und von dem Besuch bei den Überlebensstationen berichte, komme ich nicht weit, bevor Amber meine Erzählungen mit einem Schnauben unterbricht.

»Du kannst dich den Kampftechniken nicht erwehren, sonst bist du ein gefundenes Fressen für die Karrieretribute. Glaub mir, wenn du wehrlos bist, werden sie dich vor deinem Tod leiden lassen.«

Langsam senke ich die Hand mit der angebissenen Pastete. Einerseits schneiden Ambers Worte tief, schüren diese Furcht, die mich seit der Ernte verfolgt und andererseits ... schlingen sich Dornenranken trotzig um mein Herz. Diese letzte Woche – nein, Tage ... ach, Stunden! – werde ich doch wohl nach meiner Vorstellung füllen dürfen. Mir selber aussuchen, wie ich dem Tod entgegentrete. Wenn das Kapitol mir schon sonst alles nimmt.

»Die Überlebenstechniken halte ich trotzdem für sinnvoller. Außerdem habe ich mit Pon einen Speer geworfen. Und überhaupt – ich habe nicht vor, mich den Karrieros anzuschließen. Ich würde gerne eine Allianz mit Pon bilden. Weit weg von den Karrieretributen.«

Fett tropft aus der Pastete auf meinen Teller. Ich beiße mir auf die Unterlippe und verdamme die vorwitzige Annie, die immer in den falschen Momenten hervor platzt; die falschen Leute verärgert. Wenigstens nickt Pon begeistert über das Bündnisangebot.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Finnick sich amüsiert zurücklehnt. »Hast du gehört, Amber? Sie hat etwas Sinnvolleres gelernt. Anscheinend hält sie nichts von unserer Haudrauftaktik.« Er zwinkert mir zu. »Vermutlich ist sie cleverer als wir alle zusammen.«

»Auf jeden Fall ist sie das«, brummt Mags. »Ihr seid alles Holzköpfe. Sie weiß, worauf es ankommt, während ihr allesamt in der Arena auf Glück angewiesen wart, nachdem ihr die Überlebensstationen ignoriert habt.«

»Glück gewinnt die Spiele.« Amber verschränkt die Arme, bedrängt mich aber nicht weiter.

Das Abendessen wird zum Abschluss von einem Eis mit Erdbeeren gekrönt. Finnick und ich tauschen einen amüsierten Blick, in Gedanken bei unserem gestrigen Nachtischdiebstahl. Cece entgeht der wortlose Austausch nicht. Sie schürzt die Lippen, als würde sie faulen Fisch riechen.

»Wenigstens haben wir heute alle Nachtisch«, bemerkt sie spitz.

Angesichts ihrer Strenge wird das Grinsen auf unseren Gesichtern nur größer. Ich fühle mich wie ein kleines Kind – ein herrliches Gefühl inmitten all der Angst.

»Ihr habt Glück, dass ich so nachsichtig bin«, schimpft Cece fort und nun können Finnick und ich ein Glucksen nicht unterdrücken. »Du hast es dir mit deiner guten Leistung heute verdient, Annie, ganz im Gegensatz zu ...« Ceces Augen ruhen auf Finnick, aber sie lässt den Satz unfertig in der Luft hängen.

»Was täten wir nur ohne dich, allerliebste Cece.« Theatralisch legt Finnick die Hände auf sein Herz und klimpert mit den Wimpern. »Oh großartige Nachtischgöttin, bitte beehre mich auch morgen wieder mit einem leckeren Pudding und bestrafe mich nicht für das Vernachlässigen meiner Termine!«

Mir entweicht ein Japsen. Ich presse eine Faust vor den Mund, doch die Lachtränen lassen sich nicht zurückhalten und schließlich gebe ich auf. Kichernd krümme ich mich zusammen. Der ganze Tisch lacht inzwischen über unsere Betreuerin. Peinlich berührt dreht Cece ihren Dessertlöffel in den Fingern, dann zwängt sie ein ungelenkes Lächeln auf ihre Lippen und versenkt das goldene Löffelchen im Vanilleeis.

Ich genieße die gezuckerte Süßspeise mit jedem winzigen Bissen. Den Lauf der Zeit verlangsamt das Eis leider nicht. Viel zu schnell ist die Schale alle und das abendliche Spezialtraining steht auf dem Plan. Einer nach dem anderen entschwinden Pon und die Mentoren, um sich umzuziehen. Als Letzter erhebt sich Finnick und ich sitze alleine an dem großen Tisch. Das Hochgefühl verlässt mich genauso schnell, wie es gekommen ist.

Finnick ist schon an der Tür, da folge ich einer plötzlichen Eingebung. Ohne weitere Überlegung formen meine Lippen seinen Namen. »Finnick?«

Ebenso erstaunt, wie ich über mich selbst bin, dreht er sich um. »Was ist?«

Ich schaue auf meine Hände hinab und weiß nicht länger, womit ich anfangen soll. Wollte ich nur nicht alleine sein? Er scheint zu bemerken, dass ich den Faden verloren habe, und kommt zurück. Wortlos setzt er sich wieder. Sein Blick ruht auf mir, besorgt. Sanft. Er stellt keine weiteren Fragen, sondern wartet ab. Ich hole tief Luft und mustere ihn einen Moment lang. Eigenartig, aber wenn er so ... ruhig ist, habe ich das Gefühl, einen Verbündeten in all diesem Wahnsinn zu haben. Diesen Sieger, nur ein Jahr älter als ich. Der Gedanke bringt mich aus dem Konzept. Und doch trennen uns Welten. Oder?

Sein Blick begegnet meinem, Meerblau trifft auf Meergrün. Er legt fragend den Kopf schief und ich – starre ihn an. Auf seinem Wangenknochen, direkt unter dem linken Augenwinkel, erkenne ich den schwachen Schatten einer Sommersprosse. Einzeln und verloren auf dem perfekt geformten Antlitz des größten Kapitollieblings. Ob das Vorbereitungsteam sie bei ihm ebenso hasst wie bei mir? Schminkt er sie jeden Tag über? Oder ist die Entfernung gar permanent? Der Gedanke stimmt mich traurig.

Danach kann ich Finnick unmöglich fragen. Stattdessen eröffne ich das nächstbeste Thema – Training. »Was glaubst du, hat dir am meisten beim Sieg geholfen? Die Kämpfe ...« Ich zucke mit den Schultern. »Oder etwas anderes?«

»Mh ... Willst du wissen, ob Amber recht hat?«

Ich drehe eine Haarsträhne um meinen Finger. »Vielleicht ein bisschen. Aber sag es ihr nicht.«

Der Sommersprossenschatten wandert in die Höhe, als Finnick schmunzelt. »Natürlich nicht.«

Viel zu schnell verliert sich der Ausdruck und sein Blick gleitet in die Ferne. Er fährt sich durch die Haare. Nicht in dieser Geste, die Aufsehen erregen soll, sondern beiläufig, nachdenklich. Wie ich zuvor sieht er überall hin, nur nicht zu mir. Und wie er warte ich geduldig.

»Weil ich der Schönste war.« Seine Worte sind so bitter, dass sofort klar ist, dass es kein Scherz ist. »Ich habe alle Sponsoren bekommen. Natürlich war ich stark, konnte kämpfen – aber glaub mir, so manch anderer Karriero oder Tribut hätte die Spiele genauso gut gewinnen können, wenn ich den Dreizack nie bekommen hätte. Bei den Hungerspielen geht es um so viel mehr als körperliche Stärke ... Manchmal reicht ein winziger Vorteil, um den Unterschied zwischen Sieger und Verlierer zu ziehen.«

»Wünscht du dir manchmal, das Sponsorengeschenk nicht bekommen zu haben?«, frage ich unvermittelt. Die Worte kommen mir einfach so in den Sinn. Erst beim Anblick seiner geweiteten Augen begreife ich die Unhöflichkeit darin.

Zu meiner Überraschung schnaubt Finnick amüsiert. »Das hat mich noch nie jemand gefragt, aber ... ja. Manchmal schon. Und manchmal bin ich verdammt froh, deswegen noch am Leben zu sein.« Er schweigt einen Moment, ehe er fortfährt. »Genau deshalb glaube ich übrigens, dass du es schaffen kannst. Du musst nicht brutal sein, um diese Arena zu überleben. Du bist clever. Mutig. Und schön genug, um so manchen im Kapitol zu überzeugen.«

Im Gegensatz zu dem ersten, scherzhaften Kommentar im Zug über mein Aussehen klingen seine Worte dieses Mal unendlich müde. Ich werde nicht einmal rot, denn mir ist klar – diese Art von Begehrlichkeit bedeutet in seinen Augen nichts Gutes. Das ist kein verqueres Kompliment, kein Flirten. Seine Feststellung ist genauso sachlich wie Mags‘ Erklärung, dass mein Auftritt bei der Wagenparade ausreicht, um ein paar Sponsoren anzulocken. Finnick bedauert mich, auch wenn ich nicht ganz verstehe, weshalb. Aber das Gewicht auf seinen Worten wiegt schwerer als verlorene Sommersprossen.

»Du bist eine starke Tributin«, setzt er seinen Ausführungen bestimmt hinzu.

»Wie kommst du darauf?«

»Oh Annie«, er deutet auf seine Oberarme, »du bist nicht dort stark, sondern hier.« Die Hand wandert zu seinem Herzen. Als er sich über Cece lustig gemacht hat, wohnte der Geste etwas Lächerliches inne, doch jetzt klimpert er nicht mit den Wimpern und seine Bewegung ist langsam, ernst. »Ich bewundere deinen Einsatz für Pon. Deine Überzeugung, niemanden zu töten. Deine Kraft, dich diesem Schicksal zu stellen. Dein Wille ist deine schärfste Waffe. Das kann das Kapitol dir nicht nehmen, solange du es nicht zulässt.«

Seine Worte sind die größte Aufmunterung, die mir jemand entgegengebracht hat, seit mein Name über den Festplatz von Distrikt Vier schallte. Alle Härchen auf meinem Körper – dank der Arbeit des Vorbereitungsteams sind kaum welche übrig – richten sich auf. Es sind die Worte, die ich mir von David erhofft habe. Stattdessen kommen sie von einem Mann, durch dessen Hand sechs Menschen gestorben sind und von dem ich sehr überzeugt war, dass er unausstehlich sei.

Angesichts meines Schweigens lächelt Finnick fast schon unsicher. »Ehrlich, Annie. Ich bewundere dich. Eine Tributin wie dich hatte Distrikt Vier noch nicht.«

»Wart nur ab, bis die Spiele begonnen haben und mir diese Einstellung das Leben kostet, dann hat sich das erledigt«, gebe ich der dunklen Stimme in mir nach. Er kann nicht Recht haben! »Oder noch schlimmer – wenn ich zur Mörderin werde. Wer weiß schon, was in der Arena passiert? Vielleicht drehe ich ja durch, schneide meinen Verbündeten die Kehlen durch, wie das Mädchen vor zwei Jahren. Dann kannst nicht mal du wollen, dass ich zurückkehre.«

Finnick schneidet eine Grimasse. »Du bist nicht wie die Tributin vor zwei Jahren. Das kannst du mir glauben, immerhin war ich auch ihr Mentor. Und selbst wenn du dich verteidigst und dabei jemandem das Leben nimmst, ändert es nichts daran, dass du eine verdammt großherzige, liebevolle Person bist. Auch gute Menschen können Schreckliches tun. Glaub mir, es gibt genug solcher Schicksale unter den Siegern. Wir aus Vier sind vielleicht nicht das beste Beispiel, aber Cecilia aus Acht ist eine herzensgute Person. Trotz ihrer Hungerspiele.«

»Danke Finnick, aber ... Du musst wirklich nicht so tun, als wäre ich besonders toll. Hör auf, mir Hoffnungen zu machen, dass dieser Wahnsinn irgendwie vorübergehen wird!« Inzwischen schreie ich fast. Die gehässige Stimme in mir will nicht schweigen. Wenn nicht einmal David an mich glaubt, muss Finnick Odair einfach lügen! »Ich dachte, du würdest mich verstehen, aber falls das irgendein Spiel für die Kameras ist, dann ... lass es!« Bei diesen Worten rinnt mir eine Träne die Wangen herunter.

Bestürzt sieht Finnick auf. »Glaubst du wirklich, dass es mir darum geht?« Eine steile Falte zeichnet sich auf seiner Stirn ab. »Damit das ein für alle Mal klar ist: Für keine Kamera der Welt würde ich dich – oder irgendwelche Tribute sonst – belügen. Ich dachte, das würdest du verstehen.«

Ich schniefe. Wütend über mich selber wische ich die Tränen fort. »Und heute Morgen? Ich hab die Überwachungskamera gesehen! Falls das eine Masche ist oder so –«

»Erwartest du, dass ich mir als Nächstes das Hemd vom Leib reiße und dir meine ewige Liebe schwöre? Weil ich das mit jeder Tributin so mache? Sie stirbt ja eh bald, da kann ich meinen Spaß mit ihr haben und das Kapitol ergötzt sich auch noch daran?« Plötzlich steht Finnick, die Hände auf die Tischplatte gepresst. Er starrt mich mit roten Wangen an, dann reißt er sich los und läuft zum Fenster, aus dem er mit verschränkten Armen auf die blinkenden Lichter sieht.

Sprachlos wie ein Fisch sitze ich da. »Nein! Nein ...« Ich schüttle den Kopf, sodass meine Haare fliegen. »Na ja, vielleicht doch ...«, gebe ich schließlich kleinlaut zu. »Dein Ruf ...«

»Beschränkt sich auf Personen des Kapitols.« Gegen die Fensterscheibe gelehnt starrt er mich an. »Es tut mir leid, dass mein Verhalten deine Grenzen überschritten hat. Ich versichere dir – ich habe kein Interesse.«

Einen Moment schaue ich ihn bloß an, diesen traurigen Glanz in seinen Augen, die hängenden Schultern, die Hände die sich in seine Oberarme krallen und ich stelle fest – ich glaube ihm. Ich habe Finnick Odair Unrecht getan.

»Gut«, murmle ich betreten und wische mir die restlichen Tränen vom Gesicht. »Es tut mir auch leid, dass ich nur das Schlimmste von dir angenommen habe. Du hast ja nichts getan außer ... ein, zwei komische Sprüche gerissen.«

Er reibt sich den Nacken und seufzt. »Ja ... das waren nicht gerade meine besten Momente –«

Ich plappere eilig weiter: »Aber vergessen wir das, ich habe auch kein Interesse! Du weißt nicht mal, wie man Steine springen lässt, das disqualifiziert dich sowieso.«

Schweigen fällt über den Wohnbereich. Doch ich sehe, dass es in Finnicks Kopf rattert. Er stößt sich vom Fenster ab, die Lippen leicht geöffnet und endlich ist die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen verschwunden.

»Du warst das? Du ...?«

»Du hast es wirklich nicht bemerkt.« Ich erlaube mir ein kleines Lächeln, angesichts seiner Verblüffung. »Tja, sieht aus, als kennst du jetzt mein Geheimtalent. Vielleicht kannst du mir daraus ja noch eine Siegesstrategie für die Arena basteln.«

Mit hängenden Armen steht er da, dann schließt er die Lider und lacht leise. »Du bist unglaublich Annie Cresta.« Als er seine Augen öffnet, wird er wieder ernst. »Und genau deswegen glaube ich an dich. Ich hätte wirklich gerne meine Revanche im Steinchenhüpfen.«

 

Der Himmel im vierten Stock

Zum zweiten Mal an diesem Tag betrete ich die riesige Trainingshalle, um mein erstes Mentorentraining mit Floogs und Amber zu absolvieren. Mags ist als Einzige nicht dabei, sondern oben bei Cece im Appartement geblieben. Der Grund wird schnell klar – alle unsere Mentoren tragen Sportkleidung und stehen in einem Halbkreis zwischen den Kampfstationen.

Amber empfängt mich mit einem Kopfnicken. »Dann wollen wir mal sehen, ob diese Meerjungfrau auch Zähne hat«, sagt sie ungerührt und bedeutet mir, ihr zu folgen.

Wir landen bei den Matten von der Ringkampfstation, die in einem großen Viereck in den Boden eingelassen sind. Ein Blick über die Schulter zeigt mir, dass Pon indessen einen Speer hält und von Finnick in seiner Haltung korrigiert wird. Floogs legt eine Hand auf meinen Oberarm und weist mit einem Kopfnicken zu den Matten.

»Keine Sorge, Annie. Wir bekommen das hin. Auch wenn Amber nicht den Eindruck macht, wir haben uns einen sanften Einstieg überlegt.«

»Ja, dem Namen nach«, spöttelt Amber, doch auf Floogs finsteren Blick hin tritt sie mit erhobenen Armen zurück und überlässt ihm die Matte.

»Stell dich einfach in die Mitte«, weist Floogs mich an. »Entspann dich. Keine störenden Gedanken, lass einfach alle Muskeln los. Ich weiß, das ist schwer, aber versuch es. Bevor wir an Waffen denken, ist es ratsam, den eigenen Körper zu verstehen.«

»Und wenn du am Füllhorn keine Waffe bekommst, gehst du wenigstens nicht gleich drauf, solange du auch ohne kämpfen kannst«, ergänzt Amber.

Floogs seufzt. »Das auch. Annie, du weißt vielleicht, dass ich nur mit einem Messer bewaffnet die Hungerspiele gewonnen habe. Dazu hat das, was wir dir beibringen wollen, maßgeblich beigetragen. Was auch Amber im Übrigen erst lernen musste.« Er zwinkert mir zu. »Das kannst du auch. Schließ die Augen.«

Ich tue wie geheißen. War mein Atem immer schon so laut? Was macht Pon gerade? Von weiter hinten höre ich Waffenklirren. Das Bild des traurigen Finnicks schiebt sich in die Gedanken, gefolgt von meiner Familie, David. Sein anklagender Blick ist nicht zu ertragen. Vorsichtig hebe ich ein Lid, um mich in der Halle umzusehen.

Dabei habe ich die Rechnung ohne Amber gemacht. Sie steht keinen halben Meter vor mir, die Arme verschränkt und starrt mich an. Als sie meinen Blick auffängt, schaut sie zur Digitaluhr hoch oben an der Wand und seufzt.

»Wo bist du, Annie?«

»Äh ... in der Trainingshalle?«

»Wie spät ist es?«

»Abend –« Ich will ebenfalls zur Uhr sehen, doch Ambers Zungenschnalzen hält mich davon ab.

»Wer bist du?«

»Annie Cresta ... weiblicher Tribut aus Distrikt Vier.«

Amber tritt zurück, keine Regung auf dem Gesicht zu erkennen. »Konzentriere dich auf den Moment, nicht deine überflüssigen Gedanken. Alles, was zählt, ist der konkrete Augenblick. Du bist hier, du bist jetzt, du bist der Moment.«

Bevor ich meiner Verwirrung Ausdruck verleihen kann, humpelt Floogs wieder auf die Matten. »Das, was wir dir beibringen werden, ist eine uralte Kampfkunst, die aus einem der verlorenen Länder jenseits des Meers stammt«, erklärt er. »Das schriftliche Wissen darüber ist mit den Jahren verloren gegangen, doch einer unserer früheren Sieger – Brandon – hat mich vor seinem Tod einiges davon gelehrt, wie seine Eltern ihm zuvor. In der Arena gibt es sicherlich keinen zweiten Tribut, der dieses Training bekommt, also pass auf, Annie.«

Er zieht mich am Handgelenk zur Seite und wir überlassen die Matte Amber. Sie holt tief Luft, geht leicht in die Knie und schiebt ihre Füße hüftbreit auseinander. Ihr Blick ruht auf einem Punkt weit in der Ferne, womöglich nicht in dieser Halle. Die Fäuste hält sie an ihrer Seite und dann geht alles furchtbar schnell. Ein Schrei, ein Schlag, ein Schritt vorwärts. Die Luft zischt, als Amber sie mit rasanten, präzisen Bewegungen schneidet. Fast wirkt es wie ein Tanz, in dem ihre Choreografie aus Fausthieben und Tritten zusammenschmilzt. Plötzlich ist es auch schon wieder vorbei, Amber steht in derselben Position wie zuvor da, die Augen geschlossen. Nur ihre Brust hebt und senkt sich von der Anstrengung. Ich kann nicht anders – Bewunderung breitet sich in mir aus.

Floogs strahlt. »Wunderbar, Amber. Ich sehe, du hast trainiert.«

Zum ersten Mal ziert ein Lächeln Ambers Züge. Beiläufig bindet sie die Bandagen an ihren Händen neu, doch ich bin sicher, dass ihr Floogs Lob etwas bedeutet.

»Ich würde dich gerne selber trainieren Annie, aber seit einem kleinen Unfall vor ein paar Jahren ist mein Bein schlimmer geworden«, erklärt Floogs an mich gewandt, »daher wird Amber – unter meiner Anleitung – das praktische Training übernehmen.« Wehmut, den ich nicht nachvollziehen kann, schwingt in seinen Worten mit. Warum sehnt er sich danach, selber wieder zu kämpfen? Sein gutmütiges Lächeln passt gar nicht zu diesem Wunsch.

Während des restlichen Trainings lassen Amber und Floogs mir allerdings keine Zeit, weiter über die Persönlichkeiten der Sieger zu sinnieren. Ich werde selber auf die Matte gebeten und unter Ambers kritischen Blicken vollführe ich einige Schläge gegen die Luft, bei denen ich mir vorkomme wie eine Witzfigur. Die beiden Mentoren kritisieren einfach alles an meiner Haltung, angefangen bei der Faust, die ich falsch balle, bis hin zu der Fußstellung. Immer wieder halten sie mich auf und zeigen mir beispielsweise, wie meine Fauststöße an Schnelligkeit gewinnen, wenn ich die Hüfte noch mehr drehe. Es geht nie um Kraft oder Muskeln. Alles hängt davon ab, den ganzen Körper zu nutzen; ihn in eine, fließende Bewegung zu verwandeln. Am Ende des Abends bin ich völlig ausgelaugt von all den Eindrücken. Ich schaffe es nicht einmal, erneut zu duschen, sondern falle kraftlos auf mein Bett und versinke in traumlosen Schlaf.

Die nachfolgenden Trainingstage verschwimmen in einem Strudel aus Überlebenstraining, Kampfchoreographie und Erschöpfung. Die meiste Zeit bleibe ich alleine und lerne die Basics der Nahrungssuche oder Spurensuche. Noch ein paar Mal probieren Pon und ich verschiedene Kampfstationen im Beisein der Karrieros aus, doch ich kann mich mit nichts davon anfreunden. Im Bogenschießen bin ich passabel, gleichwohl es mir an Kraft mangelt, die Sehne längere Zeit zu halten. Der Speer bleibt die einzige Waffe, die sich nicht falsch anfühlt, und so integriert Floogs ihn hin und wieder in mein Training.

Zumindest habe ich zwischen all diesen fordernden Übungen keine Zeit, über David – oder schlimmer, Finnick – nachzudenken. Träumen tue ich kaum und so verdränge ich Distrikt Vier erfolgreich. Bis zum letzten Trainingstag. Es ist mitten in der Nacht, als ich aufschrecke, der Hals trocken wie die Wüste von Distrikt Fünf. Ich stürze ein ganzes Glas Wasser hinunter, doch es bringt keine Linderung. Meine Kehle ist nach wie vor ausgedörrt und der Schrecken des erträumten, obersten Spielmachers, der mich mit null Punkten abspeist, steckt mir in den Gliedern und macht neuerliches Einschlafen erst recht unmöglich.

Seufzend schleiche ich in Richtung Küche, um die leere Wasserkaraffe aufzufüllen. Obwohl es fast vier Uhr morgens ist, fällt aus dem Wohnbereich ein Streifen Licht in den Flur und Stimmen sind zu hören. Mit angehaltenem Atem verharre ich. Lauschen gehört sich nicht, das ist mir bewusst, doch in jemandes Gespräch reinplatzen will ich erst recht nicht.

»Vielleicht sollte der werten Dame mal irgendwer einen Arschtritt verpassen«, vernehme ich Ambers harte Stimme. »Ich melde mich freiwillig!« Sie lacht leise über ihre Imitation eines Karrieretributs.

»Als wenn das etwas ändern wird«, hält Finnick müde dagegen. »Es wird sich nie ändern. Wenn es nicht sie ist, dann eben jemand anders. Irgendwer wird immer zahlen. Sie ist wenigstens nicht wie unser verehrter Spielmacher, der wird seinem Namen in jeglicher Hinsicht gerecht.«

Verwirrt halte ich inne. Zahlen? Wofür sollte man Finnick bezahlen? Amber dagegen scheint kein bisschen verwundert, sondern seufzt nur schwer. Ein scharfes Klirren ertönt, offenbar hat jemand ein Glas mit Nachdruck auf dem Sofatisch abgestellt.

»Du musst heute Abend nicht mit dem Training weitermachen. Floogs oder ich können das auch übernehmen, Finnick. Hungerspiele in allen Ehren, aber ich will nicht zusehen, wie sich einer der einzigen Freunde, die mir noch geblieben sind, hierfür zugrunde richtet. Das ist es nicht wert.«

Schnauben. »Nein.«

»Himmel Finnick Odair, schluck einmal deinen Stolz hinunter!«

»Der ist schon lange fort. Und trotzdem kann ich nicht zusehen, wie unsere Tribute ... einfach sterben. Nicht schon wieder. Die beiden haben das nicht verdient, sie sind zu gut für diese Scheiße. Ihnen bleibt nur diese eine Chance, möglichst viel zu lernen, die werde ich nicht wegschmeißen!«

Mir schnürt sich die Kehle zu. Er will wirklich, dass es einer von uns schafft. Die Karaffe in meinen Händen zittert und ich presse sie gegen den Bauch.

»Als wenn ich das will«, murmelt Amber leise in die aufkommende Stille hinein. »Aber es sind eben die Hungerspiele, das weißt du genauso gut wie ich. Du kannst sie nicht beschützen, das müssen sie letztlich selber schaffen.«

Finnick seufzt, entgegnet aber nichts. Ich ringe mit mir, doch jetzt, wo die beiden nicht länger sprechen, gibt es keinen Grund, im Flur zu verharren. Sie werden gar nicht merken, dass sie belauscht wurden, rede ich mir ein und trete in den Wohnbereich.

Amber steht mit dem Rücken zu mir und vor ihr sitzt Finnick auf dem Sofa, den Kopf in die Hände gestützt. Es braucht einen Moment, bis ich realisiere, dass sein Oberkörper nackt ist. Ich fasse die Glaskaraffe fester und wende rasch den Blick ab. Nicht schnell genug. Die Striemen auf seinem Rücken, die Amber mit Tupfer und Salbe versorgt, sehe ich trotzdem.

Klirrend schlägt Glas auf den Boden. Aberhunderte Splitter funkeln wie ein Meer aus Glitzertropfen zu meinen Füßen. Statt der Karaffe greife ich Luft. Was ist hier los? Ich finde keine Worte, weder Fragen noch gestammelte Entschuldigungen. Am liebsten würde ich zurück ins Zimmer rennen. Oder aus diesem fortgesetzten Albtraum aufwachen.

Jemand sagt meinen Namen. Finnick. Als ich den Blick hebe, hat er sich ein Shirt übergezogen und ist aufgestanden. Bis auf Ambers blutigen Tupfer erinnert nichts an seine Verletzungen. Doch es reicht, dass ich von ihnen weiß. Ich bin nicht sicher, ob ich verstehen will.

»I-ich wollte nur ... was zu trinken ...« Hilflos deute ich auf die Glasscherben.

»Annie«, sagt Finnick noch einmal, eindringlicher. Ausnahmsweise scheinen auch ihm die Worte zu fehlen. Er sieht wieder zu Amber, die auf dem Sofatisch ihre Sachen zusammenpackt, dann zurück zu mir. »Bitte ... lass mich –«

»Schon gut.« Abwehrend hebe ich die Hände. »Ich gehe einfach!« Die Beteuerungen klingen selbst in meinen Ohren schrecklich schrill.

»Nein – hör zu ... darf ich mich erklären?«

Ich blinzle. Wartend, verwirrt. »Geht mich ja nichts an«, würge ich hervor.

Finnick zuckt mit den Schultern. »Trotzdem würde ich gerne.«

Genauso unentschlossen wie er hebe ich die Achseln. Und tatsächlich lächelt er, wenn auch kaum merklich.

»Komm.« Sein Ton bleibt vorsichtig, fragend, obwohl er hier eigentlich einen Befehl erteilt.

Zaghaft werfe ich einen Blick auf Amber, die mir mit unergründlichem Ausdruck zunickt, bevor sie in die entgegengesetzte Richtung entschwindet. Also folge ich Finnick durch das Appartement und frage mich, wer jetzt die Glasscherben aufkehren wird. Ein Avox?

Wir passieren eine Tür, an der ein Schild besagt, dass nur Mentoren Zutritt haben, aber das hält Finnick nicht auf. Dahinter wartet ein großer Raum mit einem gewaltigen Glastisch in der Mitte. Exakt sechs Stühle verteilen sich darum und schwarze Monitore säumen die Wände. Mein Blick wird allerdings von dem gefangen, was sich hinter der Glasfront am anderen Ende des Zimmers befindet.

Ein Balkon, über und über von Grünpflanzen bedeckt. Gewächse, die ich noch nie gesehen habe, reihen sich in Töpfen entlang der Balustrade aneinander oder ranken die Sichtschutzwände zu den Seiten empor. Ein grüner Himmel, mitten im Kapitol.

Ich seufze vor Überraschung auf – mehr noch, als Finnick eine Glastür öffnet und mir der frische Geruch von Pflanzen entgegenschlägt. Der Balkon wirkt so friedlich, dass ich fast vergesse, wo wir uns befinden. Obwohl es nur die vierte Etage des Trainingscenters ist, wird mir schwindelig beim Anblick der Straßen weiter unten, die von bunten kleinen Personen wie Ameisen bevölkert werden. Um uns ragen andere Häuser in den Himmel hinauf, aber ihre Glasfassaden sind glatt, schwarz und balkonlos. Fast könnte man meinen, dass Finnick und ich die Einzigen sind, die hier auf halber Höhe im Kapitolhimmel schweben. Als gäbe es so etwas wie Privatsphäre.

Finnick sinkt in einen Korbstuhl, über dessen Lehnen dicke grüne Blätter hängen, und bietet mir mit einer Geste den zweiten Stuhl daneben an. Vorsichtig zupfe ich ein wenig Pflanzengrün beiseite, bevor ich mich setze, die Hände unter meine Oberschenkel geschoben.

»Du hast gesehen, wie mein Rücken aussieht.«

Ich nicke, obwohl es keine Frage ist. Es fällt mir schwer, Finnick anzusehen, der die Kiefer fest aufeinandergepresst hat und dessen Blick über den dunklen Horizont gleitet. Einige Minuten lang schweigen wir, während der laue Sommerwind unsere von Klimaanlagenluft gekühlten Gesichter wärmt.

»Du hast das Gespräch gehört.«

»Ich wollte es nicht. Es tut mir wirklich leid –«

»Schon okay.« Finnick nickt, als hätte er nichts anderes erwartet. »Mir war immer klar, dass es irgendwann jemand mitbekommt. Und ich bin froh, dass du es bist und keiner der Karrieretribute aus den letzten Jahren.«

Unsicher, ob er tröstende Worte braucht oder doch nur ein offenes Ohr, bleibe ich stumm sitzen und schaue auf die erstaunlich bevölkerten Straßen.

»Was ich dir erzähle, musst du für dich behalten. Es ist ... nicht ungefährlich.«

Wieder nicke ich. Meine Hände kleben an den Oberschenkel, aber ich bin unfähig, mich zu rühren. Sämtliche meiner Überzeugungen werden gleich erschüttert, das sehe ich nahen, wie einen Herbststurm am Horizont.

Finnick zupft an einem ledrigen Blatt. Er rollt es zusammen und langsam kommen auch die Worte ins Rollen. »So sieht es aus, wenn das Kapitol einen ... liebt.« Sein Seufzer schwingt voller Verachtung. »Das ist es, was die Menschen, die ihren Siegern zujubeln, mit ihnen machen, wenn keiner hinsieht. Das sind die immerwährenden Hungerspiele.«

Seine Worte sind nur eine Andeutung und dennoch – plötzlich ergibt es so viel Sinn. Der Finnick, der im Dunkeln des Appartements sitzt und ganz deutlich betont, dass er an mir kein Interesse hat; der wütend wird, als ich seine Liebschaften anspreche. Der Finnick, der wirkt, als könne er auf einen Knopfdruck die Laune wechseln. Die Verwirrung, die mich in seiner Nähe überkommt, wenn er ganz anders ist als in der Öffentlichkeit.

»Das ... ist nicht – nicht wirklich dein Wille, oder? Diese ... Sachen.« Ich bringe es nicht über mich, Worte wie ‚Affären‘ in den Mund zu nehmen. »Das ist ... Show?«

Seine Finger halten inne mit der Tortur des Blattes. Sind es nur die fernen Lichter, die sich in seinen Augen spiegeln ... oder ist Finnick Odair den Tränen nahe – schon wieder?

»Das hätten meine Worte sein sollen«, stellt er leise fest. »Du machst es mir zu einfach. Aber ja. Show, Verpflichtung – so kann man es nennen. Glaub mir, wenn ich Interesse haben dürfte, dann nicht an ... diesen Menschen. Nicht an Leuten, für die ich ... eine Ware bin, ein hübscher Körper ohne Kopf.«

Die Zunge ist mir an den Gaumen gekleistert, doch mein Gesichtsausdruck scheint für mich zu sprechen. Ich erinnere, wie Finnick davon redet, dass ich schön genug für Sponsoren bin und wie unglücklich er darüber schien. Er sieht nur kurz zu mir, bevor sein Blick erneut in die Ferne gleitet, als hätte er denselben Gedanken. Wieder und wieder rollt er das Blatt durch die Finger.

»Ich weiß nicht einmal, warum ich dir das erzähle. Nichts für ungut, aber ... selbst mit Amber hat es Wochen gedauert, bis ich darüber reden konnte.« Er schüttelt den Kopf. »Es kann einen verrückt machen, aber ich habe das Gefühl, dich schon so lange zu kennen, dabei sind es nur ein paar Tage. Im Trainingscenter fühlt sich ein Tag an wie Jahre. Und plötzlich sind es doch nur Sekunden gewesen.«

»Na ja – falls es dich beruhigt – wir sind uns schon früher begegnet.«

Er starrt mich an und ich bohre die Fingernägel in die Unterseite meiner Oberschenkel. Wenn ungeschickte Worte eine Waffe wären, ich könnte ein ganzes Blutbad veranstalten. Doch Finnicks Mundwinkel zucken urplötzlich.

»Ja. Vielleicht ist das auch der Grund. Ich weiß es nicht. Vielleicht will ich mich auch nur rechtfertigen, weil du eh schon schlecht von mir denkst und ich nicht will, dass du meine Hilfe nur deshalb ablehnst.« Ich gedenke zu protestieren, doch er schneidet mir die Worte ab. »Und das ist dein gutes Recht. Ich weiß, wie ich für alle daheim aussehe. Aber kannst du mir glauben, dass ich keine andere Wahl habe?«

Nicken, das schaffe ich zum Glück noch.

»Danke.« Er hebt den Kopf und sieht mich zum ersten Mal seit dem Vorfall im Wohnzimmer direkt an. Ein ehrliches Lächeln umspielt seine Lippen. »Wirklich.«

»Nein, ich danke dir, dass du mir das anvertraut hast. Ich ... hätte dich nicht verurteilen sollen. Das war unfair und kindisch.« Ich hebe die Mundwinkel ebenfalls ein Stück, bevor ich neuerlich seinen zugerichteten Rücken vor meinem geistigen Auge sehe und mir der Herzschlag gefriert. »Aber ... kommt das wieder in Ordnung? Tut es sehr weh?« Schon überlege ich, ob es hier wohl gewisse Kräuter gibt – die Arbeitsverletzungen meines Vaters haben wir daheim immer mit selbstgemachter Heilpaste aus heimischen Pflanzen behandelt.

Finnick winkt allerdings ab. »Nicht der Rede wert. Amber hat ... Erfahrung damit. Und die Medizin des Kapitols wirkt wahre Wunder. Es sieht schlimmer aus, als es ist.« Das Blatt in seinen Fingern knirscht leise. »Das Schlimmste sind die Erinnerungen.«

Mein eigenes Schlucken erscheint mir in dem folgenden Schweigen so laut wie der Kanonendonner in der Arena. Ich kann Finnick nicht ansehen, ohne daran zu denken, was er heute Nacht wohl erlebt hat. Es sich vorzustellen ist wie ein innerer Zwang. Fragen zu stellen steht mir nicht zu – und ich will es auch gar nicht –, aber mein Verstand füllt die Lücke unbarmherzig mit Bildern. Und als ich diese Gedanken verdränge, kommt die Angst.

»Müssen alle Sieger ...?«

»Nein.« Finnick schüttelt den Kopf. »Nicht alle. Kein anderer aus Vier. Und niemand so häufig wie ich.«

»Ich würde nicht wollen, dass Pon ...« Ich beiße mir auf die Unterlippe. Es ist nicht fair, jetzt von den kommenden Spielen zu sprechen. Aber welchen Sinn gibt es noch, die Hungerspiele zu überleben, wenn es danach so weitergeht? »Zum Glück will ich nicht siegen.«

Es ratscht – Finnick hat eine Ecke des Blattes eingerissen. Sein Blick ruht auf dem Nachthimmel, aber er hat die Fäuste geballt. Bestürzt schlage ich die Hände vor den Mund. »Entschuldige! Ich –«

»Ist schon gut. Den Gedanken kann ich dir nicht verdenken. Ich habe mich selber oft genug gefragt, wozu wir das alles machen. Trainieren. Gewinnen. Hoffen.« Das Blatt in seinen Händen protestiert, als er es endgültig zerdrückt. »Und trotzdem kann ich nicht von dem Gedanken lassen, dass ich nicht mit zwei Särgen zurückkehren will. Vielleicht bin ich einfach ein Egoist.«

Der Drang, Finnick zu berühren – ihm eine Hand auf den Rücken zu legen oder dergleichen – wächst. Zur Ablenkung ziehe ich meine nackten Beine an und schlinge die Arme darum. »Dann bin ich auch eine Egoistin. Ich will immer noch, dass Pon überlebt. Damit ich nicht mit seinem Tod leben muss.«

Finnick sieht mich von der Seite an. »Ich hasse es, mich entscheiden zu müssen zwischen zwei Tributen. Sich gegen dich zu entscheiden fühlt sich falsch an, auch wenn ich weiß, dass du es willst. Mags hat mir gesagt, dass ihr darüber gesprochen habt.«

»Oh.«

»Aber wenn es so weit kommt ... werde ich deinen Wunsch respektieren. Und Pon vor diesem Irrsinn beschützen. Das wollte ich dir noch sagen.«

Darauf fällt mir nichts Gescheites ein. Dieses Mal ist das Schweigen jedoch kein Unangenehmes. Irgendwann ergibt sich ein neues Gespräch – über das Leben in Distrikt Vier, unsere Hobbys und alles, was fern von Spielen und Kapitol ist. Ich erzähle von dem Boot meiner Familie, von David und Blumenkränzen. Finnick hört zu oder wirft ab und an eine Frage ein. Mit den Stängeln herabgefallener Blätter und Blüten demonstriert er mir seine Knotentechniken und wir tauschen harmlose Anekdoten über Cece und Bürgermeister Southshore aus.

Zu guter Letzt erzählt Finnick sogar davon, wie sein Vater frühzeitig verstarb und das Stipendium für die Trainingsakademie ihn vor einem Leben auf der Straße bewahrte. Der Horizont färbt sich blassrosa, als ich das Gefühl habe, eine ganz andere Person kennengelernt zu haben. Nicht Finnick Odair, den Sieger der 65. Hungerspiele, sondern Finnick, der keine Steine werfen kann. Ein normaler Junge aus Distrikt Vier, in dessen Gegenwart es erstaunlich einfach ist, die Spiele zu vergessen und wieder zu lachen.

Im Angesicht der frühen Morgensonne und dem herannahenden letzten Trainingstag begleitet Finnick mich schließlich zurück zu meinem Zimmer. Einem Impuls folgend, schlinge ich die Arme um ihn, als wir vor der Tür stehen. Nicht fest, meine Hände berühren seinen Rücken kaum, aber das reicht. Nach einer Sekunde des Zögerns erwidert er die Umarmung erstaunlich zart. Sein Atem streift mir über die Stirn und mir wird kalt – nicht wegen der Klimaanlagenluft. Noch nie hat so eine kleine Geste mein Herz derart zum Rasen gebracht.

»Danke«, flüstern wir beide zeitgleich.

Ausrutscher

»Mein lieber Claudius, heute wird es spannend! Nach dem erfolgreichen Training werden wir jetzt erfahren, welche Tribute die Erwartungen erfüllen können – und wer uns vielleicht überrascht!
 

Im bisherigen Favoritenranking stehen Distrikt Eins, Zwei und Sieben ganz oben, aber auch Vier, Fünf und Neun haben eine ganze Reihe Fans versammeln können. Doch wir wissen, Caesar – noch ist alles offen.
 

Gerade in Sachen Distrikt Vier bin ich persönlich ja nach wie vor skeptisch, ob wir hier nicht bloß von gutem Aussehen geblendet werden. Aber immerhin trainiert Finnick Odair die beiden, also sollten wir sie noch nicht abschreiben!«
 

*

 

Am Morgen ist jegliche Leichtigkeit aus der Nacht verflogen. Cece scheucht Pon und mich aufgeregt umher, doch anstatt von ihrer Nervosität angesteckt zu werden, habe ich Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten. Zusätzlich zu der Müdigkeit steckt die Angst wie Blei in meinen Gliedern. Ich will mich nicht den Spielmachern beweisen müssen. Vor mir erkaltet das leckere Brötchen aus einem unbekannten Distrikt und ich warte darauf, dass alles vorbei ist. Dass der Gong der Arena ertönt. Wenn es nur noch Pon, ich und das Überleben sind.

In ihrem üblichen Singsang wünscht Cece uns einen gelungenen Trainingsabschluss und ausnahmsweise glaube ich ihr das sogar. Pon an meiner Seite ist genauso schweigsam wie ich und als wir die Trainingshalle betreten, hat er nichts dagegen, dass ich einen Arm um seine Schultern lege. Die Karrieros sind ohnehin beschäftigt und nehmen sich keine Zeit für eine Musterung von uns, auch wenn wir ihnen zu den gleichen Kampfstationen folgen. Vor der Bewertung durch die Spielmacher gilt es ein letztes Mal, alles zu geben.

»Annie?«, wendet Pon sich leise an mich, während wir einmal mehr bei den Speeren stehen.

»Ja?«

»Willst du wirklich alleine kämpfen?«

Erstarrt halte ich inne, eine Hand um den metallenen Schaft eines Speers geschlungen. So wie Pon mich mustert, sieht er keinen Deut wie zwölf Jahre aus.

»Ja«, entgegne ich nach reiflicher Überlegung. »Ich traue niemandem. Außer uns.«

Pon nickt langsam. »Wir sind keine Karrieros. Aber wären wir mit mehreren nicht ... stärker?«

»Jede Person mehr wäre ein Risiko, die Spiele nicht zu überleben. Und ich will doch, dass du überlebst, Pon.«

»Aber wenn es nicht die Karrieros wären – du hast doch auch mit Nora aus Fünf geredet. Oder die Tribute aus Sieben und Neun, die sind auch nicht so wie Shine und die anderen.«

Ich folge Pons Blick über die verschiedenen Stationen. Das Mädchen aus Sieben steht einmal mehr an der Wurfstation und vergräbt ihre Äxte in den Zielscheiben. Er muss von aller Vernunft verlassen sein, wenn er auch nur an so etwas denkt!

»Nein. Nur wir beide, Pon. Ich beschütze dich.«

Damit beende ich das Gespräch und schleudere meinen Speer auf die Zielscheiben. Inzwischen treffe ich ins Schwarze. Immer. Pon sagt nichts weiter und wir gehen stumm unserer üblichen Trainingsroutine nach.

Wir sind gerade an der Kletterstation und ich beobachte, wie Pon sich gegen den Jungen aus Distrikt Drei ein Wettrennen leistet, da passiert es. Ein Schrei zerreißt die Ruhe. Das stete Klirren, Klappern und Schuhequietschen verklingt. 24 Mal wird die Luft angehalten. Von einer auf die andere Sekunde ist es totenstill. Nur das Blut rauscht in meinen Ohren, als ich mich umdrehe.

Drüben bei den Kampfstationen liegt ein Junge auf dem Boden. Unter ihm eine rote Pfütze. Sandfarbenes Haar, groß gewachsen. Gebräunte Haut. Distrikt Neun. Der sich für seinen Freund gemeldet hat, wie mein Gewissen mir zuflüstert. Ich habe ihn bisher kaum wahrgenommen, doch jetzt steckt ein Speer in seinem Bauch und ich kann nichts anderes mehr sehen.

Er ist nicht tot, seine Gliedmaßen zucken noch. Das Rauschen in meinen Ohren lässt nach, nur damit ich höre, wie der Tribut stöhnt. Friedenswächter kommen aus allen Ecken herbeigerannt wie ein Schwarm hungriger Fische zum Futter. Aber sie laufen nicht zu dem Jungen, sondern umringen Maylins Distriktpartner. Er hebt grinsend die Arme über den Kopf. Lachend lässt er sich zu Boden drücken und die Hände auf den Rücken fesseln.

Erst dann betreten Sanitäter die Bildfläche und kümmern sich unter den wachsamen Augen der Spielmacher um den Verletzten. Einige der Männer dort oben lachen doch tatsächlich und deuten tuschelnd auf den Karriero aus Zwei. Als wenn sie seine Tat insgeheim bewundern. Maylin hingegen ist bleich geworden. Jemand entreißt ihr die Waffe, an die sie sich klammert. Entgegen ihrer sonstigen Art hat sie weder einen gezischten Spruch noch einen kalten Blick parat. Selbst sie scheint nicht zu begreifen, was gerade passiert ist. Wie der Speer von der Hand ihres Mittributs in dem Bauch des Jungen aus Neun gelandet ist. Trotz des Verbotes und der Trainer, die aufpassen.

Ein saurer Geschmack erfüllt meinen Mund. Ich spüre, wie sich das Frühstück seinen Weg die Speiseröhre emporarbeitet. Bevor ich mich auf den polierten Boden erbrechen kann, sehe ich fort, zu den anderen Tributen. Überall spiegelt sich meine Verwunderung – und begegne ich nackter Angst. Wider Erwarten schlägt mein Herz allerdings nicht schneller. Alles, was bleibt, abgesehen von dem sauren Belag auf meiner Zunge, ist die Frage, was jetzt kommen wird. Was tut das Kapitol, wenn es womöglich nur noch 23 Tribute hat?

Friedenswächter drängen uns alle mit gezogenen Waffen an eine Wand zurück. Schützend lege ich einen Arm um Pon und den Dreier, während der Karriero aus Zwei abgeführt wird. Ich ertappe mich dabei, immer wieder dieselben Worte zu flüstern. »Alles ist gut, alles ist gut, alles ...«

Wie ein Fischschwarm werden wir verbliebenen Tribute in die Mensa getrieben. Nach Distrikten sortiert müssen wir uns an die Tische setzen. Sprechen dürfen wir nicht, egal mit wem. Bewacht von einer Handvoll Friedenswächter in weißen Uniformen bleiben wir zurück. Nervöse Füße scharren über den Boden, gelegentlich hustet jemand und ein Mädchen zieht permanent die Nase hoch. Doch die meisten Blicke sind auf die verkratzten Tischplatten gerichtet. Nur Shine hat die Arme vor der Brust verschränkt und lässt ihre Augen demonstrativ über den Rest von uns gleiten. Maylin nebenan hat die Hände flach auf den Tisch gedrückt und sieht zur Decke hinauf.

Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, bis der oberste Spielmacher höchstpersönlich uns aus dem Schweigen erlöst. Er stellt sich vorne hin, die Hände vor dem Bauch gefaltet. »Ich bin untröstlich, Ihnen mitteilen zu müssen«, hebt er mit Grabesstimme an und der ganze Saal atmet hörbar ein, »dass der Beginn der Hungerspiele nicht wie geplant stattfinden kann. Nach der umfassenden Einschätzung durch unsere Ärzte haben wir uns entschlossen, den Startschuss für die 70. Hungerspiele um drei Tage zu verschieben, bis der Tribut aus Neun wieder einsatzfähig ist.«

Flüstern, Luftschnappen und Wimmern füllt die Sprechpause.

»Das Training wird die nächsten Tage wie gehabt stattfinden, sodass Ihre Bewertung sich nach hinten verschiebt. Ein aktualisierter Zeitplan ist Ihren Eskorten bereits zugeteilt worden. Ich hoffe, Sie sind sich des Privilegs bewusst, dass Ihnen mit dem verlängerten Aufenthalt im Kapitol zuteilwird. Zur weiteren Programmplanung: Sie werden in den kommenden Tagen ein Videointerview mit Ihren Familien in der Heimat führen. Wir erwarten absolute Bereitschaft, mitzuarbeiten. Ihre Teams werden Sie im Anschluss mit den Details vertraut machen.«

Wärme breitet sich in mir aus. Ich werde meinen Vater und Cyle wiedersehen! Das ist zu schön, um wahr zu sein. Wenn ich mich so umsehe, bin ich nicht die Einzige, der es so geht. Der verletzte Junge aus Neun ist kurzzeitig vergessen. Pon strahlt mich an und ich weiß genau, dass er an seine Mutter denkt.

»Floyd Harding aus Distrikt Zwei wird nicht weiter am Training teilnehmen«, fährt Spielmacher Savage fort. »Sie werden über diesen Umstand schweigen und ihn in keinem künftigen Interview thematisieren. Ich danke für Ihr Verständnis.«

 

Die volle Grausamkeit der Spielmacher trifft mich erst, als wir längst wieder zurück im Appartement sind. Sie werden einen verletzten Jungen nur drei Tage nach einem Anschlag auf sein Leben in die Arena schicken – zusammen mit demjenigen, der ihn fast umgebracht hat. Als wenn er jetzt noch eine Chance hätte. Das verpasste Training wird Floyd aus Zwei nichts anhaben können, schließlich hat er schon sein ganzes Leben für diese Spiele trainiert.

Sogar Cece strahlt nicht mehr, sobald sie uns in knappen Worten darüber informiert, dass wir morgen wie gehabt trainieren werden, ehe am darauffolgenden Tag das außerplanmäßige Familieninterview stattfindet. Das gesamte Briefing über ist sie erstaunlich wortkarg und immer wieder befiehlt sie uns in scharfem Ton, ja nicht von Distrikt Zwei oder dem Grund für die Verschiebung zu sprechen.

Vermutlich sollte ich mich über die zusätzliche Zeit freuen. Drei Tage mehr, die ich am Leben bin. Drei Tage, in denen ich noch viel lernen kann. Aber auch drei Tage mehr, in denen die Angst mein Herz langsam zerdrückt. Nicht einmal das abendliche Training mit Amber und Floogs kann diese Gedanken verdrängen. Die Trainingshalle wurde einem Umbau unterzogen. Provisorische Trennwände sind seit dem Vormittag zwischen den Kampfstationen hochgezogen worden und ein chemischer Geruch liegt in der Luft, der an den großen Blutfleck erinnert, der am Abend natürlich längst verschwunden ist.

Es ist ein Wunder, dass ich es doch irgendwie schaffe, meine Gedanken für die Schläge und Tritte genug zu leeren. Trotzdem befördert Amber mich ein ums andere Mal auf die Matte. Dass ihre fiesen Sprüche ausbleiben, ist ein weiterer Beweis dafür, dass der Tag heute in die – inoffizielle – Geschichte der Hungerspiele eingehen wird. Nichts ist, wie es sein sollte und die Angst, mit Pon doch noch über ein Bündnis diskutieren zu müssen, begleitet mich durch den nächsten Tag.

 

Familienbande

 

»Meine Damen und Herren, weiter geht es mit dem Event des Jahres: Die einzigartigen Familiengespräche! Bei so viel Spannung können wir dem Schicksal doch nur danken, dass es diesen kleinen Brand im Trainingscenter gab. Welche dunklen Geheimnisse werden heute womöglich noch enthüllt? Welche Familien werden uns zu Tränen rühren?
 

 

Caesar, ich weiß gar nicht, ob man die ersten Gespräche noch toppen kann. Das emotionale Zusammentreffen von Shine mit ihren Eltern, die Tränen ihrer Schwester – Floyd, der seiner entzückenden Freundin einen Heiratsantrag macht ... Das waren schon echte Highlights!

 

Und nicht zu vergessen Maylins kleiner Zusammenbruch! Was hat die starke Favoritin nur so geschwächt?

 

Nun, wir können nur vermuten, aber jetzt geht es vielversprechend weiter mit Distrikt Vier!«

 
 

*

 

Wie die Perlen auf der Schnur sitzen wir Tribute da. Geordnet nach Distrikt, zuerst das Mädchen, dann der Junge. Die meisten starren auf die Wand gegenüber, einige reden leise miteinander – und wieder andere halten einander fest an den Händen. So wie ich und Pon.

Überall um uns herum stehen Friedenswächter, jederzeit bereit, einzugreifen. Doch Floyd ist längst wieder abgeführt worden, in Handschellen. Er hat uns keines Blickes gewürdigt und die meisten Tribute ihrerseits haben es ihm gleichgetan. In Gedanken ist ohnehin jeder bei der eigenen Familie. Selbst wenn sie nicht wirklich hier sein werden – ihre Gesichter zu sehen wird aufregend genug.

Ich hoffe, dass Papa mich überhaupt wiedererkennen wird. Alexis hat mir ein viel zu aufdringliches Make-Up verpasst. Spuren des blauen Lidschattens kleben noch an meinen Fingerspitzen, da ich mir natürlich vor lauter Müdigkeit die Augen gerieben habe. Bestimmt werde ich dafür Schelte bekommen, doch es ist mir herzlich egal.

Eine der vielen Türen am Ende des Raums geht auf und der Junge aus Distrikt Drei wird hinausgeführt. Sein Gesicht strahlt mit den Scheinwerfern an der Decke um die Wette. Hoffnung glänzt in seinen Augen. Hoffnung, die tödlich sein kann. Oder ihn stärken wird.

Damit bin ich an der Reihe. Vivette kommt mich holen und mir bleibt nichts anderes übrig, als Pons Hand ein letztes Mal zu drücken. Am liebsten würde ich ihm den Vortritt lassen, doch das Kapitol hat das hier genau durchgeplant. Selbst den Jungen aus Distrikt Neun werden sie irgendwie vor die Kamera bringen, gleichwohl er nicht im Vorbereitungsraum sitzt. Hauptsache, die Zuschauer außerhalb ahnen nicht, was der Grund für diesen Bruch in der Routine ist.

Hinter der Studiotür erwartet mich ein karger grauer Raum. Nur zwischen den Kameras steht ein gemütliches Sofa, umrahmt von Topfpflanzen und dekoriert mit Paillettenkissen. Eine Leinwand dahinter zeigt die bewegte Szenerie des Kapitols, womit den Betrachtern vorgegaukelt wird, dass wir Tribute in einem Raum mit atemberaubender Aussicht sitzen. Auf einem Tisch davor steht ein einsames Wasserglas und wartet nur darauf, von mir in einem Zug hinabgestürzt zu werden.

Wo werde ich meine Familie wohl sehen? Klar, auf dem übergroßen Bildschirm gegenüber des Sofas, doch wo in Distrikt Vier werden sie gefilmt? Daheim, in unserem winzigen Wohnzimmer, das auch gleichzeitig die Küche ist? Oder im Justizgebäude? Wird auf ihrer Seite genauso ein Rummel organisiert?

Den Rücken kerzengerade durchgestreckt, die Beine angewinkelt, wie Cece es gezeigt hat, lasse ich mich auf das Sofa sinken. Einen Moment lang blickt mir bloß meine Reflexion von dem Fernseher entgegen. Vor mir scheint eine Fremde zu sitzen. Sie hält sich auf der äußersten Kante des roten Polsters, ihre Hände im Schoß gefaltet. Das festliche Kleid, die gelockten Haare und das übertriebene Make-Up gehören einfach nicht zur Tochter eines Fischers.

»Miss? Wir sind so weit.«

Ein Mann im grünen Glitzeranzug, der reichlich gestresst wirkt, schiebt mir die Haare ungefragt zurück über die Schulter und fängt sich Schelte von Vivette ein, die der Meinung ist, dass es vorher besser aussah. Der Streit der beiden reizt meine ohnehin schon gespannten Nerven. Ich bin kurz davor, aufzuspringen und ihnen die Haarsträhnen zu entreißen, als sie endlich von dem Aufnahmeleiter unterbrochen werden, der beide fortscheucht. Vivette kann mir lediglich zuzischen, das ich nicht an den Fingernägeln knabbern darf, dann sind sie weg.

»Noch zehn Sekunden«, ruft der kleine Mann, der sich wie ein menschlicher Gummiball gebärdet.

Hastig leere ich das Wasserglas, weil ich sonst keinen Ton herauskriegen werde. Lecke mir noch einmal die spröden Lippen. Streiche durch mein Haar und bringe somit Vivettes Werk durcheinander. Egal.

»Und wir sind drauf!«

Der Fernseher erwacht zum Leben. Plötzlich schaue ich in das mir so bekannte Wohnzimmer daheim in Distrikt Vier. Auf dem Sofa mit den abgestoßenen Armlehnen wartet mein Vater, der Cyle auf dem Schoß hat. Doch damit nicht genug – neben ihm sitzt Survy, ein Mädchen aus der Schule, mit dem ich früher oft Zeit in den Pausen verbracht habe. Bis sie Arbeit fand und den Unterricht verlassen hat. Auf den Hockern vom Esstisch ist zudem Davids gesamte Familie rund um das Sofa platziert. Inklusive ihm.

Mir bleibt der Atem weg. Alles, was ich ihnen noch sagen wollte – fortgewischt. Ich presse die Fingernägel in den Unterarm, bis es schmerzt. Hoffentlich sagt niemand das Falsche. Oder tut etwas, das dem Kapitol nicht gefällt.

Doch für meine Angst bleibt keine Zeit, Leben kommt in das Bild. Cyle entreißt sich mit einem Aufschrei den Armen unseres Vaters.

»Annie! Annie!«

Gerade so erwischt Papa seinen Hemdsärmel und er zieht ihn zurück. »Das ist nur im Fernsehen, Cyle, Annie ist nicht wirklich da ...«

Der Anblick der wichtigsten Menschen in meinem Leben verschwimmt mir vor den Augen, egal wie fest ich den Unterarm mit den Fingernägeln malträtiere.

»Hey ...« Zaghaft winke ich dem Bildschirm. Mehr kommt nicht heraus, denn eine unsichtbare Angelsehne legt sich um meinen Hals und schnürt mir die Worte ab.

Alle lächeln und wedeln genauso unbeholfen mit den Händen. Sie reden wild durcheinander, bis wohl irgendein Aufnahmeleiter auf ihrer Seite einschreitet, um meinem Vater das Wort zu erteilen.

»Annie, wie geht es dir, so fern im Kapitol?«

Sobald ich den Mund öffne, entweicht zuerst eine Mischung aus Seufzen und Schluchzen, obwohl keine Tränen fließen. »Wunderbar. Wie könnte es mir hier auch schlecht gehen? Es gibt ganz fantastischen Pudding hier ... und zuckersüße Erdbeeren. Überhaupt, so viel Essen und so viel man will, man kann sich gar nicht entscheiden, was man alles probieren will!« Ich lache, als würde es sich um Anekdoten von einer Urlaubsreise handeln. Nur ein kleiner Ausflug ohne Wiederkehr. »Mein Bett ist so weich – Cyle, darauf könntest du so hoch springen wie noch nie!«

Cyles Augen leuchten auf. »Darf man das im Kapitol?«

Zuhause bekommt er immer Ärger mit Papa, der nicht will, dass die Federn des Bettes nachgeben. Und irgendetwas in mir sagt, dass es Cece aus anderen Gründen genauso wenig passen würde. Anstand und so.

»Bestimmt. Hier darf man schließlich alles, es ist ja das Kapitol.« Alles, außer über Distrikt Neun reden. Oder ... über Finnicks geheimes Leid. Ich erinnere mich an die Avoxdienerin in unserem Appartement und mir wird übel. »Was ist bei euch los, wie genießt ihr euren Sommer?«, hasple ich drauf los. Hauptsache, die Gedanken an das Verbotene schwinden.

»Wir haben beschlossen, das Bootshaus zu renovieren«, erklärt Davids Mutter ernst. »Außerdem wird es Zeit, das Boot neu zu streichen. Rot für die Reling, was hältst du davon?«

»Das wird bestimmt schön.« Doch vor meinem geistigen Auge wollen keine Bilder entstehen.

»Vielleicht können wir uns dieses Jahr sogar ein zweites Boot leisten«, bringt sich auch David sich in das Gespräch ein. Zum ersten Mal seit unserer Nicht-Verabschiedung. »Wir haben dieses Jahr gute Fänge eingefahren, gerade in den letzten Wochen. Das neue Boot könnten wir nach dir benennen, was hältst du von der Queen Annie?«

Ich starre auf den Bildschirm. Papa beißt sich auf die Unterlippe. Ein Schiff mit meinem Namen. Das ist eine Ehrung für die Toten. Ein letztes Andenken. Wird das alles sein, was ich der Welt hinterlasse?

»Schön«, hauche ich tonlos. Ich schaffe es nicht, David in die – meilenweit entfernten und doch so nahen – Augen zu sehen. Vielleicht merkt er es nicht einmal.

Dafür schaltet sich nun Survy ein, die ich fast vergessen habe. »Und wenn du zurückkommst, gibt es ein großes Fest!« Ihre Wangen leuchten rot, aber sie fährt voller Überzeugung fort. »Außerdem haben Cyle und ich eine Überraschung für dich gebastelt. Aber was das ist, erfährst du erst, wenn du zurück bist.«

»Darauf freue ich mich schon.« Die Worte rollen mir nur so von der Zunge, als hätte das Kapitol sie dorthin gelegt. Weitere unsichtbare Angelsehnen ziehen meine Mundwinkel zu einem Lächeln empor und lassen mich aussehen, wie eine Tributin, die noch an sich selber glaubt. Dabei bin ich einfach ... leer. Eine Hülle, die nur darauf wartet, dass diese unangenehme Situation vorbei ist. Ich wünschte, nur Papa und Cyle würden dort sitzen. Das würde mir reichen.

Ein Piepen ertönt im Studio. Die finalen Minuten meiner Interviewzeit brechen an. Sofort fühle ich mich schuldig, das Ende herbeigesehnt zu haben. Immerhin ist es das letzte Mal, dass ich sie alle sehe.

»Ich freue mich, dass es euch gutgeht«, murmle ich, ohne jemanden konkret anzusehen.

Alle nicken und doch weiß keiner mehr, was zu sagen ist. David sieht auf seine Finger, die unablässig mit einem Muschelarmband spielen, das ich ihm geflochten habe.

»Annie ... gib dein Bestes, ja? Du kannst ja noch trainieren und vielleicht ...«

Fast lache ich auf. »Natürlich. Ich ...« Habe nicht vor, zurückzukehren. Ich kann nicht lügen, nicht so direkt. Nicht gegenüber David.

Im Hintergrund erkenne ich, wie mein Vater den Rest der Anwesenden vom Aufnahmeort fortführt. Ein Moment alleine mit David – und ganz Panem schaut zu. Es ist, als würde eine Last von mir abfallen, nur um von der nächsten ersetzt zu werden. Vermutlich ist es der falsche Augenblick, aber die Chance wird nicht wiederkehren. Also entschließe ich mich für Ehrlichkeit.

»David, ich kann das nicht. Ich komme nicht zurück. Dafür müsste Pon sterben. Und ich habe ihm geschworen, ihn zu beschützen. Dafür gebe ich mein Bestes, bis zum Ende. Er soll gewinnen. Er verdient es.«

Davids Finger halten inne damit, das Muschelband zu streicheln. Ganz langsam hebt er das Haupt. Seine Stirn ist von nachdenklichen Falten übersät. »Das ist ein Witz.«

Ich schüttle den Kopf.

»Bitte Annie, der ist doch erst zwölf!«

»Deswegen! Du kennst ihn nicht, aber –«

Mit einem Schnauben unterbricht David mich. Er stützt den Kopf in die Hände. »Das meinst du nicht ernst. Das ... das ist Wahnsinn! Du hast ein Leben hier. Was ist mit uns? Hast du mal an mich gedacht?«

»Du willst ein Schiff nach mir benennen – hast du mal an mich gedacht?« Die Hände in meinem Schoß sind zu Fäusten geballt. »Du hast mich doch längst abgeschrieben! Du hast mich nicht einmal richtig verabschiedet!«

»Weil ich uns diesen Schmerz eigentlich ersparen wollte! Immerhin gibt es 23 andere, da wird es schwer genug, ohne dass du dein Leben für ein Kind aufgibst. Dabei dachte ich immer, dass wir Kinder haben wollen. Hast du mal daran gedacht, was du mir raubst, wenn du es nicht einmal versuchst? Bedeute ich dir gar nichts?«

»Bitte?« Ich zittere, aber nicht vor Angst. Diesmal ist es Wut. Ist das Davids Ernst? Vor ganz Panem stellt er nicht nur meine Entscheidungen in Frage, sondern erhebt sich über mich? Kenne ich diesen Menschen, der mich aus tiefgrünen Augen anfunkelt, überhaupt? »Du hast doch keine Ahnung, wie es ist, hier ganz alleine kämpfen zu müssen.«

»Aber ich weiß, dass ich würde sofort kämpfen, wenn ich dein Leben retten könnte«, faucht David zurück.

»Das sagt sich so leicht! Aber die Zeit hier ... es sind nur ein paar Tage, doch es hat mich verändert. Selbst wenn ich zurückkehre – es wird nie wieder sein, wie früher. Kann es gar nicht. Versteh das doch. Bitte David.«

Er hebt seine Hand, lässt sie dann jedoch sinken. »Lügst du mich an? Bist du etwa einem deiner Mittribute verfallen? Oder –«

Bevor er weitersprechen kann, falle ich ihm ins Wort. »Natürlich nicht! Als wenn das so einfach wäre.«

Sein Nicken wirkt nicht überzeugt. Doch schließlich steht er auf, tritt nach vorne und legt seine Hand wohl auf den Bildschirm, der mich zeigt. Auf jeden Fall ist seine Handfläche plötzlich ganz groß und nah dran. So sehr er mich gerade wütend macht – ich folge seiner Geste und lege meinerseits die Finger auf das Abbild seiner.

»Ich liebe dich trotzdem.«

»Ich hab dich auch lieb, David.«

Einen Moment verharren wir so, ehe David sich das Gesicht reibt und zu seinem Platz zurückkehrt. Nicht lange danach kehrt der Rest unserer Familie zurück.

»Annie, wir sind bei dir«, ruft Papa mit Cyle auf dem Arm.

Ich lächle die angestauten Tränen fort, die Hände über dem Herzen gefaltet. »Und ich denke immer an euch.«

Das Letzte, was ich von meinem Vater und Bruder sehe, ist ihr Winken. Dann wird die Verbindung gekappt. Ein Standbild von ihnen bleibt, ehe der Bildschirm erneut schwarz wird.

Binnen Sekunden umschwirrt mich Vivette wieder wie ein kleiner Schmetterling. Sie flötet irgendetwas, aber die Worte dringen nicht zu mir durch. Wie eine mechanische Puppe folge ich ihr ins Appartement, schäle mich aus der Kleidung und gehe unter die Dusche. Dort bleibe ich so lange, bis Mags an die Tür klopft, um an das fortgesetzte Training mit den Mentoren zu erinnern.

 

Wogen der Gefühle

In der Trainingshalle angekommen, verkündet Floogs Pon und mir, dass für die letzten Tage die Mentoren gewechselt werden. Um das Optimum aus dieser Konstellation herauszuholen. Mit einem Blick auf Trexlers Grimasse wünsche ich mir Floogs bereits zurück. Ich bezweifle, dass sein bester Freund genauso liebe Worte für mich übrig haben wird.

Das bedeutet allerdings auch, dass Finnick ab sofort ebenfalls mein Mentor ist. Und der entscheidet sich prompt für einen Intensivkurs im Speerwerfen, den er ebenso mit Pon durchgezogen hat. Ohne große Begeisterung folge ich Finnicks Anmerkungen, die Trexler vor allem durch Grummeln – und eindringliche Demonstrationen – unterstützt.

Im Gegensatz zu sonst verfehlen die meisten meiner Würfe die Zielscheibe. Im Kopf bin ich nie in der Trainingshalle angekommen, sondern stecke noch im Aufnahmestudio, dessen Geschehnisse mich wie ein engmaschiges Netz umfangen. Davids Worte hallen mir durch die Gedanken; ein beständiges Echo. Hast du mal an mich gedacht?

Wut lässt meine Hände zittern, jedes Mal wenn ich an seine Vorwürfe denke – Hast du mal daran gedacht, was du mir raubst? – und zack sirrt der Speer ins Nirgendwo. Nach dem zehnten Wurf in Folge, bei dem die Waffe klappernd an der Wand hinter den Zielscheiben abprallt, reicht es Finnick.

»Wir verschwenden unsere Zeit.« Er steht mit verschränkten Armen da und gegen ihn sieht Trexler so glücklich aus wie das sprichwörtliche Honigkuchenpferd.

»Gut«, zische ich und haue den Speer, den ich als Nächstes werfen wollte – oder eher sollte – zurück auf den Ständer. »Siehst du also endlich ein, dass ich diesen Aufwand nicht wert bin? Kann ich jetzt gehen und in Frieden in der Arena sterben?«

»Du gehst nirgendwo hin.«

»Ach ja? Und was willst du dagegen tun?« Ich weiß nicht, was ich sage; brülle einfach hinaus, was mir als Erstes in den Sinn kommt. Hauptsache, es trifft. »Stellst du dich mir in den Weg, Mister-ich-weiß-besser-was-gut-für-dich-ist? Du kannst ja schlecht an meiner Stelle in die Arena zurückkehren!«

Die Falte zwischen Finnicks Augenbrauen gräbt sich immer tiefer in seine Stirn, doch seine Stimme bleibt ruhig. »Ich bin nicht derjenige, auf den du wütend sein solltest. Zumindest wird es nichts verändern, mich anzuschreien. Ich will dir nur helfen, selbst zu bestimmen, wie du deinen Frieden findest.«

»Das Ganze hier hilft aber nicht«, werfe ich ihm entgegen. »Ich will nicht mehr trainieren! Ich werde sterben, aber nicht mal das darf ich nach meinen Vorstellungen!« Jetzt, mit Stunden Verspätung, laufen die Tränen doch über mein Gesicht. »Ich will einfach, dass es endlich vorbei ist!«

Trexlers Pranke landet auf meiner Schulter, sodass mir die Knie einknicken. »Nich’, Annie. Sowas solltest du gar nich’ denken. Bitte. Wir woll’n keine Feinde sein.«

Finnick hat noch immer die Arme vor der Brust verschränkt, doch sein Gesicht ist bleich wie die Friedenswächteruniformen, die Lippen zu Strichen zusammengepresst. Der Anblick verschwimmt unter meinen Tränen. Ich weiß, dass ich im Unrecht bin. Trotzdem schlage ich nach Trexlers Hand – als wenn ich etwas gegen den Hünen ausrichten könnte. Die Botschaft scheint allerdings anzukommen, denn er zieht sich zurück.

»Es tut mir leid für dich«, murmelt Finnick schließlich in die Stille, die mein hemmungsloses Schluchzen geschaffen hat. »Was mit deinem Verlobten geschehen ist ... Er hatte kein Recht, diese Dinge zu sagen.«

»Die Menschen daheim verst’n leider nich’, was die Spiele bedeuten«, pflichtet Trexler ihm bei. »Für sie is’ es einfacher, zu trauern, als zu hoff’n. Macht seine Worte nich’ besser, aber manchmal hilft’s, zu versteh’n.«

»Es ist, als wenn ich David gar nicht mehr kennen würde.« Meine Nase läuft und ich reibe mir wie ein Kleinkind das Gesicht mit dem Ärmel der Trainingsjacke. »Ich dachte, ich würde mich freuen, ihn zu sehen ... Es war furchtbar. Ich wünschte, er wäre nicht so etwas wie mein Verlobter. Aber das ist ja inzwischen eh egal.« Und jetzt fühle ich mich furchtbar, weil ich mich furchtbar fühle. Ein Mahlstrom der Gefühle.

»Es ist okay, dass du dich so fühlst. Wirklich.«

Zögerlich legt Finnick eine Hand auf meine Schulter. Ich schlage sie nicht weg. Stattdessen weine ich noch heftiger und als er einen Schritt auf mich zugeht, stolpere ich geradewegs in seine Arme, das feuchte Gesicht in seinem Shirt vergraben.

»Lass es raus. Ist schon okay.«

Finnicks Fingerspitzen beschreiben Kreise zwischen meinen Schulterblättern und ich bemühe mich, die Aufmerksamkeit darauf zu konzentrieren. Bloß nicht auf seinen Geruch oder meinen Gedankenstrom. Unendlich schwierig, wo er doch tut, was ich mir von David immer ersehnt hätte. Und besser riecht. Überhaupt ist Finnicks Umarmung ... anders. Weicher. Intensiver. Ehrlicher?

So lange hat David mich nie in den Armen gehalten, geschweige denn dabei über meinen Rücken gestrichen. Ein wohliges Kribbeln breitet sich von der Kopfhaut in allen Gliedern aus und ersetzt die Schluchzer durch leiseres Schniefen. Obwohl ich noch im Trainingscenter zwischen lauter Mordwaffen stehe, fühle ich mich besser; stärker. Wieder etwas weniger wie ein Opfer.

Mit jedem Kreis auf meinem Rücken versiegen mehr Tränen, bis Finnick mich vorsichtig loslässt. Auf wackligen Beinen bleibe ich stehen und schenke ihm ein kleines Lächeln, das er erwidert. Gerade so kann ich ein enttäuschtes Seufzen unterdrücken, als er sich abwendet und ein paar Schritte zur Seite geht, wo er sich auf eine Bodenmatte setzt. Mein Körper sehnt sich die schützende Umarmung zurück; ihr Fehlen wird mit einem eisigen Schaudern abgestraft.

Ich folge Trexlers Kopfnicken zu den Matten und lasse mich ebenfalls dort fallen, eine gebührliche Armlänge Abstand zwischen Finnick und mir. Nicht, dass hier irgendwer auf falsche Gedanken kommt.

Anstatt zu trainieren, bilden wir drei einen Kreis, in dem ich von allem Frust mit David ungefiltert berichten darf. Die Worte fallen mir schwer, als wären sie mit kleinen Angelhaken besetzt, die sich in meiner Kehle verfangen. Trotzdem gelingt es mir schlussendlich, die ersten Sätze hervorzuwürgen, und von da an schrumpfen die Haken, bis die Erzählungen nur so sprudeln.

Ich rede von Davids und meiner Kindheit bis hin zur Schulzeit. Von den vielen Witzen, die wir geteilt haben, den Dingen, die wir gemeinsam unternommen haben. Von Geschichten, die wir einander auf dem Heimweg erzählt haben, über Meeresmonster mit unzähligen Tentakeln und mysteriöse Lichter auf dem Meer. Und schließlich von den neckischen Kommentaren der Erwachsenen, dass wir beide ein perfektes Paar wären. Von dem neuen Blick, den ich mit diesem Wissen auf David geworfen habe. Wie ich mich in seiner Nähe wohlgefühlt habe und wie ... praktisch alles erschien. Wie einfach es war, sich die gemeinsame Zukunft vorzustellen.

Je länger ich spreche, desto mehr befreit sich die Wahrheit aus meinem Herzen – als würden auch dort viele kleine Angelhaken herausgerissen und etwas freigegeben, von dem ich nicht wusste, wie sehr es mir wehgetan hat. Ich liebe David – aber nicht in der Rolle meines Verlobten. Sondern als besten Freund; als Menschen, den ich unfassbar gerne mag – den ich nicht missen möchte –, aber mit dem ich keine Zukunft sehe.

»Dass er vor ganz Panem von Kindern geredet hat, hat sich angefühlt wie ein Verrat.« Ich beiße mir auf die Lippen. »Klar, es ist der natürliche Gang der Dinge, aber ... als er es ausgesprochen hat, wurde es plötzlich so real. Und – ich will das nicht. Nicht mit ihm. Der Gedanke, dass ich es getan hätte, wenn die Spiele nicht wären ... verrückt. Vermutlich hätte ich nie gemerkt, dass ich damit nicht glücklich bin, aber jetzt bin ich sogar irgendwie ... dankbar.«

Die Wunden, die diese Befreiungen in mein Herz reißen, bluten. Vielleicht fehlt für immer ein Stück, wo diese falsche Liebe zu David hineingepresst war. In Anbetracht der Hungerspiele werde ich es wohl nie herausfinden, aber sobald ich einen tiefen Atemzug nehme, erfüllt mich das Gefühl zu schweben. Fort ist die Wut und sie hinterlässt nur Erleichterung.

Dankbar für Trexler und Finnicks stille Unterstützung lächle ich sie hinter dem Vorhang aus meinem dunklen Haar hervor an. »Danke. Danke, dass ihr mir zuhört ... Ich – ich habe bis zu diesem Zeitpunkt noch nie so viel über mich und David nachgedacht. Wenn ... also wenn alles vorbei ist, meint ihr, ihr könnt ihn wissen lassen, dass ich ihn trotz allem sehr geliebt habe?«

Im selben Atemzug nicken meine beiden Mentoren.

»Ich bin sicher, er weiß es schon, aber ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass er es erfährt.« Finnick drückt seine flachen Hände gegen die Oberschenkel, wilde Entschlossenheit im Gesicht.

Mit einem Seufzen lege ich das Kinn auf die angezogenen Knie. Von einer auf die andere Sekunde ist mein Kopf herrlich leer. Mir wird glatt schwindelig von so viel Leichtigkeit.

Eine Weile lausche ich Trexler, der im Gegenzug harmlose Anekdoten von seiner Frau daheim erzählt und wie ihm genauso erst durch die Spiele bewusst wurde, dass er seine damaligen Liebschaften – wer hätte damit gerechnet – nicht wirklich liebte. Ich schäme mich direkt, nichts von Trexlers Ehe gewusst zu haben. Dafür, dass unsere Sieger so berühmt sind, weiß ich allgemein erschreckend wenig von ihrem Leben.

Immerhin begreife ich, warum Finnick sich in diesem Gespräch zurückhält. Noch vor kurzem hätte ich ihm Unrecht getan und vermutet, dass er nicht zu aufrichtiger Liebe fähig ist, doch jetzt ist mir klar, dass er genau weiß, wie es ist, in einer falschen Beziehung gefangen zu sein. Und vermutlich weiß er genauso wenig wie ich, wie sich diese tiefe Zuneigung anfühlt, die Trexler für seine Ehefrau empfindet.

Finnick bemerkt, dass mein Blick unweigerlich auf ihm ruht und während Trexler mit leuchtenden Augen von seiner Liebsten erzählt, rückt er näher an mich heran, seine Hand sanft auf meine gelegt. Ich bin unsicher, wem von uns dieser Umstand mehr Trost spendet, doch dass es so ist, sehe ich darin, wie das Funkeln in seine Augen zurückkehrt. Wie das Licht, das sich auf den Wellenkronen bricht.

Irgendwann sind alle Worte gesprochen, alle Geschichten erzählt und nicht nur verstehe ich Trexler jetzt besser, ich habe den Unmut über Davids Äußerungen weit genug verdaut, dass wir tatsächlich das Training fortsetzen können. Schließlich habe ich eine Mission zu erfüllen; ein Leben zu retten.

Trexler und Finnick bringen mir in der Restzeit verschiedene Wurftechniken bei, ebenso wie tödliche Hiebe. Sie zeigen mir die Punkte, die ich am besten mit dem Speer treffen sollte, wenn ich töten muss oder wie man Gegner auf Distanz hält. Sogar mit dem Dreizack darf ich trainieren. Wirklich interessant ist es jedoch, Finnick das erste Mal hautnah mit seiner präferierten Waffe zu erleben.

Ich weiß ja, dass er gut ist, doch ihm zuzusehen, wie er die Trainingspuppen kurz und klein schlägt, hinterlässt ein neues Gefühl, das ich nicht deuten kann. Das ist die andere Seite von Finnick Odair, dessen Umarmungen einen so sacht umspülen wie die ruhige See. Das ist die schwarze Meerestiefe, vor der ich Angst haben sollte. Wenn da nicht das Gefühl von seinen Fingerspitzen auf meinem Rücken wäre und der unsichtbare Abdruck seiner Worte im Herzen.

Sternstunde

Zurück im Appartement wartet bereits der nächste Anschlag auf mich – das Vorbereitungsteam samt Roan, die letzte Anpassung an meinem Interviewkleid vornehmen wollen. Immerhin ist es übermorgen schon so weit.

Amber und Mags sind ebenfalls anwesend. Erstere, um sich über die Kapitoler und ihre Geschmacksverirrungen zu amüsieren, Letztere, um meine Hand zu tätscheln und mir zu erzählen, dass ich wunderhübsch bin. Ein Kompliment, das seit Finnicks Offenbarung einen bitteren Nachgeschmack hat.

Roans Kleid ist erstaunlich schlicht. Der dicke Stoff changiert in Grün- und Blautönen, vom Saum aufwärts immer heller; von der Tiefsee bis zur von Sonnenstrahlen berührten Meeresoberfläche. Mysteriös wie die Geheimnisse der See behauptet der Stylist. Trotz allen Pathos hinter diesem Design ist es wirklich schön. Ärmellos, nur mit kleinen Schlaufen an den Oberarmen, unspektakulärem Herzausschnitt und einem ausgestellten Rock, der nach unten hin immer weiter wird. Definitiv weniger Verkleidung als bei der Wagenparade.

Die Herausforderung stellen die Schuhe da. Ein Paar mörderischer Dinger mit einem Absatz, bei dem es mir schwindlig wird. Als wenn die Höhe nicht reicht, sind die Sohlen rutschig, meine Zehen schmerzen, weil vorne kaum Platz bleibt, und es ist schlichtweg grässlich. Unter den Anfeuerungsrufen des Vorbereitungsteams mache ich den ersten Schritt – und präsentiere prompt einen Sturz.

