Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 27: Neue Allianzen -------------------------- »Guten Morgen, Kapitol! Ich hoffe, Sie haben eine genauso geruhsame Nacht gehabt wie unsere Tribute. Denn ich kann Sie beruhigen, noch hat sich nichts verändert. Dafür haben wir heute Morgen einen ganz besonderen Ehrengast im Studio: Begrüßen Sie mit mir unseren geschätzten obersten Spielmacher, Victorius Savage!   Danke, Caesar. Es ist eine Freude, wieder hier sein zu dürfen und über mein Lieblingsthema reden zu können – die Arena. Auch in diesem Jahr habe ich mich besonders darauf gefreut, diese endlich enthüllen zu dürfen.   Oh ja, das kann ich nur zu gut verstehen. Immerhin fällt euch Spielmachern jedes Jahr wieder etwas ganz Neues, Aufregendes, Umwerfendes ein! Allein schon die ersten Einblicke, die wir gestern bekommen haben ... versprechen große Spannung. So eine große Arena hatten wir lange nicht mehr, oder?   In der Tat. Diese Arena ist eine der fünf größten seit Anbeginn der Hungerspiele. Alleine der Berg in der Mitte hat den Umfang des ursprünglichen Stadions, in dem die ersten Spiele stattfanden. 70 Jahre Hungerspiele, das ist schließlich eine Hausnummer, auch wenn es kein Jubeljubiläum ist. Aber mit etwas Besonderem sollten wir dennoch feiern, finde ich.   Absolut, das klingt nach einer fabelhaften Idee! Nun, können wir vielleicht schon einen kleinen Einblick bekommen in das, was noch so auf die Tribute warten könnte? Salziges Flusswasser ist doch sicher erst der Anfang, nicht?   Nun, wenn du so fragst, Caesar ... Nein. Bedauere, aber aus mir bekommst du nichts heraus. Für den Anfang sollten wir doch erst mal beobachten, wie die Tribute sich untereinander machen, findest du nicht? Immerhin gibt es genug Allianzen, die unsere Aufmerksamkeit verlangen.«   *   Unbarmherzig pfeift der Wind durch die Arena und weht mir Steinchen und Staub ins Gesicht. Es fühlt sich an wie hunderte kleiner Messer, denen ich nicht ausweichen kann. Ich halte die Arme über den Kopf; versuche, die Kapuze festzuhalten, aber es nützt nichts. Der Sturm wird nur noch stärker. Am Himmel ziehen immer mehr dunkle Wolken auf und die knorrigen Bäume in der Nähe werfen ihre schaurigen Schatten in meine Richtung. Und dann sehe ich sie. Ihre bleichen Gesichter schauen durch das Geäst zu mir und Nebel liegt über ihren Schultern wie ein Umhang. Sie erinnern mich an die Geister aus den Schauergeschichten, die von alten Frauen am Hafen erzählt werden. Schon tot und dennoch mit unserer Welt verbunden, Rache im kalten Herzen ... Aber die Karrieros sind nicht tot, die Waffen in ihren Händen real. Shines blondes Haar bauscht sich im Wind auf, sie lacht und das Blatt ihrer Axt leuchtet im Schein eines fernen Blitzes auf. Sie sind da. Gekommen, um es zu beenden. Unbemerkt haben sie mich eingekreist und kommen nun immer näher. Shine von vorne, die Jungs zu den Seiten, Maylin in meinem Rücken. Der Speer in meinen Händen bebt. Ich will schreien. Weinen. Aber ich kann nicht. Ich bin gefangen in mir selber, unfähig einen Muskel zu regen. Da ist nur noch Zittern. Die Karrieros mustern mich, grinsend, lachend. Blut klebt auf ihren Gesichtern, in ihren Haaren, an ihren Händen. Es läuft aus Shines Mund über ihre vollen Lippen, als sie lächelt. Es tropft von den Klingen ihrer Waffen, die nur darauf warten, sich auch mit meinem Blut zu tränken. Doch was ist das? Da ist ein weiteres Gesicht, ganz blass zwischen den anderen, umrahmt von wilden, blonden Locken. Zwei grüne Augen unter lauter Sommersprossen begegnen meinen. Das ist Pon! Pon? Was macht er dort? Warum steht er in Reih und Glied mit den Karrieros? Ich reiße den Mund auf und will »Lauf!