Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 28: Stein um Stein -------------------------- »Der zweite Tag in der Arena neigt sich dem Ende – und somit darf ich Sie, werte Zuschauer, zu unserer ersten Arenanacht Talkrunde begrüßen! Während die Tribute langsam in den Schlaf driften, werden wir die Geschehnisse der ersten Tage für Sie rekapitulieren. Und natürlich sind auch in diesem Jahr wieder wunderbare Gäste mit dabei: Hier sind Seeder Howell aus Distrikt Elf und Johanna Mason aus Sieben für Sie! Also, zunächst einmal ... mein herzliches Beileid, liebe Seeder, für den Verlust deiner beiden Tribute. Es betrübt mich, zwei so talentierte junge Menschen so früh gehen zu sehen.   Danke, Caesar. Aber dein Beileid sollte nicht uns Mentoren gelten, sondern den Familien, die ihre Kinder verloren haben. Wir haben nur unser Bestes getan, sie auf das Überleben vorzubereiten. Aber manchen Mächten ist man alleine nicht gewachsen, fürchte ich.   Haha, oh natürlich, meine Liebe, denen gilt unser aller Beileid selbstverständlich ebenso. Nicht wahr? Da können Sie ruhig mal applaudieren, meine Damen und Herren, lassen Sie alle in Distrikt Elf unser Mitgefühl wissen! Und Macht ist definitiv das richtige Stichwort, Seeder – bei einem Namen wie Victoria Mason hätten wir alle wohl mit einer Überraschung rechnen müssen, oder was meinen Sie, wertes Publikum? Wir waren ein wenig naiv, dass wir bei so einer ausgezeichneten Mentorin – und Cousine! – wirklich an sechs Punkte im Training geglaubt haben, nicht?   Tja, Caesar, wessen Schuld ist das wohl, wenn die beschissene Strategie gleich zweimal aufgeht? Ich bin es nicht, die Vic unterschätzt hat, so viel ist sicher. Vielleicht hättest du mal andere Fragen im Interview stellen müssen? Oder noch viel einfacher – nicht von vornherein auf Distrikte wie unseren herabgesehen! Warum hat Vic denn nur sechs Punkte bekommen und so eine hohle Nuss wie die aus Vier gleich acht? Weil sie hübscher ist? Können tut die nix Besonderes! Das ist einfach nur Bevorzugung!   Oho – so kennen wir unsere Johanna, was? Immer gleich den Finger in die Wunde legen!   Ist ja auch nichts leichter als das, mit Wunden kenne ich mich schließlich aus.   Nun, ähm – Seeder! Was sind denn deine Gedanken zu dem neuen Bündnis in der Arena?   Ja ja, würg mich nur ab! Warum schleift ihr mich überhaupt ins Studio, wenn ich nix sagen darf? Leckt mich!«   *   Gen Abend schlage ich wieder ein Lager auf, dieses Mal in einer Senke zwischen zwei Felsen. Die Verkündung der Gefallenen bekomme ich gerade so mit, doch mein Körper verlangt seinen Tribut für den anstrengenden Tag. Jeder Knochen tut weh, meine Kehle schreit wieder nach Wasser – von dem ich ihr nur wenig gönne – und die Müdigkeit ist trotz aller Erlebnisse lähmend. Ich finde nicht einmal die Kraft, einen der Kräcker vom Füllhorn zu essen. Als die Hymne ertönt, liege ich mit dem Rücken auf dem Steinboden, der mir inzwischen so bequem vorkommt wie das Bett daheim, und habe die Hand mit der Kette fest gegen meine Brust gedrückt. Ich kann ein Seufzen nicht unterdrücken. Der erste Tribut, der heute Morgen sein Leben gelassen hat, kam aus Distrikt Sechs. Sein Gesicht verschwimmt bereits im Moment des Erscheinens vor meinen Augen und ich sehe das Porträt von Elf nicht einmal richtig. Sogar die Scham angesichts der