Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 35: Gemeinsam --------------------- Gemeinsam - Dreißigstes Kapitel * Die aktuellen Entwicklungen bringen unseren Atem zum Stocken! Zerbricht jetzt auch das letzte Bündnis in der Arena? Caesar, wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen: Maylin war eine Verräterin! Sich gegen das eigene Bündnis als auch den Distrikt zu stellen, nur weil man Ruhm ernten will. Da kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Unser Geld sollten wir lieber nicht auf Tribute wie Maylin verschwenden. So ist das Drama, denn jetzt lösen sich die Karrieros auf. Meine Damen und Herren, sie dürfen gespannt bleiben. Wird Shine ihren Rachefeldzug weiterspannen? Und: Achten sie auf Annie, den einstmals so unscheinbaren Tribut aus Distrikt vier. Vielleicht hat sie doch noch einen Trumpf in der Hinterhand? Alte Bündnisse zerbrechen, neue entstehen: Es geht auf das Finale zu! Mein Rat: Vergessen sie die Karrieros!   Blondes Haar schaut unter der blauen Kapuze hervor. Ebenso, wie ein mit Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht. Ich laufe. Alles um mich herum verschwindet, wird unwichtig. Die Äste, die krachend unter meinen Füßen bersten, die Zweige die mir in das Gesicht peitschen, einfach alles. Ich habe ihn gefunden! Endlich! Nach über einer Woche härtester Qualen in der Arena habe ich ihn wiedergefunden! Den Speer werfe ich einfach von mir fort, der Rucksack gleitet von meinen Schultern und fällt auf die Erden, doch ich kümmere mich nicht darum. Atemlos überwinde ich die letzten Zentimeter zu ihm. Unendlich glücklich schließe ich ihn in die Arme. „Pon.“ Fest halte ich ihn in meinen Armen, drücke seinen schmächtigen Körper an mich. Pfeifend entweicht mir die Luft und ich löse mich vorsichtig von ihm. Die Hände auf die Knie gelegt versuche ich wieder zu Atem zu kommen. Ja, er ist es wirklich. Der Junge mit den blondgelockten Haaren, den frechen Sommersprossen und den funkelnden blauen Augen, das ist wirklich Pon. Mein Mittribut. Ich habe ihn gefunden! Gar nicht oft genug kann ich diesen Gedanken wiederholen. Auch auf seinem Gesicht zeichnet sich jetzt ein Lächeln ab, nachdem er mich erkannt hat. „Annie!“, ruft er ebenso frenetisch, wie ich eben noch seinen Namen rief. Jetzt ist er an der Reihe, mich zu umarmen. Mit erstaunlich viel Kraft drückt mich der Zwölfjährige an sich. „Oh Pon, Pon…“, flüstere ich leise, während ich mein Gesicht an seiner Schulter vergrabe. Ein wenig zögerlich lösen wir uns aus der Umarmung und betrachten einander. Über eine Woche ist in dieser Arena vergangen, in der wir uns nicht gesehen haben, obwohl wir ein Versprechen hatten. Doch jetzt, nach der Begegnung bei den Karrieros stehen wir auf einmal wieder voreinander. „Was machst du nur für Sachen?“, frage ich leise und schüttle den Kopf. Die Erleichterung ihn noch gefunden zu haben, bevor es zu spät ist, ist unermesslich. Auch Pon selber scheint erleichtert zu sein – zumindest glaube ich das in seinem Gesicht zu erkennen. Langsam sammle ich den Speer und Rucksack wieder vom Boden auf, wo ich sie fallen gelassen hatte. „Es tut mir Leid, dass ich das Versprechen nicht gehalten habe“, höre ich Pon leise sagen. Überrascht drehe ich mich zu ihm um, während ich den Speer zurück in seine Befestigung am Rucksack schiebe. „Ach, das habe ich doch schon längst vergessen.“ Zaghaft lächelt er mich an. Bestärkt fahre ich fort: „Jetzt haben wir einander ja wieder gefunden.“ Mit diesen Worten stehe ich auf und wuschle ihm einmal durch die Haare. „Hast du ein Lager oder noch etwas bei dir?“ Stumm schüttelt er den Kopf. „Nein, ich habe nichts außer dem Speer. Ich war immer unterwegs…“ Nachsichtig nicke ich. Sicher muss Pon sich auch gefürchtet haben in der Arena, deshalb hat er kein längerfristiges Lager. Aber wozu bin ich denn jetzt da, wenn nicht dafür, uns beide durchzubringen? Voller Energie stemme ich die Hände in die Hüften und sehe zu Pon. „Also, was wir brauchen ist ein Unterschlupf“, fange ich begeistert an, meinen Plan darzulegen, der sich in den durchwachten Stunden um Mitternacht in meinen Gedanken herausgebildet hat. Doch weit komme ich nicht, denn Pon unterbricht mich. „Ich kenne jemanden, der ein Lager hat!“ Verdutzt halte ich inne. Was soll das heißen, er kennt jemanden? In der Arena ‚kennt‘ man doch nicht einfach so jemanden. Hastig und voller Begeisterung fährt er fort: „Victoria ist ganz nett, du wirst sie sicher mögen! Sie war es auch, nach der ich gesucht habe. Weißt du, sie ist ziemlich stark und hat es sogar geschafft, an einige Sachen aus dem Füllhorn heranzukommen!