Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 13: Purpurea -------------------- Die Trainingshalle ist ein unangenehmer Ort. Es braucht nicht lange, bis ich das herausfinde. Da wir uns im Keller befinden ist es kälter als in den oberen, sonnendurchfluteten Stockwerken. Die Wände reichen weit in die Höhe und sind mit Metall verkleidet, sodass ich mich an das Erneuerungscenter erinnert fühle. Einige Meter über dem Boden hängt ein Kletternetz und auf der gesamten Fläche sind die verschiedensten Trainingsstationen verteilt. Ständer mit Schwertern, Speeren und bedrohlich funkelnden Messern warten auf uns. Die Tribute aus Eins und Zwei haben sich bereits zusammengefunden und verfolgen die Ankunft von Pon und mir mit abschätzigen Blicken. Aus Richtung der ärmeren Distrikte schlägt uns Angst entgegen. Augen werden hastig abgewendet, wohin ich auch sehe. Der Ruf des Karrieredistrikts eilt uns voraus, obwohl wir bisher nichts getan haben, um diesen Eindruck zu festigen. Unschlüssig stehen wir einen Moment in der Tür, ehe Shine, das blonde Mädchen aus Eins, sich erbarmt und zu uns schlendert. Aus der Nähe betrachtet ist sie noch hübscher als im Fernsehen. Trotz ihrer achtzehn Jahre lässt ihr herzförmiges Gesicht mit der Stupsnase sie jünger – gar niedlich – wirken. Ihr Blick gleitet von den Zehenspitzen bis zu meinem Haaransatz, dann breiten sich ihre Lippen zu einem Lächeln in bester Caesar-Flickerman-Manier aus. »Zeigt heute, was ihr drauf habt, wenn ihr bei uns mitmachen wollt. Auch wenn’s für dich schwer wird, Kleiner.« Sie zuckt mit den Schultern und wickelt eine Locke um ihren Zeigefinger. »Sorry, aber du bist halt erst Zwölf.« Anstatt eine Antwort abzuwarten, dreht sie sich auf dem Absatz um und schreitet zu ihren Verbündeten zurück. Nach einem Augenblick der Erstarrung folgen Pon und ich ihr in die Halle zu dem Ring aus wartenden Tributen. Lange dauert es nicht, bis die Letzten zu uns stoßen, und eine gestählte Frau in weißer Friedenswächteruniform das Training offiziell eröffnet. Im Gegensatz zu den Bewohnern des Kapitols trägt sie keinerlei Make-Up. Was sich vermutlich damit erklären lässt, dass das überwiegende Gros der Soldaten aus Distrikt Zwei stammt und dort ausgebildet wird. Diese Frau begleitet also jedes Jahr Leute aus ihrer eigenen Heimat in den Tod. »Hoffen wir auf eine ertragreiche Trainingswoche«, beendet sie ihren Vortrag über die Regeln – im Prinzip nur ‚nicht gegeneinander kämpfen‘ und ‚niemanden verletzen‘. »Die Stationen sind jetzt für euch eröffnet.« Die Karrieretribute werfen uns einen vielsagenden Blick zu und verziehen sich in Richtung der Schwertkampfstation. Pon zögert kurz, dann läuft er in kleinen Schritten zu einer Bogenstation. Über die Schulter sieht er mich fragend an, doch ich schüttle nur den Kopf. An einem Bündnis habe ich kein Interesse, also gilt es auch niemanden zu beeindrucken. So wäre mir das Erwachen mit einem Messer in der Brust garantiert. Ganz zu schweigen davon, dass ich keinerlei bestehende Kampftalente habe. Das wird Shine schon früh genug bemerken und dann bin ich Fischfutter in ihren Augen. Oder was immer man in Distrikt Eins dazu sagt. In der Ecke finde ich eine unscheinbare Station, abgeschirmt von den meisten Blicken, und beschließe kurzerhand, dort anzufangen, bis ich einen besseren Überblick habe. Zwischen lauter Pflanzen hockt ein kleiner Mann, der mich anstrahlt, sobald ich näher komme. »Schön, dass mir mal jemand aus Distrikt Vier Besuch abstattet! Die meisten deiner Distriktgenossen sind nicht sonderlich erpicht darauf, Giftpflanzen zu studieren.