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Meeresflüstern

Die Hungerspiele der Annie Cresta
von

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Malachitgrün

»Annie? Schätzchen? Hörst du mir zu?«

Verwirrt blinzle ich. Mir ist, als würde ich nach einem langen Tauchgang wieder an die Wasseroberfläche zurückkehren. Ganz unbeabsichtigt habe ich mich in Gedanken treiben lassen und dabei vergessen, dass ich im Studio des Fernsehsenders Capitol TV stehe und für mein Interview zurechtgemacht werde. Das in weniger als einer Stunde beginnt.

Vor mir steht Kolibrichen, einen Puderpinsel in der Hand. »Ich sagte, dass wir gleich fertig sind, Schätzchen.« Sie strahlt mich an und tupft mit der Präzision eines Bootsingenieurs etwas Rouge auf meine Wangenknochen. »Schließ bitte noch einmal die Lider, ja?«

Hastig leiste ich ihrer Bitte Folge. Mit einer kalten Fingerspitze korrigiert sie den Lidschatten ein letztes Mal, dann gibt sie ein zufriedenes Brummen von sich.

»Und jetzt noch einmal umdrehen, Liebes!«

Wie schon unzählige Male heute drehe ich mich langsam um die eigene Achse. Bisher ist Kolibrichen jedes Mal etwas aufgefallen, das sie mit einem scharfen Einsaugen der Luft und leisem Gemurmel kommentiert hat. Doch dieses Mal bleibt sie still.

»Ja, das ist wun-der-bar!«, trällert sie, als ich mich fertig gedreht habe. »Perfekt! Obwohl – lass mich noch einmal –« Ich höre es klirren und klappern, bis sie eine Flasche Haarspray hervorzaubert und mich in eine große Wolke dessen einhüllt. »Ja, das ist es!«

Hustend blinzle ich in ihre Richtung. »Danke«, sage ich erleichtert. »Du hast wirklich ganze Arbeit geleistet.«

»Ach, ach«, meint Kolibrichen und kneift mir in die Wange, »das ist so lieb von dir! Aber du bist es, die das Outfit erst komplett macht. Keine könnte es so tragen wie du! Und jetzt ganz viel Erfolg für dein Interview! Alle meine Daumen sind gedrückt! Ich schicke dir gleich einen deiner Mentoren vorbei, ja?«

Bevor ich ihr eine Antwort geben kann, schwirrt sie aus dem Raum, in dem ich seit dem Frühstück zurechtgemacht wurde. Apropos Frühstück – das liegt schon ewig zurück. Gleichzeitig hungrig und doch ganz übel vor Nervosität starre ich die Häppchen an, die ein Avox auf einem Silbertablett in der Ecke drapiert hat. Wenn ich jetzt meinen Lippenstift verschmiere, dreht mein Vorbereitungsteam sicher durch ...

Mit einem Seufzen sehe ich mich im Raum um. Es gibt zwei dunkelrote Sofas mit goldenen Kissen und an der gegenüberliegenden Wand hängt ein einziger, riesiger Spiegel. Bleich wie ein Gespenst, trotz all des Puders, schaue ich mir selber entgegen und rasch wende ich den Blick ab. Davon musste ich heute schon genug ertragen.

Dabei sieht es ja gut aus, Roans Kleid mit dem Farbverlauf. Unten am Saum ist es tiefblau wie die See am Meeresgrund, während es nach oben hin immer heller wird. Ein herzförmiger Ausschnitt lässt es zumindest so wirken, als hätte ich nennenswerte Oberweite, und dank zweier kleiner Stoffbänder, die sich an meine Oberarme schmiegen, fühle ich mich nicht ganz so ... nackt. Vor allem jetzt, wo das gewohnte Gewicht des Medaillons um meinen Hals fehlt. Roan meint, der »Billigschmuck« würde das Styling ruinieren, also musste ich das letzte Andenken an daheim ablegen. Das hasse ich, genauso wie mein hochgestecktes Haar und das grelle Make-up. Besonders schlimm ist der korallenrote Lippenstift, der so sehr klebt, dass man meinen könnte, er solle mich beim Interview an einer Antwort hindern.

Zum Glück bleibe ich nicht lange mit den Gedanken alleine. Hinter mir öffnet sich die Tür erneut und Amber kommt gemeinsam mit Cece herein. Anlässlich des »großen, großen Tages«, wie Cece nicht müde wird zu betonen, sind ihre beiden Outfits ganz in Goldtönen gehalten. »Der Look des Erfolgs!«, so hat Cece es beim Frühstück ausgedrückt. Vor allem sie mit den funkelnden Diamantenohrringen könnte glatt den Kronleuchter unter der Decke in seiner Funktion ablösen. Nervös nestelt sie an den Aufschlägen ihres knappen Jacketts, während Amber wieder einmal die Ruhe selbst ist. Sogar ihr enganliegendes Kleid trägt sie mit der größten Würde.

»Ah, Annie – du siehst reizend aus«, seufzt Cece erleichtert. »Das gibt mir Hoffnung, dass ich nicht umsonst auf Gold gesetzt habe heute Abend.« Sie giggelt albern und stemmt eine Hand so in die Hüfte wie Finnick gestern beim Üben mit den Schuhen – nur dass es bei ihm ein Scherz war.

