Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 21: Trügerische Gewässer -------------------------------- Flankiert von den zwei Friedenswächtern aus dem Trainingscenter werde ich durch dunkle Korridore geführt. Die Orientierung habe ich längst verloren, so gleichförmig erscheinen all diese Gänge. Unter der Decke brennen nackte Leuchtstoffröhren, die Wände sind kahl. Das Einzige, was wir immer wieder passieren, sind Türen. Dicke, stählerne Türen ohne Ende. Was mag der Grund für diese ‚Entführung‘ sein? Kommt jetzt etwa ein geheimer Teil der Vorbereitung? Etwas, das nicht in den Distrikten übertragen wird? Über das kein Sieger je geredet hat? Oder wartet doch nur eine harmlose Veranstaltung – eine Kleideranprobe für das Interview vielleicht? Meine Begleiter sprechen nicht mit mir, sehen mich nicht einmal an, und so können meine Gedanken nicht anders, sie müssen Amok laufen. Ich stelle mir versteckte Tests vor, die übrigen Tribute, die mit scharfen Waffen angreifen und schließlich sogar die Mentoren, gegen die ich kämpfen soll. Und dennoch folge ich den Friedenswächtern steifen Schrittes, obwohl jeder zurückgelegte Meter noch schlimmere Knoten in mein Inneres schlingt. Immer, wenn wir eine Abzweigung erreichen, denke ich, dass unser Ziel erreicht ist, nur um enttäuscht zu werden. Unbeirrt marschieren meine Wächter weiter geradeaus, sodass ich mich irgendwann unweigerlich frage, ob das hier womöglich ein Ausdauertest ist. Da ich sicher keine Konversation mit meinen Begleitern vom Zaun brechen werde, lese ich die Beschriftungen an den Wänden oder Türen, um mir wenigstens ein Bild von diesem Ort zu machen. Die meisten Bezeichnungen sind nur kryptische Buchstaben- und Zahlenkombinationen, andere dagegen gänzlich normal – Lager, Aufenthaltsraum, Treppenhaus. Doch eine Aufschrift, die einem ganzen Flur gilt, alarmiert mich: Zuchtstation. Das klingt alles andere als gewöhnlich. Aus dem Gang, der völlig im Finsteren liegt, weht ein kühler Wind einen unidentifizierbaren Geruch zu uns. Es hat etwas von den Hühnern, die Davids Mutter früher im Garten gehalten hat, bevor eine Geflügelpest sie dahingerafft hat. Ein eisiger Schauer jagt über meinen Rücken, aber lange währt der Eindruck nicht, denn auch von vorne zieht ein Lufthauch an mir vorbei und dieser trägt etwas eindeutig Florales in sich. Ich brauche einen Moment, um den Geruch einzuordnen. Rosen. Es riecht nach einem ganzen Meer aus Rosen, wie sonst nur am Neujahrstag, wenn das Kapitol uns in seiner Großzügigkeit ein ganztägiges Fest schenkt, mitsamt Dekorationen in Form von Snows preisgekrönten weißen Rosen. Dürre macht sich in meinem Mund breit. Was hat das zu bedeuten? Die mühsam für die Trainingsbewertung errichtete Fassade gerät ins Wanken. Plötzlich schwitzen meine Hände umso stärker und es hört nicht auf, obwohl ich sie an der Hose abwische. Die unsichtbaren Taue um meine Brust ziehen sich noch enger, als wir bei einer gewaltigen Flügeltür anhalten, die den Flur vor uns abschneidet. Das Siegel des Präsidenten – eine stilisierte Rose hinter dem Kapitolsadler – ziert beide Türflügel. Einer der Friedenswächter hält ein kleines Kärtchen vor ein Gerät in der Wand und begleitetet von einem Surren öffnet sich die Tür. Dahinter warten zwei andere Soldaten, allerdings nicht in Vollmontur, sondern in ordentlich gebügelten Uniformen, mit steifen Krägen und polierten Abzeichen auf der Brust. Nur an ihren Pistolen im Holster erkenne ich überhaupt, dass es sich hierbei um weitere von Snows Männern handelt. Meine Eskorte salutiert, dann