« Mit vollem Elan schiebt er verschiedene Töpfe mit Grünzeug in meine Richtung. In den nächsten Stunden lerne ich, anhand der Blätter auf die Genießbarkeit von Pflanzen zu schließen, wie man Vergiftungen behandelt und Gifte einsetzt, um anderen zu schaden. Als kleine Prüfung sortiere ich einige Gewächse den Kategorien ‚unbedenklich‘, ‚sofort tödlich‘ und ‚schleichend tödlich‘ zu. Zufrieden sehe ich auf mein Werk hinab und will dem Trainer Bescheid geben, da hockt sich jemand neben mir hin und schüttelt langsam den Kopf. »Digitalis purpurea – höchst giftig«, belehrt mich die Tributin und schiebt eine Pflanze mit rosa Blüten in eine andere Kategorie. Ihre Augen huschen über die Anordnung. »Zwei Fehler. Ein Glück, dass du nicht in der Arena bist.« Auch dem Trainer steht der Mund offen, doch er beeilt sich, zu nicken. »In der Tat, da haben wir wohl eine Pflanzenkennerin!« Das dunkelhäutige Mädchen mit dem seidenglatten Haar kommt mir bekannt vor. Distrikt Fünf, durchzuckt mich die Erkenntnis. Ohne blaue Stromblitze auf ihrer Kleidung sieht sie anders aus, doch die gerade Haltung und die stille Berechnung in ihren braunen Augen ist die Gleiche. Nora, flüstert Claudius Templesmiths Stimme mir ein. Sie deutet noch einmal auf die rosa Blüten meiner Fehleinschätzung. »Jeder Teil dieser Pflanze ist höchst giftig, bereits eine kleine Menge reicht aus, um einen erwachsenen Menschen zu töten. Im Volksmund auch roter Fingerhut genannt. Allerdings wurde diese Pflanze in den dunkeln Tagen durch das Kapitol genetisch verändert, sodass sogar eine Berührung mit ihren Pollen ausreicht, um eine Vergiftung zu verursachen. Sofort tödlich also. Du erkennst diese Pflanze jederzeit an ihren schlauchförmigen, rot bis rosafarbenen Blütenblättern, die in Trauben von dem großen Hauptstiel herabhängen.« Betreten wische ich die Hände an der Hose ab. Schon schnürt sich mein Hals zu. Habe ich aus Versehen die Pollen berührt? »Danke für die Warnung«, würge ich hervor. Nora grinst und wendet sich an den Trainer. »Dieser Pflanze wurden die Pollen entfernt, richtig?« »Oh, ja. Den meisten Pflanzen hier wird ihr giftiger Wirkstoff entzogen, damit kein Tribut auf ... dumme Gedanken kommt.« Er lächelt und widmet sich jetzt völlig Nora, um sie über ihre Kenntnisse auszufragen. Staunend beobachte ich, wie sie spielend leicht noch mehr Pflanzen kategorisiert. »Woher kommt es, dass du so viel hierüber weißt? Ich dachte, Distrikt Fünf ist eher ... staubig und trocken. In der Schule haben wir gelernt, dass ein Großteil des Distrikts Wüste ist.« »Richtig. Umso wichtiger, dass wir ein paar Pflanzen kultivieren, die unser Überleben sichern. Nicht jeder von uns arbeitet in der Stromgewinnung, auch wenn man im Kapitol so tut. Wobei wir aus manchen Gewächsen sogar Energie gewinnen können. Aber die Biomasseverfahren sind noch nicht so ausgereift, wie beispielsweise Hydroenergie.