Begegnung auf Route 6 von Nugua ================================================================================ Kapitel 1: Der Sturm -------------------- Ich stecke in Schwierigkeiten. Ich stecke in Schwierigkeiten. Ich stecke in ganz gewaltigen Schwierigkeiten! Der Himmel donnerte, als wollte er mir für diese Einsicht spöttisch Beifall zollen. Meine Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln, als ich mein Gesicht mehr schlecht als recht mit einer Hand beschirmte, den Kopf in den Nacken legte und die brodelnde Schwärze über mir begutachtete. Eine Gänsehaut zog sich über meine Arme, und das lag gewiss nicht nur an dem kalten Wind, der verbissen an meinen Haaren und Kleidern zerrte. Wie kann das bloß sein?, dachte ich mit einer Mischung aus Furcht und Faszination. Wie kann das Wetter innerhalb so kurzer Zeit so drastisch umschwenken? Vor ein paar Minuten war der Himmel doch noch strahlend blau gewesen ... Ein neuer Blitz tauchte die Welt für einen Herzschlag in grelles Licht; gleich darauf verschluckte ein ohrenbetäubendes Krachen sämtliche Geräusche um mich herum. Mit einem stummen Schrei auf den Lippen schlug ich beide Arme über meinem Kopf zusammen, als würde mir diese Geste in irgendeiner Weise Schutz bieten können. Keine Zeit zum Nachdenken! Keine Zeit, Fragen zu stellen! Rennen! Und ich rannte. Ich rannte mitten durch eine Ansammlung von Bäumen hindurch, und mein Herz schien mit jedem hektischen Schlag „dumm!“ zu kreischen. Dumm! Dumm, dumm, dumm! Natürlich wusste ich, dass es dumm war, mich während eines Gewitters in der Nähe von Bäumen aufzuhalten, aber ich konnte kaum etwas dagegen unternehmen, weil ich von Bäumen geradezu umzingelt war. Vor mir Bäume, hinter mir Bäume, rechts von mir der Fluss und links von mir ... noch mehr Bäume. Mir blieb nur die Möglichkeit zu rennen und zu hoffen, dass ich bald einen sicheren Unterschlupf finden würde. Der Weg zurück nach Marea City war viel zu lang, der Weg zur Elektrolithhöhle noch länger, aber ich wusste, dass sich auf der Mitte der Strecke das JFI, das Jahreszeitenforschungsinstitut, befand, und wenn mich mein Instinkt nicht täuschte, müsste ich bald dort ankommen. Ich hatte selten so verzweifelt darauf gehofft, dass mein Instinkt mich nicht täuschen würde, wie in dieser Situation. Ich rannte und rannte und riss mir das Gesicht an einem tief hängenden Ast auf und rannte und stolperte durch eiskalte Regenpfützen und rannte weiter und brach endlich aus den Bäumen hervor. Ich taumelte noch ein paar Schritte vorwärts, dann blieb ich zusammengekrümmt stehen, stützte meine Hände auf den Knien ab und rang angestrengt nach Luft. Es war so verdammt unangenehm, ich fühlte mich gleichzeitig erhitzt und unterkühlt. Ich konnte spüren, wie mir der Schweiß über das Gesicht lief und sich mit dem Regenwasser mischte, wie meine nasse Kleidung auf der Haut klebte, wie meine Lungen brannten, als hätte ich Eissplitter eingeatmet. Reiß dich zusammen, Touko! Konzentriere dich auf das Wesentliche! Sieh dich um! Ich hob den Kopf und blickte mich genauer um. Und was ich sah, verdrängte all die unangenehmen Eindrücke schlagartig: Das JFI! Es war tatsächlich nicht mehr weit ... Und wieder ein Blitz, und wieder ein Donnerschlag, und wieder rannte ich los. Ein jämmerlicher Schrei drang in meine Ohren, genau in dem Moment, in dem ich an einer Brücke vorbeikam. Ich wirbelte reflexartig auf den Fußballen