Meeresflüstern von Coronet (Die Hungerspiele der Annie Cresta) ================================================================================ Kapitel 8: Der Blumenkranz -------------------------- Eine riesige Sonne strahlt mir direkt ins Gesicht. Oder sind es doch nur Scheinwerfer? Ich erkenne nichts, als wir das Erneuerungscenter verlassen. Überall ist Licht und Lärm. Beinahe vergesse ich, mich am Wagen festzuhalten, und falle hinab. Haltsuchend greife ich nach der Rosendekoration und umklammere sie mit der freien Hand, während ich mit der anderen den Dreizack halte. Jubel und Geschrei drängen von überall auf uns ein. Musik dröhnt. Es braucht einen Moment, bis ich mich zurechtfinde. Vor uns erstreckt sich die lange Hauptstraße des Kapitols, genannt Korso, beleuchtet von unzähligen Lichtmasten. Auf riesigen Tribünen entlang des Weges sitzt unser buntgekleidetes Publikum und jubelt uns frenetisch zu. Es ist unmöglich, sich zu entscheiden, wohin man zuerst sieht. Rufe und Lichter prasseln erbarmungslos auf mich ein wie Gewitterregen. Genau jetzt würde ich am liebsten Zuhause am Strand sitzen, weit weg von allen Menschen. Finnick Odairs Worte kommen mir wieder in den Sinn. Schön und stark. Ich muss mein Bestes geben. Wenigstens für diejenigen, die mir in Distrikt vier zusehen. Auf einer riesigen Leinwand wird live unser Wagen übertragen. Auf der linken Seite ist eine Großaufnahme von Pon zu sehen, der breit lächelnd den Massen zuwinkt und sie in seinen Bann zieht. Auf der rechten Seite bin ich, mit zusammengepresstem Kiefer und schreckensgeweiteten Augen, bleich wie eine Ertrunkene. Ich hebe mühsam die Mundwinkel und beobachte, wie sich das Bild langsam verändert. Wieder einmal hilft mir Odairs Tipp, indem ich mich der Vorstellung hingebe, dass diese Leute nicht auf unseren Tod warten, sondern dass wir längst ihre Helden sind. Mit jedem Meter, den wir zurücklegen, verschwindet mein altes Selbst mehr. Ab sofort bin ich nur noch Annie, die Tributin. Ich löse die Hand vom Rand des Wagens und fühle, wie ein Teil der Anspannung mich verlässt, als ich der Menge zuwinke. Mein schönstes Lächeln auf den Lippen, winke ich erst zaghaft, dann aber immer überzeugender. Das Publikum macht es zum Glück einfach, denn sofort höre ich hunderte Menschen nach mir rufen. Zu meiner Linken verteilt Pon inzwischen lässige Handküsschen, was allerlei begeisterte Schreie unter den Zuschauern auslöst. Einen abwegigen Moment lang überlege ich, ob ich auch Küsschen verteilen könnte, komme dann aber zu dem Schluss, dass ich es nicht übertreiben sollte. Die Kameras lassen von uns ab, um sich auf die nachfolgenden Wagen zu richten, und genauso schnell, wie sie uns geliebt haben, wendet das Publikum sich den nächsten Tributen zu. Vorsichtig atme ich aus. Jetzt, wo wir nicht länger im Fokus stehen, geht es mir schon viel besser. Dennoch werfen die Leute uns immer noch eifrig Blumen zu. Von überall her kommen sie geflogen, die verschiedensten Arten von ihnen. Die meisten landen an den Seiten der Straße, außerhalb unserer Reichweite. Das ist auch besser so, sonst müssten wir uns in Acht nehmen, besonders vor den geliebten Rosen des Präsidenten mit ihren Dornen. Der überwiegende Teil des Publikums ist erwachsen, doch vereinzelt sehe ich Kinder, die mit großen Augen dem bunten Treiben folgen. Ich bezweifle, dass sie begreifen, was hier geschieht. In ihren runden Gesichtern steht nur Begeisterung für die aufregenden Kostüme geschrieben. Ihnen kann