Erleichterung über den Tod dieser Tribute hat keine Chance, mich wachzuhalten. In der Nacht bleibe ich zwar nicht von Albträumen verschont, doch so graphisch wie letztes Mal werden sie nicht und so bin ich nach dem Erwachen einigermaßen ausgeruht. Der Sonnenaufgang ist allerdings noch fern, als ich mir die Augen reibe. Nur ein paar dicke Nebelschwaden hängen im Zwielicht an den Bergflanken und rauben mir die Sicht. Die grauen Schleier wecken böse Bilder aus meinem Traum – aber gleichzeitig bedeuten sie auch, dass der Feind weniger sieht. Und noch etwas Gutes bringt der Nebel mit sich: Raureif hat sich über Nacht auf meiner Jacke und der Zeltplane niedergelassen. Ein Geschenk der Arena. Vorsichtig breite ich die beiden Sachen aus, damit sich die Tropfen in ihrer Mitte sammeln. Es ist nicht viel, aber es reicht für den Anfang. Im Vergleich zu dem abgestandenen Wasser aus der Pflanze schmeckt dieses hier herrlich frisch und ich vergesse, dass mir das ganze Land dabei zusieht, wie ich an dem beschichteten Stoff lutsche. Hungrig bin ich hingegen kaum. Gestern hat mein Magen noch leise geknurrt, doch seit der Begegnung mit den anderen Tributen ist das vorbei. Trotzdem muss ich essen. Ohne Nahrung wird meinem Körper bald die Energie für die einfachsten Aufgaben fehlen. Also mache ich mich über das Paket Kräcker her. Für den Anfang wird eine Portion hoffentlich reichen. Das keksartige Zeug bröselt fürchterlich und schmeckt wie Pappe, was in diesem Moment jedoch gelegen kommt. Davon wird mir wenigstens nicht schlecht. So gestärkt begebe ich mich wieder auf die Suche nach Pon. Ich komme nur langsam voran, denn mitten im Nebel erscheint jedes Steinchen, das unter meinen Stiefeln wegrutscht, unendlich laut, und die geisterhaften Schwaden erschweren es, den besten Weg zu finden. Alle paar Meter halte ich inne und lausche. Verfolgt mich ein anderer Tribut? Ist jemand in der der Nähe? Zum Glück bleibt es ruhig. Trotzdem wechsle ich öfter die Richtung, sodass ich im Zickzack über die Bergflanke irre. Mir scheint, dass ich bereits Stunden unterwegs bin, als endlich das erste Morgenlicht den Boden erreicht. Womöglich ist es auch schon deutlich später – die Hitze steigt jedenfalls rasch an, sobald der Nebel unter den Sonnenstrahlen aufbricht. Über Nacht war es angenehm, vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig Grad. Genug, dass ich in der Jacke nicht ausgekühlt bin. Doch jetzt wird es immer mehr. Dagegen war es gestern noch richtig lau. Wollen uns die Spielmacher bereits nach so kurzer Zeit beeinflussen? In der Arenamitte dürfte es wärmer sein, aber dafür gibt es dort sicherlich Trinkwasser in rauen Mengen. Ich finde zwar im Laufe des Vormittags eine weitere wasserspeichernde Pflanze, die Ausbeute ist allerdings kläglich und reicht gerade so für mich. Wenn das so weitergeht, werde ich meine Kräfte aufsparen müssen. Ich bin so schon langsam und versuche mir ein ums andere Mal, das Keuchen zu verkneifen. Dafür ist die anhaltende Stille zu unheimlich. Bei jedem Steinchen, das in die Tiefe rollt, zucke ich zusammen und fürchte, als Nächstes einen Kanonenschlag zu hören. Genauso sind meine Muskeln ständig angespannt, jederzeit bereit, mir die Arme über dem Kopf zusammenzuschlagen und mich an Ort und Stelle hinzukauern. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Das Warten auf den unvermeidbaren nächsten Donner oder der Schreck, wenn es wirklich so weit ist. In manch totenstillen Momenten wünsche ich mir die Kanone fast schon herbei. Doch diesen Gefallen tut mir die Arena nicht. Die Sonne senkt sich bereits wieder, als ich feststelle, in den letzten Tagen ein gutes Viertel des Talkessels umrundet zu haben. Das Füllhorn liegt jetzt in meinem Rücken, sodass ich es bald gar nicht mehr sehen werde, wenn ich weiter der Bergkante folge. Auf der Rückseite der Arena werde ich Pon bestimmt nicht finden, solange er sich an unseren Plan hält. Abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, dass er den Berg überhaupt vor mir umrunden könnte. Weiterziehen hat also wenig Sinn, weshalb ich beschließe, umzukehren und dieses Mal noch weiter oben zurückzuwandern. Vielleicht habe ich beim ersten Mal etwas übersehen oder Pon knapp verpasst. Der Aufstieg kostet mich einiges an Kraft. Ich komme bis zu einer Felswand, die sich unnatürlich glatt drei, vier Meter in die Höhe reckt. Ein unüberwindbares Hindernis und wahrscheinlich Absicht der Spielmacher. Das muss der Rand der Arena sein. Hier oben liegt die Art Stausee, die ich vom Füllhorn aus gesehen habe – und dahinter nur der Schutzschild unter der weißen Kuppel. Vor Angreifern im Rücken bin ich somit sicher. Unwillkürlich frage ich mich, ob es in dieser Arenahülle nicht einen Hinterausgang, ein Schlupfloch, gibt. Irgendwas, das die Spielmacher oder Bauarbeiter übersehen haben, würde ja schon genügen, um zu entwischen ... Durch das Wasser könnte ich schwimmen, wenn sich nur der Damm überwinden ließe … Aber natürlich sind das nur Spinnereien meines völlig dehydrierten Gehirns. Ich bin am Ende meiner Kräfte und mit bohrendem Hunger meinerseits neigt sich Tag drei schließlich genau hier, unterhalb der Felswand, dem Finale entgegen. Ein wenig stolz bin ich schon – wenn man mich nach der Ernte gefragt hätte, dann wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dass ich so lange überleben kann. Klar ist viel Glück dabei, dennoch habe ich auch eine Menge dem Aufenthalt an den Überlebensstationen zu verdanken. Ohne die hätte ich kein Wasser gefunden und bestimmt noch zig andere Fehler begangen. Ganz zu schweigen vom Training mit den Mentoren … Den nächsten Tag beginne ich genauso wie den letzten, mit dem Tauwasser von meiner Zeltplane, die ich dieses Mal in weiser Voraussicht vorher aufgespannt habe. Zum Frühstück gibt es einen weiteren Kräcker und da mein Magen nach dem ersten Bissen leerer erscheint als zuvor, esse ich schweren Herzens einen zweiten. Dann geht es wieder los. Zur Mittagspause gönne ich mir die nächsten Kräcker. Inzwischen zittern meine Hände haltlos und ich schaffe es kaum, das geschmacklose Gebäck aus seiner Packung zu befreien. Minutenlang kämpfe ich mit dem Plastik, bis endlich eine Ecke einreißt. Und selbst danach bleibt ein dumpfes, nagendes Gefühl in der Magengegend zurück. Ich brauche dringend etwas zu essen. Egal wie übel mir bei dem Gedanken wird. Diese Überlegung kreist unablässig durch meinen Kopf und trotzdem schaffe ich es nicht, aufzustehen. Die Mittagssonne brennt so grell vom Himmel herab, dass ich lieber die Augen schließe. Irgendwann wird es kühler, verspreche ich mir, dann kehrt meine Kraft bestimmt zurück … »... Annie?