“ Der wilde Glanz der Begeisterung steht in seinen Augen und ich kann ihn nicht mehr aufhalten. Einem Wasserfall gleich erzählt er von Victoria: „Am Füllhorn hat sie mich gerettet, als mich fast ein heranfliegendes Messer getötet hätte! Einfach umgeworfen hat sie mich und dann hat sie gesagt, wir sollten ein Bündnis schließen. Das hab ich auch getan…“ „Halt, stopp bitte!“, unterbreche ich seinen euphorischen Redefluss. „Ich unterbreche dich nur ungern, aber wir stehen mitten im Wald – was glaube ich – ein wenig gefährlich sein dürfte. Zuerst sollten wir uns wirklich ein Lager suchen, ehe wir überlegen, was wir dann tuen.“ Aus den Wolken fallen bereits wieder einige Regentropfen herab, zudem lassen die rabenschwarzen Wolken im Osten der Arena, die sich über die Berghänge schieben nichts Gutes vermuten. Also packe ich Pon sanft bei der Schulter und schiebe ihn vorwärts. „Es ist nicht sicher hier. Du kannst mir alles erzählen, wenn wir einen Unterschlupf haben!“ Fast schon ein wenig resigniert nickt er, ehe er seinen Speer aufhebt, der auf dem Waldboden lag, und neben mir hergeht. „Kennst du dich in diesem Teil der Arena aus?“, frage ich ihn, denn schließlich hat es mich noch nicht hierher verschlagen. Doch auch Pon schüttelt den Kopf. „Ungefähr gestern habe ich die Orientierung verloren“, gesteht er, „aber ich weiß, dass irgendwo hier die Karrieros ein zweites Lager haben, zumindest sagt Victoria das.“ Zwar weiß ich immer noch nicht, wer diese Victoria ist, doch ich beschließe, dass es klüger wäre, in diesem Falle auf die Meinung der Unbekannten zu vertrauen. „Dann sollten wir nicht unbedingt weiter in diese Richtung gehen. Allerdings können wir auch nicht zurück, denn dort hat das Erdbeben den Boden aufgerissen. Wer weiß, wann so etwas wieder passiert?“ Ratlos halten wir wieder an, betrachten die verkümmerten Baumstämme um uns herum, die mir plötzlich als viel zu engstehend erscheinen. Ein wenig beklemmt räuspere ich mich. „Irgendwelche Vorschläge?“, wende ich mich mit dünner Stimme an Pon. Mit etwas mulmiger Miene erwidert er: „Zurück können wir nicht, da ist nur die Einöde mit den Berglöwen…“ Unsicher schaue ich mich zwischen den Bäumen um. Pon hat Recht, der Weg nach hinten ist auch kein sonderlich guter. Somit bleibt uns nur eines, wenn wir nicht in eine Falle tappen wollen: Der Weg nach vorne. Einem Impuls nachgeben greife ich mir an den Hals und reibe nervös mit der Hand über das Brustbein. Es fühlt sich an, als wäre meine Kehle blockiert, ein kaltes Gefühl macht sich in meinem Magen breit, doch ich kann nicht nachvollziehen, warum das so ist. Das Einzige, was mir zu denken gibt, ist der Regen, der mittlerweile immer stärker auf uns herabprasselt. Wenn das so weiter geht, dann wird sich die Arena zügig in ein Schlammfeld verwandeln. Wer weiß, was dann erst passiert… „Dann bleibt uns nur der Weg nach vorne“, sage ich an Pon gewandt. Dieser nickt zustimmend. „Zum Berg“, stimmt er mir mit kritischem Gesichtsausdruck zu. Auch er scheint nicht sonderlich angetan zu sein von der Idee, auf den scheinbar unbezwingbaren Berg zu flüchten. Doch was bleibt uns anderes übrig? Also setzen wir uns wieder in Bewegung, in Richtung Berg, oder zumindest in die Richtung, in der wir den Berg vermuten. Denn dunkle Wolken haben sich vor die Sonne geschoben, sodass es mir immer noch erscheint, als wäre es nachts, auch wenn ich weiß, dass die Sonne hinter den Wolken scheint. Zumindest, wenn das Kapitol das so programmiert hat, denke ich bissig. Vielleicht aber haben sie die Sonne auch einfach aus ihrem Arenaprogramm gelöscht? Der heftige Regen gibt sein Übriges dazu, damit die Orientierung noch schwerer wird. Die engstehenden Bäume mit ihren hageren Ästen, die quer über den Weg gewachsen sind, sehen aber auch alle gleich aus! Missmutig drücke ich einen dünneren Ast aus dem Weg, damit Pon und ich passieren können, doch augenblicklich schnellt dieser zurück. Ein brennender Stich durchzuckt mich und ich fasse mir an die Wange. Rote Tropfen schimmern auf meinen Fingerspitzen, doch diese werden fast augenblicklich von dem Regen fortgespült, bis keine Spur meines Blutes mehr bleibt, als wäre es nie dagewesen. Missmutig ducke ich mich unter dem Ast hindurch, immer darauf bedacht, dass Pon mir noch folgen kann. Mehrmals werfe ich einen Blick zurück, doch Pon ist jedes Mal noch da, obwohl ich immer mit dem Gegenteil rechne. Anscheinend ist mir das Glück endlich einmal wieder wohlgesonnen. Doch diese glückliche Erkenntnis hält nicht lange an:   Ein unerwarteter Widerstand lässt mich straucheln. Wild mit den Armen rudernd versuche ich noch, mich zu halten, doch