Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 30: Sucher des Todes ---------------------------- »Einen wundervollen guten Mittag nach Distrikt Vier! Ich hoffe, Sie waren heute schon fleißig für unser glorreiches Land unterwegs, meine Damen und Herren, denn jetzt wird es Zeit für das Mittagsupdate direkt aus der Arena der 70. Hungerspiele. Gleich zu Beginn habe ich ein paar fantastische Neuigkeiten für Sie – es gibt einen Rekord zu feiern! Wer hätte es gedacht, dass in diesem Jahr so eine Überraschung auf uns wartet? Ich jedenfalls nicht, werte Zuschauer. Aber die Anzahl der Bündnisse in diesem Jahr ist nicht bloß rekordverdächtig, wie ich Ihnen versichern kann – sie ist tatsächlich noch nie dagewesen! Alle verbliebenen Tribute in der Arena sind jetzt Teil eines Bündnisses. Zuletzt haben sich Ihre Annie und Aramis aus Distrikt Zehn zusammengefunden. Eine ziemlich mächtige Allianz, nicht wahr? Aber Ihr anderer Tribut schlägt sich ja ebenfalls nicht schlecht, im Gegenteil ... Und ich habe gute Nachrichten für alle da draußen auf dem Meer! Ab sofort können auch Sie Ihren Tributen ein Geschenk in die Arena schicken. Die Sammelstellen für Distriktspenden haben seit heute auch eine Dienststelle auf dem Hochsee-Checkpoint Nr. 2 geöffnet. Wenn Sie also noch auf die Reunion Ihrer beiden Tribute hoffen, würde ich mich besser schnell auf den Weg machen. Der Mindesteinsatz beträgt gerade mal zwei Rationsmarken. Und das Beste: für drei zufällig ausgewählte Spender gibt es je einen Jahresvorrat Getreide und Öl im Wert eines Tesserasteins zu gewinnen! Aber damit nicht genug – ein paar besondere Wetten sind jetzt ebenfalls für Sie zugängig und natürlich gibt es auch hier wieder zahlreiche Gewinne, die auf sie warten. Also stimmen Sie ab, ob Annie oder Aramis siegreich aus diesem Bündnis hervorgehen werden. Wer wird zuerst den Frieden brechen, wer wird zuerst sterben? Ich bin gespannt auf Ihre Meinung! Alle weiteren Infos dazu finden Sie wie gehabt im Teletext, jederzeit erreichbar über den roten Knopf auf Ihrer Fernbedienung oder auf Anfrage bei Ihrem Vorarbeiter. Das war’s auch schon von mir. Seien Sie weiterhin produktiv für Panems Glanz! Die nächste reguläre Sendung erwartet Sie heute Abend, pünktlich um 19 Uhr.«   *     Ich schwitze. Das Metall in meiner Hand glüht förmlich und doch lasse ich nicht los. Im Gegenteil, ich drücke den Speer fester. Nicht mal die Schweißtropfen wische ich mir von der Stirn. Das ist nur ein Ärgernis von vielen, ein verschwindend geringes Problem in Anbetracht der Gesamtsituation. Meine Arme sind übersät mit Mückenstichen (zumindest hoffe ich, dass die Pusteln nichts Schlimmeres bedeuten) und der Dreck von mittlerweile sieben Tagen Arena klebt wie eine zweite Haut an mir. Nicht zum ersten und hoffentlich auch nicht letzten Mal stelle ich mir das Gefühl von Wasser auf meiner Haut vor. Kein Salzwasser oder abgestandene Tümpelbracke, sondern perfektes, klares, frisches Süßwasser. Oh, was würde ich dafür geben! Doch eine Badewanne kann einem natürlich niemand in die Hungerspiele schicken. Um in diesen Genuss zu kommen, muss man überleben. Was ich nicht mehr lange werde, wenn mich diese Träume überwältigen! Ich schlinge die Finger noch fester um den Schaft meines Speers. Er ist das Einzige, was zwischen mir und der Gefahr steht. Das und vielleicht der Baum in meinem Rücken – dessen Rinde sich immer wieder an meinem dünnen Oberteil verhakt. Hätte ich die Regenjacke anbehalten sollen? Nein, dann würde ich noch mehr schwitzen. Und der Schweiß tropft mir so schon von den Wimpern! Ich beiße auf die Innenseite meiner Unterlippe. Konzentration, Annie! Hör auf, deine Deckung zu vernachlässigen! Es könnte jederzeit sein, dass sich jemand anschleicht – Da! So wie jetzt. Das trockene Gras raschelt, ganz