Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 34: Das Festmahl der Raubtiere -------------------------------------- Das Festmahl der Raubtiere - Neunundzwanzigstes Kapitel * Counter: 8 Tage, 1 Stunde, 3 Minuten// Tote:16// Lebende: 8 Ein harsches Knacken im Geäst ist es, das mich aus meinem wenig geruhsamen Schlaf aufschrecken lässt. Ich erinnere mich  nicht einmal, richtig eingeschlafen zu sein, vor allem wegen der Furcht vor dem, was durch die Nacht streifen könnte. Tribute, Berglöwen… Dazu noch die Ankündigung des Festmahls – nein, heute Nacht ist Vorsicht das Gebot der Stunde. Doch nun bin ich mit einem Schlag wach und öffne blinzelnd die Augen. Um mich herum ist alles dunkel und nur vom Mond beschienen, lediglich ein paar Schemen zeichnen sich ab, doch das genügt, und fast augenblicklich taste ich nach dem Messer an meiner Hüfte und schließe meine Finger um den metallenen Griff. Im Zwielicht kann ich Nora ausmachen, die nur knapp einen Meter von mir entfernt auf dem Boden kauert, zu einer Kugel zusammengekauert. Sie trägt ihre Jacke und hat selbst die Kapuze aufgesetzt, sodass ihr Gesicht im tiefsten Schatten liegt. Das Einzige, was aus der Dunkelheit hervorsticht, sind ihre Augen, die weit aufgerissen sind, ob aus Angst oder Überraschung, kann ich nicht sagen. Kein Wort kommt über ihre Lippen, als sie sieht, dass ich wach bin. Die Hand am Messer drehe ich mich um, doch kein Karriero steht mit dem Schwert hinter uns, bereit den finalen Schlag auszuführen. Etwas verwirrt frage ich mich, was Nora des Nachts dazu bewogen hat, durch die Gegend zu huschen. Doch vielleicht hat sie sich wie ich geirrt? Ich drehe mich wieder um, doch sie hockt immer noch da und jetzt sehe auch ich es, klar und deutlich: In ihrer Hand schimmert eine bleiche Klinge, tödlich gezackt. Fest umklammert sie den Griff, doch ihre Hand zittert, unmerklich, doch sie tut es. Schweigen herrscht zwischen den Bäumen, als wir einander mustern. Im fahlen Schein des Mondes verzieht sie das Gesicht, beißt sich grimmig auf die Unterlippe. Dann: Mit zusammengebissenen Zähnen wirft sie mir die Klinge vor die Füße. Ich erkenne, dass es eines von Aramis Messern ist, das mit der grob geriffelten Klinge, welches sie mir kurz vor ihrem… Tod in den Rucksack gesteckt hat, damit nicht alles fort ist, sollten wir einen Rucksack verlieren. Fassungslos blicke ich das Messer an, wie es dort schimmernd vor meinen Füßen liegt. Warum hatte Nora es? Ich weiß es, es ist doch klar, wie sie an das Messer gekommen ist, doch noch habe ich es nicht wirklich realisiert. Sie hat es aus dem Rucksack genommen, aber… wozu? Es gibt keine Bedrohung. „Da ist niemand, wir sind sicher“, sage ich besänftigend. Doch Nora ballt nur eine Hand zur Faust und schlägt auf den mit Gras bewachsenen Boden. Kein Geräusch ist zu vernehmen, während sie auf ihre in den Boden gebohrte Faust starrt. Trocken schluchzt sie auf, hebt den Kopf wieder, aber diesmal ist ihr Blick anders, nicht mehr überrascht, oder verängstigt, nein, sondern wütend. Rau fängt sie an zu sprechen: „Ich hasse dich.“ Einen Schlag lang setzt mein Herz aus. „Warum fürchte ich dich?