treten sie einen Schritt zurück. Unsicher stolpere ich zu den beiden Friedenswächter in den neuen Bereich. Denn nicht nur die Uniformen sind auf dieser Seite der Türen anders – auch der Flur sieht ganz anders aus. Anstatt nackten Betons gibt es hier Teppich, die Wände sind in einem warmen Beige-Gelb gestrichen und die Leuchtstoffröhren sind richtigen Deckenlampen mit Milchglas gewichen. Gesprochen wird hier allerdings genauso wenig. Mit mir in der Mitte setzen sich die beiden Männer in Bewegung und erneut kann ich nur folgen. Doch wann immer ich versuche, einen vernünftigen Blick auf die Umgebung zu erhaschen, schnalzt einer von ihnen mit der Zunge und schiebt mich mit einer Hand an der Schulter vorwärts. Bedeutet das wirklich, was ich denke? Befinden wir uns hier im Präsidentenpalast? Ich weiß schließlich, dass das Trainingscenter nicht allzu weit vom Mittelpunkt des Kapitols entfernt ist, das hat die Wagenparade gezeigt. Das Einzige, was sich mir nicht erschließt, ist das Warum. Meine Fußsohlen jucken. Am liebsten würde ich rennen; weit, weit weg. Das hier kann nichts Gutes bedeuten. Die anderen Mentoren hätten mich sicher gewarnt, wenn ihnen bewusst gewesen wäre, dass ich den Präsidenten treffen werde. Der Gedanke an Flucht ist jedoch zwecklos. Nicht nur aufgrund meiner beiden Begleiter, sondern auch weil uns auf einmal wieder andere Menschen begegnen. Zuerst Friedenswächter, dann vereinzelte Avoxe und nachdem wir einige Treppen emporgehen sogar typisch für das Kapitol ausstaffierte Personen, die an Papageien erinnern. Keiner nimmt große Notiz von mir. Die Avoxe tragen riesige Blumenvasen vor sich, zwei Friedenswächterinnen plaudern miteinander und wieder andere sind in Datenpads vertieft, die einen bläulichen Schimmer auf ihre Gesichter werfen. Alles wirkt geradezu ... normal. Unten im Keller hätte ich Schlimmeres erwartet als einen Ort, der in warmen Goldfarben gehalten und von Leben erfüllt ist. Der Weg führt uns immer weiter fort von der kargen Einöde im Untergeschoss. Ich sehe sogar einen großen Saal, in dem ein riesiges Büffet aufgebaut ist. Noch sind die Servierplatten und Sektglaspyramiden leer, doch ich kann mir vorstellen, wie hier am Abend gefeiert wird. Für einen Moment ertappe ich mich dabei, das Ganze faszinierend zu finden. Dann fällt mir die Leinwand ins Auge. Darauf zu sehen ist ein Standbild ... von uns. Vierundzwanzig wohlbekannte Gesichter, inklusive meines Eigenen, nun um ein Vielfaches vergrößert, blicken auf uns herab. Einen Moment lang frage ich mich, wann dieses Bild gemacht wurde, bis mir auffällt, dass es sich um eine Manipulation handeln muss. Einzelne Aufnahmen der Tribute in ihrer Paradenkleidung, die so zusammengeschnitten wurden, als würden wir alle in einer Reihe nebeneinanderstehen. Im Hintergrund erkenne ich die Luftaufnahme einer Arena vergangener Hungerspiele. Erst da wird mir klar, was hier heute Abend bei Häppchen und Drinks gefeiert wird: Die Verkündung der Punktzahlen. Ich bin heilfroh, dass meine Begleiter mich schnell weiterscheuchen, zu einem prunkvollen Fahrstuhl. Hiergegen sieht selbst das gläserne Ungetüm im Trainingscenter wenig beeindruckend aus. Alles ist mit Spiegeln verkleidet und groß genug, dass ich mich mit ausgestreckten Armen auf den Boden legen könnte. Die Türen schließen sich gerade, da quiekt es laut. Eine Sekunde später schiebt sich etwas Fluchendes, Pinkes durch den Restspalt. »Sie hätten ruhig warten können! Das ist das fünfte Mal diese Woche, dass Sie mich sitzen lassen wollen, Wrecks! Dabei haben Sie mich ganz genau gesehen, versuchen Sie gar nicht, das zu leugnen! Noch ein Mal und ich werde Sie melden. Dann können Sie aber sehen, wie schnell Sie zurück nach Zwei versetzt werden!