Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 29: Räucherspeck ------------------------ »Meine Damen und Herren, es ist wieder einmal Zeit für unseren täglichen Blick auf die Wettquoten! Und natürlich mache ich das nicht alleine – heute an meiner Seite ist kein geringerer als der Stylist von Distrikt Vier, Roan Vainworth!   Es ist mir eine Freude, hierzusein, Caesar. Wenn ich als Stylist schon nicht wetten darf, so ist es doch immer wieder spannend, die Möglichkeiten zu verfolgen. Und in diesem Jahr habe ich natürlich auch eine klare Favoritin.   Oho, mein Lieber, redest du da etwa von deiner eigenen Tributin? Ich kann es dir jedenfalls nicht verübeln –   Aber nein, Caesar. Wenn es darum geht, wer das beste Paradenoutfit hatte, dann würde ich für Annie wetten. Aber das ist ja auch kein Wunder, immerhin steckt dahinter meine Arbeit. Nein, meine Favoritin für den Sieg ist ohne Frage Shine aus Distrikt Eins. Auf sie würde ich wetten, sie hat den richtigen Biss. Auch wenn unser Team natürlich alles getan hat, um Annie bestens vorzubereiten ... Aber manchmal muss man sich auch eingestehen, dass das eigene Team nicht die besten Chancen hat. Man kann ja nur mit dem arbeiten, was einem gegeben wird.   Nun, das sehen die Zuschauer ganz ähnlich! Auch heute sind die Quoten für unsere liebe Shine wieder gestiegen, während sich Distrikt Vier immerhin halten konnte. Noch kann sich Distrikt Eins damit ungeschlagen an der Spitze behaupten. Aber auch wenn Distrikt Zwei derweil ein historisches Tief hat, dürfen wir die anderen Tribute nicht vergessen. Und da arbeitet sich gerade jemand ganz Neues die Ränge empor. Kannst du erraten, um wen es geht, Roan?   Ich habe zumindest eine Befürchtung, auch wenn ich wirklich nicht hoffe, dass es noch mehr stilistische Ausfälle derart weit schaffen. Immerhin sollte eine Siegerin – oder meinetwegen ein Sieger – nicht nur aus roher Gewalt bestehen, sondern auch ... na, du weißt schon, Caesar – etwas Graziles an sich haben. Wir wollen doch jemanden, den wir anbeten können, dessen Anblick uns inspiriert und nicht ... abschreckt.   Tja, dann wollen wir mal sehen, ob sich deine Befürchtungen bewahrheiten! Hier kommt die aktuelle Übersicht der Wetteinsätze für Sie, meine Damen und Herren!«   *   Unter den Fischern daheim erzählt man sich, kurz vor dem Tod würden all die besten Erinnerungen des Lebens zu einem zurückfinden. Frauen und Männer, die schwersten Stürmen getrotzt haben, behaupten felsenfest, ihnen sei ein helles Licht erschienen, bevor sie ohnmächtig aus der See gerettet wurden. Doch ich sehe nichts. Alles, woran ich denke, sind meine Familie und Finnick, die in diesem Augenblick vor den Fernsehern sitzen und das Ende mitansehen müssen. Ich liege wehrlos auf dem Rücken, harte Steine bohren sich in meine Schultern. Die Füße der Angreiferin drücken mich an den Handgelenken auf den Boden und mit den Knien fixiert sie meinen Oberkörper. Das Gewicht raubt mir den Atem. Bestimmt wiegt die Tributin doppelt so viel wie ich – alles Muskeln. Gegen den Nachthimmel kann ich sie kaum erkennen, geschweige denn eine Regung in ihrem Gesicht ausmachen. Brauche ich auch nicht. Ich erinnere mich natürlich an die durchtrainierte Zehnerin und ihre Künste im Bogenschießen. Neun Punkte. Wie Shine. »Du bist Vier ...