“ Unglücklich verzieht sie ihre Mundwinkel nach unten. Was soll ich tun? Mit der Hand am Boden abstützend schiebe ich mich an dem Baum in meinem Rücken hoch, ziehe die Beine unter meinen Körper. Nora starrt nur auf ihre Hände, die sie verkrampft vor ihr Gesicht hält. Möglichst leise, um kein Geräusch zu erzeugen, ziehe ich das Messer aus dem Gürtel. Wird sie mich gleich attackieren? Plötzlich ist sie über mir, unsere Gesichter ganz nah beieinander. Beinahe kann ich die einzelnen Einsprengsel in ihren Augen erkennen. „Erledigen sollte ich dich…“, faucht sie, dann wendet sie den Blick wieder ab. Pochenden Herzens halte dich das Messer vor meine Brust, abwehrend. Mit dem Ärmel wischt Nora sich über die Augen, als würde sie Tränen fortwischen. Sie lässt sich auf den Boden fallen, das Gesicht in die Hände vergraben, doch fängt nicht an, laut zu weinen. Ich schlucke, während Nora nur hilflos die Schultern hochzieht, noch immer schweigend. „Ich sollte besser gehen“, murmelt sie jetzt leise, das Gesicht erhoben. Nickend entgegne ich: „Ja…“ Stumm mustern wir uns noch einen Moment, ich sehe wie Nora verlegen auf ihre Hände schielt, ihre ganze Wut ist augenscheinlich verflogen. Es scheint, als würden viele widersprüchliche Emotionen in ihr spielen. Selber wage ich es nicht mehr, etwas zu sagen, wüsste ich doch auch nicht was. Schließlich steht sie schnurstracks auf und verschwindet, bevor mir noch etwas Kluges einfallen kann, zwischen den Bäumen. Zögerlich hebe ich das Messer auf, drehe es zwischen den Fingerspitzen. Nora hat versucht, mich umzubringen. Unglaublich. Eine Erinnerung an die Nora, die mich im Trainingscenter angelächelt hat, kommt mir wieder in den Sinn. Sie war so unbeschwert, selbst bei ihrem Interview. Wie ich mein schmutziges und zerkratztes Gesicht in der Messerklinge betrachte, erinnere ich mich an das gelbe Kleid, das sie trug. Auf die Fragen Caesars reagierte sie mit einem herzlichen Lachen, sie machte Scherze mit dem Publikum, wickelte sie um den Finger. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, dann habe ich sie immer als einen der Tribute betrachtet, die ohne Sponsoren keine Chance haben. Lieb, nett, vertrauenswürdig, das alles sind Worte, mit denen ich Nora beschreiben würde, auch wenn ich sie nicht wirklich kenne, wie ich gerade gemerkt habe. Doch es gibt nur noch Acht von uns – natürlich will auch sie zurückkehren, jetzt, da der Sieg tatsächlich immer greifbarer erscheint. Der Sieg… Wir können sogar ein Gut erlangen, um diesem wieder einen Schritt näher zu kommen. Eilig springe ich auf, schiebe Aramis Messer in meinen Gürtel und raffe mein weniges Hab und Gut zusammen. Die Bewegungslosigkeit ist verflogen. Nur noch Acht, denke ich, die Chance, dass Pon es schaffen kann wird immer größer! Die Strapazen der bisherigen Tage sind vergessen, voller Tatendrang verlasse ich meinen Schlafplatz und laufe los. Ich muss Pon finden! Doch vorher sollte ich noch jemand anderes finden. Maylin. Während ich so durch die Nacht laufe, kann ich mich der Gedanken an Nora dennoch nicht erwehren. Immer wieder versuche ich zu ergründen, warum Nora mich auf einmal töten wollte. Sicher, es gibt das Festmahl und anscheinend ist bisher noch niemand getötet worden, aber waren wir nicht so etwas wie Kameraden? ‚Verbündete bedeuten in der Arena nichts liebe Annie.‘ Ambers pessimistische Worte hallen in meinen Gedanken nach. Nora und ich, wir waren nicht einmal Verbündete. Vermutlich hätte sie ihre Chance genutzt, wäre ich nicht wach geworden. Erst jetzt realisiere, wie stark mein Herz klopft. Gerade bin ich nur knapp dem Tode entronnen! Atemlos lenke ich meinen Blick gen Himmel. Ich kann mir fast schon ausmalen, wie mein Gesicht dort oben erscheint, in Übergröße. Meine Füße verfangen sich in einer Wurzel und ich schlage der Länge nach hin. Das Blut in meinen Ohren rauscht wie das Meer. Und immer wieder taucht dieser eine Gedanke auf: Ich hätte tot sein können! Auf dem Boden liegend kommen mir die heißen Tränen, die meine Wangen herablaufen und in der Erde versickern. Von dieser Erde ausgelöscht zu sein, das will ich nicht. Die Angst um mein Leben holt mich ein, aber auch die um Pon. Mein Ziel, das darf ich nicht verraten! Ich