Meine Wangen werden heiß, doch niemand außer Amber lacht oder schimpft gar. Stattdessen streckt sich eine Hand in mein Blickfeld – Finnicks. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass er das Zimmer betreten hat. Seine Mundwinkel zucken kaum merklich, aber seine Stimme ist weich, als er spricht.

»Darf ich Ihnen aufhelfen, holde Meerjungfrau? Mich dünkt, Sie sind mit dem menschlichen Schuhwerk noch nicht vertraut.«

Angesichts dieser hoffnungslosen Übertreibung bricht ein Kichern aus mir hervor. »Und ich dachte schon, das hier wären gar keine Schuhe, sondern Folterwerkzeuge! Wie ungeschickt von mir!« Mit gespielter Arroganz lege ich die Hand in seine und lasse mich hochziehen.

»Immer schön kleine Schritte machen und nicht zu sehr über die Hacke abrollen«, raunt mein Retter in der Not mir mit einem Zwinkern zu. »So viel hat mich das Zusehen gelehrt.«

Anerkennend ziehe ich eine Augenbraue hoch. Nützliche Tipps in Sachen High Heels von Finnick Odair, wer hätte das gedacht?

»Wir können ja wetten, wer von uns bis zu den Interviews besser darin ist, auf diesen mörderischen Dingern zu laufen«, fordere ich ihn heraus. »So als kleine Motivation, damit ich nicht doch auf platter Flosse bei Caesar Flickerman auflaufe.«

»Oho!« Finnick grinst. »Da bin ich aber gespannt. Du unterschätzt meine Fähigkeiten, auf hohen Schuhen zu laufen.«

»Dann gilt es also?«

Wie zuletzt bei Schwüren im Kindesalter reicht Finnick mir seinen kleinen Finger und ich hake meinen bei ihm ein, um die Wette zu besiegeln.

Den Rest des Abends stellt sich allerdings trotz jeglicher Bemühungen kaum Erfolg bei mir ein, stattdessen stolpere ich an der Seite von Kolibrichen, die sich meiner erbarmt hat, durch das Wohnzimmer. Die Sonne ist längst untergegangen, als ich schließlich die Schuhe ausziehe und in die Ecke pfeffere.

Mit einem nachsichtigen Lächeln befreit Kolibrichen mich aus dem schweren Kleid und lässt sich von mir auf morgen vertrösten. Sie versucht es ihrerseits mit einem aufmunternden »Das schaffst du schon«. So oft, wie ich diesen Satz in den vergangenen Tagen gehört habe, hat er jegliche Bedeutung verloren.

Der Gedanke, dass morgen trotz des Aufschubs der letzte Trainingstag ist, scheucht mich aus dem Wohnzimmer und ich beschließe, etwas Frieden auf dem geheimen Balkon zu suchen. Noch einmal das Grün der Pflanzen dort einzuatmen, in der Hoffnung, dass es meine Nerven beruhigen kann.

Offenbar bin ich nicht die Einzige mit diesem Gedanken, denn als ich an die Luft trete, sitzt Finnick bereits da, die Augen geschlossen. Mein Herz macht einen Satz und mir scheint, dass es insgeheim auf diese Begegnung gehofft hat. Verrückt, wie einen der eigene Körper mit so etwas überraschen kann – dabei sollte man doch meinen, dass ich das Ruder in der Hand halte.

»Du kannst mich nicht erschrecken, vergiss es«, brummt Finnick, ohne die Augen zu öffnen. »Sorry Amber, ich hoffe, du hast jetzt nicht umsonst ein paar Eiswürfel aus der Küche geholt oder so.«

»Och, Eiswürfel braucht es nicht, meine Hände sind kalt genug«, spöttle ich und erstaune mich damit selber.

Finnick zuckt zusammen, ehe er ein Lid öffnet und überrascht zu mir hoch blinzelt. »Annie! Verdammt, jetzt hast du mich doch erschreckt!« Er lacht auf und fängt meine Hand auf dem Weg zu seinem Nacken ab. »Was bringt dich hierher?«

Ich sinke in den Stuhl neben ihm. »Keine Ahnung. Ich muss einfach noch mal raus, bevor morgen die Bewertungen anstehen. In meinem Zimmer könnte ich die Wände hochlaufen.«

»Hmm.« Finnick nickt und umfasst meine Finger zwischen beiden Händen. »Himmel, deine Hand ist wirklich eiskalt.«

Entschuldigend zucke ich mit den Schultern. »Das macht die Aufregung.« Schon während ich das sage, ist mir unklar, ob ich wegen des morgigen Tages oder doch eher Finnicks Anwesenheit so nervös bin. Es hilft jedenfalls nicht, dass er genau spürt, wie meine Hand in seinen zittert.

Er sagt jedoch nichts dazu, sondern reibt nur über meinen Handrücken, bis die Kälte langsam nachlässt. »Bald kommen die Sterne«, stellt er schlicht fest. »Ist immer ein schöner Anblick.«

Nun ist es an mir, unverbindlich zu brummen. Ich lehne mich zurück und genieße das Gefühl des warmen Windes, der heute stärker ist als bei unserem ersten Gespräch hier draußen.

»Ich mag die Sterne gerne«, erzählt Finnick leise. »Ich frage mich dann immer, ob es nicht doch einen Ort dort oben gibt, von dem die Toten auf uns herabblicken. Vielleicht gibt es ja doch das Paradies, das in den Erzählungen aus der alten Welt beschrieben wurde. Dann müsste ich mir wenigstens keine Sorgen mehr um all die Toten in meinem Leben machen. Stell dir nur vor, wie ein Ort wäre, an dem jeden Tag die Sonne über einer friedlichen Welt aufgeht.«

Ein Lächeln erhellt seine Züge und steckt mich an. Der Gedanke ist schön. Nur zu gerne würde ich so fest daran glauben, wie die Menschen früher. Dann wäre es viel leichter, sich von diesem Leben zu verabschieden.

»Das fände ich wirklich schön. Mir würde ein Ozean gefallen, auf dem man bis zum Horizont und noch viel weiter segeln kann. Unter einem endlosen Sternenhimmel, wohin man auch schaut. Das wäre mein Paradies.«

Ich sehe hinauf zum dunkler werdenden Himmel und gemeinsam, Hand in Hand, warten wir auf die ersten Sterne. Ein tiefer Frieden ergreift Besitz von mir, obwohl unter uns die Stadt liegt, die mich töten will. Die verzerrten Töne einer öffentlichen Wiederholung der Familiengespräche dringen aus den Straßen zu uns herauf und bleiben doch nur ein Hintergrundgeräusch. Dieser Moment gehört alleine Finnick und mir.

Aus dem Augenwinkel riskiere ich einen Blick auf sein Profil. Im schwindenden Licht gestehe ich mir zum ersten Mal ein, ihn wirklich schön zu finden, wenn mich nicht gerade falsche Vorurteile abstoßen. Nicht auf diese eklige Art, wie das Kapitol ihn betrachtet, als freiverfügbares Objekt der Begierde, sondern in der Art, wie er lächelt und sein gesamtes Gesicht dabei erstrahlt. Wie das bronzene Haar ihm in die Stirn fällt und seine langen Wimpern Schatten auf die Wangen werfen. Und ganz besonders dank des Funkelns in seinen Augen, die je nach Licht die Farbe wechseln.

Doch all das ist nichts im Vergleich zu seinem Inneren. Der Art, wie er meine Hand hält oder trotz aller Widrigkeiten noch ermunternde Worte findet. Wie er mit mir lacht, nicht über mich. Wie er mir ernsthaft widerspricht, ohne dabei je das Gefühl zu vermitteln, dass er an meiner Entscheidungskraft zweifelt.

Stumm drücke ich seine Hand, in der Hoffnung, dass auch nur die Hälfte dieser Dankbarkeit für seine bedingungslose Unterstützung ihn erreicht. An seinem Gesicht kann ich es nicht erkennen, doch er drückt meine Finger zurück, in sachter Bestimmtheit.

»Vielleicht erhört ja eines Tages eine Sternschnuppe unsere Träume«, sagt er in die laute Stille hinein. »Ich habe gehört, dass die Menschen im Kapitol an so etwas glauben. Warum also sollte das nicht auch für uns gelten? Vielleicht kann man diese Welt mit genug guten Wünschen noch retten.«

Ich schlucke und spüre all die Löcher, die von den imaginären Angelhaken hinterlassen wurden, wieder in meiner Kehle. Das letzte Mal, das jemand versucht hat, diese Welt zu verändern, hat uns die Hungerspiele eingebracht.

Finnicks Augen jedoch leuchten im fernen Schein des Mondes nur noch mehr, voller niemals versiegender Hoffnung. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass er gleich aufspringen und »Nieder mit dem Kapitol!« brüllen wird. Und obwohl mir bewusst ist, wie mächtig das Kapitol ist, würde ich ihm sogar glauben, dass dieser Widerstand eine Chance hätte. Aber das ist ein Gedanke, den ich nie, unter keinen Umständen, aussprechen werde.

Ohne Vorwarnung flackert sein Blick vom Himmel zu mir und er ertappt mich dabei, wie ich ihn offen anstarre – oder bewundere, je nachdem, wie man es sehen will. Wie immer er es interpretiert. Hoffentlich bemerkt er die Röte, die in meinen Wangen emporkriecht, in der Dunkelheit nicht.

»Tut mir leid, wenn ich müde werde, tendiere ich dazu, wirren Gedanken nachzuhängen.« Er legt den Kopf wieder in den Nacken, doch ich erkenne, wie sich die Fältchen um seine Augen vertiefen.

»Wirre Gedanken habe ich auch eine Menge«, seufze ich.

»Von mir aus kannst du sie ruhig alle aussprechen. Manchmal hilft es, sie loszuwerden. Und hier hört dir nur der Wind zu – und ich, wenn du das willst.«

Diese Aussage sorgt dafür, dass ich beinahe meine eigene Zunge verschlucke und ein undefinierbares Geräusch von mir gebe. Über diese Gedanken werde ich sicher nicht reden!

»Ach du weißt schon, die Hungerspiele«, erwidere ich lahm und gestikuliere mit der freien Hand in der Luft herum. »Nichts Besonderes, wenn man das so sagen kann ...«

»Was, keine tiefgehenden Analysen über mein hübsches Äußeres?« Finnick sieht mich plötzlich mit wackelnden Augenbrauen an. Er schafft es, sich in dem Stuhl lümmelnd trotzdem in eine Pose zu werfen, die Cece alle Ehre macht. »Ich hätte schwören können, du hast gerade darüber nachgedacht, wie umwerfend ich in High Heels aussehen werde.«

Mir ist klar, dass er nur einen Scherz – auf seine Kosten – macht, doch damit ist er so nah an der Wahrheit, dass meine Handflächen schwitzig werden. Manchmal ist es mir nach wie vor unheimlich, wie Finnicks Stimmung sich dem Wellenspiel gleich verändert.

»Was das angeht, lasse ich mich überraschen. Ich bin mir sicher, dass die Wirklichkeit meine Fantasie in jeder Hinsicht übertreffen wird.«

Finnick lacht leise. »Andere hätten mir jetzt lang und breit erzählt, was sie alles toll an meinem Aussehen finden und warum ihnen das viel eher auffällt im Vergleich zu allen anderen. Als hätte noch nie irgendjemand so etwas zu mir gesagt. Ganz so, als ob es mich wirklich interessieren würde.« Das Lächeln liegt weiterhin auf seinen Lippen, doch seine Stimme gewinnt an Ernsthaftigkeit. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du das nicht tust. Da bist du wirklich eine Ausnahme, abgesehen von den anderen Mentoren.«

Verlegen zucke ich mit den Schultern. »Das alles hat ja nichts mit dir, deiner Persönlichkeit, zu tun. Ich rede viel lieber mit dir als über dich.«

Unsere Blicke begegnen sich für den Bruchteil eines Wimpernschlags. Wie durch ein Wunder werde ich nicht noch röter, sondern schaffe es, sein Lächeln zu erwidern. Ganz normal. Nur mein Herz pocht in der Brust wie ein stotternder Schiffsmotor.

»Ich würde wirklich gerne hoffen, dass in den Sternen noch kein Platz für dich ist«, flüstert Finnick. »Diese Welt braucht Menschen wie dich, nicht irgendein fiktives Paradies.«

Mir fällt keine gescheite Erwiderung ein, mein Kopf ist leer, doch wegsehen ist ebenso unmöglich. In genau diesem Moment fühle ich so viele Dinge, alle davon durcheinander – aber etwas Vergleichbares habe ich nie empfunden, dessen bin ich sicher.

Zögerlich hebt Finnick die Hand und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Vergebene Mühe, denn die glatte Strähne rutscht gleich wieder hervor, aber das scheint ihm gar nicht aufzufallen. Seine Fingerspitzen verharren für einen Moment an meiner Wange, bis sie hinabgleiten und Gänsehaut hinterlassen.

»Tut mir leid ... ich vergesse meine Grenzen«, haucht er, »dabei sollte ich es besser wissen.« Etwas bemühter räuspert er sich. »Sag ruhig, dass ich dir zu nahe getreten bin.«

Ich kann den Blick immer noch nicht von ihm lösen. So muss es sich anfühlen, zur Statue erstarrt zu sein. »Bist du aber nicht. Also – ich meine ... schon, aber nicht im negativen Sinne ...« Mir bricht die Stimme, ehe sie sich fängt und ich den Satz stärker zu Ende bringe, als ich ihn angefangen habe. »Es war schon unerwartet, aber – ich habe nichts dagegen, wenn du das tust. Ehrlich gesagt finde ich es schön. Beim nächsten Mal könntest du ja einfach vorher fragen, dann brauchst du dich im Nachhinein nicht entschuldigen.«

Unter anderen Umständen wäre ich wohl erschrocken über meinen Mut, diese Dinge so unverfroren zu äußern. Doch gefangen in diesem Tunnel, der nur aus Finnick vor mir besteht, geschützt vom Dunkel der Nacht und den kaum sichtbaren Sternen über uns, gewinnt die Wahrheit. So wenige Stunden, wie mir bloß noch verbleibt, brauche ich ihn wirklich nicht belügen. Die Zeit der Unwahrheiten ist vorbei, wenn das Leben erst einmal abläuft.

Finnick betrachtet mich aus großen Augen. Ein weiteres Mal scheine ich ihn überrascht zu haben. Ein paar Mal öffnet er den Mund, ohne etwas zu sagen. Als er schließlich die Sprache wiederfindet, stellt er nur eine Frage.

»Darf ich dich in den Armen halten? Für ein bisschen länger?«

Ich nicke und rutsche im Stuhl näher an ihn heran, die Wange an seine Schulter gelegt. Finnicks warme Lippen streifen meine Stirn, was ein weiteres Kribbeln über die Kopfhaut schickt, ganz wie seine Kreisbewegungen auf meinem Rücken früher am Tag. Ein kleines Seufzen entringt sich ihm.

»Ich hoffe, das klingt jetzt nicht verrückt«, hebt er leise an, »aber so fühlt es sich an, als würde ich zum ersten Mal seit einer langen Zeit unter Wasser wieder atmen können.«

Verrückt ist höchstens, dass ich dieses Gefühl ebenso habe. Dabei habe ich Finnick doch gerade erst so richtig kennengelernt, flüstert mir eine leise Stimme zu. Aber an seine Seite gekuschelt, den Blick auf den viel zu lichten Sternenhimmel gerichtet, ertränke ich diese Zweifel in dem warmen Glühen in meiner Körpermitte.

Plastik

»Lange genug haben Sie gewartet, meine Damen und Herren, doch hier sind sie – die Ergebnisse des Publikumsvotings! Welcher Distrikt wird Ihrer Ansicht nach die meisten Punkte in der Trainingsbewertung einfahren?

 

Oh Claudius, mach es nicht so spannend, ich sterbe vor Neugierde! Ich tippe ja auf Distrikt Eins – habe ich recht?

 

Caesar, dir kann man wirklich nichts vormachen! In der Tat, Distrikt Eins hat mit 67% aller Stimmen das Voting gewonnen! Dicht gefolgt von ... also das ist eine Überraschung!

 

Was? Etwa einer unserer geschätzten äußeren Distrikte?

 

Tatsächlich liegt Distrikt Sieben auf Platz zwei, dicht gefolgt von Distrikt Fünf. Das hätte ich nicht erwartet, Caesar. Sieht ganz so aus, als hätten die Familieninterviews Sie wirklich bewegt, werte Zuschauer.

 

Nun, das kann ich Ihnen nicht verübeln, Claudius. Ein Interview ganz ohne Familie, nur mit der eigenen Mentorin, wie bei unserer lieben Victoria aus Distrikt Sieben, das ist ein Höhepunkt. Immerhin wissen wir so, dass ihr Feuer dem von Johanna Mason in nichts nachsteht!

 

Dass dieses ungewöhnliche Ranking den ebenso ungewöhnlichen Umständen zu verdanken ist, denke ich auch, Caesar. Denn auf Platz vier folgt – wie passend – Distrikt Vier. Sieht aus, als wenn unsere werten Zuschauer ganz vergessen haben, dass einer der beiden Tribute erst zwölf Jahre alt ist. Aber bei so einem eisernen Willen wie Pons kann man das schon mal vergessen, nicht wahr?

 

Oh absolut, er beweist den Kampfgeist eines Finnick Odairs. Ich bin wirklich aufgeregt, zu sehen, ob Sie, meine verehrten Damen und Herren da draußen, recht behalten werden! Und bereits jetzt können Sie für das nächste Voting abstimmen – welcher Distrikt wird uns bei den Interviews morgen mit dem aufregendsten Outfit überraschen?

 

Ich habe da so ein Gefühl, dass Distrikt Vier hier die Nase vorne haben könnte. Roan Vainworth ist ein begnadeter Stylist, das haben die letzten Jahre gezeigt.

 

Aber bevor wir erfahren, wie es damit ausgeht, haben wir eine weitere Ausgabe des Tributmagazins für Sie, in dem wir uns ausführlich den frischesten, heißesten Gerüchten rund um Distrikt Neuns jüngsten Freiwilligen widmen! Bleiben Sie dran, meine Damen und Herren!«

 
 

*

 

Lautes Waffenklirren ist das einzige Geräusch, das aus der Halle unten zu mir ins Kletternetz an der Decke herauf dringt. Seit dem Morgen wird hier stumm trainiert – das letzte Mal.

Wieder gehen alle eigene Wege, sind angespannt. Womöglich mehr als beim ersten finalen Trainingstag. Jetzt zählt es, jeder hofft, sich noch verbessert zu haben. Selbst die Karrieros sind allesamt mit sich beschäftigt. Als ich heute Morgen ohne einen Ton an ihnen vorbeimarschiert bin, kamen keine gehässigen Sprüche, haben mich keine stechenden Blicke verfolgt.

Sogar Floyd ist wieder dabei – und tut so, als wäre nie etwas vorgefallen. Er ignoriert alle anderen, inklusive Maylin. Außer Shine traut sich sowieso niemand in seine Nähe. Nicht einmal Slay, den ich doch so selbstbewusst kennengelernt habe. Aus sicherer Entfernung werden Floyd immer wieder Blicke zuteil; wird angespannt beobachtet, wie er mit einem der Trainer Schwertkampf übt. Er gibt sich friedlich, so weit man das eben in einem simulierten Kampf kann.

Nur ich bin des Trainings müde. Rund vier Meter über dem Boden liege ich mit dem Gesicht nach unten im Kletternetz und beobachte das Treiben. Immerhin weiß ich jetzt, dass es keine gute Idee war, meine Kletterkenntnisse auf den letzten Metern vertiefen zu wollen. Denn die gibt es nicht.

Dafür habe ich nun besten Ausblick. Niemand – außer der Stationsaufsicht, die gerade damit beschäftigt ist, Privatnachrichten über ihr Datenpad zu verschicken – weiß, dass ich hier oben bin, und keiner sieht zur Decke. Alle fühlen sich unbeobachtet, doch nur ich bin es wirklich.

Das gibt mir Zeit, nachzudenken. Eine Woche ist es her, dass mein Name bei der Ernte gezogen wurde und ich nur Schweigen auf die Frage nach Freiwilligen vernommen habe. Eine Woche, die mir früher verdammt kurz vorgekommen wäre, und sich inzwischen wie ein halbes Leben anfühlt.

Mittlerweile habe ich mich zweimal von meiner Familie verabschiedet, einen Haufen Kampftechniken erlernt, mir die Karrieros erst zum Freund und schließlich Feind gemacht – und mir eingestanden, dass Finnick Odair nicht der selbstgerechte Mensch ist, für den ich ihn gehalten habe.

Finnick. Von allen Dingen, über die ich mich sorgen könnte – und müsste –, denke ich ausgerechnet wieder an ihn. Und mein Herz schlägt nicht vor Angst schneller, so viel ist sicher.

Nach allem, was mit David geschehen ist, schäme ich mich für dieses Gefühl. So danke ich ihm unsere gemeinsamen Erinnerungen? Das ist das Erste, woran ich denke, sobald wir voneinander getrennt sind? Ich verliebe mich –

Halt, nein. Ich bin nicht verliebt. Das ist ein Wort, das viel zu oft und leichtfertig verwendet wird. Von Mädchen wie Survy zum Beispiel, die ziemlich schnell einer Schwärmerei für gutaussehende Fischer nachhängt. Das ist alles nichts Richtiges; kein vernünftiges, greifbares Gefühl.

So fühlt sich das nicht an. Ich mag Finnick, rede gerne mit ihm, verstehe ihn und werde verstanden. Seine Nähe ist tröstlich – und nichts davon hat eine Zukunft. Ich werde sterben, Finnick weiter eine Lüge leben. Darüber nachzudenken, welchen Namen ich einem Gefühl geben könnte, das in wenigen Tagen gewaltsam beendet wird, ist sinnlos.

Genauso wie meine Versuche, heute Morgen etwas zu frühstücken. Erst habe ich verschlafen, dann die Trainingskleidung verkehrt herum angezogen und schließlich ein Brot mit der Marmeladenseite auf die Hose fallengelassen. Das alles unter den Blicken von Finnick, der wie jeden Tag unbekümmert seine Scherze mit Cece gerissen hat. Als wäre unser kleines abendliches Treffen überhaupt kein Grund, rot anzulaufen oder peinlich berührt die Augen abzuwenden.

Letztlich hat nur Amber mit mir geredet und meine Augenringe bewundert, ehe sie mich darauf hingewiesen hat, dass ich beim Training besser noch ein letztes Mal genau hinschaue, wer meine Gegner sind. Wenn schon nicht mir selber zuliebe, dann wenigstens für Pon. Etwas, das ich in dieser erhöhten Position zu beherzigen versuche, solange mir die Gedanken nicht davonschwimmen.

Direkt unter mir wirbelt die rothaarige Tributin aus Distrikt Sieben, deren Namen ich mir einfach nicht merken kann, gerade eine Axt herum. Mit einem Schlag köpft sie den ersten Dummy, bevor sie dem nächsten die Brust spaltet. Den Dritten erwischt sie mitten zwischen den Schulterblättern. Um sie werde ich in jedem Fall einen großen Bogen machen.

Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Jemand, dessen Gesicht bei dem Gedanken ans Töten so ausdruckslos bleibt wie ihres, oder Floyds süffisantes Lächeln, als er es ihr drüben an der Schwertkampfstation gleichtut und einen Dummy enthauptet.

Die übrigen Karrieros demonstrieren ihre vorgebliche Gelassenheit angesichts der nahenden Bewertungen indem sie in der Mitte der Halle stehen und ganz offen über die restlichen Tribute lästern. Immer wieder weht Shines gehässiges Lachen zu mir hinauf. Ich sehe genau, auf wen sie mit dem Finger deutet – das Mädchen aus Drei, das sich bemüht, die Zielscheibe mit Pfeil und Bogen zu treffen.

Aber nicht die Tributin mit dem aschgrauen Haar erregt meine Aufmerksamkeit, sondern die Zehnerin neben ihr. Mädchen wäre kein treffender Begriff, sie ist viel eher eine Frau, großgewachsen, mit sehnigem Körperbau und einem breiten Kreuz. Ich erinnere mich, sie kurz bei der Wagenparade beobachtet zu haben. Im Gegensatz zu der Kleinen aus Drei zittern ihre Arme kein bisschen, als sie den Bogen spannt. Ein Volltreffer. Zwei Volltreffer. Drei. Vier. Fünf.

Einen ganzen Köcher voller Pfeile versenkt die Tributin im Schwarz der Zielscheibe – was außer mir keiner bemerkt. Die Karrieros rund um Shine verfolgen lieber die aus Drei mit ihren hungrigen Blicken zur nächsten Station. Und ehe ich mich versehe, ist die Zehnerin weitergezogen, in aller Ruhe Knoten knüpfen.

Eine Weile folge ich Nora und ihren Mittribut Circe mit den Augen durch die Halle. Sie halten sich wie schon die Tage zuvor überwiegend an den Überlebensstationen auf – und einander an den Händen. Wehmut erfüllt mich bei diesem Anblick. Wenn meine Aufgabe erledigt ist, bedeutet das ihren Tod.

Der Gong zur Mittagspause kommt wie gerufen. Erleichtert klettere ich aus dem Netz herab, um die letzte Mahlzeit in der Trainingshalle einzunehmen. Das Essen fliegt nur so an mir vorbei – ich kann nicht einmal sagen, welches Gericht es gibt, obwohl ich lustlos mit der Gabel darin herumstochere.

In meinem Kopf herrscht nur ein Gedanke: Gleich trete ich vor die Spielmacher. Lange muss ich als Vertreterin von Distrikt Vier nicht auf das Unvermeidliche warten. Doch das bedeutet auch, dass mir keine Zeit mehr bleibt, eine Strategie zu überlegen.

Nachdem Pon aufgerufen wird, fehlt mir immer noch eine Idee für meine Präsentation. Ich werde improvisieren müssen. Eine Viertelstunde, das ist nicht viel. Hauptsache, die Zeit vergeht. Trotzdem dehnt Pons Präsentationszeit sich ins Unendliche, doppelt so lang wie alle Tribute davor zusammen, zumindest gefühlt.

Meine Nagelhaut ist blutig eingerissen, als die Lautsprecher endlich wieder knacken und ich aufgerufen werde.

»Annie Cresta, Distrikt Vier.«

Wie im Traum erhebe ich mich. In der Trainingshalle ist es so leise, dass man die Fische husten hören könnte. Obwohl sich der Raum nicht verändert hat, erscheint er mir auf einmal viel größer und kälter. Von ihrer Lounge aus schauen die Spielmacher herab, ein jeder mit einem Champagnerglas in der Hand. Offenbar befinden sie sich auf dem besten Weg zu einer angeheiterten Stimmung.

Mein Kopf rattert. Was kann ich? Speerwerfen. Das hab ich genug geübt!

Nur das Quietschen meiner Schuhe auf dem glatten Boden ist zu hören, als ich zu der Wurfstation trete und einen der feinsäuberlich aufgereihten Speere ergreife. Lächerlich wohlwollend nickt mir der oberste Spielleiter Savage zu.

Die Waffe in meiner Hand zittert. Lass dich nicht ablenken! Denk an deine Mentoren, was sie dir beigebracht haben! Du bist hier, du bist jetzt, du bist der Moment! Ambers Worte hallen durch meinen ganzen Körper und ich fühle Finnicks geisterhafte Hand, die sanft die Haltung meiner Finger am kalten Metall korrigiert.

Mit einem tiefen Atemzug trete ich hinter die Wurflinie. Hebe den Speer. Zwei Schritte zurück. Ausbalancieren. Anvisieren. Kurzer Anlauf. Arm ausstrecken. Loslassen!

Tock. Mein Speer steckt mitten in der Zielscheibe. Keine null Punkte, schießt es mir durch den Kopf. Angespornt von diesem Erfolg traue ich mich an die ersten bewegten Ziele und liefere auch dort eine respektable Performance ab. Den Karrieros nicht würdig, aber hoffentlich genug, um das Vertrauen der Zuschauer in Pon und mich zu bestärken.

Nur leider ist meine Zeit danach noch lange nicht vorbei und die Gläser der Spielmacher sind frisch von einem Avox befüllt. Erwartungsvolle Blicke liegen auf mir – würde ich jetzt gehen, gefiele ihnen das bestimmt nicht. Wenn ich an Stelle von Distrikt Zwölf stünde, dann wäre meine Show sicherlich längst egal, aber noch sind die Männer dort oben hungrig.

Die Sekunden verrinnen. Alles, was ich sonst kann, sind Ambers und Floogs Kampftechniken. Die ich nie zuvor gegen jemand anderen eingesetzt habe. Und selbst wenn, traue ich mich nicht, auf einen der Trainer zuzugehen und um einen Übungskampf zu bitten. Dafür fallen mir die Dummys ins Auge, die Floyd und Sieben heute Vormittag geköpft haben. Jetzt stehen natürlich ausschließlich heile Puppen zur Verfügung und warten nur darauf, zerstückelt zu werden.

Kurzerhand schnappe ich mir eines der Netze, die entlang der Bogenschießstation gespannt sind, und laufe damit sowie einem Speer zu den Trainingsdummys hinüber. Flugs arrangiere ich die gesichtslosen Plastikkörper in einem losen Kreis um mich. Als wäre ich in der Arena eingekesselt.

Ich gestatte mir einen Blick zu den Spielmachern. Sie begutachten das Werk mit einer Mischung aus Interesse und Amüsement. Ein Grinsen umspielt die Mundwinkel von Victorius Savage. Entschlossen wende ich mich ab und beziehe Position.

Das Netz in der Linken, den Speer in der Rechten trete ich zwischen die Dummys. Wie zuhause beim Fischen. Etwas anderes ist das hier nicht. Sieh nicht so genau hin. Ich brauche die Punkte, für die Sponsoren – für Pon!

In einer fließenden Bewegung schleudere ich das Netz über die erste Figur zu meiner Seite und hole sie von den Beinen. Mit Schwung aus der Hüfte reiße ich den erstaunlich schweren Korpus vor, geradewegs gegen die Schienbeine des Dummys ihm gegenüber. Krachend schlägt Plastik auf Plastik. Der Knall schickt Adrenalin durch meine Glieder. Ich wirble herum, der Kopf leer.

Dem nicht wirklich existenten Angreifer zur anderen Seite verpasse ich einen Hieb mit dem Speer, unter dem seine Verschalung splittert. Feiner, weißer Sand quillt aus dem Riss hervor, aber die Figur steht noch – bis ich zustoße.

Das eröffnet mir Raum, herumzuwirbeln und der Puppe in meinem Rücken einen Tritt vor die Brust zu versetzen, gefolgt von einem Kinnhaken. Wo ich auf das Plastik schlage, breitet sich ein Pochen aus, doch das ignoriere ich. Da ist etwas in mir, das mich weiter treibt, meine Handflächen schwitzen und den Atem rasen lässt. Den letzten stehenden Trainingsdummy erwischt der Speer direkt in seinem Herz.

»Die Zeit ist nun um. Bitte begeben Sie sich bis zur Punktvergabe zurück in Ihre Etage.«

Die Bandansage verklingt und zurück bleibt nur mein dröhnender Atem. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, erinnere ich, noch in der Trainingshalle zu stehen, nicht in der Arena. Erst jetzt begreife ich wieder meinen Körper; fühle, wie das Kribbeln schwindet. Keuchend ringe ich nach Luft und muss mich auf den Knien abstützen. Während des Kampfes habe ich gar nicht bemerkt, wie flach mein Atem geht. Erschrocken stelle ich fest, mir die Fingerknöchel nicht einfach nur geprellt zu haben – sie sind blutig aufgeschlagen.

In einem Kreis um mich liegen fünf niedergeschlagene Dummys. Mindestens einen von ihnen hätte ich sicher umgebracht. Ich, Annie Cresta!

Am ganzen Körper zitternd sehe ich hoch zu den Spielmachern. Dort sitzt Victorius Savage und erhebt sein Champagnerglas. Sein Gesicht ist eine Plastikgrimasse, fast so ausdruckslos wie die Dummys am Boden. Aber nur fast: Er zieht eine Augenbraue in die Höhe.

Irgendein Mann im Hintergrund fängt an zu klatschen, bis nach und nach der Rest einsteigt. Für meine Hände scheint das Signal genug zu sein. Ich lasse Netz und Speer fallen.

Ohne zurückzusehen, laufe ich auf den Ausgang zu. Mit jedem Schritt werde ich schneller. Gleich ist es geschafft! Im Appartement kann ich mich ins Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und einfach vergessen ...

Doch bis zur Tür schaffe ich es nie. Aus den Schatten lösen sich zwei Männer – Friedenswächter.

»Annie Cresta – Folgen Sie uns.«

Trügerische Gewässer

Flankiert von den zwei Friedenswächtern aus dem Trainingscenter werde ich durch dunkle Korridore geführt. Die Orientierung habe ich längst verloren, so gleichförmig erscheinen all diese Gänge. Unter der Decke brennen nackte Leuchtstoffröhren, die Wände sind kahl. Das Einzige, was wir immer wieder passieren, sind Türen. Dicke, stählerne Türen ohne Ende.

Was mag der Grund für diese ‚Entführung‘ sein? Kommt jetzt etwa ein geheimer Teil der Vorbereitung? Etwas, das nicht in den Distrikten übertragen wird? Über das kein Sieger je geredet hat? Oder wartet doch nur eine harmlose Veranstaltung – eine Kleideranprobe für das Interview vielleicht?

Meine Begleiter sprechen nicht mit mir, sehen mich nicht einmal an, und so können meine Gedanken nicht anders, sie müssen Amok laufen. Ich stelle mir versteckte Tests vor, die übrigen Tribute, die mit scharfen Waffen angreifen und schließlich sogar die Mentoren, gegen die ich kämpfen soll.

Und dennoch folge ich den Friedenswächtern steifen Schrittes, obwohl jeder zurückgelegte Meter noch schlimmere Knoten in mein Inneres schlingt. Immer, wenn wir eine Abzweigung erreichen, denke ich, dass unser Ziel erreicht ist, nur um enttäuscht zu werden. Unbeirrt marschieren meine Wächter weiter geradeaus, sodass ich mich irgendwann unweigerlich frage, ob das hier womöglich ein Ausdauertest ist.

Da ich sicher keine Konversation mit meinen Begleitern vom Zaun brechen werde, lese ich die Beschriftungen an den Wänden oder Türen, um mir wenigstens ein Bild von diesem Ort zu machen. Die meisten Bezeichnungen sind nur kryptische Buchstaben- und Zahlenkombinationen, andere dagegen gänzlich normal – Lager, Aufenthaltsraum, Treppenhaus. Doch eine Aufschrift, die einem ganzen Flur gilt, alarmiert mich: Zuchtstation.

Das klingt alles andere als gewöhnlich. Aus dem Gang, der völlig im Finsteren liegt, weht ein kühler Wind einen unidentifizierbaren Geruch zu uns. Es hat etwas von den Hühnern, die Davids Mutter früher im Garten gehalten hat, bevor eine Geflügelpest sie dahingerafft hat. Ein eisiger Schauer jagt über meinen Rücken, aber lange währt der Eindruck nicht, denn auch von vorne zieht ein Lufthauch an mir vorbei und dieser trägt etwas eindeutig Florales in sich.

Ich brauche einen Moment, um den Geruch einzuordnen. Rosen. Es riecht nach einem ganzen Meer aus Rosen, wie sonst nur am Neujahrstag, wenn das Kapitol uns in seiner Großzügigkeit ein ganztägiges Fest schenkt, mitsamt Dekorationen in Form von Snows preisgekrönten weißen Rosen.

Dürre macht sich in meinem Mund breit. Was hat das zu bedeuten?

Die mühsam für die Trainingsbewertung errichtete Fassade gerät ins Wanken. Plötzlich schwitzen meine Hände umso stärker und es hört nicht auf, obwohl ich sie an der Hose abwische. Die unsichtbaren Taue um meine Brust ziehen sich noch enger, als wir bei einer gewaltigen Flügeltür anhalten, die den Flur vor uns abschneidet.

Das Siegel des Präsidenten – eine stilisierte Rose hinter dem Kapitolsadler – ziert beide Türflügel. Einer der Friedenswächter hält ein kleines Kärtchen vor ein Gerät in der Wand und begleitetet von einem Surren öffnet sich die Tür.

Dahinter warten zwei andere Soldaten, allerdings nicht in Vollmontur, sondern in ordentlich gebügelten Uniformen, mit steifen Krägen und polierten Abzeichen auf der Brust. Nur an ihren Pistolen im Holster erkenne ich überhaupt, dass es sich hierbei um weitere von Snows Männern handelt.

Meine Eskorte salutiert, dann treten sie einen Schritt zurück. Unsicher stolpere ich zu den beiden Friedenswächter in den neuen Bereich. Denn nicht nur die Uniformen sind auf dieser Seite der Türen anders – auch der Flur sieht ganz anders aus. Anstatt nackten Betons gibt es hier Teppich, die Wände sind in einem warmen Beige-Gelb gestrichen und die Leuchtstoffröhren sind richtigen Deckenlampen mit Milchglas gewichen.

Gesprochen wird hier allerdings genauso wenig. Mit mir in der Mitte setzen sich die beiden Männer in Bewegung und erneut kann ich nur folgen. Doch wann immer ich versuche, einen vernünftigen Blick auf die Umgebung zu erhaschen, schnalzt einer von ihnen mit der Zunge und schiebt mich mit einer Hand an der Schulter vorwärts.

Bedeutet das wirklich, was ich denke? Befinden wir uns hier im Präsidentenpalast? Ich weiß schließlich, dass das Trainingscenter nicht allzu weit vom Mittelpunkt des Kapitols entfernt ist, das hat die Wagenparade gezeigt. Das Einzige, was sich mir nicht erschließt, ist das Warum.

Meine Fußsohlen jucken. Am liebsten würde ich rennen; weit, weit weg. Das hier kann nichts Gutes bedeuten. Die anderen Mentoren hätten mich sicher gewarnt, wenn ihnen bewusst gewesen wäre, dass ich den Präsidenten treffen werde.

Der Gedanke an Flucht ist jedoch zwecklos. Nicht nur aufgrund meiner beiden Begleiter, sondern auch weil uns auf einmal wieder andere Menschen begegnen. Zuerst Friedenswächter, dann vereinzelte Avoxe und nachdem wir einige Treppen emporgehen sogar typisch für das Kapitol ausstaffierte Personen, die an Papageien erinnern.

Keiner nimmt große Notiz von mir. Die Avoxe tragen riesige Blumenvasen vor sich, zwei Friedenswächterinnen plaudern miteinander und wieder andere sind in Datenpads vertieft, die einen bläulichen Schimmer auf ihre Gesichter werfen. Alles wirkt geradezu ... normal. Unten im Keller hätte ich Schlimmeres erwartet als einen Ort, der in warmen Goldfarben gehalten und von Leben erfüllt ist.

Der Weg führt uns immer weiter fort von der kargen Einöde im Untergeschoss. Ich sehe sogar einen großen Saal, in dem ein riesiges Büffet aufgebaut ist. Noch sind die Servierplatten und Sektglaspyramiden leer, doch ich kann mir vorstellen, wie hier am Abend gefeiert wird. Für einen Moment ertappe ich mich dabei, das Ganze faszinierend zu finden. Dann fällt mir die Leinwand ins Auge. Darauf zu sehen ist ein Standbild ... von uns. Vierundzwanzig wohlbekannte Gesichter, inklusive meines Eigenen, nun um ein Vielfaches vergrößert, blicken auf uns herab.

Einen Moment lang frage ich mich, wann dieses Bild gemacht wurde, bis mir auffällt, dass es sich um eine Manipulation handeln muss. Einzelne Aufnahmen der Tribute in ihrer Paradenkleidung, die so zusammengeschnitten wurden, als würden wir alle in einer Reihe nebeneinanderstehen. Im Hintergrund erkenne ich die Luftaufnahme einer Arena vergangener Hungerspiele. Erst da wird mir klar, was hier heute Abend bei Häppchen und Drinks gefeiert wird: Die Verkündung der Punktzahlen.

Ich bin heilfroh, dass meine Begleiter mich schnell weiterscheuchen, zu einem prunkvollen Fahrstuhl. Hiergegen sieht selbst das gläserne Ungetüm im Trainingscenter wenig beeindruckend aus. Alles ist mit Spiegeln verkleidet und groß genug, dass ich mich mit ausgestreckten Armen auf den Boden legen könnte.

Die Türen schließen sich gerade, da quiekt es laut. Eine Sekunde später schiebt sich etwas Fluchendes, Pinkes durch den Restspalt.

»Sie hätten ruhig warten können! Das ist das fünfte Mal diese Woche, dass Sie mich sitzen lassen wollen, Wrecks! Dabei haben Sie mich ganz genau gesehen, versuchen Sie gar nicht, das zu leugnen! Noch ein Mal und ich werde Sie melden. Dann können Sie aber sehen, wie schnell Sie zurück nach Zwei versetzt werden!«

Vor uns steht eine Frau, den einen Arm um eine riese Rolle Schleifenband geschlungen, im anderen einen Stoffballen. Mit einem theatralischen Seufzen rückt sie die Perücke auf ihrem Kopf zurecht, ehe sie mich im Augenwinkel sieht. Binnen Sekunden werde ich Zeugin davon, wie sie all ihre Zähne in einem Strahlen enthüllt und ihre Stimme mehrere Oktaven nach oben rutscht.

»Hey, Hi! Du bist doch die Kleine aus Vier!« Zu dem übertriebenen Grinsen gesellt sich ein wildes Funkeln in den Augen. »Na, aber so ganz klein bist du gar nicht ... Man, dein Familiengespräch war echt krass, muss ich sagen. Bei uns daheim ist allen förmlich der Rotz geflossen, als wir deinen kleinen Bruder gesehen haben. Nicht mal der Nervenzusammenbruch von dieser aus Zwei – wie heißt sie noch gleich? May ... Long? Ah, Maylin! Na, jedenfalls nicht mal deren Zusammenbruch konnte das schlagen. Gut gemacht!«

Die Frau zwinkert mir zu. Ihr gackerndes Lachen verklingt in der Stille und unruhig trete ich von einem Bein aufs andere.

»Ähm ...«, stammle ich. »Danke ...?«

Aus der Ecke höre ich ein Schnauben. Einer der Friedenswächter beißt sich auf die Unterlippe, doch das Zucken seiner Mundwinkel verrät ihn.

»Das ist der Grund, Rowana, warum Snow dich am liebsten im Untergrund beschäftigen lässt. So kann man dich einfach nicht auf die Umwelt loslassen.«

»Ach, halt doch die Klappe!«, faucht die Frau zurück. »Im Gegensatz zu euch Weißhemden bin ich wenigstens nicht austauschbar!«

Da hält der Fahrstuhl auch schon mit einem leisen Ping und Rowana verabschiedet sich mit einem Kichern von uns. Alles, was von ihr bleibt, ist der schwere Duft ihres Parfüms. Nelken.

Lange muss ich diesen Zustand allerdings nicht ertragen, denn keine Minute später erreichen auch wir unser Ziel – die oberste Etage. Direkt vor den Fahrstuhltüren erwartet uns ein großes, vollverglastes Büro, in dem hinter einem massiven Holztisch eine weitere Frau sitzt. Dieses Mal sind die Haare zu einem hellgrünen Türmchen auftoupiert, das allgemeine Desinteresse und das falsche Lächeln sind dagegen wie immer.

»Oh, da sind Sie ja endlich«, begrüßt sie uns in scharfem Tonfall. Sie steht auf, um uns – oder eher mich? – in Empfang zu nehmen. »Der Präsident wartet bereits.« Ein ungesagtes ‚und er wartet nicht gerne‘ schwingt in ihren Worten mit.

Damit ist es also besiegelt. Ich treffe tatsächlich Präsident Snow. Nervosität ist gar kein Ausdruck für meinen Zustand. Trotzdem bekomme ich mit, wie die fremde Frau einem der Friedenswächter ein kleines Lächeln schenkt und ihm ein leises »Sehe ich dich heute Abend, Darling?« zuflüstert.

Auch das noch, kapitoleske Liebesgeschichten. Ich empfinde eine Mischung aus Ekel und Mitleid für diese zwei Menschen, deren Zuneigung bestimmt nicht gerne gesehen ist. Länger kann ich nicht darüber nachdenken, denn da werden schon die Türen zu Snows Büro vor mir aufgerissen.

»Sie ist hier, Sir«, verkündet der Mann, der nicht gerade am Flirten ist, und schiebt mich geradewegs in das Haifischbecken.

Schwerer Rosenduft rollt über die Türschwelle und nimmt mir den Atem. Aus tränenden Augen sehe ich, dass die Fensterfront einen wundervollen Ausblick auf die Gärten des Präsidentenpalastes bietet und in der Ferne auf die bunte Weite des Kapitols. Doch viel eindrücklicher als die Aussicht sind der Schreibtisch und natürlich Präsident Snow, der dahinter sitzt.

»Danke, Wrecks«, sagt er sanft an den Friedenswächter gewandt. »Sie können gehen – aber denken Sie daran, dass ich Sie heute Abend wieder brauche.«

»Natürlich, Sir.« Mit einem letzten Salutieren verabschiedet sich der Mann und ich bin endgültig alleine.

Mir ist kalt. Von einer auf die andere Sekunde bin ich mir des Schweißfilms auf meiner Haut überdeutlich bewusst. Wie gerne würde ich jetzt duschen, mich in ein dickes, flauschiges Handtuch wickeln ... Ich spüre, wie ein Tropfen zwischen meinen Schultern den Rücken hinab läuft und erschaudere.

Snow sagt nichts. Er taxiert mich nur stumm, dann deutet er auf einen Sessel vor seinem Schreibtisch. »Bitte, Miss Cresta.«

Ich muss die Hände zu Fäusten ballen, um meine Glieder überhaupt dazu zu überreden, die paar Schritte dorthin zu überwinden. Bei jeder Bewegung fühlt es sich an, als würde ein Elektroschock durch mich jagen und ich kann nicht mehr unterscheiden, ob ich ruhig bin oder mein Körper so sehr zittert, dass es schon wieder normal wirkt.

Wie ein Kaninchen das Krokodil starre ich den Präsidenten an. Nie hätte ich mir träumen lassen, ihm eines Tages von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Aus dieser Nähe erkenne ich sogar die feinen Falten, die wohl nicht mal die talentiertesten Chirurgen des Kapitols entfernen können. Es ist lächerlich, doch ich bin erleichtert, dass er nicht – wie in meinen schlimmsten Vorstellungen – eine gespaltene Zunge oder geschlitzte Pupillen hat, sondern trotz allem ... menschlich wirkt. Wenn man einmal davon absieht, dass seine Haut zu blass ist, seine Lippen zu rot.

»Annie Cresta«, stellt Snow leise und dennoch bestimmt fest. »Wissen Sie ... es ist lange her, dass ich mit einem der Tribute persönlich gesprochen habe. Noch dazu eine so vielversprechende junge Frau. Nach allem, was ich von meinen Spielmachern gehört habe, war Ihre Vorstellung ja durchaus ... überraschend.«

Er dehnt seine Worte beim Sprechen. Nicht wie Cece, die bei der Gelegenheit alles mit einem Trillern in zehn verschiedenen Stimmlagen ausschmückt, sondern eher so, als würde er genau bemessen, was er sagt. Ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren, am allerwenigsten eine Antwort. Also nicke ich bloß.

»Wie gefällt es Ihnen im Kapitol, Miss Cresta?«

Die Frage klingt, als würde ich das erste Mal bei Bekannten zu Besuch sein.

»Gut«, bringe ich hervor, auch wenn das Wort in meinem Hals kratzt und auf halbem Weg am liebsten umkehren würde. Immerhin ist es ein Stück der Wahrheit. Das Kapitol wäre ein schöner Ort, gäbe es nicht die Hungerspiele.

»Das freut mich.« Snow hebt die Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächelns. »Nun, betrüblicherweise bleibt uns nicht viel Zeit zum Plaudern. Dabei hätte ich durchaus noch die ein oder andere Frage ... Aber morgen sind schließlich die Interviews, da gibt es noch einiges vorzubereiten. Ich bin mir sicher, dass Ihnen ein ganz hinreißendes Kleid zuteilwird. Roan ist wirklich ein wahrer Meister, nicht wahr?«

Allein bei dem Gedanken daran wandern meine Schultern höher und ich ertappe mich dabei, wie ich am Nagelbett des Daumens knibble. »Ich denke schon«, murmle ich, »das Paradenkleid war ja auch schön.«

Der Präsident nickt wohlwollend. »In der Tat, das sieht das Kapitol genauso. Nun, aber – Aussehen ist nicht alles, auch wenn man das in diesem Trubel leicht vergessen kann. Wie ich hörte, gab es einen Trainerwechsel unter Ihren Mentoren ...« Das Ende seines Satzes lässt er in der Luft hängen.

»Das ist richtig.« Ich räuspere mich. Keine Ahnung weshalb, doch der Drang nach einer Rechtfertigung, auch im Namen meiner Mentoren, steigt in mir auf. »Für die Ausgeglichenheit haben wir das gemacht, jetzt, wo wir mehr Zeit haben.«

»Natürlich.« Präsident Snow legt den Kopf schief. »Und sicherlich ist es auch bedeutend aufregender, Finnick Odair als Mentor zu haben, im Vergleich zu Ihren vorigen Trainern.«

Die inzwischen altbekannte Angelsehne um meinen Hals ist zurück. Anstatt zu antworten, zucke ich erstmal nur mit den Schultern. »Ich denke, er ist gut, in dem, was er tut. Genauso wie die anderen. Das ist alles.«

»Nun, das freut mich zu hören. Gut ausgebildete Tribute sind immerhin das Herzstück der Spiele. Und Sie haben sich natürlich auch gerade erst von ihrem Verlobten verabschiedet, das habe ich nicht vergessen. Für Nebensächlichkeiten haben Sie also sicher keinen Kopf.«

Ich lecke mir die Lippen, doch sie bleiben genauso trocken zurück wie vorher. Mein krampfhaftes Schlucken ist wahrscheinlich so laut, dass man es noch im Vorraum hört. Ahnt Snow etwas über das Chaos in mir? Aber wie? Sieht man es womöglich schon an meiner Nasenspitze?

»Mein Ziel ist klar«, wispere ich. Egal wie sehr ich mich bemühe, zu mehr als einem leisen Zittern kann ich meine Stimme nicht zwingen. »Ich werde Pon beschützen, das bin ich seiner Familie schuldig.«

»Familie ...«, seufzt Snow. »Ein ziemlich wichtiges Stichwort.«

Und das aus dem Mund von jemandem, der jedes Jahr Familien auseinanderreißt. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht bitter aufzulachen.

»Wissen Sie, Miss Cresta, meine Enkelin hat erst vor Kurzem Geburtstag gefeiert. Sie wollte unbedingt eine Kostümparty, alle sollten sich verkleiden wie ihre Lieblingstribute. Eigentlich ist sie noch etwas jung für die Spiele, aber zumindest die Paraden und Interviews darf sie schon gucken. Ihre Mutter ist da sehr streng.« Snow schmunzelt in sich hinein. »Auf jeden Fall hat meine Enkelin schon jetzt einige Favoriten. Natürlich fleht sie mich immer an, ob nicht alle davon die Spiele gewinnen können und Sie können es sich denken – es ist schwer, einem solch bettelnden Blick zu widerstehen. Aber trotzdem wissen wir beide, dass das nicht möglich ist. Wir brauchen einen Sieger, nicht zwei oder gar drei.«

Nein, ich verstehe nicht. Wenn es nach mir ginge, dann gäbe es gar keine Spiele. Aber das kann ich Snow natürlich nicht sagen, daher schweige ich, meine Hände unter die Oberschenkel geschoben, um sie vom Zittern abzuhalten.

Wieder schenkt Snow mir sein Großvaterlächeln. »Also müssen wir einen Mittelweg finden, einerseits unsere Familie nicht zu enttäuschen und andererseits diesem Land einen würdigen Sieger zu schenken. Oder natürlich eine Siegerin.«

Wie gerne würde ich Snow anschreien, dass er einfach mit der Sprache herausrücken soll. Was will er von mir?

»Sie haben sich vielleicht von Ihrer Familie verabschiedet, Miss Cresta, doch es gibt immer noch etwas, was Sie für diese tun können.«

Ich ziehe die Stirn kraus. Wenn Snow nicht bald weiterspricht, wird in diesen ganzen Pausen mein Herz einfach stehenbleiben. Es schlägt bereits jetzt viel zu schnell.

»Es fällt mir nicht leicht, werte Miss Cresta, aber es gibt da einen gewissen Störfaktor, den wir eliminieren sollten.«

Bitte hat das nichts mit Finnick zu tun. Bitte.

»Ich denke, nach all Ihrer Vorbereitung durch Mentoren wie Finnick Odair wird es ein Leichtes für Sie sein, in der Arena jemanden zu töten.«

Ich habe mich geirrt. Mein Herz kann auch so stehenbleiben.

»Natürlich werden Sie das in den Spielen ohnehin vorhaben, davon gehe ich aus – aber es wäre mir ein persönliches Anliegen, dass Sie sich auf Ihre Konkurrentin aus Distrikt Zwei konzentrieren.«

»Was?«, platzt es aus mir hervor, im gleichen Moment, da mein Hirn diese Aufforderung verarbeitet hat.

Präsident Snow will ... dass ich Maylin töte? Sie ist doch eine Karrieretributin, die perfekte Kandidatin – und nahezu konkurrenzlos, seit Floyd sich mit seinem Speerwurf ins Aus geschossen hat. Nicht mal im Traum hätte ich gegen sie eine Chance!

»Sehen Sie, Miss Cresta ... ich kann mir die naive Sicht meiner Enkelin nicht erlauben. Ich habe ein Land zu führen und dafür zu sorgen, dass unser fragiler Frieden nicht kippt. Sie mögen es noch nicht verstehen, aber manchmal sind gewisse Opfer erforderlich. Zumindest darin können Sie mir sicherlich zustimmen, nachdem Sie bereit sind, für Ihren Mittribut das größte aller Opfer zu erbringen?«

»Ich weiß nicht, was Pon damit zu tun hat –«

»Nun, nichts. Aber wir stimmen darin überein, dass er ein sehr bewundernswerter kleiner Tribut ist. In jedem Fall ein idealerer Sieger als jeder Kandidat aus Zwei in diesem Jahr. Ein Tod auf deren Seiten hebt nur die Siegchancen Ihres Mittributes.«

Ich starre auf die Tischkante vor mir. Das kann nicht Snows Ernst sein! Ich bin garantiert nicht die richtige Person für diese Bitte. Weder kann ich im Umgang mit Waffen so wirklich glänzen, noch will ich jemanden umbringen.

Weshalb sollen nicht die Tribute aus Eins das erledigen – oder hat Snow sie etwa ebenso instruiert? Oder womöglich ... setzt er Maylin genauso auf mich an? Ist das hier irgendein abgekartetes Spiel im Spiel?

»Falls es Ihnen die Entscheidungsfindung erleichtert«, durchbricht Snow meine Gedanken, »habe ich noch etwas für Sie.« Er drückt eine Taste, die auf einem Datenpad in seinem Schreibtisch eingelassen ist. »Bringen Sie ihn herein.«

Hinter mir gleiten die Türen auf und Schritte nähern sich. Ich habe Angst, mich umzudrehen, doch auf Snows erwartungsvollen Blick hin tue ich es trotzdem.

»Was ...«, hauche ich nun schon zum zweiten Mal.

Es ist David. Hier, mitten im Herzen des Kapitols, in Snows Büro, steht David vor mir. David in seiner schlichten, grauen Fabrikarbeiteruniform, mit seinem Namen auf die Brust gestickt. David. Mein David.

Wie ist er hierhergekommen? Weshalb? Und warum ist er so dünn, so blass? Woher kommen die Ringe unter seinen Augen?

»Annie ...«

Wir starren einander wortlos an, wie schon zuletzt bei den Familieninterviews. Es sollte ein letztes Mal sein, ein Abschied für immer, doch jetzt steht er hier und mein Herz schmerzt. Ich will ihn umarmen, aber es scheint unmöglich, aus Snows weichem Polstersessel aufzustehen.

Der Präsident räuspert sich dezent. »Ich will Ihrer Wiedersehensfreude nicht im Weg stehen. Sie haben fünf Minuten – ich vertraue Ihnen, dass ich Sie alleine lassen kann.« Dann erhebt er sich und verlässt sein Büro.

Mit seinem Verschwinden scheint ein Bann gebrochen zu sein. Ich springe auf, laufe zu David und schlinge meine Arme um ihn. Keine Sekunde zu früh, denn die ersten Tränen kullern mir über die Wangen und durchnässen den Kragen seiner Uniform.

»Was machst du hier?«, bricht es aus mir hervor.

»Ich ...« David schluckt, ich spüre seinen Adamsapfel hüpfen. »Die Friedenswächter haben mich mit dem morgendlichen Fischtransporter hergebracht, um ... um eine Botschaft zu überbringen.«

»Was?« Verwirrt trete ich einen Schritt zurück, damit ich Davids Gesicht sehen kann. »Was meinst du?«

David zieht meine Hände von seinen Schultern und umfasst sie beide mit den seinen. »Annie ... Dein Vater –« Er räuspert sich. »Es ist vor zwei Tagen passiert. Unsere Väter sind mit dem Boot rausgefahren, hinter die Sandbänke, du weißt schon, zu den tieferen Fischgründen. Kurz vor der Umgrenzung. Jedenfalls ... gab es ein Unwetter. Ein ziemlich schlimmer Sturm ... Die Rettungsteams waren die ganze Nacht unterwegs, bis sie alle gefunden hatten, die draußen waren ...«

Ich zittere. »Nein –«

»Sie leben! Annie, sie leben!« David drückt meine Hände noch fester. »Aber dein Vater ... ich weiß nicht, ob er es schaffen wird. Niemand weiß das. Er liegt im Krankenhaus, wird rund um die Uhr bewacht ... sogar der Chefarzt persönlich war da. Aber es sieht düster aus, wenn er nicht die richtige Behandlung bekommt.«

Mein Blick löst sich von David, gleitet hinaus aus dem Fenster, über Snows Gärten. Doch ich bemerke kaum, was es da zu sehen gibt. Vor meinen Augen verschwimmt alles zu einem Brei aus Blau und Grün.

»Hat er ... hat er Schmerzen?«, frage ich.

»Wenig, denke ich. Er hat etwas Morfix bekommen, das lindert das Meiste. Er ist ohnehin kaum bei Bewusstsein. Angeblich hat sein Gehirn unter Wasser zu wenig Luft bekommen oder so ...«

Ich weiß nicht, ob ich schreien oder weinen will. Am liebsten beides, doch nach außen hin bleibe ich reglos. Alle in Distrikt Vier kennen die Gefahren des Meeres. Jeder hat schon einmal jemanden an die Fluten verloren. Und dennoch ...

Warum? Warum gerade jetzt? Warum bringt man David zu mir, um diese Botschaft zu überbringen? So kurz bevor ich selber sterben werde? Ist das Schicksal wirklich so grausam?

»Bitte Annie«, fleht David, den ich gar nicht mehr richtig wahrnehme, an meiner Seite. »Wenn du gewinnst, dann kannst du zurückkommen und ihn mit deinem Siegergeld retten – denk doch nur an Cyle!«

In diesem Moment trifft mich die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Ich muss Maylin töten, im Austausch für das Leben meines Vaters. Deshalb hat Snow David hierhergebracht. So wird es sein. Er will sichergehen, dass Maylin stirbt. Und wenn ich nicht um meiner Selbst willen morden werde, dann eben für jemand anderen. Wie Pon – oder jetzt meinen Vater.

»Nein«, flüstere ich und schüttle den Kopf. »Ich kann nicht. Ich habe es dir schon einmal gesagt, David. Ich kehre nicht zurück.« Erst recht nicht, wenn ich die Schuld von jemand anderen Todes auf mich laden sollte. Aber das spreche ich lieber nicht aus, da er es schon bei unserem letzten Abschied nicht verstanden hat.

»Was bist du nur so starrsinnig?« David entzieht mir seine Hände. »Du musst es doch wenigstens versuchen! Scheiß auf irgendein fremdes Kind! Dein Vater wird ja wohl mehr zählen als dieser Zwölfjährige!«

»Du verstehst es nicht, David«, presse ich unter Schluchzern hervor. »Aber glaub mir – mein Vater wird auch ohne meinen Sieg leben. Da bin ich mir sicher. Ihr werdet die übliche Entschädigung des Kapitols für meinen Tod bekommen, das wird reichen für seine Behandlung.« Zumindest hoffe ich, dass Snow dafür sorgen wird, wenn ich seinem ‚Wunsch‘ nachkomme. Habe ich denn eine andere Wahl?

»Du bist unfassbar!« Ich kann förmlich hören, wie David mit den Zähnen knirscht. »Was ist nur aus der Annie geworden, mit der ich aufgewachsen bin? Aus der Annie, die ich liebe? Die hätte so etwas niemals gesagt, geschweige denn gedacht!«

»Hast du es noch nicht begriffen?«, schieße ich zurück. »Sie ist gestorben, als ihr Name bei der Ernte verlesen wurde!«. Wut und Tränen rauben mir die Sicht; ich schwitze und friere zugleich. So sehr ich mich eben noch über David gefreut habe, wünsche ich nun, dass er nicht mehr da wäre. »Sie ist tot und sie kommt nicht zurück! Es ist vorbei David! Wir sind Vergangenheit!«

Ich weiß, dass ich ungerecht bin. Aber ist das Leben mir gegenüber nicht genauso unfair? Gerechtigkeit hat vor langer Zeit aufgehört zu existieren. Wenn sie denn je Bestand hatte in diesem Land.

Neue, heiße Tränen strömen mir über das Gesicht, sodass ich nur höre, wie David einen Schritt zurückweicht.

»Bitte«, versucht er es erneut, »denk wenigstens an deine Familie.«

»Das tue ich! Jede verdammte Sekunde! Was glaubst du, woran ich in der Arena die ganze Zeit denken werde?«

Betretenes Schweigen breitet sich aus und erinnert mich daran, dass draußen vor der Tür Präsident Snow wartet. Bestimmt bleibt kein Wort dieser Unterhaltung privat, so viel habe ich im Kapitol gelernt. Und egal was zwischen David und mir steht, egal wie wütend ich auf ihn bin – die Befriedigung dieses Endes will ich Snow nicht geben. Also raffe ich ein letztes Mal meine Stärke zusammen.

»Danke, David. Danke, dass du gekommen bist, um mir das zu sagen. Ich bin wirklich froh, dass wir uns noch einmal sehen konnten. Dass ich es wenigstens von dir erfahren habe und nicht von jemand anderem.«

Ich wische mir die Tränen fort und mache einen Schritt auf David zu. Sogar ein Lächeln finde ich, bevor meine Arme ihn ein letztes Mal umschließen.

David fühlt sich anders an als Finnick. Dünner, kleiner. Ich spüre all die Ecken und Kanten seines Körpers. Aber er riecht immer noch gut. Frisch, nach Heimat, Vertrautem. Zaghaft legt auch er seine Arme um mich. Doch es bleibt ungewohnt, als hätten wir auf einmal Angst, einander zu zerbrechen.

»Pass gut auf Cyle und Papa auf, ja? Und wenn das Geld wieder Erwarten nicht reicht, verkauft meine Kette. Die ist echtes Gold, dafür bekommt ihr auch noch ein bisschen was.«

»Annie ...«

»Shhh. Nicht, David. Du weißt nicht, was du von mir forderst. Aber wenn du mich wirklich geliebt hast ... dann tu einfach, was ich sage, ja?«

David seufzt. »Ich ... Natürlich.«

Mitten in diesen Moment hinein öffnet sich ohne Vorwarnung die Tür und Snow kommt zurück, einen fast überzeugend betrübten Ausdruck im Gesicht. »Die fünf Minuten sind leider schon länger um und es fällt mir wirklich schwer, das junge Glück zu unterbrechen, aber ich fürchte, der Zug in Richtung Distrikt Vier wartet nicht.«

»Oh, ähm ...sicher, Sir. Vielen Dank für Ihre Geduld.«

David löst sich zögerlich von mir. Es dauert gefühlt eine Ewigkeit, bis die letzte Berührung seiner Finger an meinem Rücken verschwunden ist und geht doch viel zu schnell.

»Dann ... leb wohl, Annie.«

Ich nicke. »Leb wohl, David.«

Derselbe Friedenswächter, der mich zuvor eskortiert hat, führt nun David hinaus. Die Türen schließen sich hinter ihm und einmal mehr bin ich alleine mit Präsident Snow.

»Wirklich eine betrübliche Angelegenheit«, sagt er, wieder erfüllt von falscher Sanftheit. »Auch für mich in all diesen Amtsjahren ist so eine Situation neu. Aber nun ... es muss weitergehen, da besteht kein Zweifel. Die Interviews warten schließlich.«

»Und wird es für meinen Vater weitergehen?«, stelle ich die eine Frage, die mir auf dem Herzen brennt.

Snow zieht eine ordentlich gezupfte Augenbraue in die Höhe, ehe sich seine Mundwinkel kräuseln. Doch dieses Mal ist es ein anderes Lächeln. Nicht mehr wie der Großvater, der für alle nur das Beste will – sondern von der wissenden Sorte. Der Ausdruck eines Raubtiers, kurz bevor es sich auf seine Beute stürzt.

»Das kommt ganz auf Sie an, Miss Cresta. Auf Ihre Handlungen. Ich wäre jedenfalls untröstlich, wenn es Ihrem Vater schlechter gehen würde.«

Mein Weg

»Annie, da bist du ja endlich! Cece stirbt schon vor Neugier, sie will endlich hören, wie dein Training gelaufen ist!«

Mit diesen Worten begrüßt Amber mich, kaum dass ich unser Appartement betrete. Offenbar hat sie schon im Flur gewartet, denn ich habe gerade erst die Tür geöffnet, als sie bereits mein Handgelenk packt. Ich stolpere fast, so fest zieht sie mich an sie heran. Ihre warmen Hände landen auf meinen Schultern, zusammen mit einem ebenso eindringlichen Blick.

»Wir hatten schon befürchtet, dass du dir doch noch mit einem Speer in den Fuß gestochen hast, so lange hat das gedauert«, setzt Amber überdeutlich und mit lautem Schnauben hinzu. Gleichzeitig drückt sie allerdings meine Schultern fester. Dann wirft sie einen Blick zu den Friedenswächtern, die mich zurück ins Trainingscenter eskortiert haben. »Ich will hoffen, dass es das für heute an Störungen im Tagesablauf war? Wir sind extrem hinten dran, was die Vorbereitungen für das Interview angeht und wir wissen alle, dass sie das brauchen wird. Gutes Styling passiert schließlich nicht mal eben über Nacht!«

Die beiden Männer zucken nur mit den Schultern. »Sie schaffen das schon«, sagt der Größere von ihnen lapidar und sie wenden sich zurück zum Fahrstuhl.

Amber beobachtet, wie sie einsteigen, und wartet nicht nur, bis sich die Türen geschlossen haben, sondern auch die Kabine dem Boden entgegen sinkt. Erst dann atmet sie hörbar aus. Ihre harsche Haltung weicht einer besorgten Falte zwischen den Augenbrauen.

»Bist du in Ordnung?«, fragt sie, deutlich leiser als bei ihrer Begrüßung. Bevor ich jedoch auf die Frage antworten kann, schiebt sie mich in Richtung Wohnzimmer weiter. »Wir haben uns Sorgen gemacht«, fährt sie fort, »Pon ist schon seit Ewigkeiten zurück von der Punktevergabe. Wo hat man dich hingebracht?«

»Ich ...« Eigentlich will ich sagen, dass es mir gut geht, doch die Worte hängen in meiner Kehle fest.

Zum Glück scheint Amber auch so zu verstehen. Zumindest unterdrückt sie einen Fluch und die Falte zwischen den Augenbrauen vertieft sich.

Im Wohnzimmer werden wir erwartet, allerdings nicht von Cece, sondern von Trexler und Floogs. Die beiden sitzen auf dem Sofa und bei meinem Anblick springen sie beinahe synchron auf.

»Annie«, sagt Floogs sanft, »wie schön, dass du zurück bist.«

Er lächelt mir zu, aber ich kann die Augen nicht von Trexler abwenden, der wie ein Schatten hinter ihm steht und dessen Gesicht sich bei meinem Anblick umgehend verfinstert. Gebannt starre ich auf den Hünen.

»Du wars’ bei Snow, nich’?« Trexler formuliert es zwar als Frage, doch im Prinzip ist es eine vorsichtige Feststellung. »In seinem Palast.«

Ich schlucke schwer. Die Lüge, dass es mir gut geht, kratzt immer schlimmer in meinem Hals. Aber kann ich einfach die Wahrheit sagen? Oder sollte das Gespräch besser ein Geheimnis zwischen mir und dem Präsidenten bleiben?

Egal woran ich denke, meine wahren Gefühle spiegeln sich sowieso auf meinem Gesicht. Das merke ich daran, wie Trexler mich ansieht und dann mit einem kleinen Nicken die Lider senkt. »Das is’ natürlich ne Einladung, die man nich’ ablehnt«, bestätigt er meine Befürchtungen.

Unfreiwillig erleichtert atme ich auf. Es klingt nach dem ersten Luftschnappen einer Tiefseetaucherin. Jetzt muss ich wenigstens keine eigenen Worte – oder gar eine Lüge – für diesen Ausflug erfinden. »Ja«, hauche ich. »Die Friedenswächter haben mich gleich nach dem Training mitgenommen –«

»Das verstehen wir.« Floogs nickt mir zu. »Glaub mir, es ist nicht das erste Mal, dass etwas in diese Richtung geschieht. Das ist immer ...«

»Aufregend?«, wirft Amber ein. Sie verzieht den Mund. »Annie sieht jedenfalls aus, als müsse sie kotzen angesichts dieser Ehre.«

»Richtig, also musst du nich’ noch drauf rumreiten«, brummt Trexler. Er löst sich von Floogs und kommt zu uns herüber. Eine seiner Pranken landet schwer auf Ambers Schulter, sodass sogar ich den Stoß spüre. Die beiden tauschen einen stummen Blick und schließlich seufzt Amber leise.

»Schön«, murmelt sie, »dann werden wir mal ... Cece Bescheid sagen und ihr – Floogs, sie zu, dass sie nicht wirklich kotzt, ja?« Sie wendet sich zum Gehen, bevor sie doch noch einmal zu mir sieht. Ihre Mundwinkel zucken kaum merklich – soll das etwa der Versuch eines Lächelns sein?

An ihrer statt ist es dann jedoch Trexler, der wirklich lächelt. »Wird schon«, sagt er in seiner grummeligen, aber doch irgendwie beruhigenden Stimme. »Wir sin’ alle für dich da.«

»Genau«, bekräftigt Floogs.

Ich schenke ihnen ein schwaches Nicken. Sie ahnen ja nicht, wie schlimm es steht. Mein Magen verknotet sich, während ich Amber und Trexler hinterher sehe. Das Interview und vor allem die Vorbereitungen dafür sind das letzte, woran ich jetzt denken mag.

»Annie?« Floogs tritt an meine Seite. »Du siehst blass aus. Ein bisschen frische Luft würde dir guttun, schätze ich. Sonst bringt Cece mich noch um, wenn du gleich so zur Vorbereitung erscheinst.« Er sagt das so leicht dahin, aber auf seiner Stirn zeichnen sich echte Falten der Besorgnis ab. Mit einem Kopfrucken bedeutet er mir, ihm zu folgen.

Sein Weg führt uns zu dem kleinen Balkon, der an das Quartier der Mentoren anschließt. Mir entfährt ein Seufzen, als ich daran denke, wie Finnick vorige Nacht hier neben mir saß. Finnick – ich vermisse ihn, wird mir mit einem Schlag klar. Von allen Mentoren hätte ich ihn in diesem Moment am liebsten an meiner Seite. Er müsste nicht einmal reden. Einfach nur da sein, das würde schon reichen.

Floogs räuspert sich und mir schießt das Blut in die Wangen. »Ah, entschuldige, ich –«

»Es gibt nichts zu entschuldigen, Annie. Du machst gerade genug durch. Und ich verstehe, dass ich wohl nicht deine erste Wahl für so ein Gespräch bin. Aber Finnick ist leider ... nicht verfügbar. Wenn du magst, können wir es versuchen? Du weißt ja sicherlich schon, dass du hier freier sprechen kannst.«

Betreten blicke ich zu Boden, in Gedanken immer noch bei all den Dingen, die Finnick und ich hier ausgetauscht haben. Und mit Schrecken begreife ich, was es bedeuten muss, dass er ‚nicht verfügbar‘ ist. Ich beiße mir so fest auf die Unterlippe, dass es blutet.

»Er hat es dir erzählt?«, fragt Floogs.

Ich nicke.

»Verstehe ... Das erklärt, weshalb er sich in der letzten Mentorensitzung so vehement dafür eingesetzt hat, dass wir deine Entscheidung beherzigen und Pons Überleben priorisieren. Du ... bedeutest ihm wirklich viel.«

Bei Floogs’ Worten hüpft mein Herz. Finnick hat es mir zwar versprochen, doch die Bestätigung dafür zu hören, dass er diesen Wunsch ernst nimmt, hat mehr Gewicht als das Versprechen an sich. Ich schniefe leise und ziehe wenig würdevoll die Nase hoch. »Finnick bedeutet mir auch viel. Zu viel.«

Floogs legt den Kopf schief. »Ich weiß nicht, ob es ein ‚zu viel‘ dafür gibt, solange es aufrichtig und ehrlich ist.«

»Wenn es denjenigen in Gefahr bringt schon.« Ich bringe es nicht über mich, Floogs anzusehen, also trete ich an die Balustrade, den Blick in die Tiefe gerichtet.

»Hat Snow deshalb mit dir gesprochen?«

Rasch schüttle ich den Kopf. »Zumindest nicht direkt. Er hat so eine Andeutung gemacht ... Aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet.« Tränen drücken von innen gegen meine Augen und ich habe das Gefühl zu platzen, wenn ich keinen Klartext spreche. Also erzähle ich Floogs alles. Von David, meinem Vater, Snows Drohungen. Dem Auftrag, Maylin zu töten.

Floogs ist ein guter Zuhörer. Er unterbricht mich nicht, sondern nickt nur hin und wieder oder zieht die Stirn kraus. Erst als ich fertig bin, stößt er einen langen und tiefen Atemzug aus.

»Das ist ... Es tut mir so leid, Annie.« Genau wie ich hat er sich an die Balkonumgrenzung gelehnt und sieht nun auf seine verschränkten Hände hinab. »Ich muss gestehen – so eine Situation ist für mich als Mentor auch neu.«

Ich bringe ein schwaches Lächeln hervor, während ich langsam mit dem Rücken zur Balustrade zu Boden sinke. »Ich habe so Angst«, flüstere ich mit dem Blick gen Himmel. »Ich weiß nicht, ob ich das tun kann ... obwohl ich es sowieso können muss, wenn ich Pon retten will. Aber so ... der Gedanke ist falsch. Ich will doch niemanden töten, wenn es nicht ... nicht sein muss!«

»Da würde es mir nicht anders gehen«, erwidert Floogs. »Es ändert wahrscheinlich nicht viel, aber du musst immer daran denken, dass alles, was hier passiert, keine freie Entscheidung von dir ist. Weder die Hungerspiele, noch alles, was während ihnen passiert. Egal ob du Snows Drohungen folgst oder nicht, ob du tötest oder nicht – du tust es nur, weil jemand anderes über dein Schicksal bestimmt hat. Das ist keine Wahl, bei der man wirklich eine freie Entscheidung treffen kann. Genau wie man die eigenen Gefühle im Übrigen nicht befehligen kann.«

Ich schlinge die Arme um meine Knie. »Trotzdem. Ich kann nur hoffen, dass ich nicht lange mit der Entscheidung leben muss. Ich kann einfach nicht meinen Vater verraten. Das wäre noch grausamer. Also muss Maylin sterben. Wenn Pon gewinnen soll, muss sie das eh.« Sobald die Worte raus sind, bereue ich sie auch schon. Was ist nur aus mir geworden, dass ich wirklich so denke? Vor einer Woche hätte ich nie erwartet, dieses Schicksal einfach so zu ... akzeptieren.

Doch Floogs bedenkt mich nur mit einem sanften Nicken. »Wir Mentoren werden jede deiner Entscheidungen respektieren. So wie wir es annehmen müssen, dass du Pons Leben über dein eigenes setzt. Auch wir können uns nicht anmaßen, zu entscheiden, welches Leben mehr wiegt. Wir versuchen nur, das Beste aus dem Zwang des Kapitols zu machen. Und dich auf dem Weg unterstützen.«

Ein trockenes Würgen schüttelt mich. Einerseits ist Floogs so nett und sanft, dass man vergessen kann, wie er die Hungerspiele gewonnen hat – und dann sagt er so etwas, ohne mit der Wimper zu zucken. Für ihn ist das schon ganz normal, von Leben und Tod zu reden wie andere über das Wetter.

»Ich will bloß kein Monster werden«, murmle ich, das Gesicht gegen meine angezogenen Beine gedrückt. »Sie haben mir doch schon so viel genommen. Ich habe alle daheim mit meiner Entscheidung verletzt, das ist schlimm genug. Und ... ich bin sogar froh, dass es zwischen David und mir vorbei ist. Obwohl ich ihn trotzdem noch so – so lieb habe. Nur eben nicht so ...«

... wie Finnick. Die letzten Worte schlucke ich vor Schreck direkt wieder herunter. Ich habe mir doch vorgenommen, dieses Gefühl ohne Zukunft oder Verstand zu vergessen! Und jetzt gebe ich ihm nach?

Ich höre es leise rascheln, als Floogs neben mir in die Hocke geht. Er sagt nichts, aber sein Blick ruht schwer auf mir. Verwirrt schüttle ich den Kopf, wie um eine Sandfliege zu verscheuchen.

»Kein Wunder, dass David mich nicht wiedererkennt«, stoße ich hervor. »Ich bin längst ein halbes Monster, wenn ich so denke!«

Floogs drückt meine Schulter. »Du bist alles andere als ein Monster, Annie, das beweisen all deine Sorgen und Überlegungen.«

»Wer weiß, was die Arena aus mir machen wird? Vielleicht schockiere ich euch noch alle. Dabei will ich doch nur, dass wenigstens irgendwas von mir bleibt, wenn ich sterbe. Ich will nicht sterben und wissen, dass mein Papa auch sterben muss, aber ich will ihn auch nicht enttäuschen, indem ich töte.«

Das entlockt Floogs ein Seufzen. Doch gleichzeitig lächelt er schwach, als ich ihn ansehe. »Solange du so denkst, wird etwas von dir bleiben. Alles kann dir nicht einmal das Kapitol nehmen, egal, wozu es dich zwingt. Immerhin dieses Versprechen kann ich dir geben. Oder findest du, dass wir Mentoren Monster sind? Ist Finnick ein Monster?«

»Ich kann mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen, dass ihr beide wirklich in der Arena wart«, antworte ich. Mit einem Blinzeln verscheuche ich die Tränen, die sich in meine Augenwinkel geschlichen haben. »Oder Mags! Ich meine – ich weiß, was oder ... wie ihr gewonnen habt, nur ... ihr erinnert mich gar nicht daran. Kein bisschen. Anders als Amber oder Trexler. Aber selbst die ...«

»Können mal lächeln oder einen Witz reißen«, beendet Floogs schmunzelnd den Satz. »Es darf nur keiner gucken.«

Das bringt mich ebenfalls zum Schmunzeln. Ich ziehe die Nase hoch und mit einem kleinen Kichern platzt endlich der Knoten in meinem Hals. »Also gibt es noch Hoffnung für mich?«

»Es gibt immer Hoffnung.«

Fragend hält Floogs mir seine ausgebreiteten Arme entgegen und ich lasse mich ohne Zögern hineinfallen. Es erinnert mich ein wenig an die Umarmungen von meinem Vater, besonders als Floogs mir den Rücken tätschelt, und ich drücke ihn fester.

 

Die nächsten Stunden bis zur Verkündung der Punktzahlen lasse ich mich schließlich von Cece mit Vorbereitungsfragen quälen – was ist meine Lieblingsfarbe, welchen Ort finde ich am schönsten, wofür würde ich meinen ersten Siegeslohn ausgeben ... Ich erzähle eine Menge Schwachsinn, den ich bereits vergesse, während ich spreche. Meine Gedanken drehen sich ausschließlich um die Punktvergabe. Daran hängt für mich viel mehr als an dem Interview. Wenn ich nur eine Vier oder Fünf bekomme, ist es egal, ob ich Caesar morgen rot, blau oder grün als Lieblingsfarbe nenne. Nicht, dass er das wirklich fragen wird.

Cece scheint das anders zu sehen, denn sie rügt mich stets mit einem Klaps aufs Knie, begleitet von einem Zungenschnalzen. »Du musst deine Antwort mit einer schönen Anekdote verknüpfen«, sagt sie dann zum Beispiel, »erzähl etwas von zuhause, nimm sie mit in dein Leben – berühre sie oder bring sie zum Lachen! Hauptsache, sie fühlen mit dir. Deine Antwort muss mehr sein als nur ‚Ja‘ oder ‚Nein‘!«

Angesichts dieser Behandlung bin ich tatsächlich froh, als der Fernseher im Wohnzimmer von alleine zum Leben erwacht und uns Claudius Templesmith in Überlebensgröße präsentiert. Aufgeregt quiekt Cece und rennt durch das Appartement, um den Rest zusammenzutreiben. Zumindest alle bis auf Finnick. Sogar Mags, die offenbar ein Mittagsschläfchen gehalten hat, ist wieder da, doch von Finnick fehlt jede Spur. Es fragt auch niemand nach ihm und so bin ich alleine mit meinen Überlegungen, wann er wohl zurückkehren wird.