ich kaum böse sein. Sie können nichts dafür, hier aufzuwachsen. Ich lächle einem kleinen Mädchen zu, das in ein wahrlich buntes Blumenmusterkleid gehüllt ist und einen dazu passenden Blumenkranz trägt. Schon die Jüngsten werden hier auf den Modezirkus vorbereitet. Erstaunt sieht sie mich an, dann breitet sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus. Sie zupft am Ärmel ihrer Mutter und stupst sie an, doch deren Aufmerksamkeit ist ganz bei den Tributen aus Distrikt Zwölf, die gerade alle mit ihrer Nacktheit verblüffen, wie uns die Leinwände zeigen. Vermutlich muss ich Roan danken, dass er mir immerhin noch einen Rest Stoff zugestanden hat, um meine Würde zu bewahren. Wir nähern uns dem zentralen Platz vor dem Trainingscenter und ich winke ein letztes Mal dem Mädchen zu. Sie lässt von ihrer Mutter ab. Aber anstatt zurückzuwinken, rupft sie sich den Blumenkranz aus dem Haar und pfeffert ihn in meine Richtung. Hastig beuge ich mich weit nach vorne, so dass unser Streitwagen in eine fast schon bedrohliche Schräglage gerät, und fange den Kranz auf, bevor er auf der Straße landet. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht weil sie die Einzige ist, die mich nicht voller Erwartung an einen spektakulären Tod ansieht. Der Blumenkranz ist genauso gearbeitet, wie die, die ich früher immer geflochten habe. Irgendwie schön, dass wir uns wenigstens darin gleich sind, die Distriktkinder und die Kapitolkinder. Insgeheim frage ich mich, ob es noch mehr Gemeinsamkeiten gibt? Vorsichtig lege ich mir den Kranz auf mein rotes Haar und nicke dem Mädchen zu, das gerade von ihrer Mutter ausgeschimpft wird, wohl weil es seinen Blumenschmuck weggeworfen hat. Als sie sieht, wie ihre Tochter mir zulächelt, dreht auch sie sich um und betrachtet mich. Für einen Moment sehe ich niemand anderen als die Mutter, wie sie traurig dem Mädchen über den Kopf streichelt. Sie weiß, dass ich bald sterben werde, im Gegensatz zu ihrem Kind. Ich frage mich, ob die Kleine die Hungerspiele in diesem Jahr wohl sehen wird. Oder ob sie überhaupt ahnt, warum wir hier sind. Meine Gedanken werden von den beiden losgerissen, sobald unser Wagen eine Kurve beschreibt und der zentrale Platz in Sicht kommt. Ich muss zugeben, dass all die hohen Gebäude, die ihn umgeben, beeindruckend sind, besonders das zwölf Stockwerke große Trainingscenter. Davor thronen auf einer gewaltigen Tribüne die wichtigsten Menschen dieses Landes, Präsident Snow und seine Entourage an engsten Vertrauten, Stylisten und Spielmacher. Berauscht von all den Sinneseindrücken und Erlebnissen kommt mir eine gewagte Idee. Ich stupse Pon leicht an und deute auf unsere Dreizacke. Wenn wir die Dinger schon haben, können wir sie auch nutzen. »Auf drei?« Pon versteht sofort und nickt begeistert. Ich richte den Blick auf das Podium mit dem Präsidenten und flüstere leise: »Eins, zwei … drei!« Langsam heben wir unsere Dreizacke in die Höhe. Nicht zeitgleich, wie ich aus dem Augenwinkel registriere, denn Pon zögert einen Moment, aber das Ergebnis zählt. So müssen sich stolze Karrieros fühlen, denke ich, als wir die Plastikwaffen in die Luft recken und wie eine Fackel hochhalten. Das Lächeln vergesse ich auf diesen letzten Metern, stattdessen haftet mein Blick starr auf der finalen Tribüne und damit Präsident Snow. Wenigstens erscheine ich so weniger wie ein wehrloses Opfer. Unser Wagen wird immer langsamer. Die sorgsam dressierten Pferde scheinen zu wissen, dass hier Endstation