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Meeresflüstern

Die Hungerspiele der Annie Cresta
von

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Wille und Wirklichkeit

Unser Training ist das Topthema beim heutigen Abendessen. Doch selbst angesichts des drohenden Todes und allem, was damit einhergeht, kann ich dem Geruch von Köstlichkeiten offenbar nicht widerstehen, denn mein Magen knurrt weithin wahrnehmbar. Eine Weile probiere ich mich durch die Gerichte, während Pon von seinem Tag erzählt. Als ich schließlich an der Reihe bin und von dem Besuch bei den Überlebensstationen berichte, komme ich nicht weit, bevor Amber meine Erzählungen mit einem Schnauben unterbricht.

»Du kannst dich den Kampftechniken nicht erwehren, sonst bist du ein gefundenes Fressen für die Karrieretribute. Glaub mir, wenn du wehrlos bist, werden sie dich vor deinem Tod leiden lassen.«

Langsam senke ich die Hand mit der angebissenen Pastete. Einerseits schneiden Ambers Worte tief, schüren diese Furcht, die mich seit der Ernte verfolgt und andererseits ... schlingen sich Dornenranken trotzig um mein Herz. Diese letzte Woche – nein, Tage ... ach, Stunden! – werde ich doch wohl nach meiner Vorstellung füllen dürfen. Mir selber aussuchen, wie ich dem Tod entgegentrete. Wenn das Kapitol mir schon sonst alles nimmt.

»Die Überlebenstechniken halte ich trotzdem für sinnvoller. Außerdem habe ich mit Pon einen Speer geworfen. Und überhaupt – ich habe nicht vor, mich den Karrieros anzuschließen. Ich würde gerne eine Allianz mit Pon bilden. Weit weg von den Karrieretributen.«

Fett tropft aus der Pastete auf meinen Teller. Ich beiße mir auf die Unterlippe und verdamme die vorwitzige Annie, die immer in den falschen Momenten hervor platzt; die falschen Leute verärgert. Wenigstens nickt Pon begeistert über das Bündnisangebot.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Finnick sich amüsiert zurücklehnt. »Hast du gehört, Amber? Sie hat etwas Sinnvolleres gelernt. Anscheinend hält sie nichts von unserer Haudrauftaktik.« Er zwinkert mir zu. »Vermutlich ist sie cleverer als wir alle zusammen.«

»Auf jeden Fall ist sie das«, brummt Mags. »Ihr seid alles Holzköpfe. Sie weiß, worauf es ankommt, während ihr allesamt in der Arena auf Glück angewiesen wart, nachdem ihr die Überlebensstationen ignoriert habt.«

»Glück gewinnt die Spiele.« Amber verschränkt die Arme, bedrängt mich aber nicht weiter.

Das Abendessen wird zum Abschluss von einem Eis mit Erdbeeren gekrönt. Finnick und ich tauschen einen amüsierten Blick, in Gedanken bei unserem gestrigen Nachtischdiebstahl. Cece entgeht der wortlose Austausch nicht. Sie schürzt die Lippen, als würde sie faulen Fisch riechen.

»Wenigstens haben wir heute alle Nachtisch«, bemerkt sie spitz.

Angesichts ihrer Strenge wird das Grinsen auf unseren Gesichtern nur größer. Ich fühle mich wie ein kleines Kind – ein herrliches Gefühl inmitten all der Angst.

»Ihr habt Glück, dass ich so nachsichtig bin«, schimpft Cece fort und nun können Finnick und ich ein Glucksen nicht unterdrücken. »Du hast es dir mit deiner guten Leistung heute verdient, Annie, ganz im Gegensatz zu ...« Ceces Augen ruhen auf Finnick, aber sie lässt den Satz unfertig in der Luft hängen.