»Ihr seht auch gut aus«, sage ich trotzdem und schenke Cece ein kleines Lächeln. Wer hätte gedacht, dass sie noch aufgeregter ist als ich? Da fühle ich mich gleich ein ganzes Stück entspannter.

Cece quittiert meine Worte mit einem Blecken ihrer unnatürlich weißen Zähne. »Ach, danke, danke. Nun ... dann alles Gute, ja? Du erinnerst dich an alles, was ich dir gesagt habe?«

»Klar erinnert sie sich, sie ist ja schließlich keine Fliege, die ständig vergisst, dass sie schon mal gegen dasselbe Fenster geflogen ist«, kommentiert Amber trocken.

Ich verstecke ein Grinsen hinter meiner Hand, als Cece über Ambers Ausdrucksweise die Nase rümpft. »Manieren, Miss Hart!«, faucht sie. »Dein Interview war schließlich auch keine Glanzleistung!«

»Und genau deshalb bin ich mir sicher, dass Annie es besser machen wird. Ich hab die Muskeln, sie das Hirn.«

»Wohl wahr.« Cece tritt an mich heran und tätschelt mir die Schulter. »Also nutze einfach deinen natürlichen Charme, um Caesar zu verzaubern!«

»Na, mal sehen ...« Ein gewisses, freudloses Seufzen kann ich mir nicht verkneifen. Amber wirft mir einen fragenden Blick zu und ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß ja nicht, wie viel Natürlichkeit noch über ist, nach all dem hier«, sage ich und gestikuliere vage in Richtung meines Spiegelbilds.

»Ah, da musst du dich nur dran gewöhnen«, winkt Cece ab. »Das macht die Hochsteckfrisur, da siehst du gleich ein paar Jahre erwachsener aus. Aber das macht nichts. Roan und die anderen wissen schon, was sie tun.«

Geringschätzig schnaubt Amber. »Ein paar Jahre? So ne antiquierte Frisur trug nicht mal meine Großmutter.«

»Nun, Distrikt Vier ist ja auch nicht gerade für seine Mode bekannt«, schnappt Cece zurück.

»Also findest du das ehrlich gut? Sieht doch gar nicht mehr aus wie unsere Annie, die das Publikum schon kennt!«

»Ja, aber ...«

Amber rollt mit den Augen. »Falsche Antwort.« Dann wendet sie sich an mich: »Komm mal her.«

Ohne auf Ceces empörtes Luftschnappen zu hören, streckt Amber sich und zieht eine Haarnadel nach der anderen aus dem strengen Knoten an meinem Hinterkopf. Zunächst passiert dank des ganzen Haarsprays nichts, doch schließlich lösen sich die ersten Strähnen und fallen mir steif wie ein Brett über die Schultern.

»Miss Hart!«, faucht Cece, aber sie schreitet nicht ein, sondern steht nur da und knabbert nervös an ihrem Daumennagel. »Du kannst doch nicht einfach – die ganze Arbeit! Du ruinierst alles –«

»Gib mir einfach mal die Bürste da, Cece.«

Und obwohl Cece gar nicht begeistert scheint, lässt sie es zu, dass Amber mir das Haarspray vorsichtig ausbürstet, bis sich meine Haare in sanften Locken ringeln. Mit einer Routine, die ich ihr nie zugetraut hätte, steckt Amber zwei Strähnen zu beiden Seiten zurück und schon sehe ich wieder deutlich mehr nach mir selber aus.

»So«, sagt Amber, »soll ich jetzt noch eine nette Bemerkung über dein Outfit machen oder bist du auch so mit diesem Upgrade zufrieden?«

Ich muss grinsen und könnte schwören, dass man das klebrige Zeug auf meinen Lippen Fäden ziehen sehen kann. »Nicht nötig, ich bin auch so überzeugt, dass ich absolut wundervoll aussehe. Danke, Amber.«

Cece seufzt schwer, doch auch sie kann ihr Lächeln nicht verbergen. »Es steht dir wirklich, Annie. Aber ich schwöre euch beiden – wenn Roan oder Rosetta davon Wind bekommen, nehme ich die Schuld nicht auf mich!«

»Entspannt dich, Cece.« Amber zwinkert verschwörerisch. »Wenn das Interview erstmal läuft, werden sie schon sehen, dass alles gut so ist, wie es eben ist. Annie macht das schon.«

Angesichts dieses Vertrauens in meine nicht existenten Fähigkeiten kehrt die Nervosität mit voller Kraft zurück. Ich verziehe das Gesicht und sehe auf meine Finger hinab, die ich sorgenvoll knete. Amber entgeht diese Reaktion nicht.