« Ich blinzle. Habe ich etwa geschlafen? Die Arena ist bereits in goldenes Abendlicht getaucht – »... Annie.« Halt, diese Stimme kenne ich ... aber – nein, unmöglich ... Da vorne wartet Finnick, zwischen Steinen und verdorrten Büschen. Die Sonne steht hinter ihm wie diese Heiligenscheine aus den Bildern vergangener Zeiten, ihre Strahlen die Zacken seiner ungreifbaren Krone. Er kommt auf mich zu, ein Lächeln auf den Lippen, und setzt sich neben mir auf einen Stein. Ganz automatisch greife ich nach seiner Hand, alles andere vergessen. »Holst du mich ab?«, frage ich. Doch Finnick summt nur leise vor sich hin und als ich ihn wieder ansehe, hält er plötzlich selbstgepflückte Salzwiesenblumen in der Hand. Ich wundere mich, dass es diese Blume hier in der Arena gibt – zumindest so lange, bis Finnick mir eine davon ins Haar steckt, bevor er mich in seiner Arme zieht. Er riecht so gut, nach Heimat und allem, was mir Schutz verspricht, dass ich ihn nie wieder loslassen möchte. Immer noch summend steht Finnick schließlich auf und spaziert hinaus auf die Ebene. Ich könnte schwören, dass sie vorhin erst grau-brau und überwiegend steinern war, aber jetzt blühen überall Blumen. Nicht nur Salzwiesenklee, sondern hübsche Gewächse mit blauen oder rosa Blättern. Das Füllhorn in der Ferne scheint hingegen verschwunden. Ich beeile mich, auf die Füße zu kommen. Finnick winkt schon ganz auffordernd in meine Richtung und ich will ihn nicht warten lassen. Nicht, wenn wir endlich nach Hause gehen! Schneller und schneller läuft Finnick nun vor mir über die Ebene, als wolle er fangen spielen. »Warte«, versuche ich zu rufen, eine Hand nach ihm ausgestreckt, »ich kann nicht so schnell ...« Doch er scheint mich gar nicht zu hören, denn er wird nicht langsamer, obwohl er sieht, wie ich stolpere. Äste knacken unter meinen Füßen und kleine Steinchen rollen verräterisch laut weg, während ich meinem Körper das Letzte abverlange. Ich laufe, renne – und Finnick gerät trotzdem weiter in die Ferne. Dabei geht er nur, ganz entspannt. Er bückt sich gar hin und wieder und pflückt eine neue Blume für den Strauß in seinen Händen. Mit brennenden Lungen stürme ich über die Ebene zwischen uns, die sich mit jedem Schritt weiter auszudehnen scheint. Rumms, rumms, donnern meine Stiefel auf den felsigen Boden und immer, wenn ich auf Gras trete, knirscht es so laut, dass es meine Gedanken übertönt. »Finnick, warte doch!«, flehe ich erneut. Erfolglos. Der Lärm ertränkt den Ruf. Ein Ast bricht unter meinem Gewicht und es klingt wie ein Kanonenschlag. In der Ferne dagegen dreht sich Finnick langsam um, seine Augen geweitet. Er reißt den Mund überrascht auf, dann zucken plötzlich alle Muskel in seinem Gesicht und lassen ihn eine Grimasse ziehen. Der Boden unter ihm bäumt sich im selben Atemzug auf. Wie eine Puppe wirbelt es Finnick in die Luft. Ich schreie, strecke die Arme nach ihm aus, doch ich bin zu weit weg. Und dann erzittert auch schon der Boden zu meinen Füßen. »Nein –« Ich reiße die Augen auf. Dieses Mal wirklich, genauso wie der Schrei dazu echt ist. Finnick hingegen war nur eine Illusion, das wird mir mit einem Blick auf die – blumenlose – Bergflanke klar. Dumm, wie ich bin, habe ich mich von Hunger und Durst überwältigen lassen. Jetzt sinkt die Sonne bereits dem Arenahorizont entgegen. Ich kann froh sein, noch zu