eindeutig! Mit vorgestrecktem Speer wirble ich in der Hocke herum. Und mir gegenüber steht ... niemand. Nur der Wind bringt die Arena zum Flüstern. Mal wieder. Ein paar Gräser reiben gegeneinander, das ist alles. Zum fünfzigsten Mal an diesem Tag erschrecke ich mich vor nichts. Am liebsten würde ich mir eine Ohrfeige verpassen. Was müssen nur die Zuschauer von mir denken? Und noch viel wichtiger – warum lasse ich die Ablenkung schon wieder geschehen? Ich bin schließlich zum Auskundschaften hier! Beide Hände um den Speer verkrampft, als sind sie festgeklebt, wende ich mich erneut dem Ziel zu. Auch wenn ich genau höre, dass die Baumrinde mein Top langsam aber sicher aufreibt, drücke ich mich fester an den Stamm. Meine Waffe stütze ich gegen den natürlichen Erdwall vor mir. Immerhin bringt der Wind mir nicht nur beunruhigende Töne, versuche ich mich aufzumuntern, sondern auch Abkühlung. Oder eher vermeintliche Frische? Die Brise auf meiner geschundenen Haut erinnert schnell an die Schwaden eines großen Lagerfeuers. Genauso kratzt sonst nur Ruß ... Aber ein rascher Blick in die Ferne zeigt mir, dass die Arena kein Feuer gefangen hat. Noch nicht. Sollten die Temperaturen allerdings weiter so steigen ... Es ist hoffnungslos. Nach unzähligen Stunden auf dieser Position kann ich die Gedanken nicht mehr im Zaum halten. Selbst wenn es um mein Leben geht, scheint mein Körper eine Grenze zu haben, die ich nicht einmal mit Willenskraft überwinden kann. Ich drücke mir eine Hand vor den Mund, um halb Seufzen, halb Gähnen zu ersticken. Wer hätte gedacht, dass ich so schlecht in Observation bin? Nun, zumindest renne ich nicht länger ziellos mit Aramis durch die Gegend und biete mich den Berglöwen (oder eher Spielmachern) als Fraß an. Es reicht mir schon, dass letzte Nacht – vielleicht – eines der Monster um unser Lager geschlichen ist. Gesehen habe ich die Wildkatze nicht, aber das Schnaufen und Kratzen in der Dunkelheit hat gereicht, um sich Sorgen zu machen. Und nach einer ganzen Woche in der Arena wird es den Zuschauern sicherlich zusehends langweiliger. Da braucht es nur einen Kerl in der Spielzentrale, dem es im Finger juckt ... Mein Blick zuckt kurz gen Himmel, an dem schon seit Tagen keine Wolke mehr zusehen ist. Ob irgendwo dort draußen die Spielmacher beisammensitzen und ihre neuen Fallen besprechen? Womöglich erörtern sie gerade, wie sie Aramis’ und meine Pläne durchkreuzen können? Alles für ein bisschen mehr Drama in den Spielen? Seitdem ich auf Aramis getroffen bin, gab es immerhin keinen neuen Tod. Zu meiner Erleichterung. Zehn verstorbene Tribute, das ist schlimm genug. Einen anderen Gedanken kann ich mir nicht leisten. Selbst wenn ich versuche, mich bewusst an die Gesichter der Toten zu erinnern, verschwimmen sie immer weiter hinter einem Schleier aus Blut. Alles, was in meiner Brust verbleibt, ist Leere. Es ist einfach keine Trauer mehr übrig. Nicht mal die Furcht vor der Hymne am Abend ist geblieben, obwohl ich anfangs schon beim ersten Ton in Zittern ausgebrochen bin. Vielleicht würde mich nicht einmal die Kanone noch erschrecken. Wer weiß? Weiter kann ich den Gedanken nicht verfolgen. Unten in der Senke, die wie eine Falte im ausgerollten Stück Stoff der Landschaft vor mir liegt, blitzt etwas auf. Silberne Klingen – Waffen. Die Patrouille der Außenseitertribute kommt zurück! Ich presse mich flach auf die Erde und achte darauf, dass mein Speer vom Gras verdeckt wird. Wenn ich die anderen sehe, können sie mich schließlich auch entdecken. Theoretisch zumindest. Ich habe die höhere Position. In das Lager des zweiten großen Tributbündnisses, das ich schon den ganzen Tag beobachte, kommt derweil Leben. Gestalten laufen unter den aufgespannten bunten Zeltplanen hervor, um ihre beiden Fährtenleser willkommen zu heißen. Aufgeregt