« schreien – aber nichts geschieht. Nur der Wind pfeift durch die Arena. Noch einmal versuche ich es – Pon schüttelt den Kopf. Er hebt selber einen Speer und tritt direkt neben Shine, die ihm lachend eine Hand entgegenstreckt. Er ergreift sie ohne Zögern. Erst jetzt, aus der Nähe erkenne ich das Blut auf Pons Kleidern; die Spritzer auf seinem Gesicht, die gar keine Sommersprossen sind. Shine streichelt darüber, mit Fingernägeln, die in rasiermesserscharfen Krallen enden. »Er gehört jetzt mir«, säuselt sie – oder ist es der Wind, der mir die Worte zuflüstert? Ich weiß es nicht. Ich habe so viele Fragen, will Pon anschreien, vielleicht auch Shine anflehen, mich zu verschonen, nur weigern sich meine Stimmbänder beharrlich. Alles, was mir bleibt, ist die Augen zu schließen. So werde ich also sterben? Kalter Schmerz breitet sich in meiner Brust aus, als Pons Speer durch meine Rippen geradewegs ins Herz gleitet. Ich habe verloren. Ich habe Pon verloren. Das Letzte, was ich höre, als das Nebelgrau in ewige Schwärze eintaucht, ist der Donner eines Kanonenschlags, der die Erde unter meiner Wange erzittern lässt ... Bumm!   Ich reiße die Lider auf. Ein Schrei erstickt in meiner Kehle, so trocken wie der Boden ringsum. Über meine eingerissenen Lippen dringt nur ein leises Krächzen. Dunkelheit drückt mir schwer auf die Augen – doch halt, da ist ein schwacher, rosa Streif in der Ferne! Langsam schälen sich erste Schatten aus der Nacht. Steine, verkümmerte Bäume ... Wo bin ich? Ist das hier das Ende? Mit zitternden Fingern betaste ich meinen Oberkörper. Unversehrt. Kein Speer steckt zwischen den Rippen, nur das Herz dahinter rast hemmungslos. Selbst als ich die flachen Hände gegen das Brustbein drücke, will es sich kaum beruhigen. Aber ich lebe noch. Und mit der Rückkehr dieses Gedankens weiß ich sofort wieder, wo ich bin. In den 70. Hungerspielen. Ich lebe, atme und der rosa Streifen am Horizont ist der erste Vorbote der Sonne. Es wird Morgen und damit bricht schon der zweite Tag in dieser Arena an. Alles andere war nur ein Albtraum. Es gibt keinen Sturm, Nebel oder Karrieros in der Nähe. Das einzig Reale an meinem Traum war ... der Kanonenschlag. Jemand ist gestorben. Mein Herz, das sich ohnehin nicht beruhigt hat, schlägt noch schneller. Ich springe auf und raffe, so rasch es geht, die wenigen Sachen vom Füllhorn zusammen. Je eher ich hier weg bin, desto besser. Wer weiß schließlich, wo der Tod gerade zugeschlagen hat. Sind es die Tribute oder womöglich die Arena gewesen, die ein Opfer gefordert haben? Das alles will ich gar nicht herausfinden. Ich muss Pon finden, um die Chance zu nutzen und sein Leben zu retten. Bevor er den Karrieros in die Hände fällt. Oder ich. Eilig verwische ich die Spuren meines Nachtlagers in der staubigen Erde mit einem losen Zweig, dann mache ich mich auf den Weg. Eine Weile folge ich dem salzigen Fluss weiter weg vom Füllhorn, doch schnell wird der Aufstieg immer anstrengender. Schwarze Flecken tanzen vor meinen Augen und trüben die Pracht des falschen Sonnenaufgangs. Trinken. Ich muss etwas trinken. Dringend. Nur wo? Es fällt mir schwer, zu denken, solange meine Zunge schleifpapierartig gegen den Gaumen reibt und jedes Schlucken Nadelstiche bedeutet. Dabei ist dies erst der Anfang! Schlussendlich beschließe ich, ab sofort parallel zu den Bergflanken zu laufen, von denen die Arena begrenzt wird. Von so weit