«, stellt meine Gegnerin leise fest. Mit dem Pfeil am Hals traue ich mich nicht einmal, zu nicken oder gar zu antworten. Jede Bewegung erscheint unmöglich. Nur durch meinen Kopf hallt ein stummer Schrei. Die dunkle Silhouette über mir zuckt mit den Schultern. »Ich hätte erwartet, dich bei den Karrieros zu finden, aber gut – so ist es einfacher für uns beide, schätze ich.« In Erwartung des Endes schließe ich die Augen. Wenigstens wird es schnell gehen, sobald das kühle Metall erst einmal in meine Kehle eindringt. Wenn ich Glück habe, wird der Pfeil direkt die richtigen Nerven treffen und dann bin ich bald vergessen. Nur eine Fußnote der 70. Hungerspielen – Annie Cresta, Distrikt Vier. Komplett nutzlos, aber einigermaßen ansehnlich. Meine Angreiferin über mir atmet lautstark ein und aus. Sie taxiert mich, das spüre ich trotz geschlossener Augen. Wie im Erneuerungscenter denke ich an das Vieh auf der Schlachtbank. Hoffentlich überlegt die andere Tributin nicht, ob sie meinen Tod noch aufregender gestalten kann! Sicher drängeln sich ohnehin schon alle für den besten Blick auf das Elend vor den Bildschirmen. Wer hat bestimmt, dass das Gerechtigkeit ist? Dass ich so sterben soll? Ich balle eine Hand zur Faust, doch die Tränen hält das nicht auf. Ich will nicht sterben! Ich habe Pon noch gar nicht gerettet! Es gibt so viel, das ich nicht erlebt oder gesehen habe, warum darf das Kapitol mir diese Chance nehmen? Der Schmerz lässt auf sich warten. Verwirrt hebe ich ein Augenlid. Ist der Tod vielleicht doch nicht so schlimm? Habe ich ihn gar nicht bemerkt? Nein. Über mir kniet nach wie vor die Tributin aus Zehn. Ich blinzle und versuche, mehr von ihr zu erkennen. Ein paar schwarze Haarsträhnen fallen in ihr harsches Gesicht und sie hat die Augenbrauen zusammengekniffen. Die Sehne ihres Bogens ist nach wie vor gespannt, aber sie macht keine Anstalten, ihn loszulassen. In der Hoffnung, mich irgendwie befreien zu können, drehe ich das Handgelenk. Mehr als ein schmerzerfülltes Keuchen bringt mir die Bewegung allerdings nicht ein. Meine Gegnerin ist einfach zu schwer. Sie verzieht nicht einmal den Mund angesichts dieses jämmerlichen Ausbruchsversuches. Trotzdem verstärkt sie ihre Position und drückt mich so fester gegen die Steine. Ihr Gesicht in den Schatten verschwimmt hinter den Tränen in meinen Augen. »Bitte«, wimmere ich schließlich doch ganz leise, sodass ich kaum den Mund bewegen muss, »bitte nicht so. Ich will nicht sterben –« Ein Schluckauf schneidet mir die nächsten Worte ab und ich versuche angestrengt, nicht unkontrolliert zu zucken. Da schwindet der Druck der Pfeilspitze an meiner Kehle auf einmal. »Oh man«, stöhnt die Angreiferin. »Das darf doch nicht wahr sein ...« Einen Moment lang verharrt sie in ihrer Position, dann steht sie unvermittelt auf und gibt meine Handgelenke frei. Perplex liege ich da und starre sie an, wie sie langsam die Spannung aus der Bogensehne nimmt. Der Pfeil bleibt an der Sehne, aber seine Spitze zeigt jetzt gen Boden. Dafür betrachtet die Zehnerin mich wachsam. »Na los, steh auf.« Ich bleibe liegen. Meine Glieder zittern viel zu sehr, als dass sie mir gehorchen würden. »Warum ...?«, frage ich leise. Ungeduldig schnalzt die Angreiferin mit der Zunge. »Ganz einfach: Ich töte jeden, der stark genug ist, mich zu töten. Ich hab keine Lust, unschuldiges Blut an den Händen zu haben. Und in dir habe ich mich ganz offensichtlich getäuscht.