»Kopf hoch«, flötet sie in ihrer besten Cece-Imitationsstimme. »Ich hab von Finnick gehört, wie viel ihr gestern noch geübt habt – damit wirst du die größte Hürde schon meistern. Flickerman frisst dich nämlich nicht, weißt du. Die größte Gefahr ist es, sich die Beine zu brechen.« Plötzlich streckt sie mir ihr Handgelenk unter die Nase. »Eigentlich hinterlassen die Interviews höchstens einen bleibenden Eindruck im Kopf – es sei denn, du entscheidest dich, mir nachzueifern und von der Bühne zu fallen.« Grinsend deutet sie auf eine helle Linie, die sich von der Innenseite ihres Unterarms zu ihrem Handballen zieht. »Ich bin wohl die Einzige, die aus den Interviews mit einer Narbe gegangen ist. Und hey – ich hab’s auch überlebt.«

Cece schnaubt etwas, das sich verdächtig nach »Mehr Glück als Verstand« anhört, aber trotzdem lindert Ambers Geschichte meine Nervosität ein Stück weit. Sie hat ja recht – im Vergleich zu den Hungerspielen sind die Interviews ein Strandspaziergang.

»Na gut, dann sollten wir los«, verkündet Cece schließlich und schlägt die Hände zusammen.

Draußen in den Fluren herrscht heilloses Gedränge. Überall tummeln sich Mentoren um ihre Tribute, die man gut an den bleichen Gesichtern erkennt. Ich erhasche einen Blick auf Nora, die ein strahlend gelbes Kleid trägt und Händchen mit ihrem Mittribut Circe hält. Die meisten Jungen tragen Anzüge in allen Farben des Regenbogens, nur bei Floyd hat man sich für ein dunkelrotes Hemd entschieden, das bis zu seinem Bauchnabel aufgeknöpft ist. Wohl ein verzweifelter Versuch, die katastrophalen sieben Punkte von gestern noch zu retten.

Neben ihm steht Maylin, ebenfalls in Blutrot gekleidet. Zum ersten Mal seit Snows Drohung sehe ich sie wieder und schon bin ich dankbar, dass ich keines der Häppchen im Vorbereitungsraum gegessen habe. Maylin ist zwar kaum größer als ich und fast noch dünner, aber ihr kurzes Haar ist zu kleinen Stacheln frisiert und alles, vom Schmuck zu den Schuhen, ist mit silbernen Dornen besetzt. Zusammen mit dem tiefschwarzen Lidschatten und Lippenstift jagt ihr Anblick mir einen Schauer den Rücken hinab. Gegen sie wirkt Floyd wie einer der Hafenkünstler, die in Distrikt Vier abends für ein kleines Trinkgeld alberne Tanz- und Gesangsnummern vor betrunkenem Publikum aufführen.

Lange darf das Gewusel allerdings nicht bestehen bleiben, denn schon kommt eine Angestellte des Fernsehsenders und scheucht uns Tribute in eine Schlange, bei der wir uns geordnet nach Distrikten aufstellen sollen. Zuerst die Mädchen, dann die Jungen. Endlich sehe ich auch Pon wieder. Ihn hat man in einen marineblauen Anzug gesteckt, auf dessen Stoff vereinzelte, grün schillernde Schuppen genäht sind.

»Du siehst ja richtig erwachsen aus«, merke ich an, wobei ich ihm durch die viel zu ordentlich gekämmten Locken wuschle.

»Ich bin erwachsen!«, hält Pon dagegen. »Daheim hätte ich bald das erste Mal am Marathonschwimmen durch die Bucht teilnehmen dürfen. Und für die Hungerspiele bin ich schließlich auch alt genug.«

Ich würde gerne lachen, doch das Geräusch bleibt mir im Hals stecken. Pon ist alles andere als erwachsen, aber er hat trotzdem nicht unrecht. Stumm drücke ich ihn an mich.

Mit einem letzten Winken verabschieden sich die Mentoren von uns, denn sie müssen nun ihre Plätze hinter den Kulissen einnehmen. Mehr als einen kurzen Blick erhasche ich nicht auf Finnick, der in Pons Vorbereitung involviert war. Zwinkernd nimmt er noch einmal die alberne Pose von seinem Showlauf gestern Abend ein, dann zeigt er mir einen Daumen hoch, bevor er verschwindet.

Wir sind auf uns alleine gestellt. Den Gedanken scheint auch Pon zu hegen, denn er beißt sich auf die Unterlippe und knibbelt mit den Fingernägeln an einer der Plastikschuppen auf seinem Unterarm. Ich ergreife seine Hand und ziehe sie sanft zurück.

»Amber sagt, dass Caesar ein Idiot ist«, flüstere ich ihm zu. »Er wird uns toll finden, egal was wir tun. Und dann geht es auch ganz schnell um.«

»Das hat meine Ma auch immer gesagt. Also dass Flickerman nicht mehr alle Rettungsringe an Deck hat. Weil er jedes Jahr eine andere Haarfarbe hat.«

»Was meinst du wohl, womit er uns dieses Jahr überrascht?«

»Hmm ...« Pon legt nachdenklich die Stirn in Falten. »Letztes Jahr war es violett ... vielleicht ist es dieses Jahr ja blau? Das wäre bestimmt ein gutes Omen für uns.«

»Oh, kein schlechter Gedanke! Vielleicht ist es aber auch gelb? Das gab’s glaube ich lange nicht mehr.«

Ob darauf wohl Wetten im Kapitol abgeschlossen werden? Dann könnten wir jetzt schauen, was am höchsten im Kurs für Caesars nächste Ganzkörperüberholung steht. Andererseits sehen wir es eh gleich. Entlang des Flures flackern nämlich plötzlich lauter Bildschirme auf, die eine leere Bühne zeigen.