herum, ließ meinen Blick hektisch über die Umgebung schweifen - und stolperte dabei beinahe über meine eigenen Füße. Zuerst kam ich mir unglaublich dämlich vor, wie ein albernes verwöhntes Mädchen, dass bei dem kleinsten Unwetter hysterisch wurde und sich einbildete, Stimmen im Heulen des Windes zu hören. Aber verdammt, dieses Unwetter war weder klein noch harmlos, und es hatte sich wirklich wie ein Schrei angehört ... Ich schaute mich noch einmal um, zögernd, zweifelnd. Und dann- Oh, scheiße! Ich bemerkte es, als ich das Wasser näher betrachtete. Das Wasser war genauso aufgewühlt wie der Himmel, ein köchelnder Albtraum aus Schwarz und Dunkelblau, besetzt mit weißen Schaumkronen. Und in diesem Chaos trieb ein einzelner rosa Fleck ... der Kopf eines Sesokitz. Es trieb ganz in der Nähe der Brücke, die nicht mehr war als ein flacher Holzsteg ohne Geländer, im Wasser. Dann stieß es auch schon gegen die Brücke und versuchte, sich mit den Vorderläufen daran festzuklammern. Ich setzte mich in Bewegung, ohne es überhaupt bewusst wahrzunehmen, und überwand den Abstand zur Brücke in einer Geschwindigkeit, die mich selbst erstaunt hätte – wenn ich in dieser Situation auch nur einen Gedanken daran verschwendet hätte. Als ich den Anfang der Brücke erreichte, einen Pokéball wurfbereit in der Hand, wurde ich von einer neuen eisigen Sturmböe erfasst, die mir meine Kappe vom Kopf zerrte und sie fortwehte, bevor ich etwas dagegen unternehmen konnte. Erst in diesem Augenblick begriff ich, dass ich unter diesen Umständen unmöglich in der Lage sein würde, das Sesokitz mit einem Pokéball zu fangen: Erstens war der Sturm so stark, dass er den Ball sofort aus seiner Flugbahn werfen würde, zweitens würde der Pokéball im unwahrscheinlichen Fall, dass ich doch genug Glück hatte, das Sesokitz zu treffen, unmittelbar nach dem Einfangen des Pokémons im Fluss versinken. Mir blieb nur die Möglichkeit, die Brücke zu betreten, das Pokémon eigenhändig aus dem Wasser zu ziehen, und es dann mit dem Ball einzufangen. Und dann so schnell wie möglich zum FJI zu rennen und Schutz für uns beide zu suchen. Ich überquerte die Brücke wie ein Seiltänzer über einer metertiefen Schlucht. Vorsichtige, aber zielstrebige Schritte. Ich ignorierte das besorgniserregende morsche Knirschen des Holzes unter meinen Füßen und umging die rutschigen Wasserpfützen, die sich auf der Brücke gebildet hatten. Aus irgendeinem Grund wurde ich durch die jämmerlichen Schreie und die schiere Panik in den rollenden Augen des Pokémons nicht ängstlicher, sondern ruhiger. Und entschlossener. Halte durch, dachte ich, als ich einen weiteren konzentrierten Schritt setzte, ich bin gleich da. Die Augen des Sesokitz trafen meine eigenen, verschränkten sich darin ... und mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als hätte es mich genau verstanden ... als würde sich ein Teil meiner eigenen Ruhe auf dieses kleine Wesen übertragen. Dann war ich an der Mitte der Brücke angelangt – dem Punkt, der dem Pokémon am nächsten war. Eine Welle erfasste das Sesokitz, drückte seinen Kopf unter Wasser und drohte, es fortzureißen und unter die Brücke hinweg zu treiben. Mit einem Schrei packte ich die strampelnden Vorderläufe und zog mit all meiner Kraft. Es war schwerer als ich vermutet hatte, und eine furchtbare Sekunde lang glaubte ich, gleich nach vorne hin umzukippen. Ich konnte mein Gleichgewicht wiedergewinnen und zog und zog, dann tauchte der Kopf endlich wieder aus den Fluten auf. „Ruhig“, murmelte ich, „Ruhig. Alles wird gut.