Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 22: Mein Weg -------------------- »Annie, da bist du ja endlich! Cece stirbt schon vor Neugier, sie will endlich hören, wie dein Training gelaufen ist!« Mit diesen Worten begrüßt Amber mich, kaum dass ich unser Appartement betrete. Offenbar hat sie schon im Flur gewartet, denn ich habe gerade erst die Tür geöffnet, als sie bereits mein Handgelenk packt. Ich stolpere fast, so fest zieht sie mich an sie heran. Ihre warmen Hände landen auf meinen Schultern, zusammen mit einem ebenso eindringlichen Blick. »Wir hatten schon befürchtet, dass du dir doch noch mit einem Speer in den Fuß gestochen hast, so lange hat das gedauert«, setzt Amber überdeutlich und mit lautem Schnauben hinzu. Gleichzeitig drückt sie allerdings meine Schultern fester. Dann wirft sie einen Blick zu den Friedenswächtern, die mich zurück ins Trainingscenter eskortiert haben. »Ich will hoffen, dass es das für heute an Störungen im Tagesablauf war? Wir sind extrem hinten dran, was die Vorbereitungen für das Interview angeht und wir wissen alle, dass sie das brauchen wird. Gutes Styling passiert schließlich nicht mal eben über Nacht!« Die beiden Männer zucken nur mit den Schultern. »Sie schaffen das schon«, sagt der Größere von ihnen lapidar und sie wenden sich zurück zum Fahrstuhl. Amber beobachtet, wie sie einsteigen, und wartet nicht nur, bis sich die Türen geschlossen haben, sondern auch die Kabine dem Boden entgegen sinkt. Erst dann atmet sie hörbar aus. Ihre harsche Haltung weicht einer besorgten Falte zwischen den Augenbrauen. »Bist du in Ordnung?«, fragt sie, deutlich leiser als bei ihrer Begrüßung. Bevor ich jedoch auf die Frage antworten kann, schiebt sie mich in Richtung Wohnzimmer weiter. »Wir haben uns Sorgen gemacht«, fährt sie fort, »Pon ist schon seit Ewigkeiten zurück von der Punktevergabe. Wo hat man dich hingebracht?« »Ich ...« Eigentlich will ich sagen, dass es mir gut geht, doch die Worte hängen in meiner Kehle fest. Zum Glück scheint Amber auch so zu verstehen. Zumindest unterdrückt sie einen Fluch und die Falte zwischen den Augenbrauen vertieft sich. Im Wohnzimmer werden wir erwartet, allerdings nicht von Cece, sondern von Trexler und Floogs. Die beiden sitzen auf dem Sofa und bei meinem Anblick springen sie beinahe synchron auf. »Annie«, sagt Floogs sanft, »wie schön, dass du zurück bist.« Er lächelt mir zu, aber ich kann die Augen nicht von Trexler abwenden, der wie ein Schatten hinter ihm steht und dessen Gesicht sich bei meinem Anblick umgehend verfinstert. Gebannt starre ich auf den Hünen. »Du wars’ bei Snow, nich’?« Trexler formuliert es zwar als Frage, doch im Prinzip ist es eine vorsichtige Feststellung. »In seinem Palast.« Ich schlucke schwer. Die Lüge, dass es mir gut geht, kratzt immer schlimmer in meinem Hals. Aber kann ich einfach die Wahrheit sagen? Oder sollte das Gespräch besser ein Geheimnis zwischen mir und dem Präsidenten bleiben? Egal woran ich denke, meine wahren Gefühle spiegeln sich sowieso auf meinem Gesicht. Das merke ich daran, wie Trexler mich ansieht und dann mit einem kleinen Nicken die Lider senkt. »Das is’ natürlich ne Einladung, die man nich’ ablehnt«, bestätigt er meine Befürchtungen. Unfreiwillig erleichtert atme ich auf. Es klingt nach dem ersten Luftschnappen einer Tiefseetaucherin. Jetzt muss ich wenigstens keine eigenen Worte – oder gar eine Lüge – für diesen Ausflug erfinden. »Ja«, hauche ich. »Die Friedenswächter haben mich gleich nach dem Training mitgenommen –« »Das verstehen wir.