Ein Countdown zählt von zehn herab und dann tritt Caesar Flickerman höchstpersönlich in das Scheinwerferlicht. Er trägt grün; ein tiefes, schimmerndes Malachitgrün. »Willkommen, willkommen, meine Damen und Herren! Endlich ist es so weit – das Highlight des Jahres steht kurz bevor! Begrüßen Sie sehr herzlich mit mir unsere diesjährigen Tribute zu ihren Interviews!«

Selbst bis hinter die Bühne hören – und spüren – wir das Beben des Applauses. Ich habe das Gefühl, auf einem Schiff mitten im Sturm zu stehen, so sehr vibriert der Boden zu meinen Füßen.

Auf den Bildschirmen können wir derweil verfolgen, wie Shine als Erste die Bühne betritt. Ihr Kleid besteht aus unzähligen Perlenschnüren, die bei jedem Schritt klirrend gegeneinanderstoßen und sich bewegen wie ein Wasserfall. Schön sieht sie aus – wenn da nicht der kalte Ausdruck in ihren Augen lauern würde. Eine elegante Diamantentiara spielt auf ihre Herkunft an, sonst trägt sie keinerlei Accessoires.

Das Publikum liegt ihr zu Füßen, das ist offensichtlich. Ein ums andere Mal bringt sie mit ihren Antworten den Boden zum Zittern und als sie endlich fertig ist, folgt dasselbe Spiel mit Slay. Auch Maylin erscheint routiniert und lässt sich nicht von Caesars forscher Frage nach dem Grund für ihre schlechte Einzelbewertung aus der Ruhe bringen.

»Ach, weißt du, Caesar, man darf doch nicht gleich zu Beginn sein bestes Potential verfeuern«, erklärt sie achselzuckend. »In diesem Jahr wird Distrikt Zwei es nicht zulassen, dass jemand anderes gewinnt. Also müssen wir ein paar Geheimnisse für uns behalten – oder siehst du das etwa anders?«

»Oh, nein, mich darfst du da nicht fragen«, wiegelt Caesar lachend ab. »Aber wenn du darauf bestehst, werden wir alle mit Spannung auf die Überraschungen in der Arena warten, nicht wahr, meine Damen und Herren?«

Im Vergleich zu Shine ist der Applaus deutlich müder, aber immer noch gewaltig. Ähnlich sieht es bei Floyd aus, auch wenn dieser eher wortkarg bleibt und vor allem seine Muskeln sprechen lässt. Bevor ich mich versehe, sitzt schon der Junge aus Distrikt Drei auf der Bühne und verschwindet förmlich in den Polstern des Sessels neben Caesar. Seine Antworten sind so leise, dass sie selbst durch die Direktübertragung kaum zu verstehen sind. Hoffentlich wird mir das nicht so gehen ...

Mein Weg die Bühne hinauf vergeht schließlich in einem Wirbel aus Farben, Lichtern und Geräuschen. Wärme schlägt mir entgegen, kaum dass ich den ersten Fuß hinaus ins Scheinwerferlicht trete. Fast erinnert es mich an den Sommer zuhause. War es schon hinter der Bühne ohrenbetäubend laut, so klingt der Applaus aus dem Publikum hier wie ein Orkan.

»Begrüßen Sie nach Cameron aus Distrikt Drei nun das Mädchen, das aus dem Meer kommt – Annie, aus Distrikt Vier!«, brüllt Caesar gegen den Sturm an.

Ich habe das Gefühl, dass mein Herz seine Arbeit eingestellt hat, zusammen mit dem Rest meines Körpers. Irgendwie gehe ich vorwärts, aber ich sehe weder, wohin, noch kann ich das Publikum ausmachen. Da ist einfach nur eine schwarze, sehr laute Wand, der ich entgegen winke. Und dann kommt etwas Grünes auf mich zu geflitzt und packt meine Hand. Caesar Flickerman. Benommen folge ich dem Moderatoren zu den beiden Sesseln, wo ich mit übereinandergeschlagenen Beinen platznehme.

»Annie, Annie ... wie schön, dass du hier bist«, begrüßt Caesar mich mit einem verschwörerischen Zwinkern.

Ich bin ganz geblendet von seiner glitzernden Erscheinung. Sein kompletter Anzug ist besetzt mit winzigen Edelsteinen, die allesamt hundertfach das Licht brechen, um es in einem malachitgrünen Schimmer zurückzuwerfen. »Wow«, stammle ich und schüttle den Kopf wie ein nasser Hund.

»Wow, sagt sie – das können wir doch alle gut nachvollziehen, was?« Das Publikum lacht. »Aber was genau ist denn so umwerfend, meine Liebe?«

Ich zwinge mich, den Blick von Caesars Anzug loszureißen. »Eine ganze Menge ist überfordernd«, gestehe ich, »aber dieses Mal meine ich den Anzug. Das ist ... eine Menge Glitzer. Ich sehe gar nichts anderes.«

Noch mehr Gelächter. Auch Caesar enthüllt seine strahlendweißen Zähne, die mit seinem Anzug um die Wette leuchten. Bestärkt von dieser Reaktion lächle ich ebenfalls.