“ Ich zog den zitternden Körper zur Hälfte aus dem Wasser heraus, bettete den zierlichen Kopf in meinem Schoß und holte den Pokéball wieder aus meiner Tasche. „Alles wird-“ Eine neue Sturmböe erfasste uns, ließ einen Wasserschwall über uns hinwegschwappen und raubte mir den Atem. Gott, wenn das alles hier vorbei ist, werde ich wahrscheinlich an einer Lungenentzündung- Ich hatte keine Zeit, diesen lakonischen Gedanken zuendezuführen. Ich dachte nicht daran, Atem zu schöpfen. Ich dachte nicht daran, zu schreien. Als das Holz unter mir mit einem entsetzlichen Knirschen entzwei brach, als die Welt in einem bizarren Winkel zur Seite kippte und ein dumpfer Schmerz in meinem Hinterkopf explodierte, dachte ich nur an eines: dass ich das Sesokitz in meinen Armen so gut wie möglich festhalten musste. Dann stürzte das Wasser über uns zusammen. Kapitel 2: Die Höhle -------------------- Es war die Kälte, die ich zuerst wahrnahm, als ich aufwachte. Alles war kalt: mein Körper, die Luft, der Regen. Kalte Regentropfen auf meinem Gesicht. Kalter Wind überall. Dann fühlte ich den Schmerz; dumpfer, unregelmäßig pochender Schmerz in meinem Hinterkopf. Ich wollte instinktiv nach der Verletzung greifen, aber mein Arm ... mein Arm war viel zu schwer. Genau wie der Rest meines Körpers. Ich fühlte mich seltsam, alle äußeren Einflüsse drangen nur langsam und gedämpft in mein Bewusstsein vor, als würde ich in einer Wolke aus Watte schweben, die mich von der Außenwelt abschirmte. Die Verlockung, mich einfach in den wohligen Zustand der Bewusstlosigkeit zurückfallen zu lassen, den Schmerz und die Kälte einfach wieder auszublenden, war sehr groß. Aber ich konnte es nicht - das unterschwellige, lästige Gefühl, dass ich irgendetwas sehr Wichtiges vergessen hatte, hielt mich davon ab. Ich drehte den Kopf. Nur ein kleines bisschen, aber diese Bewegung genügte bereits, um winzige bunte Punkte vor meiner Netzhaut tanzen zu lassen und mir Übelkeit zu bescheren. Ich ließ meinen Kopf wieder zurückfallen und schluckte die saure Flüssigkeit in meinem Mund herunter. Meine Wange berührte etwas Weiches, aber ich hatte keine Ahnung, was es war. „Oh, du bist wach.“ Da, eine Stimme ... irgendwo über mir. „Mach dir keine Sorgen, wir sind gleich da. Bleib einfach still liegen.“ Die Worte schleppten sich unglaublich träge in mein Hirn. Zuerst erkannte ich nur, dass ihr Sprecher männlich war. Mein vernebelter Verstand ordnete die Stimme instinktiv meinem Jugendfreund Cheren zu - der einzigen männlichen Person, die mir wirklich nahe stand. Dann erst begann ich den Sinn dahinter zu begreifen. Wir sind gleich da? Wo denn? Es kostete mich einiges an Willenskraft, endlich meine Augen zu öffnen, und trotzdem konnte ich danach kaum etwas um mich herum erkennen, weil es dafür viel zu dunkel war. Immerhin konnte ich meine Benommenheit durch diese Geste allmählich abschütteln. Ich begriff, dass ich getragen wurde. Cheren – oder wer auch immer – trug mich auf seinen Armen. Ich hatte zum Glück keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie peinlich das Ganze war, weil er genau in diesem Moment in die Hocke ging und mich behutsam absetzte. Auf kaltem Fels. Und der Regen fiel nicht länger auf mein Gesicht, obwohl ich sein Prasseln und das Donnergrollen ganz in der Nähe hören konnte. Wir waren anscheinend in einer Höhle. „Wie fühlst du dich?