Zum Glück bietet Templesmith mit seinem Gelaber vorerst genug Ablenkung. Wie jedes Jahr liefert er sich mit Caesar Flickerman einen belanglosen Schlagabtausch, der voller Witze ist, die nur Kapitoler verstehen. Die beiden strahlen wie Kinder am Nationalfeiertag, die Aussicht auf ein Stück Kuchen haben, und irgendwie steckt diese Aufregung an. Nicht nur mich, auch Pon. Wir kichern über jeden von Ceces Kommentaren, als wären sie das Witzigste, was wir je gehört haben. Doch schließlich werden die Lichter im Fernsehstudio gedimmt und unsere Eskorte so still, dass wir uns unwillkürlich an den Händen fassen.

»Meine Damen und Herren«, verkündet Claudius Templesmith mit Grabesstimme, »die Bewertungen unserer Tribute sind so eben eingetroffen. Lassen Sie uns also beginnen – wie jedes Jahr macht Distrikt Eins den Anfang!«

Ein bewegtes Porträt von Shine wird neben dem Wappen ihres Distrikts eingeblendet. Sie zieht den Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln hoch, ehe sie mit den Wimpern klimpert und sich das ganze wiederholt.

»In den Umfragen hat Shine bereits einen Spitzenplatz inne, doch wird sie diesen heute auch mit Punkten untermauern können?«, stellt Caesar eine Frage in den Raum. Ein paar Sekunden bleibt es still. Dann setzt er hinzu: »Claudius, die Bewertung bitte!«

»Shine aus Distrikt Eins erhält ... neun Punkte!«

»Ha, keine zehn«, triumphiert Amber, doch ich teile ihre Euphorie nicht. Neun Punkte sind immer noch beängstigend gut.

Damit bleibt Shine nicht lange alleine, denn nach ihr bekommt auch Slay eine Neun. Die wirkliche Überraschung ist allerdings Distrikt Zwei. Maylin und Floyd erhalten jeweils nur sieben Punkte und werden von den beiden Moderatoren geradezu lieblos abgefrühstückt. Was bei mir eine traumhafte Punktzahl wäre, muss für die trainierten Karrieros ein Schlag ins Gesicht sein. Eine Acht ist das mindeste, was Sponsoren von diesen Tributen erwarten. Oft genug erreichen Kandidaten aus Eins und Zwei sogar die magische Zehn – dagegen ist diese Runde ernüchternd.

»Wie gut, dass keiner von euch ein Bündnis mit Zwei vorgeschlagen hat«, kommentiert Cece spitz und schenkt Pon und mir ein breites Lächeln.

Ich schlucke und schaue hinüber zu Floogs, der die Stirn gerunzelt hat. Auch Amber neben ihm sieht eher besorgt, denn glücklich über diese schlechte Bewertung aus. »Das ist eine Strafe. Ich glaube, die beiden sind trotzdem mehr als gefährlich«, sagt sie leise. »Nur mit noch weniger Punkten würde es auffallen, dass diese Wertung nicht neutral ist. Und es reicht schon, um sie als Ziel für alle ehrgeizigen Tribute zu brandmarken.«

Cece verzieht das Gesicht und holt tief Luft, bestimmt um ihre Sicht der Dinge darzulegen, aber Mags bringt sie mit einem schlichten Kopfschütteln davon ab. In mir macht sich derweil ein hässlicher Gedanke breit: Was, wenn diese Bewertung dafür sorgt, dass mir jemand anderes zuvorkommt und Maylin ausschaltet? Amber hat recht, mit einer derart schlechten Punktzahl könnten sich sogar Shine und Slay gegen ihre beiden wertlosen Verbündeten wenden.

Vor lauter Horrorszenarien in meinem Kopf bekomme ich die Bewertungen von Distrikt Drei gar nicht mit. Aber da niemand im Raum besonders darauf reagiert, sind sie wahrscheinlich wie immer im unteren Drittel angesiedelt. Und dann sind auch schon wir an der Reihe. Das Wappen mit dem Angelhaken und den Fischen erscheint, direkt neben meinem Bild.

»Nun werden wir also endlich Antwort auf die Frage bekommen, ob Annie Cresta aus Distrikt Vier schon aufgegeben hat oder ob in ihr doch eine kleine Kämpferin steckt. Also, Claudius, welche Überraschung hat Annie für uns parat?«

Ich grabe die Finger meiner freien Hand tiefer ins Sofapolster.

»Annie aus Distrikt Vier erhält ... acht Punkte!«

Fassungslos starre ich den Bildschirm an, auf dem die große Acht unter meinem Porträt angezeigt wird. Ich – eine Acht? Vor einer Woche hätte ich das für unmöglich gehalten. Die ersten Tage habe ich doch bloß an Überlebensstation verbracht, für die es überhaupt keine Punkte gibt!

Erst langsam dringt der Applaus meiner Mentoren zu mir durch und ich spüre, wie Hände mir aufmunternd auf die Schultern klopfen. »Ich wusste doch, dass du uns alle überraschen wirst«, sagt Mags sanft zu mir und vor lauter Glück, Freude und Verwunderung treten mir Tränen in die Augen.

Aber dann erscheint Pons Bild auf der Leinwand und erneut senkt sich gespannte Stille über den Raum. Ich schlinge beide Hände um Pons und drücke sie, so fest ich kann.

»Pon, ebenfalls aus Vier, erhält ... sieben Punkte!«, brüllt Claudius Templesmith uns entgegen.

Cece kreischt laut und schlägt die Hände vor ihren Mund, während Amber grinsend eine Faust in die Luft stößt. Und sogar Trexler japst überrascht.

»Das sind aber ordentliche Punktzahlen, wenn man bedenkt, dass Distrikt Vier in diesem Jahr nur zwei ausgeloste Tribute vorweisen kann«, fasst Caesar unser aller Überraschung zusammen.

Erleichtert drücke ich Pon an mich. Ein Grinsen klebt in seinem Gesicht und ich spüre, wie derselbe Ausdruck an meinen Mundwinkeln zerrt. »Das ist richtig klasse«, flüstere ich ihm zu und er nickt eifrig.

»Selber klasse, Annie! Spitzenklasse!«

Plötzlich ganz erschöpft und leer starre ich in Richtung Bildschirm, auf dem Bilder, Namen und Punkte vorbeifliegen. Ich höre, wie Cece eine Sektflasche öffnet, doch greife nicht nach dem Glas, das sie vor mir auf den Sofatisch stellt. Dafür reicht meine Kraft nicht mehr.

Die meisten Punktzahlen kann ich mir nicht merken, genauso wenig wie die Namen der Tribute. Ich registriere bloß, dass Junge aus Neun mit einer Sechs eine relativ schlechte Bewertung bekommt, was bestimmt auf seine Verletzung zurückzuführen ist. Die einzige wirkliche Überraschung des Abends ist das Mädchen aus Distrikt Zehn, das ich vor kurzem beim Bogenschießen beobachtet habe: Sie erhält genau wie Shine und Slay eine satte Neun.

Somit bleibt das die höchste Bewertung des Abends. Mit einer Acht und Sieben nehmen Pon und ich tatsächlich den zweiten beziehungsweise dritten Platz in der Gesamtwertung ein. Ich kann es gar nicht fassen und weiß nicht, ob ich stolz oder eher besorgt sein soll. Mit diesen Punktzahlen werden sich hundertprozentig Sponsoren für uns interessieren, doch gleichzeitig heißt das auch, dass wir endgültig ernstzunehmende Gegner für die anderen Tribute – und Karrieros – sind.

Lange bleibt mir allerdings nicht, um darüber nachzudenken, denn Cece hat bereits den nächsten Anschlag auf mich vor. Zur Vorbereitung auf das Interview soll ich noch einmal den Gang in hohen Schuhen üben. Diese Folter habe ich in den letzten Tagen erfolgreich verdrängt – trotz meiner Wette mit Finnick, dass ich besser laufen werde als er.

Da von Finnick jedoch nach wie vor jede Spur fehlt, sieht er wenigstens nicht, wie ungeschickt ich mich schlage. Rücken gerade, Kopf erhoben, nicht auf den Boden sehen, nicht an meinen Vater denken, nicht weinen, sage ich mir immer wieder, wenn die Füße unter mir wegknicken wie trockenes Schilfgras.

Als wäre das nicht genug, fordert Cece meine Aufmerksamkeit zusätzlich, indem sie mir erneut Fragen stellt. Zum hundertsten Mal erzähle ich ihr, dass das Grün-Blau des Meeres meine Lieblingsfarbe ist und dass ich von dem Siegerlohn eine Reparatur des Fischerbootes daheim bezahlen würde. Und genauso oft verliere ich den Halt und lande auf dem Hintern.

»Nein, nein«, schimpft Cece mich, »du darfst die Hacke nicht so schräg aufsetzen! Und setz die Füße voreinander, nicht nebeneinander –« Unwirsch gestikuliert sie in meine Richtung, bis urplötzlich ein Lächeln auf ihren Zügen auftaucht. »Na ja«, murmelt sie überraschend, »ich schätze, das war schon gar nicht mehr so schlecht wie am Anfang.«

Misstrauisch sehe ich mich um – und entdeckte sogleich den Grund für Ceces ausgetauschte Laune. Finnick lehnt grinsend im Türrahmen und beobachtet uns. Ohne Vorwarnung schießt mir die Röte in die Wangen, doch Finnick zwinkert nur, ehe er beiläufig zu Cece schlendert.

»Hey«, sagt er gedehnt, »du leihst mir bestimmt mal kurz deine Schuhe, ja?«

Cece sieht aus, als würde sie unmittelbar vor einem Kollaps stehen. »Na-natürlich ...«, haucht sie und streift ihre kreischend pinken Pumps rekordverdächtig schnell von den Füßen.

Mit hochgezogenen Augenbrauen werde ich Zeugin, wie Finnick es schafft, sich in das glitzernde Schuhwerk zu zwängen und anschließend grazil aufzustehen. Im Kontrast dazu sehe ich aus wie eine Seekuh auf zwei Beinen.

Die Arme ausgebreitet, dreht Finnick sich zu mir um. »Ich schätze, diese Wette habe ich gewonnen?«

»Pfff«, mache ich, den Blick auf meine pochenden, verdächtig geröteten Knöchel gerichtet. »Du hast ja auch zwei heile Füße und keine ... Klötze. Außerdem habe ich gesagt, dass ich es bis zu den Interviews lernen will. Und siehst du schon irgendwo Flickerman?«

»Ach, nun grämt euch nicht, werte Meerjungfrau«, erwidert Finnick noch breiter grinsend und beugt sich herab, um mir eine Hand zu reichen. »Lasst mich euch in die Geheimnisse des Laufens einweihen, damit ihr endlich frei von der Folter der orangenen Hexe seid.« Er nickt bedeutungsvoll zu Cece hinüber, während er mich hochzieht. »Ihr werdet es nicht bereuen, Teuerste!«

Ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen. »Ich tue alles, was du willst, Hauptsache du redest nicht mehr so!«

Cece scheint mir in der Hinsicht gar nicht zuzustimmen, denn ihre Wangen sind trotz der dicken Schicht Make-up darauf feuerrot angelaufen. Sie ringt die Hände im Schoß und starrt auf ihre Schuhe, die sich an Finnicks Füßen erstaunlich gut machen.

»Na schön, holdes Fräulein, aber dann strengt euch auch an.« Schwungvoll dreht Finnick sich auf dem dicken Teppich um und spaziert mit einem Hüftschwung, der verboten gehört, in Richtung Fensterfront. Eine Hand in die Seite gestemmt, die andere mit abgespreizten Fingern in die Luft gehoben, posiert er.

»Und jetzt du!«

Ein kleines Beben schüttelt meinen Oberkörper, während ich ein neuerliches Kichern unterdrücke. Mit wenig Erfolg, denn die ersten Lachtränen kitzeln mich in den Augenwinkeln. »Nie im Leben!«, rufe ich.

Aber ich sammle trotzdem meine Kraft und wage ein paar Trippelschritte in den Raum hinein. Ohne Hüftschwung, dafür gestelzt wie ein Kranich, schreite ich über den Teppich. Jetzt ist es an Finnick, sich ein Lachen zu verkneifen. Innerhalb weniger Schritte ist er wieder bei mir.

»Na komm«, sagt er sanft und greift meine Hand, »lass es uns zusammen versuchen.«

Immer wieder spazieren wir vor Ceces Augen auf und ab. Mit jeder Runde werde ich ein wenig sicherer, bis ich schließlich Finnicks Hand loslasse. Auf den Hüftschwung verzichte ich allerdings aus guten Gründen. Trotzdem fühle ich mich deutlich selbstbewusster, als ich eine kleine Drehung wage und Finnick mir mit einem Grinsen salutiert.

»Gute Leistung, holde Meerjungfrau.«

Rasch nickt Cece. »Oh ja, das war wirklich ... anständig. Damit wirst du nicht negativ auffallen.«

Finnick rollt die Augen. »Sei nicht so undankbar. Annie gibt wirklich ihr Bestes, in allen Belangen. Ich meine – was musste ich von Amber hören? Acht Punkte in der Einzelbewertung? Das ist eine verdammt große Leistung.«

Meine Wangen brennen angesichts dieses Lobes und ich schlüpfe aus den Schuhen, um endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. »Danke«, nuschle ich.

Ohne die zusätzlichen Zentimeter kommt mir Finnick in den Pumps noch größer vor und als würde er mein Unwohlsein bemerken, kickt er ebenfalls die Schuhe fort. Cece klaubt sie hektisch vom Boden auf und presst sie an die Brust wie ein Heiligtum. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie die Treter bald an den oder die Höchstbietende verkauft.

Finnick bedenkt sie mit einer hochgezogenen Augenbraue, ehe er mir in einer galanten Verbeugung den Weg in Richtung Flur freimacht. »Ich wünsche einen erholsamen Schlaf, oh große Bezwingerin des High Heels«, sagt er zwinkernd.

Mir ist immer noch warm – nicht nur an den Wangen, sondern auch in meiner Brust – und irgendwie ist das ein schönes Gefühl. Bevor es sich verflüchtigen kann, greife ich nach Finnicks Hand und drücke sie kurz, aber fest. »Das wünsche ich dir auch ... hoffentlich?«

Sein Grinsen schmilzt zu einem sanften kleinen Lächeln und er nickt kaum merklich. »Ja. Jetzt ist alles wieder in Ordnung.«

»Okay.«

Ich hole tief Luft. Es fällt mir schwer, seine Hand loszulassen, wo ich doch so viel Schmerz und Ungesagtes in seinen blau-grünen Augen erahnen kann. Leider hat Cece hinter uns inzwischen ihre Schuhe wieder angezogen und kommt mit großen Schritten näher. Wehmütig streiche ich noch einmal über Finnicks Handrücken, dann gebe ich ihn frei.

Morgen ist unser letzter Tag hier. Mein letzter Tag. Ich habe jetzt schon Angst.

 

 

Malachitgrün

»Annie? Schätzchen? Hörst du mir zu?«

Verwirrt blinzle ich. Mir ist, als würde ich nach einem langen Tauchgang wieder an die Wasseroberfläche zurückkehren. Ganz unbeabsichtigt habe ich mich in Gedanken treiben lassen und dabei vergessen, dass ich im Studio des Fernsehsenders Capitol TV stehe und für mein Interview zurechtgemacht werde. Das in weniger als einer Stunde beginnt.

Vor mir steht Kolibrichen, einen Puderpinsel in der Hand. »Ich sagte, dass wir gleich fertig sind, Schätzchen.« Sie strahlt mich an und tupft mit der Präzision eines Bootsingenieurs etwas Rouge auf meine Wangenknochen. »Schließ bitte noch einmal die Lider, ja?«

Hastig leiste ich ihrer Bitte Folge. Mit einer kalten Fingerspitze korrigiert sie den Lidschatten ein letztes Mal, dann gibt sie ein zufriedenes Brummen von sich.

»Und jetzt noch einmal umdrehen, Liebes!«

Wie schon unzählige Male heute drehe ich mich langsam um die eigene Achse. Bisher ist Kolibrichen jedes Mal etwas aufgefallen, das sie mit einem scharfen Einsaugen der Luft und leisem Gemurmel kommentiert hat. Doch dieses Mal bleibt sie still.

»Ja, das ist wun-der-bar!«, trällert sie, als ich mich fertig gedreht habe. »Perfekt! Obwohl – lass mich noch einmal –« Ich höre es klirren und klappern, bis sie eine Flasche Haarspray hervorzaubert und mich in eine große Wolke dessen einhüllt. »Ja, das ist es!«

Hustend blinzle ich in ihre Richtung. »Danke«, sage ich erleichtert. »Du hast wirklich ganze Arbeit geleistet.«

»Ach, ach«, meint Kolibrichen und kneift mir in die Wange, »das ist so lieb von dir! Aber du bist es, die das Outfit erst komplett macht. Keine könnte es so tragen wie du! Und jetzt ganz viel Erfolg für dein Interview! Alle meine Daumen sind gedrückt! Ich schicke dir gleich einen deiner Mentoren vorbei, ja?«

Bevor ich ihr eine Antwort geben kann, schwirrt sie aus dem Raum, in dem ich seit dem Frühstück zurechtgemacht wurde. Apropos Frühstück – das liegt schon ewig zurück. Gleichzeitig hungrig und doch ganz übel vor Nervosität starre ich die Häppchen an, die ein Avox auf einem Silbertablett in der Ecke drapiert hat. Wenn ich jetzt meinen Lippenstift verschmiere, dreht mein Vorbereitungsteam sicher durch ...

Mit einem Seufzen sehe ich mich im Raum um. Es gibt zwei dunkelrote Sofas mit goldenen Kissen und an der gegenüberliegenden Wand hängt ein einziger, riesiger Spiegel. Bleich wie ein Gespenst, trotz all des Puders, schaue ich mir selber entgegen und rasch wende ich den Blick ab. Davon musste ich heute schon genug ertragen.

Dabei sieht es ja gut aus, Roans Kleid mit dem Farbverlauf. Unten am Saum ist es tiefblau wie die See am Meeresgrund, während es nach oben hin immer heller wird. Ein herzförmiger Ausschnitt lässt es zumindest so wirken, als hätte ich nennenswerte Oberweite, und dank zweier kleiner Stoffbänder, die sich an meine Oberarme schmiegen, fühle ich mich nicht ganz so ... nackt. Vor allem jetzt, wo das gewohnte Gewicht des Medaillons um meinen Hals fehlt. Roan meint, der »Billigschmuck« würde das Styling ruinieren, also musste ich das letzte Andenken an daheim ablegen. Das hasse ich, genauso wie mein hochgestecktes Haar und das grelle Make-up. Besonders schlimm ist der korallenrote Lippenstift, der so sehr klebt, dass man meinen könnte, er solle mich beim Interview an einer Antwort hindern.

Zum Glück bleibe ich nicht lange mit den Gedanken alleine. Hinter mir öffnet sich die Tür erneut und Amber kommt gemeinsam mit Cece herein. Anlässlich des »großen, großen Tages«, wie Cece nicht müde wird zu betonen, sind ihre beiden Outfits ganz in Goldtönen gehalten. »Der Look des Erfolgs!«, so hat Cece es beim Frühstück ausgedrückt. Vor allem sie mit den funkelnden Diamantenohrringen könnte glatt den Kronleuchter unter der Decke in seiner Funktion ablösen. Nervös nestelt sie an den Aufschlägen ihres knappen Jacketts, während Amber wieder einmal die Ruhe selbst ist. Sogar ihr enganliegendes Kleid trägt sie mit der größten Würde.

»Ah, Annie – du siehst reizend aus«, seufzt Cece erleichtert. »Das gibt mir Hoffnung, dass ich nicht umsonst auf Gold gesetzt habe heute Abend.« Sie giggelt albern und stemmt eine Hand so in die Hüfte wie Finnick gestern beim Üben mit den Schuhen – nur dass es bei ihm ein Scherz war.

»Ihr seht auch gut aus«, sage ich trotzdem und schenke Cece ein kleines Lächeln. Wer hätte gedacht, dass sie noch aufgeregter ist als ich? Da fühle ich mich gleich ein ganzes Stück entspannter.

Cece quittiert meine Worte mit einem Blecken ihrer unnatürlich weißen Zähne. »Ach, danke, danke. Nun ... dann alles Gute, ja? Du erinnerst dich an alles, was ich dir gesagt habe?«

»Klar erinnert sie sich, sie ist ja schließlich keine Fliege, die ständig vergisst, dass sie schon mal gegen dasselbe Fenster geflogen ist«, kommentiert Amber trocken.

Ich verstecke ein Grinsen hinter meiner Hand, als Cece über Ambers Ausdrucksweise die Nase rümpft. »Manieren, Miss Hart!«, faucht sie. »Dein Interview war schließlich auch keine Glanzleistung!«

»Und genau deshalb bin ich mir sicher, dass Annie es besser machen wird. Ich hab die Muskeln, sie das Hirn.«

»Wohl wahr.« Cece tritt an mich heran und tätschelt mir die Schulter. »Also nutze einfach deinen natürlichen Charme, um Caesar zu verzaubern!«

»Na, mal sehen ...« Ein gewisses, freudloses Seufzen kann ich mir nicht verkneifen. Amber wirft mir einen fragenden Blick zu und ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß ja nicht, wie viel Natürlichkeit noch über ist, nach all dem hier«, sage ich und gestikuliere vage in Richtung meines Spiegelbilds.

»Ah, da musst du dich nur dran gewöhnen«, winkt Cece ab. »Das macht die Hochsteckfrisur, da siehst du gleich ein paar Jahre erwachsener aus. Aber das macht nichts. Roan und die anderen wissen schon, was sie tun.«

Geringschätzig schnaubt Amber. »Ein paar Jahre? So ne antiquierte Frisur trug nicht mal meine Großmutter.«

»Nun, Distrikt Vier ist ja auch nicht gerade für seine Mode bekannt«, schnappt Cece zurück.

»Also findest du das ehrlich gut? Sieht doch gar nicht mehr aus wie unsere Annie, die das Publikum schon kennt!«

»Ja, aber ...«

Amber rollt mit den Augen. »Falsche Antwort.« Dann wendet sie sich an mich: »Komm mal her.«

Ohne auf Ceces empörtes Luftschnappen zu hören, streckt Amber sich und zieht eine Haarnadel nach der anderen aus dem strengen Knoten an meinem Hinterkopf. Zunächst passiert dank des ganzen Haarsprays nichts, doch schließlich lösen sich die ersten Strähnen und fallen mir steif wie ein Brett über die Schultern.

»Miss Hart!«, faucht Cece, aber sie schreitet nicht ein, sondern steht nur da und knabbert nervös an ihrem Daumennagel. »Du kannst doch nicht einfach – die ganze Arbeit! Du ruinierst alles –«

»Gib mir einfach mal die Bürste da, Cece.«

Und obwohl Cece gar nicht begeistert scheint, lässt sie es zu, dass Amber mir das Haarspray vorsichtig ausbürstet, bis sich meine Haare in sanften Locken ringeln. Mit einer Routine, die ich ihr nie zugetraut hätte, steckt Amber zwei Strähnen zu beiden Seiten zurück und schon sehe ich wieder deutlich mehr nach mir selber aus.

»So«, sagt Amber, »soll ich jetzt noch eine nette Bemerkung über dein Outfit machen oder bist du auch so mit diesem Upgrade zufrieden?«

Ich muss grinsen und könnte schwören, dass man das klebrige Zeug auf meinen Lippen Fäden ziehen sehen kann. »Nicht nötig, ich bin auch so überzeugt, dass ich absolut wundervoll aussehe. Danke, Amber.«

Cece seufzt schwer, doch auch sie kann ihr Lächeln nicht verbergen. »Es steht dir wirklich, Annie. Aber ich schwöre euch beiden – wenn Roan oder Rosetta davon Wind bekommen, nehme ich die Schuld nicht auf mich!«

»Entspannt dich, Cece.« Amber zwinkert verschwörerisch. »Wenn das Interview erstmal läuft, werden sie schon sehen, dass alles gut so ist, wie es eben ist. Annie macht das schon.«

Angesichts dieses Vertrauens in meine nicht existenten Fähigkeiten kehrt die Nervosität mit voller Kraft zurück. Ich verziehe das Gesicht und sehe auf meine Finger hinab, die ich sorgenvoll knete. Amber entgeht diese Reaktion nicht.

»Kopf hoch«, flötet sie in ihrer besten Cece-Imitationsstimme. »Ich hab von Finnick gehört, wie viel ihr gestern noch geübt habt – damit wirst du die größte Hürde schon meistern. Flickerman frisst dich nämlich nicht, weißt du. Die größte Gefahr ist es, sich die Beine zu brechen.« Plötzlich streckt sie mir ihr Handgelenk unter die Nase. »Eigentlich hinterlassen die Interviews höchstens einen bleibenden Eindruck im Kopf – es sei denn, du entscheidest dich, mir nachzueifern und von der Bühne zu fallen.« Grinsend deutet sie auf eine helle Linie, die sich von der Innenseite ihres Unterarms zu ihrem Handballen zieht. »Ich bin wohl die Einzige, die aus den Interviews mit einer Narbe gegangen ist. Und hey – ich hab’s auch überlebt.«

Cece schnaubt etwas, das sich verdächtig nach »Mehr Glück als Verstand« anhört, aber trotzdem lindert Ambers Geschichte meine Nervosität ein Stück weit. Sie hat ja recht – im Vergleich zu den Hungerspielen sind die Interviews ein Strandspaziergang.

»Na gut, dann sollten wir los«, verkündet Cece schließlich und schlägt die Hände zusammen.

Draußen in den Fluren herrscht heilloses Gedränge. Überall tummeln sich Mentoren um ihre Tribute, die man gut an den bleichen Gesichtern erkennt. Ich erhasche einen Blick auf Nora, die ein strahlend gelbes Kleid trägt und Händchen mit ihrem Mittribut Circe hält. Die meisten Jungen tragen Anzüge in allen Farben des Regenbogens, nur bei Floyd hat man sich für ein dunkelrotes Hemd entschieden, das bis zu seinem Bauchnabel aufgeknöpft ist. Wohl ein verzweifelter Versuch, die katastrophalen sieben Punkte von gestern noch zu retten.

Neben ihm steht Maylin, ebenfalls in Blutrot gekleidet. Zum ersten Mal seit Snows Drohung sehe ich sie wieder und schon bin ich dankbar, dass ich keines der Häppchen im Vorbereitungsraum gegessen habe. Maylin ist zwar kaum größer als ich und fast noch dünner, aber ihr kurzes Haar ist zu kleinen Stacheln frisiert und alles, vom Schmuck zu den Schuhen, ist mit silbernen Dornen besetzt. Zusammen mit dem tiefschwarzen Lidschatten und Lippenstift jagt ihr Anblick mir einen Schauer den Rücken hinab. Gegen sie wirkt Floyd wie einer der Hafenkünstler, die in Distrikt Vier abends für ein kleines Trinkgeld alberne Tanz- und Gesangsnummern vor betrunkenem Publikum aufführen.

Lange darf das Gewusel allerdings nicht bestehen bleiben, denn schon kommt eine Angestellte des Fernsehsenders und scheucht uns Tribute in eine Schlange, bei der wir uns geordnet nach Distrikten aufstellen sollen. Zuerst die Mädchen, dann die Jungen. Endlich sehe ich auch Pon wieder. Ihn hat man in einen marineblauen Anzug gesteckt, auf dessen Stoff vereinzelte, grün schillernde Schuppen genäht sind.

»Du siehst ja richtig erwachsen aus«, merke ich an, wobei ich ihm durch die viel zu ordentlich gekämmten Locken wuschle.

»Ich bin erwachsen!«, hält Pon dagegen. »Daheim hätte ich bald das erste Mal am Marathonschwimmen durch die Bucht teilnehmen dürfen. Und für die Hungerspiele bin ich schließlich auch alt genug.«

Ich würde gerne lachen, doch das Geräusch bleibt mir im Hals stecken. Pon ist alles andere als erwachsen, aber er hat trotzdem nicht unrecht. Stumm drücke ich ihn an mich.

Mit einem letzten Winken verabschieden sich die Mentoren von uns, denn sie müssen nun ihre Plätze hinter den Kulissen einnehmen. Mehr als einen kurzen Blick erhasche ich nicht auf Finnick, der in Pons Vorbereitung involviert war. Zwinkernd nimmt er noch einmal die alberne Pose von seinem Showlauf gestern Abend ein, dann zeigt er mir einen Daumen hoch, bevor er verschwindet.

Wir sind auf uns alleine gestellt. Den Gedanken scheint auch Pon zu hegen, denn er beißt sich auf die Unterlippe und knibbelt mit den Fingernägeln an einer der Plastikschuppen auf seinem Unterarm. Ich ergreife seine Hand und ziehe sie sanft zurück.

»Amber sagt, dass Caesar ein Idiot ist«, flüstere ich ihm zu. »Er wird uns toll finden, egal was wir tun. Und dann geht es auch ganz schnell um.«

»Das hat meine Ma auch immer gesagt. Also dass Flickerman nicht mehr alle Rettungsringe an Deck hat. Weil er jedes Jahr eine andere Haarfarbe hat.«

»Was meinst du wohl, womit er uns dieses Jahr überrascht?«

»Hmm ...« Pon legt nachdenklich die Stirn in Falten. »Letztes Jahr war es violett ... vielleicht ist es dieses Jahr ja blau? Das wäre bestimmt ein gutes Omen für uns.«

»Oh, kein schlechter Gedanke! Vielleicht ist es aber auch gelb? Das gab’s glaube ich lange nicht mehr.«

Ob darauf wohl Wetten im Kapitol abgeschlossen werden? Dann könnten wir jetzt schauen, was am höchsten im Kurs für Caesars nächste Ganzkörperüberholung steht. Andererseits sehen wir es eh gleich. Entlang des Flures flackern nämlich plötzlich lauter Bildschirme auf, die eine leere Bühne zeigen.

Ein Countdown zählt von zehn herab und dann tritt Caesar Flickerman höchstpersönlich in das Scheinwerferlicht. Er trägt grün; ein tiefes, schimmerndes Malachitgrün. »Willkommen, willkommen, meine Damen und Herren! Endlich ist es so weit – das Highlight des Jahres steht kurz bevor! Begrüßen Sie sehr herzlich mit mir unsere diesjährigen Tribute zu ihren Interviews!«

Selbst bis hinter die Bühne hören – und spüren – wir das Beben des Applauses. Ich habe das Gefühl, auf einem Schiff mitten im Sturm zu stehen, so sehr vibriert der Boden zu meinen Füßen.

Auf den Bildschirmen können wir derweil verfolgen, wie Shine als Erste die Bühne betritt. Ihr Kleid besteht aus unzähligen Perlenschnüren, die bei jedem Schritt klirrend gegeneinanderstoßen und sich bewegen wie ein Wasserfall. Schön sieht sie aus – wenn da nicht der kalte Ausdruck in ihren Augen lauern würde. Eine elegante Diamantentiara spielt auf ihre Herkunft an, sonst trägt sie keinerlei Accessoires.

Das Publikum liegt ihr zu Füßen, das ist offensichtlich. Ein ums andere Mal bringt sie mit ihren Antworten den Boden zum Zittern und als sie endlich fertig ist, folgt dasselbe Spiel mit Slay. Auch Maylin erscheint routiniert und lässt sich nicht von Caesars forscher Frage nach dem Grund für ihre schlechte Einzelbewertung aus der Ruhe bringen.

»Ach, weißt du, Caesar, man darf doch nicht gleich zu Beginn sein bestes Potential verfeuern«, erklärt sie achselzuckend. »In diesem Jahr wird Distrikt Zwei es nicht zulassen, dass jemand anderes gewinnt. Also müssen wir ein paar Geheimnisse für uns behalten – oder siehst du das etwa anders?«

»Oh, nein, mich darfst du da nicht fragen«, wiegelt Caesar lachend ab. »Aber wenn du darauf bestehst, werden wir alle mit Spannung auf die Überraschungen in der Arena warten, nicht wahr, meine Damen und Herren?«

Im Vergleich zu Shine ist der Applaus deutlich müder, aber immer noch gewaltig. Ähnlich sieht es bei Floyd aus, auch wenn dieser eher wortkarg bleibt und vor allem seine Muskeln sprechen lässt. Bevor ich mich versehe, sitzt schon der Junge aus Distrikt Drei auf der Bühne und verschwindet förmlich in den Polstern des Sessels neben Caesar. Seine Antworten sind so leise, dass sie selbst durch die Direktübertragung kaum zu verstehen sind. Hoffentlich wird mir das nicht so gehen ...

Mein Weg die Bühne hinauf vergeht schließlich in einem Wirbel aus Farben, Lichtern und Geräuschen. Wärme schlägt mir entgegen, kaum dass ich den ersten Fuß hinaus ins Scheinwerferlicht trete. Fast erinnert es mich an den Sommer zuhause. War es schon hinter der Bühne ohrenbetäubend laut, so klingt der Applaus aus dem Publikum hier wie ein Orkan.

»Begrüßen Sie nach Cameron aus Distrikt Drei nun das Mädchen, das aus dem Meer kommt – Annie, aus Distrikt Vier!«, brüllt Caesar gegen den Sturm an.

Ich habe das Gefühl, dass mein Herz seine Arbeit eingestellt hat, zusammen mit dem Rest meines Körpers. Irgendwie gehe ich vorwärts, aber ich sehe weder, wohin, noch kann ich das Publikum ausmachen. Da ist einfach nur eine schwarze, sehr laute Wand, der ich entgegen winke. Und dann kommt etwas Grünes auf mich zu geflitzt und packt meine Hand. Caesar Flickerman. Benommen folge ich dem Moderatoren zu den beiden Sesseln, wo ich mit übereinandergeschlagenen Beinen platznehme.

»Annie, Annie ... wie schön, dass du hier bist«, begrüßt Caesar mich mit einem verschwörerischen Zwinkern.

Ich bin ganz geblendet von seiner glitzernden Erscheinung. Sein kompletter Anzug ist besetzt mit winzigen Edelsteinen, die allesamt hundertfach das Licht brechen, um es in einem malachitgrünen Schimmer zurückzuwerfen. »Wow«, stammle ich und schüttle den Kopf wie ein nasser Hund.

»Wow, sagt sie – das können wir doch alle gut nachvollziehen, was?« Das Publikum lacht. »Aber was genau ist denn so umwerfend, meine Liebe?«

Ich zwinge mich, den Blick von Caesars Anzug loszureißen. »Eine ganze Menge ist überfordernd«, gestehe ich, »aber dieses Mal meine ich den Anzug. Das ist ... eine Menge Glitzer. Ich sehe gar nichts anderes.«

Noch mehr Gelächter. Auch Caesar enthüllt seine strahlendweißen Zähne, die mit seinem Anzug um die Wette leuchten. Bestärkt von dieser Reaktion lächle ich ebenfalls.

»Oh weh, oh weh«, antwortet Caesar mir und tut so, als würde er versuchen, mit den Händen seinen Anzug zu verdecken. »Ich wusste ja gar nicht, dass ich so sehr funkle! Haben Sie das bemerkt, werte Damen und Herren?«

Ich kichere angesichts dieses albernen Theaters. So hat Cece sich das Interview in unserer Vorbereitung nicht vorgestellt, doch ich bleibe einfach beim Thema.

»Ach, ist schon gut Caesar. Immerhin ist es meine Lieblingsfarbe, da lasse ich mich gerne blenden!«

»Puh!« Demonstrativ wischt Caesar sich die Stirn mit dem Handrücken. »Dann habe ich ja doch ein gutes Händchen bewiesen, als ich heute Morgen so vor dem Kleiderschrank stand. Aber wen wundert es auch, dass ein schönes Grün deine Lieblingsfarbe ist? Das hat doch bestimmt etwas mit dem Meer zu tun ... oder sind es etwa die Augen eines geliebten Menschen?«

Caesar zwinkert, das Publikum johlt und mein Mund wird trocken. In Gedanken sehe ich Finnick vor mir, dessen Augen viel mehr strahlen als Caesars Anzug. Rasch schüttle ich den Kopf. »Natürlich muss ich da an das Meer denken, wie bei meinem Kleid«, erwidere ich lahm. »Da bin ich wohl einfach voreingenommen, dass das schöne Farben sind.«

»Natürlich.« Caesar nickt ernsthaft, bevor sich auch schon das nächste verräterische Grinsen auf seine Züge schleicht. »Wobei ich da noch an jemand anderen denken muss – Sie wissen wen ich meine, liebes Publikum: Finnick Odair. Sei ehrlich, Annie – wie ist es, den begehrtesten Junggesellen Panems zum Mentor zu haben? Wird man da nicht auch mal schwach bei den Augen?«

Ein paar Zuschauer kreischen bei dieser Erwähnung schrill.

»Ähm ...« Ich mache den Fehler, mir über die Lippen zu lecken, und schon klebt eklig süßer Lippenstift an meiner Zunge. Das flaue Gefühl in meinem Magen gewinnt wieder an Kraft. »Eigentlich ist er nicht groß anders als die übrigen Mentoren. Sie haben eben alle unterschiedliche Talente ... Es ist nur ablenkend mitunter ... also dass es nicht immer nur um Finnicks Können geht ...? Und er ist leider oft nicht da, von daher hätte ich vielleicht noch mehr lernen können ...«

Mein Satz bleibt unvollendet in der Luft hängen und ich zucke mit den Schultern, bis mir wieder einfällt, dass Cece genau das strengstens verboten hat. Nun, jetzt ist es zu spät.

Caesar zieht gekonnt eine Augenbraue hoch und lehnt sich vor, als gäbe es nur uns zwei und kein sensationshungriges Publikum. »So so, ablenkend war euer Training also ...«

Natürlich pickt er sich das Schlimmste aus meinem Gestammel heraus. Ich hätte nicht wenig Lust, hier und jetzt das Gesicht in den Händen zu vergraben. Nicht nur mache ich die Sache damit unangenehm für mich, Finnick muss ja ebenfalls darunter leiden!

»Hast du Finnick vielleicht auch abgelenkt?«, fragt Caesar da auch schon mit einem Zwinkern.

Sicherlich meint er es nicht böse. Doch die Frage ist perfekt, zu perfekt. Das sind genau die Informationen, für die sich Snow interessiert. Egal, was ich sage, ich kann nicht gewinnen.

Ich lehne mich ein Stück aus Caesars Reichweite zurück und sehe zum Publikum. Mir fällt nur eine Antwort ein, die ich in anderer Variation mit Cece einstudiert habe. »Oh, denken Sie wirklich so von mir?«, frage ich so laut und deutlich wie möglich. »Mein einziges Ziel ist es nämlich, meinen Mittribut Pon zu beschützen. Damit er zurückkehren kann. An etwas anderem habe ich kein Interesse.«

Caesar seufzt theatralisch und legt eine Hand seine Brust. »Wie konnte ich das nur vergessen? Natürlich willst du das. Das hast du in deinem Familiengespräch auch schon gesagt. Aber erlaub mir eine Frage – warum?«

»Er erinnert mich an meinen kleinen Bruder zuhause. Sie haben ihn ja gesehen, Cyle. Wenn ich mir vorstelle, dass er hier wäre ... Ich würde mir wünschen, dass es jemanden gäbe, der ihn beschützt. Also kann ich Pon nicht einfach sich selber überlassen.«

»Mhm ...« Verständnisvoll nickt Caesar und für einen Moment ist es still im Saal. Dann stellt Caesar mir die letzte, obligatorische Frage, die er jedem Tribut stellt: »Und wie sieht es mit dem Gewinnen aus? Rechnest du dir gar keine Chancen aus? Man weiß ja nie ... was passiert.«

Ich schüttle den Kopf. »Wenn es nicht Pon ist, will ich es auch nicht sein. Das meine ich ernst.«

»Nun ... das ist auch mal eine Motivation, meine Damen und Herren. Das war Annie Cresta, unsere kleine Meerjungfrau!«

Das Publikum spendet mir kräftigen Applaus und ich habe keine Ahnung, ob es mehr oder weniger als bei meinen Vorgängern ist. Hier auf der Bühne fühlt sich alles an wie eine Brandungswelle, die mit voller Wucht auf den Pier – in diesem Fall mich – prallt. Es muss mich ja nicht ganz Panem lieben, aber vielleicht tun es am Ende doch mehr, als ich gedacht hätte.

Irgendwie schaffe ich es von der Bühne herunter und dunkel nehme ich wahr, wie Pon sein eigenes Interview bestreitet. Er gewinnt schon alleine durch sein Alter Sympathien. Offenbar gibt es im Kapitol doch Menschen, bei denen ein putziger Zwölfjähriger Elterngefühle auslöst. Aber natürlich stellt Caesar ihm auch eine Frage zu mir und meinen Plänen.

Ernst blickt Pon zu Boden. »Ich will nicht, dass Annie für mich stirbt. Aber ich glaube, das kann ich ihr nicht ausreden. Ich hoffe einfach, dass wir beide so lange wie möglich durchhalten.«

Als er zurückkommt, werden wir von Cece abgeholt und zurück zu den Mentoren gebracht, wo wir Backstage die restlichen Interviews ansehen. Wirkliche Highlights folgen ohnehin nicht mehr. Die meisten Tribute pendeln zwischen einer bemühten Demonstration ihrer Stärke oder übertriebener Komik. Am ehesten beeindruckt mich noch Nora, die es schafft, breit zu lächeln und ein lockeres Gespräch über traditionelle Kunst aus Distrikt Fünf anzuschlagen.

Das Mädchen aus Zehn, das uns gestern alle mit seinen neun Punkten in der Einzelbewertung überrascht hat, bleibt hingegen das ganze Interview über stumm und gibt höchstens einsilbige Antworten. So viel Mut muss man erstmal haben – und ich bin mir nicht sicher, ob das nicht eher ein großer Fehler ist.

Schlussendlich kommen die Interviews mit dem kläglichen Weinen des Tributs aus Zwölf zu einem Ende und alle in unserem Team sind sich einig, dass Pon und ich uns gut geschlagen haben. Nicht perfekt, aber durchschnittlich genug, um nicht chancenlos zu sein. In Anbetracht dessen, wo Pon und ich angefangen haben, ist das tatsächlich eine ziemliche Leistung. Auch wenn ich es nie zugeben würde – ohne Floyds Angriff auf den Tribut aus Neun und das damit verbundene Extratraining, stünden unsere Chancen wohl deutlich schlechter.

Anlässlich des letzten Abends im Trainingscenter fährt das Kapitol noch einmal ein wahres Festessen auf, zu dessen großem Finale eine Torte serviert wird, die mit kleinen Zuckerfischen verziert ist. Ich weiß nicht, wie Pon und ich es schaffen, doch wir lachen mit den anderen über einige der absurderen Outfits des Abends und verdrängen dabei ganz, was morgen für ein Tag ist.

Nach und nach verabschieden sich schließlich alle, angefangen mit Mags, die Pon ins Bett bringt, bis nur noch Cece, Finnick, Amber und ich übrig sind. Ich stochere in meinem letzten Stück Torte – Schokolade, verborgen unter einem blauen Marzipanmantel –, als Finnick mir einen langen Blick zuwirft. Persönlich gesprochen haben wir heute noch gar nicht, aber ich begreife sofort, als er aufsteht und mit dem Kopf in Richtung Balkon ruckt, bevor er verschwindet.

Ich werfe Cece und Amber ein kleines Lächeln zu. »Also ... ich bin müde, ich werde dann auch mal gehen. Vielleicht bekomme ich ja noch ein bisschen Schlaf.«

Die beiden verabschieden mich mit einem Nicken und ich folge Finnick den langen Flur hinab. Er wartet bereits auf dem Balkon, die Ellenbogen auf das Geländer gestützt und den Blick gen Himmel gerichtet.

»Hey ...«, murmle ich in die laue Nachtluft.

Selbst im Dunkel der Nacht schimmern Finnicks Augen wie das Meer, als er sich zu mir umdreht. Er lächelt. »Na, wie schlimm war das Interview?«

Ich unterdrücke ein Seufzen. »Du hast es doch gesehen.«

»Schon, aber ich meinte eher, wie es sich für dich angefühlt hat.«

»Halb so schlimm wie gedacht – also wirklich furchtbar.«

Finnick schmunzelt. »Kenne ich. Aber du hast das wirklich gut gemacht. Ehrlich. Die Fragen waren ... fies.«

Der altbekannte Kloß in meinem Hals schwillt wieder an. Ein Frösteln schüttelt mich und ich schlinge die Arme um den Oberkörper. »Tut mir leid, dass du da mit hineingezogen wurdest. Das wollte ich wirklich nicht ...«

»Ach was.« Bevor ich weitersprechen kann, winkt Finnick ab. »Ich bin Schlimmeres gewohnt. Gerüchte über mich und die Tribute wird es wahrscheinlich immer geben. Dabei darfst du dir nicht zu viel denken.« Dann streicht ein verwegenes Grinsen über sein Gesicht. »Ach, übrigens ...« Er zieht etwas aus seiner Hosentasche und hält es in die Luft.

Im fernen Licht des Kapitols erkenne ich eine goldene Kette – meine Kette, die Roan mir heute Morgen weggenommen hat.

»Ich dachte, die willst du sicher zurück haben. Ich habe sie prüfen lassen von den Spielmachern und du darfst sie morgen mit in die Arena nehmen. Ich würde dir nur raten, sie nicht am Hals zu tragen ... damit man dich nicht damit erwürgen kann.«

»Oh ...« Ich schlucke gegen den Kloß in meinem Hals an, als hätten sich just in diesem Moment unsichtbare Hände um meine Luftröhre gelegt. »Danke. Das ... das bedeutet mir wirklich viel.«

Finnick schlägt die Lider nieder und nickt sanft. »Soll ich sie dir umlegen?«

»Das wäre nett.«

Ich gehe zu ihm herüber und schiebe die Haare beiseite, damit er die Kette schließen kann. Kalt streicht das Gold über meine Haut, sodass mir ein Schauer den Rücken hinab läuft – einer der guten Art. Sobald das Gewicht des Medaillons wieder an seinem gewohnten Platz ruht, fühle ich mich besser. Ich habe gar nicht bemerkt, wie viel mir die Kette bedeutet, ehe sie mir genommen wurde. Aber alle meine Erinnerungen hängen jetzt an diesem Stück Metall, den Bildern und dem Brief darin. Nur ein winziges Detail lässt mich stutzen, denn als ich die Hand um das Medaillon schließe, merke ich, dass noch etwas anderes an der Kette hängt.

Erstaunt schaue ich nach unten. Da baumelt ein kleiner Fisch, aus schlichtem Kupferdraht geflochten. Sein Auge ist ein einzelnes, malachitgrünes Steinchen, das direkt von Caesar Flickermans Anzug stammen könnte.

»Damit du immer etwas Hoffnung bei dir trägst«, sagt Finnick leise. »Floogs hat mir alles von gestern erzählt. Deshalb soll der Fisch dich daran erinnern, dass es hier immer noch jemanden gibt, der an dich glaubt. Der alles daran setzen wird, dass du mit Würde gehen kannst. Vielleicht bringt er dir ja Glück.«

Ich drehe mich zu Finnick um. Obwohl es gerade mitten in der Nacht ist und weit und breit keine Sonne scheint, habe ich mit einem Blick in seine Augen dasselbe Gefühl, was mich sonst beim Anblick des Sonnenuntergangs über dem Meer überkommt. Es sind diese wenigen Sekunden, in denen die Welt vollkommen friedlich erscheint.

»Hast du den Fisch etwa selber gemacht?«, frage ich.

Finnick nickt. »Es ist nichts Großartiges –«

»Nicht großartig?« Ich schniefe leise, denn vor lauter Rührung schwillt mir der Hals endgültig zu. Mit den Fingern streiche ich über das kleine Flechtwerk. »Ich bin so froh, dass ich in den letzten Tagen hier diese Seite an dir kennenlernen durfte. Etwas Schöneres könnte ich mir zum Ende nicht vorstellen.«

In mir erwacht die Sehnsucht, Finnick zu berühren, ihn nur noch einmal in die Arme zu schließen. Ihn wissen zu lassen, was er mir bedeutet. Dass er einen Unterschied macht. Zögerlich hebe ich die Hand und strecke sie nach seiner Wange aus. Meine Fingerspitzen streifen ganz leicht über seine Haut, doch das reicht schon, um mein Herz schneller schlagen zu lassen.

»Ich hoffe, dass du eines Tages Frieden finden wirst«, sage ich leise. »Dass du jemanden findest, der das für dich sein kann, was du für mich warst. Ein Fels in der Brandung, ein Funken Hoffnung im Dunkeln. Damit das Kapitol dir nicht länger wehtun kann. Das wünsche ich dir wirklich. Du hast es verdient.«

Ich höre, wie Finnick tief einatmet. Ein paar Herzschläge lang schließt er die Augen, während er meine Hand an seiner Wange festhält. Er drückt sie fester an sich und aus der federleichten Berührung wird kräftiger Druck. Dann sieht er mich wieder an.

»Annie ... ich weiß, dass du das vermutlich nicht hören willst – und dass ich es nicht empfinden, geschweige denn sagen sollte, aber ...« Er schüttelt sachte den Kopf. »Du bist das alles schon für mich. Du machst die Spiele dieses Jahr so viel erträglicher und gleichzeitig absolut unerträglich.«

Unterbewusst schlinge ich die Finger fester um die seinen, als wären sie mein Rettungsring in stürmischer See. »Aber ich kann nicht bleiben«, flüstere ich. »Ich werde dir nur wehtun.«

Finnick beißt sich auf die Unterlippe und blinzelt angestrengt. »Ich kann doch nichts dagegen tun«, erwidert er mit schwacher Stimme. »Das ist die eine Sache, von der ich mir immer vorgenommen habe, dass sie mir nie passieren wird. Ich meine – es ist doch völlig irrwitzig! Ich hätte nie gedacht ... dass man sich überhaupt so schnell verlieben kann. Ich dachte immer, dass das Kapitol nur so tut, als würde das ernsthaft Menschen passieren. Eben ein nettes Schauspiel, für das man nur genug Geld hinlegen muss. Und jetzt weiß ich nicht einmal, wie das geht ... wie man das macht, wirklich lieben ... Aber hier stehe ich und kann dich nicht gehen lassen.« Er legt den Kopf in den Nacken und sieht wieder zu den Sternen auf. »Das ist doch eine verdammte Scheiße«, flucht er leise und ehe ich etwas sagen kann, zieht er mich näher heran und vergräbt die Stirn an meiner Schulter.

Ich spüre, wie seine Hände sich an meinem Rücken verkrampfen und wortlos drücke auch ich ihn fester. Finnick riecht nach zuhause und Geborgenheit und obwohl mir zum Weinen zumute ist, könnte er mich nicht glücklicher machen.

»Es tut mir so leid«, murmle ich gegen sein T-Shirt, »das wollte ich dir nicht antun. Es reicht doch schon, dass ich nicht weiß, wie mir geschieht.«

»Verdammt, das macht es nur schwerer für mich.« Er lacht auf, eine Mischung aus Verzweiflung und seinem üblichen Humor.

»Frag mich mal«, entgegne ich. »Panems begehrtester Junggeselle erwidert meine völlig verrückten Gefühle und ich habe nur noch ein paar Stunden in seiner Gegenwart.«

Das bringt Finnick dazu, den Kopf ein Stück zu heben. Gerade so weit, dass er mich wieder ansehen kann. Nun ist er es, der eine Hand an meine Wange legt und vorsichtig mit dem Daumen darüber streicht. »Vielleicht sollten wir die Zukunft einmal kurz vergessen?«

»Vielleicht sollten wir das.«

Er hebt einen Mundwinkel. »Ich bin ehrlich – ich bin etwas aufgeregt, aber ... ich würde dich jetzt sehr gerne küssen, Annie.«

»Das würde ich sehr schön finden«, hauche ich und strecke mich ihm ein Stück entgegen, um den Größenunterschied zu überwinden.

Auch wenn es nicht mein erster Kuss ist – nichts hätte mich darauf vorbereiten können, wie es sich anfühlt, Finnicks sanfte Lippen auf meinen zu spüren. Alle Gedanken an schnell schlagende Herzen oder schwitzige Handflächen sind fortgewischt. Mich erfüllt nur noch ein Kribbeln, das vom Scheitel bis zur Sohle zieht. Meine Hände gleiten in Finnicks Nacken und ich vergrabe sie in seinem Haar, als hätte ich das schon hundertmal mit ihm getan.

Er küsst ganz vorsichtig, überhaupt nicht so wild oder bestimmt, wie man es von ihm erwarten könnte. Ein bisschen kommt es mir so vor, dass ich diejenige bin, welche die Geschwindigkeit vorgibt. Nicht, dass ich es eilig habe. Ich genieße die Wärme seiner Lippen, den Geschmack nach Sonnenschein und Salz darauf. Seine Finger an meiner Wange halten mich behutsam und verhindern, dass sich ungebetene Sorgen oder Ängste ausbreiten. Wie die sanfte Brandung an einem Frühlingstag spült er alles weg, was zwischen uns steht.

Auf diesem Balkon, der zu dem winzigen Raum unmittelbar um uns geschrumpft zu sein scheint, ist nur Platz für das glückliche Ziehen in meiner Brust. Ein Teil von mir wünscht sich, dass unser Kuss nie enden möge. Aber irgendwann lösen Finnick und ich uns doch voneinander, auch wenn wir noch einen Moment lang verharren, nur getrennt durch Millimeter lauer Abendluft. Finnicks Atem streift meine Lippen und löst einen neuerlichen Rückenschauer bei mir aus. Zaghaft streicht er eine Haarsträhne hinter mein Ohr.

»So schlimm?«, fragt er heiser.

Zuerst verstehe ich nicht – bis Finnick eine Träne von meiner Wange auffängt. Unfreiwillig lache ich auf und schüttle den Kopf. »Nein, ganz sicher nicht.« Meine Stimme klingt ganz fremd, so rau ist sie. »Ich ... ich habe Gänsehaut.«

»Das ist ... gut? Entschuldige, aber es hat noch nie jemand geweint, der mich geküsst hat.«

»Das ist gut«, bestätige ich. »Nicht, dass ich das je erlebt hätte, aber ich fühle mich gut. Und ein bisschen überwältigt. Gut überwältigt.«

»Okay.«

Finnick lächelt vorsichtig und dann küsst er mich einfach noch einmal. Etwas bestimmter, aber trotzdem sanft. Und ich grabe die Finger in den dünnen Stoff seines T-Shirts, um ihn so fest zu halten, wie ich kann. Für all die zukünftigen Gelegenheiten, die wir nie haben werden.

 

Letzter Halt

Vor meinen Augen wiegt sich das Meer in der Morgensonne, friedlich und unberührt. Die Sonne lugt kaum über den Horizont und ihre ersten Strahlen tauchen den Ozean in pinkes Licht. Ich wünschte, der Anblick wäre echt. Was würde ich dafür geben, einzuatmen und Meersalz zu schmecken. Doch da ist nur der Geruch eines fremden Waschmittels aus dem Kapitol an meinen Kleidern – und Angstschweiß. Kein Wind auf der Haut, kein Flüstern des Meeres.

Heute ist es so weit. Heute fällt der Startschuss für die 70. Hungerspiele.

Ich wechsle die Ansicht auf dem digitalen Fenster und die See wird zur Straßenansicht des Kapitols. Noch ist das bunte Pflaster verwaist, aber die Leinwände für die öffentlichen Feiern zum Beginn der Spiele sind schon aufgebaut. Wenn ich nicht mehr hier bin, werden dort hunderte Menschen stehen und uns Tributen zujubeln.

Ich kann nicht glauben, dass der Tag wirklich gekommen ist. Selbst jetzt ist es unmöglich, mir vorzustellen, wie es sein wird, auf einer der 24 Metallplattformen in der Arena zu stehen. Immerhin habe ich eine Mission und weiß, was zu tun ist. Vielleicht wird es das leichter machen. Mein Plan ist denkbar simpel:

Direkt nach dem Start werde ich zum Füllhorn laufen und mir mindestens einen Rucksack schnappen – besser noch zwei. Währenddessen läuft Pon schon weg, gen Norden, wenn der Weg frei ist. Ansonsten Richtung Süden. Ich werde ihm folgen und sobald ich ihn eingeholt habe, werden wir ein Versteck suchen. Was danach kommt ... kann keiner sagen.

Ich hole tief Luft und stehe auf. Die Kleidung für die Arena liegt schon seit gestern Abend auf der Kommode für mich bereit. Langsam schlüpfe ich in das schlichte, schwarze Top und die enganliegende Hose hinein. Der Stoff ist glatt und rutschig – möglicherweise wasserabweisend? Eine feuchte Arena könnte ein Vorteil sein. Das hieße, dass Pon und ich vielleicht fischen könnten. Und im Wasser kann uns niemand schlagen.

Trotz dieser ermunternden Gedanken rutscht mir der Ledergürtel dreimal aus den Händen, bevor ich ihn umgelegt habe. Auch die Schleifen an den schweren Schnürstiefeln bekomme ich kaum gebunden, so sehr zittern meine Finger. Um mich zu beruhigen, greife ich nach dem Medaillon an meiner Kette. Und seit gestern somit auch dem Fischanhänger von Finnick.

Mit geschlossenen Augen denke ich daran, wie er mich die halbe Nacht in den Armen gehalten hat. Nebeneinander haben wir auf dem Balkon dagesessen und versucht, den Rest eines ganzen Lebens in wenigen Stunden und nur einem Gespräch zu kompensieren. Wahrscheinlich liegt es an der Aussicht auf den sicheren Tod, doch ich habe nie zuvor solche Gefühle für einen anderen Menschen gehabt. Ich wusste nicht einmal, dass man so viel, so tief empfinden kann. Mir ist egal, was die Vernunft sagt – ich liebe Finnick.

Ohne einen Blick zurück verlasse ich mein Zimmer und gehe hinüber ins Wohnzimmer. Dort sitzen bereits alle versammelt, aber zum ersten Mal ist es trotzdem still. Anstelle der Aussicht auf das Kapitol sehe ich ein Kornfeld im Sonnenaufgang durch das Fenster.

Keiner sagt ein Wort, als die Avoxe das Frühstück auftragen. Wir wissen alle Bescheid. Selbst die Mentoren essen kaum etwas, sondern zerkrümeln eher die Brötchen auf ihren Tellern. Ich wünschte wirklich, dass diese offizielle Verabschiedung nicht sein müsste. Am liebsten wäre ich einfach aus meinem Zimmer verschwunden, ohne irgendjemanden zu sehen. Die schuldigen Blicke sind kaum zu ertragen. Trotzdem schaffe ich es irgendwie, ein Glas Orangensaft und ein gebuttertes Brot runterzubringen. Wer weiß, wann ich das nächste Mal etwas zu essen bekomme.

Sobald wir mit dem Frühstück fertig sind, erhebt Mags sich. »Ihr Lieben ...« Sie seufzt leise, bevor sich ihre Stimme wieder festigt und sie beinahe schon geschäftsmäßig klingt. »Es ist so weit. Das Hovercraft erwartet euch gleich auf dem Dach. Zuerst wird Pon abgeholt, direkt darauf Annie. Die Stylisten werden euch in die Katakomben der Arena begleiten und letzte Instruktionen geben.«

Ich nicke mechanisch, tausche einen letzten Blick mit meinem Mittribut. Pon ist so bleich wie die Milch in seinem Glas, aber er hält das Kinn oben.

Mags legt den Kopf schief und greift nach unseren beiden Händen. »Leider können wir Mentoren nicht mit zur Arena kommen. Deshalb lasst es mich jetzt sagen – Bitte vergesst nie, dass ihr einzigartige, wunderbare Menschen seid. Wir glauben an euch. Wir alle.«

Die übrigen Mentoren am Tisch nicken bekräftigend. »Ihr habt euch gut vorbereitet«, ergänzt Floogs und legt seine Hände über Mags. »Wir wissen, dass ihr stark seid.«

»Und schlau genug, Gefahren aus dem Weg zu gehen.« Ambers Hände landen wiederum über Floogs.

»Ihr werdet nie alleine sein«, sagt Finnick, als auch er ihrem Beispiel folgt. »Einer von uns wird immer vor dem Fernseher sein und über euch wachen.«

»Wir sin’ stolz auf euch.« Ganz zuoberst auf dem Turm aus Händen landen Trexlers große Pranken.

Der warme Druck breitet sich von meinen Fingern in den Arm aus und von da aus sickert das Gefühl bis in meine Brust, mein Herz. Mit der freien Hand greife ich nach Pons und so sitzen wir für einen Moment da, alle miteinander verbunden, die Augen geschlossen.

»Wir sind Distrikt Vier und wir geben nicht auf«, stimmt Mags an und die anderen fallen mit ein. »Wir sind stolz. Und wenn wir gehen, dann erhobenen Hauptes. Möge die See unsere Seelen hüten.«

Mit diesen Worten kommt meine Zeit im Kapitol zu ihrem Ende. Cece, die mit kirschroten Wangen am Tisch sitzt, schiebt ihren Stuhl ruckartig zurück und stößt dabei ihr Glas um, das seinen Inhalt überall hin verteilt. Sofort eilt ein Avox herbei, um das Missgeschick zu beseitigen. Doch Cece scheint den dunklen Kaffeefleck auf ihrem hellblauen Rock kaum wahrzunehmen. Sie zwingt ein typisches Kapitollächeln auf ihr Gesicht und klatscht in die Hände.

»Sehr schön«, quietscht sie, »dann lasst uns keine Zeit verlieren! Das erste Hovercraft wartet schon.«

Pon wird von Mags in den Fahrstuhl gebracht und ich kann ihn nur noch ein letztes Mal an unseren Plan erinnern, dann ist er weg. Es dauert nicht lange, bis Mags wieder kommt und ich an der Reihe bin. Doch nicht Mags ist es, die mit mir in das Appartement verlässt, sondern Finnick.

Er lehnt sich mir gegenüber an die gläserne Wand des Fahrstuhls. Mit einem Mal scheint der Raum beängstigend zu schrumpfen. Unter freiem Himmel fühlte es sich nicht nach einem Abschied für immer an, aber hier drinnen beschwert unsere Angst die Luft in der Kabine derart, dass es ein Wunder ist, dass wir dennoch hochfahren.

Ich versuche, nur auf meine Reflexion im Glas zu achten, um den Schmerz, das Mitleid, die Trauer in Finnicks Gesicht nicht zu sehen. Wir sind bereits im zehnten Stock, ohne ein Wort gesprochen zu haben, da hämmert Finnick plötzlich auf einen dicken, roten Knopf. Es quietscht laut, dann geht ein Ruck durch den Fahrstuhl und wir bleiben stehen.

Finnick sagt kein Wort, sondern schlingt bloß die Arme um mich. Er drückt mich noch fester als gestern an seine Brust und für einen Augenblick vergesse ich das Atmen ganz. Dann erwidere ich den Druck. Mit den Fingerspitzen streiche ich über Finnicks Rücken, immer entlang der Wirbelsäule, und ebenso tut er es bei mir. Selbst jetzt, so kurz vor dem Anfang vom Ende, entdecke ich noch neue, unbekannte Gefühle – wie dieses sanfte Kribbeln unter meiner Haut, das in warmen Wellen Finnicks Berührung folgt. Als würde das Meer direkt in mir flüstern. Womöglich ist es sogar das Schönste, was ich je empfunden habe. Abgesehen von unserem Kuss. Angesichts der Erkenntnis von der Schönheit des Lebens zieht sich mein Herz zusammen. Wenn da nur nicht das Gewissen wäre, dass wir nicht ewig hier stehen können. Man wird merken, dass der Fahrstuhl angehalten hat. Und wer weiß, was die Friedenswächter dann tun werden ...

»Ich kann dich nicht einfach so gehen lassen«, platzt es schließlich aus Finnick hervor. »Nicht so, nicht einmal nach gestern Abend.«

»Wir werden uns wiedersehen«, entgegne ich und bin selber erstaunt über die Festigkeit meiner Stimme. »Auf uns wartet eine bessere Welt. Ich will nicht sterben und ich habe solche Angst ... aber ich glaube daran, dass das ewige Meer uns an eine neue Küste treiben wird. Es wird mir gut gehen. Besser als hier. Und ich werde dort warten.«

»Dann werde ich dafür beten, dass das Meer dich an einen guten Ort bringt. Den Schönsten von allen. Mit Sandstrand und Palmen ... Aber eine Sache muss ich dir noch sagen, solange du hier bist. Weil ich es nur dir persönlich sagen will und nicht irgendeinem Stern, Lichtjahre von hier entfernt.«

Bei der Erinnerung an unser Gespräch über das Märchen der Verstorbenen als Lichter am Nachthimmel lächle ich. Die Vorstellung, dass ich bald von dort oben Finnick bewachen kann, wird nur tröstlicher, je näher der Augenblick rückt.

Aber Finnick ist noch nicht fertig. Er drückt seine Lippen an meine Wange und flüstert so leise ein paar Worte, dass ich sie eher spüre, denn höre: »Ich liebe dich, Annie.«

Im selben Moment merke ich, dass der Fahrstuhl wieder fährt. Bevor ich Finnicks Geständnis verarbeitet habe, bremsen wir im obersten Stockwerk ab. Die letzten Zentimeter gleiten wir ganz sanft dem Dach entgegen. Finnick löst seine Arme und obwohl die Arena und das Blutbad Meilen entfernt sind, sticht es in meiner Brust, als hätte ich einen Speer zwischen den Rippen stecken. Zischend öffnen sich die Fahrstuhltüren und davor warten Männer, Friedenswächter. Ich kann Finnick nur zunicken und auf den Fischanhänger meiner Kette tippen, um ihm zu zeigen, dass er mir ebenso viel bedeutet.

Seite an Seite gehen wir auf das Hovercraft zu, das ein paar Meter über dem Dach schwebt. Wind peitscht mir ins Gesicht und der Turbinenlärm ist unfassbar laut. Eine Leiter fährt aus dem dunklen Inneren des schwebenden Gefährts herunter. Ich sehe mich ein letztes Mal nach Finnick um. Er steht zwei Schritte hinter mir, seine Züge hart wie Stein.

»Alles wird gut«, sagt er. »Für mich bist du schon jetzt eine Heldin.«

Ich nicke und versuche, den Kloß in meinem Hals weg zu schlucken. Dann greife ich nach der Leiter. Augenblick erfasst mich ein Schock, als hätte ich an den elektrischen Distriktzaun gepackt. Ich bin gefangen, kann keinen Finger mehr regen, auch nicht sprechen. Panisch sehe ich Finnick an, der mir mit ernstem Ausdruck hinterher winkt. Dabei wollte ich wenigstens noch danke sagen!

Zum Schweigen verdammt, schaue ich zu, wie er aus meinem Blickfeld verschwindet. Lange dauert es glücklicherweise nicht, bis ich im Hovercraft bin. Oben wartet bereits eine Friedenswächterin, die wortlos meinen an die Leiter gefesselten Arm packt und eine Spritze hineinsticht.

»Das ist dein Aufspürer«, kommentiert sie kühl, während auf den initialen, stechenden Schmerz ein großer Druck folgt.

Es brennt, doch sobald die Frau die Nadel entfernt und ein Spray über die Einstichstelle versprüht, ist nichts mehr von dem Chip zu sehen, der gerade unter meiner Haut verschwunden ist.

Roan ist schon an Bord und wartet. Sobald die Leiter mich endlich freigegeben hat und die Bodenluke verschlossen ist, werde ich von ihm kritisch gemustert. »Na schön ... Für deine Haare reicht ein geflochtener Zopf, den wir am Hinterkopf verknoten. Je weniger da rumfliegt, desto besser. Und dieses Mal hältst du dich dran! Hübsch genug ist dein Gesicht schließlich, dass wir da nichts Dringendes kaschieren müssen. Lass uns anfangen.«

Er führt mich in einen kleinen Nebenraum des Hovercrafts, in dem es einen Spiegel und metallene Drehstühle gibt. Das ist nichts gegen die Ausstattung im Trainingscenter, wo ich mit dem größtmöglichen Aufwand zurechtgemacht wurde – aber in die Arena gehe ich schließlich auch in meiner eigenen Haut. Kein Make-up, keine Glitzerkleider, kein falsches Lächeln.

Ich bemerke erst, dass wir schon losgeflogen sind, da ist das Kapitol unter uns zu einer winzig kleinen Modellstadt geschrumpft. Von hier oben sieht es noch mehr wie ein pastellbuntes Meer aus als bei meiner Ankunft mit dem Zug. Jetzt erkenne ich auch die ringförmige Struktur der Stadt und wie gerade die einzelnen Straßen sind. Dagegen sieht Distrikt Vier ganz anders aus, viel wilder.

Solange Roan sich mit meinen Haaren beschäftigt, riskiere ich immer wieder einen Blick aus dem Fenster. Besonders als wir das Kapitol hinter uns lassen, schlägt mein Herz schneller. Es dauert nicht lange, da kommen riesige, weiße Kuppeln in Sicht, über denen sich große Metallgerüste ranken, die in der Sonne glänzen. Zuerst halte ich es für Energiegewinnunsanlagen so wie in Distrikt Fünf, doch dann sehe ich die erste Zahl.

25 steht in riesigen, roten Ziffern auf dem Kuppeldach. Und dahinter folgen in unregelmäßigem Abstand weitere bezifferte Kuppeln, an den Hängen von Hügeln oder im flachen Niemandsland. Mein Atem bleibt mir in der Kehle stecken. Das sind die Arenen! Dort unten ... Wir fliegen mitten über die Grabstätten unzähliger Tribute vor mir.

Natürlich wusste ich immer, dass die Arenen nicht echt sind, sondern künstliche Wunderwerke des Kapitols, mit falschem Himmel und genetisch mutierter Flora wie Fauna. Aber es so vor mir zu sehen ... ich kann kaum glauben, wie riesig die einzelnen Bauten sind. Was für ein Aufwand, nur für den Tod von 23 Kindern und Jugendlichen, Jahr für Jahr.

Und es sind nicht nur die Nummern vergangener Hungerspiele, die ich ausmachen kann. Ich sehe eine Kuppel, die noch im Bau ist – überall sind riesige Kräne, viel größer als die daheim am Hafen, und ganz klein, wie Ameisen, wimmeln Menschen um den Rohbau herum. Eine Nummer gibt es allerdings schon: Die 75 prangt umrankt von einem goldenen Lorbeerzweig auf dem Dach.

Das nächste Jubeljubiläum. Ich kann froh sein, dass dies nicht meine Arena ist, immerhin bergen die Jubiläumsspiele besondere Grausamkeit. Dagegen ist es fast schon eine Erleichterung, nur zu gewöhnlichen Hungerspielen gebracht zu werden. Trotzdem schnürt mir die Vorstellung der Tode von morgen die Brust ein. Wie wird es dann wohl Finnick und den anderen ergehen?

Ein Piepen lenkt meine Gedanken von der schieren Unendlichkeit der Hungerspiele ab. »Wir landen gleich«, sagt Roan unbekümmert und fixiert eine letzte, widerspenstige Haarsträhne mit ein bisschen Gel.

Alles außer Zopfgummis ist für die Arena verboten, so weit hat er mir sein Leid bei dieser ‚Stylingherausforderung‘ geklagt. Genauso wie er sich darüber beschwert hat, dass die Fenster für den Flug eigentlich geschwärzt sein müssten – aber im Dunkeln kann er seiner Arbeit nicht nachgehen, also ignoriert er diese Anweisung. Dafür danke ich ihm innerlich, denn sonst hätte ich meine Unterlippe wahrscheinlich längst blutig gebissen vor lauter Nervosität.

Das Hovercraft sinkt dem Boden entgegen und wir gehen zurück zu der Leiter. Dieses Mal führt sie direkt in die Katakomben der Arena. Auf dem Weg nach unten sehe ich nicht ein Stück der überirdischen Kuppel. Nicht, dass das etwas ändern würde.

Vor mir liegt ein gekachelter Flur, der mich an das Krankenhaus in Distrikt Vier erinnert. An den Tag, an dem meine Mutter gestorben ist. Ich würge leise und das Geräusch hallt von den Wänden wieder. Roan schiebt mich vorwärts, bis wir zu einer Tür gelangen, neben der ein kleines Messingschild an den Fliesen hängt.

Startraum Nr. 7, weiblicher Tribut Distrikt 4 – Annie Cresta.

Meine letzte Station vor der Arena ist denkbar spartanisch eingerichtet: Abgesehen von der Glasröhre mit der runden Metallplattform, auf der ich gleich nach oben gefahren werde, gibt es nur eine kleine Holzbank, eine Dusche, einen Spiegel und einen Kleiderständer, auf dem die Jacke zu meinem Arenaoutfit hängt.

Roan zupft noch ein wenig an meinen Haaren herum und stößt hin und wieder ein genervtes Seufzen aus, aber im Prinzip versuchen wir nur, die restliche Zeit totzuschlagen, ohne uns zu unterhalten. Ich weiß nicht, ob es Sekunden oder Stunden sind, die ich mit fest zusammengepressten Lippen dasitze und in meinem Kopf immer wieder das Lied der kleinen Meerjungfrau abspiele. Ich weiß nur, dass ich froh bin, als eine blecherne Stimme verkündet, dass es nur noch drei Minuten zum Start der Spiele sind.

Stumm hilft Roan mir in die bereitgestellte Jacke und mit zitternden Fingern löse ich die Kette von meinem Hals. Finnicks gestriger Rat, dass man mich sonst damit erwürgen kann, klingt mir noch in den Ohren. Zum Glück hat die papierdünne, schwarz-blaue Jacke eine kleine Tasche auf der Innenseite, in die ich mein Andenken schieben kann.

»Noch fünfzehn Sekunden«, tönt es aus den Lautsprechern. »Begeben Sie sich auf Position.«

Die Zunge klebt mir am Gaumen, trocken wie Sandpapier. Ich bringe keine Abschiedsworte für Roan hervor, sondern trete stumm auf die runde Plattform, die mich ins Verderben tragen wird.

»Möge das Glück stets mit dir sein«, höre ich Roan gelangweilt sagen, dann saust die Glasröhre über mir hinab und schließt mich mit einem schmatzenden Geräusch unter sich ein. Alles, was ich jetzt noch wahrnehme, ist mein eigener Herzschlag.

Wumm. Wumm. Wumm.

Die Metallplatte erzittert. Ich fahre nach oben.

 

Sechzig Sekunden


 

Sonnenlicht.

Gleißendes, wärmendes Sonnenlicht. Mehr sehe ich nicht. Es riecht nach heißer Erde, trockenem Lehm – dem Ende des Sommers. Der Wind trägt aufgeregtes Keuchen an meine Ohren.

»Willkommen zu den 70. alljährlichen Hungerspielen!«

Das ist Claudius Templesmiths Stimme. Und ich stehe in der Arena.

60

Der Countdown hat schon begonnen!

59

Ich muss mich orientieren!

58

Kein Wald. Nur struppige Büsche. Trockenes Gras.

57

Grau. Steine. Viele Steine. Berge in der Ferne.

56

Halt – da ist etwas Blaues!

55

Ein Fluss, keine zwanzig Meter entfernt!

54

Und dahinter doch ein paar kleine Bäume.

53

Etwas stimmt nicht.

52

Die Bäume haben keine Blätter.

51

Nur knorrige Äste, wie Skeletthände.

50

Keine Deckung. Kein Versteck.

49

Die Berge sind zu weit entfernt.

48

Bis auf einen – hinter dem Füllhorn.

47

Sein Gipfel kratzt am Himmel, die Flanken sind spiegelglatt.

46

Immer noch kein Versteck.

45

Ich bin hilflos. Wohin zuerst schauen?

44

Das Füllhorn!

43

Waffen, überall glänzende Waffen …

42

Wo sind die Speere?

41

Gleich links.

40

Das kann ich schaffen!

39

Und da, ein gelber Rucksack, wenn ich den erreiche –

38

Shine ist auf der anderen Seite des Füllhorns.

37

Ein Glück!

36

Pon ist einige Plätze rechts von mir.

35

Ich zeige nach hinten, er nickt.

34

Wer ist noch in der Nähe?

33

Das Mädchen aus Sechs steht neben mir.

32

Der Junge aus Neun auf der anderen Seite.

31

Ich muss vorsichtig sein.

30

Wumm, wumm, rast mein Herz.

29

Das Füllhorn glänzt im Sonnenlicht wie flüssiges Gold.

28

Es ist so warm ... wie zuhause.

27

Ob Papa mir überhaupt zuschauen kann?

26

Ich darf nicht an ihn denken!

25

Nur ich zähle jetzt.

24

Ich muss überleben.

23

Ich beuge meine Knie. Drücke die Füße fester gegen das Metall.

22

Slay grinst von weiter hinten herüber.

21

Am Himmel kreist ein Adler.

20

Ich balle die Fäuste.

19

Schließe die Augen.

18

Ich bin stark.

17

Ich kann das!

16

Ich öffne die Augen wieder.

15

Fokussiere das Füllhorn.

14

Der Speer ganz vorne wird mir gehören.

13

Für Pon!

12

Oder?

11

Jetzt ist alles egal.

10

Gleich ist es vorbei.

9

Ich atme ein.

8

Und aus.

7

Alles wird gut ...

6

Finnick.

5

Papa.

4

Cyle.

3

Pon.

2

Ich …

1

Nein ...

0

Ich renne.

 

 

Die 70. Hungerspiele – Liveticker:

Dauer: 0 Tage, 0 Stunden, 0 Minuten || Gefallen: 0 || Am Leben: 24

 

Lauf!

»Es ist so weit, meine Damen und Herren! Da laufen sie, die ersten Tribute! Oh, wie aufregend! Gleich werden wir erfahren, wer der oder die Erste am Füllhorn ist – und natürlich, wer als Erstes fällt und vor allem: durch wessen Hand? Der erste Gefallene, das ist doch immer ein besonderer Moment, hier entscheidet sich die Richtung für die gesamten Spiele in wenigen Sekunden!

 

Ganz recht, Claudius! Und meine Damen und Herren im Kapitol, ich hoffe, Sie haben Ihre Wettscheine alle parat, denn ab sofort winken Ihnen stattliche Gewinne. Möge das Glück nicht nur mit unseren Tributen sein, sondern auch das Wettglück mit Ihnen!

 

Oh, sieh nur Caesar, die ersten Tribute heben schon ein paar Gegenstände auf – und halt, da laufen andere Tribute bereits in die Arena hinein, ganz ohne Geschenke vom Füllhorn! Was für eine Verschwendung ...

 

Da gebe ich dir recht, es ist immer bedauerlich, wenn Tribute die Großzügigkeit unserer Spielmacher nicht zu schätzen wissen. Aber immerhin haben alle unsere Spitzentribute dasselbe Ziel: das Füllhorn! Ein Kopf-an-Kopf-Rennen, aber halt, was ist das? Oh, oh, Claudius, siehst du das auch?«

 
 

*

 

Oben ist unten und unten ist oben. Plötzlich renne ich über Wolken, Steine rieseln vom Himmel auf mich herab. Ich schmecke Staub, Gras, Eisen. Die Luft in meinen Lungen brennt wie Feuer und aus meinem Keuchen wird Donner. Lauter kleine Spitzen – Kieselsteine? – bohren sich in meine Arme, Schultern, Rücken.

Ich bin gestürzt, mitten in vollem Lauf. Doch ich gebe nicht auf, sehe nicht zu dem Jungen aus Neun zurück. Zumindest gehe ich davon aus, dass es sein ausgestreckter Fuß ist, der mich zu Fall gebracht hat. Ich muss weiter –

Eine Hand greift nach mir, bekommt aber nur meine Jacke zu fassen. Ich vernehme einen schrillen Schrei, als ich den Arm des Angreifers packe, und rolle vorwärts. Hebelwirkung, höre ich Amber durch einen dicken Schleier sagen – und tatsächlich, es reißt den Neuner neben mir zu Boden.

Für einen Moment starren wir einander in die Augen, dann packt er den erstbesten Gegenstand in Reichweite: eine aufgewickelte Schnur. Ich erfahre nicht mehr, was er damit vorhat, denn vorher drücke ich mich mit beiden Händen hoch. Es sticht, es brennt, überall an meinem Körper.

Egal. Vorwärts, immer nur vorwärts. Das ist die einzige Richtung, die es gibt. Ich muss weiter, zum Füllhorn. Als ich hochschaue, dreht sich die ganze Welt; ich erkenne nur Schlieren aus Blau, Braun und Grau. Doch dazwischen schwebt das goldene Horn, in der Mitte von Himmel und Erde.

Also los. Weiter. Ich renne und der Schmerz schwindet. Das Füllhorn vor mir wächst und wächst, bis es mich überragt. Wo sind die Speere? Vor dem Start habe ich sie doch noch gesehen! Gleich hier vorne ...

Nicht nur die Welt dreht sich, sondern auch ich um mich selber. Meine Füße drängen darauf, weiterzulaufen. Fort, weit weg von hier. Aber ich darf nicht! Blind taste ich mich an den ersten Kisten und Waffenständern entlang. So viel Auswahl, so viele Waffen, die ich nicht beherrsche ...

Wahllos stopfe ich mir ein Messer in den Gürtel. Irgendwas ist besser als nichts. Was noch? Zu meinen Füßen liegen überall Gegenstände – Zeltplane, Schnur, eine Metalldose, verpacktes Trockenfleisch und Kräcker, ein Stück Feuerstahl, eine Edelstahlflasche ... Ich falte die Plane auseinander, werfe alles hinein und presse die wertvolle Beute mit beiden Händen an die Brust.

Halt, vergesse ich nicht etwas? Die Karrieros!

Hektisch wende ich den Kopf. Und tatsächlich, weit sind meine Gegner nicht. Nur wenige Speerlängen neben mir, auf der anderen Seite des Füllhorns, hebt Shine eine Axt auf.

Instinktiv ducke ich mich in den Schutz eines Ständers voller Schwerte. Die glänzenden, unbefleckten Klingen nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, kauere ich auf dem harten Boden und versuche, nachzudenken. Die Pläne, ich hatte doch so ein klares Vorhaben ... alles fort. Versickert wie Wasser in trockener Erde.

Und dann sehe ich sie endlich – die Speere. Mitten vor der Öffnung des Füllhorns hängen fünf davon in einer Halterung. Nur ein kleiner Sprint! Noch kann ich vor den Karrieros da sein, die mit den erstbesten Waffen das Blutbad eröffnen. Das höre ich an den Schreien, dem Knacken berstender Knochen ...

Ich werfe mir die Zeltplane wie einen Sack über die Schulter und renne geduckt weiter. Entweder bekommt es niemand mit oder aber es interessiert keinen, denn ich erreiche das Ziel unbeschadet. Ohne Zögern greife ich nach dem ersten Speer. Hinter mir ertönt ein neuerlicher Schrei.