« Floogs nickt mir zu. »Glaub mir, es ist nicht das erste Mal, dass etwas in diese Richtung geschieht. Das ist immer ...« »Aufregend?«, wirft Amber ein. Sie verzieht den Mund. »Annie sieht jedenfalls aus, als müsse sie kotzen angesichts dieser Ehre.« »Richtig, also musst du nich’ noch drauf rumreiten«, brummt Trexler. Er löst sich von Floogs und kommt zu uns herüber. Eine seiner Pranken landet schwer auf Ambers Schulter, sodass sogar ich den Stoß spüre. Die beiden tauschen einen stummen Blick und schließlich seufzt Amber leise. »Schön«, murmelt sie, »dann werden wir mal ... Cece Bescheid sagen und ihr – Floogs, sie zu, dass sie nicht wirklich kotzt, ja?« Sie wendet sich zum Gehen, bevor sie doch noch einmal zu mir sieht. Ihre Mundwinkel zucken kaum merklich – soll das etwa der Versuch eines Lächelns sein? An ihrer statt ist es dann jedoch Trexler, der wirklich lächelt. »Wird schon«, sagt er in seiner grummeligen, aber doch irgendwie beruhigenden Stimme. »Wir sin’ alle für dich da.« »Genau«, bekräftigt Floogs. Ich schenke ihnen ein schwaches Nicken. Sie ahnen ja nicht, wie schlimm es steht. Mein Magen verknotet sich, während ich Amber und Trexler hinterher sehe. Das Interview und vor allem die Vorbereitungen dafür sind das letzte, woran ich jetzt denken mag. »Annie?« Floogs tritt an meine Seite. »Du siehst blass aus. Ein bisschen frische Luft würde dir guttun, schätze ich. Sonst bringt Cece mich noch um, wenn du gleich so zur Vorbereitung erscheinst.« Er sagt das so leicht dahin, aber auf seiner Stirn zeichnen sich echte Falten der Besorgnis ab. Mit einem Kopfrucken bedeutet er mir, ihm zu folgen. Sein Weg führt uns zu dem kleinen Balkon, der an das Quartier der Mentoren anschließt. Mir entfährt ein Seufzen, als ich daran denke, wie Finnick vorige Nacht hier neben mir saß. Finnick – ich vermisse ihn, wird mir mit einem Schlag klar. Von allen Mentoren hätte ich ihn in diesem Moment am liebsten an meiner Seite. Er müsste nicht einmal reden. Einfach nur da sein, das würde schon reichen. Floogs räuspert sich und mir schießt das Blut in die Wangen. »Ah, entschuldige, ich –« »Es gibt nichts zu entschuldigen, Annie. Du machst gerade genug durch. Und ich verstehe, dass ich wohl nicht deine erste Wahl für so ein Gespräch bin. Aber Finnick ist leider ... nicht verfügbar. Wenn du magst, können wir es versuchen? Du weißt ja sicherlich schon, dass du hier freier sprechen kannst.« Betreten blicke ich zu Boden, in Gedanken immer noch bei all den Dingen, die Finnick und ich hier ausgetauscht haben. Und mit Schrecken begreife ich, was es bedeuten muss, dass er ‚nicht verfügbar‘ ist. Ich beiße mir so fest auf die Unterlippe, dass es blutet. »Er hat es dir erzählt?«, fragt Floogs. Ich nicke. »Verstehe ... Das erklärt, weshalb er sich in der letzten Mentorensitzung so vehement dafür eingesetzt hat, dass wir deine Entscheidung beherzigen und Pons Überleben priorisieren. Du ... bedeutest ihm wirklich viel.« Bei Floogs’ Worten hüpft mein Herz. Finnick hat es mir zwar versprochen, doch die Bestätigung dafür zu hören, dass er diesen Wunsch ernst nimmt, hat mehr Gewicht als das Versprechen an sich. Ich schniefe leise und ziehe wenig würdevoll die Nase hoch. »Finnick bedeutet mir auch viel. Zu viel.