« Ich verstehe kein Wort, betrachte aber dafür mit umso mehr Bewunderung, wie sie sich ein paar seltene Kreuzungen des Kapitols erklären lässt. Doch egal wie sehr ich versuche, mir all das zu merken, ich begreife, dass das Gespräch mein Verständnis bei weitem übersteigt. Also sehe ich mich an den übrigen Stationen um. Ein Großteil der Tribute ist an den Kampfstationen verteilt. Shine demonstriert gerade umjubelt von den Karrieretributen ihre Schwertkampfkünste. Eine nach der anderen zerteilt sie eine Reihe Schaumstoffpuppen und zementiert damit ihre Favoritenrolle. Ich suche Pon, den ich schließlich hoch oben über dem Hallenboden in dem Kletternetz erspähe. Beruhigt wende ich mich ab und beschließe, der verlassenen Tarnstation einen Besuch abzustatten. Eine gelangweilte Frau sitzt neben einer Reihe an Farbtöpfen und liest auf einem papierdünnen Gerät. Es dauert, bis sie den Kopf von den bunten Bildern und grellen Schriften hebt. »Ah, die Meerjungfrau«, stellt sie fest. »So beliebt, wie du und dein kleiner Partner sind, solltest du dich lieber an anderen Stationen vergnügen. Sonst war’s das recht bald mit den Sponsoren.« »Ah ... was?« Ich und beliebt? Das habe ich nicht erwartet. Nicht wenn es Tribute wie Shine – oder auch Nora – gibt. »Es ist das Outfit. Ist es immer. Na ja und der Kleine ist halt süß. Bis zu den Trainingsbewertungen reicht das vielleicht. Aber dann müsst ihr was Handfestes vorweisen.« Eine Hand mit entsetzlich langen Fingernägeln schließt sich um meinen Unterarm. Die Trainerin greift mit der Rechten einen Pinsel und beginnt, helles Blau aufzutragen. Betroffen starre ich die Frau an. Also verzaubert Pon wirklich das Kapitol. Eigentlich sollte mich das freuen, doch es will mir nicht so recht gelingen. »Wie komme ich in der Arena an solche Farben? Kann man sie von den Sponsoren bekommen?«, frage ich, um das Gespräch in sinnvollere Bahnen zu lenken. Zur Antwort erhalte ich bloß ein trockenes Lachen. »Das sind Übungsfarben. In der Arena musst du dir was einfallen lassen. Nimm Erde oder Kalk. Je nachdem, wie die Arena aussieht. Aber wenn du schlau bist, lernst du, mit einer Waffe umzugehen.« Die hellblauen Wirbel, die die Trainerin auf meinen Unterarm malt, nehmen die Form von Schuppen an. Schön und völlig überflüssig in der Arena. »Warum lernen wir dann nicht gleich, uns mit Dreck zu tarnen?« »Oh, stell nicht so viele Fragen«, seufzt die Frau. »Glaub mir, es ist besser für dich. Geh einfach und lerne etwas Sinnvolles.« Ist das ein Affront gegen das Kapitol? Gegen die Hungerspiele? Mir drängt sich die Vorstellung auf, wie viele Tribute sie bereits in den Tod begleitet hat. Vermutlich geben nicht nur manche Mentoren irgendwann auf. »Hm, hübsch«, schreckt mich Noras Stimme von hinten auf. Sie tritt an uns heran und mustert das entstehende Fischschuppenmuster auf meinem Arm. »Wie passend für Distrikt Vier. Vielleicht hast du ja Glück und die Arena wird eine Unterwasserwelt. Auch wenn die Chancen dafür verschwindend gering sein dürften.« Entgegen aller Anspannung zucken meine Mundwinkel nach oben. Sie hat ja recht, das hier ist absolut lächerlich. »Vielleicht reicht ein kleiner Bach, damit ich davonschwimmen kann«, halte ich dennoch dagegen. Nora lächelt, mindestens ebenso breit wie Shine. Aber nicht nur das, auch ihre Augen strahlen. »Entschuldige, ich habe mich bei den Pflanzen gar nicht vorgestellt. Ich bin Nora, Distrikt Fünf. Falls die große Nummer auf meinem Rücken es noch nicht verraten hat.