Schon will ich herumwirbeln, die Waffe zur Verteidigung erhoben – doch diese hängt fest. Der Speer hat sich in seiner Halterung verkantet und dazwischen ist mein Jackenärmel eingeklemmt. Ich werfe einen Blick zurück. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Shine den Brustkorb des Tributs aus Acht spaltet.

Es regnet. Dicke, rote Tropfen fallen mit sattem Platsch, platsch überall vor mir auf das trockene Gras. Mir ist, als würde Shines Axt auch in meiner Brust stecken. Ein paar Herzschläge lang starre ich auf die Blutflecken, dann schüttelt mich ein unkontrollierbares Zittern. Ohne Rücksicht auf Verluste ziehe ich an dem Speer. Es ratscht einmal laut, die Jacke reißt und ich falle mit der heißbegehrten Beute auf den Hintern.

Zunächst auf allen vieren krieche ich fort, bevor ich die Kontrolle über meine Beine zurückerlange, mich hochstemme und laufe. Hauptsache weg von Shine, der Axt, den anderen Karrieros. Mein improvisierter Rucksack klappert und klirrt, etwas schlägt mir gegen die Unterschenkel, aber ich sehe nicht nach, was für immer verloren ist. Nichts ist so wichtig wie mein Leben.

Doch langsam verlässt mich die Kraft. Schwarze Punkte tanzen mir vor den Augen und bei jedem Atemzug stechen hunderte kleine Nadeln in meine Lunge, mein Herz. Trotzdem schaffe ich es auf die Rückseite des Füllhorns, wo die Schatten mich einigermaßen schützen. Hier gab es keine Plattformen und offenbar hat außer mir niemand diesen Weg gewählt. Dafür tobt an der Öffnung noch immer der Kampf, so viel höre ich.

Ich presse eine Hand an die Rippen und schnappe nach Luft. Zumindest einen Speer und ein paar Gegenstände habe ich. Fehlt nur Pon. Aber wie finde ich ihn? Die Arena ist lauter, chaotischer, als ich sie mir je vorgestellt habe. Die dröhnende Orchestermusik aus der Fernsehübertragung erreicht uns nicht, dafür sind die Schmerzenslaute doppelt so intensiv.

Mit dem Rücken drücke ich mich fester gegen das Füllhorn und erlaube mir einen einzigen, tiefen Atemzug. Und da dämmert es mir: Ich kann das Horn nutzen! Aber nicht mit dem Speer im Griff.

Meine Hände wollen nicht aufhören zu zittern, trotzdem setze ich das Bündel aus Zeltplane ab. So schnell ich kann, wickle ich das feste Gewebe zu einer Schlaufe, in die ich den Speer schieben und ihn so zusammen mit den Vorräten auf dem Rücken tragen kann. Leider wird mir so auch bewusst, dass ich beim Weglaufen die Wasserflasche und das verpackte Essen verloren habe. Zeit fürs Bedauern bleibt nicht. Ich hänge mir den improvisierten Rucksack um und nehme Anlauf.

Zum Glück ist das Füllhorn am Ende recht flach. So gelingt es mir, den Schwung des Absprungs zu nutzen und die rückwärtige Kante des Dachs zu erwischen, bevor meine Schuhe auf dem glatten Untergrund abrutschen. Dennoch kostet es mich sämtliche Kraft, die Füße flach gegen das Metall zu drücken und den hinteren Teil des Horns zu erklimmen. Hätten die Spielmacher das Gebilde nur etwas rundlicher konstruiert, es gäbe keine Chance hinaufzuklettern.

Einmal oben, bleibe ich auf dem Bauch liegen und schiebe mich nur Stück für Stück vorwärts. Das Füllhorn ist von der Sonne ordentlich erwärmt, sodass ich schon einen Vorgeschmack auf die Temperaturen in der Arena bekomme. Immerhin etwas, das ich von zuhause gewohnt bin.

Bis auf einen Meter wage ich mich an die vordere Kante des Horns und damit dem höchsten Punkt heran, ehe ich anhalte und einen Blick in die Ferne riskiere. Ich will nicht nach unten schauen, zu den Schreien und dem Waffenklirren, aber es ist unmöglich, nichts davon zu erkennen. Auch wenn ich schnell den Kopf abwende – die Bilder brennen sich ein. Und dann erst die Gerüche, die Geräusche. Dagegen bin ich machtlos.

Hoffentlich muss ich nicht Pons Stimme hören, die sich vor Schmerz verzerrt! Dieser bloße Gedanke reicht. Verzweifelt presse ich die Hände auf meine Ohren, während ich die Luft anhalte, um die Eindrücke zumindest etwas abzumildern. Ich muss einen klaren Kopf bewahren!

Wenigstens hat das Klettern sich in einer Hinsicht gelohnt: Von hier oben habe ich einen fantastischen Überblick. Ich mache diverse Tribute in der Ferne aus, die sich rasch entfernen. Die meisten laufen vom großen Berg im Zentrum fort, geradewegs auf die Flüsse zu, die sich vom äußeren Bergring in das Tal winden, in dem wir uns gerade befinden. In der Ferne, hinter den Gipfeln, sehe ich sogar noch mehr Wasser in der Sonne glitzern. Sieht aus, als gäbe es da oben einen riesigen See. Einen blonden Schopf erkenne ich allerdings nicht.

Wartet Pon trotz unserer Abmachung in der Nähe auf mich? Oder musste er sich verstecken? Braucht er meine Hilfe?

Mit flauem Gefühl im Magen senke ich den Blick. Da ist Blut, so viel Blut – es klebt auf den Steinen, den Vorratskisten, auf herrenlosen Waffen im Steppengras ... Und dann sehe ich Shine, die inzwischen ein Schwert erbeutet hat und damit dem Mädchen aus Distrikt Sechs, das vor ihr weg krabbelt, von hinten in den Rücken sticht. Jemand lacht und ruft »Richtig schöner Kill!«.

Floyd.

»Schau erstmal, ob sie richtig tot ist«, mischt sich eine weitere Stimme ein – Maylin.

Da unten steht sie, nur einen guten Speerwurf vom Füllhorn entfernt. Ich könnte es einfach beenden, alle meine Sorgen vergessen –

»Oh komm schon, Shine, zieh es nicht unnötig in die Länge! Das reicht doch«, zischt Maylin in diesem Moment ihre Verbündete an, die sich auf ihr am Boden liegendes Opfer gekniet und dessen Kopf zurückgezogen hat, um ihm ein Messer an den Hals zu legen.

Shine hat ihren Mund dicht an das Ohr des kleinen Mädchens gelegt und flüstert irgendwas, doch sobald sie Maylin hört, hebt sie den Kopf. Sogar von hier aus erkenne ich den Zorn in ihren Augen. »Beweis du lieber mal, dass deine sieben Punkte wirklich ein Irrtum waren! Warum schaust du nicht, ob du Vier findest? Vorhin lief sie hier noch rum. Je eher sie weg ist, desto besser!«

Ein neues Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Hass. Auf Shine, auf das Kapitol, auf alles und jeden, der diese Spiele am Leben erhält. Und auf mich selber, weil ich tatenlos zusehe, wie Shine das Messer niederfahren lässt. Zeitgleich mit dem Schrei des Mädchens aus Sechs erklingt auch meiner.

Zu spät begreife ich den Fehler. Schon hat Shine mich erspäht. Grinsend zieht sie die Axt wieder aus ihrem Gürtel. Sie holt aus und wirft.

Ich denke nicht, ich rolle. Zur Seite, vom Dach hinunter. Mit den Füßen zuerst rutsche ich über die Kante des Füllhorns und rase auf den Boden zu. Unter meinen Händen erbebt das Metall, als die Axt dort aufschlägt, wo ich eben gekauert habe. Keine Sekunde später knalle ich auf die Erde. Der Aufprall raubt mir den Atem, aber dieses Mal halte ich nicht inne. Ich renne, schneller als je zuvor. Unter meinen Füßen fliegen die zurückgelassenen Vorräte nur so dahin, doch wie durch ein Wunder stolpere ich nicht erneut.

Wütende Rufe verfolgen mich, aber je weiter ich laufe, desto schwacher werden sie. Trotzdem halte ich das Tempo so lange, bis die Beine unter mir nachgeben wie Schilfrohr im Sturm. Ich breche einfach zusammen, mitten auf freiem Feld. Spitze Steine bohren sich in meine Knie und treiben mir Tränen in die Augen. Und dennoch erscheint mir die Erde unfassbar bequem. Hier könnte ich für immer liegen bleiben.

Keuchend rolle ich auf die Seite. Ein Teil von mir wartet nur darauf, dass Shine und die anderen mich einholen. Jeden Moment, denke ich, jetzt gleich wird alles schwarz ... doch es bleibt still. Nur der Wind und mein Atem pfeifen durch die Arena.

Schließlich schaffe ich es, mich aufzurappeln. Ich bin weiter gekommen, als ich je gedacht hätte. Das Füllhorn ist kaum noch zu erkennen – und wie ich feststelle, liegt es inzwischen unter mir. Ich bin nicht nur weg, sondern auch in die Höhe gelaufen. Die Arena ist ein Kessel, mit dem Startgebiet am Tiefpunkt. Nur der Berg direkt dahinter, der den wahren Mittelpunkt bildet, ragt daraus empor. Von dieser Position sehe ich, dass sein Gipfel gar keine Spitze ist, eher ein flaches Tableau. Es sieht aus, als hätte ein großes Schwert ihn geköpft.

Mit letzter Kraft schleppe ich mich zu einer Gruppe verdorrter Bäume, die am Ufer eines kleinen Bachs wachsen. Immerhin Wasser gibt es hier scheinbar im Überfluss. Von meiner erhöhten Lage aus erkenne ich das Muster der unzähligen Wasserläufe noch besser, die sich Adern gleich durch das trockene Land ziehen, bevor sie in der flachen Steppe versickern. Wer frisches Wasser will, muss also in die Berge kommen. Je näher an der Quelle man trinkt, desto größer die Chance, dass es keine bakteriellen Verunreinigungen gibt. Das konnte ich mir von dem Training an den Überlebensstationen mit den beiden Fünfern merken.

Keuchend befreie ich mich von meinem improvisierten Rucksack und lehne den Rücken gegen einen trockenen Baum. Wo Nora wohl ist? Ob wenigstens sie ihren Mittribut Circe gefunden hat? Ich weiß noch, wie wichtig ihr das war.

Tränen steigen in meinen Augenwinkeln herauf und ich lasse den Kopf in den Nacken fallen, damit sie keine Chance haben, mich zu überwältigen. Über mir ziehen Schäfchenwolken dahin, die an ein Gemälde erinnern. So friedlich ... Und still ist es ebenfalls geworden. Als wäre hier nie etwas Schreckliches geschehen.

Ein- und ausatmen, sage ich mir in demselben strengen Tonfall, den auch Amber anschlagen würde. Fokussiere dich auf das, was vor dir liegt, gesellt sich Floogs’ Stimme dazu. Du bist der Augenblick, nichts anderes zählt.

Ich taste nach dem Medaillon in der Innentasche meiner Jacke. Es ist noch da. Gut. Mein Herzschlag beruhigt sich langsam und ich erlaube mir einen Moment der Ruhe.

Was jetzt tun? Vermutlich sollte ich zuerst Trinkwasser sichern, bevor ich mich um einen Unterschlupf kümmere. Und erst dann brauche ich an Essen denken. Ohne das werde ich schließlich am längsten überleben.

Als ich die Zeltplane öffne, zittern meine Finger zum Glück nicht mehr so stark, sodass es mir bereits im dritten Anlauf gelingt, den Knoten zu entwirren. Zufrieden betrachte ich die Ausbeute – und schon bekommt meine Erleichterung einen Dämpfer. Die Wasserflasche! Warum habe ich sie nicht wieder aufgesammelt? Ausgerechnet! Dabei ist das doch eines der wichtigsten Dinge! Jetzt habe ich neben dem Speer nur noch Schnur, Feuerstahl und eine Metalldose.

Das Brennen in meinen Augenwinkeln meldet sich zurück, aber auch dieses Mal lasse ich es nicht zu, dass die Verzweiflung mich überwältigt. Eine Dose, das ist doch nicht schlecht. Daraus kann ich was machen!

Ich greife gerade nach dem kleinen Behältnis, da höre ich es – ein trockenes Knacken. Gleich zur Rechten, ein Laut wie der Tritt auf einen morschen Ast. Meine Hand schnellt zu dem Speer.

Das Herz klopft mir bis in den Hals, aber ich sehe niemanden. Da sind nur Bäume und Steine. Das »Wer ist da?« liegt mir bereits auf der Zunge, bevor ich begreife, wie lächerlich es wäre, diese Frage zu stellen. Natürlich wird mein Mörder nicht heraustreten und freundlich grüßen.

Einen Moment lang ringe ich mit mir, ehe ich einige Schritte in Richtung des Geräuschs gehe, den Speer angriffsbereit vor mir erhoben. Doch niemand stürzt auf mich zu, obwohl jeder sehen muss, dass meine Hände zittern. Vielleicht habe ich ja nur den Wind oder ein Tier gehört und gar keinen Tribut?

Wie auch immer, hierbleiben kann ich nicht. Zu groß ist meine Angst. Außerdem bin ich viel zu ungeschützt, zu nah am Füllhorn. Etwas länger werde ich ohne Trinken noch aushalten, bis ich mir eine Lösung überlegt habe. Und Pon muss ich schließlich ebenfalls finden. Also packe ich meine wenigen Sachen zusammen und mache mich wieder auf den Weg, dieses Mal in gemäßigtem Tempo.

Den Kameras zuliebe halte ich den Kopf erhoben. Sollen ruhig alle Sponsoren da draußen sehen, dass ich festentschlossen bin, meinen Mittribut wiederzufinden!

Lange bleibt mir diese Laune jedoch nicht vergönnt. Während ich einen Weg über Geröll und Steine suche, immer in der Nähe des Wassers, knallt es plötzlich heftig.

Bumm!

Der Boden unter meinen Füßen erbebt, so laut ist das Geräusch. Vor Schreck kauere ich mich flach auf die Erde, den Kopf in den Armen vergraben. Selbst mein überraschter Schrei schafft es nicht aus der Kehle.

Bumm!

Es dauert einen Augenblick, bis ich begreife – das sind die Kanonenschläge, für jeden toten Tribut einer.

Bumm!

Das Blutbad ist vorbei. Oh, ich hoffe so sehr, dass Pon nicht darunter ist ...

Bumm!

Ich halte den Atem an und zähle leise mit. Eins, zwei, drei, vier –

Bumm! Fünf.

Bumm! Sechs.

Bumm! Sieben.

Sieben also. Sieben tote Tribute. Ich weiß aus der Vergangenheit, dass das wenig ist. Trotzdem sind es zu viele. In diesem Moment bin ich unendlich froh, eine große Distanz zwischen mich und das Füllhorn gebracht zu haben.

Lange dauert es danach nicht, bis sich der Horizont rötlich färbt. Die erste Nacht in der Arena kriecht herauf und ich beschließe, mein Nachtlager in einer Flussbiegung aufzuschlagen, die von ein paar dornigen Büschen und großen, grau-braunen Steinblöcken umrahmt wird. Der Schutz könnte besser sein, aber mit etwas Geschick kann ich die Zeltplane vielleicht zwischen einem der Steine und dem einzigen Baum spannen, der sich traurig übers Wasser neigt.

Ich grabe ein kleines Loch unter den Baumwurzeln, in dem ich meine Sachen aufbewahre, bevor ich an den Fluss trete und prüfend schnuppere. So weit scheint alles normal, also ziehe ich Schuhe und Socken aus und strecke einen Zeh ins Wasser. Mein Herz trommelt wie verrückt, doch nichts passiert. Der Fuß fault nicht plötzlich ab und ich bekomme auch keinen entsetzlichen Ausschlag. Das kann in den Hungerspielen nämlich durchaus passieren ...

Weiterhin auf Vorsicht bedacht, stecke ich den kleinen Finger ins Wasser und lecke ihn ab. Salzig. Misstrauisch halte ich den Geschmack auf meiner Zunge. Flüsse sind für gewöhnlich nicht salzhaltig. Und wie Meerwasser schmeckt es auch nicht, sondern fast schon ... steril. Immerhin passiert nichts Schlimmes – aber trinkbar ist das Wasser leider nicht.

Mir entweicht ein Seufzen und ich schüttle für alle sichtbar den Kopf. »Salzwasser«, stelle ich fest, um meine Mentoren wissen zu lassen, warum ich nicht trinke. Vielleicht hat ja ein Sponsor Mitleid ...

Unsicher, was ich sonst tun könnte, wate ich ein paar Schritte in den Fluss, um mir den gröbsten Schweiß und Dreck abzuwaschen. Trockenes Salz auf der Haut ist zwar auch keine Freude, aber das bin ich von zuhause wenigstens gewohnt.

Zu meiner Überraschung ist der Fluss deutlich tiefer als angenommen, sodass es ein richtiges Bad wird. In den letzten Sonnenstrahlen lasse ich mich treiben, da spüre ich mit einem Mal einen Stupser am Fuß. Ruckartig paddle ich zurück in Richtung Ufer und sehe gerade so, wie etwas davonschwimmt. Ein Fisch! Und da – noch einer! Dicke, große Fische, deren Schuppen in allen Regenbogenfarben schillern!

Vor lauter Erleichterung stoße ich ein kleines Kichern aus. Das ist ja wie für mich gemacht!

Um die Fischen nicht unnötig aufzuscheuchen, klettere ich vorsichtig ans Ufer zurück und hole den Speer. Ein Glück habe ich wenigstens den erwischt, denn mit den Händen hätte ich es deutlich schwerer. Jetzt können die Sponsoren mein ganzes Können sehen, ich darf nur nicht zögern wie daheim. Es weiß ja keiner, dass ich mich sonst nie traue, die gefangenen Fische totzuhauen oder aufzuschlitzen.

Ich atme tief ein und denke nur an die glänzenden Fischleiber zu meinen Füßen. In Gedanken spreche ich eine Entschuldigung an sie aus, dann greife ich den Speer fester. Zack, gleitet die Waffe ins Wasser und spießt den ersten Fisch auf. Ich schaue nicht zu genau hin, als ich den zappelnden Leib von der Spitze ziehe und sein Leid mit dem Messer beende. Den Fang werfe ich ans Ufer, bevor ich weiter jage.

Wenn ich jetzt einen Vorrat anlege, ist das nur von Vorteil für die kommenden Tage. Sollte ich ein kleines Feuer anbekommen, kann ich den Fisch morgen trocknen und möglichst haltbar machen. Bei diesen aufmunternden Gedanken an ausreichend Essen beginne ich ganz von alleine an zu summen, so wie es bei der Arbeit daheim oft der Fall war.

Schlussendlich gelingt es mir, vier Fische zu erlegen. Mit dem letzten Fang in der Hand klettere ich aus dem Fluss und will schon das Messer ziehen, um die Tiere auszuweiden, da stocke ich. Auf dem Stapel liegen nur zwei Regenbogenfische. Aber ich bin sicher, vier gefangen zu haben. Ziemlich sicher.

Ich lasse den letzten Fisch fallen und packe meinen Speer mit beiden Händen. Das Knacken von vorhin kommt mir wieder in den Sinn. Was, wenn mich jemand verfolgt hat?

Der Boden ist zu trocken, zu hart, um Spuren zu erkennen, daher schleiche ich aufs Geratewohl los. Wenn ich ein hungriger Tribut wäre, würde ich mich hinter den Dornenbüschen verstecken. Und wer heimlich stiehlt, wird wohl kaum angreifen, oder?

Mit der Speerspitze schiebe ich die ersten Zweige beiseite. Was ich enthülle, verpasst mir allerdings einen herben Schlag: Ein kleines Mädchen kauert hinter den scharfen Dornen, Kratzer auf Händen und Gesicht. Aus großen Augen starrt es zu mir hinauf, den fehlenden Fischleib zwischen den Zähnen wie eine diebische Hafenkatze.

Mir wird sogleich klar, warum – die arme Kleine ist völlig ausgemergelt. Ihre Jacke schlackert um ihre schmalen Schultern und das, obwohl wir keine 24 Stunden in der Arena sind. Distrikt Drei, erinnere ich mich schwach. Sie und ihr Mittribut sahen von Anfang an bleich und kränklich aus. Das muss an dieser Krankheit liegen, die vor ein paar Jahren in Drei grassiert hat, weil die Menschen dort den Gerüchten nach zu wenig Bewegung und frische Luft bekommen.

Das Mädchen zittert und Tränen füllen seine rehbraunen Augen. Ich lasse den Speer sinken und gehe in die Knie. Vorsichtig lächle ich.

»Hey ... ich bin Annie. Keine Sorge, ich bin nicht böse, weil du den Fisch genommen hast. Aber weißt du was? Du musst ihn nicht roh essen. Gebraten schmeckt er viel besser! Was sagst du – sollen wir uns an einem Feuer versuchen?«

Ich bekomme keine Antwort. Stattdessen zittert die Kleine nur heftiger. Zaghaft hebe ich beide Hände, um ihr zu signalisieren, dass ich unbewacht bin.

»Ich tue dir nichts, versprochen.«

Der Fisch fällt zu Boden und die Tributin holt hektisch Luft. Sie pfeift wie ein Teekessel, während das Zittern immer stärker wird. Es schüttelt sie, dass die Zähne klappern und da wird auch mir klar, dass etwas nicht stimmt. Wie zur Bestätigung meiner schlimmsten Gedanken läuft der Kleinen plötzlich ein dünner, roter Faden aus dem Mund und über das Kinn. Blut.

Jetzt zittere ich ebenfalls. Mit fahrigen Händen greife ich nach den Schultern des Mädchens, ohne so recht zu wissen, was ich tue. »Hey ...«, flüstere ich noch einmal. »Alles wird gut ...«

Doch nichts wird gut, natürlich nicht. Das Blutgerinnsel wird stärker und schließlich bricht die Tributin zusammen. Hilflos bette ich ihren Kopf auf meinen Schoß. Was soll ich nur tun? Sie stirbt!

»Alles wird gut«, hauche ich wieder, obwohl ich diese Lüge vor der Arena selber gehasst habe. Aber andere, tröstende Worte wollen mir schlicht nicht einfallen. Ich kann die Kleine höchstens ablenken ... »Wie heißt du eigentlich?«, frage ich und greife nach ihrer Hand, die ich drücke, so fest es mir möglich ist.

Ein paar Herzschläge lang höre ich nur den feuchten Atem des Mädchens, dann würgt sie ein leises »Wyatt« hoch.

»Oh, das ist aber ein schöner Name. Also Wyatt, alles wird gut, ja? Bald bist du in Sicherheit ...« Sie nickt und ich drücke ihre Hand energischer. »Du bist sehr tapfer, weißt du das, Wyatt? So tapfer ...«

Ich weiß nicht, wie lange ich Wyatt in den Armen wiege, doch irgendwann lässt das Zittern nach. Aus ihrem rasselnden Atem wird ein leises Fiepen und dann ... wird es still. Ihre Lider bewegen sich nicht mehr. Sie ist tot, das begreife ich, bevor der Kanonendonner durch die Arena schallt.

Es gibt nichts, was ich hätte tun können und doch ... eine nach der anderen fallen meine Tränen auf Wyatts bleiche Wangen. Meinetwegen soll ganz Panem sehen, dass mir dieses kleine Mädchen aus Distrikt Drei, das ich kaum kannte, nicht egal war.

Eine ganze Weile sitze ich so da, unfähig zu begreifen, dass in meinen Armen ein totes Kind liegt. Doch dann erinnere ich mich, dass ein Hovercraft kommen wird, um Wyatts Leiche abzuholen. Wie in Trance stehe ich auf und trage ihren Körper auf die offene Ebene hinaus, weit weg von meinem Lager. Ich bette Wyatt in das spärliche Gras dort, auf den letzten Flecken, der von der Abendsonne erreicht wird. Die Friedlichkeit des Moments ist fort, womöglich für immer. Am liebsten würde ich schreien und nur der Gedanke an Pon, an meine Familie, an Finnick und die Mentoren, hält mich davon ab.

Zurück im Lager starre ich wütend die toten Fische an. Sogar ihr Tod war umsonst. Trotzdem schlitze ich einem von ihnen den Bauch auf, nur um ganz sicherzugehen. Das Fleisch ist unnatürlich violett, nicht so weiß wie der Fisch, den ich von zuhause kenne. Und jetzt, wo ich die Ruhe habe, erkenne ich auch die schillernden Schuppenmuster an ihren Kiemen, die scharfen Zacken an ihren Rückenflossen. Ich brauche nicht mehr an dem Fischfleisch riechen, um zu begreifen, dass es genauso giftig wie Feuerfisch ist.

Ausgerechnet. Was ein Lacher für die Zuschauer im Kapitol, wenn ich darauf reingefallen wäre! Aber wenigstens hätte es dann Wyatt nicht erwischt. Sie hat mir nur vertraut ... Es ist ein schwacher Trost, dass sie immerhin kein Opfer der Karrieros mehr werden kann. Schon im nächsten Moment hasse ich diesen Gedanken. Die Arena arbeitet bereits gegen mich, verändert alles an mir – erweckt das Monster.

Mechanisch grabe ich ein zweites Loch in die harte Erde, in dem ich die Fische verscharre. Anschließend rolle ich mich unter dem toten Baum am Flussufer zusammen. Für heute bleibt mir keine Zeit, ein anderes Lager zu finden. Ich hoffe nur, dass niemand das Hovercraft bemerkt, das Wyatt abholt. Inzwischen ist das letzte Licht endgültig fort und mir fehlt sogar die Kraft, aus der Zeltplane ein Dach zu bauen. Überhaupt fühle ich mich einfach nur ... leer. In diesem Augenblick ist mir alles egal.

Erst die lauten Töne der Hymne Panems schrecken mich noch einmal aus meiner Lethargie auf. Mitten vor den Sternen erscheint das Banner des Kapitols am Himmel, darunter in großen Lettern die Worte »Die Gefallenen«. Als wären die toten Tribute heldenhafte Opfer im Krieg gegen einen übermächtigen Feind, so wie jene, von denen unsere Lehrbücher in der Schule erzählen ...

Ich greife nach der Kette in meiner Jacke und ziehe sie heraus. Mit beiden Händen umfasse ich das Medaillon und streiche immer wieder über die glatte Rückseite, während ich mich auf das Schlimmste gefasst mache.

Das erste Gesicht am Himmel ist Wyatts. Ich starre zu dem Paar Augen hinauf, das auf ihrem Porträt noch so lebhaft funkelt ... Lauter Angelhaken scheinen in meinem Hals zu hängen, als das Bild verblasst. Darauf folgt der Junge aus Drei und danach ... Distrikt Sechs, das Mädchen.

Ich atme aus. Pon ist irgendwo da draußen, am Leben. Das ist alles, was mir momentan wichtig sein darf. Ich kann mich nur einmal für jemand anderen opfern und das wird er sein. Gerade jetzt, wo Wyatt an meiner Stelle gestorben ist.

Dumpf schaue ich zu den übrigen Toten hinauf. Das Mädchen aus Acht, gefolgt von den Jungen aus Zehn und Elf. Beide aus Zwölf. Erschöpft schließe ich die Augen und schlafe zum Klang der Landeshymne ein.

 

 
 

Die 70. Hungerspiele – Liveticker

Dauer: 0 Tage, 10 Stunden, 32 Minuten || Gefallen: 8 || Am Leben: 16

 

Neue Allianzen

»Guten Morgen, Kapitol! Ich hoffe, Sie haben eine genauso geruhsame Nacht gehabt wie unsere Tribute. Denn ich kann Sie beruhigen, noch hat sich nichts verändert. Dafür haben wir heute Morgen einen ganz besonderen Ehrengast im Studio: Begrüßen Sie mit mir unseren geschätzten obersten Spielmacher, Victorius Savage!

 

Danke, Caesar. Es ist eine Freude, wieder hier sein zu dürfen und über mein Lieblingsthema reden zu können – die Arena. Auch in diesem Jahr habe ich mich besonders darauf gefreut, diese endlich enthüllen zu dürfen.

 

Oh ja, das kann ich nur zu gut verstehen. Immerhin fällt euch Spielmachern jedes Jahr wieder etwas ganz Neues, Aufregendes, Umwerfendes ein! Allein schon die ersten Einblicke, die wir gestern bekommen haben ... versprechen große Spannung. So eine große Arena hatten wir lange nicht mehr, oder?

 

In der Tat. Diese Arena ist eine der fünf größten seit Anbeginn der Hungerspiele. Alleine der Berg in der Mitte hat den Umfang des ursprünglichen Stadions, in dem die ersten Spiele stattfanden. 70 Jahre Hungerspiele, das ist schließlich eine Hausnummer, auch wenn es kein Jubeljubiläum ist. Aber mit etwas Besonderem sollten wir dennoch feiern, finde ich.

 

Absolut, das klingt nach einer fabelhaften Idee! Nun, können wir vielleicht schon einen kleinen Einblick bekommen in das, was noch so auf die Tribute warten könnte? Salziges Flusswasser ist doch sicher erst der Anfang, nicht?

 

Nun, wenn du so fragst, Caesar ... Nein. Bedauere, aber aus mir bekommst du nichts heraus. Für den Anfang sollten wir doch erst mal beobachten, wie die Tribute sich untereinander machen, findest du nicht? Immerhin gibt es genug Allianzen, die unsere Aufmerksamkeit verlangen.«

 
 

*

 

Unbarmherzig pfeift der Wind durch die Arena und weht mir Steinchen und Staub ins Gesicht. Es fühlt sich an wie hunderte kleiner Messer, denen ich nicht ausweichen kann. Ich halte die Arme über den Kopf; versuche, die Kapuze festzuhalten, aber es nützt nichts. Der Sturm wird nur noch stärker. Am Himmel ziehen immer mehr dunkle Wolken auf und die knorrigen Bäume in der Nähe werfen ihre schaurigen Schatten in meine Richtung.

Und dann sehe ich sie. Ihre bleichen Gesichter schauen durch das Geäst zu mir und Nebel liegt über ihren Schultern wie ein Umhang. Sie erinnern mich an die Geister aus den Schauergeschichten, die von alten Frauen am Hafen erzählt werden. Schon tot und dennoch mit unserer Welt verbunden, Rache im kalten Herzen ...

Aber die Karrieros sind nicht tot, die Waffen in ihren Händen real. Shines blondes Haar bauscht sich im Wind auf, sie lacht und das Blatt ihrer Axt leuchtet im Schein eines fernen Blitzes auf. Sie sind da. Gekommen, um es zu beenden. Unbemerkt haben sie mich eingekreist und kommen nun immer näher. Shine von vorne, die Jungs zu den Seiten, Maylin in meinem Rücken. Der Speer in meinen Händen bebt. Ich will schreien. Weinen. Aber ich kann nicht. Ich bin gefangen in mir selber, unfähig einen Muskel zu regen. Da ist nur noch Zittern.

Die Karrieros mustern mich, grinsend, lachend. Blut klebt auf ihren Gesichtern, in ihren Haaren, an ihren Händen. Es läuft aus Shines Mund über ihre vollen Lippen, als sie lächelt. Es tropft von den Klingen ihrer Waffen, die nur darauf warten, sich auch mit meinem Blut zu tränken.

Doch was ist das? Da ist ein weiteres Gesicht, ganz blass zwischen den anderen, umrahmt von wilden, blonden Locken. Zwei grüne Augen unter lauter Sommersprossen begegnen meinen. Das ist Pon! Pon?

Was macht er dort? Warum steht er in Reih und Glied mit den Karrieros? Ich reiße den Mund auf und will »Lauf!« schreien – aber nichts geschieht. Nur der Wind pfeift durch die Arena. Noch einmal versuche ich es –

Pon schüttelt den Kopf. Er hebt selber einen Speer und tritt direkt neben Shine, die ihm lachend eine Hand entgegenstreckt. Er ergreift sie ohne Zögern. Erst jetzt, aus der Nähe erkenne ich das Blut auf Pons Kleidern; die Spritzer auf seinem Gesicht, die gar keine Sommersprossen sind. Shine streichelt darüber, mit Fingernägeln, die in rasiermesserscharfen Krallen enden.

»Er gehört jetzt mir«, säuselt sie – oder ist es der Wind, der mir die Worte zuflüstert? Ich weiß es nicht.

Ich habe so viele Fragen, will Pon anschreien, vielleicht auch Shine anflehen, mich zu verschonen, nur weigern sich meine Stimmbänder beharrlich. Alles, was mir bleibt, ist die Augen zu schließen. So werde ich also sterben?

Kalter Schmerz breitet sich in meiner Brust aus, als Pons Speer durch meine Rippen geradewegs ins Herz gleitet. Ich habe verloren. Ich habe Pon verloren.

Das Letzte, was ich höre, als das Nebelgrau in ewige Schwärze eintaucht, ist der Donner eines Kanonenschlags, der die Erde unter meiner Wange erzittern lässt ... Bumm!

 

Ich reiße die Lider auf. Ein Schrei erstickt in meiner Kehle, so trocken wie der Boden ringsum. Über meine eingerissenen Lippen dringt nur ein leises Krächzen. Dunkelheit drückt mir schwer auf die Augen – doch halt, da ist ein schwacher, rosa Streif in der Ferne! Langsam schälen sich erste Schatten aus der Nacht. Steine, verkümmerte Bäume ... Wo bin ich? Ist das hier das Ende?

Mit zitternden Fingern betaste ich meinen Oberkörper. Unversehrt. Kein Speer steckt zwischen den Rippen, nur das Herz dahinter rast hemmungslos. Selbst als ich die flachen Hände gegen das Brustbein drücke, will es sich kaum beruhigen. Aber ich lebe noch. Und mit der Rückkehr dieses Gedankens weiß ich sofort wieder, wo ich bin. In den 70. Hungerspielen. Ich lebe, atme und der rosa Streifen am Horizont ist der erste Vorbote der Sonne. Es wird Morgen und damit bricht schon der zweite Tag in dieser Arena an.

Alles andere war nur ein Albtraum. Es gibt keinen Sturm, Nebel oder Karrieros in der Nähe. Das einzig Reale an meinem Traum war ... der Kanonenschlag.

Jemand ist gestorben.

Mein Herz, das sich ohnehin nicht beruhigt hat, schlägt noch schneller. Ich springe auf und raffe, so rasch es geht, die wenigen Sachen vom Füllhorn zusammen. Je eher ich hier weg bin, desto besser. Wer weiß schließlich, wo der Tod gerade zugeschlagen hat. Sind es die Tribute oder womöglich die Arena gewesen, die ein Opfer gefordert haben? Das alles will ich gar nicht herausfinden.

Ich muss Pon finden, um die Chance zu nutzen und sein Leben zu retten. Bevor er den Karrieros in die Hände fällt. Oder ich.

Eilig verwische ich die Spuren meines Nachtlagers in der staubigen Erde mit einem losen Zweig, dann mache ich mich auf den Weg. Eine Weile folge ich dem salzigen Fluss weiter weg vom Füllhorn, doch schnell wird der Aufstieg immer anstrengender. Schwarze Flecken tanzen vor meinen Augen und trüben die Pracht des falschen Sonnenaufgangs.

Trinken. Ich muss etwas trinken. Dringend. Nur wo? Es fällt mir schwer, zu denken, solange meine Zunge schleifpapierartig gegen den Gaumen reibt und jedes Schlucken Nadelstiche bedeutet. Dabei ist dies erst der Anfang!

Schlussendlich beschließe ich, ab sofort parallel zu den Bergflanken zu laufen, von denen die Arena begrenzt wird. Von so weit oben habe ich eine hervorragende Aussicht ins Tal und kann im Voraus erkennen, ob sich ein Tribut nähert. Und irgendwo in diesem Gebiet hält sich hoffentlich auch Pon auf, wenn er so weggelaufen ist, wie wir es besprochen haben. Und zu guter Letzt wird es hier sicher Wasser geben.

Egal wie widrig die Umstände sind, mit etwas Köpfchen konnten die Tribute in allen bisherigen Arenen Essen und Trinken finden. Also halte ich an jedem Bächlein an und teste vorsichtig das Wasser. Aber überall das gleiche Bild: Salzwasser. Ich muss gar nicht mehr probieren, es reicht, wenn ich mir mit dem feuchten Zeigefinger über die Lippen fahre. Sofort brennt das Salz in den vielen kleinen Rissen darauf.

Als wäre das nicht Pech genug, steigen die Temperaturen gemeinsam mit der Sonne in die Höhe. Nicht, dass es kalt war in der Nacht, aber immerhin kühler. Jetzt fange ich schnell wieder an zu schwitzen und binde mir sogar die Jacke um die Hüften, damit ich nicht bald meinen Schweiß trinken muss. So verzweifelt bin ich noch nicht, auch wenn die vielen, verheißungsvoll glitzernden Flüsse das Kratzen im Hals nur verschlimmern.

Lange halte diesen Marsch leider nicht durch. Immer wieder muss ich Rast machen. Ich versuche, die Pausen so kurz wie möglich zu gestalten und mich nur an Bäumen oder großen Steinblöcken anzulehnen. Wenn ich erst einmal sitze – oder mich gar hinlege! – werde ich nie wieder aufstehen. Zu verlockend ist der Gedanke, die Augen zu schließen und all das Elend hier hinter mir zu lassen. Denn je ruhiger die Arena wird, desto mehr Zeit bleibt mir, über das Blutbad am Füllhorn nachzudenken. Dann spüre ich meinen Angriff auf Neun wieder in den Knochen, höre das Krachen von Shines Axt, die eben solche durchtrennt ... Und erst der Geruch! Eisen, Erde – Blut. Ein Windhauch reicht, um alles wachzurufen.

Trotzdem ist es, als liege ein Nebel über meinen Erinnerungen, der sie verwischt. Bis ein Sonnenstrahl mich trifft und für ein paar Sekunden die Wahrheit in gleißendes Licht hüllt. Immer dann breche ich die Rast ab und gehe weiter, sorge selber für die Geräusche von Schritten, die jeden Gedanken ablenken. Ich darf nicht nachdenken, weder über die Karrieros noch das, was kommen wird, wenn ich Pon erst gefunden habe. Das treibt mich nur in den Wahnsinn.

Begegnen tut mir in den kommenden Stunden zum Glück nichts und niemand. Nicht einmal ein Vogel dreht am Himmel seine Runden. Bei allem, was ich weiß, könnte ich das letzte Lebewesen auf Erden sein. Daran kann auch das Wissen um die vielen Kameras – die ich nicht als solche erkennen kann – nichts ändern. Vielleicht kommentieren Caesar und Claudius gerade brüllend das Geschehen, unterlegt von spannungsvoller Musik – ich werde es nie erfahren. Eventuell sieht mir auch nur Finnick zu, das ist in jedem Fall der schönere Gedanke. Lächelnd taste ich nach der Kette in meiner Jacke. Er wird wissen, was das bedeutet.

Unten am Füllhorn tut sich derweil nichts. Ich sehe es in der Ferne schwach glänzen, doch kein Tribut ist zu erspähen. Vermutlich sind die Karrieros weitergezogen, bis an die Zähne bewaffnet und mit allen nur erdenklichen Vorräten ausgestattet.

Im frischen Sonnenlicht mache ich dafür weitere Details des Geländes aus: Rund um den abgeflachten Berg in der Mitte zieht sich ein schmaler Ring aus Bäumen. Grüne Laubbäume. Auch das Gras scheint an den glatten, steilen Bergflanken viel lebendiger als hier draußen in der Einöde. Da unten muss es Süßwasser geben. Natürlich – die Spielmacher wollen, dass wir einander begegnen. Alles hat in der Arena seinen Preis und der ist meist das Leben.

Aber es muss einfach eine alternative Lösung geben. In der Mitte werde ich Pon nicht treffen, schließlich haben wir eine andere Abmachung, und direkt nach meinem Albtraum will ich jede Begegnung mit den restlichen Tributen vermeiden, egal was Snow von mir verlangt. Für Maylin finde ich später hoffentlich eine Lösung, vielleicht mit Pon zusammen. Also ziehe ich schweren Herzens weiter.

Gegen Mittag wird die Sonne derart erbarmungslos, dass ich doch zu einer längeren Rast gezwungen werde. Meine Arme sind bereits hummerrot und ich fühle mich auch genauso wie eines der bedauernswerten Schalentiere, wenn sie abends im Kochtopf landen. Das war mir schon immer zuwider und wäre die Rückkehr mein Ziel, würde ich nach dieser Erfahrung wohl nie wieder Hummer anrühren.

Ich lehne mich im Schatten gegen einen Felsen. In der Nähe wachsen ein paar ledrig anmutende Pflanzen, deren Blätter geformt sind wie die Schwertklingen im Trainingscenter und die in alle Richtungen abstehen. Sie haben einen scharfen Knick in der Mitte und allesamt laufen sie in einem dicken, knorrigen Stamm zusammen. So ein Gewächs habe ich nie zuvor gesehen. Vermutlich hätte ich Nora in der Vorbereitung noch besser zuhören sollen, dann wüsste ich jetzt etwas damit anzufangen. Aber alles, woran ich mich erinnere, ist die Behauptung, dass es in der Wüste von Distrikt Fünf Pflanzen gibt, die Wasser speichern. Unweigerlich frage ich mich, ob mein Glück wohl so unverschämt ist.

Die Blätterform scheint mir jedenfalls perfekt, um Tau aufzufangen. Durch die Art Rinne könnte das Wasser in Richtung des Stammes laufen und von da ins Wurzelwerk weitergeleitet werden. Kurzentschlossen stupse ich das Gewächs mit meinem Speer an. Es raschelt leise, mehr nicht. Mutiger besehe mir die Pflanze aus der Nähe.

Tatsächlich gibt es zwischen den einzelnen Blättern so eine Art Kammer – und als ich eine der grünen Klingen mit der Speerspitze nach unten drücke, öffnet sich der Spalt weit genug, damit ich die kleine Pfütze darin erkenne. Wasser! Ich habe Wasser gefunden!

Gierig sinke ich vor der Pflanze auf die Knie und biege das erstaunlich scharfkantige Blatt so, dass die ersten Wassertropfen direkt auf meine Zunge fallen. Einen Moment halte ich inne und teste den Geschmack. Oh, es ist himmlisch! Nicht mal das gefilterte Wasser aus dem Kapitol schmeckt so gut wie diese abgestandene kleine Pfütze.

Da sich meine Zunge nach dieser Kostprobe erst recht pelzig anfühlt, trinke ich hastig den Rest des Blatts aus, bevor ich zu einem Zweiten übergehe und schließlich einem Dritten, einem Vierten ... Es ist furchtbar anstrengend, doch ich höre erst auf, als mein Bauch schmerzt. Erschöpft rolle ich auf die Seite und erlaube mir drei Atemzüge mit geschlossenen Augen, bevor ich mich aufsetze.

Weiter, immer weiter. Nicht anhalten, nicht zu viel nachdenken. Jetzt brauche ich ein Behältnis, um Wasser mitzunehmen, sonst habe ich bald wieder dasselbe Problem. Meine Wasserflasche habe ich je leider bei der Flucht vom Füllhorn verloren, aber vielleicht kann ich mir anders helfen.

Ich knote die Zeltplane auseinander, die ich als provisorischen Rucksack und Tragegurt für den Speer benutze. Die gestrige Ausbeute bleibt überschaubar: Eine leuchtend orange Schnur, ein kleiner Feuerstahl zum Funkenmachen und eine Metalldose. Neugierig öffne ich Letzteres. Ein paar helle Kräcker mit Sesam gucken mir entgegen. Na toll. Davon bekommt man höchstens mehr Durst.

Wobei ...

Die Dose ist nicht so praktisch wie eine Flasche, aber besser als nichts. Vermutlich wird sie nicht dichthalten, also muss ich sie eben fest in die Plane einwickeln. Zum Glück ist es ein schön großes Stück, was ich erbeutet habe, bestimmt zwei mal drei Meter. Mit dem Messer schneide ich eine Ecke aus dem Gewebe heraus, dann befülle ich die Dose bis zum Rand mit Wasser aus der Pflanze und schnüre sie fest ein, bevor ich das Bündel wiederum in meinem großen Sack verpacke.

Damit ist die Pause beendet. Voller frischer Energie mache ich mich wieder auf den Weg, den Speer fest in der Hand. In diesem Geröll kommt er mir recht, denn ich kann ihn nicht nur als Waffe, sondern auch als Wanderstock benutzen. Das spart zumindest etwas Kräfte.

Ich bin kaum fünfzig Meter gegangen, da wird meine neugewonnene Zuversicht jedoch sogleich zerschlagen. Plötzlich fliegen ein paar Vögel, die ich bis eben gar nicht wahrgenommen habe, aus den umstehenden Bäumen auf – und fliehen vor einem Schrei, der über die Erde hallt, erschrocken und panisch.

In der darauffolgenden Stille wirkt mein Atem doppelt so laut. Woher kam das Geräusch? Wie weit war es weg? Ich kann nichts davon mit Sicherheit sagen. Nur eines weiß ich – es war eine weibliche Stimme. Nicht Pon!

Noch so ein Gedanke, für den ich mich im selben Moment schäme. Ein Glück, dass die Zuschauer diese nicht lesen können. Ich wette, sie würden gerne, aber wenigstens das gehört alleine mir. Wahrscheinlich können sie sowieso die Erleichterung auf meinem Gesicht deuten.

Als will die Arena mich bestrafen, zerreißt in diesem Moment auch schon ein Kanonenschlag die empfindliche Stille. Und das war es nicht – darauf folgt ein schriller Jubelschrei. Nah. Ganz nah. Zu nah. Er kommt von hinten.

Ich springe über den nächstbesten Stein zu meiner Seite und kämpfe mich weiter die Steigung hinauf. Nur ein, zwei Speerlängen dahinter liegen ein paar entwurzelte Bäume am Hang, die Schutz bieten dürften.

Atemlos quetsche ich mich mitsamt Speer und Rucksack in einen Spalt zwischen dem Totholz. Ein paar feuerrote Ameisen finden den Weg auf meine Haut und ich unterdrücke ein Keuchen. Ein grässliches Jucken breitet sich in Nacken und auf den Händen aus, doch ich gebe keinen Mucks von mir, denn schon kommen Stimmen näher.

Vor Aufregung beiße ich mir auf die Unterlippe, dass es blutet. Ich schlucke und presse mich fester in mein Versteck. Es sind gleich mehrere Tribute, bestimmt drei, wenn nicht sogar vier – aber Shines melodische und doch scharfe Stimme ist nicht darunter. Dann können es nicht die Karrieros sein, oder?

Durch ein altes Astloch einige Zentimeter neben mir fällt Licht herein und ich schiebe mich so leise wie möglich näher heran, um einen Blick zu erhaschen. Nur ein paar Schritte entfernt kommen sie aus dem Schutz einer von Felsen gerahmten Passage, die ich vor kurzem erst hinter mir gelassen habe – vier Tribute. Es sind wirklich nicht die Karrieros, was gut ist. Rote Spritzer kleben an ihren Stiefeln, was schlecht ist.

Die Truppe ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Ganz vorne erkenne ich den Freiwilligen aus Neun mit gesenktem Haupt. Er humpelt leicht, aber das ist eher Floyds Angriff im Trainingscenter geschuldet denn mir. Unsere Begegnung am Füllhorn scheint er gut verkraftet zu haben. An seiner Seite geht die Tributin aus Distrikt Sieben, deren rote Locken wild im Wind wehen. In der Hand hält sie ein offenbar notdürftig gesäubertes Schwert, das sie lachend durch die Luft wirbelt. Das Schlusslicht bilden plaudernd das Mädchen aus Neun und der Junge aus Acht.

»Oh man, ich würde jetzt zu gerne die Gesichter der Zuschauer sehen«, frotzelt Neun. »Bestimmt sahen die genauso aus wie Elf eben!«

»Tja, geschieht denen recht, die nicht mit uns gerechnet haben!« Die Siebenerin grinst und reckt eine Faust gen Himmel. »Jetzt gibt es ein neues Favoritenbündnis, hört ihr? Eure kleinen Lieblinge sollten sich besser warm anziehen!«

Die anderen stimmen mit Gelächter und gereckten Waffen in ihre Ansprache ein.

Ich halte den Atem an. Die brennenden Ameisen auf mir sind vergessen, dafür sorgt ein eisiger Schauer mein Rückgrat hinab. Noch mehr Gegner, die zusammenarbeiten, das hat mir gerade gefehlt!

Da hält Sieben inne. »Hey Dean«, wendet sie sich an den Neuner neben ihr, »gibt’s was Neues? Hast du die Spur vom Fluss wiedergefunden?«

Er schüttelt den Kopf.

»Verdammt! Bist du dir sicher? Die Fußabdrücke waren doch noch frisch!«

Unwirsch zuckt der Tribut namens Dean mit den Schultern. »Die Sonne hat die Erde quasi gebacken. Die ist so hart, da erkennt man gar nichts mehr. Oder siehst du etwa deine eigenen Spuren?«

Sieben lässt den Blick schweifen. Alles in mir schreit, dass sie bloß nicht hergucken soll. Ich schließe sogar für einen Moment die Augen, als sie mein Versteck streift. Ist das Astloch nicht viel zu groß? Wenn ich sie erkennen kann, dann wird sie mich doch bestimmt auch sehen –

»Also schön, sollen wir weiter oder meint ihr, wir sollten uns umsehen?«, fragt die Tributin ihre Verbündeten.

Dean folgt ihrem Blick. Wie schon das Mädchen aus Sieben mustert er mein Versteck, vielleicht einen Moment zu lang. Ich wage es nicht erneut, die Augen zu schließen. Genau wie in meinem Traum, bin ich gefangen in meinem eigenen Körper und kann nur darauf warten, dass der Augenblick vergeht. Mir ist, als würde ich dem Neuner geradewegs in die Augen starren.

Schon sehe ich, wie der Junge seine Hand hebt. Bitte nicht! Alle Vorsicht ist vergessen, ich schüttle panisch den Kopf. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, doch in meiner Verzweiflung fahre ich mir mit einem Finger über die Kehle. Als wolle ich dem Tribut, der sicherlich nichts davon sieht, drohen.

»Wer hier ist, muss dumm sein«, höre ich ihn da sagen. »Die Ebene ist viel zu offen. Lass uns weitergehen, Vic.«

»Na schön. Ich vertraue deinem Urteil.«

Lärmend setzt sich die Gruppe wieder in Bewegung. Es scheint Stunden zu dauern, bis sie endlich an mir vorbei sind. Zitternd verharre ich in meiner unbequemen Position und schlinge die Arme schutzsuchend über den Kopf, selbst als ihre Geräusche längst verklungen sind. Erst nachdem ich ganz sicher bin, dass die Stille echt ist, wage ich mich aus dem Schutz des Totholzes.

Ich kann gar nicht begreifen, was passiert ist. Schon wieder bin ich dem Tod so nah gekommen – und habe selber zum zweiten Mal in zwei Tagen den Gedanken gehabt, ein Leben zu beenden. Auch wenn ich es nie geschafft hätte, alleine dass diese Geste in dem Moment meine erste Wahl war, ängstigt mich. Gibt es wirklich noch Hoffnung?

Mit abgehackten Bewegungen befreie ich die Kette aus meiner Jackentasche und wickle mir die Glieder so eng um die Hand, dass es einschneidet. Dafür ruhen das Medaillon und Finnicks Fisch fest in meiner Faust, eine stete Erinnerung an das, was wichtig ist. Ich schaue kurz zum Himmel und damit hoffentlich zu allen geliebten Menschen, dann setze ich den Weg in eine andere Richtung fort.

 

 
 

Die 70. Hungerspiele – Liveticker

Dauer: 1 Tag, 7 Stunden, 16 Minuten || Gefallen: 10 || Am Leben: 14

 

Stein um Stein

»Der zweite Tag in der Arena neigt sich dem Ende – und somit darf ich Sie, werte Zuschauer, zu unserer ersten Arenanacht Talkrunde begrüßen! Während die Tribute langsam in den Schlaf driften, werden wir die Geschehnisse der ersten Tage für Sie rekapitulieren. Und natürlich sind auch in diesem Jahr wieder wunderbare Gäste mit dabei: Hier sind Seeder Howell aus Distrikt Elf und Johanna Mason aus Sieben für Sie!

Also, zunächst einmal ... mein herzliches Beileid, liebe Seeder, für den Verlust deiner beiden Tribute. Es betrübt mich, zwei so talentierte junge Menschen so früh gehen zu sehen.

 

Danke, Caesar. Aber dein Beileid sollte nicht uns Mentoren gelten, sondern den Familien, die ihre Kinder verloren haben. Wir haben nur unser Bestes getan, sie auf das Überleben vorzubereiten. Aber manchen Mächten ist man alleine nicht gewachsen, fürchte ich.

 

Haha, oh natürlich, meine Liebe, denen gilt unser aller Beileid selbstverständlich ebenso. Nicht wahr? Da können Sie ruhig mal applaudieren, meine Damen und Herren, lassen Sie alle in Distrikt Elf unser Mitgefühl wissen!

Und Macht ist definitiv das richtige Stichwort, Seeder – bei einem Namen wie Victoria Mason hätten wir alle wohl mit einer Überraschung rechnen müssen, oder was meinen Sie, wertes Publikum? Wir waren ein wenig naiv, dass wir bei so einer ausgezeichneten Mentorin – und Cousine! – wirklich an sechs Punkte im Training geglaubt haben, nicht?

 

Tja, Caesar, wessen Schuld ist das wohl, wenn die beschissene Strategie gleich zweimal aufgeht? Ich bin es nicht, die Vic unterschätzt hat, so viel ist sicher. Vielleicht hättest du mal andere Fragen im Interview stellen müssen? Oder noch viel einfacher – nicht von vornherein auf Distrikte wie unseren herabgesehen! Warum hat Vic denn nur sechs Punkte bekommen und so eine hohle Nuss wie die aus Vier gleich acht? Weil sie hübscher ist? Können tut die nix Besonderes! Das ist einfach nur Bevorzugung!

 

Oho – so kennen wir unsere Johanna, was? Immer gleich den Finger in die Wunde legen!

 

Ist ja auch nichts leichter als das, mit Wunden kenne ich mich schließlich aus.

 

Nun, ähm – Seeder! Was sind denn deine Gedanken zu dem neuen Bündnis in der Arena?

 

Ja ja, würg mich nur ab! Warum schleift ihr mich überhaupt ins Studio, wenn ich nix sagen darf? Leckt mich!«

 
 

*

 

Gen Abend schlage ich wieder ein Lager auf, dieses Mal in einer Senke zwischen zwei Felsen. Die Verkündung der Gefallenen bekomme ich gerade so mit, doch mein Körper verlangt seinen Tribut für den anstrengenden Tag. Jeder Knochen tut weh, meine Kehle schreit wieder nach Wasser – von dem ich ihr nur wenig gönne – und die Müdigkeit ist trotz aller Erlebnisse lähmend. Ich finde nicht einmal die Kraft, einen der Kräcker vom Füllhorn zu essen.

Als die Hymne ertönt, liege ich mit dem Rücken auf dem Steinboden, der mir inzwischen so bequem vorkommt wie das Bett daheim, und habe die Hand mit der Kette fest gegen meine Brust gedrückt. Ich kann ein Seufzen nicht unterdrücken.

Der erste Tribut, der heute Morgen sein Leben gelassen hat, kam aus Distrikt Sechs. Sein Gesicht verschwimmt bereits im Moment des Erscheinens vor meinen Augen und ich sehe das Porträt von Elf nicht einmal richtig. Sogar die Scham angesichts der Erleichterung über den Tod dieser Tribute hat keine Chance, mich wachzuhalten.

In der Nacht bleibe ich zwar nicht von Albträumen verschont, doch so graphisch wie letztes Mal werden sie nicht und so bin ich nach dem Erwachen einigermaßen ausgeruht. Der Sonnenaufgang ist allerdings noch fern, als ich mir die Augen reibe. Nur ein paar dicke Nebelschwaden hängen im Zwielicht an den Bergflanken und rauben mir die Sicht. Die grauen Schleier wecken böse Bilder aus meinem Traum – aber gleichzeitig bedeuten sie auch, dass der Feind weniger sieht.

Und noch etwas Gutes bringt der Nebel mit sich: Raureif hat sich über Nacht auf meiner Jacke und der Zeltplane niedergelassen. Ein Geschenk der Arena. Vorsichtig breite ich die beiden Sachen aus, damit sich die Tropfen in ihrer Mitte sammeln. Es ist nicht viel, aber es reicht für den Anfang. Im Vergleich zu dem abgestandenen Wasser aus der Pflanze schmeckt dieses hier herrlich frisch und ich vergesse, dass mir das ganze Land dabei zusieht, wie ich an dem beschichteten Stoff lutsche.

Hungrig bin ich hingegen kaum. Gestern hat mein Magen noch leise geknurrt, doch seit der Begegnung mit den anderen Tributen ist das vorbei. Trotzdem muss ich essen. Ohne Nahrung wird meinem Körper bald die Energie für die einfachsten Aufgaben fehlen. Also mache ich mich über das Paket Kräcker her. Für den Anfang wird eine Portion hoffentlich reichen. Das keksartige Zeug bröselt fürchterlich und schmeckt wie Pappe, was in diesem Moment jedoch gelegen kommt. Davon wird mir wenigstens nicht schlecht.

So gestärkt begebe ich mich wieder auf die Suche nach Pon. Ich komme nur langsam voran, denn mitten im Nebel erscheint jedes Steinchen, das unter meinen Stiefeln wegrutscht, unendlich laut, und die geisterhaften Schwaden erschweren es, den besten Weg zu finden. Alle paar Meter halte ich inne und lausche.

Verfolgt mich ein anderer Tribut? Ist jemand in der der Nähe?

Zum Glück bleibt es ruhig. Trotzdem wechsle ich öfter die Richtung, sodass ich im Zickzack über die Bergflanke irre.

Mir scheint, dass ich bereits Stunden unterwegs bin, als endlich das erste Morgenlicht den Boden erreicht. Womöglich ist es auch schon deutlich später – die Hitze steigt jedenfalls rasch an, sobald der Nebel unter den Sonnenstrahlen aufbricht. Über Nacht war es angenehm, vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig Grad. Genug, dass ich in der Jacke nicht ausgekühlt bin. Doch jetzt wird es immer mehr. Dagegen war es gestern noch richtig lau. Wollen uns die Spielmacher bereits nach so kurzer Zeit beeinflussen?

In der Arenamitte dürfte es wärmer sein, aber dafür gibt es dort sicherlich Trinkwasser in rauen Mengen. Ich finde zwar im Laufe des Vormittags eine weitere wasserspeichernde Pflanze, die Ausbeute ist allerdings kläglich und reicht gerade so für mich. Wenn das so weitergeht, werde ich meine Kräfte aufsparen müssen.

Ich bin so schon langsam und versuche mir ein ums andere Mal, das Keuchen zu verkneifen. Dafür ist die anhaltende Stille zu unheimlich. Bei jedem Steinchen, das in die Tiefe rollt, zucke ich zusammen und fürchte, als Nächstes einen Kanonenschlag zu hören.

Genauso sind meine Muskeln ständig angespannt, jederzeit bereit, mir die Arme über dem Kopf zusammenzuschlagen und mich an Ort und Stelle hinzukauern. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Das Warten auf den unvermeidbaren nächsten Donner oder der Schreck, wenn es wirklich so weit ist. In manch totenstillen Momenten wünsche ich mir die Kanone fast schon herbei.

Doch diesen Gefallen tut mir die Arena nicht. Die Sonne senkt sich bereits wieder, als ich feststelle, in den letzten Tagen ein gutes Viertel des Talkessels umrundet zu haben. Das Füllhorn liegt jetzt in meinem Rücken, sodass ich es bald gar nicht mehr sehen werde, wenn ich weiter der Bergkante folge.

Auf der Rückseite der Arena werde ich Pon bestimmt nicht finden, solange er sich an unseren Plan hält. Abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, dass er den Berg überhaupt vor mir umrunden könnte. Weiterziehen hat also wenig Sinn, weshalb ich beschließe, umzukehren und dieses Mal noch weiter oben zurückzuwandern. Vielleicht habe ich beim ersten Mal etwas übersehen oder Pon knapp verpasst.

Der Aufstieg kostet mich einiges an Kraft. Ich komme bis zu einer Felswand, die sich unnatürlich glatt drei, vier Meter in die Höhe reckt. Ein unüberwindbares Hindernis und wahrscheinlich Absicht der Spielmacher. Das muss der Rand der Arena sein. Hier oben liegt die Art Stausee, die ich vom Füllhorn aus gesehen habe – und dahinter nur der Schutzschild unter der weißen Kuppel. Vor Angreifern im Rücken bin ich somit sicher.

Unwillkürlich frage ich mich, ob es in dieser Arenahülle nicht einen Hinterausgang, ein Schlupfloch, gibt. Irgendwas, das die Spielmacher oder Bauarbeiter übersehen haben, würde ja schon genügen, um zu entwischen ... Durch das Wasser könnte ich schwimmen, wenn sich nur der Damm überwinden ließe …

Aber natürlich sind das nur Spinnereien meines völlig dehydrierten Gehirns. Ich bin am Ende meiner Kräfte und mit bohrendem Hunger meinerseits neigt sich Tag drei schließlich genau hier, unterhalb der Felswand, dem Finale entgegen.

Ein wenig stolz bin ich schon – wenn man mich nach der Ernte gefragt hätte, dann wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dass ich so lange überleben kann. Klar ist viel Glück dabei, dennoch habe ich auch eine Menge dem Aufenthalt an den Überlebensstationen zu verdanken. Ohne die hätte ich kein Wasser gefunden und bestimmt noch zig andere Fehler begangen. Ganz zu schweigen vom Training mit den Mentoren …

Den nächsten Tag beginne ich genauso wie den letzten, mit dem Tauwasser von meiner Zeltplane, die ich dieses Mal in weiser Voraussicht vorher aufgespannt habe. Zum Frühstück gibt es einen weiteren Kräcker und da mein Magen nach dem ersten Bissen leerer erscheint als zuvor, esse ich schweren Herzens einen zweiten. Dann geht es wieder los.

Zur Mittagspause gönne ich mir die nächsten Kräcker. Inzwischen zittern meine Hände haltlos und ich schaffe es kaum, das geschmacklose Gebäck aus seiner Packung zu befreien. Minutenlang kämpfe ich mit dem Plastik, bis endlich eine Ecke einreißt. Und selbst danach bleibt ein dumpfes, nagendes Gefühl in der Magengegend zurück. Ich brauche dringend etwas zu essen. Egal wie übel mir bei dem Gedanken wird.

Diese Überlegung kreist unablässig durch meinen Kopf und trotzdem schaffe ich es nicht, aufzustehen. Die Mittagssonne brennt so grell vom Himmel herab, dass ich lieber die Augen schließe. Irgendwann wird es kühler, verspreche ich mir, dann kehrt meine Kraft bestimmt zurück …

»... Annie?«

Ich blinzle. Habe ich etwa geschlafen? Die Arena ist bereits in goldenes Abendlicht getaucht –

»... Annie.«

Halt, diese Stimme kenne ich ... aber – nein, unmöglich ... Da vorne wartet Finnick, zwischen Steinen und verdorrten Büschen. Die Sonne steht hinter ihm wie diese Heiligenscheine aus den Bildern vergangener Zeiten, ihre Strahlen die Zacken seiner ungreifbaren Krone. Er kommt auf mich zu, ein Lächeln auf den Lippen, und setzt sich neben mir auf einen Stein. Ganz automatisch greife ich nach seiner Hand, alles andere vergessen.

»Holst du mich ab?«, frage ich.

Doch Finnick summt nur leise vor sich hin und als ich ihn wieder ansehe, hält er plötzlich selbstgepflückte Salzwiesenblumen in der Hand. Ich wundere mich, dass es diese Blume hier in der Arena gibt – zumindest so lange, bis Finnick mir eine davon ins Haar steckt, bevor er mich in seiner Arme zieht. Er riecht so gut, nach Heimat und allem, was mir Schutz verspricht, dass ich ihn nie wieder loslassen möchte.

Immer noch summend steht Finnick schließlich auf und spaziert hinaus auf die Ebene. Ich könnte schwören, dass sie vorhin erst grau-brau und überwiegend steinern war, aber jetzt blühen überall Blumen. Nicht nur Salzwiesenklee, sondern hübsche Gewächse mit blauen oder rosa Blättern. Das Füllhorn in der Ferne scheint hingegen verschwunden.

Ich beeile mich, auf die Füße zu kommen. Finnick winkt schon ganz auffordernd in meine Richtung und ich will ihn nicht warten lassen. Nicht, wenn wir endlich nach Hause gehen!

Schneller und schneller läuft Finnick nun vor mir über die Ebene, als wolle er fangen spielen. »Warte«, versuche ich zu rufen, eine Hand nach ihm ausgestreckt, »ich kann nicht so schnell ...« Doch er scheint mich gar nicht zu hören, denn er wird nicht langsamer, obwohl er sieht, wie ich stolpere.

Äste knacken unter meinen Füßen und kleine Steinchen rollen verräterisch laut weg, während ich meinem Körper das Letzte abverlange. Ich laufe, renne – und Finnick gerät trotzdem weiter in die Ferne. Dabei geht er nur, ganz entspannt. Er bückt sich gar hin und wieder und pflückt eine neue Blume für den Strauß in seinen Händen. Mit brennenden Lungen stürme ich über die Ebene zwischen uns, die sich mit jedem Schritt weiter auszudehnen scheint.

Rumms, rumms, donnern meine Stiefel auf den felsigen Boden und immer, wenn ich auf Gras trete, knirscht es so laut, dass es meine Gedanken übertönt. »Finnick, warte doch!«, flehe ich erneut. Erfolglos. Der Lärm ertränkt den Ruf. Ein Ast bricht unter meinem Gewicht und es klingt wie ein Kanonenschlag.

In der Ferne dagegen dreht sich Finnick langsam um, seine Augen geweitet. Er reißt den Mund überrascht auf, dann zucken plötzlich alle Muskel in seinem Gesicht und lassen ihn eine Grimasse ziehen. Der Boden unter ihm bäumt sich im selben Atemzug auf. Wie eine Puppe wirbelt es Finnick in die Luft.

Ich schreie, strecke die Arme nach ihm aus, doch ich bin zu weit weg. Und dann erzittert auch schon der Boden zu meinen Füßen.

»Nein –«

Ich reiße die Augen auf. Dieses Mal wirklich, genauso wie der Schrei dazu echt ist. Finnick hingegen war nur eine Illusion, das wird mir mit einem Blick auf die – blumenlose – Bergflanke klar. Dumm, wie ich bin, habe ich mich von Hunger und Durst überwältigen lassen. Jetzt sinkt die Sonne bereits dem Arenahorizont entgegen. Ich kann froh sein, noch zu leben!

Gähnend richte ich mich auf. Zumindest versuche ich es, denn in diesem Moment bebt die Erde erneut. Das war auch kein Traum! Es schüttelt mich durch, als wäre ich während eines Sturms auf offener See. Nur dass es solider Stein ist, der sich aufbäumt und herabsinkt wie wütende Wellen.

Was hat das zu bedeuten?

Gerade so bekomme ich meinen Speer zu fassen, bevor das nächste Erdbeben ihn von mir fortreißt. Zum Glück ist die Zeltplane mit den Vorräten noch dran gebunden. Irgendwie schaffe ich es, trotz des wackligen Untergrunds, mir den improvisierten Rucksack aufzusetzen. Dann stemme ich mich hoch und sehe zu, dass ich Land gewinne.

Weit komme ich nicht. Nach den ersten Schritten zittert die Erde wieder, diesmal so stark, dass es mir wortwörtlich den Grund unter den Füßen entzieht. Genau vor meinen Zehenspitzen breitet sich ein Riss durch das Gestein aus. Und er wird größer, immer größer. Groß genug, einen Menschen zu verschlingen.

Ich springe und lande auf allen vieren hinter dem Abgrund. Der Aufprall treibt mir die Luft aus der Lunge, aber ich schiebe mich weiter, über spitze Steine und neue Risse. Egal, Hauptsache ich komme hier weg. Das muss eine Falle der Spielmacher sein! Wenn ich nicht kämpfe, kann es nur schlimmer werden.

Wollte Finnick mich davor warnen? Nein, das ist ein dämlicher Gedanke. Natürlich nicht. Er ist im Kapitol und – Bei den sieben Meeren, ich muss weiter kämpfen, für ihn; für Pon!

Kaum habe ich es zurück auf die Füße geschafft, da gesellt sich zu dem Grollen der Erde lauter Donner. Doch der Himmel über mir zerreißt nicht etwa unter Blitzen. Nein, es regnet Steine. Wie faustgroße Hagelkörner schlagen sie neben, hinter, vor mir auf den Boden. Krachend zerplatzen die Geschosse in hunderte scharfe Splitter, die sich in meine viel zu dünne Arenakleidung bohren.

Ich werfe einen Blick zurück. Eine gigantische Welle schießt den Fels hinab, geradewegs auf mich zu. Statt Wasser sehe ich allerdings nur Gestein. Eine graue Wand, so tödlich wie die Sturmflut. Die kleinen Steine sind nur ein Vorgeschmack. Ihnen folgen mehr, größere Brocken. Bruchstücke so hoch und breit wie Trexler jagen den Abhang hinunter.

Zur Seite! Ich muss zur Seite rennen! Laufe ich vor der Steinwelle weg, wird sie mich nur einholen. Einen Sturm muss man schließlich auch umschiffen!

Wenn doch nur der Boden nicht unter mir wegrutschen würde! Immer wieder falle ich, krieche weiter, rapple mich auf – nur um gleich darauf erneut zu stürzen. Ich bin viel zu langsam für diese Naturgewalt. Abermals knallt es hinter mir, laut wie zehn Kanonenschüsse auf einmal. Alle Tribute könnten sterben, ich würde es nicht mitbekommen.

Verzweifelt reiße ich den Kopf herum. Von links kommt die Steinwelle und rechts geht es immer steiler ins Tal hinab. Aber halt! Da kommen wieder Bäume in mein Blickfeld! Eine ganze Gruppe von ihnen. Sie sind groß, ihre kahlen Spitzen ragen bestimmt sechs, sieben Meter in die Luft. Höher als die Welle?

Eine andere Wahl habe ich nicht. Wenn man den Sturm nicht umschiffen kann, muss man sich an den Mast binden und auf das Beste hoffen. Das hat mein Vater mir beigebracht. Also renne ich noch ein wenig schneller, als würde wieder Finnick dort stehen.

Bumm!

Erneut schlägt ein Stein hinter mir auf den Boden. Es reißt mich von den Füßen, die ganze Welt dreht sich. Grau, grau, alles ist nur grau. Oben wie unten, Himmel wie Erde. Tränen brennen in meinen Augenwinkeln. Trotzdem schaffe ich es zurück auf die Füße, renne weiter. Nur ein paar Meter noch!

Mit einem tiefen Atemzug greife ich nach den ersten Ästen. Flammen lodern in meiner Brust auf. Aber ich gebe nicht auf. Ich klammere mich an das Holz und stemme den Rest von mir hoch. Irgendwie schaffe ich es in eine Astgabel, die mein Gewicht trägt und von da aus krieche ich zum Stamm.

Stell dir einfach vor, dass es ein Schiffsmast ist, rede ich mir gut zu. Klettern habe ich schließlich geübt, nicht nur im Trainingscenter, sondern schon zuhause. Beide Füße fest gegen den Stamm gedrückt, angle ich mich durch das Astgewirr. Den Rest erledigt die Angst. Ich sehe nicht nach unten, nicht zu der rasenden Steinwelle. Dafür bleibt keine Zeit. Höher, ich muss höher.

Und ich schaffe es. Wie durch ein Wunder erreiche ich die oberen Äste, die so dünn sind, dass sie niemanden tragen. Gerade rechtzeitig. Die ersten Steinbrocken schlagen unten gegen das Holz. Wieder und wieder knallt es, während es den Stamm durchschüttelt. Sollte ich das hier überleben, dann wahrscheinlich halb taub.

Aber dazu muss ich es überhaupt schaffen, nicht herunterzufallen. Ich weiß nicht, was mehr zittert – ich oder der Baum. Mit beiden Armen umschlinge ich den trockenen Stamm, doch bei jedem neuen Schlag lässt meine Kraft nach. Selbst als ich die Beine zur Hilfe nehme, verliere ich fast den Halt. Die Baumrinde reibt meine Haut durch die Kleider auf. Alles schmerzt, sogar die Tränen brennen auf den Wangen.

Ist dies das Ende? Werde ich so die Welt verlassen? Nicht zu Pons Schutz, sondern in einer Falle der Spielmacher?

Ich will nicht aufgeben, aber ich kann nicht mehr. Es tut so weh. Es soll einfach nur vorbei sein!

In Gedanken gehe ich ein letztes Mal durch Distrikt Vier, rieche das Salz und stelle mir vor, wie auf dem Friedhof – mit Meerblick – mein Sarg an Seilen ins Grab gelassen werden wird …

Seile! Natürlich! Daran habe ich erst vorhin gedacht. In der Not bindet man sich an den Schiffsmast und hofft auf das Beste! Und was habe ich am Füllhorn erbeutet? Schnur! Ich muss nur an den Inhalt meiner Zeltplane gelangen!

Vorsichtig, ganz vorsichtig, warte ich den nächsten Steinschlag ab, dann löse ich den linken Arm vom Baumstamm. Im Gegenzug presse ich mich noch fester gegen die Rinde. Den Atem angehalten, greife ich nach der knisternden Plane auf meinem Rücken. Gerade so bekomme ich eine Ecke zu fassen, die ich weiter zu mir ziehen kann. Stück für Stück.

Ein dicker Steinbrocken lässt den Baum schwanken wie Schilf im Wind. Ich kreische spitz auf und packe die Plane fester. Für Finnick, für Pon, für meine Familie!

Ohne zu sehen, was ich tue, taste ich mich vor. Als Erstes finde ich den Feuerstahl – halt, da ist etwas Weiches. Die Schnur! Unendlich langsam befreie ich das dicke Bündel aus dem improvisierten Rucksack. Die Zeit scheint sich ins Unermessliche zu dehnen, bis ich endlich den Arm mitsamt Beute wieder um den Baum schlingen kann.

Der Rest geht rasch: Ich entknote die Schnur, greife sie zweifach – denn doppelt hält besser – und ziehe sie Zentimeter für Zentimeter um Stamm und mich. Zum Schluss verbinde ich die Enden mit einem ordentlichen Knoten. Wenigstens das kann ich auch mit geschlossenen Augen perfekt.

Jetzt kann ich nur auf das Unvermeidliche warten. Und wie es kommt! Das muss der Untergang dieser Arena sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass noch etwas steht, wenn diese Welle aus Steinen sich erst ihren Weg gebahnt hat. Immer höher türmen sich die Gesteinsbrocken unter mir auf. Es wird lauter, immer lauter – und dann ist es still. Alles, was bleibt, ist ein stetes Fiepen.

Ich merke erst, dass die Äste zu meinen Füßen brechen, als ein scharfkantiger Splitter mich am Oberschenkel trifft. Vermutlich schreie ich auf, aber der Sturm aus Steinen verschluckt es. Mein Baum neigt sich zusehends dem Boden entgegen. Doch er hält stand. Unter mir rauscht die Flut vorbei, bis die Brocken wieder kleiner werden. Kopfgroß, faustgroß, Kieselsteinchen. Zurück bleiben nur eine Schneise der Verwüstung und das Fiepen in meinen Ohren.

Trotzdem mache ich mich los und springe vom Baum hinunter – zur Erde sind es nur knapp zwei Meter, denn der Stamm ist oberhalb der Wurzel komplett zersplittert und liegt jetzt quasi horizontal auf dem Hang. Einen Moment lang starre ich die verwüstete Landschaft an, dann schleppe ich mich ein paar Schritte weiter. Hauptsache weg von hier!

Immerhin sind alle Sachen noch da ... oder? Ich taste nach der Innentasche meiner Jacke, deren Stoff an verschiedenen Punkten aufgerieben ist. Mit einem erleichterten Seufzen stelle ich fest, dass die Kette unversehrt ist. Das Metall ist selbst durch den Netzstoff kühl und ich fühle die Kanten von Finnicks selbstgebasteltem Fischanhänger. Dankbar drücke ich ihn enger gegen die Brust, während ich weiter stolpere.

Alles in meinem Körper schmerzt. Die Rippen, die Arme, die Hüfte. Ich bin viel zu nah am Tal, aber an einen erneuten Aufstieg ist nicht zu denken. Nicht, dass ich noch einmal von so einer Steinflut überrascht werde. Ohnehin nähert sich die Nacht mit großen Schritten. Mir bleibt nicht viel Zeit oder Tageslicht für die Suche nach einem Unterschlupf. Morgen werde ich einen anderen Weg ausfindig machen, das verspreche ich mir.

Eine besonders geeignete Stelle finde ich nicht für mein Lager. Die Vegetation ist selbst so weit unten zu flach, um echten Schutz zu bieten. Zwar sehe ich in der Distanz die Überreste der Steinwelle, die sich meterhoch auftürmen und damit einen natürlichen Wall zwischen Tal und Berghang bilden, doch davon will ich so fern sein, wie möglich. Den Spielmachern ist es zuzutrauen, dass sie mir im Schlaf einen Brocken auf den Kopf fallen lassen.

Schließlich bleibe ich an einem hohlen Baumstumpf, unter dessen vertrockneten Wurzeln ich mich zusammenkauern kann. Es hat seinen Vorteil, nicht so groß oder muskulös zu sein. Den Speer lege ich heute nicht ab, sondern behalte ihn immer in der Hand. Wer hätte gedacht, dass jenes angewärmte Metall zwischen den Fingern mich eines Tages beruhigen würde? Wahrscheinlich wird sich das ziemlich schnell ändern, wenn er erst einmal mit Blut in Kontakt kommt.

Um die ungebetenen Gedanken zu vertreiben, nehme ich meine Wunden unter die Lupe. Das meiste ist recht oberflächlich – Abschürfungen, Verbrennungen durch die Reibung, ein paar Schnitte und Beulen. Nicht lebensbedrohlich, nur unangenehm. Es darf sich bloß nichts entzünden. Aber da ich mangels Ressourcen nur abwarten kann, beschränke ich mich darauf, den gröbsten Dreck an etwas verdorrtem Gras abzuwischen und anschließend mit einer Ecke meines Tops trocken zu tupfen.

So in die Wundversorgung versunken, höre ich zum ersten Mal wieder etwas abgesehen von dem Tinnitus auf meinen Ohren: Ein helles Klingeln. Ich lange schon nach dem Speer, da erinnere ich mich – dieses Geräusch kündigt einen Fallschirm an! Von oben kommt ein Sponsorengeschenk!

Und tatsächlich, ich schaue keine Sekunde zu früh auf. Aus der Dunkelheit segelt ein silberner Behälter auf mich zu und landet direkt vor dem hohlen Baumstamm. Im selben Augenblick ertönt die Hymne zum Tagesende. Ungeachtet des leerbleibenden Arenahimmels packe ich mein Geschenk. Was kann das nur sein?

Es braucht mehrere Anläufe, bis ich den Container geöffnet bekomme. Zuerst fällt mir ein kleiner, bedruckter Zettel in den Schoß. Wir sind stolz auf dich. Bleib bedacht, dein Team.

Meine Lippen fangen an zu zittern, als ich den Blick nach oben richte. Die letzten Tage war ich ständig so einsam, doch hier ist der Beweis, dass ich nicht alleine bin. Da draußen denkt man an mich – und jemand hat sogar Geld gespendet. Jemand ist auf meiner Seite!

Neben der Mentorenbotschaft sind in dem Container noch ein Brötchen und eine weitere Dose. Neugierig öffne ich Letzteres. Zum Vorschein kommt eine schmierige Paste. Ich schnuppere daran. Eindeutig nicht essbar. Im Gegenteil, der Geruch sticht in der Nase wie im Krankenhaus. Einer Eingebung folgend verteile ich etwas von der Masse auf den Handflächen. Angenehme Kühle breitet sich auf meiner Haut aus und ich seufze vor Erleichterung auf.

So gestärkt kann ich mich dem Brötchen widmen. Erstmals seit dem Eintritt in die Arena knurrt mein Magen beim Anblick des Essens wieder so richtig. Gierig schlage ich die Zähne in den luftigen Teig. In der Mitte ist es sogar noch warm!

Einen Moment lang schwebe ich auf Wolken. Zumindest bis ich den Blick hebe und gerade so sehe, wie etwas mit hoher Geschwindigkeit an mir vorbeirast. Wenige Zentimeter neben mir bleibt das Ding in der Erde stecken. Ein Pfeil!

Ich verschlucke mich an dem Brötchen. Husten und keuchend krieche ich rückwärts – und schon bohrt sich ein zweiter Pfeil in den Baumstumpf, nur wenige Fingerbreit von meiner Hand entfernt.

Jetzt höre ich es auch: Jemand kommt schnell näher. Ein weiteres Mal wird nicht geschossen, denn die dunkle Gestalt mit dem Bogen ist bereits bei mir. Bevor ich schreien kann, hat sie mich erreicht und auf den Boden gedrückt. Ich reiße das Knie hoch und trete zu, doch ich treffe nur Luft. Dafür senkt sich der Absatz eines Stiefels auf mein Handgelenk. Ich winde mich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Alle Techniken von Amber sind vergessen. Irgendwie muss ich den Arm freibekommen –

Ein schweres Gewicht drückt auf meine Brust und gleichzeitig bohrt sich kaltes Metall in meine Kehle. Schlagartig halte ich inne. Selbst wenn ich könnte, traue ich mich nicht, die kleinste Regung zu machen. Eine falsche Bewegung und ich bin tot. Durchbohrt von einem Pfeil.

So schnell kann Freude also vergehen. Ich hoffe nur, dass Finnick nicht allzu lange leiden muss.

»Na«, murmelt meine Angreiferin da auch schon, »wen haben wir denn da?«

 
 

Die 70. Hungerspiele – Liveticker

Dauer: 3 Tage, 11 Stunden, 02 Minuten || Gefallen: 10 || Am Leben: 14

 

Räucherspeck

»Meine Damen und Herren, es ist wieder einmal Zeit für unseren täglichen Blick auf die Wettquoten! Und natürlich mache ich das nicht alleine – heute an meiner Seite ist kein geringerer als der Stylist von Distrikt Vier, Roan Vainworth!

