Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 11: Strategie --------------------- Das Abendessen verläuft – wie erwartet – nicht sonderlich ereignisreich. Cece versucht, ein fröhliches Gespräch am Laufen zu erhalten, doch die Einzigen, die darauf eingehen, sind die Stylisten, die anscheinend ebenfalls in unserem Appartement ein- und ausgehen dürfen. Ich verfolge ihr Gequassel lediglich mit einem Ohr, da es sich auf die teuren, aber hässlichen Kleider der anderen Tribute und Eskorten beschränkt. Mit dem nächsten Gang geht die Unterhaltung über zu einem neuen Trend, bei dem man sich tierische Gesichtsmerkmale implantieren lässt. Roan ist natürlich gut informiert mit seinen Kiemen – die im Übrigen funktionslos sind, wie er langatmig erklärt. Überraschenderweise hält Cece nichts von dem Trend und winkt nur ab, als der Vorwurf laut wird, sie solle ein wenig Solidarität mit ‚ihrem‘ Distrikt zeigen. »Nein danke, ich war einmal am Hafen. Fische sind wirklich eklig, ganz zu Schweigen von dem Gestank! Damit will ich nicht assoziiert werden.« Ich schmunzle. Niemand daheim würde unsere Lebensgrundlage je so abwerten. Wenn wir nicht das Meer hätten, würde es uns ähnlich elend ergehen wie den Bewohnern von Distrikt elf oder zwölf. Zum Glück sind viele Leute aus dem Kapitol ganz wild auf unseren Fisch und insbesondere die Meeresfrüchte. Aber die meisten haben vermutlich keine Ahnung, wie die Nahrung zu ihnen kommt. Für sie existiert nur das, was sie von uns in kleinen tiefgefrorenen Blöcken geliefert bekommen. Cece jedenfalls scheint ziemlich angewidert von der Wirklichkeit, so wie sie ihre Lippen schürzt. Mit einem Blick auf das Wildfleisch auf meinem Teller fällt mir auf, dass ich selber auch nie einen Hirsch in freier Wildbahn gesehen habe. Wie sieht es wohl in Distrikt zehn aus, wo das Fleisch verarbeitet wird? Fühlt sich das Vieh dort genauso schlecht wie ich heute Morgen im Erneuerungscenter? Meine Überlegungen werden von Ceces durchdringender Stimme erstickt. »Also, ihr Lieben! Wir haben uns hier ja nicht nur zum Essen versammelt, sondern auch, um für unsere beiden wunderbaren Tribute die richtige Strategie zu finden!« Sie lächelt breit in die Runde. »Ich selber habe natürlich unendlich viele Ideen«, fährt sie – für meinen Geschmack zu selbstgefällig – fort, »aber jeder von uns sollte die Chance haben, etwas beizutragen!« In den folgenden Momenten offenbart sich für mich, warum Mags bereits vor dieser offiziellen Zusammenkunft zu mir gekommen ist. Jeder der Stylisten hat nämlich eine wunderbare und gänzlich schockierende Idee parat, um es einmal mit Ceces Worten auszudrücken. Ich nenne es lieber gequirlten Fischmist. Keiner der Vorschläge ist auch nur ansatzweise hilfreich oder umsetzbar. Pons Stylistin schlägt beispielsweise vor, dass man mich ja als junge Mutter präsentieren könnte, wo ich doch ein so gutes Verhältnis zu Pon habe. Woher sie plötzlich ein Kind nehmen will, ist mir schleierhaft, genauso wie diese Behauptung die Sponsoren begeistern soll. Aber ich begreife, dass die Bewohner des Kapitols gänzlich anders denken. Vielleicht ist es ja gerade im Trend eine junge, mordende Mutter zu sein. Zum Glück widersetzt Cece sich diesem Vorschlag. Unsere Mentoren hingegen halten sich überwiegend aus dem Durcheinander heraus, aber ich ahne, dass das ebenfalls eine Strategie ist. Zumindest Mags, Floogs und sogar Finnick haben bewiesen, dass wir ihnen nicht egal sind. Als die Ideen der Stylisten schließlich immer lustloser werden, sieht Cece hoffnungsvoll zu den Siegern herüber. »Jetzt haben wir ja viele wunderbare Vorschläge gesammelt, aber von euch haben wir noch nichts gehört. Ihr habt doch sicher auch sehr viele Ideen für die zwei?