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Meeresflüstern

Die Hungerspiele der Annie Cresta
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Liebste Leser - wer hätte das noch einmal gedacht? Ja, es gibt mich tatsächlich noch und ja, diese Geschichte habe ich tatsächlich noch nicht aufgegeben! Nach all der Zeit habe ich die Energie und den Mut gefunden ein weiteres Kapitel, welches jahrelang unfertig auf meinem PC gelegen hat, fertig zu stellen. Es ist nicht so lang wie manch ein vergangenes Kapitel, aber ich hoffe es wird euch denselben Spaß bringen wie all die vergangenen Kapitel dieser Geschichte. Ebenso hoffe ich, dass ihr die ewige Pause verzeihen könnt. Was mir dazwischen gekommen ist? Sagen wir es mal so: Das Leben. Es ist einfach zu viel passiert in der Vergangenheit, aber jetzt bin ich zurück und Meeresflüstern ebenso!
In diesem Sinne wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen,

eure Coronet Komplett anzeigen

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Schiffe aus Glas


 

Schiffe aus Glas - Einundreißigstes Kapitel

 

*

 

Pass immer auf das Wasser auf. Sei wachsam. Ein Schiff ist nur so gut wie sein Steuermann. Halte Ausschau Annie. Sonst wird der Rumpf zerbersten und dein Schiff vom Wasser verschlungen…

Das Wasser ist grün und blau, und voller Wunder an jenem Tag, an dem mein Vater mich das erste Mal auf seinem Schiff mitnahm. Vereinzelte Wolken trieben über den Himmel. Es fühlte sich an, als wäre ich frei. Da waren nur ich und das Meer. Es flüsterte mir seine Geheimnisse ins Ohr, denn das Meer war mein Freund.

Als ich aufwache, ist es wie damals, als ich noch zuhause war. Der Regen prasselt unaufhörlich auf den Stein, doch wir sind geschützt, in unserer Höhle, ich und Pon, der in meine Armbeuge gekuschelt schläft. Wie damals, wenn der Regen gegen das leicht geöffnete Fenster trommelte und mein Bruder in meinem Arm schlief. Nur, dass dies die Arena ist. Alles, was man durch die kleine Öffnung im Gestein sieht, ist ein graues Stück Himmel über den weiße Nebelschwaden ziehen.

Ich sitze einfach nur da, lausche dem fallenden Regen und überdenke die letzten drei Wochen meines Lebens. So lange ist es schon her, dass ich vom sonnigen Rathausplatz fort in diese kalte Arena gebracht wurde. Doch wenn ich die Augen schließe, so kann ich fast wieder das Flüstern des Meeres hören, leise aber beständig in meiner Erinnerung. Für immer ist dieser Gedanke an das wogende grün-blaue Meer in mir konserviert, so lange ich lebe. Ein schöner Gedanke für einen schrecklichen Ort.

Alles wird gut werden.

Das ist es, was dieser Moment mir vermittelt. Ja, bestimmt wird es das. Gestern Nacht, da ist Slay gestorben. Was bedeutet, dass wir nun nur noch fünf sind – was drei Gegner macht. Wenn ich Pon dazu überreden kann, nicht nach Victoria zu suchen, dann können wir uns hier verbergen, bis niemand mehr über bleibt. Außer uns. Auch wenn es danach nie wieder ein wir geben kann. Was ich dann tun werde, darüber habe ich nicht nachgedacht. Meine oberste Priorität ist es zuerst einmal, Pon zum Bleiben zu überreden. Noch schläft der Kleine jedoch selig. Tatsächlich wundert es mich etwas, dass er immer noch einen so ruhigen Schlaf hat, obwohl er doch sicherlich auch furchtbares gesehen hat, schließlich war er ein Teil der Karrieros – zumindest eine Zeit lang. Fröstelnd ziehe ich den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Hals hinauf. Es fühlt sich an, als sei die Kälte über Nacht bis in meine Knochen gedrungen.