leben! Gähnend richte ich mich auf. Zumindest versuche ich es, denn in diesem Moment bebt die Erde erneut. Das war auch kein Traum! Es schüttelt mich durch, als wäre ich während eines Sturms auf offener See. Nur dass es solider Stein ist, der sich aufbäumt und herabsinkt wie wütende Wellen. Was hat das zu bedeuten? Gerade so bekomme ich meinen Speer zu fassen, bevor das nächste Erdbeben ihn von mir fortreißt. Zum Glück ist die Zeltplane mit den Vorräten noch dran gebunden. Irgendwie schaffe ich es, trotz des wackligen Untergrunds, mir den improvisierten Rucksack aufzusetzen. Dann stemme ich mich hoch und sehe zu, dass ich Land gewinne. Weit komme ich nicht. Nach den ersten Schritten zittert die Erde wieder, diesmal so stark, dass es mir wortwörtlich den Grund unter den Füßen entzieht. Genau vor meinen Zehenspitzen breitet sich ein Riss durch das Gestein aus. Und er wird größer, immer größer. Groß genug, einen Menschen zu verschlingen. Ich springe und lande auf allen vieren hinter dem Abgrund. Der Aufprall treibt mir die Luft aus der Lunge, aber ich schiebe mich weiter, über spitze Steine und neue Risse. Egal, Hauptsache ich komme hier weg. Das muss eine Falle der Spielmacher sein! Wenn ich nicht kämpfe, kann es nur schlimmer werden. Wollte Finnick mich davor warnen? Nein, das ist ein dämlicher Gedanke. Natürlich nicht. Er ist im Kapitol und – Bei den sieben Meeren, ich muss weiter kämpfen, für ihn; für Pon! Kaum habe ich es zurück auf die Füße geschafft, da gesellt sich zu dem Grollen der Erde lauter Donner. Doch der Himmel über mir zerreißt nicht etwa unter Blitzen. Nein, es regnet Steine. Wie faustgroße Hagelkörner schlagen sie neben, hinter, vor mir auf den Boden. Krachend zerplatzen die Geschosse in hunderte scharfe Splitter, die sich in meine viel zu dünne Arenakleidung bohren. Ich werfe einen Blick zurück. Eine gigantische Welle schießt den Fels hinab, geradewegs auf mich zu. Statt Wasser sehe ich allerdings nur Gestein. Eine graue Wand, so tödlich wie die Sturmflut. Die kleinen Steine sind nur ein Vorgeschmack. Ihnen folgen mehr, größere Brocken. Bruchstücke so hoch und breit wie Trexler jagen den Abhang hinunter. Zur Seite! Ich muss zur Seite rennen! Laufe ich vor der Steinwelle weg, wird sie mich nur einholen. Einen Sturm muss man schließlich auch umschiffen! Wenn doch nur der Boden nicht unter mir wegrutschen würde! Immer wieder falle ich, krieche weiter, rapple mich auf – nur um gleich darauf erneut zu stürzen. Ich bin viel zu langsam für diese Naturgewalt. Abermals knallt es hinter mir, laut wie zehn Kanonenschüsse auf einmal. Alle Tribute könnten sterben, ich würde es nicht mitbekommen. Verzweifelt reiße ich den Kopf herum. Von links kommt die Steinwelle und rechts geht es immer steiler ins Tal hinab. Aber halt! Da kommen wieder Bäume in mein Blickfeld! Eine ganze Gruppe von ihnen. Sie sind groß, ihre kahlen Spitzen ragen bestimmt sechs, sieben Meter in die Luft. Höher als die Welle? Eine andere Wahl habe ich nicht. Wenn man den Sturm nicht umschiffen kann, muss man sich an den Mast binden und auf das Beste hoffen. Das hat mein Vater mir beigebracht. Also renne ich noch ein wenig schneller, als würde wieder Finnick dort stehen. Bumm! Erneut schlägt ein Stein hinter mir auf den Boden. Es reißt mich von den Füßen, die ganze Welt dreht