« Floogs legt den Kopf schief. »Ich weiß nicht, ob es ein ‚zu viel‘ dafür gibt, solange es aufrichtig und ehrlich ist.« »Wenn es denjenigen in Gefahr bringt schon.« Ich bringe es nicht über mich, Floogs anzusehen, also trete ich an die Balustrade, den Blick in die Tiefe gerichtet. »Hat Snow deshalb mit dir gesprochen?« Rasch schüttle ich den Kopf. »Zumindest nicht direkt. Er hat so eine Andeutung gemacht ... Aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet.« Tränen drücken von innen gegen meine Augen und ich habe das Gefühl zu platzen, wenn ich keinen Klartext spreche. Also erzähle ich Floogs alles. Von David, meinem Vater, Snows Drohungen. Dem Auftrag, Maylin zu töten. Floogs ist ein guter Zuhörer. Er unterbricht mich nicht, sondern nickt nur hin und wieder oder zieht die Stirn kraus. Erst als ich fertig bin, stößt er einen langen und tiefen Atemzug aus. »Das ist ... Es tut mir so leid, Annie.« Genau wie ich hat er sich an die Balkonumgrenzung gelehnt und sieht nun auf seine verschränkten Hände hinab. »Ich muss gestehen – so eine Situation ist für mich als Mentor auch neu.« Ich bringe ein schwaches Lächeln hervor, während ich langsam mit dem Rücken zur Balustrade zu Boden sinke. »Ich habe so Angst«, flüstere ich mit dem Blick gen Himmel. »Ich weiß nicht, ob ich das tun kann ... obwohl ich es sowieso können muss, wenn ich Pon retten will. Aber so ... der Gedanke ist falsch. Ich will doch niemanden töten, wenn es nicht ... nicht sein muss!« »Da würde es mir nicht anders gehen«, erwidert Floogs. »Es ändert wahrscheinlich nicht viel, aber du musst immer daran denken, dass alles, was hier passiert, keine freie Entscheidung von dir ist. Weder die Hungerspiele, noch alles, was während ihnen passiert. Egal ob du Snows Drohungen folgst oder nicht, ob du tötest oder nicht – du tust es nur, weil jemand anderes über dein Schicksal bestimmt hat. Das ist keine Wahl, bei der man wirklich eine freie Entscheidung treffen kann. Genau wie man die eigenen Gefühle im Übrigen nicht befehligen kann.« Ich schlinge die Arme um meine Knie. »Trotzdem. Ich kann nur hoffen, dass ich nicht lange mit der Entscheidung leben muss. Ich kann einfach nicht meinen Vater verraten. Das wäre noch grausamer. Also muss Maylin sterben. Wenn Pon gewinnen soll, muss sie das eh.« Sobald die Worte raus sind, bereue ich sie auch schon. Was ist nur aus mir geworden, dass ich wirklich so denke? Vor einer Woche hätte ich nie erwartet, dieses Schicksal einfach so zu ... akzeptieren. Doch Floogs bedenkt mich nur mit einem sanften Nicken. »Wir Mentoren werden jede deiner Entscheidungen respektieren. So wie wir es annehmen müssen, dass du Pons Leben über dein eigenes setzt. Auch wir können uns nicht anmaßen, zu entscheiden, welches Leben mehr wiegt. Wir versuchen nur, das Beste aus dem Zwang des Kapitols zu machen. Und dich auf dem Weg unterstützen.« Ein trockenes Würgen schüttelt mich. Einerseits ist Floogs so nett und sanft, dass man vergessen kann, wie er die Hungerspiele gewonnen hat – und dann sagt er so etwas, ohne mit der Wimper zu zucken. Für ihn ist das schon ganz normal, von Leben und Tod zu reden wie andere über das Wetter. »Ich will bloß kein Monster werden«, murmle ich, das Gesicht gegen meine angezogenen Beine gedrückt. »Sie haben mir doch schon so viel genommen. Ich habe alle daheim mit meiner Entscheidung verletzt, das ist schlimm genug. Und ... ich bin sogar froh, dass es zwischen David und mir vorbei ist. Obwohl ich ihn trotzdem noch so – so lieb habe. Nur eben nicht so ...