»Was täten wir nur ohne dich, allerliebste Cece.« Theatralisch legt Finnick die Hände auf sein Herz und klimpert mit den Wimpern. »Oh großartige Nachtischgöttin, bitte beehre mich auch morgen wieder mit einem leckeren Pudding und bestrafe mich nicht für das Vernachlässigen meiner Termine!«

Mir entweicht ein Japsen. Ich presse eine Faust vor den Mund, doch die Lachtränen lassen sich nicht zurückhalten und schließlich gebe ich auf. Kichernd krümme ich mich zusammen. Der ganze Tisch lacht inzwischen über unsere Betreuerin. Peinlich berührt dreht Cece ihren Dessertlöffel in den Fingern, dann zwängt sie ein ungelenkes Lächeln auf ihre Lippen und versenkt das goldene Löffelchen im Vanilleeis.

Ich genieße die gezuckerte Süßspeise mit jedem winzigen Bissen. Den Lauf der Zeit verlangsamt das Eis leider nicht. Viel zu schnell ist die Schale alle und das abendliche Spezialtraining steht auf dem Plan. Einer nach dem anderen entschwinden Pon und die Mentoren, um sich umzuziehen. Als Letzter erhebt sich Finnick und ich sitze alleine an dem großen Tisch. Das Hochgefühl verlässt mich genauso schnell, wie es gekommen ist.

Finnick ist schon an der Tür, da folge ich einer plötzlichen Eingebung. Ohne weitere Überlegung formen meine Lippen seinen Namen. »Finnick?«

Ebenso erstaunt, wie ich über mich selbst bin, dreht er sich um. »Was ist?«

Ich schaue auf meine Hände hinab und weiß nicht länger, womit ich anfangen soll. Wollte ich nur nicht alleine sein? Er scheint zu bemerken, dass ich den Faden verloren habe, und kommt zurück. Wortlos setzt er sich wieder. Sein Blick ruht auf mir, besorgt. Sanft. Er stellt keine weiteren Fragen, sondern wartet ab. Ich hole tief Luft und mustere ihn einen Moment lang. Eigenartig, aber wenn er so ... ruhig ist, habe ich das Gefühl, einen Verbündeten in all diesem Wahnsinn zu haben. Diesen Sieger, nur ein Jahr älter als ich. Der Gedanke bringt mich aus dem Konzept. Und doch trennen uns Welten. Oder?

Sein Blick begegnet meinem, Meerblau trifft auf Meergrün. Er legt fragend den Kopf schief und ich – starre ihn an. Auf seinem Wangenknochen, direkt unter dem linken Augenwinkel, erkenne ich den schwachen Schatten einer Sommersprosse. Einzeln und verloren auf dem perfekt geformten Antlitz des größten Kapitollieblings. Ob das Vorbereitungsteam sie bei ihm ebenso hasst wie bei mir? Schminkt er sie jeden Tag über? Oder ist die Entfernung gar permanent? Der Gedanke stimmt mich traurig.

Danach kann ich Finnick unmöglich fragen. Stattdessen eröffne ich das nächstbeste Thema – Training. »Was glaubst du, hat dir am meisten beim Sieg geholfen? Die Kämpfe ...« Ich zucke mit den Schultern. »Oder etwas anderes?«

»Mh ... Willst du wissen, ob Amber recht hat?«

Ich drehe eine Haarsträhne um meinen Finger. »Vielleicht ein bisschen. Aber sag es ihr nicht.«

Der Sommersprossenschatten wandert in die Höhe, als Finnick schmunzelt. »Natürlich nicht.«

Viel zu schnell verliert sich der Ausdruck und sein Blick gleitet in die Ferne. Er fährt sich durch die Haare. Nicht in dieser Geste, die Aufsehen erregen soll, sondern beiläufig, nachdenklich. Wie ich zuvor sieht er überall hin, nur nicht zu mir. Und wie er warte ich geduldig.

»Weil ich der Schönste war.« Seine Worte sind so bitter, dass sofort klar ist, dass es kein Scherz ist. »Ich habe alle Sponsoren bekommen. Natürlich war ich stark, konnte kämpfen – aber glaub mir, so manch anderer Karriero oder Tribut hätte die Spiele genauso gut gewinnen können, wenn ich den Dreizack nie bekommen hätte. Bei den Hungerspielen geht es um so viel mehr als körperliche Stärke ... Manchmal reicht ein winziger Vorteil, um den Unterschied zwischen Sieger und Verlierer zu ziehen.«

»Wünscht du dir manchmal, das Sponsorengeschenk nicht bekommen zu haben?«, frage ich unvermittelt. Die Worte kommen mir einfach so in den Sinn. Erst beim Anblick seiner geweiteten Augen begreife ich die Unhöflichkeit darin.

