Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 26: Lauf! ----------------- »Es ist so weit, meine Damen und Herren! Da laufen sie, die ersten Tribute! Oh, wie aufregend! Gleich werden wir erfahren, wer der oder die Erste am Füllhorn ist – und natürlich, wer als Erstes fällt und vor allem: durch wessen Hand? Der erste Gefallene, das ist doch immer ein besonderer Moment, hier entscheidet sich die Richtung für die gesamten Spiele in wenigen Sekunden!   Ganz recht, Claudius! Und meine Damen und Herren im Kapitol, ich hoffe, Sie haben Ihre Wettscheine alle parat, denn ab sofort winken Ihnen stattliche Gewinne. Möge das Glück nicht nur mit unseren Tributen sein, sondern auch das Wettglück mit Ihnen!   Oh, sieh nur Caesar, die ersten Tribute heben schon ein paar Gegenstände auf – und halt, da laufen andere Tribute bereits in die Arena hinein, ganz ohne Geschenke vom Füllhorn! Was für eine Verschwendung ...   Da gebe ich dir recht, es ist immer bedauerlich, wenn Tribute die Großzügigkeit unserer Spielmacher nicht zu schätzen wissen. Aber immerhin haben alle unsere Spitzentribute dasselbe Ziel: das Füllhorn! Ein Kopf-an-Kopf-Rennen, aber halt, was ist das? Oh, oh, Claudius, siehst du das auch?«   *   Oben ist unten und unten ist oben. Plötzlich renne ich über Wolken, Steine rieseln vom Himmel auf mich herab. Ich schmecke Staub, Gras, Eisen. Die Luft in meinen Lungen brennt wie Feuer und aus meinem Keuchen wird Donner. Lauter kleine Spitzen – Kieselsteine? – bohren sich in meine Arme, Schultern, Rücken. Ich bin gestürzt, mitten in vollem Lauf. Doch ich gebe nicht auf, sehe nicht zu dem Jungen aus Neun zurück. Zumindest gehe ich davon aus, dass es sein ausgestreckter Fuß ist, der mich zu Fall gebracht hat. Ich muss weiter – Eine Hand greift nach mir, bekommt aber nur meine Jacke zu fassen. Ich vernehme einen schrillen Schrei, als ich den Arm des Angreifers packe, und rolle vorwärts. Hebelwirkung, höre ich Amber durch einen dicken Schleier sagen – und tatsächlich, es reißt den Neuner neben mir zu Boden. Für einen Moment starren wir einander in die Augen, dann packt er den erstbesten Gegenstand in Reichweite: eine aufgewickelte Schnur. Ich erfahre nicht mehr, was er damit vorhat, denn vorher drücke ich mich mit beiden Händen hoch. Es sticht, es brennt, überall an meinem Körper. Egal. Vorwärts, immer nur vorwärts. Das ist die einzige Richtung, die es gibt. Ich muss weiter, zum Füllhorn. Als ich hochschaue, dreht sich die ganze Welt; ich erkenne nur Schlieren aus Blau, Braun und Grau. Doch dazwischen schwebt das goldene Horn, in der Mitte von Himmel und Erde. Also los. Weiter. Ich renne und der Schmerz schwindet. Das Füllhorn vor mir wächst und wächst, bis es mich überragt. Wo sind die Speere? Vor dem Start habe ich sie doch noch gesehen! Gleich hier vorne ... Nicht nur die Welt dreht sich, sondern auch ich um mich selber. Meine Füße drängen darauf, weiterzulaufen. Fort, weit weg von hier. Aber ich darf nicht! Blind taste ich mich an den ersten Kisten und Waffenständern entlang. So viel Auswahl, so viele Waffen, die ich nicht beherrsche ... Wahllos stopfe ich mir ein Messer in den Gürtel. Irgendwas ist besser als nichts. Was noch? Zu meinen Füßen liegen überall Gegenstände – Zeltplane, Schnur, eine Metalldose, verpacktes Trockenfleisch und Kräcker, ein Stück Feuerstahl, eine Edelstahlflasche ... Ich falte die Plane auseinander, werfe alles hinein und presse die wertvolle Beute mit beiden Händen an die Brust. Halt, vergesse ich nicht