« ... wie Finnick. Die letzten Worte schlucke ich vor Schreck direkt wieder herunter. Ich habe mir doch vorgenommen, dieses Gefühl ohne Zukunft oder Verstand zu vergessen! Und jetzt gebe ich ihm nach? Ich höre es leise rascheln, als Floogs neben mir in die Hocke geht. Er sagt nichts, aber sein Blick ruht schwer auf mir. Verwirrt schüttle ich den Kopf, wie um eine Sandfliege zu verscheuchen. »Kein Wunder, dass David mich nicht wiedererkennt«, stoße ich hervor. »Ich bin längst ein halbes Monster, wenn ich so denke!« Floogs drückt meine Schulter. »Du bist alles andere als ein Monster, Annie, das beweisen all deine Sorgen und Überlegungen.« »Wer weiß, was die Arena aus mir machen wird? Vielleicht schockiere ich euch noch alle. Dabei will ich doch nur, dass wenigstens irgendwas von mir bleibt, wenn ich sterbe. Ich will nicht sterben und wissen, dass mein Papa auch sterben muss, aber ich will ihn auch nicht enttäuschen, indem ich töte.« Das entlockt Floogs ein Seufzen. Doch gleichzeitig lächelt er schwach, als ich ihn ansehe. »Solange du so denkst, wird etwas von dir bleiben. Alles kann dir nicht einmal das Kapitol nehmen, egal, wozu es dich zwingt. Immerhin dieses Versprechen kann ich dir geben. Oder findest du, dass wir Mentoren Monster sind? Ist Finnick ein Monster?« »Ich kann mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen, dass ihr beide wirklich in der Arena wart«, antworte ich. Mit einem Blinzeln verscheuche ich die Tränen, die sich in meine Augenwinkel geschlichen haben. »Oder Mags! Ich meine – ich weiß, was oder ... wie ihr gewonnen habt, nur ... ihr erinnert mich gar nicht daran. Kein bisschen. Anders als Amber oder Trexler. Aber selbst die ...« »Können mal lächeln oder einen Witz reißen«, beendet Floogs schmunzelnd den Satz. »Es darf nur keiner gucken.« Das bringt mich ebenfalls zum Schmunzeln. Ich ziehe die Nase hoch und mit einem kleinen Kichern platzt endlich der Knoten in meinem Hals. »Also gibt es noch Hoffnung für mich?« »Es gibt immer Hoffnung.« Fragend hält Floogs mir seine ausgebreiteten Arme entgegen und ich lasse mich ohne Zögern hineinfallen. Es erinnert mich ein wenig an die Umarmungen von meinem Vater, besonders als Floogs mir den Rücken tätschelt, und ich drücke ihn fester.   Die nächsten Stunden bis zur Verkündung der Punktzahlen lasse ich mich schließlich von Cece mit Vorbereitungsfragen quälen – was ist meine Lieblingsfarbe, welchen Ort finde ich am schönsten, wofür würde ich meinen ersten Siegeslohn ausgeben ... Ich erzähle eine Menge Schwachsinn, den ich bereits vergesse, während ich spreche. Meine Gedanken drehen sich ausschließlich um die Punktvergabe. Daran hängt für mich viel mehr als an dem Interview. Wenn ich nur eine Vier oder Fünf bekomme, ist es egal, ob ich Caesar morgen rot, blau oder grün als Lieblingsfarbe nenne. Nicht, dass er das wirklich fragen wird. Cece scheint das anders zu sehen, denn sie rügt mich stets mit einem Klaps aufs Knie, begleitet von einem Zungenschnalzen. »Du musst deine Antwort mit einer schönen Anekdote verknüpfen«, sagt sie dann zum Beispiel, »erzähl etwas von zuhause, nimm sie mit in dein Leben – berühre sie oder bring sie zum Lachen! Hauptsache, sie fühlen mit dir. Deine Antwort muss mehr sein als nur ‚Ja‘ oder ‚Nein‘!