« »Wäre mir fast entgangen«, schmunzle ich. »Aber tatsächlich hätte ich es auch so gewusst. Du hast gestern einige Aufmerksamkeit bei der Wagenparade erregt. Da sind wir wohl Leidensgenossinnen. Ich bin Annie, Distrikt Vier.« Wir grinsen beide verlegen, dann wendet Nora sich an die Trainerin. »Kann man hier auch etwas ... Sinnvolles lernen? Etwas, das nicht hübsch aussieht, sondern Leben rettet?« Die Frau rollt mit den Augen, mischt uns dann aber ein paar Braun- und Grüntöne, die denen in der Arena näher kommen und erklärt, wie wir damit unsere Kleider oder Rucksäcke tarnen können. Nora und ich bepinseln uns wie Kleinkinder mit Farben und zum krönenden Abschluss dürfen wir das Werk mit Zweigen und Blättern dekorieren. Wir sehen aus wie die menschliche Karikatur eines Baumes und ich bin froh, dass die Karrieretribute im anderen Teil der Trainingshalle beschäftigt sind. »Schau uns nur an«, spöttelt Nora, »da bekomme ich glatt noch mehr Angst vor dem Mädchen aus Sieben.« Ich schnaube leise – immerhin ist die beliebteste Waffe der Siebener eine Axt –, doch als ich Noras Blick durch die Halle folge, sehe auch ich die rothaarige Tributin, die sich an der Schwertkampfstation verausgabt. Ihr fehlt Shines eleganter Schliff, aber in ihren Schlägen liegt eine Wut, angesichts derer das Lächeln von meinem Gesicht rutscht. Bis zum Mittagessen verbringe ich die Zeit mit Nora bei den Überlebensstationen. Wir reden nicht viel, aber ich gestehe, sie ganz nett zu finden. Ihre Fröhlichkeit ist ansteckend und lässt mich fast vergessen, wozu wir hier sind. Auf dem Weg zum Essenssaal am anderen Ende der Halle kommen wir jedoch an den Waffenständern vorbei. Interessiert mustert Nora die glänzenden Trainingswaffen. »Nach dem Essen will ich das Messerwerfen üben, denke ich. Das habe ich schon mal zuhause ausprobiert, nur aus Spaß, mit meinem Bruder. Die ganze Baumsache wird mir wohl kaum das Leben retten, wenn die Karrieremeute es auf mich abgesehen hat. Was meinst du?« Ihre Offenheit angesichts der Trainingsstrategie verblüfft mich. Ist das ein Trick? Hofft sie, dass ich ihr etwas von mir verrate? Amber hat schließlich davor gewarnt, mein wahres Können (wenn ich es denn hätte) zu zeigen. Die meisten Tribute demonstrieren ihre Fähigkeiten erst in der Einzelstunde vor den Spielmachern. »Willst du deine Vorteile nicht ... geheim halten?« Ein Schatten huscht über Noras Züge. »Oh, es ehrt mich, dass du denkst, es macht noch einen Unterschied. Dabei bin ich bloß das Mädchen aus Fünf.« Sie lächelt wieder, ehe sie sich zu schnell von mir abwendet. Vielleicht bin ich naiv, doch ihre Worte hören sich aufrichtig an. »Dann sind wir schon zwei einfache Mädchen«, erwidere ich. »Vielleicht finden wir ja noch unsere Superkräfte. Du kennst dich immerhin schon mit Pflanzen aus.« Nora lacht leise. Von hier an ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass wir die Mittagspause gemeinsam verbringen. Die Karrieretribute indes machen es sich in der Mitte des Speisesaals an einer langen Tafel bequem und reden so laut miteinander, dass niemandem entgeht, wie sie von ihren Trainingserfolgen erzählen. Pon sitzt am Tisch neben ihrem, bloß eine Armlänge zwischen sich und den anderen Tributen. Er winkt mich zu sich. Einen Moment zögere ich und tausche einen fragenden Blick mit Nora, die nur mit den Schultern zuckt. Also setzen wir uns dazu, was Shine veranlasst, ihre Augenbrauen hochzuziehen. »Wir hatten uns schon gefreut, deine Fähigkeiten zu bewundern«, ruft sie lauter als nötig herüber. »Ehrlich, Cresta, du enttäuschst mich.