sich. Grau, grau, alles ist nur grau. Oben wie unten, Himmel wie Erde. Tränen brennen in meinen Augenwinkeln. Trotzdem schaffe ich es zurück auf die Füße, renne weiter. Nur ein paar Meter noch! Mit einem tiefen Atemzug greife ich nach den ersten Ästen. Flammen lodern in meiner Brust auf. Aber ich gebe nicht auf. Ich klammere mich an das Holz und stemme den Rest von mir hoch. Irgendwie schaffe ich es in eine Astgabel, die mein Gewicht trägt und von da aus krieche ich zum Stamm. Stell dir einfach vor, dass es ein Schiffsmast ist, rede ich mir gut zu. Klettern habe ich schließlich geübt, nicht nur im Trainingscenter, sondern schon zuhause. Beide Füße fest gegen den Stamm gedrückt, angle ich mich durch das Astgewirr. Den Rest erledigt die Angst. Ich sehe nicht nach unten, nicht zu der rasenden Steinwelle. Dafür bleibt keine Zeit. Höher, ich muss höher. Und ich schaffe es. Wie durch ein Wunder erreiche ich die oberen Äste, die so dünn sind, dass sie niemanden tragen. Gerade rechtzeitig. Die ersten Steinbrocken schlagen unten gegen das Holz. Wieder und wieder knallt es, während es den Stamm durchschüttelt. Sollte ich das hier überleben, dann wahrscheinlich halb taub. Aber dazu muss ich es überhaupt schaffen, nicht herunterzufallen. Ich weiß nicht, was mehr zittert – ich oder der Baum. Mit beiden Armen umschlinge ich den trockenen Stamm, doch bei jedem neuen Schlag lässt meine Kraft nach. Selbst als ich die Beine zur Hilfe nehme, verliere ich fast den Halt. Die Baumrinde reibt meine Haut durch die Kleider auf. Alles schmerzt, sogar die Tränen brennen auf den Wangen. Ist dies das Ende? Werde ich so die Welt verlassen? Nicht zu Pons Schutz, sondern in einer Falle der Spielmacher? Ich will nicht aufgeben, aber ich kann nicht mehr. Es tut so weh. Es soll einfach nur vorbei sein! In Gedanken gehe ich ein letztes Mal durch Distrikt Vier, rieche das Salz und stelle mir vor, wie auf dem Friedhof – mit Meerblick – mein Sarg an Seilen ins Grab gelassen werden wird … Seile! Natürlich! Daran habe ich erst vorhin gedacht. In der Not bindet man sich an den Schiffsmast und hofft auf das Beste! Und was habe ich am Füllhorn erbeutet? Schnur! Ich muss nur an den Inhalt meiner Zeltplane gelangen! Vorsichtig, ganz vorsichtig, warte ich den nächsten Steinschlag ab, dann löse ich den linken Arm vom Baumstamm. Im Gegenzug presse ich mich noch fester gegen die Rinde. Den Atem angehalten, greife ich nach der knisternden Plane auf meinem Rücken. Gerade so bekomme ich eine Ecke zu fassen, die ich weiter zu mir ziehen kann. Stück für Stück. Ein dicker Steinbrocken lässt den Baum schwanken wie Schilf im Wind. Ich kreische spitz auf und packe die Plane fester. Für Finnick, für Pon, für meine Familie! Ohne zu sehen, was ich tue, taste ich mich vor. Als Erstes finde ich den Feuerstahl – halt, da ist etwas Weiches. Die Schnur! Unendlich langsam befreie ich das dicke Bündel aus dem improvisierten Rucksack. Die Zeit scheint sich ins Unermessliche zu dehnen, bis ich endlich den Arm mitsamt Beute wieder um den Baum schlingen kann. Der Rest geht rasch: Ich entknote die Schnur, greife sie zweifach – denn doppelt hält besser – und ziehe sie Zentimeter für Zentimeter um Stamm und mich. Zum Schluss verbinde ich die Enden mit einem ordentlichen Knoten. Wenigstens das kann ich auch mit geschlossenen Augen