gestikulieren sie hin und her. Ich bin zu weit weg, sodass ihre Stimmen kaum zu hören sind, aber ich vernehme die Erregung darin bis hier. Es braucht nicht viel Fantasie, damit man die Lücken füllen kann. Wenn Aramis und ich in den letzten Tagen eines über unsere Mittribute gelernt haben, dann, dass sie immer auf der Jagd nach neuen Opfer sind. Egal wer, egal welcher Distrikt – Hauptsache, das Blut fließt. Aramis hat ihnen den Spitznamen ‚Sucher‘ verliehen, da sie genau wie die Karrieros immer wieder als Gruppe losziehen, lärmend, lachend und mit erhobenen Waffen. Abgesehen vom dritten Tag, an dem sie mich fast in den Bergen entdeckt hätten, sind sie allerdings nicht allzu erfolgreich. Wobei ich natürlich nicht weiß, was davor alles passiert ist ... Dass Aramis und ich überhaupt ihr Lager gefunden haben, ist reiner Zufall gewesen. Vor zwei Nächten haben wir unseren Schlafplatz im Schutz einer kleinen Baumgruppe nicht weit von meinem jetzigen Versteck errichtet. Als es dunkel wurde, hörten wir laute Geräusche und kurz danach erhellte plötzlich Feuerschein den Himmel. Im ersten Moment fürchteten wir, jede Minute den Karrieros gegenüberzustehen. Bis ich mich dank Aramis’ Drängen hin auf einen Baum wagte und unten in der Senke die Gruppe rund um das feuerhaarige Mädchen aus Distrikt Sieben erspähte – allesamt völlig ahnungslos ob unserer Anwesenheit. Bei Brot und Speckstreifen, die sie über den Flammen rösteten, feierten die Tribute, dass sie die Spur der beiden aus Fünf gefunden hatten. Alleine bei der Erinnerung daran kribbelt meine Haut wieder wie unter hundert Ameisenfüßchen. Nora und Circe ... hoffentlich sind sie längst über alle Berge! Es mag vielleicht nicht für ein Bündnis zwischen uns gereicht haben, aber trotzdem. Den Tod durch die Sucher verdient niemand. Ich grabe meine Finger fest in die harte Erde, damit ich nicht dem Drang erliege, mich zu kratzen. In der Senke versammeln sich derweil die Tribute aus Acht und Neun sowie der Junge aus Sieben um ihre Anführerin. Die gestikuliert wild mit ihrem Schwert in Richtung der Arenamitte. Fort von Aramis und mir. Unter Gelächter schultern die Kinder ihre Rucksäcke. So schlau sie sich auch vorkommen mögen, ihre Überheblichkeit ist faszinierend. Nicht nur sticht ihr Lager aus der Landschaft hervor wie ein erhobener Mittelfinger, ihr lautes Verhalten schreckt zusätzlich alles Leben im Umkreis von hundert Meilen auf. Ob ihnen überhaupt auffällt, wie ähnlich sie den Karrieros geworden sind? Nun, zumindest werden Shine und die anderen sicher eine Wache bei ihren Vorräten zurücklassen. Die Sucher jedoch machen sich alle gemeinsam auf den Weg. Immer kleiner werden sie zwischen Steinen und Bäumen, bis die Arena sie verschluckt. Ich atme tief ein und aus. Das ist Aramis’ und meine Chance! Darauf haben wir seit gestern gewartet! Mein Mund ist staubtrocken, als ich aufstehe. In meinem Bauch scheint eine Bleikugel zu ruhen und vor lauter Schweiß rutscht mir fast der Speer aus der Hand. Aber jetzt ist es zu spät zum Umkehren. Ich habe Aramis zugestimmt, dass ihr Plan gut ist, und ich werde sie garantiert nicht verraten, selbst wenn mein Körper mich anfleht, umzudrehen und ganz weit fortzurennen. Das würden mich die Spielmacher ohnehin nicht überleben lassen. Es gibt viele Dinge, worüber man sich im Kapitol uneins ist – manche verehren die Karrieros, andere schwören auf die Außenseiterdistrikte. Einige wollen den Wahnsinn sehen, wieder andere unterstützen lieber jene, die mit Ehre kämpfen. Aber in einem stimmen wohl alle Zuschauer überein: Feiglinge und Verräter mag niemand. Die will man spektakulär sterben sehen. Wenn ich das Kapitol jetzt um seinen Spaß bringe, sind meine Stunden – ach was, Minuten! – gezählt. Mit dem Speer fest in einer Hand, suche ich die Bäume auf der