« Angesichts dieser Behandlung bin ich tatsächlich froh, als der Fernseher im Wohnzimmer von alleine zum Leben erwacht und uns Claudius Templesmith in Überlebensgröße präsentiert. Aufgeregt quiekt Cece und rennt durch das Appartement, um den Rest zusammenzutreiben. Zumindest alle bis auf Finnick. Sogar Mags, die offenbar ein Mittagsschläfchen gehalten hat, ist wieder da, doch von Finnick fehlt jede Spur. Es fragt auch niemand nach ihm und so bin ich alleine mit meinen Überlegungen, wann er wohl zurückkehren wird. Zum Glück bietet Templesmith mit seinem Gelaber vorerst genug Ablenkung. Wie jedes Jahr liefert er sich mit Caesar Flickerman einen belanglosen Schlagabtausch, der voller Witze ist, die nur Kapitoler verstehen. Die beiden strahlen wie Kinder am Nationalfeiertag, die Aussicht auf ein Stück Kuchen haben, und irgendwie steckt diese Aufregung an. Nicht nur mich, auch Pon. Wir kichern über jeden von Ceces Kommentaren, als wären sie das Witzigste, was wir je gehört haben. Doch schließlich werden die Lichter im Fernsehstudio gedimmt und unsere Eskorte so still, dass wir uns unwillkürlich an den Händen fassen. »Meine Damen und Herren«, verkündet Claudius Templesmith mit Grabesstimme, »die Bewertungen unserer Tribute sind so eben eingetroffen. Lassen Sie uns also beginnen – wie jedes Jahr macht Distrikt Eins den Anfang!« Ein bewegtes Porträt von Shine wird neben dem Wappen ihres Distrikts eingeblendet. Sie zieht den Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln hoch, ehe sie mit den Wimpern klimpert und sich das ganze wiederholt. »In den Umfragen hat Shine bereits einen Spitzenplatz inne, doch wird sie diesen heute auch mit Punkten untermauern können?«, stellt Caesar eine Frage in den Raum. Ein paar Sekunden bleibt es still. Dann setzt er hinzu: »Claudius, die Bewertung bitte!« »Shine aus Distrikt Eins erhält ... neun Punkte!« »Ha, keine zehn«, triumphiert Amber, doch ich teile ihre Euphorie nicht. Neun Punkte sind immer noch beängstigend gut. Damit bleibt Shine nicht lange alleine, denn nach ihr bekommt auch Slay eine Neun. Die wirkliche Überraschung ist allerdings Distrikt Zwei. Maylin und Floyd erhalten jeweils nur sieben Punkte und werden von den beiden Moderatoren geradezu lieblos abgefrühstückt. Was bei mir eine traumhafte Punktzahl wäre, muss für die trainierten Karrieros ein Schlag ins Gesicht sein. Eine Acht ist das mindeste, was Sponsoren von diesen Tributen erwarten. Oft genug erreichen Kandidaten aus Eins und Zwei sogar die magische Zehn – dagegen ist diese Runde ernüchternd. »Wie gut, dass keiner von euch ein Bündnis mit Zwei vorgeschlagen hat«, kommentiert Cece spitz und schenkt Pon und mir ein breites Lächeln. Ich schlucke und schaue hinüber zu Floogs, der die Stirn gerunzelt hat. Auch Amber neben ihm sieht eher besorgt, denn glücklich über diese schlechte Bewertung aus. »Das ist eine Strafe. Ich glaube, die beiden sind trotzdem mehr als gefährlich«, sagt sie leise. »Nur mit noch weniger Punkten würde es auffallen, dass diese Wertung nicht neutral ist. Und es reicht schon, um sie als Ziel für alle ehrgeizigen Tribute zu brandmarken.