etwas? Die Karrieros! Hektisch wende ich den Kopf. Und tatsächlich, weit sind meine Gegner nicht. Nur wenige Speerlängen neben mir, auf der anderen Seite des Füllhorns, hebt Shine eine Axt auf. Instinktiv ducke ich mich in den Schutz eines Ständers voller Schwerte. Die glänzenden, unbefleckten Klingen nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, kauere ich auf dem harten Boden und versuche, nachzudenken. Die Pläne, ich hatte doch so ein klares Vorhaben ... alles fort. Versickert wie Wasser in trockener Erde. Und dann sehe ich sie endlich – die Speere. Mitten vor der Öffnung des Füllhorns hängen fünf davon in einer Halterung. Nur ein kleiner Sprint! Noch kann ich vor den Karrieros da sein, die mit den erstbesten Waffen das Blutbad eröffnen. Das höre ich an den Schreien, dem Knacken berstender Knochen ... Ich werfe mir die Zeltplane wie einen Sack über die Schulter und renne geduckt weiter. Entweder bekommt es niemand mit oder aber es interessiert keinen, denn ich erreiche das Ziel unbeschadet. Ohne Zögern greife ich nach dem ersten Speer. Hinter mir ertönt ein neuerlicher Schrei. Schon will ich herumwirbeln, die Waffe zur Verteidigung erhoben – doch diese hängt fest. Der Speer hat sich in seiner Halterung verkantet und dazwischen ist mein Jackenärmel eingeklemmt. Ich werfe einen Blick zurück. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Shine den Brustkorb des Tributs aus Acht spaltet. Es regnet. Dicke, rote Tropfen fallen mit sattem Platsch, platsch überall vor mir auf das trockene Gras. Mir ist, als würde Shines Axt auch in meiner Brust stecken. Ein paar Herzschläge lang starre ich auf die Blutflecken, dann schüttelt mich ein unkontrollierbares Zittern. Ohne Rücksicht auf Verluste ziehe ich an dem Speer. Es ratscht einmal laut, die Jacke reißt und ich falle mit der heißbegehrten Beute auf den Hintern. Zunächst auf allen vieren krieche ich fort, bevor ich die Kontrolle über meine Beine zurückerlange, mich hochstemme und laufe. Hauptsache weg von Shine, der Axt, den anderen Karrieros. Mein improvisierter Rucksack klappert und klirrt, etwas schlägt mir gegen die Unterschenkel, aber ich sehe nicht nach, was für immer verloren ist. Nichts ist so wichtig wie mein Leben. Doch langsam verlässt mich die Kraft. Schwarze Punkte tanzen mir vor den Augen und bei jedem Atemzug stechen hunderte kleine Nadeln in meine Lunge, mein Herz. Trotzdem schaffe ich es auf die Rückseite des Füllhorns, wo die Schatten mich einigermaßen schützen. Hier gab es keine Plattformen und offenbar hat außer mir niemand diesen Weg gewählt. Dafür tobt an der Öffnung noch immer der Kampf, so viel höre ich. Ich presse eine Hand an die Rippen und schnappe nach Luft. Zumindest einen Speer und ein paar Gegenstände habe ich. Fehlt nur Pon. Aber wie finde ich ihn? Die Arena ist lauter, chaotischer, als ich sie mir je vorgestellt habe. Die dröhnende Orchestermusik aus der Fernsehübertragung erreicht uns nicht, dafür sind die Schmerzenslaute doppelt so intensiv. Mit dem Rücken drücke ich mich fester gegen das Füllhorn und erlaube mir einen einzigen, tiefen Atemzug. Und da dämmert es mir: Ich kann das Horn nutzen! Aber nicht mit dem Speer im Griff. Meine Hände wollen nicht aufhören zu zittern, trotzdem setze ich das Bündel aus Zeltplane ab. So schnell ich kann, wickle ich das feste Gewebe zu einer Schlaufe, in die ich den Speer schieben und ihn so zusammen mit den Vorräten auf dem Rücken tragen kann. Leider wird mir so auch bewusst, dass ich beim Weglaufen die