« Vor uns steht eine Frau, den einen Arm um eine riese Rolle Schleifenband geschlungen, im anderen einen Stoffballen. Mit einem theatralischen Seufzen rückt sie die Perücke auf ihrem Kopf zurecht, ehe sie mich im Augenwinkel sieht. Binnen Sekunden werde ich Zeugin davon, wie sie all ihre Zähne in einem Strahlen enthüllt und ihre Stimme mehrere Oktaven nach oben rutscht. »Hey, Hi! Du bist doch die Kleine aus Vier!« Zu dem übertriebenen Grinsen gesellt sich ein wildes Funkeln in den Augen. »Na, aber so ganz klein bist du gar nicht ... Man, dein Familiengespräch war echt krass, muss ich sagen. Bei uns daheim ist allen förmlich der Rotz geflossen, als wir deinen kleinen Bruder gesehen haben. Nicht mal der Nervenzusammenbruch von dieser aus Zwei – wie heißt sie noch gleich? May ... Long? Ah, Maylin! Na, jedenfalls nicht mal deren Zusammenbruch konnte das schlagen. Gut gemacht!« Die Frau zwinkert mir zu. Ihr gackerndes Lachen verklingt in der Stille und unruhig trete ich von einem Bein aufs andere. »Ähm ...«, stammle ich. »Danke ...?« Aus der Ecke höre ich ein Schnauben. Einer der Friedenswächter beißt sich auf die Unterlippe, doch das Zucken seiner Mundwinkel verrät ihn. »Das ist der Grund, Rowana, warum Snow dich am liebsten im Untergrund beschäftigen lässt. So kann man dich einfach nicht auf die Umwelt loslassen.« »Ach, halt doch die Klappe!«, faucht die Frau zurück. »Im Gegensatz zu euch Weißhemden bin ich wenigstens nicht austauschbar!« Da hält der Fahrstuhl auch schon mit einem leisen Ping und Rowana verabschiedet sich mit einem Kichern von uns. Alles, was von ihr bleibt, ist der schwere Duft ihres Parfüms. Nelken. Lange muss ich diesen Zustand allerdings nicht ertragen, denn keine Minute später erreichen auch wir unser Ziel – die oberste Etage. Direkt vor den Fahrstuhltüren erwartet uns ein großes, vollverglastes Büro, in dem hinter einem massiven Holztisch eine weitere Frau sitzt. Dieses Mal sind die Haare zu einem hellgrünen Türmchen auftoupiert, das allgemeine Desinteresse und das falsche Lächeln sind dagegen wie immer. »Oh, da sind Sie ja endlich«, begrüßt sie uns in scharfem Tonfall. Sie steht auf, um uns – oder eher mich? – in Empfang zu nehmen. »Der Präsident wartet bereits.« Ein ungesagtes ‚und er wartet nicht gerne‘ schwingt in ihren Worten mit. Damit ist es also besiegelt. Ich treffe tatsächlich Präsident Snow. Nervosität ist gar kein Ausdruck für meinen Zustand. Trotzdem bekomme ich mit, wie die fremde Frau einem der Friedenswächter ein kleines Lächeln schenkt und ihm ein leises »Sehe ich dich heute Abend, Darling?« zuflüstert. Auch das noch, kapitoleske Liebesgeschichten. Ich empfinde eine Mischung aus Ekel und Mitleid für diese zwei Menschen, deren Zuneigung bestimmt nicht gerne gesehen ist. Länger kann ich nicht darüber nachdenken, denn da werden schon die Türen zu Snows Büro vor mir aufgerissen. »Sie ist hier, Sir«, verkündet der Mann, der nicht gerade am Flirten ist, und schiebt mich geradewegs in das Haifischbecken. Schwerer Rosenduft rollt über die Türschwelle und nimmt mir den Atem. Aus tränenden Augen sehe ich, dass die Fensterfront einen wundervollen Ausblick auf die Gärten des Präsidentenpalastes bietet und in der Ferne auf die bunte Weite des Kapitols. Doch viel eindrücklicher als die Aussicht sind der Schreibtisch und natürlich Präsident Snow, der dahinter sitzt. »Danke, Wrecks«, sagt er sanft an den Friedenswächter gewandt. »Sie können gehen – aber denken Sie daran, dass ich Sie heute Abend wieder brauche.