dann falle ich der Länge nach hin, einmal mehr. Aber was dann passiert, enthält sich jeglicher Fantasie. Mit einem festen Ruck zieht etwas an meinem Fuß! Bestürzt schreie ich schrill auf und werfe mich herum. Fest um meinen Fuß ist eine ledrige Ranke geschlungen. Die Hände in der aufgeweichten Erde abstützend, versuche ich, mich fortzuziehen, doch die Ranke hält mich fest. Panisch zerre ich an meinem Fuß, doch es ruckt nur und die Ranke zieht ihre Schlinge enger. Fassungslos muss ich mit ansehen, wie ein Ruck durch die Ranke geht und ich ein Stück näher gezogen werde – aber an was? Vor mir erhebt sich lediglich der Baum, dessen Ast ich eben noch zurückgeschlagen habe. Doch da erkenne ich es: Aus den Wurzeln dieses Baumes sind lebendige Ranken geworden, solche, wie sich eine um meinen Fuß windet. Gerade noch rechtzeitig kann ich mein Bein fortziehen, ehe eine weitere Ranke sich um mich wickeln kann. Auch Pon weicht einige Schritte zurück, Panik steht in seinem Blick, er hat die Augen weit aufgerissen. In seinem Rücken sind bereits die nächsten Bäume… deren Kronen sich jetzt ebenfalls in Bewegung setzen! „PON!“, schreie ich, die Fingernägel in die Erde bohrend, um nicht weggezogen zu werden. „LAUF!“ Warnend blicke ich ihn an. Er darf es bloß nicht wagen, dieses Mal nicht zu gehorchen. Denn sonst ist es zu spät! Die ganze Baumkrone des Baumes in seinem Rücken biegt sich nach hinten durch, wie Shine, als sie zu ihrem finalen Schlag ausgeholt hat. „LAUF, BITTE!“ Gerade noch rechtzeitig stürzt Pon sich von dannen, läuft so schnell er kann vor dem Baum zurück, dessen Äste jetzt mit einem Krachen auf das Fleckchen Erde peitschen, wo er eben noch stand. Dennoch bleibt er keine zwei Meter weiter stehen, den Blick auf mich gerichtet. Ich weiß, was er denkt, doch ich will, dass er das Weite sucht. Nie habe ich die Tribute verstehen können, die ihren Verbündeten sagten ‚Es ist schon okay, lass mich alleine, ich komme nach, ich schaffe das‘, denn nie hat es auch nur einer von ihnen geschafft. Doch jetzt, als sich die Ranke unerbittlich fester zieht und mich immer tiefer herab zieht, in das dunkle Reich, das sich mir jetzt unter den Wurzeln offenbart, da verstehe ich es. Es ist zu seinem Besten. „Lauf Pon, bevor sie dich erwischen! Wir treffen uns am Fuß des Berges.“ Gerade noch kann ich mich zu einem Lächeln durchringen. Noch näher bewegen sich die Bäume aufeinander zu, es war also keine Täuschung, dass sich die Bäume immer näher an uns heranbewegt haben. Es fehlt nicht mehr viel, dann ist der Weg sowohl zurück als auch nach vorne abgeschnitten. Die Äste einiger Bäume verflechten sich bereits ineinander, als würden sie sich verbünden. Flehend schaue ich Pon an und tatsächlich wirft er mir einen wehleidigen Blick zu, um dann zu laufen. Ich sehe, wie seine Jacke zwischen den Bäumen verschwindet. Einen erleichterten Seufzer auf den Lippen wende ich mich den Bäumen zu. Nur, weil ich berühmte, letzte Worte zitiert habe, steht es ja noch nicht geschrieben, dass ich sterben werde, schließlich gibt es noch vier andere Tribute, die zwischen Pon und dem Sieg stehen. Noch konnte ich mich ja gar nicht beweisen! Die Zähne zusammengebissen ziehe ich Aramis Messer aus meinem Gürtel. Eines muss ich Nora danken: Ohne sie wäre das Messer jetzt unerreichbar in meinem Rucksack, festgeschnürt auf meinem Rücken. Energisch richte ich mich auf, strecke mich nach meinem eigenen Fuß aus. Mit der einen Hand packe ich die widerliche Wurzel, deren Oberfläche sich entgegen der Erwartungen schleimig anfühlt und mit der anderen setze ich die gezackte Schneide des Messers an. Mit schmerzhaft aufeinander gepresstem Kiefer versuche ich, die Wurzel zu zersägen, doch jetzt offenbart der Schleim seine Wirkung: ohne auch nur die geringste Wirkung zu zeigen rutscht das Messer wiederholt von der Ranke ab. Nicht ein Kratzer bleibt auf dieser zurück. Verdammt! Immer näher werde ich nun an das dunkle Loch herangezogen, welches sich unter den Wurzeln des Baumes versteckt. Ich kann nicht das Geringste ausmachen, was sich darin verbirgt, doch das muss ich auch gar nicht: Es ist ohnehin nur der Tod. Verzweifelt kralle ich mich an der Ranke fest, ziehe und zerre, doch statt sich zu lockern, zieht sie sich nur noch enger um meinen Knöchel. Schmerzerfüllt keuche ich auf und lasse von ihr ab. Als wenn das noch nicht genug wäre, erkenne ich, dass der Weg bereits verschlossen ist. Selbst wenn ich es schaffe, frei zu kommen, so wäre ich dennoch gefangen. Die Äste der Bäume auf der anderen Seite langen ebenfalls mit ihren langen, fingergleichen Auswüchsen nach mir. Einen spitzen