Wasserflasche und das verpackte Essen verloren habe. Zeit fürs Bedauern bleibt nicht. Ich hänge mir den improvisierten Rucksack um und nehme Anlauf. Zum Glück ist das Füllhorn am Ende recht flach. So gelingt es mir, den Schwung des Absprungs zu nutzen und die rückwärtige Kante des Dachs zu erwischen, bevor meine Schuhe auf dem glatten Untergrund abrutschen. Dennoch kostet es mich sämtliche Kraft, die Füße flach gegen das Metall zu drücken und den hinteren Teil des Horns zu erklimmen. Hätten die Spielmacher das Gebilde nur etwas rundlicher konstruiert, es gäbe keine Chance hinaufzuklettern. Einmal oben, bleibe ich auf dem Bauch liegen und schiebe mich nur Stück für Stück vorwärts. Das Füllhorn ist von der Sonne ordentlich erwärmt, sodass ich schon einen Vorgeschmack auf die Temperaturen in der Arena bekomme. Immerhin etwas, das ich von zuhause gewohnt bin. Bis auf einen Meter wage ich mich an die vordere Kante des Horns und damit dem höchsten Punkt heran, ehe ich anhalte und einen Blick in die Ferne riskiere. Ich will nicht nach unten schauen, zu den Schreien und dem Waffenklirren, aber es ist unmöglich, nichts davon zu erkennen. Auch wenn ich schnell den Kopf abwende – die Bilder brennen sich ein. Und dann erst die Gerüche, die Geräusche. Dagegen bin ich machtlos. Hoffentlich muss ich nicht Pons Stimme hören, die sich vor Schmerz verzerrt! Dieser bloße Gedanke reicht. Verzweifelt presse ich die Hände auf meine Ohren, während ich die Luft anhalte, um die Eindrücke zumindest etwas abzumildern. Ich muss einen klaren Kopf bewahren! Wenigstens hat das Klettern sich in einer Hinsicht gelohnt: Von hier oben habe ich einen fantastischen Überblick. Ich mache diverse Tribute in der Ferne aus, die sich rasch entfernen. Die meisten laufen vom großen Berg im Zentrum fort, geradewegs auf die Flüsse zu, die sich vom äußeren Bergring in das Tal winden, in dem wir uns gerade befinden. In der Ferne, hinter den Gipfeln, sehe ich sogar noch mehr Wasser in der Sonne glitzern. Sieht aus, als gäbe es da oben einen riesigen See. Einen blonden Schopf erkenne ich allerdings nicht. Wartet Pon trotz unserer Abmachung in der Nähe auf mich? Oder musste er sich verstecken? Braucht er meine Hilfe? Mit flauem Gefühl im Magen senke ich den Blick. Da ist Blut, so viel Blut – es klebt auf den Steinen, den Vorratskisten, auf herrenlosen Waffen im Steppengras ... Und dann sehe ich Shine, die inzwischen ein Schwert erbeutet hat und damit dem Mädchen aus Distrikt Sechs, das vor ihr weg krabbelt, von hinten in den Rücken sticht. Jemand lacht und ruft »Richtig schöner Kill!«. Floyd. »Schau erstmal, ob sie richtig tot ist«, mischt sich eine weitere Stimme ein – Maylin. Da unten steht sie, nur einen guten Speerwurf vom Füllhorn entfernt. Ich könnte es einfach beenden, alle meine Sorgen vergessen – »Oh komm schon, Shine, zieh es nicht unnötig in die Länge! Das reicht doch«, zischt Maylin in diesem Moment ihre Verbündete an, die sich auf ihr am Boden liegendes Opfer gekniet und dessen Kopf zurückgezogen hat, um ihm ein Messer an den Hals zu legen. Shine hat ihren Mund dicht an das Ohr des kleinen Mädchens gelegt und flüstert irgendwas, doch sobald sie Maylin hört, hebt sie den Kopf. Sogar von hier aus erkenne ich den Zorn in ihren Augen. »Beweis du lieber mal, dass deine sieben Punkte wirklich ein Irrtum waren! Warum schaust du nicht, ob du Vier findest? Vorhin lief sie hier noch rum. Je eher sie weg ist, desto besser!