“, fragte er. Nun bestand kein Zweifel mehr daran, dass es sich nicht um Cheren handelte, und trotzdem hörte sich die Stimme seltsam vertraut an. Ein leises Rascheln ertönte, dann ein Klicken, und der schmale Lichtkegel einer Taschenlampe erhellte die Höhe. Er richtete den Lichtstrahl nach unten, damit ich nicht geblendet wurde, aber es nützte nicht viel, mir schossen trotzdem ein paar Tränen in die Augen. Ich wischte sie mit einer ungeduldigen Geste fort – und sah direkt in ein Paar verblüffend grüner Augen. ~ Sein Blick traf mich wie ein elektrischer Schlag. „Scheiße, N!“ Ich stieß ihn so heftig von mir fort, dass mein eigener Oberkörper durch den Aufprall zurückgefedert wurde. Der Schmerz in meinem Hinterkopf explodierte erneut; ich schloss die Augen und presste stöhnend beide Hände gegen meinen Kopf, aber das machte es auch nicht besser. „Touko?“ Ich konnte durch meine geschlossenen Augenlider hindurch spüren, wie der Lichtstrahl der Taschenlampe durch die Höhle trudelte und schließlich direkt auf meinem Gesicht verharrte. „Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Ist alles in Ordnung?“ „Ja! Ich meine, nein!“ Ich presste die Zähne aufeinander und ließ meine Atemluft zischend entweichen. „Aber es geht einigermaßen, wenn ich den Kopf nicht zu heftig bewege.“ Dann waren plötzlich die Erinnerungen wieder da, und ich sprang auf, bevor ich überhaupt wusste, was ich tat. „Das Sesokitz!“ Ich packte N an den Schultern und schüttelte ihn, trotz des Schmerzes und des Schwindelgefühls. „Die Brücke! Ich muss-“ „Du musst gar nichts.“ Er legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter und drückte mich zurück in eine sitzende Position. „Das Sesokitz ist in Sicherheit. Ich habe gesehen, wie du versucht hast, es aus dem Wasser zu ziehen und wie die Brücke unter dir zusammengebrochen ist. Ich habe euch beide aus dem Wasser geholt und hierher gebracht.“ „Wo sind wir überhaupt?“ Ich sah mich genauer um, weil ich meine Umgebung nun, da sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, viel deutlicher erkennen konnte. Mehr als schroffe Felswände und Schatten, die durch den Lichtstrahl der Lampe grotesk verzerrt wurden, gab es allerdings nicht zu sehen. N legte stellte zwei Rucksäcke auf dem Boden ab: meinen, der vor Nässe triefte, und seinen eigenen, den es nicht ganz so schlimm erwischt hatte. Sie spiegelten unseren eigenen Zustand wider: Auch wir waren beide durchnässt, wobei N im Gegensatz zur mir noch glimpflich davon gekommen war, weil er nicht in den Fluss gefallen ist. Ich fror erbärmlich und wünschte mir trockene Klamotten herbei (und vielleicht noch ein warmes Bett), aber mein Verlangen nach Antworten war erst einmal noch größer. N legte die Taschenlampe neben unsere Rucksäcke und setzte sich mir gegenüber im Schneidersitz hin. „In der Panaero-Höhle“, antwortete er. „Sie befindet sich ganz in der Nähe von der Stelle, an der du ins Wasser gefallen bist. Hier sollten wir für eine Weile vor dem Unwetter sicher sein.“ Das erinnerte mich an etwas. „Ich war eigentlich auf dem Weg ins Jahreszeitenforschungsinstitut“, sagte ich. „Warum bist du nicht dort hin gegangen? Ich will mich nicht beschweren, aber dort wäre es bestimmt ... nun ja ... gemütlicher als hier.