anderen Seite der Senke ab. Da – es blitzt silbern auf. Ein-, zwei-, dreimal leuchtet die Schneide eines Messers im Sonnenlicht auf. Das ist Aramis’ Signal. Also hat die List mit der gefälschten Spur geklappt und die Sucher jagen nun wieder die verletzten Fünfer. Zumindest glauben sie das. Ich nehme all meinen Mut zusammen und klettere über den Erdwall, der mich bisher vor neugierigen Blicken geschützt hat. Ungelenk schlittere ich den Hang dahinter hinab. Wie durch ein Wunder schaffe ich es zum Boden, ohne hinzufallen und mich selber aufzuspießen. Doch ich feiere den Erfolg nicht lange, sondern krieche in das nächstbeste Gebüsch. Von dort spähe ich erst nach links, dann nach rechts. Alles ruhig. Eine Plane flattert knatternd im heißen Wind, ansonsten regt sich nichts. Im Schatten vor mir erkenne ich eine Ansammlung aus Rucksäcken, die ums Füllhorn herum verstreut lagen. Jetzt dienen sie den Suchern offenbar als Vorratslager. Ein Reißverschluss steht offen und ich sehe Brot, Äpfel, eine Tüte mit getrockneten Fleischstreifen ... Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Hier in der Arena ist jeder Bissen wertvoll. Aramis hat recht, die Sucher brauchen das alles nicht für sich. Sie mögen nicht in Vorräten ertrinken wie die Karrieros, aber mein Mitleid haben sie nicht nötig. Das hier ist die richtige Entscheidung. Ich muss überleben, um Pon zu retten – und das geht nur mit Essen und Trinken. Entschlossen halte ich den Speer mit beiden Händen vor mich und trete auf die Lichtung. Und dann dreht sich alles. In einem Moment sehe ich noch die leckeren Speisen vor mir, eine Sekunde später schmecke ich nur Staub. Die Luft wird aus meinen Lungen gepresst, sodass ich nicht mal schreien kann. Dabei tut es so weh! Als ob sich der Speer durch mich bohrt ... Hektisch blinzle ich gegen die aufsteigenden Tränen an. Unter mir sind ... Steine? Ich spucke aus. Ja, das ist eindeutig der Arenadreck, der in meine Wange pikst. Wie bin ich auf dem Boden gelandet? »Annie!« Eine Hand packt mein Oberteil. Ich werde herumgedreht und zum zweiten Mal bleibt mir die Luft weg. Aramis starrt mich unter zusammengezogenen Augenbrauen hervor an, ehe sie mich mit einem Ruck aufrichtet. Sie schlägt mir so doll auf den Rücken, dass ich glaube, auch gleich noch das Essen der letzten sieben Tage aushusten zu müssen. »Vorsicht«, murmelt sie mit gesenkter Stimme, »hier sind überall Stolperdrähte gespannt.« »Hab ich gar nicht ... gemerkt.« Ich reibe mir mit einer Hand die schmerzende Brust. Aramis stößt ein bellendes kleines Lachen aus. »Siehst du das da?« Sie zeigt auf eine Lücke zwischen den Zeltplanen vor uns. »Ungefähr eine Handbreit über dem Boden?« Selbst mit zusammengekniffenen Augen kann ich nicht ausmachen, was sie meint. »Da ist noch ein Draht gespannt. Dünn wie ein Haar, über die ganze Breite. Und wenn man da reintritt ...« Ihr ausgestreckter Zeigefinger wandert weiter, zu einem knorrigen Baum. »... dann löst die Falle da aus.« »Welche Falle ...?« »Das Seil, was diesen schweren Baumstamm da oben hält? Der rast dann geradewegs auf dich zu. Sei froh, dass diese Falle hier nur Lärm ausgelöst hat.« Erst jetzt fällt mir auf, dass zu unserer Linken ein ganzer Haufen Steinchen verstreut liegt, die offenbar aus einem Netz gefallen sind, das sich bei meinem Sturz gelöst hat. »Wir sollten besser gut acht geben. Wer weiß, was wir von oben noch alles nicht gesehen haben ...