oben habe ich eine hervorragende Aussicht ins Tal und kann im Voraus erkennen, ob sich ein Tribut nähert. Und irgendwo in diesem Gebiet hält sich hoffentlich auch Pon auf, wenn er so weggelaufen ist, wie wir es besprochen haben. Und zu guter Letzt wird es hier sicher Wasser geben. Egal wie widrig die Umstände sind, mit etwas Köpfchen konnten die Tribute in allen bisherigen Arenen Essen und Trinken finden. Also halte ich an jedem Bächlein an und teste vorsichtig das Wasser. Aber überall das gleiche Bild: Salzwasser. Ich muss gar nicht mehr probieren, es reicht, wenn ich mir mit dem feuchten Zeigefinger über die Lippen fahre. Sofort brennt das Salz in den vielen kleinen Rissen darauf. Als wäre das nicht Pech genug, steigen die Temperaturen gemeinsam mit der Sonne in die Höhe. Nicht, dass es kalt war in der Nacht, aber immerhin kühler. Jetzt fange ich schnell wieder an zu schwitzen und binde mir sogar die Jacke um die Hüften, damit ich nicht bald meinen Schweiß trinken muss. So verzweifelt bin ich noch nicht, auch wenn die vielen, verheißungsvoll glitzernden Flüsse das Kratzen im Hals nur verschlimmern. Lange halte diesen Marsch leider nicht durch. Immer wieder muss ich Rast machen. Ich versuche, die Pausen so kurz wie möglich zu gestalten und mich nur an Bäumen oder großen Steinblöcken anzulehnen. Wenn ich erst einmal sitze – oder mich gar hinlege! – werde ich nie wieder aufstehen. Zu verlockend ist der Gedanke, die Augen zu schließen und all das Elend hier hinter mir zu lassen. Denn je ruhiger die Arena wird, desto mehr Zeit bleibt mir, über das Blutbad am Füllhorn nachzudenken. Dann spüre ich meinen Angriff auf Neun wieder in den Knochen, höre das Krachen von Shines Axt, die eben solche durchtrennt ... Und erst der Geruch! Eisen, Erde – Blut. Ein Windhauch reicht, um alles wachzurufen. Trotzdem ist es, als liege ein Nebel über meinen Erinnerungen, der sie verwischt. Bis ein Sonnenstrahl mich trifft und für ein paar Sekunden die Wahrheit in gleißendes Licht hüllt. Immer dann breche ich die Rast ab und gehe weiter, sorge selber für die Geräusche von Schritten, die jeden Gedanken ablenken. Ich darf nicht nachdenken, weder über die Karrieros noch das, was kommen wird, wenn ich Pon erst gefunden habe. Das treibt mich nur in den Wahnsinn. Begegnen tut mir in den kommenden Stunden zum Glück nichts und niemand. Nicht einmal ein Vogel dreht am Himmel seine Runden. Bei allem, was ich weiß, könnte ich das letzte Lebewesen auf Erden sein. Daran kann auch das Wissen um die vielen Kameras – die ich nicht als solche erkennen kann – nichts ändern. Vielleicht kommentieren Caesar und Claudius gerade brüllend das Geschehen, unterlegt von spannungsvoller Musik – ich werde es nie erfahren. Eventuell sieht mir auch nur Finnick zu, das ist in jedem Fall der schönere Gedanke. Lächelnd taste ich nach der Kette in meiner Jacke. Er wird wissen, was das bedeutet. Unten am Füllhorn tut sich derweil nichts. Ich sehe es in der Ferne schwach glänzen, doch kein Tribut ist zu erspähen. Vermutlich sind die Karrieros weitergezogen, bis an die Zähne bewaffnet und mit allen nur erdenklichen Vorräten ausgestattet. Im frischen Sonnenlicht mache ich dafür weitere Details des Geländes aus: Rund um den abgeflachten Berg in der Mitte zieht sich ein schmaler Ring aus Bäumen. Grüne Laubbäume. Auch das Gras scheint an den glatten, steilen Bergflanken viel lebendiger als hier draußen in der Einöde. Da unten muss es Süßwasser geben. Natürlich – die Spielmacher wollen, dass wir einander begegnen. Alles hat