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Meeresflüstern

Die Hungerspiele der Annie Cresta
von

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Haltung bewahren

Den kurzen Fußweg, der uns zu dem Zug bringt, legen wir schweigend zurück. Nur Cece ist bei uns, die Sieger sind offenbar schon fort. Friedenswächter in weißen Rüstungen säumen den Weg. Sie stehen den Rücken zu uns gewandt Spalier, um die Bevölkerung zurückzuhalten, aber das ist gar nicht notwendig, denn die meisten Bürger sind bloß stumme Zeugen unserer Abführung. Hin und wieder lese ich Dankbarkeit in den Gesichtern, dass es sie nicht getroffen hat.

Die Sonne hat ihren Zenit mittlerweile überschritten und brennt erbarmungslos auf uns herab, einem Scheinwerfer gleich, der die Szene für die Kameras ausleuchtet. Ihr gnadenloses Licht lässt keinen Fehltritt zu.

Bereits nach wenigen Schritten bereue ich die Tränen, die während der Verabschiedung geflossen sind. Sie glitzern verräterisch unter den Sonnenstrahlen und offenbaren jedem Zuschauer meine Schwäche. Ich versuche, das Gesicht vom Publikum abzuwenden, damit das betroffene Starren der Leute mich nicht länger verfolgt.

Den Kameras, die von bunt schillernden Kameramännern in käferartigen Anzügen getragen werden und die jede Sekunde dieses Weges aufzeichnen, denen entgehen meine Tränen genauso wenig. Auf der Suche nach dem perfekten Bildmaterial laufen die Männer um mich und Pon herum, knien sich auf den Boden und halten schonungslos auf unsere Gesichter drauf.

In diesem Moment werden die Aufnahmen vermutlich im Kapitol gezeigt und die Tränenspuren auf meinen Wangen dominieren in voller Größe die Leinwände. Kein gelungener Start für diese unfreiwilligen Hungerspiele.

Dank der zahlreichen Karrieretribute im Distrikt weiß ich genau, was wichtig ist, um die Spiele zu überleben, und ich begehe so ziemlich jeden Fehler, den es gibt. Der erste Auftritt eines Tributes ist maßgeblich dafür, mit wie vielen Sponsoren man rechnen darf. Wer sich als zimperlich präsentiert, gewinnt selten die Gunst des Publikums. Und wer es nicht schafft, die Bevölkerung des Kapitols zu überzeugen, dem wird das Glück in der Arena erst recht nicht hold sein.

Letztenendes bestimmen die Zuschauer die Hungerspiele. Ihr Geld geben sie nur dem, der seine Rolle am besten spielt. Zwar ist es nicht unmöglich, ohne Unterstützung zu gewinnen, doch das geschieht nur äußerst selten. Den meisten Tributen gehen die Lebensmittel zu schnell aus, oder sie schaffen es gar nicht erst, an eine Waffe zu gelangen. Gibt es dann keinen spendierfreudigen Sponsor, haben sich die Spiele bei den stärksten Kandidaten schon unschön entwickelt.

Ob es wenigstens Pon gelingt, das Publikum für sich einzunehmen? Möglichst unauffällig riskiere ich einen Blick auf meinen Mittribut. Auch er scheint einige Tränen vergossen zu haben, doch im Gegensatz zu mir, versucht er nicht, sie zu verbergen. Stattdessen hat er sein Haupt trotzig erhoben und blickt direkt in die ihn konfrontierenden Kameras, allerdings lächelt er nicht.

Er ist merklich um eine selbstbewusste Haltung bemüht, aber seine Schultern sind verspannt und die Hände, die er zu Fäusten geballt hat, zittern leicht. Trotzdem gibt er einen besseren Eindruck ab als ich. Nur die Tatsache, dass die Kameramänner in die Knie gehen müssen, damit sie auf einer Höhe mit ihm sind, erinnert mich daran, dass er erst zwölf – ein Kind – ist.