Schrei ausstoßen tauche ich unter einem besonders dicken Ast hindurch, der direkt neben mir aufschlägt. Ob Pon es bereits heraus geschafft hat aus diesem grauenvollen Wald? Ich bete dafür. Doch vorerst bleibt mir nichts anderes übrig, als mich wieder der Wurzel an meinem Knöchel zuzuwenden. Mit den Fingernägeln versuche ich, den Schleim abzukratzen, der sie vor meinem Messer schützt, doch auch dies zeigt nur mäßigen Erfolg. Wütend heule ich auf, ergreife das Messer und steche blind auf die Ranke ein. Ein Schmatzen ertönt, als die Klinge durch die Ranke hindurchfährt. „Ahhh…“ Ich beiße die Zähne aufeinander, als ein Schmerz sich in meinem Knöchel ausbreitet. Kurz darauf tritt Blut aus der Stelle aus, wo ich das Messer hineingetrieben habe. Es sieht aus, als würde die Baumwurzel bluten, wie ein lebendiges Geschöpf. Doch es ist mein eigenes Blut. Zu tief ist das Messer durchgedrungen und hat in meiner Wut mich selbst verletzt. Dafür weiß ich jetzt, dass man die Ranke durch Hiebe mit der Messerspitze verwunden kann. Erneut nehme ich das Messer, diesmal mit etwas weniger Kraft, und steche auf die Ranke ein. Tatsächlich gelingt es mir erneut die Ranke wie Butter zu durchschneiden, sogar ohne mich selber zu verletzen. Dort wo die Schneide nichts auszurichten vermag, erweist sich die Messerspitze als sehr hilfreich. Mit einigen weiteren Stichen habe ich die Ranke soweit aufgeschlitzt, dass sie sich nicht enger zieht. Mit den Händen breche ich die nun leblose Wurzel auseinander und befreie meinen Fuß aus der Schlinge. Vorsichtig taste ich über die Wunde an meinem Fuß, doch ich kann nicht sagen, wie tief sie ist. Immer noch tritt Blut aus, doch ich muss das jetzt ignorieren. Sogar der Schuh ist von dem Messer an dieser Stelle durchtrennt worden, solche Wucht hatte mein Hieb. In Ermanglung besserer Mittel ziehe ich die Socke über die Wunde, sodass diese verdeckt ist. Einen Schmerzensschrei unterdrückend stehe ich schließlich auf und ziehe noch im gleichen Schritt den Speer aus seiner Halterung. Damit schlage ich die sich nähernden Äste aus dem Weg. Langsam humpele ich auf den Ausgang zu, oder besser gesagt das, was davon übrig ist. Die Bäume haben sich bereits eng umschlungen und alles, was noch davon zeugt, das dort einst ein Weg war, ist das kleine Loch zwischen den Ästen, durch das man auf den dahinterliegenden Weg schauen kann. Einmal atme ich noch tief ein, dann erhebe ich meinen Speer und stürze mich auf die beiden Bäume, die meinen Weg versperren. Mit der Spitze des Speeres drücke ich die Äste fort. Nicht alle lassen sich beiseiteschieben, doch diese die bereits fest verwachsen erscheinen, kann ich mit der Speerspitze und einem gezielten Hieb voneinander trennen. So schaffe ich es tatsächlich, den Ausgang wieder zu vergrößern. Noch bevor die Äste sich wieder zurück schieben können, oder die zu neuem Leben erwachten Wurzeln mich erreichen, zwänge ich mich zwischen den Ästen hindurch. Einige der Äste scheinen zu versuchen, mich festzuhalten, doch wie im blinden Wahn reiße ich an ihnen, bis sie mit einem trockenen Krachen bersten und ich taumle auf der anderen Seite hinaus. Aber auch hier sind die Bäume bereits zum Leben erwacht, mit lautem Donner schlagen die Baumkronen auf den Weg. Den Speer abwehrend erhoben widme ich mich dem Lauf, dann trete ich auf meinen verletzten Fuß auf. Fast augenblicklich schießen mir die Tränen in die Augen vor Schmerz, doch ich blinzle sie hektisch weg. Nicht jetzt! Geduckt laufe ich unter den Bäumen hervor, springe über am Boden liegende Äste und schlage wenn nötig mit dem Speer nach ihnen. Haare und Kleidung verfangen sich in dem widerspenstigen Astgewirr, doch ich halte nicht an, laufe immer weiter, egal ob das Geräusch reißenden Stoffes ertönt oder mir die Haare mit einem Ziepen ausgerissen werden. Ich will nur eines: Raus aus diesem tödlichen Wald! Erneut nähern sich mir Zweige von hinten. Mit beiden Händen umklammere ich den Speer. Eine simple Bewegung später ist dieser weg. Ungläubig muss ich mit ansehen, wie der Speer von den Zweigen umklammert wird, dichter in ihr Gewirr gezogen wird um dann mit einem Knacken in zwei Teile zu brechen. Dies ist wohl nur der Vorgeschmack auf das, was diese Bäume mit mir anstellen würden, wenn sie mich in die Finger bekommen. Ohne zurück zu schauen laufe ich hastig weiter, jetzt nichts außer meinen Armen zum Schutz gebrauchend.   