in der Arena seinen Preis und der ist meist das Leben. Aber es muss einfach eine alternative Lösung geben. In der Mitte werde ich Pon nicht treffen, schließlich haben wir eine andere Abmachung, und direkt nach meinem Albtraum will ich jede Begegnung mit den restlichen Tributen vermeiden, egal was Snow von mir verlangt. Für Maylin finde ich später hoffentlich eine Lösung, vielleicht mit Pon zusammen. Also ziehe ich schweren Herzens weiter. Gegen Mittag wird die Sonne derart erbarmungslos, dass ich doch zu einer längeren Rast gezwungen werde. Meine Arme sind bereits hummerrot und ich fühle mich auch genauso wie eines der bedauernswerten Schalentiere, wenn sie abends im Kochtopf landen. Das war mir schon immer zuwider und wäre die Rückkehr mein Ziel, würde ich nach dieser Erfahrung wohl nie wieder Hummer anrühren. Ich lehne mich im Schatten gegen einen Felsen. In der Nähe wachsen ein paar ledrig anmutende Pflanzen, deren Blätter geformt sind wie die Schwertklingen im Trainingscenter und die in alle Richtungen abstehen. Sie haben einen scharfen Knick in der Mitte und allesamt laufen sie in einem dicken, knorrigen Stamm zusammen. So ein Gewächs habe ich nie zuvor gesehen. Vermutlich hätte ich Nora in der Vorbereitung noch besser zuhören sollen, dann wüsste ich jetzt etwas damit anzufangen. Aber alles, woran ich mich erinnere, ist die Behauptung, dass es in der Wüste von Distrikt Fünf Pflanzen gibt, die Wasser speichern. Unweigerlich frage ich mich, ob mein Glück wohl so unverschämt ist. Die Blätterform scheint mir jedenfalls perfekt, um Tau aufzufangen. Durch die Art Rinne könnte das Wasser in Richtung des Stammes laufen und von da ins Wurzelwerk weitergeleitet werden. Kurzentschlossen stupse ich das Gewächs mit meinem Speer an. Es raschelt leise, mehr nicht. Mutiger besehe mir die Pflanze aus der Nähe. Tatsächlich gibt es zwischen den einzelnen Blättern so eine Art Kammer – und als ich eine der grünen Klingen mit der Speerspitze nach unten drücke, öffnet sich der Spalt weit genug, damit ich die kleine Pfütze darin erkenne. Wasser! Ich habe Wasser gefunden! Gierig sinke ich vor der Pflanze auf die Knie und biege das erstaunlich scharfkantige Blatt so, dass die ersten Wassertropfen direkt auf meine Zunge fallen. Einen Moment halte ich inne und teste den Geschmack. Oh, es ist himmlisch! Nicht mal das gefilterte Wasser aus dem Kapitol schmeckt so gut wie diese abgestandene kleine Pfütze. Da sich meine Zunge nach dieser Kostprobe erst recht pelzig anfühlt, trinke ich hastig den Rest des Blatts aus, bevor ich zu einem Zweiten übergehe und schließlich einem Dritten, einem Vierten ... Es ist furchtbar anstrengend, doch ich höre erst auf, als mein Bauch schmerzt. Erschöpft rolle ich auf die Seite und erlaube mir drei Atemzüge mit geschlossenen Augen, bevor ich mich aufsetze. Weiter, immer weiter. Nicht anhalten, nicht zu viel nachdenken. Jetzt brauche ich ein Behältnis, um Wasser mitzunehmen, sonst habe ich bald wieder dasselbe Problem. Meine Wasserflasche habe ich je leider bei der Flucht vom Füllhorn verloren, aber vielleicht kann ich mir anders helfen. Ich knote die Zeltplane auseinander, die ich als provisorischen Rucksack und Tragegurt für den Speer benutze. Die gestrige Ausbeute bleibt überschaubar: Eine leuchtend orange Schnur, ein kleiner Feuerstahl zum Funkenmachen und eine Metalldose. Neugierig öffne ich Letzteres. Ein paar helle Kräcker mit Sesam gucken mir entgegen. Na toll. Davon bekommt man höchstens mehr Durst. Wobei ... Die Dose ist nicht so praktisch wie