« Ein neues Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Hass. Auf Shine, auf das Kapitol, auf alles und jeden, der diese Spiele am Leben erhält. Und auf mich selber, weil ich tatenlos zusehe, wie Shine das Messer niederfahren lässt. Zeitgleich mit dem Schrei des Mädchens aus Sechs erklingt auch meiner. Zu spät begreife ich den Fehler. Schon hat Shine mich erspäht. Grinsend zieht sie die Axt wieder aus ihrem Gürtel. Sie holt aus und wirft. Ich denke nicht, ich rolle. Zur Seite, vom Dach hinunter. Mit den Füßen zuerst rutsche ich über die Kante des Füllhorns und rase auf den Boden zu. Unter meinen Händen erbebt das Metall, als die Axt dort aufschlägt, wo ich eben gekauert habe. Keine Sekunde später knalle ich auf die Erde. Der Aufprall raubt mir den Atem, aber dieses Mal halte ich nicht inne. Ich renne, schneller als je zuvor. Unter meinen Füßen fliegen die zurückgelassenen Vorräte nur so dahin, doch wie durch ein Wunder stolpere ich nicht erneut. Wütende Rufe verfolgen mich, aber je weiter ich laufe, desto schwacher werden sie. Trotzdem halte ich das Tempo so lange, bis die Beine unter mir nachgeben wie Schilfrohr im Sturm. Ich breche einfach zusammen, mitten auf freiem Feld. Spitze Steine bohren sich in meine Knie und treiben mir Tränen in die Augen. Und dennoch erscheint mir die Erde unfassbar bequem. Hier könnte ich für immer liegen bleiben. Keuchend rolle ich auf die Seite. Ein Teil von mir wartet nur darauf, dass Shine und die anderen mich einholen. Jeden Moment, denke ich, jetzt gleich wird alles schwarz ... doch es bleibt still. Nur der Wind und mein Atem pfeifen durch die Arena. Schließlich schaffe ich es, mich aufzurappeln. Ich bin weiter gekommen, als ich je gedacht hätte. Das Füllhorn ist kaum noch zu erkennen – und wie ich feststelle, liegt es inzwischen unter mir. Ich bin nicht nur weg, sondern auch in die Höhe gelaufen. Die Arena ist ein Kessel, mit dem Startgebiet am Tiefpunkt. Nur der Berg direkt dahinter, der den wahren Mittelpunkt bildet, ragt daraus empor. Von dieser Position sehe ich, dass sein Gipfel gar keine Spitze ist, eher ein flaches Tableau. Es sieht aus, als hätte ein großes Schwert ihn geköpft. Mit letzter Kraft schleppe ich mich zu einer Gruppe verdorrter Bäume, die am Ufer eines kleinen Bachs wachsen. Immerhin Wasser gibt es hier scheinbar im Überfluss. Von meiner erhöhten Lage aus erkenne ich das Muster der unzähligen Wasserläufe noch besser, die sich Adern gleich durch das trockene Land ziehen, bevor sie in der flachen Steppe versickern. Wer frisches Wasser will, muss also in die Berge kommen. Je näher an der Quelle man trinkt, desto größer die Chance, dass es keine bakteriellen Verunreinigungen gibt. Das konnte ich mir von dem Training an den Überlebensstationen mit den beiden Fünfern merken. Keuchend befreie ich mich von meinem improvisierten Rucksack und lehne den Rücken gegen einen trockenen Baum. Wo Nora wohl ist? Ob wenigstens sie ihren Mittribut Circe gefunden hat? Ich weiß noch, wie wichtig ihr das war. Tränen steigen in meinen Augenwinkeln herauf und ich lasse den Kopf in den Nacken fallen, damit sie keine Chance haben, mich zu überwältigen. Über mir ziehen Schäfchenwolken dahin, die an ein Gemälde erinnern. So friedlich ... Und still ist es ebenfalls geworden. Als wäre hier nie etwas Schreckliches geschehen. Ein- und ausatmen, sage ich mir in demselben strengen Tonfall, den auch Amber anschlagen würde. Fokussiere dich auf das, was vor dir liegt, gesellt sich Floogs’ Stimme dazu. Du bist der Augenblick, nichts anderes zählt. Ich taste