richte mich auf, das von Tränen feuchte Gesicht gen Himmel gerichtet. Es ist keine Zeit, mich selber zu bedauern. Wie ich hätte sterben sollen, so soll jetzt Maylin sterben. Ich werde nicht einmal nachfragen, wieso. Ich will einfach nur noch, dass es vorbei ist. Wenn dafür Maylin sterben soll, so ist es mir recht und billig. Ich wusste, dass dieser Moment kommen würde, der Moment, in dem ich für mein Ziel töten muss. Töten, was ein hässliches Wort. Ich richte mich wieder auf, ziehe den Speer aus seiner Schlaufe und nehme ihn fest in beide Hände. Großen Schrittes mache ich kehrt und laufe zurück – in Richtung des Lagers der Karrieros. Die Stille der Arena ist undurchdringlich, lediglich meine dumpfen Schritte sind zu hören. Immer wieder halte ich an und lausche, doch nichts dringt durch die Stille. In einem schmalen Sicherheitsabstand umrunde ich mein ehemaliges Nachtlager mit Nora, sollte diese zurückgekehrt sein. Selbst wenn ich den Entschluss gefasst habe, mich Maylin endlich zu stellen, so heißt das nicht, dass ich bereit bin, Nora zu töten. In meinen Gedanken wird sie einfach immer die lächelnde junge Frau aus Distrikt fünf bleiben. Niemals könnte ich ihr etwas antun. „AAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!“ Über die Ebene hallt ein markerschütternder Schrei, ein weiblicher Schrei. Es klingt, als sei jemand in einen Hinterhalt geraten. Abrupt halte ich inne, doch auf den Schrei folgt nichts als bleierne Stille. Selbst mein eigener Atem erscheint mir viel zu laut, während ich auf irgendein weiteres Zeichen warte, doch nichts passiert. Sogar die Kanone schweigt, noch scheint es also nicht zu spät zu sein. Wer könnte es sein? Schon während ich noch überlege, wessen Schrei dies gewesen sein könnte, denke ich daran, um wen es sich handeln könnte. Nora, Maylin, Shine, das Mädchen aus sieben. Mehr sind von uns Mädchen nicht über. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Maylin und Shine, als Karrieros, eine Falle gestellt haben und um das Festmahl kämpfen, schließlich haben sie ein Bündnis. Oder das Mädchen aus sieben und der letzte verbliebene Sucher. Und Nora? Immerhin war sie ebenfalls in der Nähe. Mit stechendem Herzen laufe ich in die Richtung des Schreis. Gleich werde ich herausfinden, was dort vor sich geht. So schnell ich auch laufe, immer wieder muss ich stoppen, denn der Boden ist uneben, von Steinen und Felsen bedeckt, die wahre Stolperfallen bilden. Zudem drängen sich die Bäume immer enger. Waren in den oberen Lagen am Hang der Berge kaum Bäume, so scheinen sie sich hier, um den mittigen Berg, fast schon zu drängen, denn mir fällt auf, dass ich durch so etwas wie einen kleinen Wald laufe. Gestern habe ich dies nicht einmal bemerkt, so verängstigt war ich. „IAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!“ Klang der erste Schrei noch furchtsam, so ist dieser nun voller angestauter Wut, roh zerreißt er die junge Stille, die über der Arena lag. Fast schon animalisch, wie einer der Berglöwen klingt es. Alarmiert laufe ich noch schneller, sonst könnte es geschehen, dass es keine Möglichkeit mehr für mich gibt, an Maylin heranzukommen. Falls diese denn überhaupt dort ist. „Süße, das ist meine Rache!