« Ihr Mittribut kichert. »Sie wollte wohl lieber Erde fressen mit Fünf. Die beiden brauchen eigentlich kein Mittagessen mehr.« Prompt erröte ich und werfe Nora einen um Entschuldigung heischenden Blick zu. Die hat ihre Augen fest auf das Essen gerichtet, ihre Miene wie versteinert. Sicher bereut sie es, sich mit mir abzugeben. Niemand will zur Zielscheibe der Karrieretribute werden. »Das Beste kommt immer zum Schluss«, versuche ich einen Witz und würde mir am liebsten gleich darauf die Zunge abbeißen. Shine hält eine Hand vor den Mund, aber ihr Lachen höre ich trotzdem. Grinsend lehnt sich ihr Partner in seinem Stuhl zurück. Wahrscheinlich wägt er in Gedanken ab, wie er mich in der Arena töten wird. »Süß, wie überzeugt du bist. Man weiß gar nicht, wer putziger ist, du oder der Zwölfjährige.« Pon setzt sich sofort aufrechter hin und funkelt den gefühlt doppelt so großen und breiten Tribut aus Eins an. Rote Flecke zieren seine Wangen. »Wenigstens werden wir nicht an Vergiftungen sterben. Das wäre der peinlichste Tod.« Die athletische Tributin aus Distrikt Zwei fährt sich durch das raspelkurze braune Haar und mustert ihre Verbündeten mit erhobener Augenbraue. »In Sachen Peinlichkeit hat er recht. Die Leute würden lachen, wenn ausgerechnet die Tribute von Eins sich im Arenaschlamm suhlen, weil sie die falschen Beeren gegessen haben. Adieu Favoritenrolle.« Sie winkt dem Einser und das Lächeln auf ihrem androgynen Gesicht hat etwas Haifischartiges. »Kann schnell gehen, schließlich ist die Arena ... unberechenbar.« Damit ist klar, dass sie ihre beiden Bündnispartner am liebsten zum Frühstück verspeisen würde. Meine Vorurteile gegenüber den Karrieretributen sehen sich einmal mehr bestätigt. Das Trainingscenter ist ein Raubtierkäfig und wer nicht aufpasst, wird gefressen, lange bevor die eigentlichen Hungerspiele beginnen. »Du kannst ja unsere Vorkosterin sein, Maylin, wenn du dich so gut auskennst.« Der Einser spießt ein Stück Fleischstück auf seine Gabel und Stille legt sich über den Speisesaal. Die meisten Tribute sitzen alleine, ein paar bei ihren jeweiligen Distriktpartnern. Wo immer ich hinsehe, begegnen mir schreckgeweitete Augen. Außer bei dem Mädchen aus Sieben, das stur auf ihre Portion Reis mit Huhn sieht. Niemals kann ich mit allen hier Frieden schließen. Mir ist der Appetit vergangen. Meinen Nachtisch schiebe ich zu Pon, dann gehe ich zur Tablettrückgabe. Auf halbem Weg stolpert etwas – oder besser jemand – gegen mich. Strauchelnd greife ich nach dem Tisch der Tribute aus Zwölf. Hinter mir steht ein kleines Mädchen, eine weitere Zwölfjährige. Aus kugelrunden Augen starrt sie zu mir hoch, doch wie bei einem Fisch kommen aus ihrem Mund keine Worte, obwohl er sich öffnet und schließt. »Alles gut«, murmle ich hastig. Die Situation ist für uns beide peinlich genug. Mit hochrotem Kopf bringt die Kleine noch ein »Entschuldigung« hervor, dann flitzt sie eilig fort. Zum ersten Mal haben die Leute aufrichtig Angst vor mir. Ein falsches, eigenartiges Gefühl, wo ich doch selber kein Stück mutiger als die Kleine bin. Alles nur wegen des Rufs von Distrikt Vier. Sollte ich mich darüber freuen? Eher nicht. Wenn die übrigen Tribute erstmal verstanden haben, dass ich wehrlos bin, wird sich das Blatt wenden – bald.   