»Oh weh, oh weh«, antwortet Caesar mir und tut so, als würde er versuchen, mit den Händen seinen Anzug zu verdecken. »Ich wusste ja gar nicht, dass ich so sehr funkle! Haben Sie das bemerkt, werte Damen und Herren?«

Ich kichere angesichts dieses albernen Theaters. So hat Cece sich das Interview in unserer Vorbereitung nicht vorgestellt, doch ich bleibe einfach beim Thema.

»Ach, ist schon gut Caesar. Immerhin ist es meine Lieblingsfarbe, da lasse ich mich gerne blenden!«

»Puh!« Demonstrativ wischt Caesar sich die Stirn mit dem Handrücken. »Dann habe ich ja doch ein gutes Händchen bewiesen, als ich heute Morgen so vor dem Kleiderschrank stand. Aber wen wundert es auch, dass ein schönes Grün deine Lieblingsfarbe ist? Das hat doch bestimmt etwas mit dem Meer zu tun ... oder sind es etwa die Augen eines geliebten Menschen?«

Caesar zwinkert, das Publikum johlt und mein Mund wird trocken. In Gedanken sehe ich Finnick vor mir, dessen Augen viel mehr strahlen als Caesars Anzug. Rasch schüttle ich den Kopf. »Natürlich muss ich da an das Meer denken, wie bei meinem Kleid«, erwidere ich lahm. »Da bin ich wohl einfach voreingenommen, dass das schöne Farben sind.«

»Natürlich.« Caesar nickt ernsthaft, bevor sich auch schon das nächste verräterische Grinsen auf seine Züge schleicht. »Wobei ich da noch an jemand anderen denken muss – Sie wissen wen ich meine, liebes Publikum: Finnick Odair. Sei ehrlich, Annie – wie ist es, den begehrtesten Junggesellen Panems zum Mentor zu haben? Wird man da nicht auch mal schwach bei den Augen?«

Ein paar Zuschauer kreischen bei dieser Erwähnung schrill.

»Ähm ...« Ich mache den Fehler, mir über die Lippen zu lecken, und schon klebt eklig süßer Lippenstift an meiner Zunge. Das flaue Gefühl in meinem Magen gewinnt wieder an Kraft. »Eigentlich ist er nicht groß anders als die übrigen Mentoren. Sie haben eben alle unterschiedliche Talente ... Es ist nur ablenkend mitunter ... also dass es nicht immer nur um Finnicks Können geht ...? Und er ist leider oft nicht da, von daher hätte ich vielleicht noch mehr lernen können ...«

Mein Satz bleibt unvollendet in der Luft hängen und ich zucke mit den Schultern, bis mir wieder einfällt, dass Cece genau das strengstens verboten hat. Nun, jetzt ist es zu spät.

Caesar zieht gekonnt eine Augenbraue hoch und lehnt sich vor, als gäbe es nur uns zwei und kein sensationshungriges Publikum. »So so, ablenkend war euer Training also ...«

Natürlich pickt er sich das Schlimmste aus meinem Gestammel heraus. Ich hätte nicht wenig Lust, hier und jetzt das Gesicht in den Händen zu vergraben. Nicht nur mache ich die Sache damit unangenehm für mich, Finnick muss ja ebenfalls darunter leiden!

»Hast du Finnick vielleicht auch abgelenkt?«, fragt Caesar da auch schon mit einem Zwinkern.

Sicherlich meint er es nicht böse. Doch die Frage ist perfekt, zu perfekt. Das sind genau die Informationen, für die sich Snow interessiert. Egal, was ich sage, ich kann nicht gewinnen.

Ich lehne mich ein Stück aus Caesars Reichweite zurück und sehe zum Publikum. Mir fällt nur eine Antwort ein, die ich in anderer Variation mit Cece einstudiert habe. »Oh, denken Sie wirklich so von mir?«, frage ich so laut und deutlich wie möglich. »Mein einziges Ziel ist es nämlich, meinen Mittribut Pon zu beschützen. Damit er zurückkehren kann. An etwas anderem habe ich kein Interesse.«

Caesar seufzt theatralisch und legt eine Hand seine Brust. »Wie konnte ich das nur vergessen? Natürlich willst du das. Das hast du in deinem Familiengespräch auch schon gesagt. Aber erlaub mir eine Frage – warum?«

»Er erinnert mich an meinen kleinen Bruder zuhause. Sie haben ihn ja gesehen, Cyle. Wenn ich mir vorstelle, dass er hier wäre ... Ich würde mir wünschen, dass es jemanden gäbe, der ihn beschützt. Also kann ich Pon nicht einfach sich selber überlassen.«

»Mhm ...« Verständnisvoll nickt Caesar und für einen Moment ist es still im Saal. Dann stellt Caesar mir die letzte, obligatorische Frage, die er jedem Tribut stellt: »Und wie sieht es mit dem Gewinnen aus? Rechnest du dir gar keine Chancen aus? Man weiß ja nie ... was passiert.«

Ich schüttle den Kopf. »Wenn es nicht Pon ist, will ich es auch nicht sein. Das meine ich ernst.«

»Nun ... das ist auch mal eine Motivation, meine Damen und Herren. Das war Annie Cresta, unsere kleine Meerjungfrau!«

Das Publikum spendet mir kräftigen Applaus und ich habe keine Ahnung, ob es mehr oder weniger als bei meinen Vorgängern ist. Hier auf der Bühne fühlt sich alles an wie eine Brandungswelle, die mit voller Wucht auf den Pier – in diesem Fall mich – prallt. Es muss mich ja nicht ganz Panem lieben, aber vielleicht tun es am Ende doch mehr, als ich gedacht hätte.