“, schallt es zwischen den Bäumen her. Bum. Der harte Klang der Kanone unterstreicht den Satz. Sogar die Erde scheint wieder unter dem Klang der Kanone zu erbeben und lässt die Luft für einen Moment vibrieren, dann ist es auch schon wieder vorbei, lediglich das Geraschel einiger Flügel in dem Geäst ist zu vernehmen. Zitternd drücke ich mich hinter einen Baum, um nicht gesehen zu werden, versuche auszumachen, was sich dort in einiger Entfernung abspielt – oder besser abgespielt hat. Denn jetzt ist es vorbei, das Festmahl, da die Kanone geschlagen hat. Ich wage es nicht zu atmen, sondern halte die Luft zurück, während ich harsches Stimmengewirr von der anderen Seite vernehme. Streitet sich dort jemand? Vorsichtig lehne ich mich ein Stück aus meinem Versteck hervor und blicke durch das Geäst. Es fällt schwer, etwas auszumachen, also schleiche ich ein Stück näher heran. Warum? Es ist mehr ein Instinkt, dem ich folge. Ich möchte wissen, was vorgefallen ist. Wer von meinen Gegnern noch übrig ist… Langsam und den Blick auf den Boden gerichtet schleiche ich näher heran an die Bäume, welche das Blickfeld einschränken. Mit pochendem Herzen beziehe ich Stellung hinter den Bäumen. Leise biege ich einen der Zweige aus meinem Sichtfeld, jedes Rascheln im Geäst lässt mein Herz einen Schlag aussetzen. Doch niemand scheint mein Kommen bemerkt zu haben. „Was? Was glaubst du, wer du bist?“ Hart peitscht die Stimme zwischen den Bäumen her. Unter hunderten, ja gar tausenden würde ich sie immer wieder erkennen. „Shine… ich frage dich nur: Tat das Not? Musstest du das tun?“ Unwillkürlich presse ich mir die Hand auf den Mund. Zwischen den Bäumen stehen Shine und Maylin, anscheinend das Letzte was vom großen Bündnis der Karrieros über geblieben ist. Sie funkeln einander an, Aggression liegt in ihrer Haltung. Mit einer schnellen Bewegung zieht Shine ihre Axt aus einem Leichnam am Boden. Mein Blick folgt dem langen Griff der Axt zu dem blutverschmierten Axtblatt und dann zu dem darunterliegenden toten Tribut. Es ist Nora. Zwar wollte sie mich töten, doch der plötzliche Anblick ihres regungslosen Körpers lässt mich erschaudern. Ihre Schreie waren es, die ich gehört habe. Die Hand an meinem Speer verkrampft sich. Was Aramis wohl tun würde, wäre sie noch bei mir? Sicherlich würde sie Maylin töten. Maylin und Shine. Die beiden sind Karrieros, sie jagen die anderen zum Spaß. Grausame, gewalttätige Mörder, nichts weiter sind sie. Dennoch sitze ich noch immer hier im Geäst und beobachte die zwei. Maylin legt sich ihre merkwürdig geformte Waffe, die ich bereits aus dem Training kenne, über die Schulter. „Du und deine Sichel. Als wenn du damit jemanden anständig beseitigen könntest. Höchstens köpfen… Maylin.“ Shine klingt herablassend wie immer und schüttelt jetzt den Kopf. Sie hat mir den Rücken zugedreht, sodass ich weder sie noch Maylin sonderlich gut erkennen kann, aber der Klang ihrer Stimme reicht, um mir einen Schauer den Rücken herabfahren zu lassen. Gerumpel ertönt in diesem Moment, Shine wird zur Seite gestoßen und ich sehe, wie Maylin, einen Rucksack geschultert an dieser vorbeiläuft. Doch das große Mädchen wartet nicht lange, sondern läuft ihr hinterher. Auf, zum nächsten Tribut, bereit diesen zu töten. Aber es gibt nur noch fünf Opfer für sie. Ohne mich sogar nur vier. Einer davon ist Pon. Zwei sind Sucher. Die Sucher haben auf der anderen Seite der Arena ihr Lager gehabt. Wie groß ist die Chance, dass es Pon erwischt? Noch haben Shine und Maylin nicht ihr Festmahl erhalten. Ein Sprung, und ich bin auf den Beinen. Die Erde fliegt nur so unter meinen Füßen dahin, den Speer halte ich schützend vor meine Brust. Lange genug bin ich davongelaufen! Aramis hätte das gleiche getan. Bevor sie Pon erwischen, breche ich lieber meinen eigenen Eid. Wenn ich Glück habe, dann geht sogar dieses Festmahl an mich. Solange ich sie töte, bevor sie ihre Belohnung erhalten… Äste schlagen mir in das Gesicht, doch ich ignoriere den peitschenden Schmerz. Über die Wurzeln fliege ich förmlich dahin, noch einmal stolpere ich nicht. Dieses Mal erwische ich sie, nicht sie mich! Pfeifend entweicht