Zu meiner Überraschung schnaubt Finnick amüsiert. »Das hat mich noch nie jemand gefragt, aber ... ja. Manchmal schon. Und manchmal bin ich verdammt froh, deswegen noch am Leben zu sein.« Er schweigt einen Moment, ehe er fortfährt. »Genau deshalb glaube ich übrigens, dass du es schaffen kannst. Du musst nicht brutal sein, um diese Arena zu überleben. Du bist clever. Mutig. Und schön genug, um so manchen im Kapitol zu überzeugen.«

Im Gegensatz zu dem ersten, scherzhaften Kommentar im Zug über mein Aussehen klingen seine Worte dieses Mal unendlich müde. Ich werde nicht einmal rot, denn mir ist klar – diese Art von Begehrlichkeit bedeutet in seinen Augen nichts Gutes. Das ist kein verqueres Kompliment, kein Flirten. Seine Feststellung ist genauso sachlich wie Mags‘ Erklärung, dass mein Auftritt bei der Wagenparade ausreicht, um ein paar Sponsoren anzulocken. Finnick bedauert mich, auch wenn ich nicht ganz verstehe, weshalb. Aber das Gewicht auf seinen Worten wiegt schwerer als verlorene Sommersprossen.

»Du bist eine starke Tributin«, setzt er seinen Ausführungen bestimmt hinzu.

»Wie kommst du darauf?«

»Oh Annie«, er deutet auf seine Oberarme, »du bist nicht dort stark, sondern hier.« Die Hand wandert zu seinem Herzen. Als er sich über Cece lustig gemacht hat, wohnte der Geste etwas Lächerliches inne, doch jetzt klimpert er nicht mit den Wimpern und seine Bewegung ist langsam, ernst. »Ich bewundere deinen Einsatz für Pon. Deine Überzeugung, niemanden zu töten. Deine Kraft, dich diesem Schicksal zu stellen. Dein Wille ist deine schärfste Waffe. Das kann das Kapitol dir nicht nehmen, solange du es nicht zulässt.«

Seine Worte sind die größte Aufmunterung, die mir jemand entgegengebracht hat, seit mein Name über den Festplatz von Distrikt Vier schallte. Alle Härchen auf meinem Körper – dank der Arbeit des Vorbereitungsteams sind kaum welche übrig – richten sich auf. Es sind die Worte, die ich mir von David erhofft habe. Stattdessen kommen sie von einem Mann, durch dessen Hand sechs Menschen gestorben sind und von dem ich sehr überzeugt war, dass er unausstehlich sei.

Angesichts meines Schweigens lächelt Finnick fast schon unsicher. »Ehrlich, Annie. Ich bewundere dich. Eine Tributin wie dich hatte Distrikt Vier noch nicht.«

»Wart nur ab, bis die Spiele begonnen haben und mir diese Einstellung das Leben kostet, dann hat sich das erledigt«, gebe ich der dunklen Stimme in mir nach. Er kann nicht Recht haben! »Oder noch schlimmer – wenn ich zur Mörderin werde. Wer weiß schon, was in der Arena passiert? Vielleicht drehe ich ja durch, schneide meinen Verbündeten die Kehlen durch, wie das Mädchen vor zwei Jahren. Dann kannst nicht mal du wollen, dass ich zurückkehre.«

Finnick schneidet eine Grimasse. »Du bist nicht wie die Tributin vor zwei Jahren. Das kannst du mir glauben, immerhin war ich auch ihr Mentor. Und selbst wenn du dich verteidigst und dabei jemandem das Leben nimmst, ändert es nichts daran, dass du eine verdammt großherzige, liebevolle Person bist. Auch gute Menschen können Schreckliches tun. Glaub mir, es gibt genug solcher Schicksale unter den Siegern. Wir aus Vier sind vielleicht nicht das beste Beispiel, aber Cecilia aus Acht ist eine herzensgute Person. Trotz ihrer Hungerspiele.«