Irgendwie schaffe ich es von der Bühne herunter und dunkel nehme ich wahr, wie Pon sein eigenes Interview bestreitet. Er gewinnt schon alleine durch sein Alter Sympathien. Offenbar gibt es im Kapitol doch Menschen, bei denen ein putziger Zwölfjähriger Elterngefühle auslöst. Aber natürlich stellt Caesar ihm auch eine Frage zu mir und meinen Plänen.

Ernst blickt Pon zu Boden. »Ich will nicht, dass Annie für mich stirbt. Aber ich glaube, das kann ich ihr nicht ausreden. Ich hoffe einfach, dass wir beide so lange wie möglich durchhalten.«

Als er zurückkommt, werden wir von Cece abgeholt und zurück zu den Mentoren gebracht, wo wir Backstage die restlichen Interviews ansehen. Wirkliche Highlights folgen ohnehin nicht mehr. Die meisten Tribute pendeln zwischen einer bemühten Demonstration ihrer Stärke oder übertriebener Komik. Am ehesten beeindruckt mich noch Nora, die es schafft, breit zu lächeln und ein lockeres Gespräch über traditionelle Kunst aus Distrikt Fünf anzuschlagen.

Das Mädchen aus Zehn, das uns gestern alle mit seinen neun Punkten in der Einzelbewertung überrascht hat, bleibt hingegen das ganze Interview über stumm und gibt höchstens einsilbige Antworten. So viel Mut muss man erstmal haben – und ich bin mir nicht sicher, ob das nicht eher ein großer Fehler ist.

Schlussendlich kommen die Interviews mit dem kläglichen Weinen des Tributs aus Zwölf zu einem Ende und alle in unserem Team sind sich einig, dass Pon und ich uns gut geschlagen haben. Nicht perfekt, aber durchschnittlich genug, um nicht chancenlos zu sein. In Anbetracht dessen, wo Pon und ich angefangen haben, ist das tatsächlich eine ziemliche Leistung. Auch wenn ich es nie zugeben würde – ohne Floyds Angriff auf den Tribut aus Neun und das damit verbundene Extratraining, stünden unsere Chancen wohl deutlich schlechter.

Anlässlich des letzten Abends im Trainingscenter fährt das Kapitol noch einmal ein wahres Festessen auf, zu dessen großem Finale eine Torte serviert wird, die mit kleinen Zuckerfischen verziert ist. Ich weiß nicht, wie Pon und ich es schaffen, doch wir lachen mit den anderen über einige der absurderen Outfits des Abends und verdrängen dabei ganz, was morgen für ein Tag ist.

Nach und nach verabschieden sich schließlich alle, angefangen mit Mags, die Pon ins Bett bringt, bis nur noch Cece, Finnick, Amber und ich übrig sind. Ich stochere in meinem letzten Stück Torte – Schokolade, verborgen unter einem blauen Marzipanmantel –, als Finnick mir einen langen Blick zuwirft. Persönlich gesprochen haben wir heute noch gar nicht, aber ich begreife sofort, als er aufsteht und mit dem Kopf in Richtung Balkon ruckt, bevor er verschwindet.

Ich werfe Cece und Amber ein kleines Lächeln zu. »Also ... ich bin müde, ich werde dann auch mal gehen. Vielleicht bekomme ich ja noch ein bisschen Schlaf.«

Die beiden verabschieden mich mit einem Nicken und ich folge Finnick den langen Flur hinab. Er wartet bereits auf dem Balkon, die Ellenbogen auf das Geländer gestützt und den Blick gen Himmel gerichtet.

»Hey ...«, murmle ich in die laue Nachtluft.

Selbst im Dunkel der Nacht schimmern Finnicks Augen wie das Meer, als er sich zu mir umdreht. Er lächelt. »Na, wie schlimm war das Interview?«

Ich unterdrücke ein Seufzen. »Du hast es doch gesehen.«

»Schon, aber ich meinte eher, wie es sich für dich angefühlt hat.«

»Halb so schlimm wie gedacht – also wirklich furchtbar.«

Finnick schmunzelt. »Kenne ich. Aber du hast das wirklich gut gemacht. Ehrlich. Die Fragen waren ... fies.«

Der altbekannte Kloß in meinem Hals schwillt wieder an. Ein Frösteln schüttelt mich und ich schlinge die Arme um den Oberkörper. »Tut mir leid, dass du da mit hineingezogen wurdest. Das wollte ich wirklich nicht ...«

»Ach was.« Bevor ich weitersprechen kann, winkt Finnick ab. »Ich bin Schlimmeres gewohnt. Gerüchte über mich und die Tribute wird es wahrscheinlich immer geben. Dabei darfst du dir nicht zu viel denken.« Dann streicht ein verwegenes Grinsen über sein Gesicht. »Ach, übrigens ...« Er zieht etwas aus seiner Hosentasche und hält es in die Luft.