Irgendwie schaffe ich es aber tatsächlich, auch vor diesen Bäumen zu fliehen. Während sich der Wald hinter mir mit einem Rascheln immer enger zieht, öffnet sich vor mir eine breite Schneise, auf die die Bäume noch nicht vorgedrungen sind, doch es ist bereits zu erkennen, dass sie sich langsam in Bewegung versetzen. Doch der wahre Lichtblick wartet am Ende der Schneise, denn von dort her leuchtet das schwache Tageslicht. Sogar den Regen würde ich jetzt begrüßen, zusammen mit dem dämmrigen Licht. Alles ist besser, als diese Hölle bevölkert von schwarzen, blattlosen Bäumen. Nur etwas gibt es jetzt noch, was zwischen mir und dem Tageslicht steht: Es ist Pon. Nur wenig vor mir stolpert auch er auf den Ausgang zu! Erleichtert, dass er es bis hierher tatsächlich geschafft hat, den todbringenden Bäumen zu entkommen, hole ich zu ihm auf. Zaghaft lege ich ihm meine Hand auf die Schulter. Erst zuckt er zusammen, doch als er sich umdreht, wandelt sich sein panischer Gesichtsausdruck in Freude. „Du hast es geschafft!“ Ebenso begeistert nicke ich. „Ja! Komm, wir müssen hier fort!“ Wie um meine Aussage zu unterstreichen schlägt in diesem Moment ein gewaltiges Bündel aus Ästen und Zweigen neben uns ein. „Hier!“, sagt Pon, während er mir seinen eigenen Speer reicht. Zum Dank nicke ich, dann schlage ich einen Zweig aus dem Weg, der sich in unsere Richtung schlängelt. Ein kleines Lächeln aufgesetzt reiche ich Pon meine Hand. „Gemeinsam.“ So laufen wir Hand in Hand durch die Schneise hinaus in die Freiheit. Atemlos stolpere ich mit Pon aus dem Wald, doch weit komme ich nicht, denn meine Haare haben sich an einem der Äste verfangen. Mitten im Lauf reißt es mich voller Wucht zurück. Alles Ziehen und Zerren von meiner Seite ist vergebens, und auch wenn Pon zurück zu den Bäumen möchte, um mich zu befreien, will ich dies nicht zulassen. Schmerzlich blicke ich auf mein langes Haar, wie es von dem letzten Baum festgehalten ist. Wenn es dies ist, was mich vom Leben trennt, dann soll es so sein! Kurzerhand ergreife ich das Messer und ziehe es durch meine Haare. Wenige Schnitte reichen aus, dann bin ich frei. Außer meinem Speer und einem Stück meiner Haare muss ich glücklicherweise nichts in diesem Wald zurücklassen. Ohne meinen Haaren nachzutrauern reiche ich Pon wieder die Hand und gemeinsam laufen wir im Laufschritt fort von dem Wald, bis wir den ersten Ausläufer des gewaltigen Berges erreichen und der Wald so weit in der Ferne ist, dass er nicht mehr als eine schwarze Wand bildet. Für das Erste scheint es, als wären wir der Gefahr entkommen. Schwer atmend drücke ich meine Hände in die Hüften und versuche, wieder zu Luft zu kommen. Dabei lege ich staunend den Kopf in den Nacken. Jetzt, wo ich erstmals so nah vor dem Berg stehe, erscheint er mir noch viel größer. Bis in die künstlichen Wolken der Arena hoch erhebt er sich. Direkt vor uns fängt der Boden an, sich zu erheben und in wenigen Metern Entfernung ist zu erkennen, wie das bräunliche Gras immer weniger wird. Statt des Grases besteht der Weg nun zum größten Teil aus Stein. Tatsächlich erscheint das, was sich vor uns erstreckt, wirklich wie ein Weg: Einer sanften Steigung folgend windet sich der Pfad, der Platz für eine kleine Personengruppe bietet, um die rechte Bergflanke herum. „Anscheinend wollen sie, dass wir da hochsteigen“, sage ich an Pon gewandt. „Dann lass uns dem Ruf des Berges folgen“, meint dieser fröhlich. Bevor wir uns an den Aufstieg machen, möchte ich jedoch zuerst meinen Fuß verbinden. Ich weiß es nicht mehr, aber es besteht die Chance, dass sich zwischen dem, was wir von den Suchern gestohlen haben, etwas Verbandsmaterial befindet. Also lasse ich mich auf einem Stein nieder, während ich meinen Rucksack durchwühle. Das meiste unserer Beute sind Essensvorräte, doch nach einigem Wühlen kann ich zwischen luftdicht verpackten Kräckern, Energiekapseln und Angelhaken eine verpackte Zeltplane finden. Besser als nichts, denke ich mir und entfalte diese. Dank Aramis Messer gelingt es mir, eine passable Ecke aus dem dünnen, beschichteten Stoff herauszuschneiden. Das Einzige Hindernis ist der Weg, aus dem Schuh zu kommen, denn sobald ich meinen Fuß strecke, verspüre ich ungeheure Schmerzen. Zudem fließt immer noch Blut aus dem Schnitt. Besorgt betrachtet Pon das Schauspiel. Wenigstens der Regen hat jedoch aufgehört, sodass die Plane nicht sofort durchnässt wird. Zwar hängen immer noch dunkelgraue Wolken am Himmel, doch vereinzelte Sonnenstrahlen erhellen mittlerweile die Arena. Fluchend versuche ich derweil, den Schuh vom Fuß zu bekommen, doch dieser ist wie angewachsen. Ohne, dass ich meinen Fuß schmerzhaft verrenke, werde ich diesen wohl nicht mehr loswerden. Geschlagen seufze ich. „Pon, könntest du bitte…“, frage ich ihn, unglücklich auf meinen Fuß deutend. Dieser zeigt ein mitleidiges Lächeln und zieht kurzerhand mit einem Ruck den Schuh vom Fuß. Mit zusammengekniffenen Augen und der Hand vor dem Mund schaffe ich es auch tatsächlich, nicht zu schreien. Da die Socke ebenfalls in arge Mitleidenschaft gezogen wurde, entledige ich mich auch dieser und beschränke mich darauf, meinen Fuß nur mit der Zeltplane zu umwickeln. Doch bevor ich die Wunde bedecken kann, sagt Pon: „Halt. Lass mich mal sehen.