« Mit einem leisen Knacken der Gelenke steht Aramis wieder auf. Anstatt mir eine Hand zu reichen, zieht sie den Bogen von ihrem Rücken und legt einen Pfeil an die Sehne. »Du nimmst die rechte, ich die linke Seite, dann sind wir schneller«, befiehlt sie knapp. Da mir ohnehin nichts Besseres einfällt, nicke ich nur. Immer noch benommen klopfe den Dreck von meinem geschundenen Top. Am liebsten würde ich mich gar nicht vom Fleck bewegen. Was, wenn ich die nächste Falle wieder übersehe? Ich starre in Richtung des dicken Baumstamms, den Aramis mir gezeigt hat, und erschaudere trotz der Hitze. Das Herz trommelt mir gegen die Rippen wie ein gefangener Schmetterling und meine Hand am Speer zittert mal wieder stärker als die letzten trockenen Blätter an den Bäumen. Aber ich wage mich trotzdem unter die erste Zeltplane. Schlimmer als die Falle wäre es schließlich nur, wenn die Sucher zurückkommen und wir noch da sind. Im Unterschlupf sind keine Vorräte, nur die Schlafstätten der Tribute. Überall liegen offene Schlafsäcke, dünne Decken und Kleinigkeiten verstreut. Irgendwer hat zum Andenken an zuhause offenbar ein abgewetztes Stofftier mitgebracht, das mich von einem improvisierten Kopfkissen aus anschaut. Ich glaube, dass es ein Eichhörnchen sein soll, zumindest sieht der wenige, intakte Plüsch rot-braun aus. Ein Auge fehlt dem armen Ding bereits und ein dicker Kloß steigt in meinem Hals auf, als ich das Messer aus dem Gürtel ziehe. Cyle hat früher auch einen kleinen Delfin aus Stoffresten gehabt. Gekauft im Tuchmacherdistrikt. Die Klinge in meiner Hand bebt, doch ich bücke mich trotzdem und greife dem ersten Schlafsack. Mit einem Stich stoße ich in das Gewebe. Es fühlt sich an, wie Butter zu schneiden. Ich muss nur das Messer nach unten ziehen und schon teilen sich die Fasern mit einem leisen rrriiitsch. Eigentlich ein lustiges Gefühl und so befriedigend – ich ramme die Waffe gleich noch einmal hinein. Weiße Watte quillt aus den Schnitten und ich reiße sie heraus. Je nutzloser die Schlafsäcke werden, desto besser. Wenn Aramis und ich es nicht nutzen können, dann soll es niemand haben. Genauso verfahre ich mit Schnüren und Planen. Alles wird durchlöchert, zerschnitten oder mitgenommen. Sogar das Wasser, was ich nicht tragen kann, verschütte ich. Nur das kleine Stofftier wird verschont. Einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, es mitzunehmen, doch dann setze ich es einfach in ein Nest aus loser Füllwatte und widme mich den restlichen Vorräten. Selbst wenn die Karrieros mehr haben dürften – es ist unglaublich, welche ‚Reichtümer‘ die Sucher aufgehäuft haben. So viel Brot, wie sich in den Rucksäcken verbirgt, hat meine Familie zuhause in einem ganzen Monat nicht zur Verfügung. Wahrscheinlich könnten alle 24 Tribute bequem mehrere Wochen überleben, wenn da nicht die Spielregeln wären ... Ich starre auf die kleinen Kekse in meinen Händen hinab, die neben einem Kopfkissen lagen. Wie kann ich nur Essen vernichten? Was sollen die Menschen in den Distrikten nur denken, wenn die Leere in ihren Mägen schmerzt? Trotzig stopfe ich mir das Hafergebäck in den Mund. Doch alles kann ich freilich nicht retten. Als Aramis und ich beide durch sind, bleibt immer noch ein riesiger Haufen über, den wir in die Glut des Feuers werfen. »Wenigstens brauchen wir nicht mehr hungern«, murmle ich bedrückt. Aramis schnauft. »Und wir sind alles, was zählt.« Sie lässt ihren Blick über die zerschlitzten Zeltplanen schweifen, die mich an ein abgenagtes Gerippe erinnern. »Das hier war die einzig richtige Entscheidung. Jetzt bekommen sie die beiden Fünfer nicht erwischt und müssen sich erstmal wieder um sich selber kümmern.« Mit einem wehmütigen Seufzen werfe ich ein letztes Paar trockener Kekse auf den improvisierten Scheiterhaufen. »Sollen wir noch mehr verbrennen? Seilreste?« Keine Antwort. »Oder sollten wir ein paar Streifen von der Plane mitnehmen?« »Sh!« Ich runzle die Stirn und schaue zu Aramis. »Was ist denn ...« Doch meine Partnerin beachtet mich gar nicht. Ihr Blick geht geradewegs an mir vorbei. »Aramis?« Statt zu antworten, reißt sie in Sekundenschnelle ihren Bogen empor – einen Pfeil an der Sehne. »Wow ...