« Cece verzieht das Gesicht und holt tief Luft, bestimmt um ihre Sicht der Dinge darzulegen, aber Mags bringt sie mit einem schlichten Kopfschütteln davon ab. In mir macht sich derweil ein hässlicher Gedanke breit: Was, wenn diese Bewertung dafür sorgt, dass mir jemand anderes zuvorkommt und Maylin ausschaltet? Amber hat recht, mit einer derart schlechten Punktzahl könnten sich sogar Shine und Slay gegen ihre beiden wertlosen Verbündeten wenden. Vor lauter Horrorszenarien in meinem Kopf bekomme ich die Bewertungen von Distrikt Drei gar nicht mit. Aber da niemand im Raum besonders darauf reagiert, sind sie wahrscheinlich wie immer im unteren Drittel angesiedelt. Und dann sind auch schon wir an der Reihe. Das Wappen mit dem Angelhaken und den Fischen erscheint, direkt neben meinem Bild. »Nun werden wir also endlich Antwort auf die Frage bekommen, ob Annie Cresta aus Distrikt Vier schon aufgegeben hat oder ob in ihr doch eine kleine Kämpferin steckt. Also, Claudius, welche Überraschung hat Annie für uns parat?« Ich grabe die Finger meiner freien Hand tiefer ins Sofapolster. »Annie aus Distrikt Vier erhält ... acht Punkte!« Fassungslos starre ich den Bildschirm an, auf dem die große Acht unter meinem Porträt angezeigt wird. Ich – eine Acht? Vor einer Woche hätte ich das für unmöglich gehalten. Die ersten Tage habe ich doch bloß an Überlebensstation verbracht, für die es überhaupt keine Punkte gibt! Erst langsam dringt der Applaus meiner Mentoren zu mir durch und ich spüre, wie Hände mir aufmunternd auf die Schultern klopfen. »Ich wusste doch, dass du uns alle überraschen wirst«, sagt Mags sanft zu mir und vor lauter Glück, Freude und Verwunderung treten mir Tränen in die Augen. Aber dann erscheint Pons Bild auf der Leinwand und erneut senkt sich gespannte Stille über den Raum. Ich schlinge beide Hände um Pons und drücke sie, so fest ich kann. »Pon, ebenfalls aus Vier, erhält ... sieben Punkte!«, brüllt Claudius Templesmith uns entgegen. Cece kreischt laut und schlägt die Hände vor ihren Mund, während Amber grinsend eine Faust in die Luft stößt. Und sogar Trexler japst überrascht. »Das sind aber ordentliche Punktzahlen, wenn man bedenkt, dass Distrikt Vier in diesem Jahr nur zwei ausgeloste Tribute vorweisen kann«, fasst Caesar unser aller Überraschung zusammen. Erleichtert drücke ich Pon an mich. Ein Grinsen klebt in seinem Gesicht und ich spüre, wie derselbe Ausdruck an meinen Mundwinkeln zerrt. »Das ist richtig klasse«, flüstere ich ihm zu und er nickt eifrig. »Selber klasse, Annie! Spitzenklasse!« Plötzlich ganz erschöpft und leer starre ich in Richtung Bildschirm, auf dem Bilder, Namen und Punkte vorbeifliegen. Ich höre, wie Cece eine Sektflasche öffnet, doch greife nicht nach dem Glas, das sie vor mir auf den Sofatisch stellt. Dafür reicht meine Kraft nicht mehr. Die meisten Punktzahlen kann ich mir nicht merken, genauso wenig wie die Namen der Tribute. Ich registriere bloß, dass Junge aus Neun mit einer Sechs eine relativ schlechte Bewertung bekommt, was bestimmt auf seine Verletzung zurückzuführen ist. Die einzige wirkliche Überraschung des Abends ist das Mädchen aus Distrikt Zehn, das ich vor kurzem beim Bogenschießen beobachtet habe: Sie erhält genau wie Shine und Slay eine satte Neun. Somit bleibt das die höchste Bewertung des Abends. Mit einer Acht und Sieben nehmen Pon und ich tatsächlich den zweiten beziehungsweise dritten Platz in der