mir der Atem, als wir aus dem Gürtel der Bäume herauslaufen. Jetzt erkenne ich, wie die gesamte Arena aufgebaut ist. Was ich von dort unten nur erahnen konnte, wird zur Gewissheit. Wir befinden uns am Fuße des großen Berges in der Mitte der Arena. Dieser wird gesäumt von einem Ring aus Bäumen, der nun hinter und unter uns liegt. In der Ferne bilden weitere Bergkanten die Begrenzung der Arena. Im Norden schimmert tatsächlich das Wasser hinter den Felsen, es scheint, als wäre dort oben ein riesiges Meer… aber das ist unmöglich. In den Bergen gibt es kein Meer. Über all dies ragt der Berg vor uns. Doch ich halte nicht inne, um die Landschaft zu bestaunen. Längst hat die Arena ihr letztes bisschen Magie verloren. Graue Wolken hängen dicht am Himmel und lassen nur wenige Sonnenstrahlen durch, alles ist in ein dämmriges Zwielicht gehüllt. Doch das Licht reicht aus, um zu sehen, wie Maylin gefolgt von Shine über die Ansteigung läuft. Also geht es auf den Berg… Ich kann nur hoffen, dass die beiden sich nicht umdrehen. Denn jetzt, da wir die letzten Bäume zurückgelassen haben, bin ich schutzlos auf der offenen Ebene zu sehen, die die letzten Meter zum Berg trennen. Keuchend spüre ich einen stechenden Schmerz in meinen Seiten, den ich so noch nie gespürt habe, doch ich laufe weiter, immer weiter. So lange, bis ich die Karrieros eingeholt habe. Bis ich sie überrascht habe! Tatsächlich dauert es nicht lange, denn vor meinen Augen holt Shine Maylin ein, kurze bevor diese den steinigen Weg auf den Berg erreicht hat. Plötzlich scheint es, als würde Maylin stürzen, sie rollt in das Gras. Shine erreicht sie und dann das unglaubliche: Sie hebt ihre Axt hoch über den Kopf, als würde sie Holz hacken wollen, dann schwenkt sie diese direkt auf ihre Verbündete zu. Gerade noch kann ich mich zurückhalten, fast wäre mir ein warnender Schrei entronnen, mit dem ich mich vorzeitig verraten hätte, doch Maylin dreht sich gerade noch rechtzeitig weg, springt zurück auf die Beine, will weiter laufen. Ich selber verlangsame meinen Lauf, beachte die Szene nur, die sich in wenigen Metern Entfernung vor meinen Augen abspielt. Was nun? Shine packt Maylin an der Hüfte, schleudert sie erneut mit roher Gewalt zu Boden, doch Maylin taucht unter ihren Beinen hindurch. Nur noch joggend nähere ich mich den Beiden, unsicher, was ich jetzt tun soll. Kämpfen sie wirklich gegeneinander? Meine Frage wird beantwortet, als Shine wie eine Wilde die Axt wieder erhebt um damit nach Maylin zu schlagen. Zu Maylins Glück ist diese Bewegung jedoch eher schwerfällig und wendig wie sie ist taucht sie auch unter diesem Schlag hinweg. Alles was sie tut ist leichtfüßig einen Schritt zurück zu springen. Noch einige Schritte wage ich mich näher an die Szenerie heran, sodass ich nur noch circa sieben Meter von dem Kampf fort bin. Eigentlich wollte ich die Karrieros ja überraschen. Ich bin mir zudem nicht sicher, ob ich in ihren Kampf eingreifen sollte. Wenn sie einander gegenseitig töten, so brauche ich keinen Finger zu rühren… doch ich weiß, dass ich es bin, die Maylin töten muss. Wenn nicht ich es bin, dann wird… jemand dafür bezahlen. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Ich habe keine Wahl, diesmal nicht. Noch ehe ich wirklich die Entscheidung durchdacht habe, laufe ich erneut weiter, den Speer wie ein Schild erhoben. Sie dürfen einander nicht umbringen! Doch Maylin versetzt Shine jetzt einen Tritt, diese fliegt rücklings auf den Boden, ein Sturz der ihr die Luft aus den Lungen getrieben haben muss. Maylin setzt einen Fuß auf ihre Brust und scheint zu lächeln. Sie sagt etwas, doch ich bin zu weit entfernt, um es zu hören. Wieder einmal halte ich inne. Maylin hat eine Sichel. Sie hat eine Chance, Shine zu töten, eine Chance, die ich nicht habe. Gegen zwei Karrieros auf einmal… ich sollte vielleicht doch besser warten. Einen Moment zögere ich, doch ich sinke bereits in die Knie und presse mich in das taufeuchte Gras, um nicht aufzufallen. Maylin steht zwar mit dem Gesicht zu mir, doch entweder hat sie mich nicht gesehen, oder sie sagt es Shine nicht, doch statt sich um mich zu scheren sagt sie jetzt laut und deutlich: „Ja, versuch mich doch zu töten! Versuch es!