Jetzt schwenken die Kameras zumindest kurzzeitig von uns ab, um stattdessen das Gebäude einzufangen, dass sich vor uns erhebt. Strahlend weiß leuchtet es in der Sonne – der Bahnhof. Gläserne Türen mit elegant geschwungenen Griffen, roter Teppich in der Lobby und reichlich goldene Verzierungen an der Fassade zeigen deutlich, dass dieser Bau, ebenso wie das Rathaus, aus der Hand des Kapitols stammt.

Hier kommen die Besucher aus der Hauptstadt an, da wäre alles unter diesem Niveau undenkbar. Der Frachtbahnhof, in dem die großen Container mit Eis und dem frischem Tagesfang gefüllt werden, dem hingegen mangelt es an jeglichem Glanz. Der Gestank von totem Fisch weht dort durch die zugigen Hallen und alles ist von grauer Farbe.

Den Bahnhof für den Personenverkehr habe ich noch nie betreten, denn wir Leute aus den Distrikten können nur mit besonderer Genehmigung verreisen. Der einzige Zug, mit dem wir fahren, ist der Frachtzug. Und selbst dieses Vergnügen ist nur jenen vorbehalten, die dafür eine Lizenz aus dem Kapitol erhalten haben und sie dürfen niemals aussteigen.

Ich kenne niemanden, der bloß einmal in seinem Leben mit so einem Zug gefahren ist oder gar die Hauptstadt gesehen hat. Meine Familie zählt zu den glücklichen mit einem eigenen Boot und tagein, tagaus haben wir die Zeit auf dem Meer verbracht, auf der Suche nach neuen Fischgründen.

Neben den weit geöffneten Türen des Bahnhofes sind zwei Leinwände aufgebaut, ähnlich denen bei der Ernte. Sie zeigen dem gesamten Distrikt die letzten Meter auf unserem Weg in Überlebensgröße. Zum ersten Mal wird mir der Anblick vorgeführt, den ich Panem gerade biete und Bestürzung macht sich in mir breit.

Meine Augen sind tiefrot, die Schultern hängen durch und auch sonst vermittle ich einen hilflosen Eindruck, der sich nicht einmal ansatzweise verbergen lässt. Die Verabschiedung von allen, die ich liebe, verlangt ihren Preis. Mehr noch – der Abschied von meinem Leben. Bis eben war mir nicht klar, dass dieser Ort das Letzte sein wird, was ich von Distrikt vier sehe, bevor der sichere Tod wartet.

Schon laufen wir auf die breiten Treppenstufen des Bahnhofs zu. Hektisch drehe ich mich um und suche die Menge nach einem bekannten Gesicht ab. Das darf nicht meine letzte Erinnerung an die Heimat sein! Aber alle Leute, die sich hinter den Reihen der Friedenswächter drängen, sehen gleich teilnahmslos aus. Selbst wenn David da wäre, wie sollte ich ihn in dem Meer aus Menschen erkennen?

Schon werde ich weitergestoßen. Es ist keine Zeit, stehen zu bleiben und gar rührselige Verabschiedungszeremonien zu zelebrieren. Wir sollen in das Kapitol, so schnell wie möglich. Die Zähne fest aufeinandergepresst, richte ich den Blick auf Ceces wackelndes Perückenungetüm in weiter Ferne und setze den Weg fort.

Vielleicht kann ich mit diesem Moment der Schwäche später doch Sympathien gewinnen, wenn ich im Interview davon erzähle, wie ich meinen Verlobten zurückgelassen habe. Mitleid ist besser als keine Sponsoren, denn die werde ich brauchen …

Fast stolpere ich aufgrund meiner wirr umher tanzenden Gedanken über die Stufen hinauf zum Bahnhof. Benommen fange ich mich und folge zügig Cece und Pon, den Blick wie unter Scheuklappen direkt auf das Ziel gerichtet. Endlich lassen wir die gesichtslose Menge hinter uns und ich muss nicht länger darum kämpfen, etwas vorzugeben, das ich nicht empfinde.