Nach der Mittagspause hat sich die Trainingshalle verändert – in einem kleinen Raum, rund vier Meter über dem Hallenboden, sitzen plötzlich Kapitolbewohner und betrachten uns wie einen Haufen lästiger Ameisen. Sie tragen alle eine Art schwarz-rote Uniform, doch einer sticht trotzdem aus der Masse hervor. Er thront auf einem samtenen Sessel und auf seinem von unzähligen Operationen gezeichneten Gesicht ist keine Regung zu erkennen. Auf eine groteske Art erinnert er mich an den Präsidenten. Auf einmal wird mir klar, woher ich den Mann kenne – es ist der oberste Spielmacher. Victorius Savage. Die zusätzliche Beobachtung gefällt mir nicht im Mindesten und ich spiele mit dem Gedanken, mich erneut in der hintersten Ecke bei den Überlebensstationen zu verstecken. Aber Pon packt meinen Arm. »Annie, die anderen wollen Speerwerfen üben. Komm mit, bitte. Das können wir beide. Da kannst du sie bestimmt beeindrucken. Dann lassen sie dich in Ruhe!« Schweren Herzens folge ich Pon zu den Karrieros an einer Station, die gut sichtbar entlang der Stirnseite der Halle aufgebaut ist. Wir bieten den Spielmachern einen exzellenten Ausblick auf unser Können. Ihre Augen scheinen sich wie Messer in meinen ungeschützten Rücken zu bohren. Maylin macht den Anfang. Sie greift einen Speer, wiegt ihn kurz in der Hand und streckt sich, dann hebt sie die Waffe auf Schulterhöhe. Drei, vier Schritte nimmt sie Anlauf. Sekunden später werden wir Zeugen, wie die Speerspitze sich in der Zielscheibe versenkt. Nicht überragend, aber sie hat getroffen. Ein Tribut wäre schwer verwundet. Shines Versuch ist von ähnlichem Glück gekrönt. Sie schnalzt kurz mit der Zunge und ihre Hand ballt sich zu einer Faust. Doch als sie sich zur mir dreht, trägt sie wieder ihr unnatürliches Lächeln zur Schau. Mit einer Verbeugung fordert sie mich dazu auf, ihren Platz an der Stoßlinie einzunehmen. Widerspruch ist zwecklos. Ich greife einen Speer und trete vor. Das Metall liegt eiskalt in der Hand. Vor lauter Aufregung rutscht mir der blanke Schaft fast zu Boden, so sehr schwitze ich. Die einfachen Holzspeere zuhause sind ganz anders als diese Waffen. Bei diesem ist das Material leichter, der Schwerpunkt auf der falschen Höhe. Mein Heimvorteil dürfte verschwindend gering sein. Aber ein Rückzieher ist nicht möglich. Einatmen, ausatmen. Ich hebe den Speer. Schließe die Augen. Stelle mir vor, dass ich einen wahnsinnig dicken Fisch erlegen will. Ein Lächeln huscht über meine Lippen. Wie in Trance nehme ich Anlauf. Drehe den Oberkörper, lassen den Arm vorschnellen. Der Speer fliegt mir aus der Hand. Ich spüre einen kalten Lufthauch und Sekunden später gibt es einen harten Schlag. Erst dann öffne ich die Augen. Die schlanke Waffe steckt vibrierend in der Zielscheibe. Nicht mittig – aber näher als Maylin oder Shine gekommen sind. Überrascht starre ich auf mein Werk, dann zu den Karrieretributen. Auch auf ihren Gesichtern liegt eine Mischung aus Verwunderung und Anerkennung. Allen voran Shines Partner, dessen Namen ich immer noch nicht