ist. Unmittelbar vor uns erhebt sich das Trainingscenter, in dem wir die nächste Woche verbringen werden. Die letzte Woche ihres Lebens für dreiundzwanzig von uns. Ich schlucke. Die Pferde bleiben stehen und wir kommen direkt vor dem gewaltigen Eisentor des Gebäudes zum Halt. Ein endgültiger Tusch erklingt, dann versiegt die Musik. Stille senkt sich über den Platz. Das Tor öffnet sich nur zweimal im Jahr. Beim ersten Mal verschwinden vierundzwanzig Tribute hindurch, doch beim zweiten Mal kommt nur einer von ihnen wieder heraus, um alleine in seinen Distrikt heimzukehren. Auf allen Bildschirmen wird nun Präsident Snow eingeblendet, wie er sich zu seiner üblichen Ansprache erhebt. Jeder, der alt genug ist, kennt die Rede auswendig, in der er uns sämtliche Verfehlungen der Vergangenheit vorhält und wiederholt, warum die Hungerspiele unsere gerechte Strafe sind. Nur hat diese Rede auf jeden eine unterschiedliche Wirkung. Während die Tribute aus Eins und Zwei regelrecht begeistert sind und ein blonder Karriero sogar alle Wörter mitsprechen kann, sind die aus den ärmeren Distrikten, wie Drei und Sechs, in einer Schockstarre und starren gebannt hoch zum Präsidenten. Mein Blick und der des Jungen aus Neun, der mich bei der Ernte so beeindruckt hat, treffen sich. Einen Moment lang taxieren wir einander, dann nickt er knapp und wendet sich ab. Wie ich beobachtet er lieber die anderen. Besonders die Tribute aus Distrikt elf und zwölf sind wahnsinnig angespannt, was angesichts ihres Alters kein Wunder ist. Zusätzlich zu Präsident Snow werden jetzt auch wieder unsere Gesichter übertragen. Ich versuche, möglichst gelassen auszusehen, als die Kameras auf mich und Pon draufhalten, doch das ist gar nicht einfach. Mit Staunen bemerke ich, dass sich die roten Haare in der einbrechenden Dunkelheit bezahlt machen, da sie unter dem Scheinwerferlicht schimmern wie flüssiges Feuer. Mein Gesichtsausdruck erscheint da eher zweitrangig. »Mögen wir auch dieses Jahr wieder spannende Spiele erleben und einen rumreichen Sieger unter diesen vierundzwanzig tapferen Mädchen und Jungen finden!«, beendet Präsident Snow begleitet von lautem Jubel seine Rede. Die Nationalhymne folgt und wir drehen eine letzte Runde um die sogenannte Siegessäule, die den Mittelpunkt des zentralen Platzes markiert. Sie illustriert eindrucksvoll das Ende des Krieges und glänzt ganz in Weiß und Gold. Ehe ich mich versehe, ist die Runde schon vorbei und unser Wagen wird von dem Tor zum Trainingscenter verschluckt. In der riesigen Halle dahinter wartet bereits das versammelte Vorbereitungsteam, das sich voller Begeisterung auf uns stürzt. Sogar Roan sieht erfreut aus. Von allen Seiten stürmen sie gleichzeitig auf uns ein, sodass ich gar nichts mehr verstehe. Lediglich unser Grüppchen an Mentoren, jetzt inklusive Trexler und Floogs, hält sich dezent zurück. Erst als sich das Knäuel von Stylisten um uns löst, nickt Amber mir mit hochgezogenen Augenbrauen zu. Odair beachtet unsere Ankunft jedoch nicht weiter, seine Aufmerksamkeit widmet er lieber den fremden Tributen. Irgendwie ärgert mich das ziemlich. Aber getragen von der Hochstimmung der Parade, sehe auch ich mir meine Gegner zum ersten Mal richtig an. Die Karrieros haben sich bereits zusammengefunden. Kichernd stupsen sie einander an und deuten auf die Jüngeren unter uns. Die meisten von denen machen, dass sie wegkommen und fliehen mit ihren Teams in Richtung Fahrstühle. »Ihr habt im Training noch genug Zeit, euch zu