Als wir in die kühle Bahnhofshalle eintreten, senke ich den Blick gen Boden und betrachte meine Füße, die mich mit unsicheren Schritten immer näher dem Zug entgegentragen. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, als ich höre, wie die Glastüren hinter uns geschlossen werden. Da sind Trauer und andere Gefühle, die ich nicht benennen kann, da ich sie nicht einmal völlig erfasse. Ich gehe in die Hungerspiele. Ich, Annie Cresta. Jetzt, in diesem Moment.

Wir treten aus der Haupthalle hinaus auf den Bahnsteig. Der Zug ist ein riesiges, rot-schwarzes Ungetüm, der einen imposanten Anblick bietet. Seine Form erinnert an die Fische, die in den kleinen Lagunen am Rande der Salzwiesen schwimmen. Die Fenster sind verspiegelt, sodass man von außen nicht hereinsehen kann. Nicht, dass wir an bewohnten Gegenden vorbeifahren würden. Für uns geht es direkt ins Kapitol, ohne Umwege durch die übrigen Distrikte.

Ein sachter Stoß in den Rücken erinnert mich daran, weiter zu laufen. Die Friedenswächter wagen es nicht, uns vor den Kameras allzu hart anzupacken. Das würde dem Publikum in der Hauptstadt nicht gefallen.

Doch ich kenne die Schattenseiten, aus den Zeiten, wenn niemand zusieht. Strafen sind im Distrikt an der Regel. Nur, weil wir einer der Lieblinge des Kapitols sind, heißt das nicht, dass wir viele Freiräume haben. Die Soldaten in der weißen Rüstung umgeben uns immerzu, vierundzwanzig Stunden am Tag, jede Woche, jeden Monat.

Nie werde ich den Tag vergessen, als mein Vater Cyle das Fischen beibringen wollte. Normalerweise müssen alle Ausflüge auf das Meer außerhalb der regulären Arbeitszeit beglaubigt werden, da man sonst einer Verurteilung wegen Ressourcendiebstahls entgegensieht. Diese Erlaubnis besaß er nicht, da sie den Wert von einem Monatsgehalt hat. Pure Verschwendung.

Mein Vater hat sich extra eine abgeschiedene Bucht ausgesucht, um Cyle den Umgang mit dem Fischerspeer beizubringen. Doch sie wurden erwischt und die Friedenswächter brachten ihn ins Gefängnis. Den kleinen Cyle schickten sie alleine nach Hause. Es brauchte ganze fünf Tage, bis unser Vater abgemagert und am Ende seiner Kräfte zu uns zurückkehrte. Seitdem sind wir darauf bedacht, den Soldaten des Kapitols aus dem Weg zu gehen.

Vor mir öffnet sich jetzt die Tür des Zuges und offenbart den dunklen Einstieg. Als Erste betritt Cece den Zug, dann folgen nacheinander Pon und ich über die metallenen Stufen. Die Kameras und Friedenswächter bleiben draußen, nehmen ein letztes Mal auf, wie wir uns auf der Schwelle umdrehen und beide stumm winken. Keiner von uns hat Abschiedsworte. Ich wüsste ohnehin nicht, was es zu sagen gibt, wenn man seinem Tod entgegenfährt. Schweigen ist vermutlich besser.

Die Stufen werden eingefahren, ein warnendes Piepen ertönt und wir werden aufgefordert, von der Tür zurückzutreten. Mit einem Zischen gleitet diese zu. Das Licht von draußen wird abgeschnitten und wir stehen im Dunkeln.

Angespannt atme ich aus und das letzte bisschen Haltung verlässt mich endgültig. Meine Schultern sacken nach unten und ich schlinge Halt suchend die Arme um den Oberkörper. Der Gedanke an ein warmes Bett, am besten Zuhause, erscheint mir unglaublich verlockend. Nur ist das in weite Ferne gerückt. Ab sofort ist es mein Schicksal, ein Tribut zu sein.