Unruhig versuche ich, mich etwas zu bewegen, ohne gleichzeitig Pon aufzuwecken. Doch sobald ich mein Bein ausstrecke, kann ich mit den Füßen den hinteren Teil der Höhle berühren, so klein ist sie. Aufrecht stehen ist für mich ebenfalls kaum möglich, wie ich mit einem Blick in Richtung Decke ernüchtert feststelle. Schon unter normalen Umständen wäre diese Höhle nicht mein bevorzugtes Versteck gewesen, doch angesichts der gestrigen Erlebnisse fühle ich mich umso mehr gefangen in einem steinernen Gefängnis. Aber für Pon, glaube ich, werde ich es hier aushalten.

Mit einem Seitenblick vergewissere ich mich, dass Pon noch immer schläft, doch er blinzelt mich überraschend aus himmelblauen Augen an. Langsam blickt er an mir hinauf, als würde er sich erst jetzt an unsere Wiedervereinigung erinnern. Im selben Moment lächeln wir einander an.

„Noch drei“, flüstert er, als sei nichts weiter dabei.

Ich nicke.

„Aber hier sind wir sicher.“

Mit einem Rascheln setze ich mich auf und ziehe meinen Rucksack heran. Nach einigem Kramen finde ich zwei Packungen der widerlich trockenen Kräcker, denen ich doch so oft mein Leben verdanke und werfe Pon eine Packung zu. Doch anstatt seine Portion Essen anzunehmen, blickt er mich noch immer stumm an.

„Annie… ich möchte Vic finden. Sie ist eine Freundin.“

Seufzend ziehe ich den Reißverschluss zu. Meine Hände klammern sich um das Material des Rucksackes, während ich erwidere:

„Pon, ein letztes Mal: Drei. Noch drei sind außer uns hier. Glaubst du wirklich, dass das Freunde sind?“

Keine Antwort.

„Wir können nichts mehr für sie tun. Versteht doch…“

Immer noch keine Antwort. Stattdessen eine Hand auf meiner Schulter.

„Ich werde sie suchen gehen. Ob du mitkommst oder nicht, ich verdanke ihr eine Menge. Ich will ihr helfen.“

Flehentlich blickt er mich an und sieht wieder aus wie ein Zwölfjähriger, der seinen Wunsch nicht bekommt. Doch ich werde sicherlich nicht nachgeben, also schüttle ich den Kopf.

„Wir können es uns nicht leisten, unseren Schutz aufzugeben.“

Für einen Moment blicken wir einander starr in die Augen, dann lässt er sich fallen und reißt leise seine Packung Kräcker auf. Erleichtert entweicht mir ein Seufzen. So bleiben wir beieinandersitzen, bis der Nachmittag und damit noch schwerere Regenfälle einsetzen. Zuerst hört man es am ohrenbetäubenden Geprassel des Wassers auf dem Gestein, dann laufen die ersten feuchten Tropfen an der Höhlenwand herab und befeuchten unsere Füße.

Eng zusammengerollt drücken wir uns in den hinteren Höhlenteil und schirmen uns von dem fürchterlichen Wetter dort draußen ab.

„Meine Füße sind nass“, merkt Pon an.

Mit einem unzufriedenen Gesichtsausdruck hebt er seine Füße und zieht sie noch ein Stück näher an seinen Körper heran. Ein Blick auf den Boden der Höhle zeigt mir schließlich auch wieso: Die Feuchtigkeit von den Wänden hat sich am Boden gesammelt und mittlerweile eine kleine Lache in der Mitte des Raumes gebildet. Leise fluchend ziehe ich meine Füße ebenfalls näher heran und fange an, nach einer Lösung zu suchen. Hätten wir noch die große Plane, die Aramis und ich einst erbeutet hatten… doch leider ist diese beim Angriff des Berglöwen zurückgeblieben. Einen Moment spiele ich mit dem tollkühnen Gedanken meine Jacke auszuziehen und vor den Eingang zu hängen, doch angesichts der feuchten Kälte in der Höhle erscheint mir auch diese Idee nicht sonderlich verlockend. Vielleicht bin ich auch einfach nur egoistisch geworden und möchte in der aufkommenden Kälte nicht frieren.

Doch der unerbittliche Sturm hört nicht auf. Im Gegenteil, er wird stärker und mächtige Windböen lassen es kalt durch die Gesteinslücke regnen, durch die wir in die Höhle gelangten. Das Wasser sammelt sich zu unseren Füßen in einer Pfütze.

„Annie…“, flüstert Pon bibbernd.