“ Interessiert beugt er sich über meinen Fuß. „Du hast Glück, die Wunde ist zwar tief, aber sauber“, attestiert er mir. „Wenn du den Verband stramm genug ziehst, sollte das kein Problem darstellen.“ Aufmunternd lächelt er mich an, doch ich bringe nicht mehr als ein grimmiges Grinsen zustande. „Woher kennst du dich damit so gut aus?“, frage ich, während er ein wenig Wasser über die Wunde kippt, was mir unweigerlich ein scharfes Zischen entweichen lässt. „Ach, ein paar Mal war ich nachmittags an der Station für Wundversorgung. Die du so ziemlich ausgespart hast“, merkt er amüsiert an. Mit wenigen, raschen Bewegungen hat Pon schließlich meinen Fuß mit der Plane notdürftig bandagiert und ich steige zurück in den Schuh, aber nicht, bevor ich mich bedankt habe: „Danke für den Verband, Kleiner.“ Sein stolzes Grinsen hellt sein Gesicht auf und ich verspüre das Gefühl, dass jetzt alles ein wenig besser werden kann, wo wir einander haben, ich ihn beschützen kann. „Hier, das gehört dir.“ Mit diesen Worten reiche ich ihm den Speer, doch er schüttelt nur den Kopf. „Nimm ihn, du bleibst ja jetzt bei mir!“ Gerührt von diesen lieben Worten lächle ich. „Aber natürlich tue ich das.“ Das ist der Moment, in dem erneut der Klang der Kanone ertönt. Bumm schallt es über die Arena hinaus. Den Atem angehalten warten wir auf weitere Töne, doch dieser Kanonenschlag bleibt der Einzige. Es ist der Erste, bei dem ich nicht vor Angst um Pon fast sterbe, denn dieses Mal steht er äußerst lebendig neben mir. Dieses Mal hoffe ich, dass es Shine gegolten hat. Vielleicht hat der Wald ja doch noch ein Opfer gefordert… Nachdem wir uns von dem Schrecken der Kanone erholt haben, machen wir weiter, als wäre nichts geschehen.   Ich raffe meine wenigen Sachen wieder zusammen und wir machen uns an den Aufstieg. Schweigend folgen wir dem Pfad, der wie von der Natur gemacht erscheint. Doch natürlich ist all dies das Werk des Kapitols, was ich mir immer wieder in den Kopf rufen muss. Jetzt, wo es so friedlich ist, macht es gleich viel weniger den Eindruck, als sei dies der Schauplatz von Mord und Tod. Dennoch bleibe ich wachsam, halte Ausschau nach Shine oder anderen Tributen, die sich hinter jedem Fels verbergen können um uns in einen Hinterhalt zu locken. Pon erscheint mir da wesentlich sorgloser, wie er ohne Waffe den Berg erklimmt. Er hält nicht einmal großartig Ausschau nach Feinden! Dies bestätigt mich nur darin, dass meine Gründe ihn zu beschützen wollen, gerechtfertigt sind. Gen Nachmittag erreichen wir ein Plateau an der Westseite des Berges. Mittlerweile hat die Sonne den Kampf gegen die Wolken gewonnen und spendet uns ihr Licht, wenn auch nur spärlich. In der Ferne sind immer noch die Wolken zu sehen, die sich zusammenbrauen. Ganz sicher wird es noch ein fürchterliches Unwetter geben, wie das gestrige. Besser, wir sind dann nicht im Freien. Allerdings sind wir beide ausgelaugt und müde, haben wir doch kaum geschlafen und der Kampf gegen die Bäume hat sein Übriges getan. Also entscheiden wir uns, hier zu rasten, da weit und breit keine Menschenseele zu sehen ist. Meinem Augenmaß zu urteilen nach sind wir bereits in einige Höhe gekommen, wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen um die hundert Meter. Von hier oben kann man einen Großteil der Arena überblicken. Unter uns sehe ich den Wald, der sich wie ein bedrohlicher Ring um den Berg schiebt. Dort, wo wir heute Morgen waren, kann man eindeutig sehen, wie eng die Bäume sich zusammengeschoben haben. Sogar die Risse von den Erdbeben kann man von hier oben noch als schwarze Linien erkennen, die das Land durchziehen. Ganz oben in den Bergen glitzert zudem der See, den ich bereits am ersten Tag in der Arena entdeckt habe. Allerdings ist er so weit weg, dass wohl kein Tribut ihn je erreichen könnte. „Also“, sage ich, während ich in meinem Rucksack wühle, „als Mittagessen stehen dir zur Auswahl: Kräcker, Kräcker oder Kräcker!“ Ich zwinkere Pon zu und ziehe einige Packungen des luftdicht verpackten Essens hervor. Das Meiste des Essens sind die trockenen Kekse, die Aramis und ich schon immer gegessen haben. Daneben finde ich noch einige Streifen von Trockenfleisch und sogar eingelegte Gurken, die Pon und ich uns als Besonderheit teilen. „Besser Kräcker als hungrig sein!