« »Natürlich, Sir.« Mit einem letzten Salutieren verabschiedet sich der Mann und ich bin endgültig alleine. Mir ist kalt. Von einer auf die andere Sekunde bin ich mir des Schweißfilms auf meiner Haut überdeutlich bewusst. Wie gerne würde ich jetzt duschen, mich in ein dickes, flauschiges Handtuch wickeln ... Ich spüre, wie ein Tropfen zwischen meinen Schultern den Rücken hinab läuft und erschaudere. Snow sagt nichts. Er taxiert mich nur stumm, dann deutet er auf einen Sessel vor seinem Schreibtisch. »Bitte, Miss Cresta.« Ich muss die Hände zu Fäusten ballen, um meine Glieder überhaupt dazu zu überreden, die paar Schritte dorthin zu überwinden. Bei jeder Bewegung fühlt es sich an, als würde ein Elektroschock durch mich jagen und ich kann nicht mehr unterscheiden, ob ich ruhig bin oder mein Körper so sehr zittert, dass es schon wieder normal wirkt. Wie ein Kaninchen das Krokodil starre ich den Präsidenten an. Nie hätte ich mir träumen lassen, ihm eines Tages von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Aus dieser Nähe erkenne ich sogar die feinen Falten, die wohl nicht mal die talentiertesten Chirurgen des Kapitols entfernen können. Es ist lächerlich, doch ich bin erleichtert, dass er nicht – wie in meinen schlimmsten Vorstellungen – eine gespaltene Zunge oder geschlitzte Pupillen hat, sondern trotz allem ... menschlich wirkt. Wenn man einmal davon absieht, dass seine Haut zu blass ist, seine Lippen zu rot. »Annie Cresta«, stellt Snow leise und dennoch bestimmt fest. »Wissen Sie ... es ist lange her, dass ich mit einem der Tribute persönlich gesprochen habe. Noch dazu eine so vielversprechende junge Frau. Nach allem, was ich von meinen Spielmachern gehört habe, war Ihre Vorstellung ja durchaus ... überraschend.« Er dehnt seine Worte beim Sprechen. Nicht wie Cece, die bei der Gelegenheit alles mit einem Trillern in zehn verschiedenen Stimmlagen ausschmückt, sondern eher so, als würde er genau bemessen, was er sagt. Ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren, am allerwenigsten eine Antwort. Also nicke ich bloß. »Wie gefällt es Ihnen im Kapitol, Miss Cresta?« Die Frage klingt, als würde ich das erste Mal bei Bekannten zu Besuch sein. »Gut«, bringe ich hervor, auch wenn das Wort in meinem Hals kratzt und auf halbem Weg am liebsten umkehren würde. Immerhin ist es ein Stück der Wahrheit. Das Kapitol wäre ein schöner Ort, gäbe es nicht die Hungerspiele. »Das freut mich.« Snow hebt die Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächelns. »Nun, betrüblicherweise bleibt uns nicht viel Zeit zum Plaudern. Dabei hätte ich durchaus noch die ein oder andere Frage ... Aber morgen sind schließlich die Interviews, da gibt es noch einiges vorzubereiten. Ich bin mir sicher, dass Ihnen ein ganz hinreißendes Kleid zuteilwird. Roan ist wirklich ein wahrer Meister, nicht wahr?« Allein bei dem Gedanken daran wandern meine Schultern höher und ich ertappe mich dabei, wie ich am Nagelbett des Daumens knibble. »Ich denke schon«, murmle ich, »das Paradenkleid war ja auch schön.« Der Präsident nickt wohlwollend. »In der Tat, das sieht das Kapitol genauso. Nun, aber – Aussehen ist nicht alles, auch wenn man das in diesem Trubel leicht vergessen kann. Wie ich hörte, gab es einen Trainerwechsel unter Ihren Mentoren ...« Das Ende seines Satzes lässt er in der Luft hängen. »Das ist richtig.