Es flackert kurz und dann flutet strahlendes Licht das Zuginnere. Lächelnd steht Cece unter dem Schein der Lampe und mustert uns für einen Moment, ehe sie begeistert in die Hände klatscht. Erschrocken zucken Pon und ich zusammen.

»Willkommen an Bord des Zuges Richtung Kapitol, meine Lieben!« Freudestrahlend sieht sie erst Pon, dann mich an. »In einer halben Stunde gibt es ein vortreffliches Abendessen, genau hier«, sagt sie, während sie auf eine Schiebetür hinter sich deutet, »in unserem Speisewagen. Zieht euch etwas Feines an, macht euch frisch, was immer euch beliebt. Eure Abteile sind den Gang runter, links für Annie, rechts für Pon!«

Sie schickt sich an, in einen anderen Waggon zu gehen, dreht sich dann aber doch noch einmal um und ergänzt: »Wir haben bereits ein paar Sachen rausgesucht. Nutzt die Zeit für euch. Ihr werdet nicht mehr oft alleine sein.«

Ceces Lächeln lässt nach. Sie strahlt längst nicht so sehr wie auf der Bühne. Aus der Nähe betrachtet ist sie bloß eine Frau auf besonders hohen Schuhen, deren Make-Up zu dick aufgetragen ist.

Stumm nickte ich und betrachte, wie sie davon stöckelt, ehe mir bewusst wird, wie kalt es hier drinnen ist. Draußen kann man fast an Land schwimmen, so schwül ist es, doch in dem Waggon, der komplett in dunklen Farben ausgestattet ist, herrschen Temperaturen wie in einem Gefrierabteil, die mir eine Gänsehaut bescheren.

In diesem Moment ruckt es auch schon und ich erkenne durch das Fenster, dass wir uns behäbig in Fahrt setzen. Zuerst im Schneckentempo zieht der kleine Bahnsteig vor meinen Augen vorbei, dann werden wir immer schneller und die Friedenswächter unschärfer, bis wir schließlich auslaufen und zwischen den letzten Häusern hindurch fahren. Es gibt keine Punkte in der Landschaft mehr, die man ausmachen könnte, alles zieht immer rasanter an uns vorbei. Wir verlassen Distrikt vier.

Als ich mich auf den Weg ins Abteil mache, ist Pon bereits fort. Meine Unterkunft lässt sich schnell finden. Ein Messingschild neben der Tür verkündet, welches ‚Annies Abteil‘ ist. Es hat augenscheinlich nicht lange gebraucht, das alte Schild meiner Vorgängerin durch ein neues zu ersetzen.

Die Tür gleitet vor mir auf und ich finde mich in dem wohl luxuriösesten Raum wieder, den ich je gesehen habe. Weicher Teppich bedeckt den Boden, die Wände sind mit Holz getäfelt und von der mit Stuck besetzten Decke hängt ein elektrischer Kronleuchter.

In der Mitte des Raumes thront das Bett, ein wahres Monstrum. Zwei schwere Daunendecken und unzählige Kissen türmen sich darauf. Zuhause habe ich zwar den Luxus eines eigenen Betts genossen, doch dieses hier ist doppelt so groß. Überwältigt werfe ich mich auf die frischen Laken und es federt es zurück. Es fühlt sich an, als würde ich schweben, so weich und anschmiegsam ist die Matratze.

Einen Moment liege ich bloß da und starre an den perlenbehangenen Kronleuchter. Doch sobald ich die Augen schließe, tauchen wieder mein Vater, Cyle und David auf. Ich fasse nicht, wie weit weg sie schon sind. Eben erst haben wir uns noch gesehen.

Vor allem bei Papa und Cyle sind meine Gedanken, denn um David mache ich mir – komischerweise – weniger Sorgen. Er wird klarkommen, das spüre ich. Sollte ich … nicht zurückkehren, so kann er immer noch eine Frau kennenlernen und mit ihr eine Familie gründen. Er ist ein liebenswerter Mann, sicher wird jemand anderes ihn genauso lieben, wie ich.