“, kommentiert Pon das Ganze und reißt eine der Verpackungen auf. Für eine Weile ist nichts außer unserem Schmatzen zu hören, bis Pon die Stille durchbricht: „Ich muss dir ja noch meine Geschichte zu Ende erzählen!“ Neugierig höre ich auf zu Kauen und wende mich ihm zu. Welche Dramen er wohl in der Arena miterleben musste? Gespannt beuge ich mich vor und warte darauf, dass er anfängt, zu erzählen. „Also, ich wurde am Füllhorn von Victoria gerettet. Sie brachte mich mit einigen anderen Tributen zusammen, mit Jack, Dean und Charlott.“ Mit großen Augen höre ich ihm zu. Sogar die Namen von ihnen kannte er. Mir wird klar, dass das Mädchen, welches Aramis getötet hat, Charlott gewesen sein muss. Ein Mädchen, mit dem Pon augenscheinlich verbündet gewesen war, das er vielleicht sogar gemocht hat. Bei dem Gedanken daran fühle ich mich schlecht, doch bevor meine Gewissensbisse überhand nehmen können, fährt Pon fort: „Wir gründeten ein Bündnis, wie die Karrieros, da Vic, wie wir sie nannten, es ihnen heimzahlen wollte. Alle zusammen schafften wir es, den Karrieros noch während des Blutbades einige Sachen zu stehlen. Mit diesen bauten wir unser eigenes Lager auf. Allerdings dauerte es nicht lange, und die Karrieros erfuhren von unserem Bündnis. Sie suchten nach uns, fanden uns jedoch nicht sofort. Auf einer meiner täglichen Patrouillen um das Lager herum, lief ich zufällig Shine in die Arme.“ Kaum, dass ich diesen Namen vernehme, läuft mir ein eisiger Schauer über den Rücken. „Du bist Shine begegnet?“ Meine Stimme schwankt, als ich dies sage. Wie kann er ihr begegnet sein, und noch leben? „Ja. Ich erklärte, ich hätte sie gesucht, um ihrem Bündnis beizutreten, damit sie mich nicht tötet. Sie durfte nicht wissen, dass ich eigentlich einem anderen Bündnis angehörte. Da wir ja im Training zusammen trainiert hatten, akzeptierte sie das auch und nahm mich mit. So wurde ich zu einem Karriero. Deshalb war ich da, als du und deine Verbündete ankamen um die Karrieros zu überfallen. Eigentlich wollte ich nur spionieren, doch dann habe ich die Chance ergriffen und bin geflohen, bevor sie mich vielleicht doch noch töten konnten.“ Mit diesen Worten endet Pons Erzählung. Obwohl ich erleichtert bin, dass er nicht ernsthaft Mitglied des Karrierobündnisses war, wie ich befürchtet hatte, so macht es mich doch nicht glücklich, zu wissen, dass er eigentlich zu den Suchern gehört, die die Arena auf ihre Weise terrorisierten. Nicht zuletzt bleibt das nagende Gefühl, dass ich Pon nur knapp verpasst hatte. Denn als wir die Sucher ausspähten, war er schon bei den Karrieros. Fast hätten wir einander eher gefunden, dann wäre sicherlich alles anders gekommen. Ich seufze. „Und jetzt suchst du diejenigen, die übrig geblieben sind?“ Er nickt. „Ja, es war ein gutes Bündnis und Vic ist sehr lieb!“, verteidigt er seine ehemaligen Verbündeten, „Ich hoffe nur, der Kanonenschlag war nicht ihrer oder Deans“, setzt er mit traurigem Blick hinzu. Ich bin froh, dass er nicht weiß, dass ich es war, die gemeinsam mit Aramis eine seiner Verbündeten überfallen habe, gerade jetzt als er mit bedauerndem Blick sagt: „Leider sind Charlott und Jack ja schon tot. Jack starb in einer Steinlawine ganz am Anfang und bei Charlott weiß ich es nicht einmal, weil ich da gerade mit Shine geflüchtet war…“ Es kostet mich zwar viel Kraft, doch ich sage nichts, sondern nicke lediglich teilnahmsvoll. Pon wird noch früh genug erfahren müssen, warum Charlott sterben musste. Spätestens, wenn er gesiegt hat und seine Wiederholung der Spiele anschaut. So jedoch schweige ich zu diesem Thema. Ebenso wie ich keine aufmunternden Worte für ihn finden kann, da es mir beinahe gleichgültig ist, wem dieser Kanonenschlag gegolten hat. Auch, wenn er für Victoria oder Dean bestimmt war. „Also, ich habe zwar noch viele Fragen, aber wir sollten erst einmal einen Unterschlupf für die Nacht finden“, erkläre ich stattdessen mit Fingerzeig auf die untergehende Sonne. Gemeinsam beseitigen wir alle Zeichen dessen, dass wir hier gemeinsam gegessen haben und machen uns dann wieder auf den Weg. Pon scheint noch in Gedanken versunken zu sein, zumindest hält er den Kopf gen Boden gerichtet und tritt immer wieder die Steinchen aus dem Weg. Klimpernd hüpfen diese über den Boden und springen schließlich über den Abgrund in die Tiefe. Ein Steinchen jedoch kickt Pon in die andere Richtung. Es kullert auf die massive Bergwand zu unserer Linken zu, doch statt mit einem hellen ‚Ping‘ von dort zurück zu springen, verschwindet es geräuschlos dort. Als letztes