« Ich räuspere mich. Keine Ahnung weshalb, doch der Drang nach einer Rechtfertigung, auch im Namen meiner Mentoren, steigt in mir auf. »Für die Ausgeglichenheit haben wir das gemacht, jetzt, wo wir mehr Zeit haben.« »Natürlich.« Präsident Snow legt den Kopf schief. »Und sicherlich ist es auch bedeutend aufregender, Finnick Odair als Mentor zu haben, im Vergleich zu Ihren vorigen Trainern.« Die inzwischen altbekannte Angelsehne um meinen Hals ist zurück. Anstatt zu antworten, zucke ich erstmal nur mit den Schultern. »Ich denke, er ist gut, in dem, was er tut. Genauso wie die anderen. Das ist alles.« »Nun, das freut mich zu hören. Gut ausgebildete Tribute sind immerhin das Herzstück der Spiele. Und Sie haben sich natürlich auch gerade erst von ihrem Verlobten verabschiedet, das habe ich nicht vergessen. Für Nebensächlichkeiten haben Sie also sicher keinen Kopf.« Ich lecke mir die Lippen, doch sie bleiben genauso trocken zurück wie vorher. Mein krampfhaftes Schlucken ist wahrscheinlich so laut, dass man es noch im Vorraum hört. Ahnt Snow etwas über das Chaos in mir? Aber wie? Sieht man es womöglich schon an meiner Nasenspitze? »Mein Ziel ist klar«, wispere ich. Egal wie sehr ich mich bemühe, zu mehr als einem leisen Zittern kann ich meine Stimme nicht zwingen. »Ich werde Pon beschützen, das bin ich seiner Familie schuldig.« »Familie ...«, seufzt Snow. »Ein ziemlich wichtiges Stichwort.« Und das aus dem Mund von jemandem, der jedes Jahr Familien auseinanderreißt. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht bitter aufzulachen. »Wissen Sie, Miss Cresta, meine Enkelin hat erst vor Kurzem Geburtstag gefeiert. Sie wollte unbedingt eine Kostümparty, alle sollten sich verkleiden wie ihre Lieblingstribute. Eigentlich ist sie noch etwas jung für die Spiele, aber zumindest die Paraden und Interviews darf sie schon gucken. Ihre Mutter ist da sehr streng.« Snow schmunzelt in sich hinein. »Auf jeden Fall hat meine Enkelin schon jetzt einige Favoriten. Natürlich fleht sie mich immer an, ob nicht alle davon die Spiele gewinnen können und Sie können es sich denken – es ist schwer, einem solch bettelnden Blick zu widerstehen. Aber trotzdem wissen wir beide, dass das nicht möglich ist. Wir brauchen einen Sieger, nicht zwei oder gar drei.« Nein, ich verstehe nicht. Wenn es nach mir ginge, dann gäbe es gar keine Spiele. Aber das kann ich Snow natürlich nicht sagen, daher schweige ich, meine Hände unter die Oberschenkel geschoben, um sie vom Zittern abzuhalten. Wieder schenkt Snow mir sein Großvaterlächeln. »Also müssen wir einen Mittelweg finden, einerseits unsere Familie nicht zu enttäuschen und andererseits diesem Land einen würdigen Sieger zu schenken. Oder natürlich eine Siegerin.« Wie gerne würde ich Snow anschreien, dass er einfach mit der Sprache herausrücken soll. Was will er von mir? »Sie haben sich vielleicht von Ihrer Familie verabschiedet, Miss Cresta, doch es gibt immer noch etwas, was Sie für diese tun können.« Ich ziehe die Stirn kraus. Wenn Snow nicht bald weiterspricht, wird in diesen ganzen Pausen mein Herz einfach stehenbleiben. Es schlägt bereits jetzt viel zu schnell. »Es fällt mir nicht leicht, werte Miss Cresta, aber es gibt da einen gewissen Störfaktor, den wir eliminieren sollten.« Bitte hat das nichts mit Finnick zu tun. Bitte. »Ich denke, nach all Ihrer Vorbereitung durch Mentoren wie Finnick Odair wird es ein Leichtes für Sie sein, in der Arena jemanden zu töten.« Ich habe mich geirrt. Mein Herz kann auch so stehenbleiben. »Natürlich werden Sie das in den Spielen ohnehin vorhaben, davon gehe ich aus – aber es wäre mir ein persönliches Anliegen, dass Sie sich auf Ihre Konkurrentin aus Distrikt Zwei konzentrieren.