« Ich stolpere einen Schritt rückwärts, die Hände erhoben. »Was tust du –« »Beweg dich nicht!« Aramis spannt den Bogen. »Was ...?« Meine Stimme ist bloß noch ein Fiepsen. War dieses Bündnis eine Lüge? Hab ich Aramis geholfen und als Dank bringt sie mich um? Mir bleibt keine Zeit für weitere Gedanken, denn Aramis lässt den Pfeil los. Ein leises Wispern streicht an meinem Ohr vorbei, als das Geschoss über meine Schulter fliegt und verschwindet. »Mist!«, zischt Aramis sofort. »Nicht getroffen – na los, dreh dich um, Annie!« Verwirrt folge ich ihrem Befehl. Keine Sekunde zu früh. Fünf Meter hinter mir steht sie aus dem Gras auf, ein unterarmlanges Messer in der Hand. Das Mädchen aus Neun. Ein weiterer Pfeil rast knapp an mir vorbei. Auch dieser verfehlt, als die Neunerin einen Haken schlägt. Wann ist sie zurückgekommen? Und wo sind dann die anderen ...? »Annie, wach auf!« Ich sehe mich zu Aramis um. Sie legt bereits den dritten Pfeil an. »Sie ist alleine, das ist unsere Chance!« Nein! Irgendwie schüttle ich den Kopf, stolpere zur Seite – »Wir können sie nicht abhauen lassen!« »Aber ...« Meine Stimme trägt es mit dem Wind davon. Die Tributin hat uns fast erreicht. Sie hält ihre Waffe wie einen Schild vor sich. In ihren Augen glimmt der bloße Zorn. »Dafür werdet ihr bezahlen!«, faucht sie. »Ihr seid tot! Oh ja, wenn Vic zurückkommt, werde ich ihr eure Köpfe präsentieren!« Aramis schmeißt den Bogen zur Seite und zieht ein Messer. »Dann komm doch!« Einen Moment lang stehe ich erstarrt da, eine Zuschauerin in meinen eigenen Spielen. Dann höre ich das Klirren von Metall auf Metall. Das Keuchen, den kleinen, wütenden Aufschrei. Ich darf meine einzige Bündnispartnerin nicht verlieren! Doch der Speer ist zu weit weg, er lehnt da hinten neben den Vorräten ... Von ganz alleine ballen sich meine Hände zu Fäusten. Ich habe es so oft geübt. Zusammen mit Amber. Mein Körper ist eine Waffe. Er wird mir das Leben retten. Ich lasse die letzten Vorräte fallen und schließe die Augen. Schon bin ich wieder zurück in der Trainingshalle. Wie aus großer Ferne höre ich Floogs’ sanfte Stimme, seine Anweisungen. »Wo bist du?« Hier. »Wie spät ist es?« Jetzt. »Wer bist du?« Dieser Moment. Und ich werde um mein Leben kämpfen. Ich reiße die Augen auf. Direkt vor mir duckt sich das Mädchen aus Neun unter einem Hieb von Aramis durch. Ich sehe sie ganz deutlich. Ihre Sommersprossen, ihre Stupsnase, den Schmutz in ihren blonden Haaren, die aufgebissenen Lippen und die Tränen in ihren Augenwinkeln. Sie hat hellblaue Iriden. Schon hebt sie wieder das riesige Messer. Doch ich lasse nicht zu, dass die Klinge auf Aramis niederfährt. Ich reiße den Arm nach oben, schlage gegen ihren Unterarm und blocke ihren Angriff. Mit der anderen Faust stoße ich geradewegs in ihren Magen. Ein Keuchen kommt über die Lippen der Tributin. Sie krümmt sie nach vorne. Entschlossen packe ich ihr Handgelenk. Meine Finger graben sich in die weiche Innenseite ihrer Haut, aber sie lässt ihre Waffe nicht los. Stattdessen drückt sie die Klinge weiter vorwärts. Kleine Blitze zucken durch mein Sichtfeld. Etwas Warmes rinnt über meinen Oberarm – Fauchend tritt Aramis nach dem Mädchen. Ihr Fuß trifft genau in ihre Kniekehlen. Gerade rechtzeitig lasse ich los und unsere Gegnerin geht zu Boden. Aramis stürzt sich auf sie, doch in letzter Sekunde rollt sie zur Seite. Noch im Liegen wirbelt sie zu mir herum. Es zischt und ihre Klinge saust nur Zentimeter an meinem Oberschenkel vorbei. Entgegen aller Vernunft trete ich danach. Ein Knacken füllt meine Ohren, gefolgt von einem Jaulen. »Du Schlampe!« Das hübsche Gesicht des Mädchens verzieht sich zu einer Grimasse, als sich von hinten Aramis auf sie stürzt. »Ich mache euch fertig!