perfekt. Jetzt kann ich nur auf das Unvermeidliche warten. Und wie es kommt! Das muss der Untergang dieser Arena sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass noch etwas steht, wenn diese Welle aus Steinen sich erst ihren Weg gebahnt hat. Immer höher türmen sich die Gesteinsbrocken unter mir auf. Es wird lauter, immer lauter – und dann ist es still. Alles, was bleibt, ist ein stetes Fiepen. Ich merke erst, dass die Äste zu meinen Füßen brechen, als ein scharfkantiger Splitter mich am Oberschenkel trifft. Vermutlich schreie ich auf, aber der Sturm aus Steinen verschluckt es. Mein Baum neigt sich zusehends dem Boden entgegen. Doch er hält stand. Unter mir rauscht die Flut vorbei, bis die Brocken wieder kleiner werden. Kopfgroß, faustgroß, Kieselsteinchen. Zurück bleiben nur eine Schneise der Verwüstung und das Fiepen in meinen Ohren. Trotzdem mache ich mich los und springe vom Baum hinunter – zur Erde sind es nur knapp zwei Meter, denn der Stamm ist oberhalb der Wurzel komplett zersplittert und liegt jetzt quasi horizontal auf dem Hang. Einen Moment lang starre ich die verwüstete Landschaft an, dann schleppe ich mich ein paar Schritte weiter. Hauptsache weg von hier! Immerhin sind alle Sachen noch da ... oder? Ich taste nach der Innentasche meiner Jacke, deren Stoff an verschiedenen Punkten aufgerieben ist. Mit einem erleichterten Seufzen stelle ich fest, dass die Kette unversehrt ist. Das Metall ist selbst durch den Netzstoff kühl und ich fühle die Kanten von Finnicks selbstgebasteltem Fischanhänger. Dankbar drücke ich ihn enger gegen die Brust, während ich weiter stolpere. Alles in meinem Körper schmerzt. Die Rippen, die Arme, die Hüfte. Ich bin viel zu nah am Tal, aber an einen erneuten Aufstieg ist nicht zu denken. Nicht, dass ich noch einmal von so einer Steinflut überrascht werde. Ohnehin nähert sich die Nacht mit großen Schritten. Mir bleibt nicht viel Zeit oder Tageslicht für die Suche nach einem Unterschlupf. Morgen werde ich einen anderen Weg ausfindig machen, das verspreche ich mir. Eine besonders geeignete Stelle finde ich nicht für mein Lager. Die Vegetation ist selbst so weit unten zu flach, um echten Schutz zu bieten. Zwar sehe ich in der Distanz die Überreste der Steinwelle, die sich meterhoch auftürmen und damit einen natürlichen Wall zwischen Tal und Berghang bilden, doch davon will ich so fern sein, wie möglich. Den Spielmachern ist es zuzutrauen, dass sie mir im Schlaf einen Brocken auf den Kopf fallen lassen. Schließlich bleibe ich an einem hohlen Baumstumpf, unter dessen vertrockneten Wurzeln ich mich zusammenkauern kann. Es hat seinen Vorteil, nicht so groß oder muskulös zu sein. Den Speer lege ich heute nicht ab, sondern behalte ihn immer in der Hand. Wer hätte gedacht, dass jenes angewärmte Metall zwischen den Fingern mich eines Tages beruhigen würde? Wahrscheinlich wird sich das ziemlich schnell ändern, wenn er erst einmal mit Blut in Kontakt kommt. Um die ungebetenen Gedanken zu vertreiben, nehme ich meine Wunden unter die Lupe. Das meiste ist recht oberflächlich – Abschürfungen, Verbrennungen durch die Reibung, ein paar Schnitte und Beulen. Nicht lebensbedrohlich, nur unangenehm. Es darf sich bloß nichts entzünden. Aber da ich mangels Ressourcen nur abwarten kann, beschränke ich mich darauf, den gröbsten Dreck an etwas