« »Was?«, platzt es aus mir hervor, im gleichen Moment, da mein Hirn diese Aufforderung verarbeitet hat. Präsident Snow will ... dass ich Maylin töte? Sie ist doch eine Karrieretributin, die perfekte Kandidatin – und nahezu konkurrenzlos, seit Floyd sich mit seinem Speerwurf ins Aus geschossen hat. Nicht mal im Traum hätte ich gegen sie eine Chance! »Sehen Sie, Miss Cresta ... ich kann mir die naive Sicht meiner Enkelin nicht erlauben. Ich habe ein Land zu führen und dafür zu sorgen, dass unser fragiler Frieden nicht kippt. Sie mögen es noch nicht verstehen, aber manchmal sind gewisse Opfer erforderlich. Zumindest darin können Sie mir sicherlich zustimmen, nachdem Sie bereit sind, für Ihren Mittribut das größte aller Opfer zu erbringen?« »Ich weiß nicht, was Pon damit zu tun hat –« »Nun, nichts. Aber wir stimmen darin überein, dass er ein sehr bewundernswerter kleiner Tribut ist. In jedem Fall ein idealerer Sieger als jeder Kandidat aus Zwei in diesem Jahr. Ein Tod auf deren Seiten hebt nur die Siegchancen Ihres Mittributes.« Ich starre auf die Tischkante vor mir. Das kann nicht Snows Ernst sein! Ich bin garantiert nicht die richtige Person für diese Bitte. Weder kann ich im Umgang mit Waffen so wirklich glänzen, noch will ich jemanden umbringen. Weshalb sollen nicht die Tribute aus Eins das erledigen – oder hat Snow sie etwa ebenso instruiert? Oder womöglich ... setzt er Maylin genauso auf mich an? Ist das hier irgendein abgekartetes Spiel im Spiel? »Falls es Ihnen die Entscheidungsfindung erleichtert«, durchbricht Snow meine Gedanken, »habe ich noch etwas für Sie.« Er drückt eine Taste, die auf einem Datenpad in seinem Schreibtisch eingelassen ist. »Bringen Sie ihn herein.« Hinter mir gleiten die Türen auf und Schritte nähern sich. Ich habe Angst, mich umzudrehen, doch auf Snows erwartungsvollen Blick hin tue ich es trotzdem. »Was ...«, hauche ich nun schon zum zweiten Mal. Es ist David. Hier, mitten im Herzen des Kapitols, in Snows Büro, steht David vor mir. David in seiner schlichten, grauen Fabrikarbeiteruniform, mit seinem Namen auf die Brust gestickt. David. Mein David. Wie ist er hierhergekommen? Weshalb? Und warum ist er so dünn, so blass? Woher kommen die Ringe unter seinen Augen? »Annie ...« Wir starren einander wortlos an, wie schon zuletzt bei den Familieninterviews. Es sollte ein letztes Mal sein, ein Abschied für immer, doch jetzt steht er hier und mein Herz schmerzt. Ich will ihn umarmen, aber es scheint unmöglich, aus Snows weichem Polstersessel aufzustehen. Der Präsident räuspert sich dezent. »Ich will Ihrer Wiedersehensfreude nicht im Weg stehen. Sie haben fünf Minuten – ich vertraue Ihnen, dass ich Sie alleine lassen kann.« Dann erhebt er sich und verlässt sein Büro. Mit seinem Verschwinden scheint ein Bann gebrochen zu sein. Ich springe auf, laufe zu David und schlinge meine Arme um ihn. Keine Sekunde zu früh, denn die ersten Tränen kullern mir über die Wangen und durchnässen den Kragen seiner Uniform. »Was machst du hier?«, bricht es aus mir hervor. »Ich ...« David schluckt, ich spüre seinen Adamsapfel hüpfen. »Die Friedenswächter haben mich mit dem morgendlichen Fischtransporter hergebracht, um ... um eine Botschaft zu überbringen.« »Was?« Verwirrt trete ich einen Schritt zurück, damit ich Davids Gesicht sehen kann. »Was meinst du?