« Fast schon schlangengleich windet sie sich aus Aramis’ kräftigen Armen und bekommt erneut ihr Messer zu fassen, bevor sie auf die Füße gelangt. Wieder schlägt sie nach mir. Ich weiche aus. Einmal, zweimal – ein drittes Mal. Im Hintergrund rappelt Aramis sich ebenfalls auf. Und da kommt mir eine Idee. Ich habe die Bewegung nur kurz bei Floogs gesehen, doch es muss einfach klappen! Sobald die Neunerin wieder herankommt, ducke ich mich und springe geradewegs in ihre Arme. Die Hände schlinge ich um ihre Hüfte. Ein Schrei verlässt meine Kehle, als wir voller Kraft aufeinanderprallen. Der Schwung reißt mich fast von den Füßen. Aber ich schaffe es, die Energie über meine Schulter weiterzuleiten. Die Tributin fliegt hinter mir zu Boden, dass es ihr die Luft aus den Lungen presst – wie ihre Falle vorhin bei mir. Genug ist es trotzdem nicht. Wieder springt das Mädchen auf und dieses Mal landet es auf meinem Rücken. Es braucht Aramis, die sie in letzter Sekunde herunterreißt. Am Boden lande ich dennoch. Für einen Wimpernschlag lang starren die Fremde und ich uns an. Hass verschleiert ihre Augen, lässt sie ihre Zähne fletschen. Sie sieht jung aus mit ihren rotfleckigen Wangen und gleichzeitig furchtbar alt. Hunderte zornige Falten durchziehen ihre blasse Haut. Ich taste nach dem Messer an meinem Gürtel. Mit dem ich vorhin erst die Schlafsäcke zerstochen habe ... Warte, der Gedanke gehört nicht in diesen Moment! Keuchend ziehe ich die Waffe und halte sie schützend über mich. Das Mädchen aus Neun kümmert es nicht. Sie erwischt Aramis am Knie und erst, als diese fluchend weg stolpert, wendet sie sich erneut mir zu. Fast schon unbekümmert drückt sie meine Hand zur Seite. Holt selber aus, zielt auf meine Kehle ... »Nein!« Ich steche das Messer vorwärts. Rrriiitsch ... »Fuck!« Die Klinge hat ihre Jacke an der Brust zerschnitten. Ein winziges rotes Rinnsal quillt darunter hervor. Und ich – ich denke nicht mehr, ich fühle nicht, nein, ich will nur leben! Ich bäume mich auf wie ein Schiff im Sturm. »Annie, halt still!«, brüllt Aramis. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie mit ihrem Bogen auf uns zielt. Es kostet mich sämtliche Willenskraft, nicht wieder aufzubegehren. Doch ich vertraue Aramis – eine andere Chance habe ich schließlich kaum. Fäuste geballt, Lider fest geschlossen, warte ich auf das Unvermeidliche. Tschick. Der Einschlag des Pfeils ist kaum zu hören. Dann hustet die Tributin über mir. »Ahh ...« Feste Schritte nähern sich. Der Stoff einer Regenjacke knistert, als Aramis die Neunerin von mir herunterzieht. Sie lebt noch, ich höre ihr Keuchen – und ihr leises Wimmern. »Bitte ...« Vorsichtig sehe ich mich um. Aramis’ Pfeil hat unsere Gegnerin mitten in den Bauch getroffen. Das Blut sieht man kaum, doch ihr Gesicht ist käseweiß. Sie kniet vornübergebeugt auf der steinigen Erde und ringt nach Luft. »... bitte ...« »Das hättest du dir vorher überlegen müssen, bevor du uns angegriffen hast.« Aramis lässt den Bogen fallen und zieht stattdessen wieder das Messer. »Aber wer tötet, kann auch getötet werden. So wollen es die Spiele.« »Nein ...« Tränen blitzen in den Augen des Mädchens auf. Der Zorn von eben ist verschwunden. Auf einmal wirkt sie wieder so jung; jünger als je zuvor. Und sie will leben, genau wie ich. »Es tut mir ... leid ...« Aramis packt ihre blonden Haare und zieht ihren Kopf zurück. In einer eindeutigen Geste legt sie die Klinge an den Hals der Tributin. Das Wimmern erstickt langsam. »Weil es dir leidtut, werde ich noch einmal gnädig sein.« »Nein«, schluchze ich nun an Stelle des Mädchens, »tu das nicht –« Dieses Mal ist es keine Plane, die mit einem sachten rrriiiitsch reißt. Ich würge. Aus zornigen, ängstlichen blauen Augen werden glasige Murmeln. Genau wie bei Wyatt sieht die Tributin aus Neun von einem auf den anderen Moment geradewegs durch mich hindurch. Und dann ertönt auch schon der Kanonenschlag. So laut, als wäre er direkt neben mir abgefeuert. Die Erde bebt, meine Ohren klingeln. Selbst Aramis verzieht das Gesicht. »Was ... was hast du getan ...