 

Es ist mir eine Freude, hierzusein, Caesar. Wenn ich als Stylist schon nicht wetten darf, so ist es doch immer wieder spannend, die Möglichkeiten zu verfolgen. Und in diesem Jahr habe ich natürlich auch eine klare Favoritin.

 

Oho, mein Lieber, redest du da etwa von deiner eigenen Tributin? Ich kann es dir jedenfalls nicht verübeln –

 

Aber nein, Caesar. Wenn es darum geht, wer das beste Paradenoutfit hatte, dann würde ich für Annie wetten. Aber das ist ja auch kein Wunder, immerhin steckt dahinter meine Arbeit. Nein, meine Favoritin für den Sieg ist ohne Frage Shine aus Distrikt Eins. Auf sie würde ich wetten, sie hat den richtigen Biss. Auch wenn unser Team natürlich alles getan hat, um Annie bestens vorzubereiten ... Aber manchmal muss man sich auch eingestehen, dass das eigene Team nicht die besten Chancen hat. Man kann ja nur mit dem arbeiten, was einem gegeben wird.

 

Nun, das sehen die Zuschauer ganz ähnlich! Auch heute sind die Quoten für unsere liebe Shine wieder gestiegen, während sich Distrikt Vier immerhin halten konnte. Noch kann sich Distrikt Eins damit ungeschlagen an der Spitze behaupten. Aber auch wenn Distrikt Zwei derweil ein historisches Tief hat, dürfen wir die anderen Tribute nicht vergessen. Und da arbeitet sich gerade jemand ganz Neues die Ränge empor. Kannst du erraten, um wen es geht, Roan?

 

Ich habe zumindest eine Befürchtung, auch wenn ich wirklich nicht hoffe, dass es noch mehr stilistische Ausfälle derart weit schaffen. Immerhin sollte eine Siegerin – oder meinetwegen ein Sieger – nicht nur aus roher Gewalt bestehen, sondern auch ... na, du weißt schon, Caesar – etwas Graziles an sich haben. Wir wollen doch jemanden, den wir anbeten können, dessen Anblick uns inspiriert und nicht ... abschreckt.

 

Tja, dann wollen wir mal sehen, ob sich deine Befürchtungen bewahrheiten! Hier kommt die aktuelle Übersicht der Wetteinsätze für Sie, meine Damen und Herren!«

 
 

*

 

Unter den Fischern daheim erzählt man sich, kurz vor dem Tod würden all die besten Erinnerungen des Lebens zu einem zurückfinden. Frauen und Männer, die schwersten Stürmen getrotzt haben, behaupten felsenfest, ihnen sei ein helles Licht erschienen, bevor sie ohnmächtig aus der See gerettet wurden. Doch ich sehe nichts. Alles, woran ich denke, sind meine Familie und Finnick, die in diesem Augenblick vor den Fernsehern sitzen und das Ende mitansehen müssen.

Ich liege wehrlos auf dem Rücken, harte Steine bohren sich in meine Schultern. Die Füße der Angreiferin drücken mich an den Handgelenken auf den Boden und mit den Knien fixiert sie meinen Oberkörper. Das Gewicht raubt mir den Atem. Bestimmt wiegt die Tributin doppelt so viel wie ich – alles Muskeln.

Gegen den Nachthimmel kann ich sie kaum erkennen, geschweige denn eine Regung in ihrem Gesicht ausmachen. Brauche ich auch nicht. Ich erinnere mich natürlich an die durchtrainierte Zehnerin und ihre Künste im Bogenschießen. Neun Punkte. Wie Shine.

»Du bist Vier ...«, stellt meine Gegnerin leise fest.

Mit dem Pfeil am Hals traue ich mich nicht einmal, zu nicken oder gar zu antworten. Jede Bewegung erscheint unmöglich. Nur durch meinen Kopf hallt ein stummer Schrei.

Die dunkle Silhouette über mir zuckt mit den Schultern. »Ich hätte erwartet, dich bei den Karrieros zu finden, aber gut – so ist es einfacher für uns beide, schätze ich.«

In Erwartung des Endes schließe ich die Augen. Wenigstens wird es schnell gehen, sobald das kühle Metall erst einmal in meine Kehle eindringt. Wenn ich Glück habe, wird der Pfeil direkt die richtigen Nerven treffen und dann bin ich bald vergessen. Nur eine Fußnote der 70. Hungerspielen – Annie Cresta, Distrikt Vier. Komplett nutzlos, aber einigermaßen ansehnlich.

Meine Angreiferin über mir atmet lautstark ein und aus. Sie taxiert mich, das spüre ich trotz geschlossener Augen. Wie im Erneuerungscenter denke ich an das Vieh auf der Schlachtbank. Hoffentlich überlegt die andere Tributin nicht, ob sie meinen Tod noch aufregender gestalten kann! Sicher drängeln sich ohnehin schon alle für den besten Blick auf das Elend vor den Bildschirmen.

Wer hat bestimmt, dass das Gerechtigkeit ist? Dass ich so sterben soll?

Ich balle eine Hand zur Faust, doch die Tränen hält das nicht auf. Ich will nicht sterben! Ich habe Pon noch gar nicht gerettet! Es gibt so viel, das ich nicht erlebt oder gesehen habe, warum darf das Kapitol mir diese Chance nehmen?

Der Schmerz lässt auf sich warten. Verwirrt hebe ich ein Augenlid. Ist der Tod vielleicht doch nicht so schlimm? Habe ich ihn gar nicht bemerkt?

Nein. Über mir kniet nach wie vor die Tributin aus Zehn. Ich blinzle und versuche, mehr von ihr zu erkennen. Ein paar schwarze Haarsträhnen fallen in ihr harsches Gesicht und sie hat die Augenbrauen zusammengekniffen. Die Sehne ihres Bogens ist nach wie vor gespannt, aber sie macht keine Anstalten, ihn loszulassen.

In der Hoffnung, mich irgendwie befreien zu können, drehe ich das Handgelenk. Mehr als ein schmerzerfülltes Keuchen bringt mir die Bewegung allerdings nicht ein. Meine Gegnerin ist einfach zu schwer. Sie verzieht nicht einmal den Mund angesichts dieses jämmerlichen Ausbruchsversuches. Trotzdem verstärkt sie ihre Position und drückt mich so fester gegen die Steine. Ihr Gesicht in den Schatten verschwimmt hinter den Tränen in meinen Augen.

»Bitte«, wimmere ich schließlich doch ganz leise, sodass ich kaum den Mund bewegen muss, »bitte nicht so. Ich will nicht sterben –« Ein Schluckauf schneidet mir die nächsten Worte ab und ich versuche angestrengt, nicht unkontrolliert zu zucken.

Da schwindet der Druck der Pfeilspitze an meiner Kehle auf einmal.

»Oh man«, stöhnt die Angreiferin. »Das darf doch nicht wahr sein ...« Einen Moment lang verharrt sie in ihrer Position, dann steht sie unvermittelt auf und gibt meine Handgelenke frei.

Perplex liege ich da und starre sie an, wie sie langsam die Spannung aus der Bogensehne nimmt. Der Pfeil bleibt an der Sehne, aber seine Spitze zeigt jetzt gen Boden. Dafür betrachtet die Zehnerin mich wachsam.

»Na los, steh auf.«

Ich bleibe liegen. Meine Glieder zittern viel zu sehr, als dass sie mir gehorchen würden. »Warum ...?«, frage ich leise.

Ungeduldig schnalzt die Angreiferin mit der Zunge. »Ganz einfach: Ich töte jeden, der stark genug ist, mich zu töten. Ich hab keine Lust, unschuldiges Blut an den Händen zu haben. Und in dir habe ich mich ganz offensichtlich getäuscht.«

Mondlicht fällt von der Seite auf die Tributin und zum ersten Mal erkenne ich ihre Züge klar. Sie hat zwar ein hartes, kantiges Gesicht, doch jetzt, da ihre Augenbrauen nicht länger einen Strich bilden, wirkt sie gleich eine ganze Ecke freundlicher. Ihre schmalen Lippen zeigen zumindest die Andeutung eines beruhigenden Lächelns.

»Du weißt schon, dass dich das Sponsoren kosten wird?«, platzt es aus mir heraus. »Ich bin immerhin ein einfaches Opfer.«

Die Zehnerin hebt eine Schulter. »Ich bin nicht für die Sponsoren hier. Pech, wenn ich den Leuten nicht gefalle. Überleben kann ich auch so.«

»Aber es kann nur einer von uns überleben –«

»Bettelst du gerade um den Tod?«

Ich schlucke. »N-nein ... natürlich n-nicht ...«

»Gut. Denn wie gesagt, ich hab keine Lust auf überflüssiges Blut an meinen Händen. Ich tue nur, was ich tun muss. Und du hast nicht einmal versucht, mir die Augen auszukratzen oder so. Ehrlich, da hab ich nach deinen acht Punkten und dem Speer, den du mit dir rumschleppst, mehr erwartet.« Sie schüttelt den Kopf, als könne sie es selber kaum glauben.

Ich schnaufe kurz auf. »Wenn es nicht sein muss, würde ich den Speer lieber nicht benutzen«, gestehe ich.

»Hm.« Mein Gegenüber nickt. »Also, dann ...«

Sie weist in Richtung der weiten Arena und ich richte mich langsam auf, ein Auge immer auf den Bogen gerichtet.

»Ja ... danke. Danke, dass du mich gehen lässt.«

»Klar. Ich hoffe, wir begegnen uns nicht erneut.«

Ich traue mich nicht, der Zehnerin den Rücken zu kehren, während ich meine Sachen zusammensuche. Vorsicht ist immer besser als Nachsicht. Doch sie hält Wort und richtet den Bogen nicht erneut auf mich – obwohl sie zuckt, sobald ich den Speer ergreife. Rasch schiebe ich ihn in die Halterung auf dem Rücken.

Erst im Stehen erkenne ich, dass mein Gegenüber gerade mal genauso groß ist wie ich. Und noch etwas fällt mir auf: Sie hat tiefe Kratzer an der linken Schulter, die sich bis zu ihrem Wangenknochen ziehen. Es hat sich bereits eine Kruste darauf gebildet, aber die tiefroten Kerben in ihrer braunen Haut sehen dennoch schmerzhaft aus. Und garantiert nicht menschlichen Ursprungs.

Eine Idee schießt mir durch den Kopf. »Hier«, sage ich und strecke die Hand aus.

Argwöhnisch mustert die Zehnerin erst mich, dann die kleine Metalldose auf meiner Handfläche. »Was?«

»Ich schlage dir einen Deal vor. Wir bleiben heute Nacht beide hier – du lässt mich weiterhin am Leben und ich gebe dir Medizin ab. Deine Wunden sehen aus, als könnten sie es vertragen.«

Ich höre ein leises Keckern. Es braucht einen Moment, bis ich erkenne, dass es das Lachen der Tributin ist. Belustigt mustert sie mich.

»Hab schon von schlechteren Deals gehört. Nicht schlecht, Meerjungfrau. Aber wer sagt, dass ich mich auch dran halte? Vielleicht bist du ja diejenige, die hier einen Fehler begeht.«

»Irgendwie müssen wir einander wohl vertrauen. Du hast mich nicht getötet und jetzt hast du sogar deine Waffe sinken lassen. Ich denke, das reicht mir angesichts der Umstände. Morgen können wir ja wieder getrennte Wege gehen. Aber für heute finden wir beide keinen besseren Unterschlupf mehr. Und meine Medizin ist auf jeden Fall wertvoll, wenn du Sponsoren so bereitwillig ausschlägst.«

Jetzt zucken eindeutig die Mundwinkel der Zehnerin. »Blöd bist du jedenfalls nicht«, sagt sie schließlich. »Na schön – machen wir’s so. Ich bin Aramis. Zehn, falls es dir nicht mehr einfällt.« Mit diesen Worten nimmt sie den Pfeil endgültig von der Sehne und schiebt ihn in den Köcher an ihrer Hüfte.

Ich lächle. »Annie. Ganz offensichtlich Distrikt Vier.«

»Ich weiß. Hab ich auswendig gelernt. Acht Punkte, dein Mittribut ist Pon, sieben Punkte. Beide keine Freiwilligen. Mittelmäßige Interviews, keine bekannten Stärken. Habt euch im Training mal mit den Karrieros rumgetrieben. Und du hast ziemlich lange mit Fünf geredet, bevor sie dich abgewiesen hat.«

»Das ist dir alles aufgefallen?«

»Ich hab eben aufgepasst.«

Meine Wangen werden warm, aber Aramis sagt nichts weiter dazu, sondern lässt sich neben mir auf die Erde fallen. Auffordernd streckt sie die Hand nach der Dose aus und ich lasse mich ebenfalls auf die Knie sinken. Zu Demonstrationszwecken nehme ich etwas von der Creme und streiche sie auf die übrigen Abschürfungen an meinen Unterarmen.

»Nicht schlecht«, gibt Aramis anerkennend zu, als die Rötungen kurz darauf verschwinden. »Was ist dir überhaupt passiert, dass du so mies aussiehst?«

»So eine Art ... Erdwelle?« Ich reiche die Dose an Aramis weiter. »Plötzlich sind lauter Steine den Hang runtergekommen, als wenn der Berg sich auflöst. Ich habe mich gerade so auf einen Baum retten können.«

»Ah. Ich wusste doch, dass diese Berge es in sich haben.« Mit gerümpfter Nase riecht Aramis an der Creme, ehe sie sich eine dünne Schicht auf die Schulter schmiert.

Es sieht aus, als wäre eine Katze – eine sehr große wohlgemerkt – mit den Krallen darüber gefahren. Aramis bemerkt meinen Blick und schneidet eine kleine Grimasse.

»Das ist auch so eine ... Überraschung der Arena gewesen. Sagen dir Berglöwen was?«

Ich schüttle den Kopf.

»Nun, stell es dir als große, blutrünstige Katze vor.«

»Oh.« Der Kloß in meinem Hals meldet sich zurück. Plötzlich hinterfrage ich die Entscheidung, mich in den Bergen zu verstecken.

»Ist aber schon ein bisschen her, dass ich dem Vieh begegnet bin. War weiter hinten. Denke nicht, dass so einer hier noch einmal auftaucht.«

»Wäre besser«, murmle ich. Hastig räuspere ich mich und sage dann mit festerer Stimme: »Also, wie machen wir es? Jeder schläft auf einer anderen Seite des Baumes?«

Aramis zuckt mit den Schultern. »Klingt fair.« Sie reicht mir die Medizin und schultert ihren Bogen. »Dann gute Nacht.«

»Ja, gute Nacht.«

Ein eigenartiges Gefühl macht sich in meinem Magen breit, als ich Aramis nachsehe, wie sie über die Wurzeln klettert und sich irgendwo auf der anderen Seite des Baumstumpfs niederlässt. Ich begreife nicht, woher ich den Mut nehme, ihr zu vertrauen. Müsste das nicht kompletter Irrsinn sein?

Doch egal, wie ich es drehe und wende, für heute bin ich zu erschöpft, um weiter über richtig und falsch zu sinnieren. Selbst wenn ich noch fortlaufen würde, käme ich keine zehn Meter. Also gebe ich dem Wahnsinn nach und höre auf meinen Körper, der Schlaf verlangt.

Mit der Gewissheit, dass in den Bergen furchtbare Monster lauern, kuschle ich mich in das Loch zwischen den Wurzeln und ziehe meine Kette aus der Jackentasche. Dankbar, am Leben zu sein, fahre ich mit den Fingerkuppen über das kleine Malachitauge des Fisches, bis alle Gedanken zum Flüstern des Meeres werden.

 

Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, komplett traumlos einzuschlafen, doch irgendwann erwache ich mit schmerzenden Knochen. Von allen Seiten engen mich Wurzeln ein und drücken auf die ohnehin geschundenen Stellen meines Körpers. Was wirklich zählt, ist allerdings etwas anderes – ich sehe einen neuen Tag anbrechen! Weder Berglöwen noch Aramis haben mich überfallen. Das bedeutet, dass gerade Tag fünf in der Arena anbricht.

Möglichst leise richte ich mich auf. Vielleicht ist es am besten, zügig zu verschwinden. Jetzt, wo ich um die Bestien weiß, wird es umso dringender, Pon zu finden. Und dann wäre da noch die Sache mit Maylin ...

Aramis entdecke ich im Morgennebel nur ein paar Schritte entfernt. Sie sitzt an einen alten Baum gelehnt da, ihren Bogen und einen Pfeil im Schoß. Ihre Augen sind geschlossen und der Kopf ist auf ihre Brust gesackt. Offenbar hat nicht nur mich der Schlaf überwältigt.

Wie einfach es jetzt wäre, sich anzuschleichen und ihr ein Messer in die Kehle zu stechen ...

Erschrocken über diese Gedanken drücke ich die Hände fest gegen meine Oberschenkel. Nein. Natürlich werde ich das nicht tun, egal wie einfach es wäre. Das könnte ich nicht einmal Maylin antun!

So plötzlich, wie die Vorstellung gekommen ist, verschwindet sie auch wieder. Zurück bleibt nur ein schales Gefühl in meiner Bauchgegend. Ich wünschte, dass die Spiele schneller vergehen würden. Aber leider weiß ich, dass die meisten Hungerspiele länger als sieben, oft sogar über zehn Tage, dauern. Es heißt also weiter durchhalten.

Ich nehme einen tiefen Atemzug und sauge frische Morgenluft in die Lungen. Noch ist es einigermaßen angenehm. Je eher ich mich auf den Weg mache, desto weiter komme ich bis zum Mittag. Zittrig stehe ich auf, um die Glieder zu strecken. Da trifft es mich auch schon wie ein Faustschlag in den Magen. Einen Moment lang wird mir schwarz vor Augen und als ich verwirrt blinzle, liege ich wieder auf der harten Erde.

Was ist nur los? Warum gehorchen meine Gliedmaßen mir nicht mehr? Habe ich mich etwa vergiftet? Nur woran? Doch nicht an dem abgestandenen Wasser aus der Pflanze? Ich war so vorsichtig!

Kurz überlege ich, nach Aramis zu rufen, verwerfe die Idee aber gleich wieder, als sich ruckartig mein Magen zusammenzieht und mir übel wird. Vor Hunger – und Durst, begreife ich. Ein wehleidiges Geräusch kommt aus meinem Bauch.

Anscheinend waren weder die paar Kräcker noch das Brot oder die wenigen Schlucke Pflanzenwasser und Tau genug, sodass mein Körper jetzt seinen Tribut verlangt. Ich kann es ihm nicht einmal verübeln, denn gestern auf der Flucht vor der Erdwelle habe ich für drei geschwitzt.

Mit feuchten Händen greife ich nach dem Rucksack aus Zeltplane und suche die Trinkwasserdose. Inzwischen zittern meine Glieder so sehr, dass ich Sorge habe, den kostbaren Inhalt zu verschütten. Doch der Gedanke ist unbegründet: Mehr als ein paar Tropfen sind gar nicht übrig. Der Rest muss gestern so durchgeschüttelt worden sein, dass er trotz doppelter Plane ausgelaufen ist.

Ich verfluche meine frühere Sorglosigkeit. Wie soll ich so nur weiterkommen? Ich wusste doch, dass Trinken das allerwichtigste in der Arena ist!

Erschöpft rolle ich mich auf den Rücken und starre in das erste Morgengrau hinauf. Oh wie gerne würde ich jetzt als Vogel durch die Wolken fliegen. Schon immer wollte ich die Welt von oben sehen. Einmal über das Meer segeln, in die unendliche Weite blicken, den Horizont erreichen ... Das ist nur den Möwen daheim vergönnt. Was wäre es schön, wenn ich im nächsten Leben eine von ihnen sein könnte ...

Pling, pling, pling ...

Nur das leise Klingeln stört meinen Traum. Ich bin mir sicher, als Vogel auf offener See hört man nichts außer dem Rauschen der Wellen. Aber es ist eine schöne Melodie ... pling, pling – Plop.

Etwas ist in der Nähe auf dem Boden gelandet. Schlagartig bin ich wieder zurück in der Arena. Unendlich müde hebe ich ein Augenlid und blinzle in Richtung der Ebene zwischen mir und Aramis. Da liegt ein silberner Fallschirm, nur ein paar Speerlängen entfernt. Ich seufze. Viel zu weit ...

Schon sinken meine Lider wieder nach unten. Der Traum ist sowieso besser, denn jetzt rieche ich den Eintopf, den meine Mutter früher immer gekocht hat. Was würde ich für einen Bissen davon geben, nur einen einzigen! Der Geschmack liegt mir mit einem Mal direkt auf der Zunge, obwohl ich seit Jahren nichts dergleichen hatte –

Etwas anderes mischt sich darunter. Fremde Gewürze, die meine Mutter sicher nicht benutzt hat. Nein, das ist falsch! Ich will den richtigen Eintopf zurück –

Ein letztes Mal schaffe ich es, den Kopf zu heben und mich umzusehen. Aramis kniet neben dem Fallschirm, einen kleinen Edelstahltopf in den Händen, aus dem Dampfschwaden aufsteigen. Was macht sie mit dem Eintopf meiner Mutter? Woher kennt sie Mama überhaupt?

Unsere Blicke treffen sich. »Ah, du bist wach«, begrüßt Aramis mich. »Gut.« Sie wirft mir einen Zettel zu.

Mit schwirrendem Kopf starre ich auf die kleinen Druckbuchstaben darauf. Immer wenn ich einen erkannt habe, tanzen die anderen im Kreis und verändern irgendwie ihre Form. Ich stöhne leise.

»Da steht ‚Vertrauen? F.‘ drauf«, souffliert Aramis mir.

Meine Zunge löst sich kaum vom Gaumen, um ihr zu antworten. »Ist das eine Rätselaufgabe?«, würge ich leise hervor.

Aramis zuckt mit den Schultern. »Wir beide haben Mentoren, deren Namen mit F beginnen. Und wir haben beide Hunger und Durst. Also ... Danke wem auch immer.« Den Topf und eine große Wasserflasche im Arm kommt sie zu mir herüber. »Hier, du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.«

Immer noch verwirrt greife ich nach der Flasche. Den Baumstumpf im Rücken schiebe ich mich ein Stück hoch, bevor die ersten Tropfen über meine Zunge rollen. Am liebsten würde ich gar nicht aufhören, so köstlich schmeckt es! Doch mit jedem Schluck klären sich meine Gedanken wieder.

Meine Mutter ist tot und der Eintopf in Aramis’ Händen ist natürlich nur ein Sponsorengeschenk aus dem Kapitol. Ich bin auch kein Vogel am fernen Himmel, sondern immer noch in der Arena der 70. Hungerspiele. Und ich darf es nie wieder so weit kommen lassen, dass die Halluzinationen mich überwältigen.

»Danke, Aramis«, sage ich leise und erkläre ihr, wie ich mein Trinkwasser aus Pflanzen gewonnen habe und deshalb nie genug hatte.

Sie hat eine volle Flasche am Füllhorn erbeutet, also nutze ich die Gelegenheit, um sie gleich noch vor den Salzflüssen und den giftigen Fischen darin zu warnen.

Offenbar ist ihr das neu, denn sie legt nachdenklich die Stirn in Falten und brummt etwas Unverständliches, ehe sie mir im Austausch für die Wasserflasche den Topf entgegenhält. Wie aufs Kommando lässt mein Bauch wieder ein jämmerliches Knurren hören. Ich sauge den Geruch des heißen Eintopfs in mich auf. So was habe ich noch nie gegessen, das weiß ich sofort. Anstatt von Fisch oder Meeresfrüchten erkenne ich Kartoffeln und ...

»Ist das Speck?«

»Mhm«, antwortet Aramis. »Räucherspeck. Sowas in der Art hat mein Vater auch immer gekocht. Ist wohl eher nicht so typisch für Vier das Gericht?«

Ich schüttle den Kopf und nehme einen Bissen. Der Geschmack explodiert förmlich auf meiner Zunge. Vor lauter unterschiedlichen Eindrücken begreife ich gar nicht, was ich alles schmecke. Tomate ganz sicher, aber da ist noch mehr ...

»Lecker«, nuschle ich zwischen zwei Löffeln voll.

»Und stärkend. Bei uns gab’s das immer im Herbst, am Morgen bevor wir die Viehherden zurück in die Ställe getrieben haben für den Winter. Passt nicht so zur Hitze hier, aber es macht verdammt satt.« Aramis nimmt noch einen großen Schluck Wasser, bevor sie die – jetzt halbleere – Flasche zuschraubt. »Das dürfte wieder ein paar Tage vorhalten. Meine Vorräte vom Füllhorn sind nämlich fast weg.«

»Dann sollte ich dir wohl besser nicht deinen Eintopf wegessen«, entschuldige ich mich und will Aramis den Topf zurückreichen. Doch sie hebt abwehrend die Hände.

»Kann auch sein, dass dein Odair uns das geschickt hat und extra ein Essen aus meinem Distrikt gewählt hat. Ist aber auch egal. Iss einfach, du brauchst das mindestens genauso sehr wie ich.«

Bei der Erwähnung von Finnick werden meine Wangen heißer als der Eintopf. Aber Aramis hat nicht unrecht – zuzutrauen wäre ihm diese Aktion. Wenn er sich nicht gleich mit den Mentoren aus Zehn besprochen hat. Und damit habe ich mein Überleben zum zweiten Mal Aramis und einem Mentorengeschenk zu verdanken. Wie soll ich diese Schuld nur je begleichen?

Den Blick gen Himmel gerichtet, sage ich laut und deutlich »Danke«. Von Aramis ernte ich einen merkwürdigen Seitenblick, doch dann besinnt sie sich anders und folgt meinem Beispiel.

Gesättigt und nicht länger am Verdursten, fühle ich mich schließlich wie neugeboren. Etwas unschlüssig tausche ich einen Blick mit Aramis. Was stand noch gleich auf dem Zettel aus dem Geschenk? Vertrauen?

Sie hat mich immerhin nicht umgebracht, obwohl sie ausreichend Gelegenheit gehabt hätte. Und mit ihr an der Seite wäre ich deutlich sicherer. Gerade wenn ich den Karrieros begegnen sollte ... sie muss ja nichts von meinem Deal mit Snow wissen ...

Da erhebt sich Aramis plötzlich und schultert ihren Rucksack. Sie steht genau in den Strahlen der Morgensonne, als sie mir mit ernstem Blick eine Hand entgegenhält. »Na schön, Annie – ich biete dir hiermit ganz offiziell ein Bündnis an. Du weißt ziemlich viel über die Arena und ihre Umgebung, das ist nicht schlecht. Und du hast offensichtlich ein Händchen für Sponsoren, während ich kämpfen kann. Also, Vier und Zehn, was sagst du? Doppelte Chance für beide von uns?«

Überrascht blinzle ich gegen die Sonne an. »Wirklich? Ich hab mir gerade erst überlegt, womit ich dich überreden könnte ...«

Aramis rollt mit den Augen, doch ihre Mundwinkel zucken. Sie erinnert mich an Amber. »Ja Annie, ich meins ernst. Aber ich muss dich warnen, das ist ein einmaliges Angebot.«

Erneut blinzle ich, in der Erwartung, gleich aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein Traum war und doch ein Pfeil in meine Kehle steckt. Aber nichts dergleichen passiert. Dafür breitet sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus. Ich greife nach Aramis’ Hand.

»Abgemacht.«

 
 

Die 70. Hungerspiele – Liveticker

Dauer: 4 Tage, 0 Stunden, 47 Minuten || Gefallen: 10 || Am Leben: 14

 

Sucher des Todes

»Einen wundervollen guten Mittag nach Distrikt Vier! Ich hoffe, Sie waren heute schon fleißig für unser glorreiches Land unterwegs, meine Damen und Herren, denn jetzt wird es Zeit für das Mittagsupdate direkt aus der Arena der 70. Hungerspiele. Gleich zu Beginn habe ich ein paar fantastische Neuigkeiten für Sie – es gibt einen Rekord zu feiern!

Wer hätte es gedacht, dass in diesem Jahr so eine Überraschung auf uns wartet? Ich jedenfalls nicht, werte Zuschauer. Aber die Anzahl der Bündnisse in diesem Jahr ist nicht bloß rekordverdächtig, wie ich Ihnen versichern kann – sie ist tatsächlich noch nie dagewesen!

Alle verbliebenen Tribute in der Arena sind jetzt Teil eines Bündnisses. Zuletzt haben sich Ihre Annie und Aramis aus Distrikt Zehn zusammengefunden. Eine ziemlich mächtige Allianz, nicht wahr? Aber Ihr anderer Tribut schlägt sich ja ebenfalls nicht schlecht, im Gegenteil ...

Und ich habe gute Nachrichten für alle da draußen auf dem Meer! Ab sofort können auch Sie Ihren Tributen ein Geschenk in die Arena schicken. Die Sammelstellen für Distriktspenden haben seit heute auch eine Dienststelle auf dem Hochsee-Checkpoint Nr. 2 geöffnet. Wenn Sie also noch auf die Reunion Ihrer beiden Tribute hoffen, würde ich mich besser schnell auf den Weg machen. Der Mindesteinsatz beträgt gerade mal zwei Rationsmarken. Und das Beste: für drei zufällig ausgewählte Spender gibt es je einen Jahresvorrat Getreide und Öl im Wert eines Tesserasteins zu gewinnen!

Aber damit nicht genug – ein paar besondere Wetten sind jetzt ebenfalls für Sie zugängig und natürlich gibt es auch hier wieder zahlreiche Gewinne, die auf sie warten. Also stimmen Sie ab, ob Annie oder Aramis siegreich aus diesem Bündnis hervorgehen werden. Wer wird zuerst den Frieden brechen, wer wird zuerst sterben? Ich bin gespannt auf Ihre Meinung! Alle weiteren Infos dazu finden Sie wie gehabt im Teletext, jederzeit erreichbar über den roten Knopf auf Ihrer Fernbedienung oder auf Anfrage bei Ihrem Vorarbeiter.

Das war’s auch schon von mir. Seien Sie weiterhin produktiv für Panems Glanz! Die nächste reguläre Sendung erwartet Sie heute Abend, pünktlich um 19 Uhr.«

 
 

*

 

 

Ich schwitze. Das Metall in meiner Hand glüht förmlich und doch lasse ich nicht los. Im Gegenteil, ich drücke den Speer fester. Nicht mal die Schweißtropfen wische ich mir von der Stirn. Das ist nur ein Ärgernis von vielen, ein verschwindend geringes Problem in Anbetracht der Gesamtsituation. Meine Arme sind übersät mit Mückenstichen (zumindest hoffe ich, dass die Pusteln nichts Schlimmeres bedeuten) und der Dreck von mittlerweile sieben Tagen Arena klebt wie eine zweite Haut an mir.

Nicht zum ersten und hoffentlich auch nicht letzten Mal stelle ich mir das Gefühl von Wasser auf meiner Haut vor. Kein Salzwasser oder abgestandene Tümpelbracke, sondern perfektes, klares, frisches Süßwasser. Oh, was würde ich dafür geben! Doch eine Badewanne kann einem natürlich niemand in die Hungerspiele schicken. Um in diesen Genuss zu kommen, muss man überleben.

Was ich nicht mehr lange werde, wenn mich diese Träume überwältigen! Ich schlinge die Finger noch fester um den Schaft meines Speers. Er ist das Einzige, was zwischen mir und der Gefahr steht. Das und vielleicht der Baum in meinem Rücken – dessen Rinde sich immer wieder an meinem dünnen Oberteil verhakt. Hätte ich die Regenjacke anbehalten sollen?

Nein, dann würde ich noch mehr schwitzen. Und der Schweiß tropft mir so schon von den Wimpern! Ich beiße auf die Innenseite meiner Unterlippe. Konzentration, Annie! Hör auf, deine Deckung zu vernachlässigen! Es könnte jederzeit sein, dass sich jemand anschleicht –

Da! So wie jetzt. Das trockene Gras raschelt, ganz eindeutig! Mit vorgestrecktem Speer wirble ich in der Hocke herum.

Und mir gegenüber steht ... niemand. Nur der Wind bringt die Arena zum Flüstern. Mal wieder. Ein paar Gräser reiben gegeneinander, das ist alles. Zum fünfzigsten Mal an diesem Tag erschrecke ich mich vor nichts.

Am liebsten würde ich mir eine Ohrfeige verpassen. Was müssen nur die Zuschauer von mir denken? Und noch viel wichtiger – warum lasse ich die Ablenkung schon wieder geschehen? Ich bin schließlich zum Auskundschaften hier!

Beide Hände um den Speer verkrampft, als sind sie festgeklebt, wende ich mich erneut dem Ziel zu. Auch wenn ich genau höre, dass die Baumrinde mein Top langsam aber sicher aufreibt, drücke ich mich fester an den Stamm. Meine Waffe stütze ich gegen den natürlichen Erdwall vor mir.

Immerhin bringt der Wind mir nicht nur beunruhigende Töne, versuche ich mich aufzumuntern, sondern auch Abkühlung. Oder eher vermeintliche Frische? Die Brise auf meiner geschundenen Haut erinnert schnell an die Schwaden eines großen Lagerfeuers. Genauso kratzt sonst nur Ruß ...

Aber ein rascher Blick in die Ferne zeigt mir, dass die Arena kein Feuer gefangen hat. Noch nicht. Sollten die Temperaturen allerdings weiter so steigen ...

Es ist hoffnungslos. Nach unzähligen Stunden auf dieser Position kann ich die Gedanken nicht mehr im Zaum halten. Selbst wenn es um mein Leben geht, scheint mein Körper eine Grenze zu haben, die ich nicht einmal mit Willenskraft überwinden kann.

Ich drücke mir eine Hand vor den Mund, um halb Seufzen, halb Gähnen zu ersticken. Wer hätte gedacht, dass ich so schlecht in Observation bin?

Nun, zumindest renne ich nicht länger ziellos mit Aramis durch die Gegend und biete mich den Berglöwen (oder eher Spielmachern) als Fraß an. Es reicht mir schon, dass letzte Nacht – vielleicht – eines der Monster um unser Lager geschlichen ist. Gesehen habe ich die Wildkatze nicht, aber das Schnaufen und Kratzen in der Dunkelheit hat gereicht, um sich Sorgen zu machen. Und nach einer ganzen Woche in der Arena wird es den Zuschauern sicherlich zusehends langweiliger. Da braucht es nur einen Kerl in der Spielzentrale, dem es im Finger juckt ...

Mein Blick zuckt kurz gen Himmel, an dem schon seit Tagen keine Wolke mehr zusehen ist. Ob irgendwo dort draußen die Spielmacher beisammensitzen und ihre neuen Fallen besprechen? Womöglich erörtern sie gerade, wie sie Aramis’ und meine Pläne durchkreuzen können? Alles für ein bisschen mehr Drama in den Spielen?

Seitdem ich auf Aramis getroffen bin, gab es immerhin keinen neuen Tod. Zu meiner Erleichterung. Zehn verstorbene Tribute, das ist schlimm genug. Einen anderen Gedanken kann ich mir nicht leisten. Selbst wenn ich versuche, mich bewusst an die Gesichter der Toten zu erinnern, verschwimmen sie immer weiter hinter einem Schleier aus Blut. Alles, was in meiner Brust verbleibt, ist Leere. Es ist einfach keine Trauer mehr übrig. Nicht mal die Furcht vor der Hymne am Abend ist geblieben, obwohl ich anfangs schon beim ersten Ton in Zittern ausgebrochen bin. Vielleicht würde mich nicht einmal die Kanone noch erschrecken. Wer weiß?

Weiter kann ich den Gedanken nicht verfolgen. Unten in der Senke, die wie eine Falte im ausgerollten Stück Stoff der Landschaft vor mir liegt, blitzt etwas auf. Silberne Klingen – Waffen. Die Patrouille der Außenseitertribute kommt zurück!

Ich presse mich flach auf die Erde und achte darauf, dass mein Speer vom Gras verdeckt wird. Wenn ich die anderen sehe, können sie mich schließlich auch entdecken. Theoretisch zumindest. Ich habe die höhere Position.

In das Lager des zweiten großen Tributbündnisses, das ich schon den ganzen Tag beobachte, kommt derweil Leben. Gestalten laufen unter den aufgespannten bunten Zeltplanen hervor, um ihre beiden Fährtenleser willkommen zu heißen. Aufgeregt gestikulieren sie hin und her. Ich bin zu weit weg, sodass ihre Stimmen kaum zu hören sind, aber ich vernehme die Erregung darin bis hier. Es braucht nicht viel Fantasie, damit man die Lücken füllen kann. Wenn Aramis und ich in den letzten Tagen eines über unsere Mittribute gelernt haben, dann, dass sie immer auf der Jagd nach neuen Opfer sind. Egal wer, egal welcher Distrikt – Hauptsache, das Blut fließt.

Aramis hat ihnen den Spitznamen ‚Sucher‘ verliehen, da sie genau wie die Karrieros immer wieder als Gruppe losziehen, lärmend, lachend und mit erhobenen Waffen. Abgesehen vom dritten Tag, an dem sie mich fast in den Bergen entdeckt hätten, sind sie allerdings nicht allzu erfolgreich. Wobei ich natürlich nicht weiß, was davor alles passiert ist ...

Dass Aramis und ich überhaupt ihr Lager gefunden haben, ist reiner Zufall gewesen. Vor zwei Nächten haben wir unseren Schlafplatz im Schutz einer kleinen Baumgruppe nicht weit von meinem jetzigen Versteck errichtet. Als es dunkel wurde, hörten wir laute Geräusche und kurz danach erhellte plötzlich Feuerschein den Himmel. Im ersten Moment fürchteten wir, jede Minute den Karrieros gegenüberzustehen. Bis ich mich dank Aramis’ Drängen hin auf einen Baum wagte und unten in der Senke die Gruppe rund um das feuerhaarige Mädchen aus Distrikt Sieben erspähte – allesamt völlig ahnungslos ob unserer Anwesenheit. Bei Brot und Speckstreifen, die sie über den Flammen rösteten, feierten die Tribute, dass sie die Spur der beiden aus Fünf gefunden hatten.

Alleine bei der Erinnerung daran kribbelt meine Haut wieder wie unter hundert Ameisenfüßchen. Nora und Circe ... hoffentlich sind sie längst über alle Berge! Es mag vielleicht nicht für ein Bündnis zwischen uns gereicht haben, aber trotzdem. Den Tod durch die Sucher verdient niemand. Ich grabe meine Finger fest in die harte Erde, damit ich nicht dem Drang erliege, mich zu kratzen.

In der Senke versammeln sich derweil die Tribute aus Acht und Neun sowie der Junge aus Sieben um ihre Anführerin. Die gestikuliert wild mit ihrem Schwert in Richtung der Arenamitte. Fort von Aramis und mir.

Unter Gelächter schultern die Kinder ihre Rucksäcke. So schlau sie sich auch vorkommen mögen, ihre Überheblichkeit ist faszinierend. Nicht nur sticht ihr Lager aus der Landschaft hervor wie ein erhobener Mittelfinger, ihr lautes Verhalten schreckt zusätzlich alles Leben im Umkreis von hundert Meilen auf. Ob ihnen überhaupt auffällt, wie ähnlich sie den Karrieros geworden sind?

Nun, zumindest werden Shine und die anderen sicher eine Wache bei ihren Vorräten zurücklassen. Die Sucher jedoch machen sich alle gemeinsam auf den Weg. Immer kleiner werden sie zwischen Steinen und Bäumen, bis die Arena sie verschluckt.

Ich atme tief ein und aus. Das ist Aramis’ und meine Chance! Darauf haben wir seit gestern gewartet!

Mein Mund ist staubtrocken, als ich aufstehe. In meinem Bauch scheint eine Bleikugel zu ruhen und vor lauter Schweiß rutscht mir fast der Speer aus der Hand. Aber jetzt ist es zu spät zum Umkehren. Ich habe Aramis zugestimmt, dass ihr Plan gut ist, und ich werde sie garantiert nicht verraten, selbst wenn mein Körper mich anfleht, umzudrehen und ganz weit fortzurennen.

Das würden mich die Spielmacher ohnehin nicht überleben lassen. Es gibt viele Dinge, worüber man sich im Kapitol uneins ist – manche verehren die Karrieros, andere schwören auf die Außenseiterdistrikte. Einige wollen den Wahnsinn sehen, wieder andere unterstützen lieber jene, die mit Ehre kämpfen. Aber in einem stimmen wohl alle Zuschauer überein: Feiglinge und Verräter mag niemand. Die will man spektakulär sterben sehen. Wenn ich das Kapitol jetzt um seinen Spaß bringe, sind meine Stunden – ach was, Minuten! – gezählt.

Mit dem Speer fest in einer Hand, suche ich die Bäume auf der anderen Seite der Senke ab. Da – es blitzt silbern auf. Ein-, zwei-, dreimal leuchtet die Schneide eines Messers im Sonnenlicht auf. Das ist Aramis’ Signal. Also hat die List mit der gefälschten Spur geklappt und die Sucher jagen nun wieder die verletzten Fünfer. Zumindest glauben sie das.

Ich nehme all meinen Mut zusammen und klettere über den Erdwall, der mich bisher vor neugierigen Blicken geschützt hat. Ungelenk schlittere ich den Hang dahinter hinab. Wie durch ein Wunder schaffe ich es zum Boden, ohne hinzufallen und mich selber aufzuspießen. Doch ich feiere den Erfolg nicht lange, sondern krieche in das nächstbeste Gebüsch. Von dort spähe ich erst nach links, dann nach rechts.

Alles ruhig. Eine Plane flattert knatternd im heißen Wind, ansonsten regt sich nichts. Im Schatten vor mir erkenne ich eine Ansammlung aus Rucksäcken, die ums Füllhorn herum verstreut lagen. Jetzt dienen sie den Suchern offenbar als Vorratslager. Ein Reißverschluss steht offen und ich sehe Brot, Äpfel, eine Tüte mit getrockneten Fleischstreifen ...

Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Hier in der Arena ist jeder Bissen wertvoll. Aramis hat recht, die Sucher brauchen das alles nicht für sich. Sie mögen nicht in Vorräten ertrinken wie die Karrieros, aber mein Mitleid haben sie nicht nötig. Das hier ist die richtige Entscheidung. Ich muss überleben, um Pon zu retten – und das geht nur mit Essen und Trinken.

Entschlossen halte ich den Speer mit beiden Händen vor mich und trete auf die Lichtung. Und dann dreht sich alles. In einem Moment sehe ich noch die leckeren Speisen vor mir, eine Sekunde später schmecke ich nur Staub. Die Luft wird aus meinen Lungen gepresst, sodass ich nicht mal schreien kann. Dabei tut es so weh! Als ob sich der Speer durch mich bohrt ...

Hektisch blinzle ich gegen die aufsteigenden Tränen an. Unter mir sind ... Steine? Ich spucke aus. Ja, das ist eindeutig der Arenadreck, der in meine Wange pikst. Wie bin ich auf dem Boden gelandet?

»Annie!«

Eine Hand packt mein Oberteil. Ich werde herumgedreht und zum zweiten Mal bleibt mir die Luft weg. Aramis starrt mich unter zusammengezogenen Augenbrauen hervor an, ehe sie mich mit einem Ruck aufrichtet. Sie schlägt mir so doll auf den Rücken, dass ich glaube, auch gleich noch das Essen der letzten sieben Tage aushusten zu müssen.

»Vorsicht«, murmelt sie mit gesenkter Stimme, »hier sind überall Stolperdrähte gespannt.«

»Hab ich gar nicht ... gemerkt.« Ich reibe mir mit einer Hand die schmerzende Brust.

Aramis stößt ein bellendes kleines Lachen aus. »Siehst du das da?« Sie zeigt auf eine Lücke zwischen den Zeltplanen vor uns. »Ungefähr eine Handbreit über dem Boden?«

Selbst mit zusammengekniffenen Augen kann ich nicht ausmachen, was sie meint.

»Da ist noch ein Draht gespannt. Dünn wie ein Haar, über die ganze Breite. Und wenn man da reintritt ...« Ihr ausgestreckter Zeigefinger wandert weiter, zu einem knorrigen Baum. »... dann löst die Falle da aus.«

»Welche Falle ...?«

»Das Seil, was diesen schweren Baumstamm da oben hält? Der rast dann geradewegs auf dich zu. Sei froh, dass diese Falle hier nur Lärm ausgelöst hat.«

Erst jetzt fällt mir auf, dass zu unserer Linken ein ganzer Haufen Steinchen verstreut liegt, die offenbar aus einem Netz gefallen sind, das sich bei meinem Sturz gelöst hat.

»Wir sollten besser gut acht geben. Wer weiß, was wir von oben noch alles nicht gesehen haben ...« Mit einem leisen Knacken der Gelenke steht Aramis wieder auf. Anstatt mir eine Hand zu reichen, zieht sie den Bogen von ihrem Rücken und legt einen Pfeil an die Sehne. »Du nimmst die rechte, ich die linke Seite, dann sind wir schneller«, befiehlt sie knapp.

Da mir ohnehin nichts Besseres einfällt, nicke ich nur. Immer noch benommen klopfe den Dreck von meinem geschundenen Top. Am liebsten würde ich mich gar nicht vom Fleck bewegen. Was, wenn ich die nächste Falle wieder übersehe? Ich starre in Richtung des dicken Baumstamms, den Aramis mir gezeigt hat, und erschaudere trotz der Hitze. Das Herz trommelt mir gegen die Rippen wie ein gefangener Schmetterling und meine Hand am Speer zittert mal wieder stärker als die letzten trockenen Blätter an den Bäumen. Aber ich wage mich trotzdem unter die erste Zeltplane. Schlimmer als die Falle wäre es schließlich nur, wenn die Sucher zurückkommen und wir noch da sind.

Im Unterschlupf sind keine Vorräte, nur die Schlafstätten der Tribute. Überall liegen offene Schlafsäcke, dünne Decken und Kleinigkeiten verstreut. Irgendwer hat zum Andenken an zuhause offenbar ein abgewetztes Stofftier mitgebracht, das mich von einem improvisierten Kopfkissen aus anschaut. Ich glaube, dass es ein Eichhörnchen sein soll, zumindest sieht der wenige, intakte Plüsch rot-braun aus. Ein Auge fehlt dem armen Ding bereits und ein dicker Kloß steigt in meinem Hals auf, als ich das Messer aus dem Gürtel ziehe. Cyle hat früher auch einen kleinen Delfin aus Stoffresten gehabt. Gekauft im Tuchmacherdistrikt.

Die Klinge in meiner Hand bebt, doch ich bücke mich trotzdem und greife dem ersten Schlafsack. Mit einem Stich stoße ich in das Gewebe. Es fühlt sich an, wie Butter zu schneiden. Ich muss nur das Messer nach unten ziehen und schon teilen sich die Fasern mit einem leisen rrriiitsch. Eigentlich ein lustiges Gefühl und so befriedigend – ich ramme die Waffe gleich noch einmal hinein. Weiße Watte quillt aus den Schnitten und ich reiße sie heraus. Je nutzloser die Schlafsäcke werden, desto besser. Wenn Aramis und ich es nicht nutzen können, dann soll es niemand haben.

Genauso verfahre ich mit Schnüren und Planen. Alles wird durchlöchert, zerschnitten oder mitgenommen. Sogar das Wasser, was ich nicht tragen kann, verschütte ich. Nur das kleine Stofftier wird verschont. Einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, es mitzunehmen, doch dann setze ich es einfach in ein Nest aus loser Füllwatte und widme mich den restlichen Vorräten.

Selbst wenn die Karrieros mehr haben dürften – es ist unglaublich, welche ‚Reichtümer‘ die Sucher aufgehäuft haben. So viel Brot, wie sich in den Rucksäcken verbirgt, hat meine Familie zuhause in einem ganzen Monat nicht zur Verfügung. Wahrscheinlich könnten alle 24 Tribute bequem mehrere Wochen überleben, wenn da nicht die Spielregeln wären ...

Ich starre auf die kleinen Kekse in meinen Händen hinab, die neben einem Kopfkissen lagen. Wie kann ich nur Essen vernichten? Was sollen die Menschen in den Distrikten nur denken, wenn die Leere in ihren Mägen schmerzt? Trotzig stopfe ich mir das Hafergebäck in den Mund. Doch alles kann ich freilich nicht retten. Als Aramis und ich beide durch sind, bleibt immer noch ein riesiger Haufen über, den wir in die Glut des Feuers werfen.

»Wenigstens brauchen wir nicht mehr hungern«, murmle ich bedrückt.

Aramis schnauft. »Und wir sind alles, was zählt.« Sie lässt ihren Blick über die zerschlitzten Zeltplanen schweifen, die mich an ein abgenagtes Gerippe erinnern. »Das hier war die einzig richtige Entscheidung. Jetzt bekommen sie die beiden Fünfer nicht erwischt und müssen sich erstmal wieder um sich selber kümmern.«

Mit einem wehmütigen Seufzen werfe ich ein letztes Paar trockener Kekse auf den improvisierten Scheiterhaufen. »Sollen wir noch mehr verbrennen? Seilreste?«

Keine Antwort.

»Oder sollten wir ein paar Streifen von der Plane mitnehmen?«

»Sh!«

Ich runzle die Stirn und schaue zu Aramis. »Was ist denn ...«

Doch meine Partnerin beachtet mich gar nicht. Ihr Blick geht geradewegs an mir vorbei.

»Aramis?«

Statt zu antworten, reißt sie in Sekundenschnelle ihren Bogen empor – einen Pfeil an der Sehne.

»Wow ...« Ich stolpere einen Schritt rückwärts, die Hände erhoben. »Was tust du –«

»Beweg dich nicht!« Aramis spannt den Bogen.

»Was ...?« Meine Stimme ist bloß noch ein Fiepsen. War dieses Bündnis eine Lüge? Hab ich Aramis geholfen und als Dank bringt sie mich um?

Mir bleibt keine Zeit für weitere Gedanken, denn Aramis lässt den Pfeil los. Ein leises Wispern streicht an meinem Ohr vorbei, als das Geschoss über meine Schulter fliegt und verschwindet.

»Mist!«, zischt Aramis sofort. »Nicht getroffen – na los, dreh dich um, Annie!«

Verwirrt folge ich ihrem Befehl. Keine Sekunde zu früh. Fünf Meter hinter mir steht sie aus dem Gras auf, ein unterarmlanges Messer in der Hand. Das Mädchen aus Neun. Ein weiterer Pfeil rast knapp an mir vorbei. Auch dieser verfehlt, als die Neunerin einen Haken schlägt.

Wann ist sie zurückgekommen? Und wo sind dann die anderen ...?

»Annie, wach auf!«

Ich sehe mich zu Aramis um. Sie legt bereits den dritten Pfeil an.

»Sie ist alleine, das ist unsere Chance!«

Nein! Irgendwie schüttle ich den Kopf, stolpere zur Seite –

»Wir können sie nicht abhauen lassen!«

»Aber ...« Meine Stimme trägt es mit dem Wind davon.

Die Tributin hat uns fast erreicht. Sie hält ihre Waffe wie einen Schild vor sich. In ihren Augen glimmt der bloße Zorn. »Dafür werdet ihr bezahlen!«, faucht sie. »Ihr seid tot! Oh ja, wenn Vic zurückkommt, werde ich ihr eure Köpfe präsentieren!«

Aramis schmeißt den Bogen zur Seite und zieht ein Messer. »Dann komm doch!«

Einen Moment lang stehe ich erstarrt da, eine Zuschauerin in meinen eigenen Spielen. Dann höre ich das Klirren von Metall auf Metall. Das Keuchen, den kleinen, wütenden Aufschrei. Ich darf meine einzige Bündnispartnerin nicht verlieren! Doch der Speer ist zu weit weg, er lehnt da hinten neben den Vorräten ...

Von ganz alleine ballen sich meine Hände zu Fäusten. Ich habe es so oft geübt. Zusammen mit Amber. Mein Körper ist eine Waffe. Er wird mir das Leben retten.

Ich lasse die letzten Vorräte fallen und schließe die Augen. Schon bin ich wieder zurück in der Trainingshalle. Wie aus großer Ferne höre ich Floogs’ sanfte Stimme, seine Anweisungen.

»Wo bist du?«

Hier.

»Wie spät ist es?«

Jetzt.

»Wer bist du?«

Dieser Moment.

Und ich werde um mein Leben kämpfen.

Ich reiße die Augen auf. Direkt vor mir duckt sich das Mädchen aus Neun unter einem Hieb von Aramis durch. Ich sehe sie ganz deutlich. Ihre Sommersprossen, ihre Stupsnase, den Schmutz in ihren blonden Haaren, die aufgebissenen Lippen und die Tränen in ihren Augenwinkeln. Sie hat hellblaue Iriden.

Schon hebt sie wieder das riesige Messer. Doch ich lasse nicht zu, dass die Klinge auf Aramis niederfährt. Ich reiße den Arm nach oben, schlage gegen ihren Unterarm und blocke ihren Angriff. Mit der anderen Faust stoße ich geradewegs in ihren Magen.

Ein Keuchen kommt über die Lippen der Tributin. Sie krümmt sie nach vorne. Entschlossen packe ich ihr Handgelenk. Meine Finger graben sich in die weiche Innenseite ihrer Haut, aber sie lässt ihre Waffe nicht los. Stattdessen drückt sie die Klinge weiter vorwärts. Kleine Blitze zucken durch mein Sichtfeld. Etwas Warmes rinnt über meinen Oberarm –

Fauchend tritt Aramis nach dem Mädchen. Ihr Fuß trifft genau in ihre Kniekehlen. Gerade rechtzeitig lasse ich los und unsere Gegnerin geht zu Boden. Aramis stürzt sich auf sie, doch in letzter Sekunde rollt sie zur Seite. Noch im Liegen wirbelt sie zu mir herum. Es zischt und ihre Klinge saust nur Zentimeter an meinem Oberschenkel vorbei. Entgegen aller Vernunft trete ich danach.

Ein Knacken füllt meine Ohren, gefolgt von einem Jaulen.

»Du Schlampe!« Das hübsche Gesicht des Mädchens verzieht sich zu einer Grimasse, als sich von hinten Aramis auf sie stürzt. »Ich mache euch fertig!« Fast schon schlangengleich windet sie sich aus Aramis’ kräftigen Armen und bekommt erneut ihr Messer zu fassen, bevor sie auf die Füße gelangt.

Wieder schlägt sie nach mir. Ich weiche aus. Einmal, zweimal – ein drittes Mal. Im Hintergrund rappelt Aramis sich ebenfalls auf. Und da kommt mir eine Idee. Ich habe die Bewegung nur kurz bei Floogs gesehen, doch es muss einfach klappen!

Sobald die Neunerin wieder herankommt, ducke ich mich und springe geradewegs in ihre Arme. Die Hände schlinge ich um ihre Hüfte. Ein Schrei verlässt meine Kehle, als wir voller Kraft aufeinanderprallen. Der Schwung reißt mich fast von den Füßen. Aber ich schaffe es, die Energie über meine Schulter weiterzuleiten. Die Tributin fliegt hinter mir zu Boden, dass es ihr die Luft aus den Lungen presst – wie ihre Falle vorhin bei mir.

Genug ist es trotzdem nicht. Wieder springt das Mädchen auf und dieses Mal landet es auf meinem Rücken. Es braucht Aramis, die sie in letzter Sekunde herunterreißt. Am Boden lande ich dennoch. Für einen Wimpernschlag lang starren die Fremde und ich uns an. Hass verschleiert ihre Augen, lässt sie ihre Zähne fletschen. Sie sieht jung aus mit ihren rotfleckigen Wangen und gleichzeitig furchtbar alt. Hunderte zornige Falten durchziehen ihre blasse Haut.

Ich taste nach dem Messer an meinem Gürtel. Mit dem ich vorhin erst die Schlafsäcke zerstochen habe ... Warte, der Gedanke gehört nicht in diesen Moment!

Keuchend ziehe ich die Waffe und halte sie schützend über mich.

Das Mädchen aus Neun kümmert es nicht. Sie erwischt Aramis am Knie und erst, als diese fluchend weg stolpert, wendet sie sich erneut mir zu. Fast schon unbekümmert drückt sie meine Hand zur Seite. Holt selber aus, zielt auf meine Kehle ...

»Nein!« Ich steche das Messer vorwärts. Rrriiitsch ...

»Fuck!«

Die Klinge hat ihre Jacke an der Brust zerschnitten. Ein winziges rotes Rinnsal quillt darunter hervor. Und ich – ich denke nicht mehr, ich fühle nicht, nein, ich will nur leben! Ich bäume mich auf wie ein Schiff im Sturm.

»Annie, halt still!«, brüllt Aramis. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie mit ihrem Bogen auf uns zielt.

Es kostet mich sämtliche Willenskraft, nicht wieder aufzubegehren. Doch ich vertraue Aramis – eine andere Chance habe ich schließlich kaum. Fäuste geballt, Lider fest geschlossen, warte ich auf das Unvermeidliche.

Tschick.

Der Einschlag des Pfeils ist kaum zu hören. Dann hustet die Tributin über mir. »Ahh ...«

Feste Schritte nähern sich. Der Stoff einer Regenjacke knistert, als Aramis die Neunerin von mir herunterzieht. Sie lebt noch, ich höre ihr Keuchen – und ihr leises Wimmern.

»Bitte ...«

Vorsichtig sehe ich mich um. Aramis’ Pfeil hat unsere Gegnerin mitten in den Bauch getroffen. Das Blut sieht man kaum, doch ihr Gesicht ist käseweiß. Sie kniet vornübergebeugt auf der steinigen Erde und ringt nach Luft.

»... bitte ...«

»Das hättest du dir vorher überlegen müssen, bevor du uns angegriffen hast.« Aramis lässt den Bogen fallen und zieht stattdessen wieder das Messer. »Aber wer tötet, kann auch getötet werden. So wollen es die Spiele.«

»Nein ...« Tränen blitzen in den Augen des Mädchens auf. Der Zorn von eben ist verschwunden. Auf einmal wirkt sie wieder so jung; jünger als je zuvor. Und sie will leben, genau wie ich. »Es tut mir ... leid ...«

Aramis packt ihre blonden Haare und zieht ihren Kopf zurück. In einer eindeutigen Geste legt sie die Klinge an den Hals der Tributin. Das Wimmern erstickt langsam. »Weil es dir leidtut, werde ich noch einmal gnädig sein.«

»Nein«, schluchze ich nun an Stelle des Mädchens, »tu das nicht –«

Dieses Mal ist es keine Plane, die mit einem sachten rrriiiitsch reißt. Ich würge.

Aus zornigen, ängstlichen blauen Augen werden glasige Murmeln. Genau wie bei Wyatt sieht die Tributin aus Neun von einem auf den anderen Moment geradewegs durch mich hindurch. Und dann ertönt auch schon der Kanonenschlag. So laut, als wäre er direkt neben mir abgefeuert. Die Erde bebt, meine Ohren klingeln. Selbst Aramis verzieht das Gesicht.

»Was ... was hast du getan ...«, murmle ich gegen das Rauschen an.

Aramis schnaubt. »Ihr langes Leid erspart.« Sie streift das Messer an den Kleidern der Toten ab, bevor sie den Pfeil aus ihrem Oberkörper zieht. »So machen wir es mit dem Vieh daheim auch. Ein schneller Schnitt ist das Beste. Oder lasst ihr den Fisch in Vier etwa lange leiden?«

»Ich ...« Mein Mund ist trocken. Ich kann Aramis nicht einmal erzählen, dass ich es nicht mag, den Fisch bewusstlos zu schlagen, bevor man mit dem Messer zwischen die Kiemen sticht und sein Leben beendet. Mir ist es ja sogar zuwider, die Tiere vor dem Kochen auszunehmen, aber eine andere Wahl habe ich ja nicht ...

»Na los, komm schon! Wir müssen hier weg, bevor auch noch der Rest zurückkommt! Weiß der Himmel, warum sie noch nicht längst hier sind.«

Grob greift Aramis meinen Arm. Aber der gehorcht mir nicht, genauso wenig wie der Rest meines Körpers. »Ich kann nicht –«

»Oh, und wie du kannst! Oder willst du etwa deine Familie enttäuschen?«

Familie ... Papa! Ich muss ihn retten!

Irgendwie kämpfe ich mich mithilfe von Aramis’ Hand zurück auf die Füße. Der Rucksack, den sie mir aufzwingt, ist schwer wie Blei, aber ich sage kein Wort dagegen. Hauptsache, wir verschwinden von diesem Ort. Ich sehe nicht noch einmal zu dem Mädchen aus Neun zurück.

 

Der Weg in unser Lager kommt mir vor wie ein Traum. Alle Geräusche sind gedämpft. Ich höre nicht, was Aramis sagt, ich merke nicht, wie die Anstrengung mir in der Brust schmerzt; ich fühle die Tränen auf den Wangen nicht. Ein Kieselsteinchen ist mir in den Schuh gerutscht – das ist alles, was ich wahrnehme. Das ständige Reiben an meiner Hacke, bis die Socke ein Loch hat.

»Wir müssen hier weg«, stelle ich mit zitternder Stimme fest, sobald wir unser Lager zwischen zwei großen Steinquadern erreicht haben.

»Später. Jetzt brauchen wir erstmal eine Pause. Sonst kippen wir noch um.«

»Aber sie verfolgen uns bestimmt schon!« Ich schniefe.

»Hinter uns habe ich niemanden gehört. Die anderen waren noch weiter weg, als die aus Neun zurückgekommen ist. Vielleicht war sie sogar ganz alleine. Jedenfalls sollte eine kleine Pause kein Problem sein. Dann können wir uns immer noch überlegen, wohin wir als Nächstes gehen.«

»Aber ... sie werden uns überall finden!«

Aramis seufzt. »Verlierst du jetzt die Nerven?«

»Du hast gerade jemanden umgebracht!«

»Weil das die verschissenen Hungerspiele sind!« Ich werde so fest an den Schultern gepackt, dass es wehtut. »Hör zu Annie, alles wird gut. Wir sind am Leben, wir haben genug Vorräte. Es gibt keinen Grund für Panik. Wir sind bloß ein Tribut weniger. Das ist gut! Erhöht die Chancen für deinen kleinen Jungen.«

Langsam nicke ich. Nichts ist gut, überhaupt nichts – aber in einem hat Aramis recht: Es muss so sein. Für Pon. Also schlucke ich all die Bitterkeit hinunter, die sich in meiner Kehle gesammelt hat und versuche, all das Blut zu vergessen, das jetzt an unseren Händen klebt.

Irgendwie schaffe ich es, gemeinsam mit Aramis einen kleinen Imbiss zuzubereiten, ehe wir die wenigen Gegenstände aus dem Lager zusammenpacken. Die ganze Zeit über lausche ich auf herannahende Schritte, doch nichts passiert. Vollkommen unbehelligt machen wir uns schließlich auf in die Abenddämmerung, die mit dunklen Wolken am Horizont aufwartet. Beide sprechen wir kein einziges Wort. Nur hin und wieder gleitet mein Blick zu dem Messer an Aramis’ Hüfte, das jetzt eine Mordwaffe ist. Ich greife meinen unbefleckten Speer fester.

 

 
 

Die 70. Hungerspiele – Liveticker

Dauer: 7 Tage, 8 Stunden, 23 Minuten || Gefallen: 11 || Am Leben: 13

 

Die Kämpferherzen


 

Die Kämpferherzen - Sechsundzwanzigstes Kapitel

*

Dunkel und von Wolken verhangen wölbt sich der Himmel über die Arena, als ich aus meinem Traum aufschrecke. Mein rasender Atem bildet Wölkchen, die weiß vor dem schwarzen Himmel dahinschweben. Einen Moment lang habe ich Mühe, mich zu orientieren, bis ich Aramis ausmachen kann, die auf die Seite gerollt schläft. Sie muss während ihrer Wache eingeschlafen sein, doch  kein Geräusch außer meinem Atem durchbricht ohnehin die Stille der Nacht. Es ist eine friedliche Nacht, die von einem blassen Mond beleuchtet wird. Erleichtert seufze ich leise. Meine Träume… eines Tages werden sie mich noch verrückt machen.

Mit einer kalten Hand fahre ich mir durch die Haare, die mir am Gesicht festkleben. Ob vor Schweiß oder Tau kann ich nicht sagen. Leise, um Aramis nicht zu wecken, setze ich mich auf und lehne mich gegen den angenehm kühlen Stein, während ich mühsam das Haarband aus meinem Zopf befreie. Ich schüttle meine Haare und wünsche mir, dass es doch nur eine Dusche hier gäbe, denn ich sehe furchtbar aus. Durchgeschwitzt vom Angstschweiß meines Alptraums, verdreckt vom Tage und überdies ausgehungert und übermüdet…

Ich ziehe meine Jacke aus und rolle sie zu einem kleinen Kissen zusammen, gegen das ich nun meinen Kopf lehne. Es ist zwar nicht wirklich warm, doch der kalte Wind streicht angenehm über meine Schulter und kühlt mich.

Wenigstens hat mein Alptraum dieses Mal Pon nicht beinhaltet, sondern nur das Mädchen aus Distrikt neun. Immer wieder ist sie hinter mir hergelaufen, mit einem großen roten Blutfleck auf der Brust und ein Messer schwenkend. Es war wie gestern, als die Angst um mein eigenes Leben mich überwältigte und ich mich wehrte, obwohl ich niemandem etwas tun wollte. Ich weiß, dass ich nicht mehr daran denken sollte, was geschehen ist, denn es wird mich nie loslassen. Vor meinen Augen kann ich sehen, wie Amber aussehen würde, die Arme verschränkt und ich höre fast, wie sie sagt, dass ich lernen muss zu vergessen. Ja, so etwas würde Amber tun. Manchmal wäre es so viel besser, wenn ich ein wenig mehr wie Amber wäre. Aber stattdessen bin ich einfach nur… Annie. Klein, weinerlich und ein wenig – verrückt.  

Ich kann nicht alle retten und doch scheint mein Innerstes in Flammen zu stehen, wenn ich nur daran denke, wie viele sterben müssen, damit einer von uns überleben „darf“. Nicht einmal meinen ärgsten Feinden, den Karrieros, wünsche ich diesen Tod, hier in der kalten Arena, wo jeder zusehen wird. Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe bei dem Gedanken an Maylin. Noch lebt sie – noch muss ich sie töten. Mit meinen eigenen Händen! Um keine Schwäche mehr zu zeigen balle ich meine Hände zu Fäusten und bohre schmerzhaft meine Fingernägel in die geschundenen Handflächen. Wenn ich so weiter mache werde ich noch ein nervliches Wrack werden!

In diesem Moment höre ich ein leises Rascheln aus der Richtung des Nachtlagers. Nur vom Mondlicht beschienen zeichnet sich Aramis dunkle Silhouette vor dem Himmel ab. Einen Moment lang sitzt sie nur da, als würde sie mich nicht einmal bemerken, dann wendet sie ihren Kopf. Ihre Augen blitzen im Licht einmal kurz auf und zum ersten Mal kann ich erkennen, dass sie grüne Augen hat. Nicht so grün-blaue wie meine, nein, so grüne wie das erste Grün im Frühjahr. Trotz ihrer Statur, ihrer Waffen, die direkt neben ihr liegen, die sie sogar manchmal in der Nacht fest in der Hand hält, sieht sie nicht aus, wie eine brutale Mörderin. Ich wusste doch, worauf ich mich einließ, als ich mich mit ihr verbündete, und doch will ich es nicht wahrhaben.

Einen Moment lang schweigt sie und wir blicken uns bloß an – ob aus Rücksichtnahme, oder weil wir uns bloß nichts zu sagen haben, kann ich nicht deuten. Nach einer Weile erhebt Aramis sich und setzt sich mit geschmeidigen Bewegungen neben mich. Es erstaunt mich immer noch, wie leise sie sein kann, wo sie doch so eine kräftige Statur hat…

„Ich hatte nie eine Wahl.“

Leise und sanft wie der Wind hängen ihre Worte in der Luft. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und ich blicke starr auf meine Hände, die ich in meinem Schoß knete.

„Vielleicht ist es Schicksal, wie manche es nennen.“

Erneut senkt sich die Stille über uns. Zaghaft wage ich einen Seitenblick auf Aramis. Ein paar Strähnen hängen ihr ins Gesicht und ich kann ihre Augen nicht erkennen, doch sie scheint ihren Blick weit in die Ferne gerichtet zu haben.

„Bin ich die Böse in diesem… diesen Spielen?“

Für den Moment lang glaube ich, dass sie eine Antwort erwartet, doch dann fährt sie hastig fort:

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines… Ich bin ich.“

Ich schlucke, doch der Kloß in meinem Hals geht nicht weg.

„Annie, ich bewundere dich. Du bist so… nett. Wenn ich die Böse bin, dann bist du die Gute.“

Zum ersten Mal guckt sie mich wieder an, doch der Blick aus ihren grünen Augen ist unergründlich. Ein seltsames Lächeln, das sich kaum wie eines anfühlt, gleitet über mein Gesicht.

„Du bist nicht Böse.“

Ich will es nicht aussprechen, dass ich bloß schwach bin, denn ich brauche doch Sponsoren. Bestimmt haben wir die gesamte Aufmerksamkeit Panems. Ein falsches Wort – es könnte unseren Tod bedeuten. Also besinne ich mich auf das Einfache, das Naheliegendste:

„Du hast mich gerettet.“

Auch sie zeigt ein kleines, resigniertes Lächeln, sie versteht.

„Weil ich dich ein wenig bewundere. Du hast noch eine Wahl.“

Ich schüttle den Kopf.

„Pon“, sage ich nur kurz, doch ich kassiere lediglich einen wissenden Blick von Aramis.

„Weißt du, auch ich hatte einen Partner. Unsere Bauernhöfe in Distrikt zehn waren dicht beieinander – wir waren quasi Nachbarn. Auch wenn er zwei Jahre jünger war, waren wir gute Freunde. Ich hab ihm das Bullenreiten beigebracht, dafür hat er mir sein Pferd geliehen, wenn ich einmal ins Zentrum von Distrikt zehn musste. Wir haben vieles geteilt.“

Für einen Moment stoppt sie, doch ich wage es nicht, auch nur etwas zu sagen. Nach meiner Einschätzung kommt es nicht oft vor, dass Aramis aus ihrem Leben erzählt. Ich kann spüren, wie sie sich neben mir anspannt, ganz so, als würde sie sich vor etwas wappnen.

„Es war nicht so, als wenn wir allerbeste Freunde waren…“

Es gibt nur eine Möglichkeit, was passiert ist, es ist doch immer so:

„Bis zum Ende haben wir alles geteilt, auch die Ernte. Er kam mit mir her und es war doch von Anfang an klar, dass es nur einen geben kann. Doch… er hat nicht einmal das Füllhorn überlebt.“

Meine kalte lege ich auf ihre, die rau und schwielig ist, vermutlich von der harten Arbeit in Zehn.

„Nicht nur dir haben sie etwas genommen.“

Zwar weiß sie nichts von Maylin und Snows Drohung, doch sie stellt keine Frage, obwohl Pon doch noch am Leben ist, von dem ich ihr bisher nur erzählt hatte.

„Ich kann Pon nicht vor ihnen beschützen, sie sind der Feind und… Ich habe eine Rechnung mit ihnen offen.“

Sogar mich überrascht meine drastische Wortwahl ein wenig und für den Moment herrscht Schweigen, ehe Aramis kurz Luft holt, ansetzt etwas zu sagen und dann doch schweigt. Fragend blicke ich sie an.

„Annie, es ist völlig deine Entscheidung, das solltest du wissen.“

Ich nicke.

„Aber… wir sollten es die Karrieros büßen lassen… Ich will es die Karrieros büßen lassen. Ich weiß, du bist nicht wie“, mit leiserer Stimme fährt sie fort, „wie ich.

Ich schenke Aramis ein kleines Lächeln, denn ich habe verstanden – wir sind uns ähnlicher, als ich dachte. Wir wollen nicht aus Wonne töten und doch mögen unsere Wege unterschiedlich anmuten, aber in Wirklichkeit sind wir wohl doch nicht allzu verschieden.

„Vielleicht hast du dich geirrt, was die Wahl angeht“, flüstere ich so leise in ihr Ohr, dass ich hoffe, dass Snow es nicht hört. Dies ist ein Eingeständnis meiner Schwäche, dass Snow Macht über mich hat.

Nun erwacht Aramis selber wieder zu leben, begeistert ritzt sie eine Karte der Arena in den Boden und gemeinsam überlegen wir bis zum Morgengrauen, wo die Karrieros sich aufhalten könnten. Schließlich steht unser Plan fest:

Nach dem Frühstück, welches wir zum ersten Mal in der Arena haben, werden wir in das Tal herabsteigen und uns auf den gefährlichen Weg Richtung Füllhorn machen, wo wir die Karrieros am ehesten vermuten, denn in 90% aller Spiele, die wir beide gesehen haben, war das Hauptversteck dort, an der Quelle von Waffen und Nahrung.

Schon jetzt bin ich nervös und fühle, wie sich mein Magen zusammenzieht bei dem Gedanken daran, so bald schon Maylin zu begegnen. Für so lange Zeit war es mir gelungen, sie zu verdrängen, doch jetzt ist es soweit. Noch habe ich keinen Plan, wie ich es tun soll, sondern ich hoffe einfach darauf, dass es sich ergeben wird, ähnlich wie bei dem Mädchen aus Neun. Ein naiver Gedanke, aber am liebsten würde ich ja auch einfach auf das Ende warten wollen, wie ein Angsthase, in irgendeiner unterirdischen Höhle.

Während des Frühstücks spitzt Aramis mit kontrollierten Bewegungen, ohne ein äußerliches Anzeichen von Nervosität, die Spitzen ihrer Pfeile weiter mit dem Messer an, bis sie fein und gefährlich wie kleine Nadeln sind. Beide bekommen wir wenig runter, auch wenn Aramis versucht, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen, in dem sie so kontrolliert arbeitet. Meine Hände dagegen zittern so stark, dass ich sogar eines meiner Brötchen fallen lasse. Deshalb bin ich fast schon dankbar, als Aramis sich entscheidet, dass wir losgehen sollten.

Heute bleibt der Himmel von den Wolken verhangen, sodass es zusätzlich zu der Hitze auch noch unerträglich schwül wird, als würde uns ein heftiges Unwetter bevorstehen. Wobei ich sagen muss, dass ich einem Unwetter nicht einmal abgeneigt bin, denn vielleicht blüht die Arena dann wenigstens ein wenig auf. Diese Hitze erleichtert uns den Abstieg nicht gerade, denn es fühlt sich so an, als würde man durch Wackelpudding marschieren. Zur Mittagshitze erreichen wir pünktlich, aber völlig verschwitzt, den letzten Geröllstreifen am Fuße des Berges, ehe das offene Grasland beginnt.

Mittlerweile tragen wir nur noch die Tops und die Hosen haben wir hochgekrempelt, soweit es geht. Lediglich die Schuhe auszuziehen trauen wir uns nicht, aus Angst vor möglichen Fallen oder Gefahren. Keuchend lassen wir uns auf die Steine fallen, die wenigstens nicht von der nicht vorhandenen Sonne erhitzt werden konnten. Schutz vor der Hitze jedoch gibt es nicht, nur vor der Sonne, dank der Wolken. Als einzige Maßnahme gegen die brutale Hitze wagen wir es, uns ein wenig des kostbaren Wassers über den Kopf rinnen zu lassen, doch die angenehme Kühle vergeht viel zu schnell. Gerade, als ich mir die letzten Tropen die Kehle hinabrennen lasse und Aramis sich daran macht eine ausreichende Mahlzeit aus Brot, Speck und Trockenfrüchten zusammen zu stellen, zerreißt die empfindliche Stille um uns herum.

ROAAAAAAAAAR!

Es ist ein lautes, dunkles und wütendes Brüllen, das von den Hängen wiederhallt.

„Scheiße, Annie!“, sagt Aramis konsterniert, während ihre Augen sich weiten.

Mein Herz in der Brust macht einen kleinen Satz. Ich kenne dieses Brüllen… Die Packung getrockneter Ananasscheiben, die ich eben noch in der Hand hielt, fällt mit einem Plumps zwischen meine Füße. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, als ich hinter Aramis blicke. Ein dunkler Schatten schleicht sich in ihrem Rücken an.

„A… hinter“, ich breche ab und beschließe, zu handeln.

Mutig springe ich nach vorne und reiße die wie in eine Starre verfallene Aramis von dem Stein, in Richtung Boden. Hart prallen wir auf den Boden auf.

„Berglöwe“, zischen wir beide aus einem Munde, was ein neuerliches, schauriges Brüllen nur bestätigt.

Mit einem eleganten Satz landet die Raubkatze auf dem Stein, wo ich eben noch saß. Es ist ein besonders großes, rot-braunes Exemplar, garantiert genmanipuliert. Sein Fell ist schmutzig und zottelig.

Das letzte Mal, als ich einem Löwen dieser Sorte begegnet bin, ist er glücklicher Weise bloß um unser Nachtlager geschlichen, doch dieses Exemplar schaut nicht so aus, als wäre er zum Spiele gekommen, denn seine bedrohlichen Zähne sind gebleckt. In diesem Moment entdeckt das Tier uns und knurrt, wobei es seine Lefzen hochzieht. Seine stechenden Augen, die von einem schmutzigen Gelb sind, scheinen direkt in die meinen zu sehen. Wie schockgefrostet liege ich auf dem Boden und erwidere den Blick der Raubkatze. Hinter mir jedoch richtet Aramis sich auf, einen Pfeil an der Sehne und schießt auf den Berglöwen, doch der Pfeil streift ihn nur an der Flanke und er jault böse auf. Unter seiner Haut spannen sich seine geschmeidigen Muskeln an und es sieht aus, als wolle er gleich losspringen, doch noch hält er die Spannung, seinen stechenden Blick fest auf uns gerichtet. In der Ferne ist ein dumpfes Grollen zu vernehmen, wie von einem Gewitter. Ich hasse Gewitter. Ein kleines „Hiii“, entfährt mir und ich presse meinen Kopf zwischen meine Arme.

Ich will das Ende nicht kommen sehen, und gerade jetzt habe ich das Gefühl, dass es sehr nahe ist. Mit einem Tribut können Aramis und ich es vielleicht noch aufnehmen, aber nicht mit einem riesigen Löwen. Unter meinen Lidern hindurch schaue ich vorsichtig hervor und sehe, wie die angespannten Muskeln losschnellen und der Löwe sich vom Stein abdrückt wie eine Sprungfeder. Ich halte den Atem an und rolle mich zu einer Kugel zusammen, in Erwartung scharfer Krallen, die meine Haut gleich aufschlitzen werden, als Rache für den gestrigen Mord.

Doch das bleibt aus, stattdessen gleitet der Schatten über uns hinweg und der Berglöwe verschwindet mit ein paar Sätzen am Berg, wo er hergekommen ist. Aber die Erleichterung währt nicht lange, denn in diesem Moment rumpelt es erneut – jedoch nicht in der Ferne, sondern in unmittelbarer Nähe. Jetzt weiß ich auch, warum die Raubkatze geflohen ist, anstelle uns zum Mittagessen zu verspeisen: Eine Steinlawine droht!

Panisch rufe ich Aramis zu, sie solle sich nach einem Baum oder einer Erhöhung umsehen, denn ich will nicht von Steinen überrollt werden. Doch alles, was sich in unserem Umkreis befindet sind… Steine. Unsere Blicke begegnen sich und sie schüttelt hastig den Kopf, ehe sie brüllt:

„Renn!“

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und wir schmeißen uns unsere Rucksäcke auf den Rücken und rennen, was unsere Lungen hergeben. Keuchend und mit brennenden Gliedern taumle ich auf die Grasebene zu, doch das Grollen lässt nicht nach, ja, es verfolgt uns gar!  

Mit einem Gefühl, als würde meine Lunge gleich in Feuer aufgehen, renne ich weiter durch das trockene Gras, obwohl ich Aramis längst aus den Augen verloren habe. Schließlich habe ich mir doch geschworen, das hier zu einem Ende zu bringen! Erst als das Grummeln überraschender Weise abreißt, halte ich inne. Augenblicklich überkommt mich Schwärze und ich sacke zusammen. Zittrig atme ich ein und aus, völlig erschöpft und von den Schmerzen überrascht. Kalter Schweiß rinnt über meine Stirn, doch ich fühle mich an, als würde ich kochen. Über mir ziehen die Wolken unbeirrt ihre Bahnen und alles ist ruhig. In diesem Moment taucht ein ernstes Gesicht in meinem Blickfeld auf. Besorgt mustern Aramis grüne Augen mich, dann geht sie in die Knie und reicht mir ihre Hand.

„Alles in Ordnung?“

Mit leichtem Schwindel setze ich mich auf und nicke zaghaft, während ich einmal tief Luft hole.

„Nur zu schnell gerannt“, murmle ich leise.

„Was war-“, will sie fragen, doch in diesem Moment rumpelt es noch einmal, dieses Mal jedoch spüre ich auch die Bewegungen – die Erde in der Arena bebt. Mit einem schrillen Schrei presse ich mich flach auf den Boden, und Aramis tut es mir gleich. Das unheilvolle Geräusch ist weder Gewitter noch Steinschlag – sondern ein Erdbeben!

Mit Tränen in den Augenwinkeln presse ich mich an die raue Erde, die unter meinen Fingern immer wilder geschüttelt und gerüttelt wird. Der Himmel über uns sieht aus, als würde er aus der Fassung fallen, direkt auf uns herab. In der Ferne hören wir das Knallen von Steinen, die ausgelöst durch das Erdbeben von den Hängen poltern. Ich verliere vollständig die Kontrolle über das, was hier passiert, alles, was ich tun kann, ist mich durchrütteln zu lassen.

Immer mehr grollt es in der Erde und ich fühle mich, als würde ich den Boden unter mir verlieren. Die Zähne in meinem Kiefer klappern aufeinander und ich presse sie fest aufeinander, genauso, wie ich meine Augenlider zusammenpresse, um nicht die Welt zu sehen, wie sie um mich herum in sich zerfällt.