nach dem Medaillon in der Innentasche meiner Jacke. Es ist noch da. Gut. Mein Herzschlag beruhigt sich langsam und ich erlaube mir einen Moment der Ruhe. Was jetzt tun? Vermutlich sollte ich zuerst Trinkwasser sichern, bevor ich mich um einen Unterschlupf kümmere. Und erst dann brauche ich an Essen denken. Ohne das werde ich schließlich am längsten überleben. Als ich die Zeltplane öffne, zittern meine Finger zum Glück nicht mehr so stark, sodass es mir bereits im dritten Anlauf gelingt, den Knoten zu entwirren. Zufrieden betrachte ich die Ausbeute – und schon bekommt meine Erleichterung einen Dämpfer. Die Wasserflasche! Warum habe ich sie nicht wieder aufgesammelt? Ausgerechnet! Dabei ist das doch eines der wichtigsten Dinge! Jetzt habe ich neben dem Speer nur noch Schnur, Feuerstahl und eine Metalldose. Das Brennen in meinen Augenwinkeln meldet sich zurück, aber auch dieses Mal lasse ich es nicht zu, dass die Verzweiflung mich überwältigt. Eine Dose, das ist doch nicht schlecht. Daraus kann ich was machen! Ich greife gerade nach dem kleinen Behältnis, da höre ich es – ein trockenes Knacken. Gleich zur Rechten, ein Laut wie der Tritt auf einen morschen Ast. Meine Hand schnellt zu dem Speer. Das Herz klopft mir bis in den Hals, aber ich sehe niemanden. Da sind nur Bäume und Steine. Das »Wer ist da?« liegt mir bereits auf der Zunge, bevor ich begreife, wie lächerlich es wäre, diese Frage zu stellen. Natürlich wird mein Mörder nicht heraustreten und freundlich grüßen. Einen Moment lang ringe ich mit mir, ehe ich einige Schritte in Richtung des Geräuschs gehe, den Speer angriffsbereit vor mir erhoben. Doch niemand stürzt auf mich zu, obwohl jeder sehen muss, dass meine Hände zittern. Vielleicht habe ich ja nur den Wind oder ein Tier gehört und gar keinen Tribut? Wie auch immer, hierbleiben kann ich nicht. Zu groß ist meine Angst. Außerdem bin ich viel zu ungeschützt, zu nah am Füllhorn. Etwas länger werde ich ohne Trinken noch aushalten, bis ich mir eine Lösung überlegt habe. Und Pon muss ich schließlich ebenfalls finden. Also packe ich meine wenigen Sachen zusammen und mache mich wieder auf den Weg, dieses Mal in gemäßigtem Tempo. Den Kameras zuliebe halte ich den Kopf erhoben. Sollen ruhig alle Sponsoren da draußen sehen, dass ich festentschlossen bin, meinen Mittribut wiederzufinden! Lange bleibt mir diese Laune jedoch nicht vergönnt. Während ich einen Weg über Geröll und Steine suche, immer in der Nähe des Wassers, knallt es plötzlich heftig. Bumm! Der Boden unter meinen Füßen erbebt, so laut ist das Geräusch. Vor Schreck kauere ich mich flach auf die Erde, den Kopf in den Armen vergraben. Selbst mein überraschter Schrei schafft es nicht aus der Kehle. Bumm! Es dauert einen Augenblick, bis ich begreife – das sind die Kanonenschläge, für jeden toten Tribut einer. Bumm! Das Blutbad ist vorbei. Oh, ich hoffe so sehr, dass Pon nicht darunter ist ... Bumm! Ich halte den Atem an und zähle leise mit. Eins, zwei, drei, vier – Bumm! Fünf. Bumm! Sechs. Bumm! Sieben. Sieben also. Sieben tote Tribute. Ich weiß aus der Vergangenheit, dass das wenig ist. Trotzdem sind es zu viele. In diesem Moment bin ich unendlich froh, eine große Distanz zwischen mich und das Füllhorn gebracht zu haben. Lange dauert es danach nicht, bis sich der Horizont rötlich färbt. Die erste Nacht in der Arena kriecht herauf und ich beschließe, mein Nachtlager in einer Flussbiegung aufzuschlagen, die von ein paar dornigen Büschen und großen, grau-braunen Steinblöcken umrahmt