verdorrtem Gras abzuwischen und anschließend mit einer Ecke meines Tops trocken zu tupfen. So in die Wundversorgung versunken, höre ich zum ersten Mal wieder etwas abgesehen von dem Tinnitus auf meinen Ohren: Ein helles Klingeln. Ich lange schon nach dem Speer, da erinnere ich mich – dieses Geräusch kündigt einen Fallschirm an! Von oben kommt ein Sponsorengeschenk! Und tatsächlich, ich schaue keine Sekunde zu früh auf. Aus der Dunkelheit segelt ein silberner Behälter auf mich zu und landet direkt vor dem hohlen Baumstamm. Im selben Augenblick ertönt die Hymne zum Tagesende. Ungeachtet des leerbleibenden Arenahimmels packe ich mein Geschenk. Was kann das nur sein? Es braucht mehrere Anläufe, bis ich den Container geöffnet bekomme. Zuerst fällt mir ein kleiner, bedruckter Zettel in den Schoß. Wir sind stolz auf dich. Bleib bedacht, dein Team. Meine Lippen fangen an zu zittern, als ich den Blick nach oben richte. Die letzten Tage war ich ständig so einsam, doch hier ist der Beweis, dass ich nicht alleine bin. Da draußen denkt man an mich – und jemand hat sogar Geld gespendet. Jemand ist auf meiner Seite! Neben der Mentorenbotschaft sind in dem Container noch ein Brötchen und eine weitere Dose. Neugierig öffne ich Letzteres. Zum Vorschein kommt eine schmierige Paste. Ich schnuppere daran. Eindeutig nicht essbar. Im Gegenteil, der Geruch sticht in der Nase wie im Krankenhaus. Einer Eingebung folgend verteile ich etwas von der Masse auf den Handflächen. Angenehme Kühle breitet sich auf meiner Haut aus und ich seufze vor Erleichterung auf. So gestärkt kann ich mich dem Brötchen widmen. Erstmals seit dem Eintritt in die Arena knurrt mein Magen beim Anblick des Essens wieder so richtig. Gierig schlage ich die Zähne in den luftigen Teig. In der Mitte ist es sogar noch warm! Einen Moment lang schwebe ich auf Wolken. Zumindest bis ich den Blick hebe und gerade so sehe, wie etwas mit hoher Geschwindigkeit an mir vorbeirast. Wenige Zentimeter neben mir bleibt das Ding in der Erde stecken. Ein Pfeil! Ich verschlucke mich an dem Brötchen. Husten und keuchend krieche ich rückwärts – und schon bohrt sich ein zweiter Pfeil in den Baumstumpf, nur wenige Fingerbreit von meiner Hand entfernt. Jetzt höre ich es auch: Jemand kommt schnell näher. Ein weiteres Mal wird nicht geschossen, denn die dunkle Gestalt mit dem Bogen ist bereits bei mir. Bevor ich schreien kann, hat sie mich erreicht und auf den Boden gedrückt. Ich reiße das Knie hoch und trete zu, doch ich treffe nur Luft. Dafür senkt sich der Absatz eines Stiefels auf mein Handgelenk. Ich winde mich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Alle Techniken von Amber sind vergessen. Irgendwie muss ich den Arm freibekommen – Ein schweres Gewicht drückt auf meine Brust und gleichzeitig bohrt sich kaltes Metall in meine Kehle. Schlagartig halte ich inne. Selbst wenn ich könnte, traue ich mich nicht, die kleinste Regung zu machen. Eine falsche Bewegung und ich bin tot. Durchbohrt von einem Pfeil. So schnell kann Freude also vergehen. Ich hoffe nur, dass Finnick nicht allzu lange leiden muss. »Na«, murmelt meine Angreiferin da auch schon, »wen haben wir denn da?«   Die 70. Hungerspiele – Liveticker Dauer: 3 Tage, 11 Stunden, 02 Minuten || Gefallen: 10 || Am Leben: 14   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)