« Fragend zieht sie ihre pinkgefärbten Augenbrauen in die Höhe. In aller Ruhe legt Mags ihre Gabel nieder, wischt sich den Mund an der Serviette ab und lächelt der Eskorte dann zu. »Meine Liebe, ich glaube, unsere Tribute brauchen keine derartig … unkonventionellen Strategien. Wir haben uns bereits zusammengesetzt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir es einfach halten.« Ceces Augenbrauen verschwinden in ihrer künstlichen Haarpracht. »Was heißt das, ‚einfach halten‘?« »So, wie sie sich bis jetzt präsentiert haben, haben sie schon ein Image. Wir bauen es lediglich aus«, mischt sich Floogs ein. Ich bin überrascht, dass sie anscheinend die Zeit gefunden haben, an unserer Strategie zu arbeiten, da Mags und Finnick mir erst vorhin ganz unterschiedliche Sachen geraten haben. »Um es kurz zu fassen: Annie bleibt die zurückhaltende Schönheit, während Pon unser aller Sonnenschein ist«, beendet Amber sarkastisch wie immer die Diskussion. Cece sieht eingeschnappt drein, zuckt dann aber mit den Schultern. »In Ordnung für euch?«, fragt sie an Pon und mich gewandt. Wir tauschen einen kurzen Blick, bevor wir nicken. Diese Rollen dürften uns nicht schwerfallen, da sie am nächsten dran sind an der Wahrheit. Zufrieden mit der Antwort, geht Cece gleich zu einem neuen Thema über – dem Training. »Wie ihr sicher wisst«, erklärt sie mit Blick zu uns Tributen, »habt ihr in den kommenden Tagen Zeit, mit euren Mentoren zu trainieren. Um das Ganze einfacher zu gestalten, wird jeder von euch zwei feste Mentoren zugewiesen bekommen. Außerdem könnt ihr euch entscheiden, ob ihr gemeinsam trainiert werden wollt, oder ob ihr eure kleinen Trainingsgeheimnisse für euch bewahren wollt.« Sie unterstreicht die Worte mit einem verschwörerischen Zwinkern. Pon und ich müssen nicht einmal einen Blick wechseln, um darauf zu antworten. »Ich habe nichts zu verbergen«, erwidere ich mit einem Schulterzucken. »Ich auch nicht.« Der Kleine grinst und zwinkert mir genauso zu wie eben Cece. »Wunderbar, dann kann ich es ja offiziell machen«, flötet unsere Betreuerin und klatscht in die Hände, »Pon, du wirst von Trexler und Finnick trainiert, während du, Annie, Amber und Floogs zur Seite gestellt bekommst. Mags dient als Ansprechpartnerin für alle sonstigen Themen, aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen.« Großartig. Mein Schicksal hängt an der Siegerin, die ihre Opfer mit bloßen Händen getötet hat und einem Sieger, den ich noch nie kämpfen gesehen habe, der dafür aber ein steifes Bein hat. Was sollen die beiden mir beibringen? Allein der Gedanke, mit Amber zu trainieren, schnürt mir die Kehle zu. Dagegen hat Pon mit Finnick das Glück auf seiner Seite. Mit Speer oder Dreizack würde ich zumindest lieber kämpfen als mit den blanken Fäusten. Andererseits ist es verständlich, dass man keine wertvolle Trainingszeit mit unserem fähigsten Sieger an mich verschwenden will, die sich selber aufgegeben hat. Letztlich ist Pon derjenige, der sich mehr bemüht. Mags lächelt uns aufmunternd an. »Morgen früh um acht beginnt das Training, seid also bitte pünktlich hier. Im Anschluss an das Gemeinschaftstraining findet euer privates Training statt. Als vierter Distrikt haben wir das Center von neunzehn Uhr an für uns. Habt ihr dazu noch Fragen?