Ohne groß von Hilfe zu sein drücke ich ihn fester gegen mich. Aber Pon verstummt nicht. Mit zitternder Stimme redet er weiter und spricht damit nur aus, was ich mir eigentlich denken kann:

„Es ist nicht sicher… hier.“

Der Pegel wird steigen. Hört es nicht auf zu regnen wird diese Höhle irgendwann überflutet sein. Wir frieren. Die Feuchtigkeit dringt bis ins Mark vor. Meine eigenen Arme zittern und ich kann es nicht kontrollieren, so kalt ist mir geworden. Unsere einst wasserdichten Jacken halten den Regen nicht länger ab. Zu dem tagealten Schweiß unter der Kunststoffjacke mischt sich Regenwasser.

Die Augenlieder geschlossen versuche ich klar zu denken. Doch alles woran ich denken kann ist an das Ende. Denn es wird kommen. Entweder werden wir in dieser Höhle erfrieren oder ertrinken oder aber die Karrieros werden uns finden. Zwei Möglichkeiten um zu wählen und keine will ich wirklich wählen. Am liebsten will ich mich verstecken und Pon daran hindern Victoria zu suchen.

Meinen Kopf an die Steinwand gelehnt drücke ich die Augen fest zu und versuche an etwas anderes zu denken. Doch es geht nicht denn meine Gedanken verharren dabei. Das Ende. Es kommt, schneller als ich es mir jemals erträumt hätte. Das Ende von den Hungerspielen. Mein Ende.

Ich war naiv gewesen. Mit dem Gedanken mein Leben für ein anderes geben zu können in die Spiele zu gehen… am Ende hängt doch ein jeder an seinem eigenen Leben, egal wie gut der Grund ist für den man es geben will. Vermutlich ist das der Grund warum so viele ihre Verbündeten im letzten Moment doch noch verraten: Weil sie plötzlich erkannt haben wie viel Wert ihnen ihr eigenes Leben ist. Doch so wird diese Geschichte nicht enden, das habe ich mir geschworen. Diese Geschichte wird ein besseres Ende haben.

Eines jedoch erkenne ich ebenfalls, nämlich, dass wir dieses Ende nicht erreichen wenn wir in dieser Höhle bleiben. Das Kapitol scheint uns vertreiben zu wollen, vermutlich weil sie ihr Finale wollen. Mit allem Mut der mir noch verbleibt blicke ich Pon an.

„Du hast Recht. Wir sollten uns auf den Weg machen.“

Es besteht ja schließlich immer noch die Chance, dass ich Victoria lediglich unrecht tue. Kann es nicht gut sein, dass sie genauso wie ich Pon nur beschützen will? Die nagende Stimme in meinem Hinterkopf sät jedoch weiterhin ihre Zweifel. Ich beschließe ihr kein Gehör zu schenken.

Wir können jedenfalls nicht auf diesem unwirtlichen Berg bleiben. Weiter oben befinden sich nichts als Steine und am Ende des Berges würden wir unweigerlich in der Falle sitzen, ein leichtes Opfer für jeden der sich soweit vorschlagen kann. Außerdem drohen die losen Steine auf der Flanke des Berges die mittlerweile vom Wasser unterspült wurden vom Hang loszubrechen um in einer tödlichen Lawine in das Tal niederzugehen. Würden wir jetzt noch weiter aufsteigen, so würde die Gefahr immer größer in genau diese Lawine zu geraten.

Mit den wenigen Habseligkeiten die uns noch verbleiben brechen wir also auf. Endlos erscheint die Wand aus Regen welche sich vor uns erstreckt. Wenn ich mir jemals das Ende der Welt vorgestellt hätte – ich bin sicher es hätte ähnlich ausgesehen. Soweit das Auge reicht ist nichts als eine graue Regenwand zu sehen. Die Kapuzen auf unseren Köpfen hindern uns auch kaum mehr daran nass zu werden, im Gegenteil, sie behindern eher noch die ohnehin dürftige Sicht. Nicht lange, und ich ziehe sie entnervt vom Kopf, sodass das Wasser mir ungehindert über das Gesicht und in den Nacken fließen kann. Ohnehin kann ich kaum noch unterscheiden welcher meiner Körperteile noch trocken ist und welcher nicht – aber ich bezweifle ohnehin, dass irgendetwas noch nicht nass ist.