“ Für den Moment antwortet Shine dadurch, dass sie Maylins Bein packt, wegzieht und selber wieder auf die Beine rollt, dann macht sie ihre Absicht deutlich, indem sie erneut die Axt schwingt, dieses Mal noch schneller, als beim ersten Mal. „Mit Vergnügen!“, ruft sie, als das Blatt nieder saust. Doch Maylin ist schneller, schon ist sie wieder abgetaucht und schnellt an anderer Stelle hoch. Warum wagt sie keinen Gegenschlag? Schon schnellt die Axt erneut heran, streift sie an der Schulter. Getroffen taumelt sie zur Seite. Sie hält sich die Schulter, Blut tropft zu Boden. Doch die Sichel hält sie immer noch in der Hand. Innerlich bete ich, dass sie nicht allzu schwer verletzt ist, denn Shine stürzt sich auf sie, ringt sie zu Boden. Mit dem Unterarm drückt sie ihr die Luft an der Kehle ab, doch Maylin drückt ihre Knie in Shines Unterleib und wirft diese schließlich von sich, gerade noch rechtzeitig. Vor Anspannung vergraben meine Hände sich in das Gras und die krümelige Erde. „Ich werde dich töten!“ Mit diesem Schrei wirft Shine die Axt weg, die sie die ganze Zeit behindert hat. „Mit meinen eigenen Händen!“ Alles scheint vergessen, als sie sich jetzt auf Maylin wirft. Shines Hände schließen sich Klauen gleich um Maylins Hals, was mir den Atem stocken lässt, doch diese nimmt endlich einmal ihre Sichel zur Hand, doch sie schlitzt nur einen schmalen Schnitt über Shines Hals, weiter kommt sie nicht – oder will sie nicht. Erfolg  hat sie jedoch, Shine lässt von ihr ab. Sie presst sich die Hand auf den Schnitt, was Maylin nutzt, um sich erneut freizukämpfen. Auf den Knien robbt sie fort von der tobenden Shine. In einigen Schritten Entfernung steht sie auf, streckt wie Caesar Flickerman auf der Bühne die Arme zu den Seiten aus. Als wolle sie stolz etwas präsentieren. So wird das nie etwas mit dem Kampf, so kann Shine ihre böse Prophezeiung doch noch wahrmachen…! „Ja, schaut es euch an! Habt ihr es gesehen? Wie ein Monster. Erst das Fünfer Mädchen und jetzt ich. Vor niemandem wird Halt gemacht! Das ist es, was ihr wollt!“ Wütend schreit sie dies in die Welt hinaus, dreht sich um zu dem großen Berg und blickt an ihm hinauf. „Wie Tiere…“ Doch ehe Maylin weiter rufen kann, springt Shine sie an und schlägt sie mit aller Wucht zu Boden. Am Boden liegend hat sie immer noch die Arme ausgestreckt, ein letztes Mal ruft sie: „Euer System ist kaputt! Kaputt wie ihr!“ Wovon redet Maylin da? Was ist da los? Aus ihrem Gürtel zieht Shine jetzt ein Messer. Sie sagt nichts, sondern sie scheint nur auf eines aus zu sein: Maylin zu töten. Das Messer fest im Griff legt sie die Klinge fast schon liebevoll an Maylins Wange, fährt herab zu ihrem Hals. Ich bin zu weit weg, um noch irgendetwas tun zu können. Ich weiß es. Ich kann nicht rennen. Maylin sollte Shine töten, nicht anders herum. Mein Vater! Heiß brennen die Tränen in meinen Augen. Nein, das darf nicht sein! Mein Hals ist trocken als ich den Schrei ausstoße: „Halt!“ Tatsächlich hält Shine inne, auch wenn das Messer an Maylins Kehle verharrt. Beide blicken in meine Richtung, doch aus der Entfernung kann ich ihre Blicke nicht erkennen. Wagemutig stehe ich auf, strecke ihnen mein Speer entgegen, auch wenn meine Knie ungewollt zittern.  „Seht es euch an!“ Ein letztes Mal schreit Maylin wie eine Verrückte, woraufhin Shine sich ihr wieder zuwendet und dann die Klinge mit einem Ruck über ihren Hals zieht. Einfach. Effektiv.   „Das hast du davon, miese Verräterin.“ Shine steht auf, den Rücken mir zugewandt. Als würde sie mich nicht einmal ernst nehmen. Bumm. Ein letzter Kanonendonner zeugt von Maylins Tod. Tod. Maylin lebt nicht mehr. Meine ohnehin schon zitternden Knie geben erneut nach, ich sinke einfach gen Boden. Hart pralle ich auf den Boden auf, doch die körperlichen Schmerzen interessieren mich nicht, denn ich beobachte gerade, wie Shine sich zu mir umdreht, ihr typisches, siegessicheres Grinsen aufgesetzt. Der Wind trägt ein höhnisches Lachen herbei. „Wir werden uns wiedersehen…“ Dann rennt Shine los, so schnell wie eine Raubkatze. Axt und Messer bleiben zurück, ebenso wie ich, die mit geweiteten Augen im Gras kniet. Ich wollte meine Augen schließen, doch gleichzeitig konnte ich sie nicht abwenden. Für immer wird sich dieses Bild, wie Shine das Messer zog in meinen Gedanken festgebrannt haben. Mit ausgebreiteten Armen und offenen Augen liegt Maylin jetzt im Gras. Wieso? Wieso nicht Shine? Heiser schluchzend presse ich die Hände auf das Gesicht. Ich lasse den Tränen freien Lauf. Denn mit Maylin habe ich unweigerlich auch meinen Vater verloren. Irgendwo in meinen Gedanken stelle ich mir vor, wie Präsident Snow langsam den Kopf schüttelt. Das Todesurteil ist unterschrieben. ‚Pon!‘, durchzuckt es meine Gedanken. Wenn Shine fortläuft, dann kann sie ihm begegnen! Unter allergrößter Anstrengung erhebe ich mich. Alles tut so weh. Am liebsten würde ich liegen bleiben auf der harten Erde und auf das Ende der Arena warten. Doch Pon ist da draußen, er wartet sicherlich auf mich. Deshalb erhebe ich mich langsam und setze mich wieder in Bewegung, in dieselbe Richtung, in die Shine verschwunden ist. Natürlich kann ich ihr nur vage folgen, da sie bereits außer Sichtweite ist, aber die Hoffnung treibt mich an. Wie schon Shine umrunde ich den Berg, laufe in Richtung Westen wieder auf den Baumgürtel zu. Bald schon umgibt mich wieder das unheimliche Geäst der toten Bäume und auch der leichte Nieselregen von gestern hat wieder eingesetzt. Im hämmernden Rhythmus meiner Schritte ziehe ich die Kapuze auf den Kopf. Fern jeglichen Zeitgefühls wundere ich mich schließlich, als plötzlich einige zarte Sonnenstrahlen durch die Baumkronen auf den Boden fallen. Ist es schon wieder Tag? Ich muss mich beeilen! Das Einzige, was meinen Hoffnungsschimmer nähert, ist die Tatsache, dass noch keine weitere Kanone abgefeuert wurde. Noch lebt Pon! Erst als die Wurzeln meinen Weg immer mehr versperren muss ich Halt machen und langsamer gehen, ja über einige besonders große Exemplare muss ich fast schon klettern! Aufmerksam schaue ich mich dabei im Wald um, halte Ausschau nach einigen Anhaltspunkten, damit ich mich später noch wieder zu Recht finden kann, denn in diesem Teil der Arena war ich noch nicht. Doch anstelle einer hilfreichen Wegmarkierung erspähe ich zwischen den Bäumen etwas ganz anderes: Eine schmale kleine Gestalt in dunkler Regenjacke, die mit beiden Händen die blaue Kapuze festhält. Langes, silbernes Metall schimmert in einer Halterung auf dem Rücken, größer als der Tribut selber. In diesem Moment bricht dank meiner Unaufmerksamkeit unter meiner Schuhsohle krachend ein Zweig durch. Langsam dreht die Gestalt den Kopf in meine Richtung. Ich halte den Atem an. Counter: 8 Tage, 9 Stunden, 16 Minuten// Tote:18// Lebende:6    ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)