hören wir eine dumpfes ‚Klong‘, dann ist alles ruhig, nicht erinnert mehr an das Kieselsteinchen. Verwundert gehe ich zu der Stelle vor, an der das Steinchen spurlos verschwunden ist. „Annie, sei vorsichtig“, höre ich Pon von hinten wispern, doch ich bedeute ihm lediglich mit einer Handbewegung, hinter mir zu bleiben. Während ich mich der Bergwand nähere erkenne ich langsam, dass das, was ich für einen dunklen Schatten an der schroffen Wand hielt, eine schmale, niedrige Öffnung ist. Schaut man frontal darauf, so ist sie kaum wahrzunehmen, doch von der Seite kann ich sie ausmachen. Die Öffnung reicht mir gerade einmal bis zur Brust, doch erscheint sie mir gerade breit genug, um hinein zu passen, wenn ich mich bemühe. „Das ist eine kleine Höhle!“, sage ich aufgeregt. Pon jedoch scheint nicht sonderlich euphorisch zu sein, sondern kräuselt die Augenbrauen. „Was, wenn uns da dasselbe passiert wie im Wald?“ Abwägend blicke ich in den dunklen Eingang. Sicherlich, er hat etwas von dem Loch unter den Baumwurzeln heute, aber kann dieser Berg zum Leben erwachen? „Unwahrscheinlich“, erwidere ich. „Zweimal dieselbe Falle, das habe ich noch nie gesehen.“ Mit diesen Worten schwinge ich mich in die Höhle, die Beine voran. Einen kurzen Fall später lande ich mit einem gedämpften ‚Plumps‘ auf dem Fußboden der Höhle, was einen elektrisierenden Schmerz durch mein Bein schießen lässt. Ein spitzer Schrei entweicht mir und panisch höre ich Pon rufen: „Annie? Alles okay?“ Ein kurzer Blick in das Höhleninnere bestätigt mir jedoch, dass hier alles in Ordnung ist. Sie ist gerade groß genug, dass drei Personen hineinpassen würden, es gibt keine weiteren Gänge, die weiter in das Innere des Berges hineinführen, nur diesen kleinen, fast schon kuscheligen Raum. „Alles gut, hier scheint es mir sicher zu sein!“, rufe ich nach draußen. Etwas zögerlich folgt mir nun auch Pon, den ich auffange, bevor er sich wehtuen kann. Rumpelnd landen wir durch die Wucht des Aufpralles beide am Boden, was uns ein Lachen entlockt. „Siehst du, alles gut“, versuche ich ihn aufzumuntern. „Hier sind wir sicher vor dem Regen.“ Wir lassen uns in der hinteren Ecke der Höhle nieder, das Kinn auf die Knie gelegt. Es ist fast so, wie damals, als wir noch im Zug in Richtung Kapitol waren. Jetzt ist alles anders, jetzt sind wir zwei unter den letzten fünf in der Arena der siebzigsten Hungerspiele. Drei noch stehen dem Ziel im Weg. Mit geschlossenen Augen, den Kopf gegen die kühle Felsenwand gelehnt frage ich: „Wer ist Victoria eigentlich?“ Einen Moment lang herrscht Schweigen, als wenn Pon überlegen müsste, wo er anfangen soll, dann erzählt er: „Sie ist gut. Hat mich gerettet und ein Bündnis aufgestellt, sodass wir alle eine Chance hatten. Zu uns war sie wirklich nett, hat immer gelacht und Späße gemacht. Abends haben wir zusammengesessen und viel Spaß gehabt, am Lagerfeuer. Sie gehört nicht zu denen, die töten, weil es ihnen so viel Freude macht. Aber sie hat gesagt, nur wir hätten es verdient, diese Spiele zu gewinnen…“ „Hm“, brumme ich. So wie Pon sie beschreibt, hätte ich sie mir nicht vorgestellt. Nur einmal habe ich sie gesehen, als ich mich ganz zu Anfang der Spiele hinter einem Baumstamm verstecken musste. Da kam sie mir herrisch vor und ganz und gar nicht lustig oder nett. Wenigstens weiß ich jetzt ihren Namen – Victoria und nicht mehr nur Mädchen aus sieben. „Meistens hat sie mich zwar nur das Lager bewachen lassen, aber sie hat trotzdem immer gesagt, dass ich stark bin“, murmelt Pon. „Ich bin doch stark, oder?“ Verwundert blicke ich auf ihn herab, wie er sich so an meine Schulter lehnt, doch ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. „Natürlich.“ „Kannst du trotzdem dein Lied für mich singen?“ Wir blicken einander an. Zaghaft gähnt Pon und ich nicke. „Ja“, flüstere ich, „so wie damals.“ Tief unten, Im Meer, Im bunten Riff, Wer lebt dort wohl? Es ist die kleine Meerjungfrau In ihrem Muschelsplitterhäuschen Sieh, Wie sie mit den Wellen schwimmt Mit den Wellen schwimmt Hör, wie lieblich sie singt Sie singt Ein kleines Wunder sie ist Sieh, Wie ihr Haar schimmert Ihr Haar schimmert Hör, Wie klar ihre Stimme ist Ihre Stimme ist Ein kleines Wunder sie ist Tief unten, Im Meer, Im bunten Riff, Dort lebt die kleine Meerjungfrau Sie schwimmt mit den Wellen Mit den Wellen Ewig. Als ich aufhöre zu singen, ist Pon eingeschlafen und kann nicht mehr Slays Gesicht sehen, was am heutigen Abend den Himmel bedeckt. Das Bündnis der Karrieros ist zerbrochen. Counter: 8 Tage, 22 Stunden, 27 Minuten// Tote:19// Lebende: 5 ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)