eine Flasche, aber besser als nichts. Vermutlich wird sie nicht dichthalten, also muss ich sie eben fest in die Plane einwickeln. Zum Glück ist es ein schön großes Stück, was ich erbeutet habe, bestimmt zwei mal drei Meter. Mit dem Messer schneide ich eine Ecke aus dem Gewebe heraus, dann befülle ich die Dose bis zum Rand mit Wasser aus der Pflanze und schnüre sie fest ein, bevor ich das Bündel wiederum in meinem großen Sack verpacke. Damit ist die Pause beendet. Voller frischer Energie mache ich mich wieder auf den Weg, den Speer fest in der Hand. In diesem Geröll kommt er mir recht, denn ich kann ihn nicht nur als Waffe, sondern auch als Wanderstock benutzen. Das spart zumindest etwas Kräfte. Ich bin kaum fünfzig Meter gegangen, da wird meine neugewonnene Zuversicht jedoch sogleich zerschlagen. Plötzlich fliegen ein paar Vögel, die ich bis eben gar nicht wahrgenommen habe, aus den umstehenden Bäumen auf – und fliehen vor einem Schrei, der über die Erde hallt, erschrocken und panisch. In der darauffolgenden Stille wirkt mein Atem doppelt so laut. Woher kam das Geräusch? Wie weit war es weg? Ich kann nichts davon mit Sicherheit sagen. Nur eines weiß ich – es war eine weibliche Stimme. Nicht Pon! Noch so ein Gedanke, für den ich mich im selben Moment schäme. Ein Glück, dass die Zuschauer diese nicht lesen können. Ich wette, sie würden gerne, aber wenigstens das gehört alleine mir. Wahrscheinlich können sie sowieso die Erleichterung auf meinem Gesicht deuten. Als will die Arena mich bestrafen, zerreißt in diesem Moment auch schon ein Kanonenschlag die empfindliche Stille. Und das war es nicht – darauf folgt ein schriller Jubelschrei. Nah. Ganz nah. Zu nah. Er kommt von hinten. Ich springe über den nächstbesten Stein zu meiner Seite und kämpfe mich weiter die Steigung hinauf. Nur ein, zwei Speerlängen dahinter liegen ein paar entwurzelte Bäume am Hang, die Schutz bieten dürften. Atemlos quetsche ich mich mitsamt Speer und Rucksack in einen Spalt zwischen dem Totholz. Ein paar feuerrote Ameisen finden den Weg auf meine Haut und ich unterdrücke ein Keuchen. Ein grässliches Jucken breitet sich in Nacken und auf den Händen aus, doch ich gebe keinen Mucks von mir, denn schon kommen Stimmen näher. Vor Aufregung beiße ich mir auf die Unterlippe, dass es blutet. Ich schlucke und presse mich fester in mein Versteck. Es sind gleich mehrere Tribute, bestimmt drei, wenn nicht sogar vier – aber Shines melodische und doch scharfe Stimme ist nicht darunter. Dann können es nicht die Karrieros sein, oder? Durch ein altes Astloch einige Zentimeter neben mir fällt Licht herein und ich schiebe mich so leise wie möglich näher heran, um einen Blick zu erhaschen. Nur ein paar Schritte entfernt kommen sie aus dem Schutz einer von Felsen gerahmten Passage, die ich vor kurzem erst hinter mir gelassen habe – vier Tribute. Es sind wirklich nicht die Karrieros, was gut ist. Rote Spritzer kleben an ihren Stiefeln, was schlecht ist. Die Truppe ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Ganz vorne erkenne ich den Freiwilligen aus Neun mit gesenktem Haupt. Er humpelt leicht, aber das ist eher Floyds Angriff im Trainingscenter geschuldet denn mir. Unsere Begegnung am Füllhorn scheint er gut verkraftet zu haben. An seiner Seite geht die Tributin aus Distrikt Sieben, deren rote Locken wild im Wind wehen. In der Hand hält sie ein offenbar notdürftig gesäubertes Schwert, das sie lachend durch die Luft wirbelt. Das Schlusslicht bilden plaudernd das Mädchen aus Neun und der Junge aus Acht. »Oh man, ich würde jetzt zu gerne die Gesichter der Zuschauer sehen«, frotzelt Neun. »Bestimmt sahen die genauso aus wie Elf eben!