« Mondlicht fällt von der Seite auf die Tributin und zum ersten Mal erkenne ich ihre Züge klar. Sie hat zwar ein hartes, kantiges Gesicht, doch jetzt, da ihre Augenbrauen nicht länger einen Strich bilden, wirkt sie gleich eine ganze Ecke freundlicher. Ihre schmalen Lippen zeigen zumindest die Andeutung eines beruhigenden Lächelns. »Du weißt schon, dass dich das Sponsoren kosten wird?«, platzt es aus mir heraus. »Ich bin immerhin ein einfaches Opfer.« Die Zehnerin hebt eine Schulter. »Ich bin nicht für die Sponsoren hier. Pech, wenn ich den Leuten nicht gefalle. Überleben kann ich auch so.« »Aber es kann nur einer von uns überleben –« »Bettelst du gerade um den Tod?« Ich schlucke. »N-nein ... natürlich n-nicht ...« »Gut. Denn wie gesagt, ich hab keine Lust auf überflüssiges Blut an meinen Händen. Ich tue nur, was ich tun muss. Und du hast nicht einmal versucht, mir die Augen auszukratzen oder so. Ehrlich, da hab ich nach deinen acht Punkten und dem Speer, den du mit dir rumschleppst, mehr erwartet.« Sie schüttelt den Kopf, als könne sie es selber kaum glauben. Ich schnaufe kurz auf. »Wenn es nicht sein muss, würde ich den Speer lieber nicht benutzen«, gestehe ich. »Hm.« Mein Gegenüber nickt. »Also, dann ...« Sie weist in Richtung der weiten Arena und ich richte mich langsam auf, ein Auge immer auf den Bogen gerichtet. »Ja ... danke. Danke, dass du mich gehen lässt.« »Klar. Ich hoffe, wir begegnen uns nicht erneut.« Ich traue mich nicht, der Zehnerin den Rücken zu kehren, während ich meine Sachen zusammensuche. Vorsicht ist immer besser als Nachsicht. Doch sie hält Wort und richtet den Bogen nicht erneut auf mich – obwohl sie zuckt, sobald ich den Speer ergreife. Rasch schiebe ich ihn in die Halterung auf dem Rücken. Erst im Stehen erkenne ich, dass mein Gegenüber gerade mal genauso groß ist wie ich. Und noch etwas fällt mir auf: Sie hat tiefe Kratzer an der linken Schulter, die sich bis zu ihrem Wangenknochen ziehen. Es hat sich bereits eine Kruste darauf gebildet, aber die tiefroten Kerben in ihrer braunen Haut sehen dennoch schmerzhaft aus. Und garantiert nicht menschlichen Ursprungs. Eine Idee schießt mir durch den Kopf. »Hier«, sage ich und strecke die Hand aus. Argwöhnisch mustert die Zehnerin erst mich, dann die kleine Metalldose auf meiner Handfläche. »Was?« »Ich schlage dir einen Deal vor. Wir bleiben heute Nacht beide hier – du lässt mich weiterhin am Leben und ich gebe dir Medizin ab. Deine Wunden sehen aus, als könnten sie es vertragen.« Ich höre ein leises Keckern. Es braucht einen Moment, bis ich erkenne, dass es das Lachen der Tributin ist. Belustigt mustert sie mich. »Hab schon von schlechteren Deals gehört. Nicht schlecht, Meerjungfrau. Aber wer sagt, dass ich mich auch dran halte? Vielleicht bist du ja diejenige, die hier einen Fehler begeht.« »Irgendwie müssen wir einander wohl vertrauen. Du hast mich nicht getötet und jetzt hast du sogar deine Waffe sinken lassen. Ich denke, das reicht mir angesichts der Umstände. Morgen können wir ja wieder getrennte Wege gehen. Aber für heute finden wir beide keinen besseren Unterschlupf mehr. Und meine Medizin ist auf jeden Fall wertvoll, wenn du Sponsoren so bereitwillig ausschlägst.« Jetzt zucken eindeutig die Mundwinkel der Zehnerin. »Blöd bist du jedenfalls nicht«, sagt sie schließlich. »Na schön – machen wir’s so. Ich bin Aramis. Zehn, falls es dir nicht mehr einfällt.