‚Warum ich? Warum, Warum?`, wimmere ich in Gedanken, während ich spüre, wie sich die Erde unter meinen Fingern langsam spaltet, bereit mich zu verschlingen. Müde bette ich meine Stirn auf die sich spaltende Erde. So lange bin ich nun schon fortgerannt, immer gerannt, doch jetzt spüre ich, wie meine Energie förmlich fortgesaugt wird von mir. Es geht mir schlecht, ich bin müde… ich will schlafen. Es ist doch klar, dass sie mich tot sehen wollen! Langsam verliere ich das Gefühl über meinen Körper, ich spüre nur noch, wie ich durchgeschüttelt werde, immer gleichmäßig und fast schon beruhigend, wie ein Wiegenrhythmus.

„Was tust du denn da? Steh auf!“, reißen mich Schreie aus der Gleichgültigkeit.

Mühsam kann ich eine wackelnde Aramis erkenne, die eine Hand nach mir ausstreckt, doch sie scheint Mühe zu haben, sich auf den Beinen zu halten.

„Bitte Annie.“, ruft sie weiter.

Es dauert so unendlich lange, als ich meine Hand nach ihr ausstrecke, doch kaum, dass Aramis sie ergreift, scheint das Tempo der Welt von 0 auf 100 zu steigen. Ich werde förmlich von ihr mitgerissen, über sich auftuende Risse und die wackelnde Welt, die in meiner Wahrnehmung irgendwie… schief zu liegen scheint. Alle Empfindungen wie Anstrengung und Müdigkeit bleiben hinter uns zurück, als wir so durch die Ebene rennen, einfach nur noch angetrieben von Angst und dem Überlebensdrang, auch wenn dieser mich fast schon verlassen hatte.

Wir stürzen vorwärts, die aufreißende Ebene im Nacken und scheinen fast dahinzufliegen. Aramis lässt meine Hand nicht los, nicht für eine Sekunde, als hätte sie Angst, dass ich dann verschwinden könnte. Erst nach einer Weile wird sie langsamer, aber auch nur, weil das Grollen verstummt hat. Langsam laufen wir noch ein paar Schritte, eher sie abstoppt und mich auflaufen lässt. Verwirrt pralle ich gegen sie und registriere erst nach einigen Sekunden, dass die Erde um uns herum sich nicht mehr bewegt. Gerade will ich aufatmen, da schlingt Aramis ihre Arme um mich. Fest drückt sie mich an sich. Perplex sinke ich in ihren Armen zu Boden und lege zaghaft meine Arme um sie.

„Mach das ja nicht noch einmal, mir so einen Schrecken einzujagen“, sagt sie zittrig, während sie ihr Gesicht an meine Schulter lehnt.

Überrascht tätschle ich ihr die Schulter.

„Nein, ich verspreche es“, entgegne ich mit weinerlicher Stimme, jetzt, da das Adrenalin mich wieder verlässt.

Ich lasse meine Arme sinken und sie packt meine Hände und drückt sie ebenfalls fest.

„Du bist doch stark. Wir sind stark. Ein gutes Team, das sind wir. Da ist ein kleines Erdbeben doch nichts…“

Wir tauschen ein kleines Lächeln aus. Ja, in Wirklichkeit war das Erdbeben nur klein.

Aramis kichert leicht und ergänzt:

„Kämpferherzen sind wir, jawohl.“

Ein letztes Mal noch umarmen wir uns, einfach erleichtert, noch am Leben zu sein. Atemlos schaue ich auf die Ebene hinter uns zurück, die jetzt von feinen Rissen, wie Adern, durchzogen ist, doch keiner ist so groß, dass er uns hätte gefährlich werden könnte. Auch Aramis mustert die Ebene düster.

„Wir sollten machen, dass wir von hier fortkommen, ehe das noch einmal passiert“, murmelt sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Dem stimme ich vorbehaltlos zu.

Sie klopft sich den Dreck von der Kleidung und steht auf, den typischen Gesichtsausdruck wieder aufgesetzt.

„Und deshalb“, sagt Aramis entschlossen, während sie einen Pfeil aus ihrem Köcher zieht, „werden wir jetzt eine Rechnung mit den Karrieros begleichen gehen.“
 

  ~
 

Auf weißen Schwingen


 

 Auf weißen Schwingen - Siebenundzwanzigstes Kapitel

*

Counter: 7 Tage, 12 Stunden, 23 Minuten // Tote: 13 // Lebende: 11

Claudius! Können wir jetzt endlich auf ein wenig… Spannung hoffen?

Caesar, sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich das hoffe! Auf jeden Fall liegt etwas in der Luft!

Ich möchte nicht in der Haut der nichtsahnenden Tribute stecken, die einander bald im Kampf Gegner sein werden…

Ich auch nicht, ich auch nicht… aber spannend wird es!

 

Sie stehen uns gegenüber, blutbefleckte Grinsen im Gesicht, umgeben von den Leichen aller gefallenen Tribute, ich kann die kleine Haunie und auch Wyatt unter ihnen ausmachen. Zusammengerollt liegen sie in einem Kreis um die Karrieros herum, die zusammen eine Phalanx bilden, jeder eine lange, rote Klinge in der Hand. Ihr Lächeln wirkt herablassend, ja fast schon spöttisch. Maylin grinst erhaben, denn sie fürchten mich nicht. Ich bin doch nur Annie, der kleine Tribut aus Distrikt vier, der sich geweigert hat, zu einem von ihnen zu werden! Mein Körper wird regungslos, ich bin wie gelähmt. Sie halten Pon in ihrer Mitte gefangen, doch er macht keine Anstalten, sich zu wehren. Wut überkommt mich, ich verkrampfe meine Hand zur Faust. Warum soll ich mich so quälen, warum sollen wir kämpfen, wieso meinen diese Tribute, dass sie uns mit Recht töten können?

 Alles wird schwarz, wenn ich ein Schwert vom Boden erhebe und auf sie losgehe, völlig von Sinnen, doch ich verliere einfach die Kontrolle, mein Körper bewegt sich ohne mich.

Zum Glück ist das nur eine Vision, die sich wie ein Alptraum in mir festgesetzt hat. Immer wieder flammen einzelne Bilder daraus vor meinem inneren Auge auf und ich spüre, wie etwas meine Brust zusammendrückt. Ich habe Aramis an meiner Seite und wir sind Kämpferinnen – irgendwie schaffen wir das auch ohne Blutvergießen und Gemetzel. Hoffe ich zumindest, naiv wie ich bin. Die Kontrolle über sich selbst zu verlieren, und sei es nur in seinen eigenen Gedanken, ist beängstigend. Niemals, hatte ich mir vor den Spielen geschworen, würde ich jemandem das Leben nehmen wollen. Doch jetzt… es scheint, als würde alles sich ändern. Wie soll man sich selbst treu bleiben?

Tief über uns am Himmel steht die Sonne und färbt alles in einem warmen Licht. Nichts erinnert mehr an das Erdbeben von vorhin, außer einigen gelegentlichen Erdspalten, die sich aufgetan haben, wie gähnende Rachen klaffen sie auf, manche gut ein, zwei Meter tief.

Noch immer fühle ich das Zittern in meinen Muskeln nach, doch die Welt kommt erstaunlich schnell wieder zur Ruhe. Selbst, wenn man in der Arena ist. Wo eben noch wildes Chaos herrschte und die Welt zu zerbrechen schien, ist jetzt alles leise und man hört nur das sanfte Rascheln des Grases. Nachdenklich lasse ich meinen Blick über den Horizont gleiten. Seit langem habe ich mich gefragt, wie sich mein Vater und mein Bruder wohl fühlen, wenn sie mich hier in dieser trügerischen Idylle sehen müssen. Lauert vielleicht gerade irgendwo eine Gefahr? Flehen sie mich innerlich an, es nicht zu tun, dieses selbstmörderische Vorhaben mit Aramis? Geht es meinem Vater überhaupt gut?

Wenn er doch nur wüsste, dass ich das alles nur für ihn tue…

Wie fühlt es sich an, ein Sponsorengeschenk für mich zu suchen? So gerne würde ich auch Finnick jetzt einmal sehen, und Amber, Floogs, Trexler, Mags… Aber vor allem Finnicks Stimme möchte ich gerne noch einmal hören, seine Umarmungen spüren, seinen Duft nach Ozean und Frühling riechen. Ich vermisse ihn fürchterlich und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr zersplittert es mein Herz. Liebe braucht nicht viel, außer zwei Herzen, die einander finden und wissen, dass es wohl so kommen musste. Auch wenn wir uns gar nicht so lange kennen – seit wir uns voneinander verabschiedet haben, weiß ich, dass es echt ist. Denn es ist anders, als mit David, so anders.

Unwillkürlich fährt meine Hand an den Hals und ich ertaste meinen kleinen Anhänger und das Medaillon. Möglichst positiv versuche ich gerade aus zu sehen, um allen, die um mein Leben bangen zu zeigen, dass ich wieder erstarkt bin und nicht aufgeben werde, alleine um ihnen Hoffnung zu geben, als ich einen schwarzen Schatten erspähe, der vor der Sonne kreist – ein Vogel. Mir reicht schon der Anblick dieser möglichen Nahrungsquelle, um mir das Wasser im Mund zusammen laufen zu lassen. Ein Großteil unserer Vorräte ist bei dem Erdbeben zurückgeblieben und die ewigen Trockenfrüchte und Kräcker sind auf die Dauer nicht sonderlich nahrhaft. Doch wir brauchen Kraft für unseren geplanten Überfall.

Aufgeregt zupfe ich Aramis am Ärmel.

„Was?“, fragt sie verwundert.

„Aramis, ich weiß, wie wir eine warme Mahlzeit bekommen können!“

Überrascht blickt sie mich an.

„Aber es gibt doch nichts außer Kräcker und Trockenfrüchte…?“, fragt sie.

„Doch!“

Ich ziehe sie zu mir heran und deute auf den Vogel, der seine Kreise zieht. Neben mir seufzt Aramis und hebt an:

„Annie, der ist sogar für meinen Bogen zu weit weg“, doch ich unterbreche sie einfach.

„Ich habe diese Vögel schon einmal gesehen, als ich in einen Steinschlag geraten bin. Sie saßen auf den Bäumen, perfekt getarnt durch ihre dunkle Farbe!“

Mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck betrachtet Aramis mich und dann die umstehenden Bäume.

„Ich bin wohl nicht blind, aber ich sehe da keine Vögel auf den Bäumen“, entgegnet sie, leichte Ungeduld in der Stimme.

Ebenfalls ungeduldig fahre ich fort:

„Eben weil sie perfekt getarnt sind! Bei dem Krach damals sind sie aufgeflogen und hier sind bestimmt auch welche. Wenn sie noch ein wenig aufgescheucht sind, durch das Erdbeben, so können wir sie vielleicht besser ausmachen!“

Nun scheint auch Aramis zu merken, dass es mir bitterernst ist und sie tritt näher an einen der fast schon schwarzen Bäume heran, an dessen Ästen sogar ein paar bemitleidenswerte graue Blätter hängen. Eng stehen die Äste beieinander, sodass die Baumkrone ein grau-schwarzes Geflecht bildet. Völlig stumm und starr stehen wir zwischen diesen Bäumen, die mir in der ersten Nacht noch unheimlich erschienen, und warten auf ein Lebenszeichen. Nur langsam gewöhnen sich meine Augen an den Farbmischmasch, doch mit der Zeit bilden sich immer klarere Konturen heraus. Eines muss man den Spielemachern lassen, sie haben die Vögel wirklich sehr gut versteckt. Doch plötzlich, da, in einem der Bäume, ein Rucken!

Aufgeregt stoße ich Aramis an und wir starren den Baum förmlich an, warten auf eine neuerliche Bewegung und tatsächlich, erneut bewegt sich etwas in dem Baum. Für einen kurzen Moment löst sich einer der Vögel ein wenig vom Ast, flattert harmlos mit den Flügeln. Diesen Augenblick nutzt Aramis, in Sekundenschnelle hat sie einen  Pfeil an die Sehne gelegt und schießt auf den Baum. Allerdings ist auch sie nicht unfehlbar und so verfehlt der Pfeil sein Ziel. Unter Protestgeschrei fliegen jedoch die Vögel aus dem Baum auf, aus ihrer Ruhe erweckt. Das Flattern von Flügeln umgibt uns beide und Aramis feuert wie mehrere Pfeile blindlings um sich. Es dauert nur wenige Sekunden, dann sind die Vögel auch schon von dannen geflogen und nur noch als Schatten am Himmel erkennbar. Aber direkt vor unseren Füßen, im hohen Gras liegt ein erlegter Vogel, den Pfeil im Bauch steckend. Zufrieden lächelnd sammelt Aramis ihn auf und zieht den Pfeil aus seinem weiß gefiederten Bauch, während ich die restlichen Pfeile einsammle, die allesamt leer im umliegenden Gras liegen. Doch ein Vogel sollte völlig reichen.

Interessiert mustern wir beide den Vogel, der immer noch in Aramis ausgestreckter Handfläche liegt. Sein Obergefieder ist bräunlich-schwarz, doch auf der Unterseite ist er hell weiß. Noch nie zuvor habe ich so einen Vogel gesehen und Misstrauen keimt in mir auf, ob das Ganze nicht doch eine perfide Falle der Spielemacher ist.

„Wow“, sagt Aramis jedoch, „eine Spottdrossel! Die kenne ich nur aus den Lehrbüchern.“

Bewundernd dreht sie das Tier in ihren Händen, während ich sie nur fragend anblicke.

„Ein harmloser Vogel aus den äußeren Distrikten“, ergänzt sie.

„Sie haben sich damals mit den gezüchteten Schnattertölpeln fortgepflanzt und so sind die Spotttölpel entstanden.“

Ein bewunderndes „Oh“, ist alles, was mir dazu einfällt, doch weitere Worte sind nicht nötig, denn ein lautes Donnern zerreißt die Stille der Arena. Ein weiterer Kanonenschlag – ein weiterer Tod. Doch es stellt sich keine Furcht mehr bei mir ein, nur die müde Hoffnung, dass es nicht Pon war. Nicht Pon… Doch meine wirklich wichtigen Gedanken sind hier, denn während ich noch bedenke, ob wir nicht lieber erst einmal schauen sollten, ob der Vogel unbedenklich ist, hat Aramis bereits ein Messer gezückt und schneidet dem Tier ohne auch nur mit der Wimper zu zucken den Bauch auf. Angewidert wende ich mich ab und mache mich lieber nützlich, indem ich Feuerholz sammle, was dank der umstehenden Bäume, die knochentrocken sind, keine große Herausforderung ist. Innerhalb kürzester Zeit habe ich einen beachtlichen Haufen zusammengesammelt und Aramis den Vogel soweit gerupft und ausgeweidet, dass wir ihn essen können. Die Reste verscharrt sie vorsorglich in der harten Erde, während ich, mit zugegebenermaßen leichtem Ekel, die Fleischstücke auf lange, dünne Äste spieße, damit wir sie leichter im Feuer rösten können.

Natürlich war ich an der Station für Wildfeuer gewesen, doch ich habe kaum noch Erinnerungen an das Training dort. Ich weiß nur noch, dass man pusten musste, damit das Feuer nicht erlischt. Aber wie ich überhaupt ein Feuer in die Gänge kriege, das ist mir schleierhaft. Auch Aramis sieht sich nachdenklich um, doch anscheinend scheint es nichts Geeignetes zu geben, deshalb entscheidet sie sich, dass Feuer durch Reibung zu erzeugen. Beide ergreifen wir je einen Ast und fangen an, ihn zwischen den Händen hin und her zu drehen, damit Funken entstehen. Allzu einfach ist dies nicht, denn immer wieder entgleitet mir der Stab oder rutscht vom glatten Holz ab. Ganz anders sieht das bei Aramis aus, die es tatsächlich schafft, den Stab relativ gleichmäßig zu drehen, doch auch bei ihr scheinen keine Funken zu entstehen, stattdessen zerfasert nur langsam das Holz. Es kommt mir vor, als wären es Stunden, die wir versuchen, das Feuer zu entzünden, die Sonne geht weiter ihres Weges und es wird Nachmittag, doch es gibt kein Feuer.

Entmutigt und all der Euphorie beraubt, schmeiße ich den Stab von mir und lasse mich auf den Rücken fallen, den Blick in den hellen Himmel gerichtet, über den schwerfällig die dicken Wolken kriechen. Neben mir höre ich nur das Schaben von Aramis fruchtlosen Bemühungen um Funken. So, wie ich hier daliege, faul und gewärmt von der Sonne, könnte ich einfach einschlafen, doch als es gerade soweit wäre, dass ich eindämmern würde, weckt ein zaghaftes Klingeln mich. Träge blinzle ich und schrecke im gleichen Moment auf. Mitten auf mich fliegt ein graues Etwas zu.

„Wah!“

Aufgescheucht rutsche ich fort und erkenne erst, als das ominöse Objekt gelandet ist, dass es sich um einen neuerlichen Fallschirm handelt, an dem ein graues Kästchen hängt. Aramis hat nicht einmal aufgeschaut und so robbe ich zu dem Schirm und löse das Kästchen.

„Aramis, ein Fallschirm!“, sage ich begeistert, während ich mich mit dem Verschluss beschäftige, doch aus ihrer Richtung ertönt nur ein abwesendes Brummeln. Hat sie überhaupt richtig verstanden?

Eindringlicher wiederhole ich:

„Ein Fallschirm!“

„Das sagtest du schon“, kommt es weiterhin abwesend von ihr. Ein Moment der Stille folgt, dann:

„Ein Fallschirm?“

Überrascht schaut sie von ihrer Arbeit auf, nicht jedoch ohne aufzuhören, das Holzstäbchen zu drehen.

Mit einem Klicken öffnet sich das Kästchen jetzt vor unseren Augen und offenbart: Eine Schachtel Streichhölzer. Sie ist, wie alles andere auch, grau. In schwarzen Lettern steht auf dem Deckel:

Ich glaube an euch. – Felix.

Es ist zwar nicht mein Sponsorengeschenk, doch auch in Distrikt 10 glaubt man, zumindest teilweise, an mich. Im Prinzip reicht es, dass man auch an mich gedacht hat. Lächelnd reiche ich die Schachtel an Aramis weiter und beobachte, wie ihr Gesicht erstrahlt, als sie die kurze Botschaft ihres Mentors liest.

„Er glaubt an uns“, flüstert sie andächtig.

Dann, als hätte man sie in einer viel zu intimen Situation erwischt öffnet sie die Schachtel energisch, verscheucht das Lächeln und zündet stattdessen mit einem Streichholz den Haufen Feuerholz an. Innerhalb kürzester Zeit brennt er und wir halten unsere Äste über das Feuer, das sich langsam ausbreitet und zu voller Größe findet. Nicht lange dauert es, bis der Vogel gebraten wird und sein verführerischer Duft uns in der Nase kitzelt. Während wir essen ist kein Laut zu hören, viel zu beschäftigt sind wir damit, unsere Mägen mit dieser reichhaltigen Nahrung zu füllen. Längst habe ich vergessen, dass ich anfangs skeptisch war, sondern nehme glatt noch ein weiteres Stück, welches schon fast angebrannt ist. Mittlerweile brennt das Feuer lichterloh und der gesamte, große Haufen aus trockenen Ästen brennt hell und heiß. Als wenn die Hitze der Arena nicht genug wäre, wärmt uns nun auch noch das Feuer, doch in der Nacht, wenn man es wirklich braucht, ein Feuer zu machen, das wäre glatter Selbstmord. So bleibt uns nichts anderes übrig, als von den lodernden Flammen Abstand zu nehmen und das Feuer zu betrachten.

Schweigend beobachte ich, wie knackend die Zweige bersten und die Funken sprühen. Erst, als plötzlich das Gras in unserer unmittelbaren Nähe zu qualmen anfängt, wird uns unser schwerwiegender Fehler bewusst: Wir haben das Feuer auf dem trockenen Gras entzündet! Flammen züngeln bereits im verdorrten Gras und breiten sich in rasender Geschwindigkeit aus, fressen sich gierig zu uns vor.

„Oh mein Gott, Aramis, was sollen wir tun?“, entrinnt es mir panisch.

Für einen Moment sind wir geschockt und starren die um sich greifenden Flammen konsterniert an, ehe wir mit einem Satz auf die Beine springen. Aramis springt heldenhaft auf den Rucksack zu, in dessen Richtung sich das Feuer ebenfalls ausgebreitet hat. Die Wasserflasche in der Hand beobachtet sie das Feuer, doch als ich ängstlich rufe:

„Nicht das Wasser, nicht das Wasser!“, da scheint sie sich zu besinnen und schüttelt nur den Kopf. Mit wenigen Schritten ist sie bei mir und zieht an mir.

„Suchen wir unser Heil lieber in der Flucht“, sagt sie, doch ich stehe stocksteif dar und starre die verheerenden Flammen an.

„Aber… alles wird brennen. Es ist doch alles trocken“, kommt es weinerlich aus meiner Kehle.

Fassungslos begegnet Aramis meinem Blick.

„Willst du lieber bei dem Versuch das hier zu retten von den Flammen erfasst werden?“

Sie schüttelt den Kopf und packt meinen Arm fester.

„Komm!“, drängt sie.

Nur noch einen Moment starre ich die sich ausbreitende Feuersbrunst an, die sogar schon an den Bäumen leckt, dann drehe ich mich um und folge Aramis. Ich habe Angst vor den Flammen, denn ich könnte sie niemals löschen, aber genauso sehr habe ich Angst, dass die gesamte Arena in Flammen stehen wird – wegen uns. Doch Aramis ist unerbittlich und zieht mich im Laufschritt fort, ich folge ihr lediglich wie ein nasser Sack Mehl, keuchend und mit Stichen in der Seite, die jeden Schritt zu einer anstrengenden Qual machen. Erst nach mehreren Metern lässt sie mich los und wir verfallen wieder ins Schritttempo. Der Blick über die Schulter zeigt mir, dass sich bereits dichter Rauch am Himmel abzeichnet. Sorgenvoll legt sich meine Stirn in Falten, doch meine Empfindungen werden von Aramis nicht geteilt, denn sie lächelt nur, während sie sagt:

„Vielleicht treibt uns das die Karrieros sogar in die Hände.“

Trotz des Brandes vollgeschlagen mit köstlicher Spottdrossel folgen wir am Nachmittag also weiter unserer Route, von dem drohenden Rauch im Rücken bedroht. Noch  heute können wir es schaffen und das Füllhorn erreichen, wenn die Karrieros uns nicht sogar begegnen, denn wir müssen nur noch um die Südöstliche Bergflanke, dann sind wir dort.

Mit dem vollen Magen ist auch ein Teil unserer Euphorie zurückgekehrt und so gut gelaunt, wie es uns angesichts der Feuerkatastrophe und des Bevorstehenden möglich ist, wandern wir weiter. Eines zeigt sich hier unten ganz deutlich: Die Arena ist wirtlicher an dieser Stelle. Auch wenn das Gras trocken ist, so gibt es hier doch immerhin welches, ebenso wie die Bäume verkümmerte Blätter tragen und es sogar kleine Büsche gibt. Natürlich liegen auch hier immer noch vereinzelte Gesteinsbrocken in der Gegend, doch insgesamt gefällt es mir hier schon viel besser. Die Berggegend, welche die Arena zu den Seiten begrenzt war ziemlich trostlos. Stumm wandern wir, sonderlich viel gibt es nicht mehr zu besprechen, weder von meiner Seite aus, noch von Aramis aus. Wir sind aufgeregt und als ich bei einem Rascheln sogleich zusammen zucke, ergreift Aramis still meine Hand, ohne sie wieder loszulassen. Noch nie hat sie viel geredet und so ist es auch ganz gut, es würde mich wohl ohnehin nur verrückt machen.

Die Bäume rascheln leise im Wind, als wir schließlich die Bergflanke umrundet haben. Von nun an sind es nur noch wenige Meter, die Karrieros aber sind uns noch nicht begegnet – was ein gutes oder schlechtes Zeichen sein kann. Ich fühle mich, als würden sie im Fernsehen nun eine gefährliche, drängende Musik einspielen, während die Zuschauer voller Spannung langsam vergessen, in ihre Popcorneimer zu langen, weil ihr Herz in einem Rhythmus mit unseren klopft, vor lauter Anspannung. So vielen Widrigkeiten haben wir nun also getrotzt, wie die Helden in einem alten Roman und nun stellen wir uns der größten Herausforderung, deren Ausgang ungewiss ist.

Den Speer in die Hände genommen, warte ich unter einem Baum, während Aramis hinauf klettert, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Ich selber wollte nicht auf einen Baum hinauf, denn ich hätte nur Angst vor dem, was ich sehen könnte. So tut sie es, anstelle von mir. Eine Zeit lang ist alles still, nur gelegentlich höre ich, wie sie sich etwas bewegt. Doch schließlich knacken die Zweige, woraufhin ich zusammenzucke, da mir selbst dies wie ein verräterisches Zeichen vorkommt. Mit einem dumpfen Plumps landet sie neben mir, dieses undurchsichtige Lächeln im Gesicht, was sie auch schon vor dem Überfall auf das Sucherlager trug.

„Die Karrieros sind zu Hause. Nichts ahnend braten auch sie sich gerade ihr Abendessen. Den Rauch im Osten scheinen sie nicht einmal bemerkt zu haben.“

„Okay“, flüstere ich, etwas heiser, und fasse den Griff des Speeres fester.

Der Moment der Wahrheit kommt also. Aramis nimmt ihren Bogen vom Rücken und legt einen Pfeil locker an die Sehne. So gerüstet verlassen wir vorsichtig unsere schützende Baumgruppe. Wie witternde Hasen stehen wir da, im ungeschützten Gelände, inspizieren eiligst unsere Gegend, um dann im Laufschritt zur nächsten Baumgruppe zu hechten. Langsam bin ich den Spielemachern sogar ziemlich dankbar für diese wahllos platzierten Bäume, deren Schutz besser als nichts ist.

Der Himmel, der am Mittag für kurze Zeit aufgerissen ist, ist nun auch wieder von Wolken verhangen und die Schwüle ist unerträglich, man  hat das Gefühl, dass ein unglaublich großes Gewicht einen stetig nach unten zieht. Über unsere Körper läuft der Schweiß, als wir uns in den Schutz der Bäume drücken.

„Siehst du dort?“

Mit ausgestrecktem Arm deutet Aramis nach vorne. Mein Blick folgt dem ihren und ich erkenne, dass wir uns knapp oberhalb des Füllhorns befinden, dass noch in einer kleinen Senke liegt, genauso, wie ich es in Erinnerung habe. Es glänzt golden und Rauch steigt auf. Natürlich ist ihr Feuer besser vorbereitet als unseres, mit einem schützenden Ring aus Steinen um die wilden Flammen herum. Doch sie sitzen nicht friedlich um das Feuer herum, sondern Shine steht, die Arme in die Hüften gestemmt, am Feuer und scheint wütend etwas zu rufen, doch wir können es in unserem Schutz nicht verstehen. Dafür kann ich ziemlich gut erkennen, dass Floyd jetzt aufspringt und mit großen Schritten auf sie zuläuft, sie an der Schulter packt und ihr etwas ins Ohr schreit. Sonderlich harmonisch ist das Abendessen bei den Karrieros allem Anschein nach nicht. Etwas abseits steht Maylin, die Arme abwehrend verschränkt und guckt einfach nur unendlich grimmig. Slay ist der Einzige, den ich nicht genauer beobachten kann, da er mit dem Rücken zu uns auf einem umgedrehten Kanister hockt.

Ich merke, dass mein Mund bereits wieder trocken ist und zwinge mich, zu schlucken.

„Also, wie gehen wir vor?“, richte ich meine Frage an Aramis.

Diese zuckt jedoch nur vage mit den Schultern.

„Ich finde, wir überfallen sie einfach rücklings.“

„Einfach so?“

„Sie sind schließlich grad genug mit sich selbst beschäftigt um uns erst zu bemerken, wenn es zu spät ist.“

Mir wird schlecht. So ein Plan, das kann doch nie funktionieren! Ich schüttle den Kopf nur stumm. Aramis scheint zu merken, dass mir diese Vorstellung nicht sonderlich behagt, denn sie legt mir erst einen Arm um die Schulter, schweigt, dann nimmt sie mich ganz in den Arm. Wehmütig lege ich meinen Kopf auf ihre Schulter und umarme sie ebenfalls mit zitternden Armen. Noch immer habe ich Angst vor der Konfrontation mit den Karrieros, doch Aramis ist so stark und sie zittert keinen Augenblick…

„Alles wird gut“, murmelt sie an meinem Ohr.

„Ich glaube, dass du viel stärker bist, als du dir eingestehen möchtest, Annie. Befreie dich von deinen Gedanken.“

Mit diesen Worten löst sie ihre Umarmung, blickt mir jedoch noch kurz ernst in die Augen.

„Es war mir ein Vergnügen, dich zu treffen, Annie, mit dir gemeinsam die Arena zu bestreiten. Und jetzt vergiss nicht: Wir sind Kämpferherzen!“

Mit diesen Worten tippt sie mir grinsend unters Kinn.

„Kopf hoch.“

Ich seufze und schenke ihr ein kleines, wenn auch noch zittriges Lächeln, dann wenden wir uns wieder der Ebene vor uns zu.

„Lass es uns so machen: Wir laufen bis zu diesem Steinhaufen dort“, Aramis deutet auf eine kleine Ansammlung von Steinen, die sich in einigen Metern Entfernung befindet, „dann wage ich mit dem Bogen den ersten Schlag. Ihre Verwirrung nutzen wir aus, um ins Lager zu laufen. Wir nehmen sie von beiden Seiten in die Zange, du von rechts, ich von links, okay?“

Während ich nicke, beschwöre ich die nötige Willenskraft in mir auf.

‚Du kannst das, Annie‘, präge ich mir ein, ‚du willst das!‘

Bekräftigend nicke ich noch einmal.

‚Hör auf zu denken und handle!

„Auf drei“, entgegne ich zittrig und grimmig dreinschauend. Aramis nickt und reckt den Daumen anerkennend in die Höhe.

„Eins“, fange ich an.

„Zwei“, kommt es von Aramis.

„Drei!“

Wir rennen über die Ebene, geduckt und doch schnell. Keinen Blick verschwenden wir auf die Karrieros. Zügig erreichen wir den Schutz der Steine, ich presse mich so klein wie möglich hinter die Steine, halte den Speer flach, Aramis drückt sich neben mich, unser Atem ist das einzige Geräusch. Sie taucht schnell aus dem Schutz auf, orientiert sich, duckt sich zurück, zieht die Sehne strammer. Wir tauschen einen kurzen Blick aus, Furcht, Zuversicht, Entschlossenheit, alles wirbelt darin. Die Lippen zusammen gebissen nicke ich, dann kniet sie sich hin, zieht die Sehne endgültig durch, visiert nur kurz an, doch es erscheint mir so viel länger, ich sehe, wie sie sich konzentriert, alles sammelt, für den Moment, in dem die Sehne zwischen ihren Fingern hindurch schnellt, der Pfeil mit einem Zischen über uns fliegt, und ehe ich es mich versehe ist der Moment doch schon wieder vergangen, Aramis schaut dem Pfeil hinterher und schmeißt sich dann atemlos neben mich.

„Getroffen“, ist alles was ich höre.

Meine Augen weiten sich überrascht, während sie mich ergreift und wir über die Steine springen. Ich laufe, so schnell ich kann, mein Atem pfeift, den Blick habe ich fest auf das goldene Füllhorn gerichtet, doch kann ich das Geschehen unter mir nicht einfangen, nicht begreifen, alles um mich herum erscheint beschleunigt und aus den Fugen zu sein. Rennen, rennen, das ist alles. Das Gras verwischt zu einer schlichten Farbschliere, wir fliegen förmlich. Schockierte, wütende Gesichter kommen näher, von links erschallt es:

„Rechts!“

Intuitiv laufe ich von Aramis fort, direkt auf meine Erzfeindin zu: Shine. Ihr Gesichtsausdruck ist grimmig, doch sie wirkt keinesfalls so, als hätte sie Angst, eher… trotzig.

„Hallo Annie“, sagt sie süffisant und betrachtet mich mit schief gelegtem Kopf, dieses gefährliche Lächeln auf dem Gesicht. Es ist wieder genau wie bei dem Training.

Eigentlich, da hätte ich einfach zuschlagen sollen, sie aus dem Weg räumen sollen. Doch ich bremse ab, irritiert und unsicher. Mein Herz hämmert in der Brust, als wolle es davonfliegen, während ich einfach nur dastehe, den Speer fest umklammert wie einen Rettungsring und sie beobachte. Hinter ihrem Rücken zieht sie dieselbe Axt hervor, wie schon beim Füllhorn. Die Übelkeit kriecht in mir herauf, bekommt mich zurück in ihren Griff. Getrocknetes Blut klebt darauf.

Panisch fliegt mein Blick über die Senke, doch die Eindrücke sind zu viel. Am Boden, in einer Lache aus Blut, liegt Floyd, ein Pfeil in der Brust. Habe ich die Kanone nicht gehört? Aramis, sie ist nicht mehr als ein wirbelnder Schatten, verkeilt in Slay. Wo ist Maylin? Die Gedanken rasen, während ich langsam wieder von Shine zurück weiche. Was tue ich hier?

Einem Blitz gleich zuckt es vor mir auf:

Die Karrieros, wie sie um mich herum stehen, ein jeder eine blutige Klinge oder Axt in der Hand, die Leichen der toten Tribute um ihre Füße gesammelt, allen voran Haunie und Wyatt… Ich greife meinen Speer fester, wutentbrannt, festentschlossen, sie alle, sie alle zu vernichten. Nur Pon – Pon fehlt!

Der Gedanke daran, dass er nicht hier, bei den Karrieros ist, bringt meine Vision zum Wanken. Es muss nicht so sein, nein. Doch wenn Aramis so tapfer mit Slay kämpft, dann sollte ich doch wenigstens Shine die Stirn bieten, damit sie eine Chance hat.

Ich starre die blondhaarige Shine an, die immer noch engelsgleich anmutet, wie sie so langsam auf mich zu schleicht, die Axt wie ein Spielzeug in der Hand. Der Kloß in meinem Hals wird nur noch größer, doch ich greife wieder nach dem Speer, stelle mich bereit, so wie Amber und Floogs es mir gezeigt haben. Was in der Theorie geht, das muss doch auch in der Praxis gehen!

„Wovor hast du Angst, Annie Schätzchen?“, ruft Shine jetzt höhnisch und reißt mich aus den Gedanken.

Sie ist in einiger Entfernung stehen geblieben. Nervös lecke ich mir über die Lippen und starre grimmig zurück. Ich kann nicht sprechen, denn meine Stimme würde zittern, wie nichts Gutes, also beschränke ich mich auf den bösen Blick. Perlend erklingt ihr Lachen, ja, sie lacht wirklich aus vollstem Herzen, obwohl sie angegriffen wurde, sie Angst haben sollte! Voller Kraft wirft sie ihre Axt. Nur eine Sekunde lang stehe ich da, starre die auf mich zu fliegende Axt an, dann werfe ich mich zu Boden. Dumpf höre ich den Aufschlag des schweren Mordgerätes hinter mir.

Schwer atmend blicke ich vom Boden auf zu Shine, die mir ihre leeren Hände zeigt.

„Jetzt hast du deine Chance. Ziel auf mich, na los!“, höhnt sie.

Wieder muss ich an meine Vision denken. Ich erhebe mich, so unendlich langsam. Der Vorteil ist, dass Shine sich überlegen fühlt, sie wartet ab, was ich tue. Also tue auch ich nichts, sondern sondiere die Lage. Nicht weit entfernt liegt Floyd, der fiese, rachsüchtige Floyd, doch er regt sich nicht mehr, sein Blick ist starr gen Himmel gerichtet – er ist tot. Schnell wende ich den Blick ab, zu Aramis, die mit den Fäusten auf Slay losgeht. Ganz hinten, im Schatten des Füllhorns, dort kauert Maylin. Ihr Blick ist undurchdringlich und sie hält die merkwürdige Waffe umklammert, die sie schon im Training bei sich trug. Sie schaut überraschenderweise nicht aus, als würde sie in das Kampfgeschehen eingreifen wollen. Doch wenn ich zu ihr will, dann muss ich zuerst Shine überwinden.

Zwei Schritte gehe ich zurück, den Speer erhoben, sauge den Atem zwischen meinen Lippen ein, als der erstickte Schrei ertönt. Blutige Messer und verzerrte Gesichter tauchen unwillentlich vor meinem Inneren auf. Wie auch Shines Blick fliegt meiner zu dem Knäuel aus Aramis und Slay. Nur, dass es kein Knäuel mehr ist. Keuchend steht Slay da, ein merkwürdiges Grinsen im Gesicht.

Zu seinen Füßen: Aramis. Sie liegt da wie Floyd, reglos, etwas aus der Brust ragend, Arme und Beine in einem komischen Winkel abstehend. Der Schlag meines Herzes setzt aus, mehrmals blinzle ich, während das Unfassbare sich vor meinen Augen auftut. Am Himmel über uns kracht es, erst jetzt merke ich, wie dunkel es geworden ist. Blitze zucken über der Ebene, auf der sich alle abspielt, einem grotesken Theater gleich.

Slay, der den Griff des Schwertes fasst, welches in ihrer Brust steckt und wie sich ein Lachen auf seinem Gesicht ausbreitet, während er dir rote Klinge hervor zieht. Alles ist still, so still, wir alle sind nur Beobachter seines Stückes, das von Blitzen und Donner untermalt wird.

Die Kanone donnert, so laut, so laut… Alles ist laut und still zu gleich, ich höre nicht einmal meinen eigenen Schrei, der sich erschütternd aus meinem Inneren schält. Meine Sicht wackelt, die Szenerie verschwimmt. Zweimal knallt es, das mir ist, als würde die Ebene wanken, Angst, Bestürzung, Panik, alles ist wieder da. Aramis ist fort, weggeflogen wie die Vögel auf ihren weißen Schwingen.

Die Karrieros stehen vor mir, ein jeder eine blutige Klinge in der Hand, sogar Shine zieht eine. Sie ruft irgendetwas, die Klinge fliegt in meine Richtung, fällt vor meinen Füßen zu Boden. Sogar Maylin kommt aus ihrer Deckung, sie bilden eine Phalanx mir gegenüber. In ihrer Mitte – NEIN!

Sie stehen uns gegenüber, blutbefleckte Grinsen im Gesicht, umgeben von den Leichen aller gefallenen Tribute, ich kann die kleine Haunie und auch Wyatt unter ihnen ausmachen. Zusammengerollt liegen sie in einem Kreis um die Karrieros herum, die zusammen eine Phalanx bilden, jeder eine lange, rote Klinge in der Hand. Ihr Lächeln wirkt herablassend, ja fast schon spöttisch. Maylin grinst erhaben, denn sie fürchten mich nicht. Ich bin doch nur Annie, der kleine Tribut aus Distrikt vier, der sich geweigert hat, zu einem von ihnen zu werden! Mein Körper wird regungslos, ich bin wie gelähmt. Sie halten Pon in ihrer Mitte gefangen, doch er macht keine Anstalten, sich zu wehren.

Es ist alles so gleich… so gleich. Salzige Feuchtigkeit rinnt meine Wangen herab, tropft in meine zitternden Mundwinkel und brennt auf den rissigen Lippen wie Feuer. Reglose Tribute liegen auf dem Boden und ich weiß, dass sie noch mehr auf dem Gewissen haben. Ihre Klingen sind rot vom Blut anderer, alle stehen geschlossen im Kreis, und ja, es ist Pon, der vor Maylin in die Mitte tritt. Seine blonden Haare verwuschelt wie eh und je, die Sommersprossen, das Gesicht noch vom Kinderspeck gekennzeichnet… dafür trägt er einen Speer in der Hand, aber er wehrt sich nicht, er wehrt sich nicht!

Für den Moment starren wir uns nur an, so viele widersprüchliche Ausdrücke gleiten über sein Gesicht, dann schüttelt er den Kopf.

Ruft er gerade, dass es ihm Leid tut? Meine Finger schließen sich bereits wie von selbst um den kalten Schwertgriff, heben es an und richten die Spitze auf sie.

Die Karrieros achten nicht einmal auf ihn, bemerken nicht, wie er sich wegduckt, sie beobachten nur mich, mit diesem Schwert in der Hand.

„Es tut mir leid, ANNIE!“

Er läuft einfach zwischen ihnen hindurch, in die weite Ebene hinein, blickt noch einmal über die Schulter hinweg.

„LAUF“, ist das letzte, was ich von ihm höre, dann verschwindet er hinter den Karrieros, die mich immer noch ungerührt angrinsen. Sie kommen auf mich zu, was ich erst jetzt bemerke. Verwirrt taumle ich auf der Stelle, doch ich weiß: Ich kann es mit ihnen nicht aufnehmen. So viele, alle gegen mich. Meine Hand krallt sich fest um den Griff des Schwertes. Zwei Waffen halte ich in meinen Händen doch… ich kann es nicht. Verzweifelt wende ich mich ab, die Waffen immer noch festhaltend und renne fort, einzig und allein getragen vom Adrenalin.

Ich stürme über die Ebene, wieder in Richtung des Feuers, es ist der Einzige weg, der mir bleibt. Es kracht erneut am Himmel über mir, die Ebene ist für die Sekunde taghell erleuchtet. Dann, ohne Vorwarnung, wird es wieder dunkel, und mit der Dunkelheit kommt der Regen, wie die Sintflut bricht er über uns hinein, prasselt unbarmherzig auf mich hinab, es fühlt sich an, als würden Nadeln mich pieken. Ich renne weiter, in Richtung des Feuers, wo nun keines mehr ist, wahllos irgendwo hin, Hauptsache fort.

Der Regen verschleiert meine Sicht derart, dass ich nicht mehr weiß, wo ich mich befinde, ich könnte überall sein. Meine Hände schmerzen, doch ich lasse dennoch nicht los. Mit jedem Schritt gerate ich mehr ins Taumeln auf dem Grund, der immer rutschiger wird. Keuchend fange ich mich, laufe weiter, weiter, weiter, weiter.

Erneut verliere ich den Halt, alles schwankt, ich rudere mit den Armen, hilflos, doch es ist zu spät. Wie ein Stein falle ich, doch ich falle nicht einfach zu Boden, plötzlich ist da ein Abgrund, ich gerate ins Rollen, immer schneller kugle ich dem Abgrund entgegen, kreischend halte ich die Arme vors Gesicht. Das Letzte, was ich unter dem Leuchten des Blitzes vernehme ist ein überraschter Schrei:

„Annie!“

Dann treffe ich hart auf den Boden, die Luft verlässt meine Lungen und ich versinke in Schwärze, die mich mit offenen Armen willkommen heißt. Nun schwebe auch ich von dannen.

Counter: 7 Tage, 19 Stunden, 47 Minuten//Tote:  16//Lebende: 8

Dein Stern


 

Dein Stern - Achtundzwanzigstes Kapitel

*

Das letzte Licht steht am Himmel, nicht mehr als ein dünnes Flackern zwischen den dunklen Wolken, welche sich jetzt verhängnisvoll über den Himmel schieben, um das letzte Licht zu erlöschen. Die Vögel fliegen auf, zu hunderten sind sie plötzlich in der Luft und streben auf das letzte Licht zu. Das Geraschel ihrer Flügel erfüllt die Luft, doch es dauert nur einen Moment an, dann entfernen sie sich rasch immer weiter, in Richtung der Ferne, ein Ort, an den wir nie gehen können. Es dauert nicht lange, dann sind sie im letzten, sterbenden Licht verschwunden.

Seufzend betrachte ich das flackernde Gold, das nun von der letzten Wolke zugedeckt wird. Alles ist gleichsam grau und unter Schatten verhüllt, die die Äste der Bäume zu langen Fingern werden lassen, den zarten Nebel, der sich erhoben hat, zu einem Leichentuch. Mir fällt ein, dass dies der erste Abend ist, an dem ich die Sonne untergehen sehen habe. Ich erinnere mich nicht einmal, wie es die Abende zuvor war, doch meist war es so, dass die Nacht ungeheuer plötzlich kam und ehe man sich versah spannte sich bereits samtene Dunkelheit über den Himmel.

Zaghaft drehe ich meinen Kopf zurück, was die stechenden Schmerzen zurückkehren lässt. Nur mit Mühe unterdrücke ich einen Schmerzenslaut, der meiner Kehle entweichen will. Bemüht, keinerlei Geräusche zu machen, stütze ich mich vorsichtig auf dem Boden ab und richte mich langsam auf. Es fühlt sich an, als würde mein Kopf explodieren, meine Hände werden zittrig, ein stechender Schmerz jagt durch meinen Körper und schließlich brechen mir die Hände weg. Mit einem dumpfen Aufschlag lande ich auf dem Rücken und der Aufprall, wenn auch nur aus geringer Höhe, treibt mir den Atem aus den Lungen. Verzweifelt stöhne ich auf und halte die Lieder für einen Moment geschlossen.

Das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist meine überstürzte Flucht. Ich erinnere mich, wie Äste mir peitschend ins Gesicht schlugen, der Boden unter meinen Füßen aufgeweicht wurde und wie ich nach Halt ringend einen Abhang herab stürzte. Danach war nur… Schwärze.

Wovor bin ich geflohen? Meine Finger krallen sich fest in die Erde, als ich mich an die Karrieros erinnere. Die elenden Karrieros, die mir alles nahmen! Vor Schmerzen und Wut schreie ich unterdrückt auf. Mit einem Schlag sind all die Erinnerungen zurückgekehrt. Wie Aramis und ich gekämpft haben. Der Tod von Floyd, so plötzlich und überraschend. Aber noch schlimmer: Aramis Tod, Slays ausdrucksloses Gesicht, als er den Speer in ihren Körper treibt. Ich beiße die Zähne zusammen, will nicht erneut schreien. Denn ich erinnere mich auch, wie jemand meinen Namen rief, ganz aus der Nähe, als ich stürzte. Was, wenn die Karrieros mich gefunden, gefangenen genommen haben?

Ein einzelner Gedanke flammt in mir auf: Flucht! Ich muss die Flucht ergreifen, wie Pon, sonst ist es zu spät, ein weiteres Mal würde ich den Karrieros nicht entkommen. Mutig öffne ich die Augen wieder, versuche, mich auf den Bauch zu rollen, doch die Umwelt vor meinen Augen verwischt. Lediglich ein paar Bäume kann ich ausmachen, nass vom Regen glänzt ihre Rinde und noch immer tröpfeln einzelne Tropfen von den Ästen. Ja, geregnet hatte es auch, sowie gewittert. Jetzt regnet es nicht mehr, dafür ziehen einzelne Nebelschwaden vorbei. Dunkel ist es auch, jetzt erst realisiere ich, was ich eben beobachtet habe, bevor die Erinnerung zurückkam. Das einzige, was ich bisher nicht gesehen habe, ist der Tribut, zu dem die Stimme gehört. Keuchend rolle ich mich auf die Seite, immer langsam ein Stück weiter. Ich liege direkt unter einem Baum, in einigen Schritten Entfernung erkenne ich schließlich auch meinen Rucksack – und eine dunkle Gestalt!

Zusammengekauert neben dem Rucksack hockt sie, dünn und unter ihrer großen Regenjacke verborgen, deren Kapuze sie über den Kopf gezogen hat. Allem Anschein nach kramt sie leise darin herum, zumindest zieht sie jetzt eine Packung der Kräcker aus ihm hervor, deren Aluminiumverpackung verräterisch glänzt. Während ich mit kratzender Kehle versuche etwas zu sagen dreht die Gestalt sich jedoch schon um. Verwirrt blicke ich in zwei große, braune Augen, die mich sorgenvoll mustern.

„Du bist wach?“, haucht eine zarte Stimme.

Doch ich starre die Tributin einfach an. Es ist eindeutig eine Sie, doch ich kann nicht ausmachen, um wen es sich handelt. Eine der Karrieros ist es jedoch nicht. Sie trägt, soweit ersichtlich, keinerlei Waffen bei sich und sieht auch sonst eher kränklich aus. Ihre Hand hält noch immer fest die Kräcker umklammert und unsicher sieht sie zwischen mir und dem Rucksack hin und her.

„Annie, ich wollte nicht…“

Sie bricht ab und beißt sich auf die Lippen.

„Nora?“, huste ich trocken, einer Eingebung folgend.

Überraschung spiegelt sich für einen Moment in den Augen des Mädchens ab, dann nickt sie unbestimmt und schließt den Reißverschluss des Rucksackes.

„Bin ich froh, dass du wieder wach bist“, sagt sie leise.

Eiligen Schrittes kommt sie, die ich jetzt eindeutig als Nora aus dem Trainingscenter wiedererkenne, auf mich zu. Ihre Haare sind wirr und verfilzt, die Wangen schmal und eingefallen, aber es ist immer noch Nora, die einst am ersten Tag des Trainings mit mir bei dem Feuer war. Würde sie jetzt nicht ein kurzes Lächeln zeigen, so würde man denken können, dass dies ein ganz anderer Mensch wäre, doch tatsächlich ist es Nora.

Bestimmt drückt sie mich zurück auf den Boden und schiebt mir die schwarze Zeltplane einem Kissen gleich unter den Kopf. Besorgt redet sie weiter:

„Du solltest besser liegen bleiben, Annie. Ich kann nicht sagen, wie schwer du verletzt bist.“

Eine leichte Spur von Besorgen spiegelt sich in ihren von Schatten unterlegten Augen.

„Mindestens eine Gehirnerschütterung hast du und dein Bein…“

Panisch zucke ich zusammen.

„Was ist mit meinem Bein?“

Unglücklich schüttelt Nora den Kopf.

„Da ist eine Wunde, aber ich kenne mich nicht aus damit.“

Mein Blick begegnet ihrem entschuldigenden und ich lockere meine verkrampfte Hand. Die Erkenntnis, dass ich mehr Zeit an der Station für Schnittverletzungen hätte verbringen sollen kommt zu spät.

„Trotzdem danke“, flüstere ich rau, wobei mein Blick auf die Kräcker in ihrer Hand fällt.

Unter ihrer Kapuze schaut Nora ein wenig ertappt aus, doch sie überspielt dies, indem sie mir die Kräcker hinhält und erklärt:

„Vielleicht sollten wir dich etwas essen lassen? Wenn du dich dann nicht übergeben musst, dann kann es mit der Gehirnerschütterung nicht allzu schlimm sein.“

Vorsichtig nicke ich, immer darauf bedacht, keine Schmerzen zu verursachen, doch es geht schon besser. Der schlimmste Schmerz ist wohl der, dass all meine Einsichten zu spät kommen. Niemandem konnte ich helfen, nicht Aramis, ja, nicht einmal mir kann ich jetzt helfen. Wie konnte ich so etwas Wichtiges wie Wundversorgung einfach ignorieren? Warum habe ich nicht daran gedacht, dass ich mich mehr anstrengen müsste, verschiedene Kampftechniken zu trainieren? Tatsächlich war ich so dumm gewesen zu glauben, dass ich, aus einem Karrierodistrikt, mich ohne all das durch die Hungerspiele schlagen könnte um Pon zu beschützen. Ja, dies ist der schlimmste Schmerz. Meine eigene Dummheit, zu glauben, dass ich, obwohl nicht freiwillig, es in diesen Spielen zu etwas bringen zu können.

In diesen düsteren Gedanken versunken nehme ich Nora den trockenen Kräcker ab und knabbere ein wenig daran herum, doch mir ist nicht nach Essen, auch wenn ich weiß, dass ich muss. Nora selber fällt wie ausgehungert über die Nahrung her und scheint dabei ganz ihre guten Manieren zu vergessen. Krachend verschlingt sie Kräcker um Kräcker und erst, als ich ihr einen verwunderten, vielleicht aber auch etwas bösen Blick zu werfe lässt sie die Packung senken.

„Entschuldigung, ich wollte nicht einfach deine Vorräte…“

„Ist schon in Ordnung, ist ja noch genug da. Aber, hast du selber gar nichts?“

Seufzend lässt sie sich mit einem Rascheln neben mir in das Gras fallen und so liegen wie einen Moment da, beide ausgestreckt im Gras, eine leichte Beute für Jäger, wie es mir kurz durch den Kopf zuckt. Ich bin nicht sonderlich stolz auf diese und ähnliche Gedanken, denn sie erinnern mich daran, wie sehr ich mich durch die Begegnung mit Aramis verändert habe. Habe ich zwar versäumt, beim Training zu trainieren, so kann ich das doch irgendwo dadurch wieder wett machen, auch wenn ich erst jetzt merke, was ich Aramis alles zu verdanken habe – ohne sie wäre ich wahrscheinlich längst den Suchern zum Opfer gefallen…

„Ich bin direkt vom Füllhorn weggelaufen“, fängt Nora jetzt doch an zu sprechen, „keine Sekunde habe ich überlegt einen der Rucksäcke zu schnappen. Einfach nur weg wollte ich. Weit, weit weg.“

„Und Circe?“, frage ich unsicher nach.

„Ich weiß es nicht. Vermutlich auch. Erst gestern habe ich ihn wiedergesehen, kurz vor dem Erdbeben. Weißt du, er ist in eine Bodenspalte gestürzt, die sich im Westteil der Arena aufgetan haben. Ich dagegen bin einfach geflohen, ohne ihm zu helfen. Wir haben uns die ganze Zeit über nicht geholfen und plötzlich… da wollte ich auch nicht mehr sterben, nicht für jemanden, der ohnehin schon verloren war. Ich hab ihn einfach alleine gelassen.“

Stockend bricht sie ab, doch sie bricht nicht etwa in Tränen aus, oder lässt Bedauern mitschwingen, nein, stattdessen lächelt sie einmal kurz auf, aber nicht glücklich und strahlend, wie einst in den Interviews. Ihr Lächeln ist eher bedauernd.

„Niemals würde ich mein eigenes Leben für ihn geben können, egal wie ehrenwert das wäre. Er war ein netter Junge, aber nein, nicht mein Leben wert.“

Ich schlucke hart. Erinnere mich an Noras Worte vor der Arena, wie sie mir sagte, dass sie auch etwas beschützen wollen würde. Wollen wir nicht alle etwas beschützen? Unser eigenes Leben nämlich?

Es ist die hässliche Wahrheit, aber wäre ich nicht hinter Pon hergerannt, in dem Moment als er floh, wenn ich mein eigenes Leben wirklich so sehr riskiert hätte? Ich weiß es nicht, weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Noch immer bin ich einerseits fest überzeugt, dass ich Pon retten will, dass er es nicht verdient hat, zu sterben, natürlich nicht. Andererseits… habe ich all diese Tage um MEIN Leben gekämpft, nicht um das seine.

„Aber bestimmt ist er jetzt an einem besseren Ort“, endet Nora ihre Erzählungen und lächelt sanftmütig.

„Bestimmt“, stimme ich ihr leer zu.

Denn wer weiß das schon so genau? Ich muss wieder an Aramis denken, ja sogar an Floyd, die beide hässlich gestorben sind. Kann man so an einen besseren Ort gelangen? Was sollte dieser bessere Ort sein? Ich schlucke die letzten Bissen des trockenen Kräckers herunter und schließe die Augen, in dem Bestreben, zu schlafen. Schon bald nur hört man nicht mehr als den leisen Atem Noras und hier und da ein Knacken in den Zweigen. Doch ich selbst kann nicht wirklich schlafen. Dumpf pocht der Schmerz in meinem Hinterkopf und die Gedanken rotieren wild und unberechenbar. Aramis soll tot sein? Ich kann es mir nicht vorstellen, auch wenn sich der Gedanke krampfhaft in meinem Kopf hält. Erst später als Nora dämmere ich ein wenig weg, doch mein Schlaf ist nicht von langer Dauer: Auf vollster Lautstärke tönt auf einmal die Hymne Panems durch die Arena. Binnen Sekunden bin ich wach und habe mich, vor lauter Schrecken, aufgesetzt. Schwindel rast durch meinen Kopf, ebenso wie Schmerzen, doch sonst behalte ich einen überraschend klaren Kopf.

Meine lieben, verbleibenden Tribute – nun seid ihr nur noch acht. Die tapfersten und wagemutigsten, möchte ich anmerken.

Ungläubig lausche ich Claudius Stimme, die durch die dunkle Nacht hallt. Auch Nora neben mir ist aufgeschreckt und mit großen Augen sehen wir einander an.

Natürlich habt ihr euch eine Belohnung verdient! So wurde entschieden, dass es eine Aufgabe, wenn man so will, für euch gibt. Dem Sieger wird ein großes Festmahl beschert werden: Er wird ein einzigartiges Geschenk erhalten, denn wir wissen, dass ein jeder von euch etwas dringend benötigt…

Für einen Moment setzt mein Herz aus. Ich könnte Medizin bekommen! Hilfe…!

Zu eurer Aufgabe: Der Tribut, der bis zur nächsten Nacht als erster siegreich aus einem Duell mit einem anderen Tribut hervorgegangen ist, ist der Sieger!

Und nun zu jenen, die uns an diesem Tage verlassen mussten…

Schweigend starren wir das Bild Floyds an, dass übergroß auf der Himmelskuppel eingeblendet wird. Derjenige, der als erstes einen Tribut tötet, erhält etwas, dass er braucht, dringend benötigt… und ich brauche Medizin, Nora Nahrung. Unerwünschter weise drängt sich mir einer der Leitsätze der Spiele in den Kopf: Es kann nur einen Sieger geben.

Eigentlich reichlich lächerlich, dieser oftmals mit überzogener Dramatik wiederholte Leitsatz, doch in diesem Moment passt er perfekt auf unsere Situation. Noch hat sich keiner von uns beiden geregt, denn noch ist Noras Aufmerksamkeit auf den Himmel gerichtet. Circes Gesicht wird mittlerweile eingeblendet und stumm blickt sie ihn an, als würde sie ihn noch einmal um Verzeihung bitten wollen. Dann geht sein Gesicht in Aramis über. Brennend steigen die Tränen in meinen Augen auf, doch ich lasse sie nicht laufen, sondern blicke noch einmal in ihr Gesicht. Ein grimmiges Lächeln trägt meine ehemalige Verbündete stolz zur Schau, doch sie wirkt nicht hart oder brutal, sondern einfach nur entschlossen. Sie ist fort. Stumm blicke ich zu Boden und jetzt rinnt doch eine der Tränen über meine Wange, zieht ihre heiße Spur hinter sich her, ehe sie vom Kinn tropft. Wackelig stehe ich auf, beiße die Zähne zusammen, als der Schmerz durch mein Bein schießt, stehe auf und gehe einige Schritte fort vom Lager, ohne mich noch einmal umzusehen.

Bei einer versprengten Ansammlung von Steinen lasse ich mich auf den größten sinken und richte mein Gesicht stumm gen Himmel, der nun wieder mitternächtlich blau-schwarz und leer ist. Einzelne Wolkenschleier reißen auf und präsentieren den Ausblick auf eine klare Nacht.

Ich bin mir sicher, dass Nora nicht gefolgt es, denn aus der Entfernung höre ich, wie jemand eine Verpackung aufreißt. So ist es besser, so hat sie keinen Grund, mich zu töten – vorerst.

Stumm laufen meine Tränen die Wangen hinab, kein Schluchzer dringt hinaus in die Nacht. Einst war ich fasziniert von der Nacht. Sie hatte etwas Verbotenes an sich, doch gleichzeitig war sie wunderschön, mit all den funkelnden Sternen am Himmelszelt. Besonders schön waren jene Nächte, in denen die Wellen sich sanft am Pier brachen und den Wind einer anderen Welt brachten.

Melancholisch kauere ich mich zusammen, winkle mein gesundes Bein an und lege meinen Kopf darauf ab. So spüre ich, wie sich etwas Kleines, Hartes in meine Brust bohrt. Fragend ertaste ich eine glatte Oberfläche, die sich warm in meine Handfläche schmiegt. Mein Medaillon. Lange habe ich nicht mehr daran gedacht. Ich ziehe den Anhänger hervor und betrachte ihn im schwachen Mondlicht, wie er golden glimmt. Direkt daneben baumelt der kleine Fisch – Finnicks Anhänger. Er erscheint mir wie aus einer anderen Zeit, während ich ihn zwischen Daumen und Zeigefinger drehe. Erneut bin ich von seiner Feinheit erfasst, wie schmal die verdrehten Goldfäden sind, obwohl es nur ein schematisierter Fisch ist.

Ein Gespräch, welches ebenso gut einer anderen Zeit entstammt kommt in meinen Gedanken wieder zum Vorschein. Es war ebenfalls des Nachts, als wir, bereits im Kapitol, auf der Terrasse saßen, die ich eigentlich nicht hätte entdecken dürfen. Die Geräusche unter uns waren verblasst und wir hatten, zaghaft, zum ersten Mal, uns an den Händen gehalten. Droben hatten die Sterne um die Wette geleuchtet.

„Ich hoffe, dass in den Sternen noch kein Platz für dich ist.“

Ich weiß noch, wie inbrünstig er mir davon erzählte, dass er fest daran glaube, dass es für jeden einen besseren Platz gäbe, einen Frieden nach dem Tod. Einen Stern für jeden Gefallenen von uns. Finnick Odair glaubt noch an solche Märchen. Aber waren sie in dem Moment nicht auch für mich real? Schließlich war ich es doch, die daran dachte, wie die Verstorbenen von ihren Sternen auf uns hinabblickten, mit mildem Wohlwollen. Meine Hand auf den leeren Platz neben mich gelegt spüre ich, wie die Wärme in mich zurückkehrt. Mit geschlossenen Augen fühle ich mich an den Tag zurück, an dem er mich das erste Mal küsste.

Doch als ich die Augen erneut öffne, da ist wieder nur die Nacht um mich und meine Hand berührt den kalten Stein. Aber in den Lücken, die sich zwischen den Wolken auftuen, da funkeln die Sterne, wie jede Nacht am echten Nachthimmel. Den größten von ihnen fasse ich fest in meinen Blick und beobachte ihn eine Weile. Stelle mir vor, wie goldig glänzender Weizen auf ihm wächst, einem Feld in Distrikt zehn gleich. Dazwischen steht ein weißes Bett in dem Feld. Ich kann es aus der Ferne erkennen und laufe durch das raschelnde Getreide darauf zu. Die Ähren wogen um meine Beine und es ist warm. Kein Geräusch außer dem lauen Wind ist zu hören, der durch das Feld fährt. Zu meinen Füßen ist die weiche Erde, die meinen Füßen wohltut, alle Schmerzen verschwinden. Bei dem Bett angelangt harre ich einen Moment aus, ehe ich mich zaghaft vorbeuge, die Haare mit der Hand zurückhaltend. Auf dem Bett liegt sie, eine schlichte Bluse und sportliche Hose tragend, die Hände entspannt auf der Seite. Ihre Haare sind offen, so wie ich sie vorher nie gesehen habe. Wenn sie schläft, dann wirkt sie viel lieblicher, als sie es jemals vorher war. Ich lächle über diesen Gedanken. Er stimmt nicht so ganz, auch sie konnte lächeln, da bin ich mir sicher, dennoch war sie ein ernster Mensch.

„Gute Nacht, Aramis“, flüstere ich und lege eine lange Ähre, die ich auf meinem Weg abgebrochen habe, auf ihre Brust. Sie bewegt sich nicht. Den Blick auf den Horizont gerichtet warte ich, bis die Sonne untergegangen ist und die schöne Nacht herbeizieht. Überall um mich herum fangen die Sterne an zu funkeln, sechzehn an der Zahl. Glücklich schließe auch ich die Augen.

Der kalte Nachtwind, der über mich fährt, holt mich aus der Traumwelt zurück, doch das warme Flackern in meiner Mitte bleibt. Ungelenken Schrittes humple ich zu dem Lager zurück, wo Nora mit geschlossenen Augen gegen den Baumstamm gelehnt wartet. Als ich komme blinzelt sie mich aus dem Augenwinkel an. Nur vier Worte sagt sie:

„Ich habe keine Waffe.“

Ich schüttle den Kopf.

„Ich brauche keine Waffe.“

Ihre Mundwinkel zucken erleichtert und ich lasse mich unter Schmerzen neben ihr sinken. Betrübt blicke ich auf mein Bein, wo ich zum ersten Mal die Wunde sehe. Die Hose ist auf Höhe des Knies aufgerissen und ein blutiger Striemen, glücklicherweise nicht allzu tief anmutend, wird sichtbar.

„Das wird schon werden“, murmle ich, ehe ich einschlafe.
 

~


 

Das Festmahl der Raubtiere


 

Das Festmahl der Raubtiere - Neunundzwanzigstes Kapitel

*

Counter: 8 Tage, 1 Stunde, 3 Minuten// Tote:16// Lebende: 8

Ein harsches Knacken im Geäst ist es, das mich aus meinem wenig geruhsamen Schlaf aufschrecken lässt. Ich erinnere mich  nicht einmal, richtig eingeschlafen zu sein, vor allem wegen der Furcht vor dem, was durch die Nacht streifen könnte. Tribute, Berglöwen… Dazu noch die Ankündigung des Festmahls – nein, heute Nacht ist Vorsicht das Gebot der Stunde.

Doch nun bin ich mit einem Schlag wach und öffne blinzelnd die Augen. Um mich herum ist alles dunkel und nur vom Mond beschienen, lediglich ein paar Schemen zeichnen sich ab, doch das genügt, und fast augenblicklich taste ich nach dem Messer an meiner Hüfte und schließe meine Finger um den metallenen Griff. Im Zwielicht kann ich Nora ausmachen, die nur knapp einen Meter von mir entfernt auf dem Boden kauert, zu einer Kugel zusammengekauert. Sie trägt ihre Jacke und hat selbst die Kapuze aufgesetzt, sodass ihr Gesicht im tiefsten Schatten liegt. Das Einzige, was aus der Dunkelheit hervorsticht, sind ihre Augen, die weit aufgerissen sind, ob aus Angst oder Überraschung, kann ich nicht sagen. Kein Wort kommt über ihre Lippen, als sie sieht, dass ich wach bin.

Die Hand am Messer drehe ich mich um, doch kein Karriero steht mit dem Schwert hinter uns, bereit den finalen Schlag auszuführen. Etwas verwirrt frage ich mich, was Nora des Nachts dazu bewogen hat, durch die Gegend zu huschen. Doch vielleicht hat sie sich wie ich geirrt? Ich drehe mich wieder um, doch sie hockt immer noch da und jetzt sehe auch ich es, klar und deutlich: In ihrer Hand schimmert eine bleiche Klinge, tödlich gezackt. Fest umklammert sie den Griff, doch ihre Hand zittert, unmerklich, doch sie tut es. Schweigen herrscht zwischen den Bäumen, als wir einander mustern. Im fahlen Schein des Mondes verzieht sie das Gesicht, beißt sich grimmig auf die Unterlippe. Dann: Mit zusammengebissenen Zähnen wirft sie mir die Klinge vor die Füße. Ich erkenne, dass es eines von Aramis Messern ist, das mit der grob geriffelten Klinge, welches sie mir kurz vor ihrem… Tod in den Rucksack gesteckt hat, damit nicht alles fort ist, sollten wir einen Rucksack verlieren.

Fassungslos blicke ich das Messer an, wie es dort schimmernd vor meinen Füßen liegt. Warum hatte Nora es?

Ich weiß es, es ist doch klar, wie sie an das Messer gekommen ist, doch noch habe ich es nicht wirklich realisiert. Sie hat es aus dem Rucksack genommen, aber… wozu? Es gibt keine Bedrohung.

„Da ist niemand, wir sind sicher“, sage ich besänftigend.

Doch Nora ballt nur eine Hand zur Faust und schlägt auf den mit Gras bewachsenen Boden. Kein Geräusch ist zu vernehmen, während sie auf ihre in den Boden gebohrte Faust starrt. Trocken schluchzt sie auf, hebt den Kopf wieder, aber diesmal ist ihr Blick anders, nicht mehr überrascht, oder verängstigt, nein, sondern wütend.

Rau fängt sie an zu sprechen:

„Ich hasse dich.“

Einen Schlag lang setzt mein Herz aus.

„Warum fürchte ich dich?“

Unglücklich verzieht sie ihre Mundwinkel nach unten. Was soll ich tun? Mit der Hand am Boden abstützend schiebe ich mich an dem Baum in meinem Rücken hoch, ziehe die Beine unter meinen Körper. Nora starrt nur auf ihre Hände, die sie verkrampft vor ihr Gesicht hält. Möglichst leise, um kein Geräusch zu erzeugen, ziehe ich das Messer aus dem Gürtel. Wird sie mich gleich attackieren?

Plötzlich ist sie über mir, unsere Gesichter ganz nah beieinander. Beinahe kann ich die einzelnen Einsprengsel in ihren Augen erkennen.

„Erledigen sollte ich dich…“, faucht sie, dann wendet sie den Blick wieder ab.

Pochenden Herzens halte dich das Messer vor meine Brust, abwehrend.

Mit dem Ärmel wischt Nora sich über die Augen, als würde sie Tränen fortwischen. Sie lässt sich auf den Boden fallen, das Gesicht in die Hände vergraben, doch fängt nicht an, laut zu weinen.

Ich schlucke, während Nora nur hilflos die Schultern hochzieht, noch immer schweigend.

„Ich sollte besser gehen“, murmelt sie jetzt leise, das Gesicht erhoben.

Nickend entgegne ich:

„Ja…“

Stumm mustern wir uns noch einen Moment, ich sehe wie Nora verlegen auf ihre Hände schielt, ihre ganze Wut ist augenscheinlich verflogen. Es scheint, als würden viele widersprüchliche Emotionen in ihr spielen. Selber wage ich es nicht mehr, etwas zu sagen, wüsste ich doch auch nicht was. Schließlich steht sie schnurstracks auf und verschwindet, bevor mir noch etwas Kluges einfallen kann, zwischen den Bäumen. Zögerlich hebe ich das Messer auf, drehe es zwischen den Fingerspitzen.

Nora hat versucht, mich umzubringen.

Unglaublich. Eine Erinnerung an die Nora, die mich im Trainingscenter angelächelt hat, kommt mir wieder in den Sinn. Sie war so unbeschwert, selbst bei ihrem Interview. Wie ich mein schmutziges und zerkratztes Gesicht in der Messerklinge betrachte, erinnere ich mich an das gelbe Kleid, das sie trug. Auf die Fragen Caesars reagierte sie mit einem herzlichen Lachen, sie machte Scherze mit dem Publikum, wickelte sie um den Finger. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, dann habe ich sie immer als einen der Tribute betrachtet, die ohne Sponsoren keine Chance haben. Lieb, nett, vertrauenswürdig, das alles sind Worte, mit denen ich Nora beschreiben würde, auch wenn ich sie nicht wirklich kenne, wie ich gerade gemerkt habe. Doch es gibt nur noch Acht von uns – natürlich will auch sie zurückkehren, jetzt, da der Sieg tatsächlich immer greifbarer erscheint. Der Sieg… Wir können sogar ein Gut erlangen, um diesem wieder einen Schritt näher zu kommen.

Eilig springe ich auf, schiebe Aramis Messer in meinen Gürtel und raffe mein weniges Hab und Gut zusammen. Die Bewegungslosigkeit ist verflogen. Nur noch Acht, denke ich, die Chance, dass Pon es schaffen kann wird immer größer! Die Strapazen der bisherigen Tage sind vergessen, voller Tatendrang verlasse ich meinen Schlafplatz und laufe los. Ich muss Pon finden! Doch vorher sollte ich noch jemand anderes finden. Maylin.

Während ich so durch die Nacht laufe, kann ich mich der Gedanken an Nora dennoch nicht erwehren. Immer wieder versuche ich zu ergründen, warum Nora mich auf einmal töten wollte. Sicher, es gibt das Festmahl und anscheinend ist bisher noch niemand getötet worden, aber waren wir nicht so etwas wie Kameraden?

‚Verbündete bedeuten in der Arena nichts liebe Annie.‘

Ambers pessimistische Worte hallen in meinen Gedanken nach. Nora und ich, wir waren nicht einmal Verbündete. Vermutlich hätte sie ihre Chance genutzt, wäre ich nicht wach geworden. Erst jetzt realisiere, wie stark mein Herz klopft. Gerade bin ich nur knapp dem Tode entronnen! Atemlos lenke ich meinen Blick gen Himmel. Ich kann mir fast schon ausmalen, wie mein Gesicht dort oben erscheint, in Übergröße. Meine Füße verfangen sich in einer Wurzel und ich schlage der Länge nach hin. Das Blut in meinen Ohren rauscht wie das Meer. Und immer wieder taucht dieser eine Gedanke auf: Ich hätte tot sein können!

Auf dem Boden liegend kommen mir die heißen Tränen, die meine Wangen herablaufen und in der Erde versickern. Von dieser Erde ausgelöscht zu sein, das will ich nicht. Die Angst um mein Leben holt mich ein, aber auch die um Pon. Mein Ziel, das darf ich nicht verraten! Ich richte mich auf, das von Tränen feuchte Gesicht gen Himmel gerichtet. Es ist keine Zeit, mich selber zu bedauern. Wie ich hätte sterben sollen, so soll jetzt Maylin sterben. Ich werde nicht einmal nachfragen, wieso. Ich will einfach nur noch, dass es vorbei ist. Wenn dafür Maylin sterben soll, so ist es mir recht und billig. Ich wusste, dass dieser Moment kommen würde, der Moment, in dem ich für mein Ziel töten muss. Töten, was ein hässliches Wort. Ich richte mich wieder auf, ziehe den Speer aus seiner Schlaufe und nehme ihn fest in beide Hände.

Großen Schrittes mache ich kehrt und laufe zurück – in Richtung des Lagers der Karrieros. Die Stille der Arena ist undurchdringlich, lediglich meine dumpfen Schritte sind zu hören. Immer wieder halte ich an und lausche, doch nichts dringt durch die Stille. In einem schmalen Sicherheitsabstand umrunde ich mein ehemaliges Nachtlager mit Nora, sollte diese zurückgekehrt sein. Selbst wenn ich den Entschluss gefasst habe, mich Maylin endlich zu stellen, so heißt das nicht, dass ich bereit bin, Nora zu töten. In meinen Gedanken wird sie einfach immer die lächelnde junge Frau aus Distrikt fünf bleiben. Niemals könnte ich ihr etwas antun.

„AAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!“

Über die Ebene hallt ein markerschütternder Schrei, ein weiblicher Schrei. Es klingt, als sei jemand in einen Hinterhalt geraten. Abrupt halte ich inne, doch auf den Schrei folgt nichts als bleierne Stille. Selbst mein eigener Atem erscheint mir viel zu laut, während ich auf irgendein weiteres Zeichen warte, doch nichts passiert. Sogar die Kanone schweigt, noch scheint es also nicht zu spät zu sein. Wer könnte es sein? Schon während ich noch überlege, wessen Schrei dies gewesen sein könnte, denke ich daran, um wen es sich handeln könnte. Nora, Maylin, Shine, das Mädchen aus sieben. Mehr sind von uns Mädchen nicht über. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Maylin und Shine, als Karrieros, eine Falle gestellt haben und um das Festmahl kämpfen, schließlich haben sie ein Bündnis. Oder das Mädchen aus sieben und der letzte verbliebene Sucher. Und Nora? Immerhin war sie ebenfalls in der Nähe. Mit stechendem Herzen laufe ich in die Richtung des Schreis. Gleich werde ich herausfinden, was dort vor sich geht.

So schnell ich auch laufe, immer wieder muss ich stoppen, denn der Boden ist uneben, von Steinen und Felsen bedeckt, die wahre Stolperfallen bilden. Zudem drängen sich die Bäume immer enger. Waren in den oberen Lagen am Hang der Berge kaum Bäume, so scheinen sie sich hier, um den mittigen Berg, fast schon zu drängen, denn mir fällt auf, dass ich durch so etwas wie einen kleinen Wald laufe. Gestern habe ich dies nicht einmal bemerkt, so verängstigt war ich.

„IAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!“

Klang der erste Schrei noch furchtsam, so ist dieser nun voller angestauter Wut, roh zerreißt er die junge Stille, die über der Arena lag. Fast schon animalisch, wie einer der Berglöwen klingt es. Alarmiert laufe ich noch schneller, sonst könnte es geschehen, dass es keine Möglichkeit mehr für mich gibt, an Maylin heranzukommen. Falls diese denn überhaupt dort ist.

„Süße, das ist meine Rache!“, schallt es zwischen den Bäumen her.

Bum.

Der harte Klang der Kanone unterstreicht den Satz. Sogar die Erde scheint wieder unter dem Klang der Kanone zu erbeben und lässt die Luft für einen Moment vibrieren, dann ist es auch schon wieder vorbei, lediglich das Geraschel einiger Flügel in dem Geäst ist zu vernehmen. Zitternd drücke ich mich hinter einen Baum, um nicht gesehen zu werden, versuche auszumachen, was sich dort in einiger Entfernung abspielt – oder besser abgespielt hat. Denn jetzt ist es vorbei, das Festmahl, da die Kanone geschlagen hat.

Ich wage es nicht zu atmen, sondern halte die Luft zurück, während ich harsches Stimmengewirr von der anderen Seite vernehme. Streitet sich dort jemand? Vorsichtig lehne ich mich ein Stück aus meinem Versteck hervor und blicke durch das Geäst. Es fällt schwer, etwas auszumachen, also schleiche ich ein Stück näher heran. Warum? Es ist mehr ein Instinkt, dem ich folge. Ich möchte wissen, was vorgefallen ist. Wer von meinen Gegnern noch übrig ist…

Langsam und den Blick auf den Boden gerichtet schleiche ich näher heran an die Bäume, welche das Blickfeld einschränken. Mit pochendem Herzen beziehe ich Stellung hinter den Bäumen. Leise biege ich einen der Zweige aus meinem Sichtfeld, jedes Rascheln im Geäst lässt mein Herz einen Schlag aussetzen. Doch niemand scheint mein Kommen bemerkt zu haben.

„Was? Was glaubst du, wer du bist?“

Hart peitscht die Stimme zwischen den Bäumen her. Unter hunderten, ja gar tausenden würde ich sie immer wieder erkennen.

„Shine… ich frage dich nur: Tat das Not? Musstest du das tun?“

Unwillkürlich presse ich mir die Hand auf den Mund. Zwischen den Bäumen stehen Shine und Maylin, anscheinend das Letzte was vom großen Bündnis der Karrieros über geblieben ist. Sie funkeln einander an, Aggression liegt in ihrer Haltung. Mit einer schnellen Bewegung zieht Shine ihre Axt aus einem Leichnam am Boden. Mein Blick folgt dem langen Griff der Axt zu dem blutverschmierten Axtblatt und dann zu dem darunterliegenden toten Tribut. Es ist Nora.

Zwar wollte sie mich töten, doch der plötzliche Anblick ihres regungslosen Körpers lässt mich erschaudern. Ihre Schreie waren es, die ich gehört habe. Die Hand an meinem Speer verkrampft sich. Was Aramis wohl tun würde, wäre sie noch bei mir? Sicherlich würde sie Maylin töten. Maylin und Shine. Die beiden sind Karrieros, sie jagen die anderen zum Spaß. Grausame, gewalttätige Mörder, nichts weiter sind sie. Dennoch sitze ich noch immer hier im Geäst und beobachte die zwei. Maylin legt sich ihre merkwürdig geformte Waffe, die ich bereits aus dem Training kenne, über die Schulter.

„Du und deine Sichel. Als wenn du damit jemanden anständig beseitigen könntest. Höchstens köpfen… Maylin.“

Shine klingt herablassend wie immer und schüttelt jetzt den Kopf. Sie hat mir den Rücken zugedreht, sodass ich weder sie noch Maylin sonderlich gut erkennen kann, aber der Klang ihrer Stimme reicht, um mir einen Schauer den Rücken herabfahren zu lassen.

Gerumpel ertönt in diesem Moment, Shine wird zur Seite gestoßen und ich sehe, wie Maylin, einen Rucksack geschultert an dieser vorbeiläuft. Doch das große Mädchen wartet nicht lange, sondern läuft ihr hinterher. Auf, zum nächsten Tribut, bereit diesen zu töten. Aber es gibt nur noch fünf Opfer für sie. Ohne mich sogar nur vier. Einer davon ist Pon. Zwei sind Sucher. Die Sucher haben auf der anderen Seite der Arena ihr Lager gehabt. Wie groß ist die Chance, dass es Pon erwischt?

Noch haben Shine und Maylin nicht ihr Festmahl erhalten. Ein Sprung, und ich bin auf den Beinen. Die Erde fliegt nur so unter meinen Füßen dahin, den Speer halte ich schützend vor meine Brust. Lange genug bin ich davongelaufen! Aramis hätte das gleiche getan. Bevor sie Pon erwischen, breche ich lieber meinen eigenen Eid. Wenn ich Glück habe, dann geht sogar dieses Festmahl an mich. Solange ich sie töte, bevor sie ihre Belohnung erhalten…

Äste schlagen mir in das Gesicht, doch ich ignoriere den peitschenden Schmerz. Über die Wurzeln fliege ich förmlich dahin, noch einmal stolpere ich nicht. Dieses Mal erwische ich sie, nicht sie mich! Pfeifend entweicht mir der Atem, als wir aus dem Gürtel der Bäume herauslaufen. Jetzt erkenne ich, wie die gesamte Arena aufgebaut ist. Was ich von dort unten nur erahnen konnte, wird zur Gewissheit. Wir befinden uns am Fuße des großen Berges in der Mitte der Arena. Dieser wird gesäumt von einem Ring aus Bäumen, der nun hinter und unter uns liegt. In der Ferne bilden weitere Bergkanten die Begrenzung der Arena. Im Norden schimmert tatsächlich das Wasser hinter den Felsen, es scheint, als wäre dort oben ein riesiges Meer… aber das ist unmöglich. In den Bergen gibt es kein Meer. Über all dies ragt der Berg vor uns. Doch ich halte nicht inne, um die Landschaft zu bestaunen. Längst hat die Arena ihr letztes bisschen Magie verloren. Graue Wolken hängen dicht am Himmel und lassen nur wenige Sonnenstrahlen durch, alles ist in ein dämmriges Zwielicht gehüllt. Doch das Licht reicht aus, um zu sehen, wie Maylin gefolgt von Shine über die Ansteigung läuft. Also geht es auf den Berg…

Ich kann nur hoffen, dass die beiden sich nicht umdrehen. Denn jetzt, da wir die letzten Bäume zurückgelassen haben, bin ich schutzlos auf der offenen Ebene zu sehen, die die letzten Meter zum Berg trennen. Keuchend spüre ich einen stechenden Schmerz in meinen Seiten, den ich so noch nie gespürt habe, doch ich laufe weiter, immer weiter. So lange, bis ich die Karrieros eingeholt habe. Bis ich sie überrascht habe!