wird. Der Schutz könnte besser sein, aber mit etwas Geschick kann ich die Zeltplane vielleicht zwischen einem der Steine und dem einzigen Baum spannen, der sich traurig übers Wasser neigt. Ich grabe ein kleines Loch unter den Baumwurzeln, in dem ich meine Sachen aufbewahre, bevor ich an den Fluss trete und prüfend schnuppere. So weit scheint alles normal, also ziehe ich Schuhe und Socken aus und strecke einen Zeh ins Wasser. Mein Herz trommelt wie verrückt, doch nichts passiert. Der Fuß fault nicht plötzlich ab und ich bekomme auch keinen entsetzlichen Ausschlag. Das kann in den Hungerspielen nämlich durchaus passieren ... Weiterhin auf Vorsicht bedacht, stecke ich den kleinen Finger ins Wasser und lecke ihn ab. Salzig. Misstrauisch halte ich den Geschmack auf meiner Zunge. Flüsse sind für gewöhnlich nicht salzhaltig. Und wie Meerwasser schmeckt es auch nicht, sondern fast schon ... steril. Immerhin passiert nichts Schlimmes – aber trinkbar ist das Wasser leider nicht. Mir entweicht ein Seufzen und ich schüttle für alle sichtbar den Kopf. »Salzwasser«, stelle ich fest, um meine Mentoren wissen zu lassen, warum ich nicht trinke. Vielleicht hat ja ein Sponsor Mitleid ... Unsicher, was ich sonst tun könnte, wate ich ein paar Schritte in den Fluss, um mir den gröbsten Schweiß und Dreck abzuwaschen. Trockenes Salz auf der Haut ist zwar auch keine Freude, aber das bin ich von zuhause wenigstens gewohnt. Zu meiner Überraschung ist der Fluss deutlich tiefer als angenommen, sodass es ein richtiges Bad wird. In den letzten Sonnenstrahlen lasse ich mich treiben, da spüre ich mit einem Mal einen Stupser am Fuß. Ruckartig paddle ich zurück in Richtung Ufer und sehe gerade so, wie etwas davonschwimmt. Ein Fisch! Und da – noch einer! Dicke, große Fische, deren Schuppen in allen Regenbogenfarben schillern! Vor lauter Erleichterung stoße ich ein kleines Kichern aus. Das ist ja wie für mich gemacht! Um die Fischen nicht unnötig aufzuscheuchen, klettere ich vorsichtig ans Ufer zurück und hole den Speer. Ein Glück habe ich wenigstens den erwischt, denn mit den Händen hätte ich es deutlich schwerer. Jetzt können die Sponsoren mein ganzes Können sehen, ich darf nur nicht zögern wie daheim. Es weiß ja keiner, dass ich mich sonst nie traue, die gefangenen Fische totzuhauen oder aufzuschlitzen. Ich atme tief ein und denke nur an die glänzenden Fischleiber zu meinen Füßen. In Gedanken spreche ich eine Entschuldigung an sie aus, dann greife ich den Speer fester. Zack, gleitet die Waffe ins Wasser und spießt den ersten Fisch auf. Ich schaue nicht zu genau hin, als ich den zappelnden Leib von der Spitze ziehe und sein Leid mit dem Messer beende. Den Fang werfe ich ans Ufer, bevor ich weiter jage. Wenn ich jetzt einen Vorrat anlege, ist das nur von Vorteil für die kommenden Tage. Sollte ich ein kleines Feuer anbekommen, kann ich den Fisch morgen trocknen und möglichst haltbar machen. Bei diesen aufmunternden Gedanken an ausreichend Essen beginne ich ganz von alleine an zu summen, so wie es bei der Arbeit daheim oft der Fall war. Schlussendlich gelingt es mir, vier Fische zu erlegen. Mit dem letzten Fang in der Hand klettere ich aus dem Fluss und will schon das Messer ziehen, um die Tiere auszuweiden, da stocke ich. Auf dem Stapel liegen nur zwei Regenbogenfische. Aber ich bin sicher, vier gefangen zu haben. Ziemlich sicher. Ich lasse den letzten Fisch fallen und packe meinen Speer mit beiden Händen. Das Knacken von vorhin kommt mir wieder in den Sinn. Was, wenn