Vorstellungen vom Tod drohen, mich zu überwältigen. Bis eben hatte ich keine Zeit, zu überlegen, wie es sich wohl anfühlen wird. Tränen steigen wieder in mir auf, also stehe ich auf, um das Zimmer weiter zu erkunden.

Außer dem Bett gibt es noch einen Sekretär, auf dem ein Stoß cremefarbener Blätter und eine Schreibfeder liegen, eine große Kommode, sowie einen Nachttisch mit einer kitschigen Blumenvase voller Rosen. An der Wand gegenüber hängt ein bodentiefer Spiegel. An einem Haken daneben baumelt ein Bügel, über dem ordentlich gefaltet einige Kleidungsstücke hängen. Das sind vermutlich die von Cece benannten feinen Sachen für das Abendessen.

Allerdings hat sie mit keinem Wort erwähnt, dass wir uns nicht etwas anderes aussuchen dürfen. Ich ziehe wahllos eine Schublade der Kommode auf. Lauter Oberteile aus feinsten Stoffen liegen darin, farblich sortiert. Auffällig ist, dass sich die Auswahl auf grüne und blaue Teile beschränkt – die Standardfarben unseres Distrikts, wegen des Meeres.

In der Schublade darunter finde ich dazu passende Röcke und Hosen. Langärmelige Kleidung suche ich vergeblich, alles passt zu den Temperaturen draußen. Hoffentlich wird es noch wärmer in diesem Zug, andernfalls fange ich mir eine Erkältung ein, bevor die Hungerspiele überhaupt begonnen haben.

Mit einigen Verrenkungen schaffe ich es, den Reißverschluss meines roten Kleids zu erreichen und aufzuziehen. Interessiert wühle ich durch die vielfältigen Kleidungsstücke, ziehe komplizierte Wickelblusen und knielange Hemden hervor, bis ich mich für eine schlichte Bluse aus schillernd blauem Stoff und eine helle Hose entscheide.

Die Sachen sitzen wie angegossen, als wenn sie gewusst hätten, dass ich Tribut werde. Ein wenig unheimlich ist es schon, ebenso wie das rasch angebrachte Namensschild. Ob sie wohl jedes Jahr für alle erdenklichen Größen diese Kleidung schneidern und dann schnell die richtigen Sachen herbeischaffen? Woher wissen sie überhaupt, was mir passt?

Ich wage gar nicht, weiter darüber zu sinnieren. Stattdessen wende ich mich den Schuhen im untersten Fach der Kommode zu. Die restliche Zeit bis zum Abendessen verbringe ich damit, sie alle der Reihe nach anzuprobieren. Die meisten von ihnen haben Absätze und fühlen sich gänzlich falsch an meinen Füßen an. Daheim habe ich nur flache Stiefel. Hohe Schuhe sind den Bewohnern des Kapitols vorbehalten – und Tributen.

An und für sich mag ich Kleider. Nicht solche, wie sie in der Hauptstadt populär sind. Schlichte Stücke aus weichen Stoffen, das gefällt mir. Mode, wie sie früher einmal getragen wurde, die ich nur aus den Schulbüchern kenne. Der Zirkus des Kapitols erscheint mir dagegen völlig verrückt und abgehoben.

Niemals würde ich mir die gesamte Haut färben lassen oder Ähnliches. Mit dem wenigen Geld, das mir jeden Monat blieb, habe ich immer versucht, die ganze Familie bequem und praktisch einzukleiden. Dazu habe ich in der Freizeit passende Accessoires aus Muscheln oder Treibholz gebastelt. Viele der Mädchen waren zwar neidisch auf diese Basteleien, aber richtige Freundinnen habe ich trotzdem nicht gefunden. Was mich nicht stört, ich bin gerne allein.

Die Suche nach einem passenden Schuh beschäftigt mich, bis es Zeit für das Abendessen ist, wie ein sanfter Gong verkündet. Mit weichen Schlappen ausgestattet, kehre ich zum Speisewaggon zurück, in dem außer Cece, die nun ein neues, weniger spektakuläres Kostüm trägt, bloß Finnick Odair sitzt.