weiß, betrachtet mich mit neuem Interesse. Aber zu dem Stolz in mir gesellt sich ein weiteres Gefühl. Bedauern. Den Umgang mit dem Speer, den mein Vater mir als kleines Kind beibrachte, sollte niemals zu dem werden, was ein Leben nimmt. Es so zu benutzen ist ... falsch. Die übrigen Karrieretribute werfen zwar nicht so genau wie ich, doch die Wucht, mit der sie die Zielscheibe treffen, gleicht das aus. Alle von ihnen könnten lebenswichtige Organe verletzen. Zum Schluss ist Pon an der Reihe. Im Gegensatz zu mir hält er die Augen offen, ohne Durchatmen oder Moment des Zögerns. Er hebt den Arm und der Speer fliegt. Knackend trifft die Spitze auf die Scheibe. Ich zucke zusammen, die Hände auf halbem Weg zu den Ohren, so laut ist der Einschlag. Mein Herz pocht wie wild, aber niemand bemerkt es. Alle haben Pon umringt, dessen Speer im roten Mittelpunkt der Zielscheibe steckt. Die zitternden Finger zu Fäusten geballt, wende ich mich ab. Die Blicke der Spielmacher in ihrer Loge ruhen aufmerksam auf unserer Gruppe. Sie betrachten uns Tribute voll sensationslüsternem Hunger, freuen sich wahrscheinlich schon auf das Drama, das ihnen die großen Bündnisse jedes Jahr bringen. Vielleicht denken sie darüber nach, mit welchen Fallen sie die einzelnen Distrikte gegeneinander aufbringen können. Steifen Schrittes entferne ich mich von der Trainingsstation und den Karrieretributen. Pon kommt auch alleine klar, so viel ist sicher. An der Station für das Feuermachen erspähe ich Nora und beschließe, es ihr gleichzutun. »Genug mit den Karrieros gespielt?«, fragt sie, als ich mich neben ihr auf das simulierte Waldstück setze. Den Vorwurf in ihrer Stimme bilde ich mir bestimmt nicht ein. Ich seufze. »Das habe ich nur für meinen Distriktpartner getan. Und du? Hast du etwa schon genug vom Messerwerfen?« Sie übergeht meine Frage. »Will der Kleine sich etwa den Karrieros anschließen?« Unbestimmt zucke ich mit den Schultern. Wer weiß, was Pon nach diesem Trainingstag vorhat? Klar, er ist erst zwölf – aber bis zu Finnicks Sieg hat auch niemand geglaubt, dass ein Vierzehnjähriger es schaffen kann. Nora beobachtet mich aus dem Augenwinkel. »Was ist mit dir? Was willst du?« »Ihn beschützen. Um jeden Preis.« Darüber brauche ich nicht nachdenken. Diese Antwort ist die einzig mögliche. »Verstehe«, murmelt Nora und sieht auf den schwelenden Rauch aus dem kleinen Blätterhaufen zwischen ihren Knien. Sie pustet hinein und mehr Qualm steigt empor. »Weißt du ... ich kann nicht mit potentiellen Karrieros zusammenarbeiten. Entschuldige, Annie. Aber ich habe auch jemanden zu beschützen.« Sie steht auf und geht, ohne sich noch einmal umzusehen. Stumm schaue ich der großen Fünf auf ihrem Rücken nach. Wenn Pon nicht wäre, hätte ich sie gerne um ein Bündnis gebeten. Aber so wie es steht, kenne ich sie viel zu kurz, um den Verlust wirklich zu bedauern. In Ermanglung einer besseren Aktivität versuche ich, den Blätterhaufen zum Brennen zu bekommen. Zunächst atme ich bloß Rauch ein, doch am Ende züngeln die ersten Flammen empor. Einigermaßen stolz mustere ich den kleinen Brand. »So so, Feuermachen kannst du also auch.« Aufgeschreckt wirble ich herum. Hinter mir steht Shines Distriktpartner. Ich könnte mich ohrfeigen, nicht bemerkt zu haben, wie er sich angeschlichen hat. »Ehrlich beeindruckend. Aus Blättern könnte ich kein Feuer machen.