« Wir Tribute schütteln den Kopf. »Schön«, bringt Cece sich zurück ins Gespräch, »dann können wir uns ja jetzt dem Nachtisch wid-« Aber die folgenden Worte werden ihr von dem stummen Auftritt eines aufgeregten Mädchens in roter Uniform abgeschnitten. Wild gestikulierend läuft sie auf den Tisch zu, die Augen weit aufgerissen. In schneller Reihenfolge bewegt sie ihre Hände, aber ich werde daraus nicht schlau. Cece scheint jedoch zu verstehen, denn ihre Wangen färben sich dunkelrot und sie schnappt empört nach Luft. »Ich will den Nachtisch!«, stößt sie gereizt hervor. »Er kann nicht weg sein. Wo soll er denn hin sein? Hat er etwa Beine bekommen?« Es braucht einen Moment, bis die Erkenntnis in mir aufblüht. Das Dessert ist Finnick und mir zum Opfer gefallen. Peinlich berührt starre ich auf die Tischplatte. Das kommt davon, wenn man sich einfach bedient. Aus dem Augenwinkel registriere ich, dass Finnick sich auf die Innenseite der Wange beißt, in dem Versuch, ein Lachen zu unterdrücken, aber das Funkeln in seinen Augen verrät ihn. Verzweifelt scheint die Bedienstete Cece zu erklären, dass es keinen Nachtisch mehr gibt. Oder, zumindest nicht viel, denn alles haben wir nicht verputzt. Die Hände ringend macht das Mädchen schließlich kehrt und rennt zurück in die Richtung, aus der sie kam. Peinlich berührt wendet Cece sich uns zu. »Ich muss mich entschuldigen. Da meint dieses unnütze Ding doch tatsächlich, dass wir keinen Nachtisch mehr haben.« Sie schüttelt den Kopf. »Keine Sorge, das klären wir.« Ich wische die schwitzigen Handflächen an der Sitzfläche meines Stuhls ab. Hoffentlich rastet Cece nicht aus, wenn sie erfährt, was Finnick und ich getan haben. Trotzdem bin ich neugierig und lehne mich zu Floogs, der neben mir sitzt, und frage, wer das Mädchen war. Mitleidig seufzt er. »Eine Avox. Die stummen Diener des Kapitols. Sie bedienen die Tribute in ihrer Zeit im Trainingscenter.« »Stumm?«, frage ich überrascht. Statt mir zu erklären, was es damit auf sich hat, macht er eine simple Geste. Ich blicke auf seine Finger, die diskret eine Schere formen. Verdutzt starre ich ihn an, bis sich mir die einzige plausible Schlussfolgerung offenbart. »Sie – sie haben keine Zunge mehr?« Entsetzen breitet sich in mir aus, als Floogs bestätigend nickt. Unwillkürlich fährt meine Hand an die Lippen. »Wie furchtbar …« Finnick gegenüber von uns ist anscheinend auf die Unterhaltung aufmerksam geworden. Er lehnt sich über den Tisch herüber, seine Stimme bloß ein zynisches Flüstern. »Nicht für das Kapitol. Stumme Diener sind besser als Laute. Sie lassen sich besser bestrafen und kleinhalten.« Da kommt die stimmenlose Avox auch schon mit einer Etagere zurück, die mit den kläglichen Resten des Desserts bestückt ist. Offenbar haben Finnick und ich mehr verputzt als gedacht. In Ceces Augen brodelt bereits ein Sturm und bevor sie in Rage gerät, stehe ich auf und gehe dazwischen. »Es tut mir wirklich Leid Cece … ich hatte Hunger und naja, das Einzige, was ich finden konnte – war anscheinend der Nachtisch im Kühlschrank. Das wusste ich nicht. Es ist meine Schuld.« Bemüht, nicht in Finnicks Richtung zu sehen, starre ich auf die Wand hinter Cece. Am Tisch herrscht Schweigen. Alle Blicke ruhen auf mir. Ich beobachte, wie Ambers Augenbrauen langsam hochwandern. Dann fängt sie dröhnend an zu lachen. Der Rest meiner Mentoren fällt mit ein und es dauert nicht lange, bis sie sich Lachtränen aus den Augenwinkeln wischen, vor allem Finnick. Von der Avox ernte ich einen dankbaren Blick. Lediglich Cece sieht aus, als ob sie auf eine Zitrone gebissen hätte. »Nun, äh, danke für die Aufklärung. Ich bin erschüttert über diesen Mangel an Disziplin.