Der steinige Weg ist rutschig denn der anhaltende Niederschlag hat den Boden aufquellen lassen und die Bergflanke in eine einzige Rutschpartie verwandelt. Schlamm und glatte Steine gleichermaßen bilden verhängnisvolle Fallen. Mir kommt es vor als wären wir bereits Stunden unterwegs, als wir gerade einmal zurück am Boden sind. Zumindest da, wo der Boden hätte sein sollen. Doch statt einer schlammigen Wüste erwartet uns eine endlose See aus tiefschwarzem Wasser. Innerhalb weniger Sekunden erkenne ich wieso. Dank der kesselförmigen Struktur hat sich das Wasser angefangen in der Arena zu sammeln. Von den Berghängen rundherum laufen lediglich noch mehr Wassermassen hinab ins Tal. Noch ist das Wasser jedoch nicht besonders hoch gestiegen, vielleicht einen Fuß hoch.

„Ich glaube es hat wenig Sinn, dort hinaus zu waten.“

Mein Blick schweift über den Horizont, eine Linie dunklen Graus hinter den endlosen Vorhängen aus Regen.

„Alle, die noch übrig sind werden früher oder später ihren Weg hierher finden.“

Doch Pon stimmt mir nicht wie erwartet zu. Grimmig starrt er in die Ferne.

„Umso besser, wenn wir von hier fliehen.“

„Aber wohin?“, frage ich und deute auf die graue Arena, Wasser am Himmel wie am Boden.  

Pon setzt einen Fuß in die gurgelnden Wassermassen.

„Das ist doch Wahnsinn!“, rufe ich hitzig. Warum muss er es mir so schwer machen?

Unbewegt blickt er mich an, seine blauen Augen bohren sich in die meinen.

„Shine und Dean werden genau hierher kommen wenn sie schlau sind. Aber wir können schwimmen und wir können einfach darauf warten, dass sie einander den Garaus machen.“

Schweigen. Ich balle die Fäuste. Er hat Recht. Wenn Shine und Dean, die mit großer Sicherheit nicht so gut schwimmen können wie wir ihren Weg hierher finden werden wir einander begegnen. Und sie werden sicherlich versuchen sich vor den Wassermassen zu retten.

„Und was ist mit Victoria die du so unbedingt retten wolltest?“

„… Vielleicht hattest du Recht“, Pon schlägt die Augen nieder als er weiter spricht, „es ist wohl nicht so wichtig, ob ich sie finde. Ich weiß nicht einmal ob sie schwimmen kann. Aber wir zwei… Zusammen überleben wir!“

Ein flehentlicher, unsicherer Ton hat sich in seine Stimme geschlichen.

Für den Moment ist es wohl das Beste, wenn ich mich geschlagen gebe. Es will sich mir nicht erschließen wieso er so erpicht darauf war Victoria zu finden, doch wenigstens sieht er ein, dass die Chance sie in diesem Chaos zu finden verschwindend gering ist. Seufzend mache ich also einen Schritt nach vorne, nur um bis knapp unter das Knie in Wasser und Matsch zu versinken. Versöhnlich lächelnd reiche ich Pon meine Hand.

„Wir zwei schaffen das“, quetsche ich irgendwie noch aus mir heraus. All mein letztes bisschen Optimismus und Mut sollten eigentlich längst aufgebraucht sein, doch wann immer ich sein kleines mit Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht sehe finde ich überraschend doch noch etwas davon um weiter zu machen.

Als er mein Lächeln erwidert sehe ich wieder den kleinen zwölfjährigen Jungen mit den großen Augen von der Ernte vor mir. Trotz aller Dinge die er erlebt hat so ist er doch immer noch ein Kind. Fest drücke ich seine Hand. Gemeinsam kämpfen wir uns durch die Wassermassen, ohne bestimmtes Ziel. Wenn wir Glück haben erreichen wir einen der Berge am Rand der Arena bevor das Wasser zu hoch gestiegen ist.

Zurück durch den Ring aus Bäumen der den zentralen Berg umgibt ringen wir uns, deren kahle Äste nach uns lagen, doch diesmal aktivieren wir keinerlei Fallen. Der Regen jedoch gibt nicht nach, stattdessen gesellt sich noch ein unheilvolles Grollen in der Ferne dazu. Vermutlich steht uns ein Gewitter kurz bevor. Als wenn das bisherige Wetter nicht bereits reichen würde.