« David zieht meine Hände von seinen Schultern und umfasst sie beide mit den seinen. »Annie ... Dein Vater –« Er räuspert sich. »Es ist vor zwei Tagen passiert. Unsere Väter sind mit dem Boot rausgefahren, hinter die Sandbänke, du weißt schon, zu den tieferen Fischgründen. Kurz vor der Umgrenzung. Jedenfalls ... gab es ein Unwetter. Ein ziemlich schlimmer Sturm ... Die Rettungsteams waren die ganze Nacht unterwegs, bis sie alle gefunden hatten, die draußen waren ...« Ich zittere. »Nein –« »Sie leben! Annie, sie leben!« David drückt meine Hände noch fester. »Aber dein Vater ... ich weiß nicht, ob er es schaffen wird. Niemand weiß das. Er liegt im Krankenhaus, wird rund um die Uhr bewacht ... sogar der Chefarzt persönlich war da. Aber es sieht düster aus, wenn er nicht die richtige Behandlung bekommt.« Mein Blick löst sich von David, gleitet hinaus aus dem Fenster, über Snows Gärten. Doch ich bemerke kaum, was es da zu sehen gibt. Vor meinen Augen verschwimmt alles zu einem Brei aus Blau und Grün. »Hat er ... hat er Schmerzen?«, frage ich. »Wenig, denke ich. Er hat etwas Morfix bekommen, das lindert das Meiste. Er ist ohnehin kaum bei Bewusstsein. Angeblich hat sein Gehirn unter Wasser zu wenig Luft bekommen oder so ...« Ich weiß nicht, ob ich schreien oder weinen will. Am liebsten beides, doch nach außen hin bleibe ich reglos. Alle in Distrikt Vier kennen die Gefahren des Meeres. Jeder hat schon einmal jemanden an die Fluten verloren. Und dennoch ... Warum? Warum gerade jetzt? Warum bringt man David zu mir, um diese Botschaft zu überbringen? So kurz bevor ich selber sterben werde? Ist das Schicksal wirklich so grausam? »Bitte Annie«, fleht David, den ich gar nicht mehr richtig wahrnehme, an meiner Seite. »Wenn du gewinnst, dann kannst du zurückkommen und ihn mit deinem Siegergeld retten – denk doch nur an Cyle!« In diesem Moment trifft mich die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Ich muss Maylin töten, im Austausch für das Leben meines Vaters. Deshalb hat Snow David hierhergebracht. So wird es sein. Er will sichergehen, dass Maylin stirbt. Und wenn ich nicht um meiner Selbst willen morden werde, dann eben für jemand anderen. Wie Pon – oder jetzt meinen Vater. »Nein«, flüstere ich und schüttle den Kopf. »Ich kann nicht. Ich habe es dir schon einmal gesagt, David. Ich kehre nicht zurück.« Erst recht nicht, wenn ich die Schuld von jemand anderen Todes auf mich laden sollte. Aber das spreche ich lieber nicht aus, da er es schon bei unserem letzten Abschied nicht verstanden hat. »Was bist du nur so starrsinnig?« David entzieht mir seine Hände. »Du musst es doch wenigstens versuchen! Scheiß auf irgendein fremdes Kind! Dein Vater wird ja wohl mehr zählen als dieser Zwölfjährige!« »Du verstehst es nicht, David«, presse ich unter Schluchzern hervor. »Aber glaub mir – mein Vater wird auch ohne meinen Sieg leben. Da bin ich mir sicher. Ihr werdet die übliche Entschädigung des Kapitols für meinen Tod bekommen, das wird reichen für seine Behandlung.« Zumindest hoffe ich, dass Snow dafür sorgen wird, wenn ich seinem ‚Wunsch‘ nachkomme. Habe ich denn eine andere Wahl? »Du bist unfassbar!« Ich kann förmlich hören, wie David mit den Zähnen knirscht. »Was ist nur aus der Annie geworden, mit der ich aufgewachsen bin? Aus der Annie, die ich liebe? Die hätte so etwas niemals gesagt, geschweige denn gedacht!« »Hast du es noch nicht begriffen?«, schieße ich zurück. »Sie ist gestorben, als ihr Name bei der Ernte verlesen wurde!«. Wut und Tränen rauben mir die Sicht; ich schwitze und friere zugleich. So sehr ich mich eben noch über David gefreut habe, wünsche ich nun, dass er nicht mehr da wäre. »Sie ist tot und sie kommt nicht zurück! Es ist vorbei David! Wir sind Vergangenheit!