«, murmle ich gegen das Rauschen an. Aramis schnaubt. »Ihr langes Leid erspart.« Sie streift das Messer an den Kleidern der Toten ab, bevor sie den Pfeil aus ihrem Oberkörper zieht. »So machen wir es mit dem Vieh daheim auch. Ein schneller Schnitt ist das Beste. Oder lasst ihr den Fisch in Vier etwa lange leiden?« »Ich ...« Mein Mund ist trocken. Ich kann Aramis nicht einmal erzählen, dass ich es nicht mag, den Fisch bewusstlos zu schlagen, bevor man mit dem Messer zwischen die Kiemen sticht und sein Leben beendet. Mir ist es ja sogar zuwider, die Tiere vor dem Kochen auszunehmen, aber eine andere Wahl habe ich ja nicht ... »Na los, komm schon! Wir müssen hier weg, bevor auch noch der Rest zurückkommt! Weiß der Himmel, warum sie noch nicht längst hier sind.« Grob greift Aramis meinen Arm. Aber der gehorcht mir nicht, genauso wenig wie der Rest meines Körpers. »Ich kann nicht –« »Oh, und wie du kannst! Oder willst du etwa deine Familie enttäuschen?« Familie ... Papa! Ich muss ihn retten! Irgendwie kämpfe ich mich mithilfe von Aramis’ Hand zurück auf die Füße. Der Rucksack, den sie mir aufzwingt, ist schwer wie Blei, aber ich sage kein Wort dagegen. Hauptsache, wir verschwinden von diesem Ort. Ich sehe nicht noch einmal zu dem Mädchen aus Neun zurück.   Der Weg in unser Lager kommt mir vor wie ein Traum. Alle Geräusche sind gedämpft. Ich höre nicht, was Aramis sagt, ich merke nicht, wie die Anstrengung mir in der Brust schmerzt; ich fühle die Tränen auf den Wangen nicht. Ein Kieselsteinchen ist mir in den Schuh gerutscht – das ist alles, was ich wahrnehme. Das ständige Reiben an meiner Hacke, bis die Socke ein Loch hat. »Wir müssen hier weg«, stelle ich mit zitternder Stimme fest, sobald wir unser Lager zwischen zwei großen Steinquadern erreicht haben. »Später. Jetzt brauchen wir erstmal eine Pause. Sonst kippen wir noch um.« »Aber sie verfolgen uns bestimmt schon!« Ich schniefe. »Hinter uns habe ich niemanden gehört. Die anderen waren noch weiter weg, als die aus Neun zurückgekommen ist. Vielleicht war sie sogar ganz alleine. Jedenfalls sollte eine kleine Pause kein Problem sein. Dann können wir uns immer noch überlegen, wohin wir als Nächstes gehen.« »Aber ... sie werden uns überall finden!« Aramis seufzt. »Verlierst du jetzt die Nerven?« »Du hast gerade jemanden umgebracht!« »Weil das die verschissenen Hungerspiele sind!« Ich werde so fest an den Schultern gepackt, dass es wehtut. »Hör zu Annie, alles wird gut. Wir sind am Leben, wir haben genug Vorräte. Es gibt keinen Grund für Panik. Wir sind bloß ein Tribut weniger. Das ist gut! Erhöht die Chancen für deinen kleinen Jungen.« Langsam nicke ich. Nichts ist gut, überhaupt nichts – aber in einem hat Aramis recht: Es muss so sein. Für Pon. Also schlucke ich all die Bitterkeit hinunter, die sich in meiner Kehle gesammelt hat und versuche, all das Blut zu vergessen, das jetzt an unseren Händen klebt. Irgendwie schaffe ich es, gemeinsam mit Aramis einen kleinen Imbiss zuzubereiten, ehe wir die wenigen Gegenstände aus dem Lager zusammenpacken. Die ganze Zeit über lausche ich auf herannahende Schritte, doch nichts passiert. Vollkommen unbehelligt machen wir uns schließlich auf in die Abenddämmerung, die mit dunklen Wolken am Horizont aufwartet. Beide sprechen wir kein einziges Wort. Nur hin und wieder gleitet mein Blick zu dem Messer an Aramis’ Hüfte, das jetzt eine Mordwaffe ist. Ich greife meinen unbefleckten Speer fester.     Die 70. Hungerspiele – Liveticker Dauer: 7 Tage, 8 Stunden, 23 Minuten || Gefallen: 11 || Am Leben: 13   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)