« »Ach, das ist nicht mein Verdienst -« Schon will ich erwähnen, dass Nora die Grundlage geschaffen hat, kann mich aber im letzten Moment bremsen. Die Stärken der anderen sollte ich den Karrieros nicht offenbaren. »Wessen denn dann?«, erkundigt sich der Einser natürlich dennoch, eine Augenbraue erhoben. »Das musst du selber herausfinden.« Zum zweiten Mal an diesem Tag grinst der Karriero über meine Worte. »Gefällt mir. Ich bin Slay.« Das ekelhaft arrogante Grinsen würde ich ihm nur zu gerne aus dem Gesicht wischen. Jetzt begreife ich, warum alle Welt Finnick so sehr liebt – er hat wenigstens Herz und einen gewissen Charme kann ich ihm nicht absprechen. Slay dagegen ist einfach von sich selbst eingenommen. »Annie, aber das weißt du ja eh.« »Auf gute Zusammenarbeit?« Jetzt bin ich dran, die Augenbrauen hochzuziehen. Warum möchte ausgerechnet dieser Karriero mich in seinem Team haben? »Mal sehen ...« Zum Glück unterbricht eine Lautsprecherdurchsage meine Antwort und verkündet, dass der Trainingstag vorbei ist. In der Reihenfolge unserer Distrikte dürfen wir zurück nach oben fahren. In Gedanken wähne ich mich bereits unter der Dusche, da schließt Shine zu mir auf. Im Vorbeigehen ergreift sie mein Handgelenk. Ihre geflüsterten Worte kommen aus dem Nichts, wie eine kleine Schnittwunde, die plötzlich im Meerwasser brennt. »Noch bist du nicht dabei. Bilde dir ja nichts auf Slays Interesse ein. Er mag dich nur, weil du gut aussiehst. Aber ich dulde keine Schwäche, weder seine noch deine.« Shines hübsche Lippen verziehen sich zu einem grausamen Lächeln, das so gar nicht zu ihrer liebenswerten Erscheinung passt. Ich nicke, will sie loswerden, aber sie lässt nicht los. Im Gegenteil, ihre Fingernägel bohren sich tiefer in meine Haut. »Wir werden sehen, wie schwach du bist.« Dann verschwindet sie im Fahrstuhl und winkt spöttisch in die Menge, ehe sie mit Slay nach oben entschwindet. Endlich in unserer Etage angekommen, wartet zum ersten Mal seit einer kleinen Ewigkeit Ruhe auf Pon und mich. Niemand ist da, nicht einmal Cece. Hinter den Glastürmen des Kapitols versinkt die Sonne bereits wieder und taucht den Wohnbereich in Honiggold. Fern vom steten Waffenklirren bemerke ich erst die Verspannungen in meinen Schultern. »Zeit für eine Dusche«, bekunde ich das Bedürfnis nach kühlem Wasser. Pon grinst. »Und ein schönes Abendessen. Hoffentlich mit Nachtisch!« Ein Lachen bricht aus mir hervor. Ohne die Blicke der Karrieros traue ich mich wieder, ihn zu umarmen. Er drückt ebenso fest zu und einen kleinen Moment verharren wir so. Aber schließlich gewinnt der Schweißgeruch Oberhand. Unter der Dusche lege ich den Kopf in den Nacken und schließe die Augen, in dem Versuch, mir vorzustellen, dass ich in einem der berüchtigten Sommerregen von Distrikt Vier stehe. Doch die Gedanken werden immer wieder von Shine durchbrochen. Von dem bösartigen Lächeln auf ihren pinken Lippen, die mich so sehr an die giftige Purpurea erinnern. Beide absolut tödlich. Mit einem Mal ist das Wasser eisig. Ich drehe am Hitzeregler, doch die Kälte kommt aus meinem Inneren. Sie wird mich nie mehr loslassen. Die Angst ist ab sofort ein Teil von mir. Ich kann sie nur verdrängen, nicht besiegen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)