« »Tja, geschieht denen recht, die nicht mit uns gerechnet haben!« Die Siebenerin grinst und reckt eine Faust gen Himmel. »Jetzt gibt es ein neues Favoritenbündnis, hört ihr? Eure kleinen Lieblinge sollten sich besser warm anziehen!« Die anderen stimmen mit Gelächter und gereckten Waffen in ihre Ansprache ein. Ich halte den Atem an. Die brennenden Ameisen auf mir sind vergessen, dafür sorgt ein eisiger Schauer mein Rückgrat hinab. Noch mehr Gegner, die zusammenarbeiten, das hat mir gerade gefehlt! Da hält Sieben inne. »Hey Dean«, wendet sie sich an den Neuner neben ihr, »gibt’s was Neues? Hast du die Spur vom Fluss wiedergefunden?« Er schüttelt den Kopf. »Verdammt! Bist du dir sicher? Die Fußabdrücke waren doch noch frisch!« Unwirsch zuckt der Tribut namens Dean mit den Schultern. »Die Sonne hat die Erde quasi gebacken. Die ist so hart, da erkennt man gar nichts mehr. Oder siehst du etwa deine eigenen Spuren?« Sieben lässt den Blick schweifen. Alles in mir schreit, dass sie bloß nicht hergucken soll. Ich schließe sogar für einen Moment die Augen, als sie mein Versteck streift. Ist das Astloch nicht viel zu groß? Wenn ich sie erkennen kann, dann wird sie mich doch bestimmt auch sehen – »Also schön, sollen wir weiter oder meint ihr, wir sollten uns umsehen?«, fragt die Tributin ihre Verbündeten. Dean folgt ihrem Blick. Wie schon das Mädchen aus Sieben mustert er mein Versteck, vielleicht einen Moment zu lang. Ich wage es nicht erneut, die Augen zu schließen. Genau wie in meinem Traum, bin ich gefangen in meinem eigenen Körper und kann nur darauf warten, dass der Augenblick vergeht. Mir ist, als würde ich dem Neuner geradewegs in die Augen starren. Schon sehe ich, wie der Junge seine Hand hebt. Bitte nicht! Alle Vorsicht ist vergessen, ich schüttle panisch den Kopf. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, doch in meiner Verzweiflung fahre ich mir mit einem Finger über die Kehle. Als wolle ich dem Tribut, der sicherlich nichts davon sieht, drohen. »Wer hier ist, muss dumm sein«, höre ich ihn da sagen. »Die Ebene ist viel zu offen. Lass uns weitergehen, Vic.« »Na schön. Ich vertraue deinem Urteil.« Lärmend setzt sich die Gruppe wieder in Bewegung. Es scheint Stunden zu dauern, bis sie endlich an mir vorbei sind. Zitternd verharre ich in meiner unbequemen Position und schlinge die Arme schutzsuchend über den Kopf, selbst als ihre Geräusche längst verklungen sind. Erst nachdem ich ganz sicher bin, dass die Stille echt ist, wage ich mich aus dem Schutz des Totholzes. Ich kann gar nicht begreifen, was passiert ist. Schon wieder bin ich dem Tod so nah gekommen – und habe selber zum zweiten Mal in zwei Tagen den Gedanken gehabt, ein Leben zu beenden. Auch wenn ich es nie geschafft hätte, alleine dass diese Geste in dem Moment meine erste Wahl war, ängstigt mich. Gibt es wirklich noch Hoffnung? Mit abgehackten Bewegungen befreie ich die Kette aus meiner Jackentasche und wickle mir die Glieder so eng um die Hand, dass es einschneidet. Dafür ruhen das Medaillon und Finnicks Fisch fest in meiner Faust, eine stete Erinnerung an das, was wichtig ist. Ich schaue kurz zum Himmel und damit hoffentlich zu allen geliebten Menschen, dann setze ich den Weg in eine andere Richtung fort.     Die 70. Hungerspiele – Liveticker Dauer: 1 Tag, 7 Stunden, 16 Minuten || Gefallen: 10 || Am Leben: 14   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)