Gesamtwertung ein. Ich kann es gar nicht fassen und weiß nicht, ob ich stolz oder eher besorgt sein soll. Mit diesen Punktzahlen werden sich hundertprozentig Sponsoren für uns interessieren, doch gleichzeitig heißt das auch, dass wir endgültig ernstzunehmende Gegner für die anderen Tribute – und Karrieros – sind. Lange bleibt mir allerdings nicht, um darüber nachzudenken, denn Cece hat bereits den nächsten Anschlag auf mich vor. Zur Vorbereitung auf das Interview soll ich noch einmal den Gang in hohen Schuhen üben. Diese Folter habe ich in den letzten Tagen erfolgreich verdrängt – trotz meiner Wette mit Finnick, dass ich besser laufen werde als er. Da von Finnick jedoch nach wie vor jede Spur fehlt, sieht er wenigstens nicht, wie ungeschickt ich mich schlage. Rücken gerade, Kopf erhoben, nicht auf den Boden sehen, nicht an meinen Vater denken, nicht weinen, sage ich mir immer wieder, wenn die Füße unter mir wegknicken wie trockenes Schilfgras. Als wäre das nicht genug, fordert Cece meine Aufmerksamkeit zusätzlich, indem sie mir erneut Fragen stellt. Zum hundertsten Mal erzähle ich ihr, dass das Grün-Blau des Meeres meine Lieblingsfarbe ist und dass ich von dem Siegerlohn eine Reparatur des Fischerbootes daheim bezahlen würde. Und genauso oft verliere ich den Halt und lande auf dem Hintern. »Nein, nein«, schimpft Cece mich, »du darfst die Hacke nicht so schräg aufsetzen! Und setz die Füße voreinander, nicht nebeneinander –« Unwirsch gestikuliert sie in meine Richtung, bis urplötzlich ein Lächeln auf ihren Zügen auftaucht. »Na ja«, murmelt sie überraschend, »ich schätze, das war schon gar nicht mehr so schlecht wie am Anfang.« Misstrauisch sehe ich mich um – und entdeckte sogleich den Grund für Ceces ausgetauschte Laune. Finnick lehnt grinsend im Türrahmen und beobachtet uns. Ohne Vorwarnung schießt mir die Röte in die Wangen, doch Finnick zwinkert nur, ehe er beiläufig zu Cece schlendert. »Hey«, sagt er gedehnt, »du leihst mir bestimmt mal kurz deine Schuhe, ja?« Cece sieht aus, als würde sie unmittelbar vor einem Kollaps stehen. »Na-natürlich ...«, haucht sie und streift ihre kreischend pinken Pumps rekordverdächtig schnell von den Füßen. Mit hochgezogenen Augenbrauen werde ich Zeugin, wie Finnick es schafft, sich in das glitzernde Schuhwerk zu zwängen und anschließend grazil aufzustehen. Im Kontrast dazu sehe ich aus wie eine Seekuh auf zwei Beinen. Die Arme ausgebreitet, dreht Finnick sich zu mir um. »Ich schätze, diese Wette habe ich gewonnen?« »Pfff«, mache ich, den Blick auf meine pochenden, verdächtig geröteten Knöchel gerichtet. »Du hast ja auch zwei heile Füße und keine ... Klötze. Außerdem habe ich gesagt, dass ich es bis zu den Interviews lernen will. Und siehst du schon irgendwo Flickerman?« »Ach, nun grämt euch nicht, werte Meerjungfrau«, erwidert Finnick noch breiter grinsend und beugt sich herab, um mir eine Hand zu reichen. »Lasst mich euch in die Geheimnisse des Laufens einweihen, damit ihr endlich frei von der Folter der orangenen Hexe seid.« Er nickt bedeutungsvoll zu Cece hinüber, während er mich hochzieht. »Ihr werdet es nicht bereuen, Teuerste!« Ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen. »Ich tue alles, was du willst, Hauptsache du redest nicht mehr so!