mich jemand verfolgt hat? Der Boden ist zu trocken, zu hart, um Spuren zu erkennen, daher schleiche ich aufs Geratewohl los. Wenn ich ein hungriger Tribut wäre, würde ich mich hinter den Dornenbüschen verstecken. Und wer heimlich stiehlt, wird wohl kaum angreifen, oder? Mit der Speerspitze schiebe ich die ersten Zweige beiseite. Was ich enthülle, verpasst mir allerdings einen herben Schlag: Ein kleines Mädchen kauert hinter den scharfen Dornen, Kratzer auf Händen und Gesicht. Aus großen Augen starrt es zu mir hinauf, den fehlenden Fischleib zwischen den Zähnen wie eine diebische Hafenkatze. Mir wird sogleich klar, warum – die arme Kleine ist völlig ausgemergelt. Ihre Jacke schlackert um ihre schmalen Schultern und das, obwohl wir keine 24 Stunden in der Arena sind. Distrikt Drei, erinnere ich mich schwach. Sie und ihr Mittribut sahen von Anfang an bleich und kränklich aus. Das muss an dieser Krankheit liegen, die vor ein paar Jahren in Drei grassiert hat, weil die Menschen dort den Gerüchten nach zu wenig Bewegung und frische Luft bekommen. Das Mädchen zittert und Tränen füllen seine rehbraunen Augen. Ich lasse den Speer sinken und gehe in die Knie. Vorsichtig lächle ich. »Hey ... ich bin Annie. Keine Sorge, ich bin nicht böse, weil du den Fisch genommen hast. Aber weißt du was? Du musst ihn nicht roh essen. Gebraten schmeckt er viel besser! Was sagst du – sollen wir uns an einem Feuer versuchen?« Ich bekomme keine Antwort. Stattdessen zittert die Kleine nur heftiger. Zaghaft hebe ich beide Hände, um ihr zu signalisieren, dass ich unbewacht bin. »Ich tue dir nichts, versprochen.« Der Fisch fällt zu Boden und die Tributin holt hektisch Luft. Sie pfeift wie ein Teekessel, während das Zittern immer stärker wird. Es schüttelt sie, dass die Zähne klappern und da wird auch mir klar, dass etwas nicht stimmt. Wie zur Bestätigung meiner schlimmsten Gedanken läuft der Kleinen plötzlich ein dünner, roter Faden aus dem Mund und über das Kinn. Blut. Jetzt zittere ich ebenfalls. Mit fahrigen Händen greife ich nach den Schultern des Mädchens, ohne so recht zu wissen, was ich tue. »Hey ...«, flüstere ich noch einmal. »Alles wird gut ...« Doch nichts wird gut, natürlich nicht. Das Blutgerinnsel wird stärker und schließlich bricht die Tributin zusammen. Hilflos bette ich ihren Kopf auf meinen Schoß. Was soll ich nur tun? Sie stirbt! »Alles wird gut«, hauche ich wieder, obwohl ich diese Lüge vor der Arena selber gehasst habe. Aber andere, tröstende Worte wollen mir schlicht nicht einfallen. Ich kann die Kleine höchstens ablenken ... »Wie heißt du eigentlich?«, frage ich und greife nach ihrer Hand, die ich drücke, so fest es mir möglich ist. Ein paar Herzschläge lang höre ich nur den feuchten Atem des Mädchens, dann würgt sie ein leises »Wyatt« hoch. »Oh, das ist aber ein schöner Name. Also Wyatt, alles wird gut, ja? Bald bist du in Sicherheit ...« Sie nickt und ich drücke ihre Hand energischer. »Du bist sehr tapfer, weißt du das, Wyatt? So tapfer ...