“ Ein abweisender Ausdruck trat in sein Gesicht. „Ich würde niemals freiwillig so einen Ort betreten! Wenn diese Wissenschaftler erfahren hätten, dass wir ein Sesokitz bei uns haben, hätten sie nur versucht, es für ihre Experimente zu missbrauchen!“ Da war er wieder, dieser tief sitzende Zorn auf alle Menschen, die Pokémon für ihre Zwecke ausnutzten, und der mir nicht zum ersten Mal eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Ich hielt seine Reaktion für übertrieben und konnte mir nicht vorstellen, dass die Forscher in diesem Institut irgendetwas Verwerfliches taten, sah aber keinen Sinn darin, jetzt mit ihm darüber zu diskutieren. „Du hast das Sesokitz also in einem Pokéball untergebracht?“, hakte ich nach, um das Thema zu wechseln. „Ja.“ Wieder dieser abweisende Gesichtsausdruck, und da fiel mir ein, wie sehr er es verabscheute, Pokémon in Pokébälle einzusperren. „Du hast das Richtige getan“, sagte ich nachdrücklich. „Ohne deine Hilfe wäre das Sesokitz sicherlich ertrunken, und ich wahrscheinlich auch.“ Ich strich mir mit einem Seufzen eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. „Tut mir leid, dass ich vorhin so heftig reagiert habe ... als ich dich erkannt habe, meine ich.“ Ich sah ihn unverwandt an und lächelte entschuldigend. „Ich habe mich einfach nur erschrocken.“ Weil du dich für meinen Geschmack etwas zu tief zu mir herunter gebeugt hast. „Ich meine, ich habe überhaupt nicht mit dir gerechnet, und dann bist ausgerechnet du derjenige, der mich aus dem Wasser zieht. Das ist doch verrückt! Wenn ich bedenke, wir oft wir uns bisher zufällig über den Weg gelaufen sind, könnte ich fast glauben, du würdest mich verfolgen.“ „Wir sind zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu einer Reise aufgebrochen. Da ist es gar nicht so ungewöhnlich, dass wir uns ab und an begegnen“, hielt er dagegen. „Und streng genommen war nicht ich es, der dich und Sesokitz aus dem Wasser geholt hat, sondern ein Matrifol, das ich um Hilfe gebeten habe.“ „Nun, selbst wenn du kein bedrohlicher Stalker bist, musst du zugeben, dass es nicht besonders nett von dir war, mich in Rayono City unter falschem Vorwand in ein Riesenrad zu locken.“ Ich wollte ihn eigentlich nur ein wenig aufziehen – blöd nur, dass er nicht darauf anspringen wollte. „Es war nicht meine Absicht, dir Angst einzujagen“, sagte er ruhig. „Aber ich musste dich für eine Weile aufhalten, um meine Leute schützen zu können.“ Der bitterernste Ton, in dem er das sagte, brachte mich gegen meinen Willen zum Kichern. Ich räusperte mich, um den Kicherkrampf im Keim zu ersticken, konnte ein Grinsen aber immer noch nicht unterdrücken. „Wie auch immer – danke, dass du mich gerettet hast.“ „Gern geschehen.“ Er lächelte mich an, und ich konnte gar nicht anders als das Lächeln zu erwidern. Einen Moment lang saßen wir einfach nur so da und lächelten uns an. Und es war ... schön. Obwohl ich immer noch nass war und vor Kälte zitterte, obwohl die Verletzung an meinem Kopf immer noch unangenehm pochte, obwohl draußen immer noch dieses unheimliche Gewitter tobte, war ich doch seltsam zufrieden. Dieser friedliche Moment währte ungefähr fünf Sekunden lang und fand schließlich ein jähes Ende, als ich von einem äußerst uneleganten Niesanfall durchgeschüttelt wurde. „Ah!“ Jetzt war es N, der beinahe panisch aufsprang. „Hatte ich total vergessen! Du bist immer noch klatschnass! Du musst dich umziehen! Ich werde rausgehen und-“ „-ebenfalls klatschnass werden?