« Sie entlässt die Dienerin mit einer Geste. »Wenn ihr nicht bald in die Arena gehen würdet, gäbe es morgen keinen Nachtisch, aber so ... mache ich eine Ausnahme.« Erleichtert, dass sie nicht allzu sauer ist, lasse ich mich wieder auf meinen Platz sinken. Der vermeintliche Mangel an Disziplin ist mir angesichts des nahenden Tods ziemlich egal. Finnick schenkt mir dafür ein amüsiertes Lächeln und nickt anerkennend. Auch Pon grinst breit. »Annie, das war cool, den Nachtisch zu klauen«, flüstert er. »Aber nächstes Mal will ich ebenfalls was abhaben, ja?« Ich muss lachen und fahre ihm durch die blonden Locken. »Versprochen.«   Als sich unsere kleine Runde langsam auflöst und die Stylisten das Appartement verlassen bin ich ziemlich dankbar. Endlich hat das Geschnatter ein Ende. Sie mögen ja durchaus Unterhaltungswert haben, aber nach einem so langen Abendessen gehen sie einem wirklich auf den Keks. Pon gähnt herzhaft und sein Kopf rutscht auf meine Schulter. Inzwischen muss es mitten in der Nacht sein, denn die meisten Lichter in der Skyline des Kapitols sind verloschen. Ich fühle, wie auch mir die Lider immer schwerer werden. Cece, die eben noch Roan verabschiedet hat, kommt herbeigestöckelt und beobachtet uns. »Wir sollten jetzt alle ein wenig schlafen gehen. Morgen wird ein anstrengender Tag«, flötet sie, genau wie gestern im Zug. Welcher Tag wird eigentlich nicht anstrengend? Erleichtert machen Pon und ich uns auf den Weg in die Schlafzimmer. »Gute Nacht«, murmle ich schläfrig zu ihm und will gerade durch die Tür schlüpfen, da zupft er an meinem Ärmel. »Annie?« »Ja?« Bedröppelt blickt er zu Boden. »Singst du mir noch einmal das Lied von der Meerjungfrau vor?« Sein Anblick zieht an meinem Herz, so sehr erinnert er in diesem Augenblick an Cyle. »Natürlich«, sage ich mit einem Lächeln auf den Lippen. In seinem Zimmer lasse ich mich auf die Kante des großen Bettes sinken und warte, bis er sich fertig eingekuschelt hat. Dann beginne ich leise zu singen.   Tief unten, Im Meer, Im bunten Riff, Wer lebt dort wohl? Es ist die kleine Meerjungfrau, In ihrem Muschelsplitterhäuschen.   Sieh, Wie sie mit den Wellen schwimmt, Hör, wie lieblich sie singt, Ein kleines Wunder im Meer.   Ich beobachte, wie Pons Atem gleichmäßiger wird, während er mit geschlossenen Augen den Versen lauscht. Er ist nicht bloß eine Erinnerung an Cyle – sein fröhliches Lächeln und kindlicher Witz haben sich längst einen eigenen Platz in mein Herz gebrannt. Seufzend streiche ich ihm eine Locke aus der Stirn. Wenn seine Familie nur wüsste, wie tapfer er ist.   Sieh, Wie ihr Haar schimmert, Hör, Wie klar ihre Stimme ist, Ein kleines Wunder im Meer.   Tief unten, Im Meer, Im bunten Riff, Dort lebt die kleine Meerjungfrau, Sie schwimmt mit den Wellen. Ewig.   Als die Schlussnote verklingt, ist Pon eingeschlafen. Müde bette ich den Kopf neben seinem auf das Kissen. Sämtliche meiner Glieder wiegen tonnenschwer und hindern mich daran, zu gehen. Ich beobachte das Bild, welches er statt der Stadtansicht eingestellt hat. Ein großer Mond steht über einem in den Schatten liegenden Feld. So schön und so falsch, genau wie das künstliche Meer. Stumm wie ein Avox, nicht einmal ein Flüstern zu hören. Mit diesem letzten Gedanken drifte ich langsam in den Schlaf.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)