« Mit diesen Worten nimmt sie den Pfeil endgültig von der Sehne und schiebt ihn in den Köcher an ihrer Hüfte. Ich lächle. »Annie. Ganz offensichtlich Distrikt Vier.« »Ich weiß. Hab ich auswendig gelernt. Acht Punkte, dein Mittribut ist Pon, sieben Punkte. Beide keine Freiwilligen. Mittelmäßige Interviews, keine bekannten Stärken. Habt euch im Training mal mit den Karrieros rumgetrieben. Und du hast ziemlich lange mit Fünf geredet, bevor sie dich abgewiesen hat.« »Das ist dir alles aufgefallen?« »Ich hab eben aufgepasst.« Meine Wangen werden warm, aber Aramis sagt nichts weiter dazu, sondern lässt sich neben mir auf die Erde fallen. Auffordernd streckt sie die Hand nach der Dose aus und ich lasse mich ebenfalls auf die Knie sinken. Zu Demonstrationszwecken nehme ich etwas von der Creme und streiche sie auf die übrigen Abschürfungen an meinen Unterarmen. »Nicht schlecht«, gibt Aramis anerkennend zu, als die Rötungen kurz darauf verschwinden. »Was ist dir überhaupt passiert, dass du so mies aussiehst?« »So eine Art ... Erdwelle?« Ich reiche die Dose an Aramis weiter. »Plötzlich sind lauter Steine den Hang runtergekommen, als wenn der Berg sich auflöst. Ich habe mich gerade so auf einen Baum retten können.« »Ah. Ich wusste doch, dass diese Berge es in sich haben.« Mit gerümpfter Nase riecht Aramis an der Creme, ehe sie sich eine dünne Schicht auf die Schulter schmiert. Es sieht aus, als wäre eine Katze – eine sehr große wohlgemerkt – mit den Krallen darüber gefahren. Aramis bemerkt meinen Blick und schneidet eine kleine Grimasse. »Das ist auch so eine ... Überraschung der Arena gewesen. Sagen dir Berglöwen was?« Ich schüttle den Kopf. »Nun, stell es dir als große, blutrünstige Katze vor.« »Oh.« Der Kloß in meinem Hals meldet sich zurück. Plötzlich hinterfrage ich die Entscheidung, mich in den Bergen zu verstecken. »Ist aber schon ein bisschen her, dass ich dem Vieh begegnet bin. War weiter hinten. Denke nicht, dass so einer hier noch einmal auftaucht.« »Wäre besser«, murmle ich. Hastig räuspere ich mich und sage dann mit festerer Stimme: »Also, wie machen wir es? Jeder schläft auf einer anderen Seite des Baumes?« Aramis zuckt mit den Schultern. »Klingt fair.« Sie reicht mir die Medizin und schultert ihren Bogen. »Dann gute Nacht.« »Ja, gute Nacht.« Ein eigenartiges Gefühl macht sich in meinem Magen breit, als ich Aramis nachsehe, wie sie über die Wurzeln klettert und sich irgendwo auf der anderen Seite des Baumstumpfs niederlässt. Ich begreife nicht, woher ich den Mut nehme, ihr zu vertrauen. Müsste das nicht kompletter Irrsinn sein? Doch egal, wie ich es drehe und wende, für heute bin ich zu erschöpft, um weiter über richtig und falsch zu sinnieren. Selbst wenn ich noch fortlaufen würde, käme ich keine zehn Meter. Also gebe ich dem Wahnsinn nach und höre auf meinen Körper, der Schlaf verlangt. Mit der Gewissheit, dass in den Bergen furchtbare Monster lauern, kuschle ich mich in das Loch zwischen den Wurzeln und ziehe meine Kette aus der Jackentasche. Dankbar, am Leben zu sein, fahre ich mit den Fingerkuppen über das kleine Malachitauge des Fisches, bis alle Gedanken zum Flüstern des Meeres werden.   Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, komplett traumlos einzuschlafen, doch irgendwann erwache ich mit schmerzenden Knochen. Von allen Seiten engen mich Wurzeln ein und drücken auf die ohnehin geschundenen Stellen meines Körpers. Was wirklich zählt, ist allerdings etwas anderes – ich sehe einen neuen Tag anbrechen! Weder Berglöwen noch Aramis haben mich überfallen. Das bedeutet, dass gerade Tag fünf in der Arena anbricht. Möglichst leise richte ich mich auf. Vielleicht ist es am besten, zügig zu verschwinden. Jetzt, wo ich um die Bestien weiß, wird es umso dringender, Pon zu finden. Und dann wäre da noch die Sache mit Maylin ... Aramis entdecke ich im Morgennebel nur ein paar Schritte entfernt. Sie sitzt an einen alten Baum gelehnt da, ihren Bogen und einen Pfeil im Schoß. Ihre Augen sind geschlossen und der Kopf ist auf ihre Brust gesackt. Offenbar hat nicht nur mich der Schlaf überwältigt. Wie einfach es jetzt wäre, sich anzuschleichen und ihr ein Messer in die Kehle zu stechen ... Erschrocken über diese Gedanken drücke ich die Hände fest gegen meine Oberschenkel. Nein. Natürlich werde ich das nicht tun, egal wie einfach es wäre. Das könnte ich nicht einmal Maylin antun! So plötzlich, wie die Vorstellung gekommen ist, verschwindet sie auch wieder. Zurück bleibt nur ein schales Gefühl in meiner Bauchgegend. Ich wünschte, dass die Spiele schneller vergehen würden. Aber leider weiß ich, dass die meisten Hungerspiele länger als sieben, oft sogar über zehn Tage, dauern. Es heißt also weiter durchhalten. Ich nehme einen tiefen Atemzug und sauge frische Morgenluft in die Lungen. Noch ist es einigermaßen angenehm. Je eher ich mich auf den Weg mache, desto weiter komme ich bis zum Mittag. Zittrig stehe ich auf, um die Glieder zu strecken. Da trifft es mich auch schon wie ein Faustschlag in den Magen. Einen Moment lang wird mir schwarz vor Augen und als ich verwirrt blinzle, liege ich wieder auf der harten Erde. Was ist nur los? Warum gehorchen meine Gliedmaßen mir nicht mehr? Habe ich mich etwa vergiftet? Nur woran? Doch nicht an dem abgestandenen Wasser aus der Pflanze? Ich war so vorsichtig! Kurz überlege ich, nach Aramis zu rufen, verwerfe die Idee aber gleich wieder, als sich ruckartig mein Magen zusammenzieht und mir übel wird. Vor Hunger – und Durst, begreife ich. Ein wehleidiges Geräusch kommt aus meinem Bauch. Anscheinend waren weder die paar Kräcker noch das Brot oder die wenigen Schlucke Pflanzenwasser und Tau genug, sodass mein Körper jetzt seinen Tribut verlangt. Ich kann es ihm nicht einmal verübeln, denn gestern auf der Flucht vor der Erdwelle habe ich für drei geschwitzt. Mit feuchten Händen greife ich nach dem Rucksack aus Zeltplane und suche die Trinkwasserdose. Inzwischen zittern meine Glieder so sehr, dass ich Sorge habe, den kostbaren Inhalt zu verschütten. Doch der Gedanke ist unbegründet: Mehr als ein paar Tropfen sind gar nicht übrig. Der Rest muss gestern so durchgeschüttelt worden sein, dass er trotz doppelter Plane ausgelaufen ist. Ich verfluche meine frühere Sorglosigkeit. Wie soll ich so nur weiterkommen? Ich wusste doch, dass Trinken das allerwichtigste in der Arena ist! Erschöpft rolle ich mich auf den Rücken und starre in das erste Morgengrau hinauf. Oh wie gerne würde ich jetzt als Vogel durch die Wolken fliegen. Schon immer wollte ich die Welt von oben sehen. Einmal über das Meer segeln, in die unendliche Weite blicken, den Horizont erreichen ... Das ist nur den Möwen daheim vergönnt. Was wäre es schön, wenn ich im nächsten Leben eine von ihnen sein könnte ... Pling, pling, pling ... Nur das leise Klingeln stört meinen Traum. Ich bin mir sicher, als Vogel auf offener See hört man nichts außer dem Rauschen der Wellen. Aber es ist eine schöne Melodie ... pling, pling – Plop. Etwas ist in der Nähe auf dem Boden gelandet. Schlagartig bin ich wieder zurück in der Arena. Unendlich müde hebe ich ein Augenlid und blinzle in Richtung der Ebene zwischen mir und Aramis. Da liegt ein silberner Fallschirm, nur ein paar Speerlängen entfernt. Ich seufze. Viel zu weit ... Schon sinken meine Lider wieder nach unten. Der Traum ist sowieso besser, denn jetzt rieche ich den Eintopf, den meine Mutter früher immer gekocht hat. Was würde ich für einen Bissen davon geben, nur einen einzigen! Der Geschmack liegt mir mit einem Mal direkt auf der Zunge, obwohl ich seit Jahren nichts dergleichen hatte – Etwas anderes mischt sich darunter. Fremde Gewürze, die meine Mutter sicher nicht benutzt hat. Nein, das ist falsch! Ich will den richtigen Eintopf zurück – Ein letztes Mal schaffe ich es, den Kopf zu heben und mich umzusehen. Aramis kniet neben dem Fallschirm, einen kleinen Edelstahltopf in den Händen, aus dem Dampfschwaden aufsteigen. Was macht sie mit dem Eintopf meiner Mutter? Woher kennt sie Mama überhaupt? Unsere Blicke treffen sich. »Ah, du bist wach«, begrüßt Aramis mich. »Gut.« Sie wirft mir einen Zettel zu. Mit schwirrendem Kopf starre ich auf die kleinen Druckbuchstaben darauf. Immer wenn ich einen erkannt habe, tanzen die anderen im Kreis und verändern irgendwie ihre Form. Ich stöhne leise. »Da steht ‚Vertrauen? F.‘ drauf«, souffliert Aramis mir. Meine Zunge löst sich kaum vom Gaumen, um ihr zu antworten. »Ist das eine Rätselaufgabe?«, würge ich leise hervor. Aramis zuckt mit den Schultern. »Wir beide haben Mentoren, deren Namen mit F beginnen. Und wir haben beide Hunger und Durst. Also ... Danke wem auch immer.« Den Topf und eine große Wasserflasche im Arm kommt sie zu mir herüber. »Hier, du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.« Immer noch verwirrt greife ich nach der Flasche. Den Baumstumpf im Rücken schiebe ich mich ein Stück hoch, bevor die ersten Tropfen über meine Zunge rollen. Am liebsten würde ich gar nicht aufhören, so köstlich schmeckt es! Doch mit jedem Schluck klären sich meine Gedanken wieder. Meine Mutter ist tot und der Eintopf in Aramis’ Händen ist natürlich nur ein Sponsorengeschenk aus dem Kapitol. Ich bin auch kein Vogel am fernen Himmel, sondern immer noch in der Arena der 70. Hungerspiele. Und ich darf es nie wieder so weit kommen lassen, dass die Halluzinationen mich überwältigen. »Danke, Aramis«, sage ich leise und erkläre ihr, wie ich mein Trinkwasser aus Pflanzen gewonnen habe und deshalb nie genug hatte. Sie hat eine volle Flasche am Füllhorn erbeutet, also nutze ich die Gelegenheit, um sie gleich noch vor den Salzflüssen und den giftigen Fischen darin zu warnen. Offenbar ist ihr das neu, denn sie legt nachdenklich die Stirn in Falten und brummt etwas Unverständliches, ehe sie mir im Austausch für die Wasserflasche den Topf entgegenhält. Wie aufs Kommando lässt mein Bauch wieder ein jämmerliches Knurren hören. Ich sauge den Geruch des heißen Eintopfs in mich auf. So was habe ich noch nie gegessen, das weiß ich sofort. Anstatt von Fisch oder Meeresfrüchten erkenne ich Kartoffeln und ... »Ist das Speck?