“, fragte ich leicht zynisch. Ich schüttelte den Kopf, bereute es aber augenblicklich, weil sich der Schmerz mit alter Intensität zurückmeldete. Ich wartete ab, bis er wieder zu einem leichten Pochen abebbte, dann redete ich weiter. „Bleib hier sitzen. Ich gehe einfach da vorn um die Ecke“, ich deutete auf eine Stelle in fünf Metern Entfernung, an der sich der Höhlengang, in dem wir uns befanden, gabelte, „und ziehe mich dort um.“ Ich zog meinen Rucksack heran, wühlte in einer Seitentasche nach meiner Taschenlampe und zog sie heraus. Sie war nass wie der Rest des Tascheninhalts und funktionierte nicht mehr. Ich drückte mit einem leisen Fluchen ein paar Mal auf dem Knopf herum, dann warf ich die Lampe frustriert zurück in den Rucksack. N reichte mir wortlos seine Taschenlampe und zog gleichzeitig eine weitere aus seinem Rucksack. „Wenn ich dich nicht hätte!“ Als ich die Taschenlampe entgegennahm, streiften unsere Zeigefinger kurz übereinander. Es war nur eine flüchtige und völlig harmlose Berührung – trotzdem breitete sich dabei ein wohliges Kribbeln in meinem Bauch aus. Gott, was ist hier los? Ich räusperte mich, griff nach meinem Rucksack und stolperte beinahe fluchtartig davon, allerdings war mir dabei nicht ganz klar, wovor ich flüchtete – vor N oder meinen eigenen wirklich seltsamen und noch dazu unangebrachten Gefühlen? Auf halber Strecke fielen mir die Pokébälle an meinem Gürtel wieder ein, und plötzlich kam mir in den Sinn, wie meine Mutter und meine Freunde wohl reagieren würden, wenn sie wüssten, dass ich mich gerade zusammen mit einem Jungen, den ich kaum kannte, in einer einsamen Höhle aufhielt und kurz davor war, mich ganz in seiner Nähe umzuziehen. Die Vorstellung, dass N mich beim Umziehen bespannen könnte, war eigentlich vollkommen lächerlich (aber warum wurde mein Gesicht bei dem Gedanken daran so heiß?) Mir war klar, dass es für Außenstehende eigenartig, vielleicht sogar dumm erscheinen würde, aber auf gewisse Weise vertraute ich N. Mochte ich ihn sogar. Obwohl ich wusste, dass er der König von Team Plasma war und obwohl ich die Methoden dieser Organisation alles andere als gutheißen konnte, mochte ich N. Weil ich wusste, dass er – auf seine Weise – nur versuchte, das Richtige zu tun. Woher ich das wusste, konnte ich nicht wirklich erklären, ich wusste es einfach instinktiv. Genau, wie ich instinktiv wusste, dass N mich nicht beim Umziehen bespannen würde. Andererseits ... war Vorsicht besser als Nachsicht. Und irgendwie wurde ich den Gedanken nicht los, dass ich es meiner Mutter und meinen Freunden einfach schuldig war, vorsichtig zu sein. Ich drehte mich noch einmal um und sagte: „Ich werde meine Pokémon für eine Weile rauslassen.“ Falls N begriff, aus welchen Gründen ich das tat, ließ er es sich nicht anmerken. „Gute Idee, sie werden sicher glücklich sein, wenn sie ein wenig frei herum laufen können.“ Du mich auch, Mann ... du mich auch. Ich führte zurzeit vier Pokémon mit mir: Zwottronin, Fasasnob, Rokkaiman und Flampion. Und sie alle hatten Spitznamen von mir bekommen, weil es mir persönlicher und vertraulicher erschien, meine Pokémon mit Namen anzusprechen. Zwottronin war mein Starter-Pokémon, ich hatte es zum Antritt meiner Reise von Prof. Esche erhalten, als es noch ein Ottaro gewesen war. Es war weiblich und hatte den Spitznamen Shelly. Fasasnob, mein zweites Pokémon, war ebenfalls weiblich und hieß Stella. Rokkaiman