Im fernen Licht des Kapitols erkenne ich eine goldene Kette – meine Kette, die Roan mir heute Morgen weggenommen hat.

»Ich dachte, die willst du sicher zurück haben. Ich habe sie prüfen lassen von den Spielmachern und du darfst sie morgen mit in die Arena nehmen. Ich würde dir nur raten, sie nicht am Hals zu tragen ... damit man dich nicht damit erwürgen kann.«

»Oh ...« Ich schlucke gegen den Kloß in meinem Hals an, als hätten sich just in diesem Moment unsichtbare Hände um meine Luftröhre gelegt. »Danke. Das ... das bedeutet mir wirklich viel.«

Finnick schlägt die Lider nieder und nickt sanft. »Soll ich sie dir umlegen?«

»Das wäre nett.«

Ich gehe zu ihm herüber und schiebe die Haare beiseite, damit er die Kette schließen kann. Kalt streicht das Gold über meine Haut, sodass mir ein Schauer den Rücken hinab läuft – einer der guten Art. Sobald das Gewicht des Medaillons wieder an seinem gewohnten Platz ruht, fühle ich mich besser. Ich habe gar nicht bemerkt, wie viel mir die Kette bedeutet, ehe sie mir genommen wurde. Aber alle meine Erinnerungen hängen jetzt an diesem Stück Metall, den Bildern und dem Brief darin. Nur ein winziges Detail lässt mich stutzen, denn als ich die Hand um das Medaillon schließe, merke ich, dass noch etwas anderes an der Kette hängt.

Erstaunt schaue ich nach unten. Da baumelt ein kleiner Fisch, aus schlichtem Kupferdraht geflochten. Sein Auge ist ein einzelnes, malachitgrünes Steinchen, das direkt von Caesar Flickermans Anzug stammen könnte.

»Damit du immer etwas Hoffnung bei dir trägst«, sagt Finnick leise. »Floogs hat mir alles von gestern erzählt. Deshalb soll der Fisch dich daran erinnern, dass es hier immer noch jemanden gibt, der an dich glaubt. Der alles daran setzen wird, dass du mit Würde gehen kannst. Vielleicht bringt er dir ja Glück.«

Ich drehe mich zu Finnick um. Obwohl es gerade mitten in der Nacht ist und weit und breit keine Sonne scheint, habe ich mit einem Blick in seine Augen dasselbe Gefühl, was mich sonst beim Anblick des Sonnenuntergangs über dem Meer überkommt. Es sind diese wenigen Sekunden, in denen die Welt vollkommen friedlich erscheint.

»Hast du den Fisch etwa selber gemacht?«, frage ich.

Finnick nickt. »Es ist nichts Großartiges –«

»Nicht großartig?« Ich schniefe leise, denn vor lauter Rührung schwillt mir der Hals endgültig zu. Mit den Fingern streiche ich über das kleine Flechtwerk. »Ich bin so froh, dass ich in den letzten Tagen hier diese Seite an dir kennenlernen durfte. Etwas Schöneres könnte ich mir zum Ende nicht vorstellen.«

In mir erwacht die Sehnsucht, Finnick zu berühren, ihn nur noch einmal in die Arme zu schließen. Ihn wissen zu lassen, was er mir bedeutet. Dass er einen Unterschied macht. Zögerlich hebe ich die Hand und strecke sie nach seiner Wange aus. Meine Fingerspitzen streifen ganz leicht über seine Haut, doch das reicht schon, um mein Herz schneller schlagen zu lassen.

»Ich hoffe, dass du eines Tages Frieden finden wirst«, sage ich leise. »Dass du jemanden findest, der das für dich sein kann, was du für mich warst. Ein Fels in der Brandung, ein Funken Hoffnung im Dunkeln. Damit das Kapitol dir nicht länger wehtun kann. Das wünsche ich dir wirklich. Du hast es verdient.«

Ich höre, wie Finnick tief einatmet. Ein paar Herzschläge lang schließt er die Augen, während er meine Hand an seiner Wange festhält. Er drückt sie fester an sich und aus der federleichten Berührung wird kräftiger Druck. Dann sieht er mich wieder an.

»Annie ... ich weiß, dass du das vermutlich nicht hören willst – und dass ich es nicht empfinden, geschweige denn sagen sollte, aber ...« Er schüttelt sachte den Kopf. »Du bist das alles schon für mich. Du machst die Spiele dieses Jahr so viel erträglicher und gleichzeitig absolut unerträglich.«

Unterbewusst schlinge ich die Finger fester um die seinen, als wären sie mein Rettungsring in stürmischer See. »Aber ich kann nicht bleiben«, flüstere ich. »Ich werde dir nur wehtun.«

Finnick beißt sich auf die Unterlippe und blinzelt angestrengt. »Ich kann doch nichts dagegen tun«, erwidert er mit schwacher Stimme. »Das ist die eine Sache, von der ich mir immer vorgenommen habe, dass sie mir nie passieren wird. Ich meine – es ist doch völlig irrwitzig! Ich hätte nie gedacht ... dass man sich überhaupt so schnell verlieben kann. Ich dachte immer, dass das Kapitol nur so tut, als würde das ernsthaft Menschen passieren. Eben ein nettes Schauspiel, für das man nur genug Geld hinlegen muss. Und jetzt weiß ich nicht einmal, wie das geht ... wie man das macht, wirklich lieben ... Aber hier stehe ich und kann dich nicht gehen lassen.« Er legt den Kopf in den Nacken und sieht wieder zu den Sternen auf. »Das ist doch eine verdammte Scheiße«, flucht er leise und ehe ich etwas sagen kann, zieht er mich näher heran und vergräbt die Stirn an meiner Schulter.