« Ich weiß, dass ich ungerecht bin. Aber ist das Leben mir gegenüber nicht genauso unfair? Gerechtigkeit hat vor langer Zeit aufgehört zu existieren. Wenn sie denn je Bestand hatte in diesem Land. Neue, heiße Tränen strömen mir über das Gesicht, sodass ich nur höre, wie David einen Schritt zurückweicht. »Bitte«, versucht er es erneut, »denk wenigstens an deine Familie.« »Das tue ich! Jede verdammte Sekunde! Was glaubst du, woran ich in der Arena die ganze Zeit denken werde?« Betretenes Schweigen breitet sich aus und erinnert mich daran, dass draußen vor der Tür Präsident Snow wartet. Bestimmt bleibt kein Wort dieser Unterhaltung privat, so viel habe ich im Kapitol gelernt. Und egal was zwischen David und mir steht, egal wie wütend ich auf ihn bin – die Befriedigung dieses Endes will ich Snow nicht geben. Also raffe ich ein letztes Mal meine Stärke zusammen. »Danke, David. Danke, dass du gekommen bist, um mir das zu sagen. Ich bin wirklich froh, dass wir uns noch einmal sehen konnten. Dass ich es wenigstens von dir erfahren habe und nicht von jemand anderem.« Ich wische mir die Tränen fort und mache einen Schritt auf David zu. Sogar ein Lächeln finde ich, bevor meine Arme ihn ein letztes Mal umschließen. David fühlt sich anders an als Finnick. Dünner, kleiner. Ich spüre all die Ecken und Kanten seines Körpers. Aber er riecht immer noch gut. Frisch, nach Heimat, Vertrautem. Zaghaft legt auch er seine Arme um mich. Doch es bleibt ungewohnt, als hätten wir auf einmal Angst, einander zu zerbrechen. »Pass gut auf Cyle und Papa auf, ja? Und wenn das Geld wieder Erwarten nicht reicht, verkauft meine Kette. Die ist echtes Gold, dafür bekommt ihr auch noch ein bisschen was.« »Annie ...« »Shhh. Nicht, David. Du weißt nicht, was du von mir forderst. Aber wenn du mich wirklich geliebt hast ... dann tu einfach, was ich sage, ja?« David seufzt. »Ich ... Natürlich.« Mitten in diesen Moment hinein öffnet sich ohne Vorwarnung die Tür und Snow kommt zurück, einen fast überzeugend betrübten Ausdruck im Gesicht. »Die fünf Minuten sind leider schon länger um und es fällt mir wirklich schwer, das junge Glück zu unterbrechen, aber ich fürchte, der Zug in Richtung Distrikt Vier wartet nicht.« »Oh, ähm ...sicher, Sir. Vielen Dank für Ihre Geduld.« David löst sich zögerlich von mir. Es dauert gefühlt eine Ewigkeit, bis die letzte Berührung seiner Finger an meinem Rücken verschwunden ist und geht doch viel zu schnell. »Dann ... leb wohl, Annie.« Ich nicke. »Leb wohl, David.« Derselbe Friedenswächter, der mich zuvor eskortiert hat, führt nun David hinaus. Die Türen schließen sich hinter ihm und einmal mehr bin ich alleine mit Präsident Snow. »Wirklich eine betrübliche Angelegenheit«, sagt er, wieder erfüllt von falscher Sanftheit. »Auch für mich in all diesen Amtsjahren ist so eine Situation neu. Aber nun ... es muss weitergehen, da besteht kein Zweifel. Die Interviews warten schließlich.« »Und wird es für meinen Vater weitergehen?«, stelle ich die eine Frage, die mir auf dem Herzen brennt. Snow zieht eine ordentlich gezupfte Augenbraue in die Höhe, ehe sich seine Mundwinkel kräuseln. Doch dieses Mal ist es ein anderes Lächeln. Nicht mehr wie der Großvater, der für alle nur das Beste will – sondern von der wissenden Sorte. Der Ausdruck eines Raubtiers, kurz bevor es sich auf seine Beute stürzt. »Das kommt ganz auf Sie an, Miss Cresta. Auf Ihre Handlungen. Ich wäre jedenfalls untröstlich, wenn es Ihrem Vater schlechter gehen würde.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)