Zudem gesellen sich die stechenden Schmerzen, die durch meinen Fuß fahren. Schließlich ist er noch immer bandagiert – es ist gerade einmal einen Tag her, dass ich mir die Wunde zugezogen habe. Statt zu wimmern beiße ich die Zähne nur noch fester aufeinander. In den letzten Zügen dieser Spiele werden sie mich nicht kleinkriegen, das schwöre ich mir.

Schmatzend saugt sich der aufgewühlte Untergrund der Arena, der einst so staubig trocken war, nun an unseren Stiefeln fest und macht jeden Schritt zu einer gewaltigen Kraftanstrengung. Pon, der über das Knie im Wasser versinkt hat deutlich größere Anstrengungen als ich. Immer wieder klammert er sich keuchend an mir fest um für einen Moment zu verschnaufen. Fahrig streiche ich ihm über die klitschnassen Haare die ihm wie festgeklebt am Kopf kleben. Will ich damit ihn oder mich beruhigen? Ich weiß es nicht mehr. Die letzten Reste der trockenen Kräcker rebellieren in meinem Magen.

Jederzeit könnte einer der verbliebenen Tribute auftauchen. Der Gedanke, dass es dumm sich vom Berg zu entfernen taucht immer wieder in mir auf. Wir hätten bleiben sollen. Wir hätten sie überraschen können, einen Hinterhalt planen. Aber das hier – das ist verrückt! Wir können vielleicht schwimmen, aber dieses Terrain ist etwas ganz anderes. Wer weiß, ob sich nicht plötzlich Shine aus dem Regen schälen wird, ein glänzendes Schwert in der Hand?

Hektisch blicke ich mich um, doch außer dem Tosen von Regen und Wasser ist nichts zu hören. Dafür taucht vor uns etwas ganz anderes auf: Eine Anhöhe. Im Prinzip nicht mehr als ein paar riesiger Steinbrocken die eine Erhebung bilden, vielleicht zwei Meter über dem jetzigen Wasserstand. Es wird nicht für immer halten, das ist mir im ersten Moment klar. Doch für eine kurze Verschnaufpause ist es ideal.

Ich schnappe mir Pon und gemeinsam erklimmen wir das Gestein. Oben befinden wir uns auf einem kleinen Plateau, nur wenige Meter schmal. Den einzigen Schutz vor Wind und Wetter bildet ein einsamer Stein am hinteren Ende. Nach all der Zeit in der Arena lernt man jedoch alles wertzuschätzen.

„Vielleicht sterben die anderen ja bereits bevor sie den Berg überhaupt erreichen“, versuche ich sowohl mir als auch Pon Mut zu machen.

Keine zwei Schritte habe ich auf den schützenden Stein zugemacht, als auf der anderen Seite des Plateaus zwei Hände auftauchen, gefolgt von einem Kopf. Ohne zu denken schiebe ich den verdutzten Pon hinter mich. Doch statt Shines blondgelocktem Schopf hievt sich ein Mädchen mit krausen roten Haaren über die Kante. Langsam ausatmend erkenne ich, dass sie Victoria sein muss. Somit hat Pon trotz allem scheinbar seine Freundin wiedergefunden.

Freudig ruft er ihren Namen, als er hinter meinem Rücken hervorlugt und das Mädchen erkennt, welches ein unterarmlanges Messer zwischen den Zähnen stecken hat. Ihre Augen werden groß, als sie uns beide erkennt. Vorsichtig nimmt sie das Messer wieder in die Hand, ohne den Blick abzuwenden.

„Pon?“, ruft sie fragend, immer noch leicht ungläubig.

Statt zu antworten läuft er auf sie zu, alle Vorsicht außer Acht gelassen. Noch immer schlägt mein Herz schnell, doch ich erlaube es mir, erleichtert auszuatmen. Von allen die wir hätten treffen können haben wir die Letzte gefunden die uns noch freundlich gesonnen ist. Ist so viel Glück wirklich zu fassen?

Ich folge Pon um Victoria zu begrüßen. Für einen Moment stehen wir einfach da, ein wenig unschlüssig, und lächeln alle etwas schüchtern.