Ihre Blicke haften auf mir, als ich ein leises »Guten Abend« nuschle und den Waggon durchquere. Möglichst weit von dem ehemaligen Sieger entfernt setze ich mich neben Cece, die Handflächen unter die Oberschenkel geschoben und die Schultern hochgezogen. Das Schweigen, genauso wie das Ausbleiben einer Begrüßung gefallen mir nicht. Ich fühle mich wie ein Fisch, der von der Lebensmittelkontrolle inspiziert wird.

Aber dann räuspert Cece sich mit einem langen Blick auf mein Outfit. »Hübsch siehst du aus.«

Aus der Ecke Odairs ertönt ein Lachen, laut und unpassend. »Falsch«, behauptet er dreist, »wunderhübsch, Cece.«

Röte steigt mir in die Wangen, obwohl sein Kompliment – wenn man es denn so nennen will – plump und viel zu offensichtlich erscheint. Stumm starre ich auf die Tischplatte, in der stillen Hoffnung, so einer weiteren Konversation entgehen zu können. Glücklicherweise verbergen meine langen Haare Odair vor mir. Ich frage mich, ob er sich wohl an unsere erste Begegnung vor fünf Jahren erinnert.

Ein Kichern von Cece dringt zu mir durch und ich höre, wie sie sagt: »Finnick, du alter Schmeichler, bring sie doch nicht in Verlegenheit!«

Durch den Vorhang aus Haaren hindurch linse ich zu ihm herüber, darauf bedacht, nicht von ihm bemerkt zu werden. Seine Aufmerksamkeit brauche ich momentan wirklich nicht.

Scheinbar gelangweilt spielt er mit den Zuckerwürfeln in einem kleinen silbernen Schälchen, das auf dem Tisch steht. Gerade als er sich einen in den Mund schiebt, tauchen Mags, Trexler und Floogs mit Pon im Schlepptau auf. Erleichtert atme ich auf.

Sogar Cece scheint erfreut, nicht mehr mit uns beiden alleine zu sein. »Wo ist denn Amber?«, fragt sie, jetzt wieder aufgekratzt und voller Energie.

»Hat gesacht, sie will in ihrem Abteil bleib’n«, nuschelt Trexler, der selten verständlich redet, wie ich aus vereinzelten Fernsehaufnahmen erinnere. Das ist das erste Mal, dass ich den hünenhaften Mann in der Realität sprechen höre, und es erscheint mir, als wenn er das ohnehin nicht gerne täte.

Die anderen bleiben stumm und füllen die freien Stühle. Mags geleitet Pon, der jetzt eine metallisch blaue Weste und ein steifes weißes Hemd trägt, zu seinem Platz und lässt sich neben ihm sinken. Sie kommt mir im Vergleich zu den übrigen Mentoren normal und freundlich vor, ohne größere Probleme oder Neurosen.

Amber, schätze ich als Einzelkämpferin ein, Trexler ist der Abweisende, Floogs der Zurückhaltende und Odair … er ist zu viel von allem. Ihn kann ich am wenigsten einschätzen.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: Swanlady
2012-04-12T11:46:42+00:00 12.04.2012 13:46
Hey!
Es ist schön zu sehen, dass die THG FF-Anzahl langsam zunimmt. :) Es gibt so viele wundervolle Charaktere, über die wir so wenig erfahren (liegt zum größten Teil an Collins' Erzählperspektive, würde ich sagen). Annie und Finnick gehören da auf jeden Fall dazu.

Du hast einen angenehmen Schreibstil, der auch sehr zur Thematik passt. Ich bin wirklich gespannt, was du aus Annies Geschichte machen wirst, vor allem in der Arena. Man weiß ja im Grunde nur, dass sie sich die meiste Zeit über eher versteckt hat. Aber auch daraus kann man was machen, denke ich. ;)

Schreib fleißig weiter!
LG


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