Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 10: Flüsterndes Meer ---------------------------- Ich blicke auf das ruhige Meer. Scheinbar endlos erstreckt es sich vor mir. Bis zum Horizont und weiter. Seufzend betrachte ich die zarten Wellen, die sich nicht unweit von mir am Strand brechen. Über all dem liegt der Schein der untergehenden Sonne. Es ist perfekt. Und nicht echt, nur eine Projektion des Kapitols. Erinnerungen an Distrikt vier steigen auf, obwohl der Sand in der Bucht dort nicht so ebenmäßig aussieht. Aber egal, wo das Meer ist - bei seinem Anblick fühle ich mich zuhause. Gegen den breiten Fensterrahmen gelehnt, genieße ich den Ausblick noch ein wenig länger. Vorsichtig löse ich mein Medaillon vom Hals. Im Licht der tiefroten Sonne erscheint mir sein goldener Glanz umso intensiver. Wie ein warmer Tropfen Honig glüht es unter den Strahlen. Ich öffne den Verschluss und betrachte das Bild, das mein Vater hineingelegt hat. Bei dem Anblick überkommt mich diesmal ein friedliches Gefühl, anstelle der Tränen. Schon zu viele sind geflossen. Ich hoffe bloß, dass es ihm und Cyle gut geht. Und dass mein Andenken in ihren Herzen unbeschadet überdauern wird. Doch in dem Medaillon ist noch etwas anderes, das mir nun in den Schoß fällt – Davids Abschiedsbrief. Nicht einmal zwei Tage sind seither vergangen und trotzdem ist die Erinnerung daran an den Rand meines Bewusstseins verdrängt worden. Nicht weil ich vergesse. Sondern weil das Kapitol keinen klaren Gedanken mehr zulässt. Jede Sekunde ist so voller Aufregung – immerzu drehen sich alle Überlegungen bloß darum, wie ich sterben werde und was in den Hungerspielen auf mich wartet. Wie erging es meiner Familie wohl, als sie die Wagenparade gesehen haben? Ich werde es nie erfahren. Mit einem Kloß im Hals falte ich den Zettel auseinander. Mein Herz wird immer nur dir gehören. Nur diese paar Worte. Mehr brauche ich nicht, um seine Gefühle zu verstehen. Wir kennen einander in- und auswendig. Die kleine Zeichnung des Bootschuppens dazu, in dem wir seit unserer Kindheit jeden Nachmittag verbracht haben, lässt mich endgültig zur Ruhe kommen. Wenigstens diese schönen Momente kann mir keiner nehmen. Ich schließe die Augen und lasse meine Gedanken wandern, zurück zu der Zeit in Distrikt vier. Ich erinnere mich an einen verregneten Nachmittag, an dem David und ich heimlich zum Strand gelaufen sind und im Regen getanzt haben. Danach waren wir beide eine Woche krank, doch ich werde nie vergessen, wie schön dieser Tag war. Oder die unzähligen Stunden, in denen wir gemeinsam Taue und Segel für die Schiffe flickten, stets in fantasievolle Geschichten über Tiefseemonster versunken. Damals war das Leben so einfach, jede mögliche Entwicklung schien vorhergezeichnet. Die Hungerspiele lauerten zwar im Hintergrund, eine dunkle Wolke, die sich einmal im Jahr vor unsere Sonne schob. Aber nach der Ernte kam das Glück immer zurück. Bis jetzt. Zwischen die Erinnerungen an David drängen sich Bilder aus der Schule und wie wir im Unterricht das erste Mal die Spiele gesehen haben. Es waren jene, die Amber gewonnen hat. Manche Szenen kann ich heute noch vor meinem inneren Auge sehen. Wie ihre Hände sich um den Hals eines Tributs schlingen und den lila Farbton, den sein Gesicht annimmt. Seitdem mag ich keine Blaubeeren mehr. Kurz darauf kamen Finnicks Spiele. Ich erinnere mich, wie alle in der Schule aufgeregt darüber getuschelt haben, dass sich ein Junge aus unserer Stufe freiwillig gemeldet hat. Die meisten fragten höhnisch, ob er sich umbringen wolle. Wieder andere waren traurig, dass ausgerechnet der beliebte Finnick Odair, dem immer ein Witz auf den Lippen lag, bald sterben würde. Da er mir nie zuvor aufgefallen war, berührte mich seine Entscheidung wenig. Anders sieht es da mit seinen Spielen aus. Ich erinnere noch genau, wie wir auf dem großen Schulhof stehen und verfolgen, wie er sich durchschlägt. Jeder Tote auf seinem Weg wurde von einer Welle des Jubels begleitet. Als ich es nicht mehr aushielt, rannte ich davon. Darauf folgte der erste Streit mit David. Er konnte nicht verstehen, warum ich Finnick nicht zujubeln wollte. Nur mit Mühe kann ich mich aus dieser Gedankenspirale ziehen, indem ich über Davids Zeichnung auf dem Papier fahre. Wieso nur wird jede Erinnerung an ihn davongetragen wie ein Blatt im Wind, um stattdessen die Hungerspiele hereinzulassen? Ungebeten drängt sich mir wieder der Gedanke an Finnick auf. Nicht an den Jungen von damals – weder an den blutbefleckten Karriero, noch den gebrochenen Sieger – sondern an den verwirrenden Mentor, der er heute ist. An das strahlende Lächeln, unter dem so viel mehr lauert. Warum bringt jede Überlegung mich zurück zu ihm, obwohl ich ihn nicht leiden kann? Es führt zu nichts, weiter zu träumen, denn ein sanfter Gong ruft zum Abendessen. Ich gleite vom Fensterbrett. Die Sonne auf dem elektronischen Fenster hat sich inzwischen blutrot gefärbt und die Simulation nähert sich genau so dem Ende wie dieser Tag. Mit einem Druck auf Glas verschwindet das Bild von dem Meer und was bleibt, ist der dunkle Anblick des Kapitols unter einem sternenlosen Himmel. Ich realisiere, was mir gefehlt hat, kurz bevor ich durch die Tür schlüpfe. Das Flüstern des Meeres.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)