« »Mhm«, antwortet Aramis. »Räucherspeck. Sowas in der Art hat mein Vater auch immer gekocht. Ist wohl eher nicht so typisch für Vier das Gericht?« Ich schüttle den Kopf und nehme einen Bissen. Der Geschmack explodiert förmlich auf meiner Zunge. Vor lauter unterschiedlichen Eindrücken begreife ich gar nicht, was ich alles schmecke. Tomate ganz sicher, aber da ist noch mehr ... »Lecker«, nuschle ich zwischen zwei Löffeln voll. »Und stärkend. Bei uns gab’s das immer im Herbst, am Morgen bevor wir die Viehherden zurück in die Ställe getrieben haben für den Winter. Passt nicht so zur Hitze hier, aber es macht verdammt satt.« Aramis nimmt noch einen großen Schluck Wasser, bevor sie die – jetzt halbleere – Flasche zuschraubt. »Das dürfte wieder ein paar Tage vorhalten. Meine Vorräte vom Füllhorn sind nämlich fast weg.« »Dann sollte ich dir wohl besser nicht deinen Eintopf wegessen«, entschuldige ich mich und will Aramis den Topf zurückreichen. Doch sie hebt abwehrend die Hände. »Kann auch sein, dass dein Odair uns das geschickt hat und extra ein Essen aus meinem Distrikt gewählt hat. Ist aber auch egal. Iss einfach, du brauchst das mindestens genauso sehr wie ich.« Bei der Erwähnung von Finnick werden meine Wangen heißer als der Eintopf. Aber Aramis hat nicht unrecht – zuzutrauen wäre ihm diese Aktion. Wenn er sich nicht gleich mit den Mentoren aus Zehn besprochen hat. Und damit habe ich mein Überleben zum zweiten Mal Aramis und einem Mentorengeschenk zu verdanken. Wie soll ich diese Schuld nur je begleichen? Den Blick gen Himmel gerichtet, sage ich laut und deutlich »Danke«. Von Aramis ernte ich einen merkwürdigen Seitenblick, doch dann besinnt sie sich anders und folgt meinem Beispiel. Gesättigt und nicht länger am Verdursten, fühle ich mich schließlich wie neugeboren. Etwas unschlüssig tausche ich einen Blick mit Aramis. Was stand noch gleich auf dem Zettel aus dem Geschenk? Vertrauen? Sie hat mich immerhin nicht umgebracht, obwohl sie ausreichend Gelegenheit gehabt hätte. Und mit ihr an der Seite wäre ich deutlich sicherer. Gerade wenn ich den Karrieros begegnen sollte ... sie muss ja nichts von meinem Deal mit Snow wissen ... Da erhebt sich Aramis plötzlich und schultert ihren Rucksack. Sie steht genau in den Strahlen der Morgensonne, als sie mir mit ernstem Blick eine Hand entgegenhält. »Na schön, Annie – ich biete dir hiermit ganz offiziell ein Bündnis an. Du weißt ziemlich viel über die Arena und ihre Umgebung, das ist nicht schlecht. Und du hast offensichtlich ein Händchen für Sponsoren, während ich kämpfen kann. Also, Vier und Zehn, was sagst du? Doppelte Chance für beide von uns?« Überrascht blinzle ich gegen die Sonne an. »Wirklich? Ich hab mir gerade erst überlegt, womit ich dich überreden könnte ...« Aramis rollt mit den Augen, doch ihre Mundwinkel zucken. Sie erinnert mich an Amber. »Ja Annie, ich meins ernst. Aber ich muss dich warnen, das ist ein einmaliges Angebot.« Erneut blinzle ich, in der Erwartung, gleich aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein Traum war und doch ein Pfeil in meine Kehle steckt. Aber nichts dergleichen passiert. Dafür breitet sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus. Ich greife nach Aramis’ Hand. »Abgemacht.«   Die 70. Hungerspiele – Liveticker Dauer: 4 Tage, 0 Stunden, 47 Minuten || Gefallen: 10 || Am Leben: 14   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)