« Ich weiß nicht, wie lange ich Wyatt in den Armen wiege, doch irgendwann lässt das Zittern nach. Aus ihrem rasselnden Atem wird ein leises Fiepen und dann ... wird es still. Ihre Lider bewegen sich nicht mehr. Sie ist tot, das begreife ich, bevor der Kanonendonner durch die Arena schallt. Es gibt nichts, was ich hätte tun können und doch ... eine nach der anderen fallen meine Tränen auf Wyatts bleiche Wangen. Meinetwegen soll ganz Panem sehen, dass mir dieses kleine Mädchen aus Distrikt Drei, das ich kaum kannte, nicht egal war. Eine ganze Weile sitze ich so da, unfähig zu begreifen, dass in meinen Armen ein totes Kind liegt. Doch dann erinnere ich mich, dass ein Hovercraft kommen wird, um Wyatts Leiche abzuholen. Wie in Trance stehe ich auf und trage ihren Körper auf die offene Ebene hinaus, weit weg von meinem Lager. Ich bette Wyatt in das spärliche Gras dort, auf den letzten Flecken, der von der Abendsonne erreicht wird. Die Friedlichkeit des Moments ist fort, womöglich für immer. Am liebsten würde ich schreien und nur der Gedanke an Pon, an meine Familie, an Finnick und die Mentoren, hält mich davon ab. Zurück im Lager starre ich wütend die toten Fische an. Sogar ihr Tod war umsonst. Trotzdem schlitze ich einem von ihnen den Bauch auf, nur um ganz sicherzugehen. Das Fleisch ist unnatürlich violett, nicht so weiß wie der Fisch, den ich von zuhause kenne. Und jetzt, wo ich die Ruhe habe, erkenne ich auch die schillernden Schuppenmuster an ihren Kiemen, die scharfen Zacken an ihren Rückenflossen. Ich brauche nicht mehr an dem Fischfleisch riechen, um zu begreifen, dass es genauso giftig wie Feuerfisch ist. Ausgerechnet. Was ein Lacher für die Zuschauer im Kapitol, wenn ich darauf reingefallen wäre! Aber wenigstens hätte es dann Wyatt nicht erwischt. Sie hat mir nur vertraut ... Es ist ein schwacher Trost, dass sie immerhin kein Opfer der Karrieros mehr werden kann. Schon im nächsten Moment hasse ich diesen Gedanken. Die Arena arbeitet bereits gegen mich, verändert alles an mir – erweckt das Monster. Mechanisch grabe ich ein zweites Loch in die harte Erde, in dem ich die Fische verscharre. Anschließend rolle ich mich unter dem toten Baum am Flussufer zusammen. Für heute bleibt mir keine Zeit, ein anderes Lager zu finden. Ich hoffe nur, dass niemand das Hovercraft bemerkt, das Wyatt abholt. Inzwischen ist das letzte Licht endgültig fort und mir fehlt sogar die Kraft, aus der Zeltplane ein Dach zu bauen. Überhaupt fühle ich mich einfach nur ... leer. In diesem Augenblick ist mir alles egal. Erst die lauten Töne der Hymne Panems schrecken mich noch einmal aus meiner Lethargie auf. Mitten vor den Sternen erscheint das Banner des Kapitols am Himmel, darunter in großen Lettern die Worte »Die Gefallenen«. Als wären die toten Tribute heldenhafte Opfer im Krieg gegen einen übermächtigen Feind, so wie jene, von denen unsere Lehrbücher in der Schule erzählen ... Ich greife nach der Kette in meiner Jacke und ziehe sie heraus. Mit beiden Händen umfasse ich das Medaillon und streiche immer wieder über die glatte Rückseite, während ich mich auf das Schlimmste gefasst mache. Das erste Gesicht am Himmel ist Wyatts. Ich starre zu dem Paar Augen hinauf, das auf ihrem Porträt noch so lebhaft funkelt ... Lauter Angelhaken scheinen in meinem Hals zu hängen, als das Bild verblasst. Darauf folgt der Junge aus Drei und danach ... Distrikt Sechs, das Mädchen. Ich atme aus. Pon ist irgendwo da draußen, am Leben. Das ist alles, was mir momentan wichtig sein darf. Ich kann mich nur einmal für jemand anderen opfern und das wird er sein. Gerade jetzt, wo Wyatt an meiner Stelle gestorben ist. Dumpf schaue ich zu den übrigen Toten hinauf. Das Mädchen aus Acht, gefolgt von den Jungen aus Zehn und Elf. Beide aus Zwölf. Erschöpft schließe ich die Augen und schlafe zum Klang der Landeshymne ein.     Die 70. Hungerspiele – Liveticker Dauer: 0 Tage, 10 Stunden, 32 Minuten || Gefallen: 8 || Am Leben: 16   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)