Tatsächlich dauert es nicht lange, denn vor meinen Augen holt Shine Maylin ein, kurze bevor diese den steinigen Weg auf den Berg erreicht hat. Plötzlich scheint es, als würde Maylin stürzen, sie rollt in das Gras. Shine erreicht sie und dann das unglaubliche: Sie hebt ihre Axt hoch über den Kopf, als würde sie Holz hacken wollen, dann schwenkt sie diese direkt auf ihre Verbündete zu. Gerade noch kann ich mich zurückhalten, fast wäre mir ein warnender Schrei entronnen, mit dem ich mich vorzeitig verraten hätte, doch Maylin dreht sich gerade noch rechtzeitig weg, springt zurück auf die Beine, will weiter laufen. Ich selber verlangsame meinen Lauf, beachte die Szene nur, die sich in wenigen Metern Entfernung vor meinen Augen abspielt. Was nun?

Shine packt Maylin an der Hüfte, schleudert sie erneut mit roher Gewalt zu Boden, doch Maylin taucht unter ihren Beinen hindurch. Nur noch joggend nähere ich mich den Beiden, unsicher, was ich jetzt tun soll. Kämpfen sie wirklich gegeneinander?

Meine Frage wird beantwortet, als Shine wie eine Wilde die Axt wieder erhebt um damit nach Maylin zu schlagen. Zu Maylins Glück ist diese Bewegung jedoch eher schwerfällig und wendig wie sie ist taucht sie auch unter diesem Schlag hinweg. Alles was sie tut ist leichtfüßig einen Schritt zurück zu springen. Noch einige Schritte wage ich mich näher an die Szenerie heran, sodass ich nur noch circa sieben Meter von dem Kampf fort bin. Eigentlich wollte ich die Karrieros ja überraschen. Ich bin mir zudem nicht sicher, ob ich in ihren Kampf eingreifen sollte. Wenn sie einander gegenseitig töten, so brauche ich keinen Finger zu rühren… doch ich weiß, dass ich es bin, die Maylin töten muss. Wenn nicht ich es bin, dann wird… jemand dafür bezahlen. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Ich habe keine Wahl, diesmal nicht. Noch ehe ich wirklich die Entscheidung durchdacht habe, laufe ich erneut weiter, den Speer wie ein Schild erhoben. Sie dürfen einander nicht umbringen! Doch Maylin versetzt Shine jetzt einen Tritt, diese fliegt rücklings auf den Boden, ein Sturz der ihr die Luft aus den Lungen getrieben haben muss. Maylin setzt einen Fuß auf ihre Brust und scheint zu lächeln. Sie sagt etwas, doch ich bin zu weit entfernt, um es zu hören. Wieder einmal halte ich inne. Maylin hat eine Sichel. Sie hat eine Chance, Shine zu töten, eine Chance, die ich nicht habe. Gegen zwei Karrieros auf einmal… ich sollte vielleicht doch besser warten. Einen Moment zögere ich, doch ich sinke bereits in die Knie und presse mich in das taufeuchte Gras, um nicht aufzufallen. Maylin steht zwar mit dem Gesicht zu mir, doch entweder hat sie mich nicht gesehen, oder sie sagt es Shine nicht, doch statt sich um mich zu scheren sagt sie jetzt laut und deutlich:

„Ja, versuch mich doch zu töten! Versuch es!“

Für den Moment antwortet Shine dadurch, dass sie Maylins Bein packt, wegzieht und selber wieder auf die Beine rollt, dann macht sie ihre Absicht deutlich, indem sie erneut die Axt schwingt, dieses Mal noch schneller, als beim ersten Mal.

„Mit Vergnügen!“, ruft sie, als das Blatt nieder saust.

Doch Maylin ist schneller, schon ist sie wieder abgetaucht und schnellt an anderer Stelle hoch. Warum wagt sie keinen Gegenschlag? Schon schnellt die Axt erneut heran, streift sie an der Schulter. Getroffen taumelt sie zur Seite. Sie hält sich die Schulter, Blut tropft zu Boden. Doch die Sichel hält sie immer noch in der Hand. Innerlich bete ich, dass sie nicht allzu schwer verletzt ist, denn Shine stürzt sich auf sie, ringt sie zu Boden. Mit dem Unterarm drückt sie ihr die Luft an der Kehle ab, doch Maylin drückt ihre Knie in Shines Unterleib und wirft diese schließlich von sich, gerade noch rechtzeitig. Vor Anspannung vergraben meine Hände sich in das Gras und die krümelige Erde.

„Ich werde dich töten!“

Mit diesem Schrei wirft Shine die Axt weg, die sie die ganze Zeit behindert hat.

„Mit meinen eigenen Händen!“

Alles scheint vergessen, als sie sich jetzt auf Maylin wirft. Shines Hände schließen sich Klauen gleich um Maylins Hals, was mir den Atem stocken lässt, doch diese nimmt endlich einmal ihre Sichel zur Hand, doch sie schlitzt nur einen schmalen Schnitt über Shines Hals, weiter kommt sie nicht – oder will sie nicht. Erfolg  hat sie jedoch, Shine lässt von ihr ab. Sie presst sich die Hand auf den Schnitt, was Maylin nutzt, um sich erneut freizukämpfen. Auf den Knien robbt sie fort von der tobenden Shine. In einigen Schritten Entfernung steht sie auf, streckt wie Caesar Flickerman auf der Bühne die Arme zu den Seiten aus. Als wolle sie stolz etwas präsentieren. So wird das nie etwas mit dem Kampf, so kann Shine ihre böse Prophezeiung doch noch wahrmachen…!

„Ja, schaut es euch an! Habt ihr es gesehen? Wie ein Monster. Erst das Fünfer Mädchen und jetzt ich. Vor niemandem wird Halt gemacht! Das ist es, was ihr wollt!“

Wütend schreit sie dies in die Welt hinaus, dreht sich um zu dem großen Berg und blickt an ihm hinauf.

„Wie Tiere…“

Doch ehe Maylin weiter rufen kann, springt Shine sie an und schlägt sie mit aller Wucht zu Boden. Am Boden liegend hat sie immer noch die Arme ausgestreckt, ein letztes Mal ruft sie:

„Euer System ist kaputt! Kaputt wie ihr!“

Wovon redet Maylin da? Was ist da los?

Aus ihrem Gürtel zieht Shine jetzt ein Messer. Sie sagt nichts, sondern sie scheint nur auf eines aus zu sein: Maylin zu töten. Das Messer fest im Griff legt sie die Klinge fast schon liebevoll an Maylins Wange, fährt herab zu ihrem Hals. Ich bin zu weit weg, um noch irgendetwas tun zu können. Ich weiß es. Ich kann nicht rennen. Maylin sollte Shine töten, nicht anders herum. Mein Vater! Heiß brennen die Tränen in meinen Augen. Nein, das darf nicht sein! Mein Hals ist trocken als ich den Schrei ausstoße:

„Halt!“

Tatsächlich hält Shine inne, auch wenn das Messer an Maylins Kehle verharrt. Beide blicken in meine Richtung, doch aus der Entfernung kann ich ihre Blicke nicht erkennen. Wagemutig stehe ich auf, strecke ihnen mein Speer entgegen, auch wenn meine Knie ungewollt zittern.

 „Seht es euch an!“

Ein letztes Mal schreit Maylin wie eine Verrückte, woraufhin Shine sich ihr wieder zuwendet und dann die Klinge mit einem Ruck über ihren Hals zieht. Einfach. Effektiv.  

„Das hast du davon, miese Verräterin.“

Shine steht auf, den Rücken mir zugewandt. Als würde sie mich nicht einmal ernst nehmen.

Bumm.

Ein letzter Kanonendonner zeugt von Maylins Tod. Tod. Maylin lebt nicht mehr. Meine ohnehin schon zitternden Knie geben erneut nach, ich sinke einfach gen Boden. Hart pralle ich auf den Boden auf, doch die körperlichen Schmerzen interessieren mich nicht, denn ich beobachte gerade, wie Shine sich zu mir umdreht, ihr typisches, siegessicheres Grinsen aufgesetzt.

Der Wind trägt ein höhnisches Lachen herbei.

„Wir werden uns wiedersehen…“

Dann rennt Shine los, so schnell wie eine Raubkatze. Axt und Messer bleiben zurück, ebenso wie ich, die mit geweiteten Augen im Gras kniet. Ich wollte meine Augen schließen, doch gleichzeitig konnte ich sie nicht abwenden. Für immer wird sich dieses Bild, wie Shine das Messer zog in meinen Gedanken festgebrannt haben. Mit ausgebreiteten Armen und offenen Augen liegt Maylin jetzt im Gras. Wieso? Wieso nicht Shine?

Heiser schluchzend presse ich die Hände auf das Gesicht. Ich lasse den Tränen freien Lauf. Denn mit Maylin habe ich unweigerlich auch meinen Vater verloren. Irgendwo in meinen Gedanken stelle ich mir vor, wie Präsident Snow langsam den Kopf schüttelt. Das Todesurteil ist unterschrieben.

‚Pon!‘, durchzuckt es meine Gedanken. Wenn Shine fortläuft, dann kann sie ihm begegnen! Unter allergrößter Anstrengung erhebe ich mich. Alles tut so weh. Am liebsten würde ich liegen bleiben auf der harten Erde und auf das Ende der Arena warten. Doch Pon ist da draußen, er wartet sicherlich auf mich. Deshalb erhebe ich mich langsam und setze mich wieder in Bewegung, in dieselbe Richtung, in die Shine verschwunden ist. Natürlich kann ich ihr nur vage folgen, da sie bereits außer Sichtweite ist, aber die Hoffnung treibt mich an. Wie schon Shine umrunde ich den Berg, laufe in Richtung Westen wieder auf den Baumgürtel zu.

Bald schon umgibt mich wieder das unheimliche Geäst der toten Bäume und auch der leichte Nieselregen von gestern hat wieder eingesetzt. Im hämmernden Rhythmus meiner Schritte ziehe ich die Kapuze auf den Kopf. Fern jeglichen Zeitgefühls wundere ich mich schließlich, als plötzlich einige zarte Sonnenstrahlen durch die Baumkronen auf den Boden fallen. Ist es schon wieder Tag? Ich muss mich beeilen! Das Einzige, was meinen Hoffnungsschimmer nähert, ist die Tatsache, dass noch keine weitere Kanone abgefeuert wurde. Noch lebt Pon!

Erst als die Wurzeln meinen Weg immer mehr versperren muss ich Halt machen und langsamer gehen, ja über einige besonders große Exemplare muss ich fast schon klettern! Aufmerksam schaue ich mich dabei im Wald um, halte Ausschau nach einigen Anhaltspunkten, damit ich mich später noch wieder zu Recht finden kann, denn in diesem Teil der Arena war ich noch nicht. Doch anstelle einer hilfreichen Wegmarkierung erspähe ich zwischen den Bäumen etwas ganz anderes:

Eine schmale kleine Gestalt in dunkler Regenjacke, die mit beiden Händen die blaue Kapuze festhält. Langes, silbernes Metall schimmert in einer Halterung auf dem Rücken, größer als der Tribut selber. In diesem Moment bricht dank meiner Unaufmerksamkeit unter meiner Schuhsohle krachend ein Zweig durch. Langsam dreht die Gestalt den Kopf in meine Richtung. Ich halte den Atem an.

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 ~
 

Gemeinsam


 

Gemeinsam - Dreißigstes Kapitel


 

*
 

Die aktuellen Entwicklungen bringen unseren Atem zum Stocken!

Zerbricht jetzt auch das letzte Bündnis in der Arena?

Caesar, wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen: Maylin war eine Verräterin! Sich gegen das eigene Bündnis als auch den Distrikt zu stellen, nur weil man Ruhm ernten will. Da kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Unser Geld sollten wir lieber nicht auf Tribute wie Maylin verschwenden.

So ist das Drama, denn jetzt lösen sich die Karrieros auf.

Meine Damen und Herren, sie dürfen gespannt bleiben.

Wird Shine ihren Rachefeldzug weiterspannen?

Und: Achten sie auf Annie, den einstmals so unscheinbaren Tribut aus Distrikt vier. Vielleicht hat sie doch noch einen Trumpf in der Hinterhand?

Alte Bündnisse zerbrechen, neue entstehen: Es geht auf das Finale zu!

Mein Rat: Vergessen sie die Karrieros!

 

Blondes Haar schaut unter der blauen Kapuze hervor. Ebenso, wie ein mit Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht.

Ich laufe. Alles um mich herum verschwindet, wird unwichtig. Die Äste, die krachend unter meinen Füßen bersten, die Zweige die mir in das Gesicht peitschen, einfach alles. Ich habe ihn gefunden! Endlich! Nach über einer Woche härtester Qualen in der Arena habe ich ihn wiedergefunden! Den Speer werfe ich einfach von mir fort, der Rucksack gleitet von meinen Schultern und fällt auf die Erden, doch ich kümmere mich nicht darum. Atemlos überwinde ich die letzten Zentimeter zu ihm. Unendlich glücklich schließe ich ihn in die Arme.

„Pon.“

Fest halte ich ihn in meinen Armen, drücke seinen schmächtigen Körper an mich. Pfeifend entweicht mir die Luft und ich löse mich vorsichtig von ihm. Die Hände auf die Knie gelegt versuche ich wieder zu Atem zu kommen. Ja, er ist es wirklich. Der Junge mit den blondgelockten Haaren, den frechen Sommersprossen und den funkelnden blauen Augen, das ist wirklich Pon. Mein Mittribut. Ich habe ihn gefunden! Gar nicht oft genug kann ich diesen Gedanken wiederholen.

Auch auf seinem Gesicht zeichnet sich jetzt ein Lächeln ab, nachdem er mich erkannt hat.

„Annie!“, ruft er ebenso frenetisch, wie ich eben noch seinen Namen rief.

Jetzt ist er an der Reihe, mich zu umarmen. Mit erstaunlich viel Kraft drückt mich der Zwölfjährige an sich.

„Oh Pon, Pon…“, flüstere ich leise, während ich mein Gesicht an seiner Schulter vergrabe.

Ein wenig zögerlich lösen wir uns aus der Umarmung und betrachten einander. Über eine Woche ist in dieser Arena vergangen, in der wir uns nicht gesehen haben, obwohl wir ein Versprechen hatten. Doch jetzt, nach der Begegnung bei den Karrieros stehen wir auf einmal wieder voreinander.

„Was machst du nur für Sachen?“, frage ich leise und schüttle den Kopf.

Die Erleichterung ihn noch gefunden zu haben, bevor es zu spät ist, ist unermesslich. Auch Pon selber scheint erleichtert zu sein – zumindest glaube ich das in seinem Gesicht zu erkennen. Langsam sammle ich den Speer und Rucksack wieder vom Boden auf, wo ich sie fallen gelassen hatte.

„Es tut mir Leid, dass ich das Versprechen nicht gehalten habe“, höre ich Pon leise sagen.

Überrascht drehe ich mich zu ihm um, während ich den Speer zurück in seine Befestigung am Rucksack schiebe.

„Ach, das habe ich doch schon längst vergessen.“

Zaghaft lächelt er mich an.

Bestärkt fahre ich fort:

„Jetzt haben wir einander ja wieder gefunden.“

Mit diesen Worten stehe ich auf und wuschle ihm einmal durch die Haare.

„Hast du ein Lager oder noch etwas bei dir?“

Stumm schüttelt er den Kopf.

„Nein, ich habe nichts außer dem Speer. Ich war immer unterwegs…“

Nachsichtig nicke ich. Sicher muss Pon sich auch gefürchtet haben in der Arena, deshalb hat er kein längerfristiges Lager. Aber wozu bin ich denn jetzt da, wenn nicht dafür, uns beide durchzubringen? Voller Energie stemme ich die Hände in die Hüften und sehe zu Pon.

„Also, was wir brauchen ist ein Unterschlupf“, fange ich begeistert an, meinen Plan darzulegen, der sich in den durchwachten Stunden um Mitternacht in meinen Gedanken herausgebildet hat. Doch weit komme ich nicht, denn Pon unterbricht mich.

„Ich kenne jemanden, der ein Lager hat!“

Verdutzt halte ich inne. Was soll das heißen, er kennt jemanden? In der Arena ‚kennt‘ man doch nicht einfach so jemanden.

Hastig und voller Begeisterung fährt er fort:

„Victoria ist ganz nett, du wirst sie sicher mögen! Sie war es auch, nach der ich gesucht habe. Weißt du, sie ist ziemlich stark und hat es sogar geschafft, an einige Sachen aus dem Füllhorn heranzukommen!“

Der wilde Glanz der Begeisterung steht in seinen Augen und ich kann ihn nicht mehr aufhalten. Einem Wasserfall gleich erzählt er von Victoria:

„Am Füllhorn hat sie mich gerettet, als mich fast ein heranfliegendes Messer getötet hätte! Einfach umgeworfen hat sie mich und dann hat sie gesagt, wir sollten ein Bündnis schließen. Das hab ich auch getan…“

„Halt, stopp bitte!“, unterbreche ich seinen euphorischen Redefluss.

„Ich unterbreche dich nur ungern, aber wir stehen mitten im Wald – was glaube ich – ein wenig gefährlich sein dürfte. Zuerst sollten wir uns wirklich ein Lager suchen, ehe wir überlegen, was wir dann tuen.“

Aus den Wolken fallen bereits wieder einige Regentropfen herab, zudem lassen die rabenschwarzen Wolken im Osten der Arena, die sich über die Berghänge schieben nichts Gutes vermuten. Also packe ich Pon sanft bei der Schulter und schiebe ihn vorwärts.

„Es ist nicht sicher hier. Du kannst mir alles erzählen, wenn wir einen Unterschlupf haben!“

Fast schon ein wenig resigniert nickt er, ehe er seinen Speer aufhebt, der auf dem Waldboden lag, und neben mir hergeht.

„Kennst du dich in diesem Teil der Arena aus?“, frage ich ihn, denn schließlich hat es mich noch nicht hierher verschlagen.

Doch auch Pon schüttelt den Kopf.

„Ungefähr gestern habe ich die Orientierung verloren“, gesteht er, „aber ich weiß, dass irgendwo hier die Karrieros ein zweites Lager haben, zumindest sagt Victoria das.“

Zwar weiß ich immer noch nicht, wer diese Victoria ist, doch ich beschließe, dass es klüger wäre, in diesem Falle auf die Meinung der Unbekannten zu vertrauen.

„Dann sollten wir nicht unbedingt weiter in diese Richtung gehen. Allerdings können wir auch nicht zurück, denn dort hat das Erdbeben den Boden aufgerissen. Wer weiß, wann so etwas wieder passiert?“

Ratlos halten wir wieder an, betrachten die verkümmerten Baumstämme um uns herum, die mir plötzlich als viel zu engstehend erscheinen. Ein wenig beklemmt räuspere ich mich.

„Irgendwelche Vorschläge?“, wende ich mich mit dünner Stimme an Pon.

Mit etwas mulmiger Miene erwidert er:

„Zurück können wir nicht, da ist nur die Einöde mit den Berglöwen…“

Unsicher schaue ich mich zwischen den Bäumen um. Pon hat Recht, der Weg nach hinten ist auch kein sonderlich guter. Somit bleibt uns nur eines, wenn wir nicht in eine Falle tappen wollen: Der Weg nach vorne. Einem Impuls nachgeben greife ich mir an den Hals und reibe nervös mit der Hand über das Brustbein. Es fühlt sich an, als wäre meine Kehle blockiert, ein kaltes Gefühl macht sich in meinem Magen breit, doch ich kann nicht nachvollziehen, warum das so ist. Das Einzige, was mir zu denken gibt, ist der Regen, der mittlerweile immer stärker auf uns herabprasselt. Wenn das so weiter geht, dann wird sich die Arena zügig in ein Schlammfeld verwandeln. Wer weiß, was dann erst passiert…

„Dann bleibt uns nur der Weg nach vorne“, sage ich an Pon gewandt.

Dieser nickt zustimmend.

„Zum Berg“, stimmt er mir mit kritischem Gesichtsausdruck zu.

Auch er scheint nicht sonderlich angetan zu sein von der Idee, auf den scheinbar unbezwingbaren Berg zu flüchten. Doch was bleibt uns anderes übrig? Also setzen wir uns wieder in Bewegung, in Richtung Berg, oder zumindest in die Richtung, in der wir den Berg vermuten. Denn dunkle Wolken haben sich vor die Sonne geschoben, sodass es mir immer noch erscheint, als wäre es nachts, auch wenn ich weiß, dass die Sonne hinter den Wolken scheint. Zumindest, wenn das Kapitol das so programmiert hat, denke ich bissig. Vielleicht aber haben sie die Sonne auch einfach aus ihrem Arenaprogramm gelöscht?

Der heftige Regen gibt sein Übriges dazu, damit die Orientierung noch schwerer wird. Die engstehenden Bäume mit ihren hageren Ästen, die quer über den Weg gewachsen sind, sehen aber auch alle gleich aus! Missmutig drücke ich einen dünneren Ast aus dem Weg, damit Pon und ich passieren können, doch augenblicklich schnellt dieser zurück. Ein brennender Stich durchzuckt mich und ich fasse mir an die Wange. Rote Tropfen schimmern auf meinen Fingerspitzen, doch diese werden fast augenblicklich von dem Regen fortgespült, bis keine Spur meines Blutes mehr bleibt, als wäre es nie dagewesen.

Missmutig ducke ich mich unter dem Ast hindurch, immer darauf bedacht, dass Pon mir noch folgen kann. Mehrmals werfe ich einen Blick zurück, doch Pon ist jedes Mal noch da, obwohl ich immer mit dem Gegenteil rechne. Anscheinend ist mir das Glück endlich einmal wieder wohlgesonnen.

Doch diese glückliche Erkenntnis hält nicht lange an:   Ein unerwarteter Widerstand lässt mich straucheln. Wild mit den Armen rudernd versuche ich noch, mich zu halten, doch dann falle ich der Länge nach hin, einmal mehr. Aber was dann passiert, enthält sich jeglicher Fantasie. Mit einem festen Ruck zieht etwas an meinem Fuß! Bestürzt schreie ich schrill auf und werfe mich herum. Fest um meinen Fuß ist eine ledrige Ranke geschlungen. Die Hände in der aufgeweichten Erde abstützend, versuche ich, mich fortzuziehen, doch die Ranke hält mich fest. Panisch zerre ich an meinem Fuß, doch es ruckt nur und die Ranke zieht ihre Schlinge enger. Fassungslos muss ich mit ansehen, wie ein Ruck durch die Ranke geht und ich ein Stück näher gezogen werde – aber an was?

Vor mir erhebt sich lediglich der Baum, dessen Ast ich eben noch zurückgeschlagen habe. Doch da erkenne ich es: Aus den Wurzeln dieses Baumes sind lebendige Ranken geworden, solche, wie sich eine um meinen Fuß windet. Gerade noch rechtzeitig kann ich mein Bein fortziehen, ehe eine weitere Ranke sich um mich wickeln kann.

Auch Pon weicht einige Schritte zurück, Panik steht in seinem Blick, er hat die Augen weit aufgerissen. In seinem Rücken sind bereits die nächsten Bäume… deren Kronen sich jetzt ebenfalls in Bewegung setzen!

„PON!“, schreie ich, die Fingernägel in die Erde bohrend, um nicht weggezogen zu werden.

„LAUF!“

Warnend blicke ich ihn an. Er darf es bloß nicht wagen, dieses Mal nicht zu gehorchen. Denn sonst ist es zu spät! Die ganze Baumkrone des Baumes in seinem Rücken biegt sich nach hinten durch, wie Shine, als sie zu ihrem finalen Schlag ausgeholt hat.

„LAUF, BITTE!“

Gerade noch rechtzeitig stürzt Pon sich von dannen, läuft so schnell er kann vor dem Baum zurück, dessen Äste jetzt mit einem Krachen auf das Fleckchen Erde peitschen, wo er eben noch stand. Dennoch bleibt er keine zwei Meter weiter stehen, den Blick auf mich gerichtet. Ich weiß, was er denkt, doch ich will, dass er das Weite sucht. Nie habe ich die Tribute verstehen können, die ihren Verbündeten sagten ‚Es ist schon okay, lass mich alleine, ich komme nach, ich schaffe das‘, denn nie hat es auch nur einer von ihnen geschafft. Doch jetzt, als sich die Ranke unerbittlich fester zieht und mich immer tiefer herab zieht, in das dunkle Reich, das sich mir jetzt unter den Wurzeln offenbart, da verstehe ich es. Es ist zu seinem Besten.

„Lauf Pon, bevor sie dich erwischen! Wir treffen uns am Fuß des Berges.“

Gerade noch kann ich mich zu einem Lächeln durchringen. Noch näher bewegen sich die Bäume aufeinander zu, es war also keine Täuschung, dass sich die Bäume immer näher an uns heranbewegt haben. Es fehlt nicht mehr viel, dann ist der Weg sowohl zurück als auch nach vorne abgeschnitten. Die Äste einiger Bäume verflechten sich bereits ineinander, als würden sie sich verbünden. Flehend schaue ich Pon an und tatsächlich wirft er mir einen wehleidigen Blick zu, um dann zu laufen. Ich sehe, wie seine Jacke zwischen den Bäumen verschwindet.

Einen erleichterten Seufzer auf den Lippen wende ich mich den Bäumen zu. Nur, weil ich berühmte, letzte Worte zitiert habe, steht es ja noch nicht geschrieben, dass ich sterben werde, schließlich gibt es noch vier andere Tribute, die zwischen Pon und dem Sieg stehen. Noch konnte ich mich ja gar nicht beweisen!

Die Zähne zusammengebissen ziehe ich Aramis Messer aus meinem Gürtel. Eines muss ich Nora danken: Ohne sie wäre das Messer jetzt unerreichbar in meinem Rucksack, festgeschnürt auf meinem Rücken. Energisch richte ich mich auf, strecke mich nach meinem eigenen Fuß aus. Mit der einen Hand packe ich die widerliche Wurzel, deren Oberfläche sich entgegen der Erwartungen schleimig anfühlt und mit der anderen setze ich die gezackte Schneide des Messers an. Mit schmerzhaft aufeinander gepresstem Kiefer versuche ich, die Wurzel zu zersägen, doch jetzt offenbart der Schleim seine Wirkung: ohne auch nur die geringste Wirkung zu zeigen rutscht das Messer wiederholt von der Ranke ab. Nicht ein Kratzer bleibt auf dieser zurück. Verdammt!

Immer näher werde ich nun an das dunkle Loch herangezogen, welches sich unter den Wurzeln des Baumes versteckt. Ich kann nicht das Geringste ausmachen, was sich darin verbirgt, doch das muss ich auch gar nicht: Es ist ohnehin nur der Tod. Verzweifelt kralle ich mich an der Ranke fest, ziehe und zerre, doch statt sich zu lockern, zieht sie sich nur noch enger um meinen Knöchel. Schmerzerfüllt keuche ich auf und lasse von ihr ab. Als wenn das noch nicht genug wäre, erkenne ich, dass der Weg bereits verschlossen ist. Selbst wenn ich es schaffe, frei zu kommen, so wäre ich dennoch gefangen. Die Äste der Bäume auf der anderen Seite langen ebenfalls mit ihren langen, fingergleichen Auswüchsen nach mir. Einen spitzen Schrei ausstoßen tauche ich unter einem besonders dicken Ast hindurch, der direkt neben mir aufschlägt.

Ob Pon es bereits heraus geschafft hat aus diesem grauenvollen Wald? Ich bete dafür. Doch vorerst bleibt mir nichts anderes übrig, als mich wieder der Wurzel an meinem Knöchel zuzuwenden. Mit den Fingernägeln versuche ich, den Schleim abzukratzen, der sie vor meinem Messer schützt, doch auch dies zeigt nur mäßigen Erfolg. Wütend heule ich auf, ergreife das Messer und steche blind auf die Ranke ein. Ein Schmatzen ertönt, als die Klinge durch die Ranke hindurchfährt.

„Ahhh…“

Ich beiße die Zähne aufeinander, als ein Schmerz sich in meinem Knöchel ausbreitet. Kurz darauf tritt Blut aus der Stelle aus, wo ich das Messer hineingetrieben habe. Es sieht aus, als würde die Baumwurzel bluten, wie ein lebendiges Geschöpf. Doch es ist mein eigenes Blut. Zu tief ist das Messer durchgedrungen und hat in meiner Wut mich selbst verletzt. Dafür weiß ich jetzt, dass man die Ranke durch Hiebe mit der Messerspitze verwunden kann. Erneut nehme ich das Messer, diesmal mit etwas weniger Kraft, und steche auf die Ranke ein. Tatsächlich gelingt es mir erneut die Ranke wie Butter zu durchschneiden, sogar ohne mich selber zu verletzen. Dort wo die Schneide nichts auszurichten vermag, erweist sich die Messerspitze als sehr hilfreich. Mit einigen weiteren Stichen habe ich die Ranke soweit aufgeschlitzt, dass sie sich nicht enger zieht. Mit den Händen breche ich die nun leblose Wurzel auseinander und befreie meinen Fuß aus der Schlinge.

Vorsichtig taste ich über die Wunde an meinem Fuß, doch ich kann nicht sagen, wie tief sie ist. Immer noch tritt Blut aus, doch ich muss das jetzt ignorieren. Sogar der Schuh ist von dem Messer an dieser Stelle durchtrennt worden, solche Wucht hatte mein Hieb. In Ermanglung besserer Mittel ziehe ich die Socke über die Wunde, sodass diese verdeckt ist. Einen Schmerzensschrei unterdrückend stehe ich schließlich auf und ziehe noch im gleichen Schritt den Speer aus seiner Halterung. Damit schlage ich die sich nähernden Äste aus dem Weg. Langsam humpele ich auf den Ausgang zu, oder besser gesagt das, was davon übrig ist. Die Bäume haben sich bereits eng umschlungen und alles, was noch davon zeugt, das dort einst ein Weg war, ist das kleine Loch zwischen den Ästen, durch das man auf den dahinterliegenden Weg schauen kann.

Einmal atme ich noch tief ein, dann erhebe ich meinen Speer und stürze mich auf die beiden Bäume, die meinen Weg versperren. Mit der Spitze des Speeres drücke ich die Äste fort. Nicht alle lassen sich beiseiteschieben, doch diese die bereits fest verwachsen erscheinen, kann ich mit der Speerspitze und einem gezielten Hieb voneinander trennen. So schaffe ich es tatsächlich, den Ausgang wieder zu vergrößern. Noch bevor die Äste sich wieder zurück schieben können, oder die zu neuem Leben erwachten Wurzeln mich erreichen, zwänge ich mich zwischen den Ästen hindurch. Einige der Äste scheinen zu versuchen, mich festzuhalten, doch wie im blinden Wahn reiße ich an ihnen, bis sie mit einem trockenen Krachen bersten und ich taumle auf der anderen Seite hinaus.

Aber auch hier sind die Bäume bereits zum Leben erwacht, mit lautem Donner schlagen die Baumkronen auf den Weg. Den Speer abwehrend erhoben widme ich mich dem Lauf, dann trete ich auf meinen verletzten Fuß auf. Fast augenblicklich schießen mir die Tränen in die Augen vor Schmerz, doch ich blinzle sie hektisch weg. Nicht jetzt! Geduckt laufe ich unter den Bäumen hervor, springe über am Boden liegende Äste und schlage wenn nötig mit dem Speer nach ihnen. Haare und Kleidung verfangen sich in dem widerspenstigen Astgewirr, doch ich halte nicht an, laufe immer weiter, egal ob das Geräusch reißenden Stoffes ertönt oder mir die Haare mit einem Ziepen ausgerissen werden. Ich will nur eines: Raus aus diesem tödlichen Wald!

Erneut nähern sich mir Zweige von hinten. Mit beiden Händen umklammere ich den Speer. Eine simple Bewegung später ist dieser weg. Ungläubig muss ich mit ansehen, wie der Speer von den Zweigen umklammert wird, dichter in ihr Gewirr gezogen wird um dann mit einem Knacken in zwei Teile zu brechen. Dies ist wohl nur der Vorgeschmack auf das, was diese Bäume mit mir anstellen würden, wenn sie mich in die Finger bekommen. Ohne zurück zu schauen laufe ich hastig weiter, jetzt nichts außer meinen Armen zum Schutz gebrauchend.  

Irgendwie schaffe ich es aber tatsächlich, auch vor diesen Bäumen zu fliehen. Während sich der Wald hinter mir mit einem Rascheln immer enger zieht, öffnet sich vor mir eine breite Schneise, auf die die Bäume noch nicht vorgedrungen sind, doch es ist bereits zu erkennen, dass sie sich langsam in Bewegung versetzen. Doch der wahre Lichtblick wartet am Ende der Schneise, denn von dort her leuchtet das schwache Tageslicht. Sogar den Regen würde ich jetzt begrüßen, zusammen mit dem dämmrigen Licht. Alles ist besser, als diese Hölle bevölkert von schwarzen, blattlosen Bäumen. Nur etwas gibt es jetzt noch, was zwischen mir und dem Tageslicht steht: Es ist Pon. Nur wenig vor mir stolpert auch er auf den Ausgang zu!

Erleichtert, dass er es bis hierher tatsächlich geschafft hat, den todbringenden Bäumen zu entkommen, hole ich zu ihm auf. Zaghaft lege ich ihm meine Hand auf die Schulter. Erst zuckt er zusammen, doch als er sich umdreht, wandelt sich sein panischer Gesichtsausdruck in Freude.

„Du hast es geschafft!“

Ebenso begeistert nicke ich.

„Ja! Komm, wir müssen hier fort!“

Wie um meine Aussage zu unterstreichen schlägt in diesem Moment ein gewaltiges Bündel aus Ästen und Zweigen neben uns ein.

„Hier!“, sagt Pon, während er mir seinen eigenen Speer reicht.

Zum Dank nicke ich, dann schlage ich einen Zweig aus dem Weg, der sich in unsere Richtung schlängelt. Ein kleines Lächeln aufgesetzt reiche ich Pon meine Hand.

„Gemeinsam.“

So laufen wir Hand in Hand durch die Schneise hinaus in die Freiheit.

Atemlos stolpere ich mit Pon aus dem Wald, doch weit komme ich nicht, denn meine Haare haben sich an einem der Äste verfangen. Mitten im Lauf reißt es mich voller Wucht zurück. Alles Ziehen und Zerren von meiner Seite ist vergebens, und auch wenn Pon zurück zu den Bäumen möchte, um mich zu befreien, will ich dies nicht zulassen. Schmerzlich blicke ich auf mein langes Haar, wie es von dem letzten Baum festgehalten ist. Wenn es dies ist, was mich vom Leben trennt, dann soll es so sein!

Kurzerhand ergreife ich das Messer und ziehe es durch meine Haare. Wenige Schnitte reichen aus, dann bin ich frei. Außer meinem Speer und einem Stück meiner Haare muss ich glücklicherweise nichts in diesem Wald zurücklassen. Ohne meinen Haaren nachzutrauern reiche ich Pon wieder die Hand und gemeinsam laufen wir im Laufschritt fort von dem Wald, bis wir den ersten Ausläufer des gewaltigen Berges erreichen und der Wald so weit in der Ferne ist, dass er nicht mehr als eine schwarze Wand bildet. Für das Erste scheint es, als wären wir der Gefahr entkommen.

Schwer atmend drücke ich meine Hände in die Hüften und versuche, wieder zu Luft zu kommen. Dabei lege ich staunend den Kopf in den Nacken. Jetzt, wo ich erstmals so nah vor dem Berg stehe, erscheint er mir noch viel größer. Bis in die künstlichen Wolken der Arena hoch erhebt er sich. Direkt vor uns fängt der Boden an, sich zu erheben und in wenigen Metern Entfernung ist zu erkennen, wie das bräunliche Gras immer weniger wird. Statt des Grases besteht der Weg nun zum größten Teil aus Stein. Tatsächlich erscheint das, was sich vor uns erstreckt, wirklich wie ein Weg: Einer sanften Steigung folgend windet sich der Pfad, der Platz für eine kleine Personengruppe bietet, um die rechte Bergflanke herum.

„Anscheinend wollen sie, dass wir da hochsteigen“, sage ich an Pon gewandt.

„Dann lass uns dem Ruf des Berges folgen“, meint dieser fröhlich.

Bevor wir uns an den Aufstieg machen, möchte ich jedoch zuerst meinen Fuß verbinden. Ich weiß es nicht mehr, aber es besteht die Chance, dass sich zwischen dem, was wir von den Suchern gestohlen haben, etwas Verbandsmaterial befindet. Also lasse ich mich auf einem Stein nieder, während ich meinen Rucksack durchwühle. Das meiste unserer Beute sind Essensvorräte, doch nach einigem Wühlen kann ich zwischen luftdicht verpackten Kräckern, Energiekapseln und Angelhaken eine verpackte Zeltplane finden. Besser als nichts, denke ich mir und entfalte diese. Dank Aramis Messer gelingt es mir, eine passable Ecke aus dem dünnen, beschichteten Stoff herauszuschneiden. Das Einzige Hindernis ist der Weg, aus dem Schuh zu kommen, denn sobald ich meinen Fuß strecke, verspüre ich ungeheure Schmerzen. Zudem fließt immer noch Blut aus dem Schnitt.

Besorgt betrachtet Pon das Schauspiel. Wenigstens der Regen hat jedoch aufgehört, sodass die Plane nicht sofort durchnässt wird. Zwar hängen immer noch dunkelgraue Wolken am Himmel, doch vereinzelte Sonnenstrahlen erhellen mittlerweile die Arena. Fluchend versuche ich derweil, den Schuh vom Fuß zu bekommen, doch dieser ist wie angewachsen. Ohne, dass ich meinen Fuß schmerzhaft verrenke, werde ich diesen wohl nicht mehr loswerden. Geschlagen seufze ich.

„Pon, könntest du bitte…“, frage ich ihn, unglücklich auf meinen Fuß deutend.

Dieser zeigt ein mitleidiges Lächeln und zieht kurzerhand mit einem Ruck den Schuh vom Fuß. Mit zusammengekniffenen Augen und der Hand vor dem Mund schaffe ich es auch tatsächlich, nicht zu schreien.

Da die Socke ebenfalls in arge Mitleidenschaft gezogen wurde, entledige ich mich auch dieser und beschränke mich darauf, meinen Fuß nur mit der Zeltplane zu umwickeln. Doch bevor ich die Wunde bedecken kann, sagt Pon:

„Halt. Lass mich mal sehen.“

Interessiert beugt er sich über meinen Fuß.

„Du hast Glück, die Wunde ist zwar tief, aber sauber“, attestiert er mir.

„Wenn du den Verband stramm genug ziehst, sollte das kein Problem darstellen.“

Aufmunternd lächelt er mich an, doch ich bringe nicht mehr als ein grimmiges Grinsen zustande.

„Woher kennst du dich damit so gut aus?“, frage ich, während er ein wenig Wasser über die Wunde kippt, was mir unweigerlich ein scharfes Zischen entweichen lässt.

„Ach, ein paar Mal war ich nachmittags an der Station für Wundversorgung. Die du so ziemlich ausgespart hast“, merkt er amüsiert an.

Mit wenigen, raschen Bewegungen hat Pon schließlich meinen Fuß mit der Plane notdürftig bandagiert und ich steige zurück in den Schuh, aber nicht, bevor ich mich bedankt habe:

„Danke für den Verband, Kleiner.“

Sein stolzes Grinsen hellt sein Gesicht auf und ich verspüre das Gefühl, dass jetzt alles ein wenig besser werden kann, wo wir einander haben, ich ihn beschützen kann.

„Hier, das gehört dir.“

Mit diesen Worten reiche ich ihm den Speer, doch er schüttelt nur den Kopf.

„Nimm ihn, du bleibst ja jetzt bei mir!“

Gerührt von diesen lieben Worten lächle ich.

„Aber natürlich tue ich das.“

Das ist der Moment, in dem erneut der Klang der Kanone ertönt. Bumm schallt es über die Arena hinaus. Den Atem angehalten warten wir auf weitere Töne, doch dieser Kanonenschlag bleibt der Einzige. Es ist der Erste, bei dem ich nicht vor Angst um Pon fast sterbe, denn dieses Mal steht er äußerst lebendig neben mir. Dieses Mal hoffe ich, dass es Shine gegolten hat. Vielleicht hat der Wald ja doch noch ein Opfer gefordert… Nachdem wir uns von dem Schrecken der Kanone erholt haben, machen wir weiter, als wäre nichts geschehen.  

Ich raffe meine wenigen Sachen wieder zusammen und wir machen uns an den Aufstieg. Schweigend folgen wir dem Pfad, der wie von der Natur gemacht erscheint. Doch natürlich ist all dies das Werk des Kapitols, was ich mir immer wieder in den Kopf rufen muss. Jetzt, wo es so friedlich ist, macht es gleich viel weniger den Eindruck, als sei dies der Schauplatz von Mord und Tod. Dennoch bleibe ich wachsam, halte Ausschau nach Shine oder anderen Tributen, die sich hinter jedem Fels verbergen können um uns in einen Hinterhalt zu locken. Pon erscheint mir da wesentlich sorgloser, wie er ohne Waffe den Berg erklimmt. Er hält nicht einmal großartig Ausschau nach Feinden! Dies bestätigt mich nur darin, dass meine Gründe ihn zu beschützen wollen, gerechtfertigt sind.

Gen Nachmittag erreichen wir ein Plateau an der Westseite des Berges. Mittlerweile hat die Sonne den Kampf gegen die Wolken gewonnen und spendet uns ihr Licht, wenn auch nur spärlich. In der Ferne sind immer noch die Wolken zu sehen, die sich zusammenbrauen. Ganz sicher wird es noch ein fürchterliches Unwetter geben, wie das gestrige. Besser, wir sind dann nicht im Freien. Allerdings sind wir beide ausgelaugt und müde, haben wir doch kaum geschlafen und der Kampf gegen die Bäume hat sein Übriges getan. Also entscheiden wir uns, hier zu rasten, da weit und breit keine Menschenseele zu sehen ist. Meinem Augenmaß zu urteilen nach sind wir bereits in einige Höhe gekommen, wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen um die hundert Meter.

Von hier oben kann man einen Großteil der Arena überblicken. Unter uns sehe ich den Wald, der sich wie ein bedrohlicher Ring um den Berg schiebt. Dort, wo wir heute Morgen waren, kann man eindeutig sehen, wie eng die Bäume sich zusammengeschoben haben. Sogar die Risse von den Erdbeben kann man von hier oben noch als schwarze Linien erkennen, die das Land durchziehen. Ganz oben in den Bergen glitzert zudem der See, den ich bereits am ersten Tag in der Arena entdeckt habe. Allerdings ist er so weit weg, dass wohl kein Tribut ihn je erreichen könnte.

„Also“, sage ich, während ich in meinem Rucksack wühle, „als Mittagessen stehen dir zur Auswahl: Kräcker, Kräcker oder Kräcker!“

Ich zwinkere Pon zu und ziehe einige Packungen des luftdicht verpackten Essens hervor. Das Meiste des Essens sind die trockenen Kekse, die Aramis und ich schon immer gegessen haben. Daneben finde ich noch einige Streifen von Trockenfleisch und sogar eingelegte Gurken, die Pon und ich uns als Besonderheit teilen.

„Besser Kräcker als hungrig sein!“, kommentiert Pon das Ganze und reißt eine der Verpackungen auf.

Für eine Weile ist nichts außer unserem Schmatzen zu hören, bis Pon die Stille durchbricht:

„Ich muss dir ja noch meine Geschichte zu Ende erzählen!“

Neugierig höre ich auf zu Kauen und wende mich ihm zu. Welche Dramen er wohl in der Arena miterleben musste? Gespannt beuge ich mich vor und warte darauf, dass er anfängt, zu erzählen.

„Also, ich wurde am Füllhorn von Victoria gerettet. Sie brachte mich mit einigen anderen Tributen zusammen, mit Jack, Dean und Charlott.“

Mit großen Augen höre ich ihm zu. Sogar die Namen von ihnen kannte er. Mir wird klar, dass das Mädchen, welches Aramis getötet hat, Charlott gewesen sein muss. Ein Mädchen, mit dem Pon augenscheinlich verbündet gewesen war, das er vielleicht sogar gemocht hat. Bei dem Gedanken daran fühle ich mich schlecht, doch bevor meine Gewissensbisse überhand nehmen können, fährt Pon fort:

„Wir gründeten ein Bündnis, wie die Karrieros, da Vic, wie wir sie nannten, es ihnen heimzahlen wollte. Alle zusammen schafften wir es, den Karrieros noch während des Blutbades einige Sachen zu stehlen. Mit diesen bauten wir unser eigenes Lager auf. Allerdings dauerte es nicht lange, und die Karrieros erfuhren von unserem Bündnis. Sie suchten nach uns, fanden uns jedoch nicht sofort. Auf einer meiner täglichen Patrouillen um das Lager herum, lief ich zufällig Shine in die Arme.“

Kaum, dass ich diesen Namen vernehme, läuft mir ein eisiger Schauer über den Rücken.

„Du bist Shine begegnet?“

Meine Stimme schwankt, als ich dies sage. Wie kann er ihr begegnet sein, und noch leben?

„Ja. Ich erklärte, ich hätte sie gesucht, um ihrem Bündnis beizutreten, damit sie mich nicht tötet. Sie durfte nicht wissen, dass ich eigentlich einem anderen Bündnis angehörte. Da wir ja im Training zusammen trainiert hatten, akzeptierte sie das auch und nahm mich mit. So wurde ich zu einem Karriero. Deshalb war ich da, als du und deine Verbündete ankamen um die Karrieros zu überfallen. Eigentlich wollte ich nur spionieren, doch dann habe ich die Chance ergriffen und bin geflohen, bevor sie mich vielleicht doch noch töten konnten.“

Mit diesen Worten endet Pons Erzählung. Obwohl ich erleichtert bin, dass er nicht ernsthaft Mitglied des Karrierobündnisses war, wie ich befürchtet hatte, so macht es mich doch nicht glücklich, zu wissen, dass er eigentlich zu den Suchern gehört, die die Arena auf ihre Weise terrorisierten. Nicht zuletzt bleibt das nagende Gefühl, dass ich Pon nur knapp verpasst hatte. Denn als wir die Sucher ausspähten, war er schon bei den Karrieros. Fast hätten wir einander eher gefunden, dann wäre sicherlich alles anders gekommen. Ich seufze.

„Und jetzt suchst du diejenigen, die übrig geblieben sind?“

Er nickt.

„Ja, es war ein gutes Bündnis und Vic ist sehr lieb!“, verteidigt er seine ehemaligen Verbündeten, „Ich hoffe nur, der Kanonenschlag war nicht ihrer oder Deans“, setzt er mit traurigem Blick hinzu.

Ich bin froh, dass er nicht weiß, dass ich es war, die gemeinsam mit Aramis eine seiner Verbündeten überfallen habe, gerade jetzt als er mit bedauerndem Blick sagt:

„Leider sind Charlott und Jack ja schon tot. Jack starb in einer Steinlawine ganz am Anfang und bei Charlott weiß ich es nicht einmal, weil ich da gerade mit Shine geflüchtet war…“

Es kostet mich zwar viel Kraft, doch ich sage nichts, sondern nicke lediglich teilnahmsvoll. Pon wird noch früh genug erfahren müssen, warum Charlott sterben musste. Spätestens, wenn er gesiegt hat und seine Wiederholung der Spiele anschaut. So jedoch schweige ich zu diesem Thema. Ebenso wie ich keine aufmunternden Worte für ihn finden kann, da es mir beinahe gleichgültig ist, wem dieser Kanonenschlag gegolten hat. Auch, wenn er für Victoria oder Dean bestimmt war.

„Also, ich habe zwar noch viele Fragen, aber wir sollten erst einmal einen Unterschlupf für die Nacht finden“, erkläre ich stattdessen mit Fingerzeig auf die untergehende Sonne.

Gemeinsam beseitigen wir alle Zeichen dessen, dass wir hier gemeinsam gegessen haben und machen uns dann wieder auf den Weg. Pon scheint noch in Gedanken versunken zu sein, zumindest hält er den Kopf gen Boden gerichtet und tritt immer wieder die Steinchen aus dem Weg. Klimpernd hüpfen diese über den Boden und springen schließlich über den Abgrund in die Tiefe. Ein Steinchen jedoch kickt Pon in die andere Richtung. Es kullert auf die massive Bergwand zu unserer Linken zu, doch statt mit einem hellen ‚Ping‘ von dort zurück zu springen, verschwindet es geräuschlos dort. Als letztes hören wir eine dumpfes ‚Klong‘, dann ist alles ruhig, nicht erinnert mehr an das Kieselsteinchen. Verwundert gehe ich zu der Stelle vor, an der das Steinchen spurlos verschwunden ist.

„Annie, sei vorsichtig“, höre ich Pon von hinten wispern, doch ich bedeute ihm lediglich mit einer Handbewegung, hinter mir zu bleiben.

Während ich mich der Bergwand nähere erkenne ich langsam, dass das, was ich für einen dunklen Schatten an der schroffen Wand hielt, eine schmale, niedrige Öffnung ist. Schaut man frontal darauf, so ist sie kaum wahrzunehmen, doch von der Seite kann ich sie ausmachen. Die Öffnung reicht mir gerade einmal bis zur Brust, doch erscheint sie mir gerade breit genug, um hinein zu passen, wenn ich mich bemühe.

„Das ist eine kleine Höhle!“, sage ich aufgeregt.

Pon jedoch scheint nicht sonderlich euphorisch zu sein, sondern kräuselt die Augenbrauen.

„Was, wenn uns da dasselbe passiert wie im Wald?“

Abwägend blicke ich in den dunklen Eingang. Sicherlich, er hat etwas von dem Loch unter den Baumwurzeln heute, aber kann dieser Berg zum Leben erwachen?

„Unwahrscheinlich“, erwidere ich.

„Zweimal dieselbe Falle, das habe ich noch nie gesehen.“

Mit diesen Worten schwinge ich mich in die Höhle, die Beine voran. Einen kurzen Fall später lande ich mit einem gedämpften ‚Plumps‘ auf dem Fußboden der Höhle, was einen elektrisierenden Schmerz durch mein Bein schießen lässt. Ein spitzer Schrei entweicht mir und panisch höre ich Pon rufen:

„Annie? Alles okay?“

Ein kurzer Blick in das Höhleninnere bestätigt mir jedoch, dass hier alles in Ordnung ist. Sie ist gerade groß genug, dass drei Personen hineinpassen würden, es gibt keine weiteren Gänge, die weiter in das Innere des Berges hineinführen, nur diesen kleinen, fast schon kuscheligen Raum.

„Alles gut, hier scheint es mir sicher zu sein!“, rufe ich nach draußen.

Etwas zögerlich folgt mir nun auch Pon, den ich auffange, bevor er sich wehtuen kann. Rumpelnd landen wir durch die Wucht des Aufpralles beide am Boden, was uns ein Lachen entlockt.

„Siehst du, alles gut“, versuche ich ihn aufzumuntern.

„Hier sind wir sicher vor dem Regen.“

Wir lassen uns in der hinteren Ecke der Höhle nieder, das Kinn auf die Knie gelegt. Es ist fast so, wie damals, als wir noch im Zug in Richtung Kapitol waren. Jetzt ist alles anders, jetzt sind wir zwei unter den letzten fünf in der Arena der siebzigsten Hungerspiele. Drei noch stehen dem Ziel im Weg. Mit geschlossenen Augen, den Kopf gegen die kühle Felsenwand gelehnt frage ich:

„Wer ist Victoria eigentlich?“

Einen Moment lang herrscht Schweigen, als wenn Pon überlegen müsste, wo er anfangen soll, dann erzählt er:

„Sie ist gut. Hat mich gerettet und ein Bündnis aufgestellt, sodass wir alle eine Chance hatten. Zu uns war sie wirklich nett, hat immer gelacht und Späße gemacht. Abends haben wir zusammengesessen und viel Spaß gehabt, am Lagerfeuer. Sie gehört nicht zu denen, die töten, weil es ihnen so viel Freude macht. Aber sie hat gesagt, nur wir hätten es verdient, diese Spiele zu gewinnen…“

„Hm“, brumme ich.

So wie Pon sie beschreibt, hätte ich sie mir nicht vorgestellt. Nur einmal habe ich sie gesehen, als ich mich ganz zu Anfang der Spiele hinter einem Baumstamm verstecken musste. Da kam sie mir herrisch vor und ganz und gar nicht lustig oder nett. Wenigstens weiß ich jetzt ihren Namen – Victoria und nicht mehr nur Mädchen aus sieben.

„Meistens hat sie mich zwar nur das Lager bewachen lassen, aber sie hat trotzdem immer gesagt, dass ich stark bin“, murmelt Pon.

„Ich bin doch stark, oder?“

Verwundert blicke ich auf ihn herab, wie er sich so an meine Schulter lehnt, doch ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.

„Natürlich.“

„Kannst du trotzdem dein Lied für mich singen?“

Wir blicken einander an. Zaghaft gähnt Pon und ich nicke.

„Ja“, flüstere ich, „so wie damals.“

Tief unten,

Im Meer,

Im bunten Riff,

Wer lebt dort wohl?

Es ist die kleine Meerjungfrau

In ihrem Muschelsplitterhäuschen

Sieh,

Wie sie mit den Wellen schwimmt

Mit den Wellen schwimmt

Hör,

wie lieblich sie singt

Sie singt

Ein kleines Wunder sie ist

Sieh,

Wie ihr Haar schimmert

Ihr Haar schimmert

Hör,

Wie klar ihre Stimme ist

Ihre Stimme ist

Ein kleines Wunder sie ist

Tief unten,

Im Meer,

Im bunten Riff,

Dort lebt die kleine Meerjungfrau

Sie schwimmt mit den Wellen

Mit den Wellen

Ewig.

Als ich aufhöre zu singen, ist Pon eingeschlafen und kann nicht mehr Slays Gesicht sehen, was am heutigen Abend den Himmel bedeckt. Das Bündnis der Karrieros ist zerbrochen.

Counter: 8 Tage, 22 Stunden, 27 Minuten// Tote:19// Lebende: 5
 

~


 

Schiffe aus Glas


 

Schiffe aus Glas - Einundreißigstes Kapitel

 

*

 

Pass immer auf das Wasser auf. Sei wachsam. Ein Schiff ist nur so gut wie sein Steuermann. Halte Ausschau Annie. Sonst wird der Rumpf zerbersten und dein Schiff vom Wasser verschlungen…

Das Wasser ist grün und blau, und voller Wunder an jenem Tag, an dem mein Vater mich das erste Mal auf seinem Schiff mitnahm. Vereinzelte Wolken trieben über den Himmel. Es fühlte sich an, als wäre ich frei. Da waren nur ich und das Meer. Es flüsterte mir seine Geheimnisse ins Ohr, denn das Meer war mein Freund.

Als ich aufwache, ist es wie damals, als ich noch zuhause war. Der Regen prasselt unaufhörlich auf den Stein, doch wir sind geschützt, in unserer Höhle, ich und Pon, der in meine Armbeuge gekuschelt schläft. Wie damals, wenn der Regen gegen das leicht geöffnete Fenster trommelte und mein Bruder in meinem Arm schlief. Nur, dass dies die Arena ist. Alles, was man durch die kleine Öffnung im Gestein sieht, ist ein graues Stück Himmel über den weiße Nebelschwaden ziehen.

Ich sitze einfach nur da, lausche dem fallenden Regen und überdenke die letzten drei Wochen meines Lebens. So lange ist es schon her, dass ich vom sonnigen Rathausplatz fort in diese kalte Arena gebracht wurde. Doch wenn ich die Augen schließe, so kann ich fast wieder das Flüstern des Meeres hören, leise aber beständig in meiner Erinnerung. Für immer ist dieser Gedanke an das wogende grün-blaue Meer in mir konserviert, so lange ich lebe. Ein schöner Gedanke für einen schrecklichen Ort.

Alles wird gut werden.

Das ist es, was dieser Moment mir vermittelt. Ja, bestimmt wird es das. Gestern Nacht, da ist Slay gestorben. Was bedeutet, dass wir nun nur noch fünf sind – was drei Gegner macht. Wenn ich Pon dazu überreden kann, nicht nach Victoria zu suchen, dann können wir uns hier verbergen, bis niemand mehr über bleibt. Außer uns. Auch wenn es danach nie wieder ein wir geben kann. Was ich dann tun werde, darüber habe ich nicht nachgedacht. Meine oberste Priorität ist es zuerst einmal, Pon zum Bleiben zu überreden. Noch schläft der Kleine jedoch selig. Tatsächlich wundert es mich etwas, dass er immer noch einen so ruhigen Schlaf hat, obwohl er doch sicherlich auch furchtbares gesehen hat, schließlich war er ein Teil der Karrieros – zumindest eine Zeit lang. Fröstelnd ziehe ich den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Hals hinauf. Es fühlt sich an, als sei die Kälte über Nacht bis in meine Knochen gedrungen.

Unruhig versuche ich, mich etwas zu bewegen, ohne gleichzeitig Pon aufzuwecken. Doch sobald ich mein Bein ausstrecke, kann ich mit den Füßen den hinteren Teil der Höhle berühren, so klein ist sie. Aufrecht stehen ist für mich ebenfalls kaum möglich, wie ich mit einem Blick in Richtung Decke ernüchtert feststelle. Schon unter normalen Umständen wäre diese Höhle nicht mein bevorzugtes Versteck gewesen, doch angesichts der gestrigen Erlebnisse fühle ich mich umso mehr gefangen in einem steinernen Gefängnis. Aber für Pon, glaube ich, werde ich es hier aushalten.

Mit einem Seitenblick vergewissere ich mich, dass Pon noch immer schläft, doch er blinzelt mich überraschend aus himmelblauen Augen an. Langsam blickt er an mir hinauf, als würde er sich erst jetzt an unsere Wiedervereinigung erinnern. Im selben Moment lächeln wir einander an.

„Noch drei“, flüstert er, als sei nichts weiter dabei.

Ich nicke.

„Aber hier sind wir sicher.“

Mit einem Rascheln setze ich mich auf und ziehe meinen Rucksack heran. Nach einigem Kramen finde ich zwei Packungen der widerlich trockenen Kräcker, denen ich doch so oft mein Leben verdanke und werfe Pon eine Packung zu. Doch anstatt seine Portion Essen anzunehmen, blickt er mich noch immer stumm an.

„Annie… ich möchte Vic finden. Sie ist eine Freundin.“

Seufzend ziehe ich den Reißverschluss zu. Meine Hände klammern sich um das Material des Rucksackes, während ich erwidere:

„Pon, ein letztes Mal: Drei. Noch drei sind außer uns hier. Glaubst du wirklich, dass das Freunde sind?“

Keine Antwort.

„Wir können nichts mehr für sie tun. Versteht doch…“

Immer noch keine Antwort. Stattdessen eine Hand auf meiner Schulter.

„Ich werde sie suchen gehen. Ob du mitkommst oder nicht, ich verdanke ihr eine Menge. Ich will ihr helfen.“

Flehentlich blickt er mich an und sieht wieder aus wie ein Zwölfjähriger, der seinen Wunsch nicht bekommt. Doch ich werde sicherlich nicht nachgeben, also schüttle ich den Kopf.

„Wir können es uns nicht leisten, unseren Schutz aufzugeben.“

Für einen Moment blicken wir einander starr in die Augen, dann lässt er sich fallen und reißt leise seine Packung Kräcker auf. Erleichtert entweicht mir ein Seufzen. So bleiben wir beieinandersitzen, bis der Nachmittag und damit noch schwerere Regenfälle einsetzen. Zuerst hört man es am ohrenbetäubenden Geprassel des Wassers auf dem Gestein, dann laufen die ersten feuchten Tropfen an der Höhlenwand herab und befeuchten unsere Füße.

Eng zusammengerollt drücken wir uns in den hinteren Höhlenteil und schirmen uns von dem fürchterlichen Wetter dort draußen ab.

„Meine Füße sind nass“, merkt Pon an.

Mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck hebt er seine Füße und zieht sie noch ein Stück näher an seinen Körper heran. Ein Blick auf den Boden der Höhle zeigt mir schließlich auch wieso: Die Feuchtigkeit von den Wänden hat sich am Boden gesammelt und mittlerweile eine kleine Lache in der Mitte des Raumes gebildet. Leise fluchend ziehe ich meine Füße ebenfalls näher heran und fange an, nach einer Lösung zu suchen. Hätten wir noch die große Plane, die Aramis und ich einst erbeutet hatten… doch leider ist diese beim Angriff des Berglöwen zurückgeblieben. Einen Moment spiele ich mit dem tollkühnen Gedanken meine Jacke auszuziehen und vor den Eingang zu hängen, doch angesichts der feuchten Kälte in der Höhle erscheint mir auch diese Idee nicht sonderlich verlockend. Vielleicht bin ich auch einfach nur egoistisch geworden und möchte in der aufkommenden Kälte nicht frieren.

Doch der unerbittliche Sturm hört nicht auf. Im Gegenteil, er wird stärker und mächtige Windböen lassen es kalt durch die Gesteinslücke regnen, durch die wir in die Höhle gelangten. Das Wasser sammelt sich zu unseren Füßen in einer Pfütze.

„Annie…“, flüstert Pon bibbernd.

Ohne groß von Hilfe zu sein drücke ich ihn fester gegen mich. Aber Pon verstummt nicht. Mit zitternder Stimme redet er weiter und spricht damit nur aus, was ich mir eigentlich denken kann:

„Es ist nicht sicher… hier.“

Der Pegel wird steigen. Hört es nicht auf zu regnen wird diese Höhle irgendwann überflutet sein. Wir frieren. Die Feuchtigkeit dringt bis ins Mark vor. Meine eigenen Arme zittern und ich kann es nicht kontrollieren, so kalt ist mir geworden. Unsere einst wasserdichten Jacken halten den Regen nicht länger ab. Zu dem tagealten Schweiß unter der Kunststoffjacke mischt sich Regenwasser.

Die Augenlieder geschlossen versuche ich klar zu denken. Doch alles woran ich denken kann ist an das Ende. Denn es wird kommen. Entweder werden wir in dieser Höhle erfrieren oder ertrinken oder aber die Karrieros werden uns finden. Zwei Möglichkeiten um zu wählen und keine will ich wirklich wählen. Am liebsten will ich mich verstecken und Pon daran hindern Victoria zu suchen.

Meinen Kopf an die Steinwand gelehnt drücke ich die Augen fest zu und versuche an etwas anderes zu denken. Doch es geht nicht denn meine Gedanken verharren dabei. Das Ende. Es kommt, schneller als ich es mir jemals erträumt hätte. Das Ende von den Hungerspielen. Mein Ende.

Ich war naiv gewesen. Mit dem Gedanken mein Leben für ein anderes geben zu können in die Spiele zu gehen… am Ende hängt doch ein jeder an seinem eigenen Leben, egal wie gut der Grund ist für den man es geben will. Vermutlich ist das der Grund warum so viele ihre Verbündeten im letzten Moment doch noch verraten: Weil sie plötzlich erkannt haben wie viel Wert ihnen ihr eigenes Leben ist. Doch so wird diese Geschichte nicht enden, das habe ich mir geschworen. Diese Geschichte wird ein besseres Ende haben.

Eines jedoch erkenne ich ebenfalls, nämlich, dass wir dieses Ende nicht erreichen wenn wir in dieser Höhle bleiben. Das Kapitol scheint uns vertreiben zu wollen, vermutlich weil sie ihr Finale wollen. Mit allem Mut der mir noch verbleibt blicke ich Pon an.

„Du hast Recht. Wir sollten uns auf den Weg machen.“

Es besteht ja schließlich immer noch die Chance, dass ich Victoria lediglich unrecht tue. Kann es nicht gut sein, dass sie genauso wie ich Pon nur beschützen will? Die nagende Stimme in meinem Hinterkopf sät jedoch weiterhin ihre Zweifel. Ich beschließe ihr kein Gehör zu schenken.

Wir können jedenfalls nicht auf diesem unwirtlichen Berg bleiben. Weiter oben befinden sich nichts als Steine und am Ende des Berges würden wir unweigerlich in der Falle sitzen, ein leichtes Opfer für jeden der sich soweit vorschlagen kann. Außerdem drohen die losen Steine auf der Flanke des Berges die mittlerweile vom Wasser unterspült wurden vom Hang loszubrechen um in einer tödlichen Lawine in das Tal niederzugehen. Würden wir jetzt noch weiter aufsteigen, so würde die Gefahr immer größer in genau diese Lawine zu geraten.

Mit den wenigen Habseligkeiten die uns noch verbleiben brechen wir also auf. Endlos erscheint die Wand aus Regen welche sich vor uns erstreckt. Wenn ich mir jemals das Ende der Welt vorgestellt hätte – ich bin sicher es hätte ähnlich ausgesehen. Soweit das Auge reicht ist nichts als eine graue Regenwand zu sehen. Die Kapuzen auf unseren Köpfen hindern uns auch kaum mehr daran nass zu werden, im Gegenteil, sie behindern eher noch die ohnehin dürftige Sicht. Nicht lange, und ich ziehe sie entnervt vom Kopf, sodass das Wasser mir ungehindert über das Gesicht und in den Nacken fließen kann. Ohnehin kann ich kaum noch unterscheiden welcher meiner Körperteile noch trocken ist und welcher nicht – aber ich bezweifle ohnehin, dass irgendetwas noch nicht nass ist.

Der steinige Weg ist rutschig denn der anhaltende Niederschlag hat den Boden aufquellen lassen und die Bergflanke in eine einzige Rutschpartie verwandelt. Schlamm und glatte Steine gleichermaßen bilden verhängnisvolle Fallen. Mir kommt es vor als wären wir bereits Stunden unterwegs, als wir gerade einmal zurück am Boden sind. Zumindest da, wo der Boden hätte sein sollen. Doch statt einer schlammigen Wüste erwartet uns eine endlose See aus tiefschwarzem Wasser. Innerhalb weniger Sekunden erkenne ich wieso. Dank der kesselförmigen Struktur hat sich das Wasser angefangen in der Arena zu sammeln. Von den Berghängen rundherum laufen lediglich noch mehr Wassermassen hinab ins Tal. Noch ist das Wasser jedoch nicht besonders hoch gestiegen, vielleicht einen Fuß hoch.

„Ich glaube es hat wenig Sinn, dort hinaus zu waten.“

Mein Blick schweift über den Horizont, eine Linie dunklen Graus hinter den endlosen Vorhängen aus Regen.

„Alle, die noch übrig sind werden früher oder später ihren Weg hierher finden.“

Doch Pon stimmt mir nicht wie erwartet zu. Grimmig starrt er in die Ferne.

„Umso besser, wenn wir von hier fliehen.“

„Aber wohin?“, frage ich und deute auf die graue Arena, Wasser am Himmel wie am Boden.  

Pon setzt einen Fuß in die gurgelnden Wassermassen.

„Das ist doch Wahnsinn!“, rufe ich hitzig. Warum muss er es mir so schwer machen?

Unbewegt blickt er mich an, seine blauen Augen bohren sich in die meinen.

„Shine und Dean werden genau hierher kommen wenn sie schlau sind. Aber wir können schwimmen und wir können einfach darauf warten, dass sie einander den Garaus machen.“

Schweigen. Ich balle die Fäuste. Er hat Recht. Wenn Shine und Dean, die mit großer Sicherheit nicht so gut schwimmen können wie wir ihren Weg hierher finden werden wir einander begegnen. Und sie werden sicherlich versuchen sich vor den Wassermassen zu retten.

„Und was ist mit Victoria die du so unbedingt retten wolltest?“

„… Vielleicht hattest du Recht“, Pon schlägt die Augen nieder als er weiter spricht, „es ist wohl nicht so wichtig, ob ich sie finde. Ich weiß nicht einmal ob sie schwimmen kann. Aber wir zwei… Zusammen überleben wir!“

Ein flehentlicher, unsicherer Ton hat sich in seine Stimme geschlichen.

Für den Moment ist es wohl das Beste, wenn ich mich geschlagen gebe. Es will sich mir nicht erschließen wieso er so erpicht darauf war Victoria zu finden, doch wenigstens sieht er ein, dass die Chance sie in diesem Chaos zu finden verschwindend gering ist. Seufzend mache ich also einen Schritt nach vorne, nur um bis knapp unter das Knie in Wasser und Matsch zu versinken. Versöhnlich lächelnd reiche ich Pon meine Hand.

„Wir zwei schaffen das“, quetsche ich irgendwie noch aus mir heraus. All mein letztes bisschen Optimismus und Mut sollten eigentlich längst aufgebraucht sein, doch wann immer ich sein kleines mit Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht sehe finde ich überraschend doch noch etwas davon um weiter zu machen.

Als er mein Lächeln erwidert sehe ich wieder den kleinen zwölfjährigen Jungen mit den großen Augen von der Ernte vor mir. Trotz aller Dinge die er erlebt hat so ist er doch immer noch ein Kind. Fest drücke ich seine Hand. Gemeinsam kämpfen wir uns durch die Wassermassen, ohne bestimmtes Ziel. Wenn wir Glück haben erreichen wir einen der Berge am Rand der Arena bevor das Wasser zu hoch gestiegen ist.

Zurück durch den Ring aus Bäumen der den zentralen Berg umgibt ringen wir uns, deren kahle Äste nach uns lagen, doch diesmal aktivieren wir keinerlei Fallen. Der Regen jedoch gibt nicht nach, stattdessen gesellt sich noch ein unheilvolles Grollen in der Ferne dazu. Vermutlich steht uns ein Gewitter kurz bevor. Als wenn das bisherige Wetter nicht bereits reichen würde.

Zudem gesellen sich die stechenden Schmerzen, die durch meinen Fuß fahren. Schließlich ist er noch immer bandagiert – es ist gerade einmal einen Tag her, dass ich mir die Wunde zugezogen habe. Statt zu wimmern beiße ich die Zähne nur noch fester aufeinander. In den letzten Zügen dieser Spiele werden sie mich nicht kleinkriegen, das schwöre ich mir.

Schmatzend saugt sich der aufgewühlte Untergrund der Arena, der einst so staubig trocken war, nun an unseren Stiefeln fest und macht jeden Schritt zu einer gewaltigen Kraftanstrengung. Pon, der über das Knie im Wasser versinkt hat deutlich größere Anstrengungen als ich. Immer wieder klammert er sich keuchend an mir fest um für einen Moment zu verschnaufen. Fahrig streiche ich ihm über die klitschnassen Haare die ihm wie festgeklebt am Kopf kleben. Will ich damit ihn oder mich beruhigen? Ich weiß es nicht mehr. Die letzten Reste der trockenen Kräcker rebellieren in meinem Magen.

Jederzeit könnte einer der verbliebenen Tribute auftauchen. Der Gedanke, dass es dumm sich vom Berg zu entfernen taucht immer wieder in mir auf. Wir hätten bleiben sollen. Wir hätten sie überraschen können, einen Hinterhalt planen. Aber das hier – das ist verrückt! Wir können vielleicht schwimmen, aber dieses Terrain ist etwas ganz anderes. Wer weiß, ob sich nicht plötzlich Shine aus dem Regen schälen wird, ein glänzendes Schwert in der Hand?

Hektisch blicke ich mich um, doch außer dem Tosen von Regen und Wasser ist nichts zu hören. Dafür taucht vor uns etwas ganz anderes auf: Eine Anhöhe. Im Prinzip nicht mehr als ein paar riesiger Steinbrocken die eine Erhebung bilden, vielleicht zwei Meter über dem jetzigen Wasserstand. Es wird nicht für immer halten, das ist mir im ersten Moment klar. Doch für eine kurze Verschnaufpause ist es ideal.

Ich schnappe mir Pon und gemeinsam erklimmen wir das Gestein. Oben befinden wir uns auf einem kleinen Plateau, nur wenige Meter schmal. Den einzigen Schutz vor Wind und Wetter bildet ein einsamer Stein am hinteren Ende. Nach all der Zeit in der Arena lernt man jedoch alles wertzuschätzen.

„Vielleicht sterben die anderen ja bereits bevor sie den Berg überhaupt erreichen“, versuche ich sowohl mir als auch Pon Mut zu machen.

Keine zwei Schritte habe ich auf den schützenden Stein zugemacht, als auf der anderen Seite des Plateaus zwei Hände auftauchen, gefolgt von einem Kopf. Ohne zu denken schiebe ich den verdutzten Pon hinter mich. Doch statt Shines blondgelocktem Schopf hievt sich ein Mädchen mit krausen roten Haaren über die Kante. Langsam ausatmend erkenne ich, dass sie Victoria sein muss. Somit hat Pon trotz allem scheinbar seine Freundin wiedergefunden.

Freudig ruft er ihren Namen, als er hinter meinem Rücken hervorlugt und das Mädchen erkennt, welches ein unterarmlanges Messer zwischen den Zähnen stecken hat. Ihre Augen werden groß, als sie uns beide erkennt. Vorsichtig nimmt sie das Messer wieder in die Hand, ohne den Blick abzuwenden.

„Pon?“, ruft sie fragend, immer noch leicht ungläubig.

Statt zu antworten läuft er auf sie zu, alle Vorsicht außer Acht gelassen. Noch immer schlägt mein Herz schnell, doch ich erlaube es mir, erleichtert auszuatmen. Von allen die wir hätten treffen können haben wir die Letzte gefunden die uns noch freundlich gesonnen ist. Ist so viel Glück wirklich zu fassen?

Ich folge Pon um Victoria zu begrüßen. Für einen Moment stehen wir einfach da, ein wenig unschlüssig, und lächeln alle etwas schüchtern.

„Vic! Ich bin so froh, dich gefunden zu haben!“, sprudelt es aus Pon hervor.

Das feingeschnittene Gesicht des Mädchens verzieht sich zu einem kleinen Lächeln. Auch sie ist über und über von Sommersprossen übersät, wie Pon. Unangenehm schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich dabei war, als Aramis ihre Verbündete getötet hat – Charlott. Ob Victoria das weiß?

„Oh Pon, auch ich bin froh“, erwidert sie mit spürbarer Erleichterung.

Ein Blitz zuckt krachend über uns hinweg. Nur für ein paar Sekunden ist die Szenerie in grelles Licht gehüllt. Victorias sanftes Lächeln erscheint mir fast schon unheimlich, wie sie so dasteht, das Messer in der einen Hand, die andere fest zur Faust geballt. Wieso hat sie die Hand zur Faust geballt? Mein Herz schlägt wieder schneller, Gedanken fangen an zu rasen, mir wird schwindelig. Halt suchend umklammere ich meinen, nein Pons, Speer.

Ich will nach vorne stürzen, meine Arme um Pon schlingen, ihn wegzerren. Ich weiß nicht wieso, aber ich will es. Meine Beine jedoch sind wie angefroren. Ich will schreien, ihn warnen. Meine Kehle ist zugeschnürt. Irgendetwas, ich will irgendetwas tun. Ihn fortstoßen, weg von Victoria, weg! All meine Instinkte schreien, doch ich bewege mich wie in Zeitlupe, als wenn mich etwas mit aller Macht hindern will. Einen Schritt vorwärts stolpere ich, unbeholfen.

Victoria hebt das Messer, blitzschnell, das Licht eines Blitzes bricht sich darin. Die scharfe Klinge gleitet nieder, die Schneide glänzend, das Dunkel zerschneidend gleichsam mit dem Dröhne des Donners.

Krach!

Ein Geräusch wie nass zerreißendes Papier ertönt. Mein Schrei dringt erst aus der Kehle, als es bereits vorbei ist. Dunkelheit umfängt uns. Ich taumle vor, doch es ist zu spät, zu spät. Meine Gedanken schreien es heraus, es ist zu spät!

Er steht da, als wenn er noch etwas sagen will. Dann brechen seine Beine unter ihm weg. Plumps. Ein kopfloser Körper schlägt auf dem Boden auf.

Alle Luft ist aus mir gepresst.

Annie, du musst mit mehr Kraft werfen! Der Speer soll den Gegner durchbohren und nicht nur etwas kitzeln! Kraft, Annie, Kraft! Willst du die Spielemacher beeindrucken oder nicht?

Und ich werfe, ich werfe, ich werfe mit aller Kraft. Ein erstauntes Gurgeln bestätigt: der Speer hat sein Ziel gefunden. Erleuchtet von einem weiteren Blitz sehe ich Victoria über die Kante kippen, die Arme ausgebreitet. Ich höre nie, wie sie im Wasser aufschlägt.

Alle Geräusche sind aus meiner Welt gewichen. Es ist leise, so leise. Kein Regen, keine Wellen. Meine Lippen formen Worte, doch ich höre sie nicht, kann sie nicht vernehmen. Leise, so leise…

PON! Ich will seinen Namen schreien, ich will schreien bis meine Lungen bersten, doch es ist leise, so leise… und keine Worte dringen aus meinem Mund.

Meine Hände finden seinen Körper, so klein, so klein… Ich presse ihn an mich, will seine Worte hören, doch es ist leise, so leise… und ich will schreien, doch kein Wort dringt über meine Lippen. Ich will fragen wie es ihm geht, doch meine Worte bleiben stumm.

Ich kralle mich an seinen Arm, versuche mich irgendwie festzuhalten, doch ich kann nicht, es ist nicht genug, nicht genug.

Er hat keinen Kopf mehr. Er ist weg. Einfach weg… Meine Hände stoßen den kopflosen Körper fort. Das ist nicht Pon! Das war nie Pon!

Mein ganzer Körper ist zu klein, zu eng. Ich will raus, will weg. Fingernägel kratzen über die Unterarme. Hinterlassen blutige Striemen. Raus. Raus aus diesem Körper. Raus aus dieser Welt!

Es fühlt sich an als würde ich jeden Moment explodieren und mit mir die ganze Arena.

Fort.

Irgendwie krieche ich zu dem Stein, werfe mich dagegen. Ich rolle mich auf die Seite, Stirn an die Knie gepresst. Mein Mund ist zu einem weiteren stummen Schrei aufgerissen.

Fort.

Die Fingernägel durchbrechen die Haut. Blut läuft über die Unterarme.

Fort.

Und die Welt zerbricht in tausende und abertausende Scherben.

Rasende Fluten

Counter: 9 Tage, 7 Stunden, 2 Minuten// Tote: 21// Lebende: 3

 

Wer, wie wir alle, gegen Annie Cresta gewettet hat der dürfte seine Entscheidung spätestens jetzt bereuen! Heute werden wir im Interview mit der Frau sprechen die all ihr Geld darauf gesetzt hatte, dass Annie Cresta noch einen Mittribut töten würde und damit jetzt auf einen Schlag sehr viel reicher ist! Begrüßen sie bitte Violet Ephee!

Danke Caesar! Sie glauben ja gar nicht wie erleichtert ich bin – fast sah es ja schon so aus als wenn unsere Annie das nächste Opfer wird, aber ich bin froh, dass ich nie die Hoffnung aufgegeben habe!

Violet, beantworten sie mir nur eine Frage: Was hat sie dazu bewegt auf einen der unscheinbarsten und wohl auch willensschwächsten Tribute diese Runde zu setzen? Ich meine, Claudius und ich haben immer nur gesehen wie viel Angst das Mädchen hat, wir hätten ihr nie zugetraut zu töten! Und so haben ja auch viele andere gedacht, die gewettet haben, dass Annie Cresta für ihren Mittribut Pon sterben würde ohne selber töten zu können.

Ich wette seit Jahren auf die Hungerspiele und wenn ich eine Erkenntnis getroffen habe, dann diese: Früher oder später brechen sie alle! Wenn erst einmal alle Dämme gebrochen sind schafft es noch jeder Tribut seine Waffe zu erheben. Und Annie hatte die besten Voraussetzungen, so zartbesaitet wie sie ist. Ich habe nur auf diesen Moment gewartet – vielen Dank Annie!

Da muss ich Ihnen sogar Recht geben Violet, wenn ich an manch vergangene Hungerspiele zurück denke konnten uns ja schon öfter die Außenseiter überraschen. Glauben Sie also auch an einen Sieg von Annie?

Oh nein, natürlich nicht! Ich bin weiterhin für Shine aus Distrikt eins. Von allen Tributen hat sie einfach das beste Zeug zum Sieger – sie ist durchtrainiert, willensstark und hat nur die Bestnoten erzielt. Diese kleinen Außenseiter sind immer ein amüsanter Zeitvertreib, ebenso wie unser dritter und letzter Überlebender Dean aus Distrikt neun, aber letztendlich taugen sie einfach nicht als Sieger.

Dann wollen wir mal das Beste hoffen für sie Violet, auf das sie noch viel Erfolg haben!

 

Schmerzen, ich habe furchtbare Schmerzen. Alles in mir zieht sich zusammen. Vage nehme ich wahr wie warmes Blut meine Arme hinabläuft. Bin ich schwer verletzt? Ich weiß es nicht. Woher der Schmerz kommt kann ich nicht sagen, er ist überall, durchflutet meinen ganzen Körper. Alles vor meinen Augen ist verschwommen, ich sehe kaum was sich vor mir befindet. Aber das ist egal, denn ich sehe die Bilder in meinem Kopf vor mir, ich sehe wie Victoria ihr Messer zieht, die Klinge leuchtet im Licht eines Blitzes auf und dann ist alles vorbei. Immer wieder sehe ich diesen Moment rasend schnell vor mir ablaufen. Jedes Mal komme ich zu spät, kann nichts mehr tun. Nicht mal mehr ein Schrei ertönt bevor der leblose Körper am Boden aufschlägt. Alles was dann folgt ist… Schwärze.

Mein Körper schüttelt sich, Feuchtigkeit läuft über meine Wangen. Wie aus weiter Ferne höre ich ein gewürgtes Schluchzen. Ist das meine Stimme? Ich weiß es nicht, es hört sich an wie die Stimme einer Fremden. Wie die Stimme der Person die den Speer zückte und Victoria tötete, mitten ins Herz. Die Person die niemals ich sein kann. Meine blutigen Hände klammern sich um meine Oberarme, die Fingernägel graben sich tief ein, sodass es weh tut. Ich bin nicht diese Person.