« Cece scheint mir in der Hinsicht gar nicht zuzustimmen, denn ihre Wangen sind trotz der dicken Schicht Make-up darauf feuerrot angelaufen. Sie ringt die Hände im Schoß und starrt auf ihre Schuhe, die sich an Finnicks Füßen erstaunlich gut machen. »Na schön, holdes Fräulein, aber dann strengt euch auch an.« Schwungvoll dreht Finnick sich auf dem dicken Teppich um und spaziert mit einem Hüftschwung, der verboten gehört, in Richtung Fensterfront. Eine Hand in die Seite gestemmt, die andere mit abgespreizten Fingern in die Luft gehoben, posiert er. »Und jetzt du!« Ein kleines Beben schüttelt meinen Oberkörper, während ich ein neuerliches Kichern unterdrücke. Mit wenig Erfolg, denn die ersten Lachtränen kitzeln mich in den Augenwinkeln. »Nie im Leben!«, rufe ich. Aber ich sammle trotzdem meine Kraft und wage ein paar Trippelschritte in den Raum hinein. Ohne Hüftschwung, dafür gestelzt wie ein Kranich, schreite ich über den Teppich. Jetzt ist es an Finnick, sich ein Lachen zu verkneifen. Innerhalb weniger Schritte ist er wieder bei mir. »Na komm«, sagt er sanft und greift meine Hand, »lass es uns zusammen versuchen.« Immer wieder spazieren wir vor Ceces Augen auf und ab. Mit jeder Runde werde ich ein wenig sicherer, bis ich schließlich Finnicks Hand loslasse. Auf den Hüftschwung verzichte ich allerdings aus guten Gründen. Trotzdem fühle ich mich deutlich selbstbewusster, als ich eine kleine Drehung wage und Finnick mir mit einem Grinsen salutiert. »Gute Leistung, holde Meerjungfrau.« Rasch nickt Cece. »Oh ja, das war wirklich ... anständig. Damit wirst du nicht negativ auffallen.« Finnick rollt die Augen. »Sei nicht so undankbar. Annie gibt wirklich ihr Bestes, in allen Belangen. Ich meine – was musste ich von Amber hören? Acht Punkte in der Einzelbewertung? Das ist eine verdammt große Leistung.« Meine Wangen brennen angesichts dieses Lobes und ich schlüpfe aus den Schuhen, um endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. »Danke«, nuschle ich. Ohne die zusätzlichen Zentimeter kommt mir Finnick in den Pumps noch größer vor und als würde er mein Unwohlsein bemerken, kickt er ebenfalls die Schuhe fort. Cece klaubt sie hektisch vom Boden auf und presst sie an die Brust wie ein Heiligtum. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie die Treter bald an den oder die Höchstbietende verkauft. Finnick bedenkt sie mit einer hochgezogenen Augenbraue, ehe er mir in einer galanten Verbeugung den Weg in Richtung Flur freimacht. »Ich wünsche einen erholsamen Schlaf, oh große Bezwingerin des High Heels«, sagt er zwinkernd. Mir ist immer noch warm – nicht nur an den Wangen, sondern auch in meiner Brust – und irgendwie ist das ein schönes Gefühl. Bevor es sich verflüchtigen kann, greife ich nach Finnicks Hand und drücke sie kurz, aber fest. »Das wünsche ich dir auch ... hoffentlich?« Sein Grinsen schmilzt zu einem sanften kleinen Lächeln und er nickt kaum merklich. »Ja. Jetzt ist alles wieder in Ordnung.« »Okay.« Ich hole tief Luft. Es fällt mir schwer, seine Hand loszulassen, wo ich doch so viel Schmerz und Ungesagtes in seinen blau-grünen Augen erahnen kann. Leider hat Cece hinter uns inzwischen ihre Schuhe wieder angezogen und kommt mit großen Schritten näher. Wehmütig streiche ich noch einmal über Finnicks Handrücken, dann gebe ich ihn frei. Morgen ist unser letzter Tag hier. Mein letzter Tag. Ich habe jetzt schon Angst.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)