»Danke Finnick, aber ... Du musst wirklich nicht so tun, als wäre ich besonders toll. Hör auf, mir Hoffnungen zu machen, dass dieser Wahnsinn irgendwie vorübergehen wird!« Inzwischen schreie ich fast. Die gehässige Stimme in mir will nicht schweigen. Wenn nicht einmal David an mich glaubt, muss Finnick Odair einfach lügen! »Ich dachte, du würdest mich verstehen, aber falls das irgendein Spiel für die Kameras ist, dann ... lass es!« Bei diesen Worten rinnt mir eine Träne die Wangen herunter.

Bestürzt sieht Finnick auf. »Glaubst du wirklich, dass es mir darum geht?« Eine steile Falte zeichnet sich auf seiner Stirn ab. »Damit das ein für alle Mal klar ist: Für keine Kamera der Welt würde ich dich – oder irgendwelche Tribute sonst – belügen. Ich dachte, das würdest du verstehen.«

Ich schniefe. Wütend über mich selber wische ich die Tränen fort. »Und heute Morgen? Ich hab die Überwachungskamera gesehen! Falls das eine Masche ist oder so –«

»Erwartest du, dass ich mir als Nächstes das Hemd vom Leib reiße und dir meine ewige Liebe schwöre? Weil ich das mit jeder Tributin so mache? Sie stirbt ja eh bald, da kann ich meinen Spaß mit ihr haben und das Kapitol ergötzt sich auch noch daran?« Plötzlich steht Finnick, die Hände auf die Tischplatte gepresst. Er starrt mich mit roten Wangen an, dann reißt er sich los und läuft zum Fenster, aus dem er mit verschränkten Armen auf die blinkenden Lichter sieht.

Sprachlos wie ein Fisch sitze ich da. »Nein! Nein ...« Ich schüttle den Kopf, sodass meine Haare fliegen. »Na ja, vielleicht doch ...«, gebe ich schließlich kleinlaut zu. »Dein Ruf ...«

»Beschränkt sich auf Personen des Kapitols.« Gegen die Fensterscheibe gelehnt starrt er mich an. »Es tut mir leid, dass mein Verhalten deine Grenzen überschritten hat. Ich versichere dir – ich habe kein Interesse.«

Einen Moment schaue ich ihn bloß an, diesen traurigen Glanz in seinen Augen, die hängenden Schultern, die Hände die sich in seine Oberarme krallen und ich stelle fest – ich glaube ihm. Ich habe Finnick Odair Unrecht getan.

»Gut«, murmle ich betreten und wische mir die restlichen Tränen vom Gesicht. »Es tut mir auch leid, dass ich nur das Schlimmste von dir angenommen habe. Du hast ja nichts getan außer ... ein, zwei komische Sprüche gerissen.«

Er reibt sich den Nacken und seufzt. »Ja ... das waren nicht gerade meine besten Momente –«

Ich plappere eilig weiter: »Aber vergessen wir das, ich habe auch kein Interesse! Du weißt nicht mal, wie man Steine springen lässt, das disqualifiziert dich sowieso.«

Schweigen fällt über den Wohnbereich. Doch ich sehe, dass es in Finnicks Kopf rattert. Er stößt sich vom Fenster ab, die Lippen leicht geöffnet und endlich ist die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen verschwunden.

»Du warst das? Du ...?«

»Du hast es wirklich nicht bemerkt.« Ich erlaube mir ein kleines Lächeln, angesichts seiner Verblüffung. »Tja, sieht aus, als kennst du jetzt mein Geheimtalent. Vielleicht kannst du mir daraus ja noch eine Siegesstrategie für die Arena basteln.«

Mit hängenden Armen steht er da, dann schließt er die Lider und lacht leise. »Du bist unglaublich Annie Cresta.« Als er seine Augen öffnet, wird er wieder ernst. »Und genau deswegen glaube ich an dich. Ich hätte wirklich gerne meine Revanche im Steinchenhüpfen.«

 



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