Unter dem nebeligen Schleier sehe ich die unscharfen Umrisse eines kleinen Körpers am anderen Ende des Plateaus liegen. Gleichzeitig erweckt sich in mir der Drang ihn in den Arm zu nehmen, ihn wieder heil zu machen und ihn fortzustoßen, sodass ich ihn nicht mehr ansehen kann. Doch ich bin nicht fähig mich zu bewegen. Ich weiß nicht wie lange ich bereits so dasitze, zusammengekrümmt und völlig durchnässt, aber Zeit spielt keine Rolle mehr. Wie in Trance starre ich auf das, was von Pon am Ende übrig bleibt. Immer weiter verschwimmt mein Blick, während meine Gedanken lauter tosen als der Sturm.

Übelkeit steigt in mir auf. Dennoch bewege ich mich nicht. Das Gefühl vergeht jedoch nicht, sondern wird stärker, bis ich schließlich unter Würgen erbreche. Es ist keine Kraft mehr in meinen Gliedern, ich bleibe einfach daneben liegen und schließe die Augen, die ja doch nichts sehen. Unbarmherzig prasselt der Regen auf mich ein, Blitz und Donner toben. So laut ist der Lärm, dass er fast meine eigenen Gedanken ertränkt. Die unbarmherzige Wiederholung von Pons Tod läuft noch immer vor meinem inneren Auge, erschreckend klar und doch merkwürdig detaillos. Ich schmecke Salz auf den Lippen – ein warmer Stich von Heimweh mischt sich zu dem Chaos der Gefühle. Meine Tränen wiegen mich so in den Schlaf, doch auch in die Träume verfolgt mich Pon.

Erst ein lautes Krachen erweckt mich wieder aus meinem unruhigen Schlaf. Für einen Moment bin ich völlig orientierungslos, denn überall um mich herum ist es rabenschwarz. Erst jetzt spüre ich langsam die Kälte die in meine durchnässten Glieder gezogen ist. Die Erinnerung an die Hungerspiele schleicht sich zurück und im gleichen Atemzug nimmt auch die Furcht mein Herz wieder in Beschlag. In der Ferne zucken noch immer Blitze über den Arenahimmel und tauchen die Umgebung für Sekundenbruchteile in gespenstisches Licht. Lautes Tosen erfüllt meine Ohren, begleitet vom Dröhnen des Donners. Zaghaft richte ich mich auf, lasse den Blick schweifen. In der Dunkelheit ist es zuerst schwer etwas auszumachen. Doch dann trifft es mich - das Wasser! Für einen Moment vertreibt die Erkenntnis sogar Pon aus meinen Gedanken, denn das Wasser ist noch weiter angestiegen. Fast schon bis zum Rand meines Felsenvorsprungs ist es gestiegen. Begierig lecken die Fluten an dem kleinen steinernen Vorsprung. So eine starke Überschwemmung von so wenig Regen erscheint mir mehr als unheimlich.

Schon kracht es erneut in der Ferne, diesmal noch viel lauter als eben. Es hört sich an als würde die Arena auseinander brechen. Erschrocken kauere ich mich zusammen. Aber das Donnern lässt nicht nach, sondern steigt immer weiter an. Aus dem Geräusch kleinerer herabstürzender Brocken wird ein ohrenbetäubendes Poltern. Der Klang muss durch die gesamte Arena hallen. So laut ist der Lärm, dass selbst der Boden vibriert. So muss sich ein Erdbeben anfühlen.

Ängstlich klammere ich mich an dem wenig Schutz bietenden Stein fest. Was passiert? Für eine winzige Sekunde überlege ich, ob die Arena überfallen wird, ob wir Tribute gerettet werden sollen. Doch das würde das Kapitol niemals zulassen. Hektisch lasse ich meinen Blick durch die Arena schweifen. In der nicht mehr allzu fernen Bergkette auf die Pon und ich zuliefen sehe ich es dann, erhellt durch das Licht eines Blitzes: Die obere Felskrone stürzt in sich zusammen. Riesige Felsbrocken brechen herab und krachen in die Wassermassen hinab. Doch das ist noch lange nicht das Schlimmste: Nur von den Berggipfeln zurück gehalten drängt nun das Wasser eines riesigen aufgestauten Sees hinab in die Arena. Es fängt rasend schnell an zu strömen je mehr die Felsen weg brechen. Ich starre auf das unglaubliche Schauspiel in der Ferne. Dann jedoch erreicht mich die Erkenntnis: Die Arena wird überflutet!

Bereits jetzt steigt die schwarze Flut stetig an. Innerhalb kurzer Zeit wird die Flut hier sein und alles mit sich reißen. Kurze Visionen des schmerzhaften Ertrinkens quälen mich. Dazwischen die flüchtige Erinnerung an ein kleines Haus in Strandnähe, den Geruch des Meeres und zwei unglaublich meergrüne Augen. Es ist als hätte die reißende Flut all meine Gedanken fortgerissen, denn jetzt denke ich nur noch an das Überleben. Erinnerungen an den Schwimmunterricht mit meinem Vater steigen in mir auf. Alles dreht sich darum nicht von dem reißenden Wasser zermalmt zu werden. Hektisch streife ich die überflüssige Kleidung ab. Je weniger Gewicht, desto größer ist die Chance nicht zu ertrinken. Rucksack und Waffe beachte ich keines weiteren Blickes. Gegenstände verletzten einen in solch unruhigen Gewässern eher, als dass sie einem von Nutzen sind. Das Wasser leckt mir nun schon an die Füße. Von der kleinen kopflosen Gestalt ist nichts mehr zu erahnen. Ohne einen weiteren Blick zurück springe ich in das unergründliche Schwarz. Jetzt gibt es nur noch den Weg nach vorne.

Kälte umfängt mich von allen Seiten. Luft wird aus meinen Lungen gepresst. Vor mir sehe ich nichts als Luftblasen und Wasserwirbel. Doch mit wenigen geübten Schwimmstößen schaffe ich es zurück an die Wasseroberfläche. Jahrelange Übung lassen mich wie von alleine schwimmen, fast schon mechanisch. Schwimmen lernen ist unsere leichteste Übung in Distrikt vier, umgeben von Wasser. Es ist sogar essentiell zum Überleben, sollte man über Bord eines Fischkutters gehen. Mein Vater hat mich für alle Eventualitäten üben lassen – die Frage ist nur ob mir das unter diesen Umständen von Nutzen sein wird. Ein unheimliches Krachen in der Ferne signalisiert mir, dass der Damm nun endgültig gebrochen ist.

Innerhalb von Sekunden ist das Wasser da. Die ganze Welt wird auf den Kopf gestellt. Wo eben noch der nachtschwarze Himmel war ist nur noch Wasser. Es dringt von allen Seiten auf mich ein, wirbelt mich einer Puppe gleich umher. Mit aller Kraft bemühe ich mich der schieren Kraft zu trotzen, mich in Richtung der Oberfläche zu kämpfen. Die Luft wird immer knapper, ich spüre bereits wie meine Lunge schmerzt. Umherschlagende Gegenstände treffen mich, doch ich spüre keinen Schmerz. Nur der verzweifelte Überlebenskampf bleibt. Immer weiter reißt die Flut mich mit sich, wohin kann ich nicht sagen.

Aber dann, plötzlich und ohne Vorwarnung, durchdringt meine Hand die Wasseroberfläche. Ich spüre einen kalten Luftzug und mit zwei weiteren energischen Schwimmstößen gelangt auch der Kopf an die Wasseroberfläche. Gierig sauge ich die Luft in meine Lungen, während ich versuche nicht wieder in die Tiefe gerissen zu werden. Das Wasser um mich herum ist immer noch aufgewühlt und voller überlebensgroßer Wellen, doch das Gröbste scheint vorbei. Ich lasse mich mit den Wellen treiben, so gut es mir in diesem Chaos erlaubt ist. Am Scheitelpunkt einer besonders großen Welle versuche ich zu erkennen, wie es um die Arena steht. Überall wohin ich blicke sehe ich nur noch wilde Wellen. Lediglich die Spitze des Berges in der Mitte schaut noch aus dem tosenden Nass. Wenn ich es schaffe dorthin zu schwimmen, dann bin ich wenigstens vor allen Gefahren des Wassers in Sicherheit.

Bumm!

Ein weiteres Krachen ertönt in der Ferne. Für einen Moment denke ich, dass ein weiterer Bergkamm einzustürzen droht, doch dann erinnere ich mich, dass das hier die Hungerspiele sind. Die Kanone ertönt um uns den Tod eines weiteren Kontrahenten anzuzeigen. Wir haben das Finale erreicht. Nur noch ich und ein weiterer Tribut sind am Leben. Angst durchströmt mich. Dieser kleine Moment an Unachtsamkeit bestraft mich sogleich, da eine Welle mich wieder unter Wasser drückt. Doch vielleicht ist das fast noch das größere Glück, denn sonst hätte ich die scharfzahnigen, unterarmgroßen Fische kaum bemerkt, die unheilvoll hinter mir kreisen. Durch die dunklen Wassermassen sehe ich nur grob ihre Form, doch die Zähne stehen so deutlich hervor, dass es kein Vertun gibt. Wenn ich wetten müsste, ich würde darauf tippen, dass sie bevorzugt Fleisch essen. So tue ich das Einzige was mir bleibt: Ich schwimme.

Die Strömung des aufgewühlten Wassers arbeitet gegen mich, treibt mich immer wieder zurück. Doch verbissen lege ich das letzte bisschen Kraft in meine Schwimmzüge. Größtenteils bemühe ich mich unter Wasser zu tauchen, um ein Auge auf die Fische zu haben. Unheilvoll schließen sie immer näher auf, kreisen bedrohlich hinter mir. Fast scheint es als würden sie noch überlegen welches die beste Methode wäre mir den Garaus zu machen. Umso energischer schwimme ich in die ungefähre Richtung des zentralen Berges.

Gerade als mich eine weitere heftige Welle erwischt geschieht es: Ich spüre einen dumpfen Stoß in meine Seite. Reflexartig will ich zur Seite schlagen, den angriffslustigen Fisch von mir treten. Doch es ist gar kein Fisch mit dem ich kollidiert bin sondern ein Paar menschlicher Beine. Sich bewegender menschlicher Beine. Erschrocken stoße ich mich rückwärts, fort von dem anderen Tribut. Keine Sekunde zu früh. Nicht weit von mir entfernt taucht ein bleiches Mädchengesicht ab eingerahmt von einer Wolke hellblonder Haare. Die leicht herablassende Miene kann ich so schnell nicht vergessen. Mit einigem Verblüffen starrt mich Shine aus Distrikt eins an. Einen kurzen Moment schweben wir wie erstarrt im Wasser und taxieren einander lediglich. Dann zieht sie umständlich ein Schwert aus der Scheide an ihrer Hüfte. Ein irres Lächeln ziert ihr Gesicht. Panik durchflutet mich bis in die Haarspitzen. Mit wilden unbeherrschten Schlägen versuche ich ihr zu entkommen, doch sie schließt schnell auf. Ihre Bewegungen sind bei weitem nicht so geschmeidig wie bei jemandem der mit dem Wasser aufgewachsen ist, doch es reicht zur effektiven Fortbewegung unter Wasser alle mal aus. Die Furcht muss mir ins Gesicht geschrieben stehen, denn Shine grinst immer selbstbewusster. Sie scheint sich des Sieges fast schon gewiss.

Während ich so angsterfüllt um mein Leben strample erhasche ich erneut einen Blick auf die gefährlichen Fische die nun deutlich aufgeholt haben und denen ich mich nun viel zu sehr genähert habe. Hat Shine die Fische in ihrem Wahn noch nicht bemerkt? Ich weiß nicht was ich vorzugswürdiger finde – von den spitzen Zähnen aufgeschlitzt zu werden, oder von Shine genüsslich getötet zu werden. Irgendwo in meinem Hinterkopf schreit eine leise Stimme, dass ich eigentlich gar nicht sterben will. Dann wäre alles umsonst gewesen! Nie mehr würde ich das beruhigende Lächeln zu den meergrünen Augen sehen, die so viel mehr Leid gesehen hatten als sie zeigen wollten. Jetzt wo Pon nicht mehr zurückkehren würde… der Gedanke an die mögliche Trauer erstickt mich beinahe. Ich muss mich beherrschen und die aufwallenden Tränen zurück drängen. Es gibt nur einen Ausweg. Unbewaffnet kann ich weder gegen Shine noch gegen die Fische etwas ausrichten. Die Augen geschlossen stürze ich mich nach unten, der Tiefe des Wassers entgegen. Weiter unten beschreibe ich pfeilschnell eine Rolle unter Shine hindurch und schwimme, ohne mich umzublicken entschlossen geradeaus. Erst als ich ein paar Meter weit gekommen bin wage ich einen Blick zurück. Shine scheint sich sofort umgewandt zu haben, doch sie ist bei weitem nicht so wendig unter Wasser und war nun ein gutes Stück zurück geblieben. Dafür hatten die abartigen Fischkreaturen nun ein neues Ziel gefunden. Ich sehe bereits wie sie sich anschicken nun Shine zu umkreisen.

Ein merkwürdiges Gefühl wallt in mir auf, eine Mischung zwischen Trauer und Wut. Bilder eines Speers der in einer Brust steckt schießen mir in den Kopf. Leblose Augen in denen noch das Erstaunen geschrieben steht. Das dumpfe Geräusch als ein Körper auf die Wellen klatscht. Aber das war eine andere Person! Nicht ich! Diese Gedanken treiben mich immer weiter an. Doch Shine, nun scheinbar mit neu gewonnener Zuversicht, holt bereits weiter auf, die Fische völlig ignorierend. Ich will nicht auftauchen um nicht langsamer zu werden, doch meine Lungen schreien bereits vor Schmerz. Nur kurz erlaube ich es mir nach Luft zu schnappen und tauche sogleich weiter. Auch Shine scheint bereits zu kämpfen, doch nun ist sie wieder in greifbarer Nähe. Das Gesicht verzerrt greift sie nach mir, doch ihre Hand fasst ins Leere. Erneut schmeißt sie sich nach vorne und diesmal streift ihre Hand meinen Fuß.

Ewig werde ich ihr nicht davon schwimmen können. Ich bin zwar die bessere Schwimmerin, doch Shine ist fest entschlossen mich zu töten. Diese Entschlossenheit scheint ihr zusätzlich Kraft zu verleihen. Doch auch die nackte Überlebensangst sollte man niemals unterschätzen. In letzter Verzweiflung trete ich mit aller Kraft nach ihr. Für eine Sekunde versucht sie nach mir zu greifen, doch dann erwischt mein Fuß sie mitten im Gesicht. Es braucht nicht viele Sekunden der Verwirrung und Schmerzen ihrerseits damit ich aus ihrer Reichweite schwimmen kann. Die frische Blutwolke die nun Shines Gesicht umgibt scheint das Signal für die hungrigen Fische zu sein. Sie schließen endgültig auf und umschwärmen sie. Kurz kann ich noch das Entsetzen auf ihrem Gesicht sehen, dann ist der erste Fisch bei ihr und öffnet sein Maul. Verzweifelt hebt sie den Arm mit dem Schwert, doch unter Wasser sind all ihre Bewegungen zu ungelenk. Ein zweiter und dritter Fisch erreichen sie. In ihren unnatürlichen roten Augen steht die Gier geschrieben als sie sich auf sie stürzen. Shine reißt den Mund zum Schrei auf, doch nur ein paar Luftbläschen entweichen ihr.

Ohne weiter nachzudenken wende ich mich um und schwimme um mein Leben. Kurze Zeit später tauche ich aus den dunklen Fluten auf. Nach Atem ringend versuche ich mich erneut zu orientieren. Die einzig verbleibende Erhebung, der dunkle Berg in der Arenamitte ist nun in noch weitere Ferne gerückt. Ich weiß nicht ob mir genug Kraft verbleibt bis dorthin zu schwimmen um auf das Ende zu warten. Dennoch schwimme ich, den Berg vor Augen, immer weiter. Doch meine Kräfte schwinden schnell. Die Müdigkeit kriecht in die Glieder und lähmt mich allmählich. Ich frage mich ob ich nicht vielleicht längst wieder von gierigen Fischen mit blutigen Mäulern umringt bin. Der Berg kommt und kommt einfach nicht näher. Noch einen Schwimmzug tätige ich. Japsend atme ich durch den Mund ein, doch statt Luft bekomme ich einen Schwall Wasser in den Rachen, der mich fast zum Würgen bringt. Hustend versuche ich weiter zu schwimmen doch meine Arme und Beine gehorchen mir endgültig nicht mehr. Als letzter Ausweg erscheint es mir nur noch mich auf dem Rücken treiben zu lassen. Ob das Ende nun hier oder auf festem Grund kommt. Genaugenommen macht es eh keinen Unterschied mehr. Wenn ich die Augen schließe und alle Geräusche ausblende kann ich mir zumindest vorstellen, dass ich zuhause in Distrikt vier auf dem Wasser treibe. In meiner Vorstellung strahlt die Sonne am Himmel und das warme Wasser wiegt mich sanft und sicher.

Bumm!

Ein lauter Kanonenschlag zerstört meine Vorstellung. Shine ist nun endgültig gefallen. Als wäre dies das Stichwort gewesen verhallt der letzte Donner. Tatsächlich tut sich am Ende der Arena ein schmaler Riss in der Wolkendecke auf. Unglaublich zart dringt ein Sonnenstrahl herein und wirft sein Licht auf die Zerstörung ringsum. Verblüfft treibe ich da auf dem Rücken und beobachte das unnatürliche Schauspiel. Innerhalb kürzester Zeit reißt die komplette Wolkendecke auf und hüllt die Arena in frisches Licht. Goldene Sonnenstrahlen lassen das Wasser in der Sonne glänzen. Plötzlich sieht dieser Ort wie verändert aus. Das Wasser beruhigt sich und scheint vollkommen friedlich zu sein. Nur die dunklen Tiefen wissen noch welche Schrecken hier passiert sind. Ein Windzug streift über mich als sich vom Himmel herab plötzlich ein Hovercraft nähert. Eine Leiter fährt herab, genau neben mich. Als würde ein Fremder mich steuern greife ich nach der Leiter. In dem Moment wo meine Hand sich um das Metall schließt durchläuft ein Schock mich und verhindert jegliche Bewegung. Langsam steigt das Hovercraft auf und zieht mich und die Leiter hinauf in die goldene Sonne.

Gewinner und Verlierer

Counter: 10 Tage, 12 Stunden, 16 Minuten// Tote: 23// Lebende: 1 – Endstand

 

Lichter blitzen vor meinen Augen auf, Stimmen werden lauter und verschwinden wieder in der Ferne. Ich werde durchgeschüttelt. Etwas Kühles berührt meine Arme. Noch mehr Stimmen undeutlich in der Ferne. Verwirrende Gerüche wechseln sich ab. Schmerzen kommen und gehen. Und immer wieder aufgeregte Stimmen. Es hört sich an als würden sie Fragen stellen. Aber ich kann nicht verstehen. Dunkelheit und Helligkeit kommen und gehen. Zwischendurch immer wieder nur Schwärze und keine Empfindungen mehr. Es fühlt sich an als würde ich körperlos schweben. Wo bin ich? Was passiert? Meine Gedanken entgleiten mir wieder. Ich kann sie einfach nicht festhalten. Erleichtert lasse ich mich fallen. ‚Später, später…‘ flüstert eine Stimme von irgendwo zu mir. ‚Ruh dich aus…‘

Es ist vorbei. Ein Gedanke der mich eigentlich erfreuen sollte. Es war vorbei, aber nicht so wie ich mir das wünschte. An den Flug im Hovercraft erinnere ich mich kaum. Nur an weiß gekleidete Gestalten die mir eine Spritze in den Arm jagen kann ich mich noch entsinnen. Längst habe ich gelernt was sich in den Spritzen befindet: der heiß ersehnte traumlose Schlaf. Immer wieder besuchen mich die Ärzte an meinem Krankenbett, nur um mir wieder eine Spritze zu verabreichen. Wie viel Zeit seit dem Ende der Spiele vergangen ist kann ich nicht sagen. Es könnten Wochen sein, aber auch nur ein paar Stunden. Mein ganzer Körper fühlt sich schlaff an und kein Glied gehorcht mehr meinem Befehl, nicht einmal wirklich mit dem Finger zucken kann ich. Doch das ist egal, so lange auch mein Kopf sich anfühlt wie in Watte gepackt. Zumeist starre ich an die klinisch weiße Decke und präge mir das Muster der Deckenplatten ein. Es ist schwer überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Mit Mühe kann ich mich überhaupt erst an die Hungerspiele erinnern. Doch die Gedanken an eine Arena und Wasser, so viel Wasser, sind getrübt. Wenn ich nur daran denke fängt mein Kopf an zu schmerzen bis ich anfange zu schreien. Ich begreife, dass es schrecklich ist ohne zu wissen wieso.

Vor meinen Augen ziehen immer wieder Gesichter vorbei. Erinnerungen an eine vergangene Zeit. 24 von uns auf Kutschen in überbunten Kostümen. 24 von uns in der besten Abendgarderobe wartend auf ein Interview. 24  von uns in einer Trainingshalle voll Furcht und Wut. 24 von uns auf einer grünen Wiese, wartend auf das Startsignal. Aber jetzt nur noch eine. Stechende Schmerzen schießen in meine Stirn. So gerne will ich die Hände vors Gesicht schlagen, doch mein Körper gehorcht mir wieder nicht. Als wenn ich in meinem eigenen Kopf gefangen bin. Ich versuche mich gegen die unsichtbaren Fesseln zu werfen, doch nichts passiert. Als die dunklen Bilder voller Blut durch meinen Kopf zu geistern beginnen schreie ich. Der einzige Ausweg der mir noch bleibt.

Wie vorherzusehen ist öffnet sich sofort eine Tür am anderen Ende des Raumes. Schwere Schritte nähern sich. Es sticht in meinen Oberarm. Fast zeitgleich überschwemmt mich eine Welle der Lethargie. Ein warmes, weiches Gefühl breitet sich durch mich aus und umhüllt die bösen Erinnerungen. Mein Blick trübt sich. Vor meinen Augen verschwimmt die weiße Zimmerdecke. Schlaf überkommt mich erneut.

Als ich wieder erwache ist das wattige Gefühl in meinem Kopf verschwunden. Zum ersten Mal kann ich mich auf die Stimmen konzentrieren die mich geweckt haben.

„Es sind jetzt schon zwei Wochen. Das ist einfach zu viel!“

„Ich würde sie doch sehr bitten sich da nicht einzumischen! Ihr Zustand ist mehr als schlecht, so ist sie in absolut keinem vorführungswürdigen Zustand. Was sollen denn die Leute denken?“

„Aber darum geht es doch gar nicht! Es geht darum, dass ihr ein junges Mädchen bald drogenabhängig macht und nicht viel von ihr bleibt als eine leere Hülle. Auch wenn es hart ist, aber manchmal muss man die Wirklichkeit einfach ertragen, damit die Zeit die Wunden heilen kann. Ihre Drogen sind kein Allheilmittel!“

Einen Moment herrscht Schweigen. Ich bemühe mich keinen Laut von mir zu geben um die Sprechenden nicht auf mich aufmerksam zu machen. Die Augen halte ich fest geschlossen.

„… wir müssen tun was immer das Beste für die Repräsentation der Sieger vor dem Kapitol und Distrikten ist. Dieser Verantwortung müssten vor allem sie sich doch ebenfalls bewusst sein.“

Aus der Antwort wird klar, dass der Sprechende keine weiteren Widerworte duldet. Fast schon klingt die Aussage wie eine Drohung. Es kommt kein Widerspruch.

„Sie können ja selber schauen was sie bei ihr bewirken können. Ich für meinen Teil glaube, dass sie längst verloren ist…“, mit diesen Worten verlässt der Sprecher den Raum.

Zurück bleibt nur das Summen und Piepen diverser medizinischer Geräte. Zum ersten Mal wird mir richtig bewusst wo ich mich befinde. Es muss eine Art Krankenhaus oder medizinische Station sein für die Überlebenden der Hungerspiele. Jetzt nähern sich sanfte Schritte meinem Bett. Zittrig legt sich eine Hand auf die Meine. Es muss der erste Moment seit Wochen sein, dass ich wieder richtig etwas spüre. Gleichzeitig mit diesem Gefühl kriecht die Angst in mir hoch, dass sogleich wieder blutverschmierte Gedanken hochkommen werden. Das Herz verkrampft sich bereits in Erwartung der nächsten Panik. In meiner Angst greife ich nach der Hand und packe sie fest.

„Annie?“ werde ich behutsam gefragt.

Flackernd öffne ich die Augenlieder. Neben mir am Bett steht Mags, das runzelige Gesicht zu einer besorgten Miene verzogen. Wie unglaublich erleichternd es sich anfühlt ein bekanntes Gesicht zu sehen! Zaghaft lächelt sie mich an.

„Endlich bist du einmal bei Bewusstsein, meine Liebe.“

Ich versuche zu sprechen, will ihr sagen wie dankbar ich bin, dass sie da ist, doch aus meiner Kehle kommt nichts als ein heiseres Kratzen. Doch Mags schaut nur verständnisvoll und streicht mit ihrer freien Hand über meinen Oberarm.

„Du musst nichts sagen. Ich war auch einst dort wo du jetzt bist. Ich kann mir vorstellen wie du dich fühlst, zumindest ein wenig.“

Matt nicke ich. Erst jetzt nehme ich den Raum das erste Mal richtig war, abgesehen von der Zimmerdecke. Außer meinem Bett befinden sich einige Monitore und Gerätschaften in dem Raum die konstant brummen. Über einen Schlauch läuft eine klare Flüssigkeit langsam in einen Zugang an meinem Handrücken. An der Längsseite ist ein großer Spiegel in die Wand eingelassen. Ansonsten ist das Zimmer jedoch völlig kahl und komplett in Weiß gehalten. Mags in ihrem bunten Sommerkleid ist der einzige Flecken Farbe in dieser klinischen Ödnis.

„Hast du noch Schmerzen?“, fragt sie.

Es fällt mir schon leichter den Kopf zu schütteln. Körperlich fühle ich tatsächlich nichts Unangenehmes. Zwar fühlt sich alles noch immer so leicht an, doch ich fühle mich… heil.

„Das beruhigt mich. Du hattest einige Verletzungen, aber das bekommen die hier im Nu wieder zusammengeflickt. Jetzt nach zwei Wochen sind nicht einmal mehr Narben zurückgeblieben.“

Traurig lächelt sie mich an.

Keine zurückbleibenden Schäden? Fast hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass ich überhaupt lebend aus der Arena herauskommen würde. Und jetzt hatte das Kapitol all meine schweren Wunden mit einem Fingerschnipsen wieder geheilt, so als wäre nie etwas gewesen. Ich weiß nicht, wie ich mich angesichts dieser Tatsache fühlen soll. Also starre ich einfach nur in Mags runzeliges aber liebenswürdiges Gesicht.

Mitfühlend legt Mags ihre andere Hand auch auf meine und drückt sie sanft.

„Du bist so stark Annie, ich weiß du kannst das schaffen“, sagt sie ganz, ganz leise.

Mit einem leichten ziehen zieht sie die Kanüle aus meinem Handrücken.

„Danke“, erwidere ich mit heiserer Stimme.

Mags bleibt noch eine Weile und erzählt von den normalen Dingen des Alltags. Es sind eigentlich belanglose Kleinigkeiten wie die Topfpflanze die sie gepflanzt hat und die nun zum ersten Mal blüht. Doch es gibt mir etwas auf das ich mich konzentrieren kann. Ihre beruhigende Stimme lenkt mich von den anderen Gedanken ab die sonst meine Sinne verdunkeln würden. Ich merke nicht einmal, dass ich eingeschlafen zu sein scheine, doch als ich erwache ist das Licht im Zimmer aus und Mags fort. Die Kanüle steckt nach wie vor nicht mehr in meiner Hand, was wohl erklärt warum ich mich nicht mehr so benebelt fühle.

Leider ist damit auch die Gleichgültigkeit verschwunden. Alle meine Sinne erscheinen viel schärfer als gewohnt. Unzählige Gedanken rasen nun auf einmal durch meinen Kopf. Selbst die Decke die über meine nackten Beine streift fühlt sich nach zu viel an. Hastig schmeiße ich sie vom Bett. Mir ist heiß und ich schwitze. Ich trage nicht mehr als ein papiernes Nachthemd, welches nun an meinem Körper klebt. Durstig und hungrig bin ich ebenfalls. Ehe ich mich versehe habe ich meine nackten Füße auf den kalten Fußboden gesetzt und bin aufgestanden. Schwindelig muss ich mich am Bett abstützten, ehe ich auf eigenen Beinen stehen kann. Die Welt scheint sich noch einen Moment um mich zu drehen, dann kann ich mich langsam sortieren. So schnell es mir mein Zustand erlaubt gehe ich zur einzigen Tür im Raum hinüber. Doch als ich die Klinke hinunterdrücke passiert nichts. Es ist verschlossen. Ich starre auf die Tür, dann schlurfe ich langsam wieder zum Bett zurück. Hilflos rolle ich mich dort so eng wie möglich zusammen. Aus den dunklen Ecken des Zimmers kriechen die dunklen Geister hervor. Die Augen fest verschlossen weine ich mich in den Schlaf.

Am nächsten Tag bin ich zum ersten Mal bei vollem Bewusstsein als der Arzt mein Zimmer betritt. Es handelt sich um einen kahlrasierten Mann undefinierbaren Alters der vor allem durch seine tiefrot tätowierten Lippen auffällt. Er spricht mich nicht an, sondern erledigt ganz routiniert seine täglichen Handgriffe. Erst als er die herausgezogene Kanüle bemerkt stutzt er und sieht mich direkt an.

„Sicher, dass es auch ohne Morfix geht?“, fragt er in einem merkwürdigen Singsang.

Mit zusammengebissenen Zähnen nicke ich. Von dem was ich gestern in seinem und Mags Gespräch belauschen könnte kann ich daraus schließen, dass Morfix nichts Gutes ist. Dem Kapitol will ich auf keinen Fall noch weiter ausgeliefert sein als so schon. Doch der Doktor zuckt nur mit den Schultern und wendet sich wieder der Aufgabe zu irgendwelche Daten von den Monitoren abzulesen. Ohne ein weiteres Wort verschwindet er schließlich. Diesmal dauert es jedoch nicht lange bis ich erneut Besuch bekomme. Eine kleine Frau mit himmelblauem Haar schwebt herein, ein Klemmbrett unter dem Arm.

„Guten Morgen meine Liebe“, flötet sie gutgelaunt.

Ein strahlendweißes Lächeln schlägt mir entgegen. Sie reicht mir ihre Hand. Ihr Händedruck ist kalt und fest.

„Ich bin Tia, deine persönliche emotionale Beraterin“, erklärt sie freudestrahlend während sie sich einen Stuhl aus der Zimmerecke heranzieht.

„Meine was?“, frage ich verwirrt.

Doch sie lacht nur verschwörerisch und erwidert: „Deine emotionale Beraterin, ich will das es dir gut geht und deiner geistigen Genesung ein wenig auf die Sprünge helfen!“

Sie lacht leise und legt sich das Klemmbrett auf den Schoß. Aus der Innentasche ihres knallpinken Blazers zieht sie einen eleganten silbernen Stift und tippt auf das oberste Blatt.

„Also Annie, wie geht es dir?“

Schweigen. Wie soll ich auf diese Frage antworten? Mir schwirrt so viel durch den Kopf! Warum sollte ich überhaupt einer völlig unbekannten Frau Einblicke in meine Gefühlswelt geben? Was will sie mit diesen Informationen anstellen? Weiterhin blickt sie mich abwartend an, aber ihr Blick bohrt sich tief in mich. Ihre grässlichen Kreolen glitzern im künstlichen Licht. Allgemein ist ihre gesamte Erscheinung typisch für das Kapitol: Accessoires im Übermaß. Armbänder und Ringe mit glitzernden Steinen, eine riesige schwere Kette und eine Haarspange die wie eine fette Spinne in ihren blauen Löckchen liegt.

Sie scheint die Geduld zu verlieren, denn sie hakt sogleich weiter nach:

„Wie ist dein Gefühl momentan? Traurig, verwirrt… stolz?“

Ihr bemüht verständnisvolles Gesicht ist der blanke Hohn. Ich soll mich stolz fühlen? Stolz auf den Tod von 23 anderen Menschen? Ich spüre wie Hitze in mir aufsteigt. Gleichzeitig verschwimmt meine Sicht, da Tränen sich in meinen Augen sammeln.

„Ich bin nicht stolz!“, presse ich hervor.

Der Kugelschreiber gleitet beflissen über das Papier.

„Was fühlst du stattdessen angesichts deines großartigen Sieges?“

Es gibt kein großartiges, tolles Gefühl in mir. Ich habe nur gewonnen, weil mir jemand Pon genommen hat! Alles fühlt sich an als würde erneut das Wasser auf mich eindringen und  zermalmen wollen. Hilflos krampfen sich meine Hände um die Bettdecke.

„Aber Annie, irgendetwas musst du doch fühlen! Beschreibe es mir!“, werde ich gedrängt.

Doch in meinem Kopf toben längst die Bilder meines Überlebenskampfes. Nichts versteht sie, nichts! Und sie wird es auch niemals verstehen können! Ich schlage die Hände auf die Ohren und krümme mich vorne über. Aber die Dämonen die sie erweckt hat wollen nicht Ruhe geben. Also schreie ich so viel meine Lungen hergeben. Ich will sie vertreiben, vergessen! Erst als ich heiser bin und keine Luft mehr in den Lungen ist verhallt mein Schrei. Keuchend und Tränen überströmt sinke ich zur Seite. Die Frau namens Tia sagt nichts mehr sondern macht sich nur noch eilig einige Notizen, dann verschwindet sie.  

Tag für Tag widerholt sich dieses Spiel von da an. Ich werde von meiner ‚emotionalen Beraterin‘ besucht die mich immer wieder bedrängt etwas zu erzählen. Zunächst versucht sie sich nach meiner allgemeinen Gefühlslage zu erkunden. Als das keinen Erfolg zeigt fängt sie an mich nach konkreteren Dingen zu fragen. Sie erkundigt sich wie es mir in der Arena ging oder warum ich wie gehandelt habe. Doch egal was sie tut, sie schafft es immer die schrecklichsten Erinnerungen in mir hervorzuholen. Jedes der Treffen mit ihr ist so schrecklich auslaugend, dass ich anfange mich schlafend zu stellen um ihr auszuweichen. Doch von da an fängt sie an mich mehrmals am Tag zu besuchen und schließlich werden auch meine normalen Schlafmittel drastisch reduziert. Die nächtlichen Albträume sind ebenso schlimm wie ihre Fragen, also gebe ich auch diese Taktik wieder auf.

Abgesehen von ihr kommt nur Mags mich noch besuchen, die mir erklärt, dass nur eine Person von den Mentoren in den Krankenflügel darf. Sie beteuert, dass alle mich gerne besuchen würden, aber sie hätten sich gemeinschaftlich für Mags entschieden. Ich bin den anderen sehr dankbar, denn Mags ist ein Ruhepol für mich. Von ihr kommen keine Fragen über meinen Gefühlszustand oder die Arena. Sie scheint nicht einmal zu erwarten, dass ich auch etwas sage und so höre ich ihr meist zu. Es sind seichte Themen und ein bisschen Klatsch und Tratsch die Mags anschneidet. Und kommen mir doch einmal wieder die unaufhaltsamen Tränen so reicht sie mir ein Taschentuch und wartet stumm an meiner Seite bis sich der Anfall wieder auflöst.

„Mags“, frage ich sei eines Tages, „wann hat es bei dir aufgehört?“

Sie muss nicht einmal nachfragen was ich meine, sondern weiß es sofort.

„Nie“, antwortet sie ehrlich, „aber man kann lernen es zu akzeptieren. Weißt du, auch ich habe noch immer genügend Albträume.“

Für einen Moment verdunkelt sich ihr Gesicht und sie scheint etwas zu sehen, dass ich nicht einmal erahnen kann.

Doch auch diese Zeit geht vorüber. Eines Tages kommt Tia nicht mehr vorbei. Stattdessen erscheint mein volles Vorbereitungsteam mit einem ganzen Schönheitssalon im Gepäck. Aufgeregt schnatternd schwirren sie um mich herum wie ein hektischer Vogelschwarm ehe ich verstehe worum es überhaupt geht. Heute Abend findet die letzte große Veranstaltung der Hungerspiele im Kapitol statt. Ein großer Rückblick auf die 70. Hungerspiele, live zusammengefasst und kommentiert von Caesar Flickerman zusammen mit der Sieger – mir. Die Karten sind heiß begehrt und das ganze Kapitol ist bereits sehr gespannt auf diesen Abschluss auf den sie immerhin drei Wochen warten mussten. Nicht anders als vor der großen Parade muss ich auch jetzt wieder auf Vordermann gebracht werden. Haare werden entfernt, die Haut mit verschiedenen Wässerchen behandelt und eingecremt. Es tut gut mal wieder in eine schaumige Wanne heißen Wassers einzutauchen. Endlich entspannen meine Glieder sich einmal ein wenig. Die einzelnen Teammitglieder schwatzen größtenteils untereinander über ihre eigenen Pläne für diesen Abend, was sie anziehen wollen und wen sie hoffen dort zu treffen. So bleibe ich innerlich weiterhin ungestört und genieße ein klein wenig die luxuriöse Behandlung.

Meine Haare die ich mir in der Arena eigenmächtig abgeschnitten habe um dem verschlingenden Wald zu entkommen werden ordentlich geschnitten und in Form gebracht. Innerhalb weniger Stunden sehe ich fast wieder aus wie vor den Spielen. Als ich mich im Spiegel betrachte erkenne ich mich dennoch fast nicht wieder. Seit ich die Arena betreten habe, habe ich mich selber nicht mehr wieder gesehen. Nicht alles kann das Kapitol wieder richten: Ich habe einiges an Gewicht verloren und bin fast nur noch Haut und Knochen. Die Augen die mich aus dem Spiegel heraus anblicken wirken seltsam stumpf und ausdruckslos. Mit all der Schminke sieht mein Gesicht eher wie eine Maske aus. Es dauert eine Weile bis ich mich von meinem Spiegelbild losreißen kann, so sehr schockiert mich der Anblick.

Doch als schließlich Roan, der Chefstylist mit einem großen Kleidersack in seinen Händen in meinem Krankenzimmer auftaucht ist es Zeit sich davon zu lösen. Auch in der Zwischenzeit ist er nicht sympathischer geworden. Ohne viel Federlesen weißt er mein Team an mich einzukleiden. Er sieht durchaus stolz aus ein Siegerkleid entworfen haben zu dürfen, doch weniger glücklich darüber, dass ausgerechnet ich es ausfüllen soll. Beim Anblick seines kalten Blickes und seiner künstlichen Kiemen läuft mir ein eisiger Schauer über den Rücken. Ich bin dankbar, dass Kolibri, die bunte kleine Helferin aus meinem Vorbereitungsteam, ihn hinausscheucht damit sie mir in das Kleid helfen kann.

Das Kleid ist tiefgrün und von sehr eleganter Passform. Es ist am Hals hochgeschlossen, hat dafür aber einen schönen Rückenausschnitt und einen fließenden Rock. Eingearbeitete Partikel lassen das Kleid im richtigen Licht leicht schimmern. Die Haare werden locker zusammengesteckt. Insgesamt fühle ich mich in diesem Ensemble recht in Ordnung, auch wenn die hohen Schuhe mir nach wie vor Probleme bereiten. Sobald ich in ihnen stehe bekomme ich Schmerzen in den Gelenken und auch das Gehen ist eher holprig am Anfang, doch ich werde ermutigend von Alexis unterstützt.

„Du siehst wunderhübsch aus“, erklärt mein Team mir freudig, „fehlt nur noch die Krone. Wir haben dir extra eine schlichte Frisur gegeben, damit die Krone nachher auch gut zur Geltung kommt!“

Die Krone, denke ich mit einem Stich. Natürlich bekomme ich für meinen Sieg auch die traditionelle Krone von Präsident Snow aufgesetzt. Was auch bedeutet, dass ich Präsident Snow begegnen muss. Der mich bedroht hat, mir alle die ich je geliebt habe wegnehmen wollte. Für ihn hätte ich Maylin töten sollen um meine Familie zu retten. Doch stattdessen habe ich nur zugesehen wie Maylin getötet wurde, unfähig mich selbst zur Rettung meiner eigenen Familie zu überwinden eine Waffe in die Hand zu nehmen. Haltlos fange ich an zu zittern. Was wird Snow noch alles von mir nehmen? Bis jetzt habe ich nicht mehr an diese Begegnung denken müssen. Doch nun zieht die Angst um meinen Vater mein Herz zusammen. Er ist alles was mir noch geblieben ist! Was könnte Snow den anderen angetan haben, vor allem Finnick? Noch bevor ich es verhindern kann steigen dunkle Zukunftsvisionen in mir auf und ich schmeiße mich, ungeachtet des Kleides, auf den Boden und drücke meinen Kopf gegen den kühlen Boden, die Arme über dem Kopf. Ich weiß nicht wie lange ich schreie und weine, doch diesmal will es einfach nicht versiegen. Erst eine Spritze in meinen Oberarm erlöst mich.

Erneut fühlt sich alles an als wäre es in Watte gepackt. Die Welt ist seltsam verschwommen und alle Stimmen hören sich an als würden sie unter Wasser sprechen. Matt erdulde ich es, dass ich erneut geschminkt und frisiert werde. Wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt wird werde ich schließlich aus meinem Krankenzimmer hinaus durch einen langen Flur und zur Tür hinaus geführt. Dort wartet bereits eines der Hovermobile mit verdunkelten Scheiben. Im Eiltempo kurven wir durch die abendliche Innenstadt, vorbei an hellerleuchteten Wohneinheiten. Dort drinnen warten die Leute bestimmt schon auf die Übertragung der heutigen Feierlichkeiten im staatlichen Fernsehen. Doch trotz aller Mühe kann ich keine rechte Nervosität aufbauen, da was auch immer sie mir gegeben haben, vermutlich eine starke Dosis Morfix, alles blockiert. Teilnahmslos starre ich stattdessen aus dem Fenster in die aufkommende Nacht.

Schließlich halten wir in einer unterirdischen Parkgarage, von wo aus ich durch einen weiteren langen Gang geführt werde und dann mit einem Fahrstuhl in einen geräumigen Garderobenbereich gelange. Außer uns ist niemand hier. Zwei schwere metallene Türen führen zur Bühne. Doch Alexis erklärt mir, dass wir noch einen Moment warten müssen bis es losgeht. Sie sehen alle recht nervös aus, sodass ein Aufatmen durch die Reihen geht, als die Fahrstuhltüren sich ein weiteres Mal öffnen und Mags hereinkommt. Sie trägt ein schlichtes schwarzes Kleid und ist ebenfalls ein wenig zu Recht gemacht worden. Ohne ein Wort zu sagen schließt sie mich innig in die Arme. Beruhigend streichelt sie über meinen Rücken. Bis das Signal kommt, welches meinen Auftritt ankündigt sitzen wir einfach nur stumm da und halten uns an den Händen.

Als schließlich der Gong ertönt stehe ich wie in Trance auf. Es ist so weit. Die Türen öffnen sich und strahlend helles Licht schlägt mir entgegen. Ein Raunen geht durch das Publikum. Ich stehe einfach nur da und starre in die unkenntliche Masse des Publikums.

„Annie Cresta, die Siegerin der 70. Alljährlichen Hungerspiele!“, höre ich eine donnernde Stimme durch die Watte hindurch verkünden.

In einen glitzernden rosa Anzug gehüllt steht Caesar Flickerman da, den Arm in meine Richtung ausgestreckt. Wackelig stakse ich zu ihm herüber und ergreife seine Hand wie eine Ertrinkende. Applaus brandet ringsum auf. Caesar führt mich nach vorne in die Mitte der Bühne wo ein Podest aufgebaut ist. Auf einem Sockel davor liegt, aufgebahrt auf einem roten Kissen, der goldene Reif mit dem ich ganz offiziell zur Siegerin gekürt werden soll.

„Als letzter überlebender Tribut gebührt ihr jetzt die Ehre von Präsident Snow gekrönt zu werden“, kündigt Caesar brüllend an. Das Publikum erhebt sich zu stehenden Ovationen, während Snow durch eine weitere Tür hereingeschritten kommt. Von Caesar bekomme ich einen unsanften Stups in den Rücken und alleine erklimme ich die drei Stufen hinauf auf das Podest. Snow hat ein leichtes Lächeln auf den Lippen und bringt den allgegenwärtigen Geruch nach Rosen mit sich. Trotz des Morfix spüre ich Furcht und auch Hass in mir aufwallen. Meine Hände ballen sich unwillkürlich zu zitternden Fäusten. Der Präsident hält eine kurze Ansprache, doch ich verstehe keines seiner Worte durch das Rauschen in meinen Ohren hindurch. Ich sehe nur wie das Publikum ihm zujubelt. Können sie denn nicht alle das Monster erkennen was vor ihnen steht?

Gerade als ich das Gefühl bekomme, dass meine Beine jeden Moment unter mir wegsacken könnten, spüre ich die Hand Caesars an meinem Unterarm. Doch anstatt einer beruhigenden Geste verspüre ich einen Einstich oberhalb des Handgelenks. Vor Überraschung will ich zusammen zucken, doch da strömt bereits erneut Gleichgültigkeit durch mich. Das Morfix hüllt mich noch stärker ein und selbst wenn ich wollte ich könnte Snow nicht einmal eine böse Grimasse zeigen. Mit seinen langen weißen Fingern hebt er die schmale Krone hoch und steigt ebenfalls hinauf auf das Podest. Unter ohrenbetäubendem Jubel legt er mir die Krone aufs Haupt. So nah wie er vor mir steht nehme ich den schwachen Geruch nach Blut wahr. Ein wölfisches Grinsen auf dem Gesicht flüstert Snow kaum merklich:

„Enttäusche mich in Zukunft nicht noch einmal Annie Cresta. Du bist doch so ein wundervolles Mädchen…“.

Mit diesen Worten wendet er sich ab und lässt sich zu seinem Ehrenplatz geleiten um die weiteren Feierlichkeiten zu genießen. Während Caesar mir erneut den Arm reicht und mich zu einer Couch führt räumen einige Avoxe zügig das Podest fort. Kaum auf dem Sofa sitzend flackern um uns herum riesengroße Leinwände mit dem Siegel von Distrikt vier auf.

„Es wird Zeit die 70. Hungerspiele noch einmal Revue passieren zu lassen“, ruft Flickerman energisch.

Dies scheint das zu sein, worauf die Menge sich am meisten gefreut hat, denn es scheint sie kaum noch auf ihren Plätzen halten zu können. Zunächst werden einige Aufnahmen von der Ernte und der Ankunft im Kapitol gezeigt, alles begleitet von den Kommentaren Caesars. Immer wieder sind auch die anderen Tribute zu sehen, manche voller Hoffnung und Stolz, andere voll Furcht. Es erscheint mir als würde ich Aufnahmen aus dem Leben eines anderen sehen. Das Mädchen im roten Kleid das bei der Ernte ausgesucht wird ist nicht dieselbe Person die jetzt hier sitzt. Ich will irgendetwas spüren, doch da ist nur das Morfix. Betäubt sehe ich zu wie Caesar mit dem Publikum darüber diskutiert warum ich nicht wie die nächste Siegerin wirkte. Ab und an versucht er mir eine Frage zu stellen, doch mehr als ein Kopfschütteln oder zaghaftes Nicken bringe ich nicht zustande. Doch das Schlimmste steht mir erst noch bevor. Denn jetzt kommen wir zu der Berichterstattung aus der Arena. Zum ersten Mal sehe ich meine eigenen Spiele wie es alle Zuschauer gesehen haben. Aus den unterschiedlichsten Winkeln wird der Überlebenskampf gezeigt. Je hässlicher die Verletzung, desto näher sind die Kameras. Noch einmal wird jeder einzelne Tod eines jeden Tributs gezeigt. Ich versuche den Blick abzuwenden, doch überall sind die Leinwände. Die Kameras versuchen jede meiner Regungen einzufangen. Schonungslos jubelt das Publikum immer wieder wenn ein Tribut stirbt oder seufzt traurig. Selbst wenn ich die Augen fest verschließe höre ich noch immer wie Caesar die einzelnen Schicksale beschreibt und das Publikum sogar lacht. Es ist fast noch grausamer als den Fernsehbildern zuzusehen, denn so gesellen sich meine eigenen Bilder dazu. Nichts ist grausamer als die selbsterlebte Realität. Nie war es mir egaler, was das Publikum denken mag, denn ich presse nun auch fest die Hände auf die Ohren, doch trotzdem wird das Spektakel um mich herum nicht angehalten.

Irgendwie schaffe ich es so den größten Teil der Veranstaltung rumzubekommen, bis die Stelle erreicht ist an der nur noch fünf Tribute übrig sind. Eine kleine Stimme in meinem Kopf beginnt zu rufen „Annie… Annie rette mich…“. Tränen ergießen sich als erstes über mein Gesicht. Doch Pon hört nicht auf mich zu traktieren. Das Publikum applaudiert begeistert, als die Kanone zwei Tode hintereinander verlauten lässt. Doch in meinem Kopf schreit die Stimme immer lauter, von Schmerzen gequält. Ich kann nicht mehr, ich gerate außer mir! Laut gellend zerreißt mein Schrei die Atmosphäre. Schlagartig bricht das Jubeln um mich herum ab, doch davon merke ich nichts mehr. Längst bin ich wieder gefangen in meiner eigenen Welt und versuche die Erscheinungen zu vertreiben, mit meinem Schreien ihre Schreie zu übertünchen.

Hände packen mich und zerren an mir, schleifen mich unter Anstrengung von der Bühne. Es ist mir alles egal. Arme hüllen mich ein, packen mich ganz fest. Ich versuche zu schlagen, kratzen treten und beißen, doch sie lassen nicht von mir ab. Unbeirrt hält mich die Person fest und flüstert leise in mein Ohr.

„Ich bin da Annie. Ich bin da.“

Schluchzend sinke ich gegen Finnicks Brust.

Hoffnung

Alles ist vorüber. Vor dem Zugfenster draußen ziehen immer schneller die Gebäude des Kapitols vorbei. Bald legt sich der Zug in eine Kurve und mit einem letzten Ausblick auf das prächtige Panorama verschwindet die Hauptstadt in der Ferne. Jetzt trägt uns der Zug immer schneller in Richtung von Distrikt vier. Den Kopf gegen die kalte Scheibe gelehnt blicke ich hinaus auf die Landschaft. Es kommt mir vor als wäre es erst gestern gewesen, dass ich in diesem Zug Richtung Kapitol gefahren bin – aber gleichzeitig fühlt es sich auch an als würden Jahre dazwischen liegen. Dieses Mal bin ich alleine, wenn man einmal von meinen Mentoren absieht. Doch wo das letzte Mal Gelächter in der Luft lag und ein fröhliches Abendessen stattfand herrscht nun eine gedrückte Stimmung. Amber sitzt in einer Ecke auf einem weichen Sofa und liest in einem Magazin. Trexler und Floogs unterhalten sich fast schon im Flüsterton auf der anderen Seite des Abteils an einem Tisch. Mags ist in einem großen Ohrensessel eingeschlafen kurz nachdem wir im Kapitol in den Zug gestiegen sind. Bleibt nur noch Finnick, der stumm mir gegenüber sitzt und ein Türmchen aus Zuckerwürfeln baut. Cecilia hat sich in ihr eigenes Abteil begeben, beleidigt da niemand ihre ausgelassene Stimmung zu schätzen wusste.

Sie scheint die Einzige zu sein, die über den Sieg von Distrikt vier wirklich aufgeregt und stolz ist. Selbst nach dem gestrigen Fiasko auf der offenen Bühne scheint sie in Höchststimmung zu sein. Amber hat düster gescherzt, dass sie jetzt bestimmt eine Gehaltserhöhung bekommt, die sie sodann in neue Schönheitsoperationen investieren kann. Dank meines Zusammenbruchs gestern musste die Übertragung der Siegesfeier gestern schlagartig abgebrochen werden. Natürlich brach Tumult im Publikum los nachdem Finnick mich von der Bühne gezerrt hatte während ein hilfloser Caesar Flickerman zusah. Doch so wie die Anderen es mir geschildert haben wurde kurz daraufhin ein Beitrag mit Tia, meiner ‚emotionalen Beraterin‘ im Fernsehen gesendet, die sagte meine Gesundheit würde lediglich noch schwächeln, aber ich würde beste Grüße ausrichten lassen und wäre untröstlich über das abrupte Ende der Feierlichkeiten. Die entscheidenden paar Sekunden wurden natürlich nicht an alle Distrikte und das Kapitol übertragen. Von Präsident Snow höchstpersönlich wurde dem Publikum angeordnet Stillschweigen über den Vorfall zu bewahren.

Insgeheim fragte ich mich, wie viele Tribute wohl schon derartiges durchlebt hatten. Das Kapitol schien jedenfalls öfter zu lügen und die Tatsachen zu beschönigen, als man in den Distrikten mitbekommen würde. Nach einer ordentlichen Dosis Morfix und einer unruhigen Nacht die ich um mich schlagend in Finnicks Armen verbrachte, an die ich mich aber kaum bewusst erinnern kann, bin ich nun wieder einigermaßen bei klarem Bewusstsein. Zumindest vermag ich es wieder meine Gedanken zu ordnen und Wirklichkeit von Albtraum zu unterscheiden. Allerdings zittern meine Hände so stark, dass ich sie unter meinen Oberschenkeln verstecke. Laut Mags sind das die ersten Entzugserscheinungen des Morfix. Umso mehr will ich nicht mehr auf die Droge angewiesen sein. Dennoch vermisse ich das beruhigende Gefühl mit dem mich das Morfix erfüllt. Mein Hals schmerzt unerträglich von den vielen Angstschreien und meine Stimme hört sich nicht mehr wie dieselbe an. Doch Mags hat die Ärzte mit den Morfixspritzen ohnehin verscheucht, unterstützt von Finnick. Wenn sie sagen, dass es nur zu meinem besten Wohl sei, dann glaube ich es ihnen auch. Selbst wenn das bedeutet, dass ich mit den Panikattacken leben muss.

Ich bin froh wenigstens das Kapitol hinter mir lassen zu können. Bis nächstes Jahr muss ich die Menschen dort, die die Spiele als eine spaßige Freizeitaktivität betrachten nicht mehr sehen und vor allem auch Präsident Snow nicht mehr begegnen. Nach seiner Drohung weiß ich bereits was passiert ist. Floogs hat gestern meine Ängste bestätigt. Mein Vater hat seinen Hochseeunfall nicht überlebt. Doch nicht nur das ist in der Zwischenzeit in Distrikt vier passiert. Bei einem Unfall auf den Fischfarmen ist ein Feuer ausgebrochen und mehrere Menschen, darunter auch David, sind ums Leben gekommen. Seitdem sind die Sicherheitsvorkehrungen noch härter geworden und verstärkte Patrouillen von Friedenswächtern kontrollieren die Arbeit. Diese lassen aber zumeist eher Willkür denn Gerechtigkeit walten und nutzen ihre Position aus. Immerhin hat Floogs mich vorsichtig zur Seite genommen um mir von dem Tod meines Vaters kurz nach Maylins Tod in den Spielen zu erzählen, sowie das Schicksal Davids. Auch Floogs tat es scheinbar weh mir dies mitzuteilen, denn seine Stimme war leise und brüchig. Aber er wollte es mir lieber erzählen bevor wir nach Distrikt vier zurückkehren würden, damit ich dort nicht noch einmal vom Schock überwältigt werden würde, gleich zwei geliebte Menschen verloren zu haben. Einen Schock habe ich so oder so durchlebt, denn alleine schon die Spiele gestern wieder ansehen zu müssen war schon zu viel. Ich fühle mich schuldig, so unglaublich schuldig. In mir ist nur noch eine seltsame Leere in meinem Herzen. So viele Menschen in kurzer Zeit habe ich verloren, dass ich mich frage warum ich überhaupt noch am Leben bin. Doch hier bin ich umgeben von Menschen die genauso wie ich gelitten haben. Amber, Mags, Floogs, Trexler und auch Finnick haben das unvorstellbare in der Arena durchlitten. Und manch einem von ihnen hat das Kapitol auch einen geliebten Menschen genommen. Die meisten sind ganz alleine zurückgeblieben. Ein lebendes Mahnmal für alle anderen sich nicht mit dem Kapitol anzulegen. Insbesondere Amber, deren Familie für ihre öffentlich geäußerte Abneigung gegenüber Snow zahlen musste. Wie es ihre Art ist hat sie mir recht ruppig davon erzählt, dass auch ihrer Familie ein Unfall passiert ist, nachdem sie im Fernsehen Snow als widerwärtig betitelt hatte. Aber für sie sei das noch lange kein Grund gewesen klein beizugeben. ‚Jetzt werde ich erst recht kämpfen bis der Schweinehund für das bezahlt was er uns antut‘, hatte sie wütend gezischt. Denn nicht wir, die Figuren in seinem Spiel sind schuldig. Die Strippenzieher aus dem Kapitol, allen voran Präsident Snow sind diejenigen an deren Händen Blut klebt. So wie sie das sagt klingt sie gefährlich rebellisch. Doch auch wenn Amber nicht die beste mit gefühlvollen Äußerungen ist und nach wie vor eine harte Schale zeigt, so gibt sie – und alle anderen – mir dennoch Hoffnung. Es ist nur so wenig was wir tun können und mitunter droht es einen zu überwältigen. Aber wenn wir auch nur immer wieder aufstehen und nicht klein beigeben besteht noch eine Chance. Ich wage nicht davon zu träumen, dass wir das Kapitol eines Tages stürzen werden. Dafür müsste es eine Rebellion geben, etwas das so viel größer wäre als nur wir paar gebrochene Sieger. Jedoch können wir danach streben jeden Tag für uns wieder besser zu machen.

Als wir gestern bis spät in die Nacht beieinander saßen in unserem Appartement im Trainingscenter und Finnick mich in Decken gehüllt in seinen Armen hielt, haben alle von den schönen Erlebnissen erzählt, die sie auch nach ihrem Sieg noch erlebt haben. So ist es für Trexler einer seiner schönsten Tage, als er seine Frau heiraten konnte in einer klassischen Zeremonie unseres Distrikts. Auch wenn man es dem breiten Schrank von Mann nicht ansieht, so ist er doch ein echter Familienmensch. Eigene Kinder hat er zwar nicht, doch er und Isla, seine Frau, kümmern sich rührend um die Waisenkinder des Distrikts. Floogs hingegen macht es stolz zu sehen wie seine Schwester einen Schulabschluss gemacht hat und eine Arbeitsstelle als Lehrerin angeboten bekommen hat. Amber hat etwas widerwillig zugegeben, dass es ihr eine große Freude bereitet in ihrem Garten zu arbeiten und die Insekten zu beobachten. Mags liebt die großen Feste in Distrikt vier zum Ende des Sommers in denen alle für wenige Stunden komplett ausgelassen sind und die Sorgen des Alltags für einen Moment vergessen. Für Finnick sind es die stillen Stunden am Meer, bevor die Sonne aufgeht. All diese Erinnerungen an warme und glückliche Momente erleichtern mich ein wenig. Niemand ist mehr dieselbe Person die sie früher war. Doch irgendwo hinter dem dunklen Nebel warten die schönen Tage auch wieder.

Im Dunkel des Schlafzimmers hat Finnick schließlich leise zu mir geflüstert:

„Niemand erwartet, dass du dich jemals von diesen Erlebnissen erholst. Aber verstehe, dass jetzt aufzugeben alles Leid vergebens machen würde. Nur du alleine kannst dich heilen. Weine wenn dir danach ist. Schreie wenn du musst. Laufe wenn es dich danach verlangt. Und wenn es bis an dein Lebensende dauert, das wird es wert sein wenn du auch nur einmal wieder lächeln kannst.“

Mit Tränen in den Augen schlief ich so an seiner Brust ein. Zwischen all der Kälte in mir und der Anspannung verspüre ich bei der Erinnerung doch ein kleines warmes Flämmchen in meiner Brust aufzüngeln. Noch schlägt mein Herz und noch gibt es Liebe in mir. Draußen senkt sich derweil die Sonne immer weiter hinab und taucht die flacher werdende Landschaft in goldenes Licht. Nicht mehr lange und wir sind wieder in Distrikt vier – zuhause. Bei dem Gedanken erweckt sich in mir eine Sehnsucht. Endlich werde ich das echte Meer wieder sehen können.

Eine halbe Stunde bevor wir in den Bahnhof erreichen bricht Geschäftigkeit aus. Cecilia kommt zurück und scheucht uns herum. Wir sollen die von Roan bereitgestellten Kleider anziehen und unser weniges Hab und Gut zusammen sammeln ehe wir da sind. Amber hilft mir freundlicherweise in das zartrosa Kleid mit einem kurzen Glockenrock und Puffärmeln das für mich geschneidert wurde. Diesmal muss ich zum Glück keine hohen Schuhe mehr tragen, sondern darf flache Schuhe anziehen. Wenigstens kann ich so nicht stolpern wenn ich in Panik gerate und mir den Fuß verletzen. Das Medaillon meines Vaters zusammen mit Finnicks Anhänger, mein Talisman, verstecke ich unter dem Kleid um ihn nicht ablegen zu müssen. Zum Schluss muss ich noch die verhasste Krone wieder aufsetzen. Wenigstens ist es diesmal nicht Snow der mir die Krone auflegt. Nervös verkrampfen sich meine Finger als wir schließlich langsam in den Bahnhof einfahren. Eine große Menschentraube steht bereits versammelt am Gleis, allen voran die wichtigen Persönlichkeiten des Distrikts. Es versetzt mir einen Stich in die Brust dort nicht auch meinen Vater zu sehen, oder David. Auch wenn wir vielleicht nicht im Besten auseinander gegangen sind, so hat er doch einen leeren Platz in meinem Herzen hinterlassen. Stattdessen steht der Bürgermeister mitsamt seiner Familie neben den obersten Friedenswächtern in ihren glänzenden weißen Rüstungen. Fast augenblicklich wallen Erinnerungen an meinen zwanghaften Besuch bei Präsident Snow hoch. Wie mich die Friedenswächter durch das Labyrinth unterirdischer Gänge zu ihm führen um mich vor ein Ultimatum zu stellen. Die Luft zum Atmen wird mir knapp. Unterbewusst fährt meine Hand zur Kehle und ich schnappe nach Luft. Mags, die jetzt wieder erwacht ist, legt mir mitfühlend die Hand auf den Arm.

„Wir sind bei dir“, sagt sie ernst.

Ich nicke, noch nicht ganz überzeugt. Mit einem kleinen Ruck kommt der Zug zum Stehen. Zischend öffnen sich die Türen. Warme Abendluft dringt herein, zusammen mit dem süßlichen Duft von Blumen und dahinter kaum merklich der Geruch von Salz und Fisch. Alles ist festlich dekoriert mit Blumenkränzen und Fernsehkameras halten alles fest. Vor mir steigen Cecilia und die Mentoren aus, erst dann steige ich, noch immer begleitet von Mags, auch aus. Höflicher Applaus erschallt. Steif stehe ich da und spüre die warme Luft meine Haut kitzeln. Innerlich ist mir noch immer kalt, doch die warme Brise entspannt mich einigermaßen. So fühlt sich zuhause an. Der Bürgermeister gratuliert mir und ich schüttle seine Hand ohne ihn kaum richtig wahrzunehmen. Wir werden in einer kleinen Prozession zur Eröffnung des üblichen Festmahls geleitet. Auf dem zentralen Platz vor dem Rathaus sind bereits lange Tische und Bänke aufgebaut. Auch hier ist alles mit frischen Blumen dekoriert. Distrikt vier ist so schön wie schon lange nicht mehr. Überall drängen sich aufgeregt Leute. Cecilia hält noch kurz eine Rede, die ich jedoch nur am Rande mitbekomme, denn von lauter dezent gekleideten Avoxen werden bereits riesige Platten an feinsten Speisen herbei getragen. Zum ersten Mal seit Wochen spüre ich wie mein Magen deutlich knurrt. Zu meiner Erleichterung wird von mir auch nicht weiter verlangt auch eine Rede zu halten und so lassen wir uns nieder und können direkt anfangen zu speisen. Ich bin unglaublich schnell satt, doch das stört mich nicht.

Je weiter der Abend fortschreitet, desto mehr löst sich die Gesellschaft auf. Menschen fangen an in der Mitte des Platzes ausgelassen zu tanzen. Für sie ist es eine willkommene Ablenkung des Alltags und ein wahres Festmahl gegenüber den kargen Rationen die uns sonst täglich zustehen. Kaum jemand achtet noch auf mich oder die Anderen. Unauffällig erhebe ich mich und schlüpfe zwischen den Feiernden hindurch. Rasch gelange ich in die weniger belebten Gassen und ehe ich mich versehe fange ich an zu laufen, dann zu rennen. Jeder meiner Schritte trägt mich näher dem Meer entgegen. Immer stärker werden die Gerüche und das entfernte Rauschen des Ozeans. Die Geräusche der Siegesfeier sind hier unten nur noch weit entfernt. Und dann endlich eröffnet sich vor mir der Blick auf das nächtliche Meer. Einen Moment muss ich innehalten um den Anblick in mich aufzunehmen. Ich hatte gedacht nie wieder hier her zurückzukehren und doch stehe ich jetzt hier. Die verhasste Krone fliegt von meinem Kopf in die Dünen und auch die lästigen Schuhe folgen ihr. Meine Hand um das Medaillon und den kleinen Fischanhänger geschlungen gehe ich langsam die letzten Meter hinab.

Sanft schlagen die Wellen an den Strand. Eine leichte Brise weht und trägt den starken salzigen Geruch vom offenen Meer heran. Unter meinen nackten Füßen spüre ich feine Sandkörner. In der Ferne geht der Mond auf und spiegelt sich silbrig in den seichten Wellen. Am Himmel über mir funkeln die Sterne, tausende und abertausende, so viele wie nirgends sonst auf der Welt. Die Salzblumen in den Dünen rascheln leicht in der Nachtluft. Ich atme tief ein. Schließe die Augen und genieße einfach nur für einen Moment. Ein tiefes Gefühl von Frieden ergreift mich. Hinter mir spüre ich schwere Schritte zögerlich näher kommen. Finnick kommt durch den Sand auf mich zu, auch er ohne Schuhe an den Füßen. Keiner von uns sagt etwas. Wir stehen einfach so da und nehmen das Gefühl des Meeres in uns auf. Zaghaft gleitet seine Hand um meine Taille. Die Augen wieder geschlossen lehne ich mich gegen ihn. Zu dem Geruch des Meeres mischt sich dieser einzigartige Duft den nur Finnick hat. Für mich riecht er nach Geborgenheit.

Langsam öffne ich die Augen und blicke ihn an. Seine meergrünen Augen glitzern im Sternenlicht und sagen mir in diesem Moment mehr als Worte es je könnten. Ich halte mich stark an ihm fest, als hätte ich Angst, dass er vom Wasser davon gerissen werden könnte. Unsere Lippen berühren sich zärtlich.

Ich weiß nicht ob alles wieder gut werden kann. Aber ich höre das hoffnungsvolle Flüstern des Meeres. Noch ist es nicht vorbei.


Nachwort zu diesem Kapitel:
- Vorläufiges Ende der aktuellen Neubearbeitung [01/24]-
Alle nachfolgenden Kapitel sind das unbearbeitete Original von 2012 – Weiterlesen auf eigene Gefahr. Es kann zu Unstimmigkeiten mit den überarbeiteten Kapiteln kommen, außerdem ist der Schreibstil nicht mehr das Gelbe vom Ei. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das ist es also, das Ende dieser Geschichte. Aber wie jeder weiß, ist das Ende der einen Geschichte nur der Anfang einer Neuen...
Ich danke jedem Leser von Herzen der bei dieser Achterbahnfahrt dabei war. Ich hoffe es hat euch gefallen und wir lesen uns bald einmal wieder!

Eure Coronet Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (49)
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Von:  Sas-_-
2020-08-19T14:13:51+00:00 19.08.2020 16:13
^-^/

Es ist tatsächlich schon ein Weilchen her, dass ich das Kapitel gelesen habe, leider bin ich nicht zum Kommentieren gekommen :/
Grundsätzlich fand ich es sehr interessant, wie das Fest hier etwas "anders" als in Distrikt 12 gefeiert und auch wahrgenommen wird. Auch Annies Gedanken dazu, als sie ausgewählt wurde, fand ich sehr interessant. Natürlich hat auch Katniss darüber nachgedacht, welchen Eindruck sie bei den Zuschauern hinterlässt, nur fand ich es hier eben noch mal besonders, da Annie aus einem Karrieredistrikt kommt und man erwartet, dass sie sich "besser" schlägt als die meisten anderen.
Mir gefällt auch sehr, wie du Distrikt 4 "lebendig" machst, mit den vielen Beschreibungen über den Ort selbst und wie Annie ihn empfindet. ich kann Distrikt 4 "sehen, hören und fühlen", das gefällt mir unheimlich gut. Das ist etwas, dass mir in den Originalbüchern bei Katniss auch immer gefehlt hat. Ihre Beschreibungen empfand ich als immer sehr detailarm, oberflächlich und kurz angebunden. Das lag, mMn auch nicht an der Autorin, sondern tatsächlich an dem Charakter, den sie geschaffen hat, denn an "Das Lied von Schlange und Vogel" sieht man, dass Suzanne sehr wohl sehr detailiert beschreiben kann.
Annies Vergangenheit, oder so, wie du sie dir vorstellst, finde ich sehr interessant. Dass sie eigentlich schon einen Lebensgefährten hatte, dass das Leben "geplant" war, bis Annie ein Tribut wurde. Neben den Hungerspielen kommt bestimmt noch einiges an sozialer Interaktion. Ich bin gespannt, was aus diesem tollen Anfang gemacht hast :3

LG
Sas-_-
Antwort von:  Coronet
19.08.2020 23:21
Hey Sas,

vielen lieben Dank zunächst, dass du dir die Zeit für einen Kommentar genommen hast! Das freut mich sehr :)
Es freut mich, dass du meine Vision von Distrikt vier lebendig findest! Tatsächlich neige ich manchmal zu sehr auschweifenden Beschreibungen und habe dann schon immer Angst, dass es etwas zu viel des Guten ist. Katniss ist tatsächlich oft sehr knapp in ihren Beschreibungen, das habe ich bei meinem neuerlichen Hören der Hörbücher auch wieder gemerkt, oft interessiert sie sich tatsächlich auch nicht viel für Dinge die sie nicht direkt betreffen.
Ich freue mich, dass dich Annies Vergangenheit nicht gleich abschreckt, in der Vergangenheit habe ich schon gemerkt, dass sich nicht jeder gleich mit der Vorstellung anfreunden kann, dass Annie und Finnick nicht von Anfang an ein Paar sind. Da bin ich gespannt wie dir die weitere Entwicklung gefallen wird ^^
Vielen lieben Dank noch einmal für deine ausführlichen Worte!
Liebe Grüße
Coro
Von:  Sas-_-
2020-08-08T10:52:52+00:00 08.08.2020 12:52
^-^/

Ist ja noch gar nicht lange her, dass das Prequel zur Panem-Trilogie herausgekommen ist. In diesem Zuge war ich neugierig, ob es auch gute Fanfictions zu dieser Buchreihe gibt :D
Ich hab mir deine Geschichte ausgesucht, weil sie abgeschlossen ist und der Stil mich anspricht. Jetzt, nach dem Lesen des Prologs, freue ich mich sehr deine Geschichte gefunden zu haben ^^ Dein Schreibstil gefällt mir richtig, richtig gut. Es zwar "nur" der Prolog, aber die Balance zwischen Beschreiben der Umgebung, Denken und Handeln der Charakter und Plot war für mich sehr ausgewogen. Ich hatte nirgends das Gefühl, dass irgendwas zu kurz kommt oder sich in die Länge zieht :3
Ich hab nicht wirklich einen Bezug zu Annie Cresta, allerdings zu Finnick, Odair, der mir als Charakter gut gefallen hat. Ich bin gespannt, wie du die Geschichte aufgebaut hast und was alles passieren wird. In der Charakterbeschreibung hab ich gesehen, dass du tatsächlich jedem Tribut eine Hintergrundgeschichte gegeben hast. Ich bin gespannt, ob diese auch tatsächlich alle zum Tragen kommen, da meist beim "Blutbad" am Anfang schon einige Tribute sterben und damit schnell ausscheiden.
In diesem Sinne bis hoffentlich bald ^^

LG
Sas-_-
Antwort von:  Coronet
21.08.2020 11:56
Oh hey, das ist mir jetzt ein wenig peinlich, aber deinen ersten Kommentar habe ich gar nicht gesehen :o Irgendwie wurde mir der nicht auf meiner Startseite angezeigt, nur der neuere. Deshalb auch hier noch einmal vielen lieben Dank für deinen Kommentar zu meinem Prolog! Freut mich, dass du durch das neue Buch den Weg zu meiner Fanfiktion gefunden hast, die ist ja schon etwas älter. Aber tatsächlich hat das Prequel mich auch zurück in das Panem Fandom gebracht und ich hab endlich mal Zeit gefunden an der Fortsetzung zu arbeiten :D In dem Zuge ist der Prolog auch einmal überarbeitet worden, deswegen ist er ein wenig anders als der ursprüngliche. An den anderen Kapiteln bin ich gerade dabei hier und da ein paar Überarbeitungen vorzunehmen damit auch alles stimmig bleibt. Es kann also sein, dass der Stil in den Kapiteln jetzt ein wenig anders ist, immerhin ist das Grundgerüst schon von 2012.
Es freut mich in jedem Fall, dass dir mein Schreibstil gefällt. Wirklich vielen Dank für dein Lob, das ist eine große Motivation weiter zu schreiben.
Annie ist in der Tat ein wenig kurz gekommen im Buch, aber ich habe sie einfach ins Herz geschlossen aufgrund der wenigen Beschreibungen von ihr. Aber Finnick ist natürlich auch einfach toll.
Ich bin gespannt wie dir die weitere Geschichte gefällt, das erste Kapitel hast du ja mittlerweile auch schon gelesen und weißt schon ein wenig. Auch nach all den Jahren bin ich ja ehrlicherweise noch immer ein wenig aufgeregt wie die Leser meine ganzen Eigencharaktere finden, immerhin gibt es doch ziemlich viele davon in der Geschichte. Ich hoffe also, dass dir ein paar meiner Tribute (und ihre Geschichte) gefallen werden :)
Vielen lieben Dank auch hier noch einmal für deinen ausführlichen Kommentar, das freut mich wirklich sehr!

Liebe Grüße
Coro
Von:  Jensen
2015-11-09T17:32:38+00:00 09.11.2015 18:32
Endlich *___*
Ich hab die Fanfic über ein Jahr beobachtet und dann aufgehört regelmäßig reinzuschauen, weil ich dachte es kommt nichts mehr. Und dann schau ich zufällig drauf und...
Ich bin begeistert dass es weiter geht! Ich liebe deinen Stil & die Charaktere :)
Antwort von:  Coronet
10.11.2015 10:57
Hey,

ahhh, ich freue mich, dass du noch von dem neuen Kapitel erfahren hast! Es tut mir auch wirklich leid, dass es so ewig gedauert hat... manchmal ist das Leben leider zu chaotisch :(
Aber jetzt werde ich mich bemühen ganz fix weiter zu schreiben damit die Geschichte auch ein (hoffentlich) schönes Ende bekommt.
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar, da bekomme ich doch gleich Lust sofort weiter zu schreiben :)

Liebe Grüße,

Coronet
Von: Niche
2015-08-14T09:42:27+00:00 14.08.2015 11:42
Erst mal Danke, dass du weiter schreibst!
Ich bin zwar erst vor ein paar Tagen auf deine Fanfic gestoßen, da ich selbst erst diesen Monat endlich mal Zeit gefunden habe, um die Bücher zu Tribute von Panem zu lesen, aber deine Fanfic hat mich sofort gefangen. Ich mag deinen Schreibstil sehr gerne und deine Charaktere sind auch alle etwas Besonderes, vor Allem natürlich Annie. Ich fand die Story zu ihr, die kurz im Buch erwähnt wird, schon irgendwie krass und mich hat es da schon interessiert, wie das wohl alles war und ich finde deine Fanfic dazu wirklich sehr gelungen! Deswegen freue ich mich sehr, dass du weiter geschrieben hast und hoffentlich weiter schreiben wirst, denn es ist alles so spannend! Man fühlt richtig mit Annie mit und möchte wissen, wie es weiter geht! >.<

Liebe Grüße
Antwort von:  Coronet
10.11.2015 10:55
Hey,

wenn auch etwas verspätet: Vielen lieben Dank für deinen Kommentar, es hat mich wirklich sehr gefreut, dass ich sogar noch einen neuen Leser gewinnen konnte!
Das Unileben ist leider immer noch etwas chaotisch, aber ich das nächste Kapitel ist bereits am Werden, ich werde mich bemühen es nicht wieder ein Jahr des Wartens werden zu lassen ;)
Vielen Dank noch einmal!

Liebe Grüße,

Coronet
Von:  Satomi
2015-07-22T23:27:37+00:00 23.07.2015 01:27
Yeah endlich gehts weiter. :D Ich freu mich riesig.
Mir tut Pon leid, aber wenigstens musste er nicht leiden.

Mir fehlt am Ende dein Counter. ^^
Ich hoffe sehr du schreibst ihre Sicht zu Ende und dann bitte auch die von Finn. ;D ja?
Find die FF immer noch genial. ^-^
Liebe Grüße
und willkommen zurück :D
Antwort von:  Coronet
24.07.2015 16:02
Hey,

haha, ja, ich freue mich, das es dich freut :D
Den Counter wird es in den verbleibenden Kapiteln wieder geben ;)
Annies Sicht werde ich auf jeden Fall schaffen, so schrecklich viele Kapitel bleiben mir nach meinem Plan auch gar nicht mehr. Bei Finns Sicht muss ich mal gucken, aber ich hab so viele Ideen dafür, es wäre ziemlich schade wenn ich nie dazu komme sie aufzuschreiben.
Danke danke für deinen lieben Kommentar, wegen Leuten wie dir bin ich wieder zurück und schreibe weiter :)

Liebe Grüße,

Coronet
Von:  shinebright
2015-07-10T09:58:38+00:00 10.07.2015 11:58
Schande über mich, dass ich diese Story erst jetzt gesehen habe... Du schreibst so unheimlich gut und hast dazu noch kreative Ideen. Deine Story gefällt mir so gut und ich finde es echt schade, dass es nicht weiter geht hoffentlich packt dich irgendwann die Schreiblust noch einmal, ich werde jedenfalls warten:)
Die Wiedervereinigung mit Pon hat mich so glücklich gemacht, dass mir glatt ein Freudentränchen gekommen ist, nur damit du mal weißt wie unfassbar gut du den Leser in die Geschichte ziehst!
Antwort von:  Coronet
22.07.2015 21:35
Hey!
Ich muss sagen, nach über zwei Jahren hätte ich nie im Leben gedacht, dass sich noch einmal wer auf diese Geschichte verirren würde... aber da habe ich mich wohl geirrt! Dein lieber Kommentar hat mich daran erinnert wie gerne ich doch an der Geschichte geschrieben habe - was glatt die Schreiblust wieder erweckt hat! Um es kurz zu machen: Es gibt jetzt tatsächlich ein neues Kapitel (es geschehen also doch noch Wunder ;) )!
Ich hoffe, dass dir das neue Kapitel gefällt :)
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar!

Liebe Grüße,

Coronet
Von:  LilaRain
2013-06-29T14:10:10+00:00 29.06.2013 16:10
Wann gehts weiter ?? ;)
Von:  LilaRain
2013-06-23T00:19:57+00:00 23.06.2013 02:19
Also,ich muss jetzt mal meine Verwunderung zum Ausdruck bringen,im Buch wurde gesagt
1. Das pon geköpft wird
2. Das annie überlebt weil sie bei einer fluchtwelle am besten schwimmen kann
Bin echt gespannt ob du dich an diese Vorgaben hälst
Wieder mal ein spannendes und klasse geschriebenes Kapitel! :*
Von:  LilaRain
2013-06-23T00:02:12+00:00 23.06.2013 02:02
Hey,mir gefällt dein schreibstil echt gut!
Die beste Annie Fiction die ich gelesen habe!
Weiter so ;)
Von:  mudblood
2013-04-10T13:29:32+00:00 10.04.2013 15:29
Einen schönen guten Tag! :]

Ich liebe die Buchreihe Die Tribute... und ganz besonders hat es mir Finnick angetan :3 Ich bin froh auf deine Geschichte gestoßen zu sein und mache schon mal vorab ein Kommi, da ich wahrscheinlich etwas brauchen werde, bis ich mich durch die Kapitel gelesen habe. :]

Es gefällt mir, dass du von Annies Hungerspielen schreibst und ich bin gespannt, wie du das alles gestaltest. Zudem freue ich mich sehr auf Annie und Finnick Szenen :) Dein Schreibstil ist echt sehr schön - man stolpert nicht. Die Beschreibung der Umgebungen sind auch sehr schön und ich habe das Gefühl, dass dir das alles schön locker flockig von der Hand geht. (:

Werde mich mal durch die Kapitel lesen und mich wieder melden. Ganz großes Lob schon mal für den Prolog! :]

liebste Grüße
Antwort von:  Coronet
10.04.2013 18:00
Hallo :)

Es freut mich, dass du auf meine kleine FF gestoßen bist!
Ich hoffe, dass du viel Spaß beim Lesen haben wirst - allerdings muss ich eine kleine Warnung aussprechen: Während die ersten Kapitel erneut überarbeitet wurden, sind die späteren Kapitel bald ein Jahr alt und weisen doch einen kleinen Unterschied zu den neuen Kapiteln auf, was dich, hoffentlich, nicht abschrecken wird. Natürlich gebe ich mir auch größte Mühe, die Geschichte weiter zu überabeiten, aber das dauert leider seine Zeit.
Danke für dein Lob und den Kommentar insgesamt, ich habe mich sehr gefreut!

Liebe Grüße,
Coronet


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