Ich spüre, wie seine Hände sich an meinem Rücken verkrampfen und wortlos drücke auch ich ihn fester. Finnick riecht nach zuhause und Geborgenheit und obwohl mir zum Weinen zumute ist, könnte er mich nicht glücklicher machen.

»Es tut mir so leid«, murmle ich gegen sein T-Shirt, »das wollte ich dir nicht antun. Es reicht doch schon, dass ich nicht weiß, wie mir geschieht.«

»Verdammt, das macht es nur schwerer für mich.« Er lacht auf, eine Mischung aus Verzweiflung und seinem üblichen Humor.

»Frag mich mal«, entgegne ich. »Panems begehrtester Junggeselle erwidert meine völlig verrückten Gefühle und ich habe nur noch ein paar Stunden in seiner Gegenwart.«

Das bringt Finnick dazu, den Kopf ein Stück zu heben. Gerade so weit, dass er mich wieder ansehen kann. Nun ist er es, der eine Hand an meine Wange legt und vorsichtig mit dem Daumen darüber streicht. »Vielleicht sollten wir die Zukunft einmal kurz vergessen?«

»Vielleicht sollten wir das.«

Er hebt einen Mundwinkel. »Ich bin ehrlich – ich bin etwas aufgeregt, aber ... ich würde dich jetzt sehr gerne küssen, Annie.«

»Das würde ich sehr schön finden«, hauche ich und strecke mich ihm ein Stück entgegen, um den Größenunterschied zu überwinden.

Auch wenn es nicht mein erster Kuss ist – nichts hätte mich darauf vorbereiten können, wie es sich anfühlt, Finnicks sanfte Lippen auf meinen zu spüren. Alle Gedanken an schnell schlagende Herzen oder schwitzige Handflächen sind fortgewischt. Mich erfüllt nur noch ein Kribbeln, das vom Scheitel bis zur Sohle zieht. Meine Hände gleiten in Finnicks Nacken und ich vergrabe sie in seinem Haar, als hätte ich das schon hundertmal mit ihm getan.

Er küsst ganz vorsichtig, überhaupt nicht so wild oder bestimmt, wie man es von ihm erwarten könnte. Ein bisschen kommt es mir so vor, dass ich diejenige bin, welche die Geschwindigkeit vorgibt. Nicht, dass ich es eilig habe. Ich genieße die Wärme seiner Lippen, den Geschmack nach Sonnenschein und Salz darauf. Seine Finger an meiner Wange halten mich behutsam und verhindern, dass sich ungebetene Sorgen oder Ängste ausbreiten. Wie die sanfte Brandung an einem Frühlingstag spült er alles weg, was zwischen uns steht.

Auf diesem Balkon, der zu dem winzigen Raum unmittelbar um uns geschrumpft zu sein scheint, ist nur Platz für das glückliche Ziehen in meiner Brust. Ein Teil von mir wünscht sich, dass unser Kuss nie enden möge. Aber irgendwann lösen Finnick und ich uns doch voneinander, auch wenn wir noch einen Moment lang verharren, nur getrennt durch Millimeter lauer Abendluft. Finnicks Atem streift meine Lippen und löst einen neuerlichen Rückenschauer bei mir aus. Zaghaft streicht er eine Haarsträhne hinter mein Ohr.

»So schlimm?«, fragt er heiser.

Zuerst verstehe ich nicht – bis Finnick eine Träne von meiner Wange auffängt. Unfreiwillig lache ich auf und schüttle den Kopf. »Nein, ganz sicher nicht.« Meine Stimme klingt ganz fremd, so rau ist sie. »Ich ... ich habe Gänsehaut.«

»Das ist ... gut? Entschuldige, aber es hat noch nie jemand geweint, der mich geküsst hat.«

»Das ist gut«, bestätige ich. »Nicht, dass ich das je erlebt hätte, aber ich fühle mich gut. Und ein bisschen überwältigt. Gut überwältigt.«

»Okay.«

Finnick lächelt vorsichtig und dann küsst er mich einfach noch einmal. Etwas bestimmter, aber trotzdem sanft. Und ich grabe die Finger in den dünnen Stoff seines T-Shirts, um ihn so fest zu halten, wie ich kann. Für all die zukünftigen Gelegenheiten, die wir nie haben werden.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2012-08-02T22:17:20+00:00 03.08.2012 00:17
"Heute Abend, da hab ich sie alle lieb" - lieblingszitat aus diesem Kapitel :)
Und jetzt muss ich nur noch googlen was Malachingrün ist :D
du hattest übringens Ceaser Annie manchmal sietzen und dann wieder dutzen lassen... Nur so als kleine bemerkung. Hat natürlich dem Kapitel nicht den Charme genommen, aber als angehende Journalistin bemerkt man so was eher als andere :D

schnell weiter schreiben ;)
Jade


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