beschnuppern«, verkündet Cece fröhlich und scheucht auch Pon und mich vom Streitwagen. Riesige, gläserne Aufzüge warten darauf, uns Tribute nach oben zu bringen. Jeder Distrikt hat eine gesamte Etage für sich. Demzufolge sind wir in einer der unteren Ebenen, die über einen wenig spektakulären Ausblick verfügt, wenn man Cece Glauben schenkt. Darüber bin ich eigentlich ganz froh, denn weit oben fühle ich mich nicht wohl. Schon die Fahrt in dem gläsernen Fahrstuhl finde ich beängstigend, da man sieht, wie der Boden verschwindet. Mit einem dezenten Ping spuckt uns der Aufzug schließlich in der vierten Etage wieder aus. Beeindruckt von der riesigen Fläche, die allein uns zur Verfügung steht, drehe ich mich einmal im Kreis. Schon der Eingangsbereich ist gigantisch. In Distrikt vier würden hier mehrere Familien Platz finden. Staunend gehe ich zu einem der Fenster, die vom Fußboden bis zur Decke reichen. Trotz Ceces Warnung stelle ich fest, dass sich die vierte Ebene ein gutes Stück über den umliegenden Gebäuden befindet. Selbst von hier unten kann ich den gesamten Korso in all seiner Pracht erkennen. Als ich meine Fingerspitzen auf die Glasscheibe lege, verändert sich der Ausblick plötzlich. Wo eben noch das Kapitol im Abendrot erstrahlte, erstreckt sich nun eine lange Straße, auf der lauter buntgekleidete Menschen flanieren. Erschrocken weiche ich zurück und betrachte irritiert das Geschehen, bis Amber sich neben mich stellt und abfällig schnaubt. »Herzlichen Glückwunsch, du hast herausgefunden wie der Zoom funktioniert.« »Was für ein Zoom? Ist das ... echt?« Ich höre ein Räuspern hinter mir und Floogs gesellt sich zu uns. »Wenn du die Scheibe berührst und die Finger auseinanderziehst, kannst du näher an eine Stelle heranzoomen und das Geschehen dort beobachten«, erklärt er hilfsbereit. »Bis auf wenige Meter«, ergänzt Trexler, der ihm offenbar auf Schritt und Tritt folgt. Ich habe die beiden wirklich noch nie getrennt gesehen, fällt mir auf. »Mach das bloß weg«, grummelt Amber und wendet sich ab. »Bei dem Anblick wird mir ganz schlecht.« Floogs tippt ein wenig auf der Scheibe herum und erneut verändert sich die Szenerie. Ein goldenes Feld, das sich unter blauem Himmel in die endlose Weite erstreckt, erscheint. Staunend betrachte ich das Bild, das täuschend real scheint. »Wow …«, entfährt es mir, »als wäre es echt!« »Das ist das einzige Talent des Kapitols«, höhnt Amber. Floogs und Trexler seufzen fast synchron, wofür sie einen bissigen Blick von ihr ernten. Mit lauten Schritten stampft sie in einen dunklen Flur davon. »Keine Sorge, sie ist zu jedem so«, versucht Floogs mich ein wenig aufzumuntern. »Dafür kann sie kämpfen wie sonst keiner von uns.« Auch wenn ich das nicht unbedingt beruhigend finde, schenke ich ihm ein Lächeln. Ich beschließe, dass Floogs in Ordnung ist. Cece, die jetzt auf einer kleinen Empore steht, auf der sich ein großer Esstisch befindet, klatscht in die Hände und bittet uns, ihr einen Moment Aufmerksamkeit zu schenken. »Heute Abend exakt um zwanzig Uhr gibt es Abendessen und keine Minute später! Diese Gelegenheit werden wir nutzen, um endlich unsere Taktik zu besprechen, damit wir ordentlich Sponsoren für euch finden! Bis dahin habt ihr Freizeit. Erkundet ruhig unsere Ebene!« Unschlüssig sehe ich den anderen nach, die alle in ihre Räume gehen. Ich frage mich, was man hier schon unternehmen soll – abgesehen davon, den Ausblick zu genießen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)