„Vic! Ich bin so froh, dich gefunden zu haben!“, sprudelt es aus Pon hervor.

Das feingeschnittene Gesicht des Mädchens verzieht sich zu einem kleinen Lächeln. Auch sie ist über und über von Sommersprossen übersät, wie Pon. Unangenehm schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich dabei war, als Aramis ihre Verbündete getötet hat – Charlott. Ob Victoria das weiß?

„Oh Pon, auch ich bin froh“, erwidert sie mit spürbarer Erleichterung.

Ein Blitz zuckt krachend über uns hinweg. Nur für ein paar Sekunden ist die Szenerie in grelles Licht gehüllt. Victorias sanftes Lächeln erscheint mir fast schon unheimlich, wie sie so dasteht, das Messer in der einen Hand, die andere fest zur Faust geballt. Wieso hat sie die Hand zur Faust geballt? Mein Herz schlägt wieder schneller, Gedanken fangen an zu rasen, mir wird schwindelig. Halt suchend umklammere ich meinen, nein Pons, Speer.

Ich will nach vorne stürzen, meine Arme um Pon schlingen, ihn wegzerren. Ich weiß nicht wieso, aber ich will es. Meine Beine jedoch sind wie angefroren. Ich will schreien, ihn warnen. Meine Kehle ist zugeschnürt. Irgendetwas, ich will irgendetwas tun. Ihn fortstoßen, weg von Victoria, weg! All meine Instinkte schreien, doch ich bewege mich wie in Zeitlupe, als wenn mich etwas mit aller Macht hindern will. Einen Schritt vorwärts stolpere ich, unbeholfen.

Victoria hebt das Messer, blitzschnell, das Licht eines Blitzes bricht sich darin. Die scharfe Klinge gleitet nieder, die Schneide glänzend, das Dunkel zerschneidend gleichsam mit dem Dröhne des Donners.

Krach!

Ein Geräusch wie nass zerreißendes Papier ertönt. Mein Schrei dringt erst aus der Kehle, als es bereits vorbei ist. Dunkelheit umfängt uns. Ich taumle vor, doch es ist zu spät, zu spät. Meine Gedanken schreien es heraus, es ist zu spät!

Er steht da, als wenn er noch etwas sagen will. Dann brechen seine Beine unter ihm weg. Plumps. Ein kopfloser Körper schlägt auf dem Boden auf.

Alle Luft ist aus mir gepresst.

Annie, du musst mit mehr Kraft werfen! Der Speer soll den Gegner durchbohren und nicht nur etwas kitzeln! Kraft, Annie, Kraft! Willst du die Spielemacher beeindrucken oder nicht?

Und ich werfe, ich werfe, ich werfe mit aller Kraft. Ein erstauntes Gurgeln bestätigt: der Speer hat sein Ziel gefunden. Erleuchtet von einem weiteren Blitz sehe ich Victoria über die Kante kippen, die Arme ausgebreitet. Ich höre nie, wie sie im Wasser aufschlägt.

Alle Geräusche sind aus meiner Welt gewichen. Es ist leise, so leise. Kein Regen, keine Wellen. Meine Lippen formen Worte, doch ich höre sie nicht, kann sie nicht vernehmen. Leise, so leise…

PON! Ich will seinen Namen schreien, ich will schreien bis meine Lungen bersten, doch es ist leise, so leise… und keine Worte dringen aus meinem Mund.

Meine Hände finden seinen Körper, so klein, so klein… Ich presse ihn an mich, will seine Worte hören, doch es ist leise, so leise… und ich will schreien, doch kein Wort dringt über meine Lippen. Ich will fragen wie es ihm geht, doch meine Worte bleiben stumm.

Ich kralle mich an seinen Arm, versuche mich irgendwie festzuhalten, doch ich kann nicht, es ist nicht genug, nicht genug.

Er hat keinen Kopf mehr. Er ist weg. Einfach weg… Meine Hände stoßen den kopflosen Körper fort. Das ist nicht Pon! Das war nie Pon!

Mein ganzer Körper ist zu klein, zu eng. Ich will raus, will weg. Fingernägel kratzen über die Unterarme. Hinterlassen blutige Striemen. Raus. Raus aus diesem Körper. Raus aus dieser Welt!

Es fühlt sich an als würde ich jeden Moment explodieren und mit mir die ganze Arena.

Fort.

Irgendwie krieche ich zu dem Stein, werfe mich dagegen. Ich rolle mich auf die Seite, Stirn an die Knie gepresst. Mein Mund ist zu einem weiteren stummen Schrei aufgerissen.

Fort.

Die Fingernägel durchbrechen die Haut. Blut läuft über die Unterarme.

Fort.

Und die Welt zerbricht in tausende und abertausende Scherben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Jensen
2015-11-09T17:32:38+00:00 09.11.2015 18:32
Endlich *___*
Ich hab die Fanfic über ein Jahr beobachtet und dann aufgehört regelmäßig reinzuschauen, weil ich dachte es kommt nichts mehr. Und dann schau ich zufällig drauf und...
Ich bin begeistert dass es weiter geht! Ich liebe deinen Stil & die Charaktere :)
Antwort von:  Coronet
10.11.2015 10:57
Hey,

ahhh, ich freue mich, dass du noch von dem neuen Kapitel erfahren hast! Es tut mir auch wirklich leid, dass es so ewig gedauert hat... manchmal ist das Leben leider zu chaotisch :(
Aber jetzt werde ich mich bemühen ganz fix weiter zu schreiben damit die Geschichte auch ein (hoffentlich) schönes Ende bekommt.
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar, da bekomme ich doch gleich Lust sofort weiter zu schreiben :)

Liebe Grüße,

Coronet
Von: Niche
2015-08-14T09:42:27+00:00 14.08.2015 11:42
Erst mal Danke, dass du weiter schreibst!
Ich bin zwar erst vor ein paar Tagen auf deine Fanfic gestoßen, da ich selbst erst diesen Monat endlich mal Zeit gefunden habe, um die Bücher zu Tribute von Panem zu lesen, aber deine Fanfic hat mich sofort gefangen. Ich mag deinen Schreibstil sehr gerne und deine Charaktere sind auch alle etwas Besonderes, vor Allem natürlich Annie. Ich fand die Story zu ihr, die kurz im Buch erwähnt wird, schon irgendwie krass und mich hat es da schon interessiert, wie das wohl alles war und ich finde deine Fanfic dazu wirklich sehr gelungen! Deswegen freue ich mich sehr, dass du weiter geschrieben hast und hoffentlich weiter schreiben wirst, denn es ist alles so spannend! Man fühlt richtig mit Annie mit und möchte wissen, wie es weiter geht! >.<

Liebe Grüße
Antwort von:  Coronet
10.11.2015 10:55
Hey,

wenn auch etwas verspätet: Vielen lieben Dank für deinen Kommentar, es hat mich wirklich sehr gefreut, dass ich sogar noch einen neuen Leser gewinnen konnte!
Das Unileben ist leider immer noch etwas chaotisch, aber ich das nächste Kapitel ist bereits am Werden, ich werde mich bemühen es nicht wieder ein Jahr des Wartens werden zu lassen ;)
Vielen Dank noch einmal!

Liebe Grüße,

Coronet
Von:  Satomi
2015-07-22T23:27:37+00:00 23.07.2015 01:27
Yeah endlich gehts weiter. :D Ich freu mich riesig.
Mir tut Pon leid, aber wenigstens musste er nicht leiden.

Mir fehlt am Ende dein Counter. ^^
Ich hoffe sehr du schreibst ihre Sicht zu Ende und dann bitte auch die von Finn. ;D ja?
Find die FF immer noch genial. ^-^
Liebe Grüße
und willkommen zurück :D
Antwort von:  Coronet
24.07.2015 16:02
Hey,

haha, ja, ich freue mich, das es dich freut :D
Den Counter wird es in den verbleibenden Kapiteln wieder geben ;)
Annies Sicht werde ich auf jeden Fall schaffen, so schrecklich viele Kapitel bleiben mir nach meinem Plan auch gar nicht mehr. Bei Finns Sicht muss ich mal gucken, aber ich hab so viele Ideen dafür, es wäre ziemlich schade wenn ich nie dazu komme sie aufzuschreiben.
Danke danke für deinen lieben Kommentar, wegen Leuten wie dir bin ich wieder zurück und schreibe weiter :)

Liebe Grüße,

Coronet


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