und Flampion waren beide männlich und trugen die Spitznamen Sir Crocodile und Cheeta. Ich löste die Pokébälle von meinem Gürtel und ließ alle Pokémon gleichzeitig heraus. N hatte Recht: Sie waren tatsächlich glücklich darüber, dass sie ihre Pokébälle wieder verlassen durften. Cheeta hüpfte vergnügt an meinen Beinen hoch, Shelly und Sir Crocodile fingen wieder einmal an, sich zu kabbeln, und Stella inspizierte eifrig die Höhle. Keiner von ihnen schien überrascht oder verärgert zu sein, N wiederzusehen. Ich hob Cheeta hoch und knuddelte ihn, gerührt von der grenzenlosen Zuneigung, die er mir entgegenbrachte, und setzte ihn nach ein paar Sekunden nur widerwillig wieder ab. Ich rief die anderen zu mir, was der kleinen Rauferei zwischen Shelly und Sir Crocodile ein Ende setzte, und erklärte ihnen, dass ich kurz verschwinden würde und sie solange hier auf mich warten sollten. Es beeindruckte mich immer wieder aufs Neue, wie leicht es ihnen fiel, mich zu verstehen; obwohl sie sich mit mir nicht auf die gleiche Art verständigen konnten wie mit N, begriffen sie immer, was ich ihnen sagte. Shelly riss eine ihrer Muscheln in die Höhe und hob sie wie zum Salut an den Kopf, um mir zu verdeutlichen, dass sie verstanden hatten. Ich tätschelte ihr lachend den Kopf, schnappte meinen Rucksack und verdrückte mich endlich um die Ecke, wobei ich eine Spur aus Wassertropfen hinter mir herzog. ~ Nachdem ich um die Ecke gebogen war, ging ich noch etwa sieben Meter weiter, bis ich eine Nische in der Felswand fand, hinter der ich mich verbergen konnte. Es mochte albern sein, doch das war mir egal: Wenn ich die Wahl hatte, mich mitten im Gang umzuziehen, wo ich mich wie auf dem Präsentierteller fühlte, oder in einer Nische, dann nahm ich definitiv lieber die Nische. Zuerst inspizierte ich die Seitentaschen meines Rucksacks, in denen ich allerlei Kleinkram aufbewahrte. Das Ergebnis war zwar nicht sonderlich überraschend, aber trotzdem ernüchternd. Alles war klatschnass und durchgeweicht: das Lunchpaket, das ich mir erst am Morgen eingepackt hatte, die Ledertasche, in der ich meine Orden aufbewahrte, sogar der Pokédex. Ich konnte nur hoffen, dass er dadurch nicht zu sehr beschädigt war und wollte gar nicht erst darüber nachdenken, wie enttäuscht Prof. Esche reagieren würde, wenn ich ihn kaputt zu ihr zurückbringen müsste. Im Mittelfach meines Rucksacks bewahrte ich meinen Schlafsack, ein einzelnes Handtuch und ein paar Wechselsachen auf, gerade so viel, dass es für eine Reise ausreichte ohne dass es meinen Rucksack zu sehr beschwerte. In diesem Moment dankte ich Cheren von Herzen, weil er mich immer und immer wieder damit genervt hatte, dass ich dieses Zeug besser in zusätzlichen Plastiktüten verpacken sollte, denn jetzt endlich machte sich das bezahlt. Ich zog die einzelnen Tüten aus meinem Rucksack, schlüpfte in Windeseile aus meinen Klamotten und rubbelte mich und meine Haare so schnell wie möglich mit dem Handtuch trocken. Als ich in neue Unterwäsche, eine lange Jeans, Socken, Schuhe und einen Pullover schlüpfte, fühlte ich mich wie ein anderer Mensch. Es war zwar immer noch kalt in der Höhle, mein Kopf tat immer noch weh, aber ich war endlich trocken, was mir im Vergleich zu vorher fast schon wie Luxus erschien. Nur eine Sache fehlte: meine Kappe. Es war bescheuert, das wusste ich selbst, aber das Ding war ein Geschenk meiner Mutter und ich hatte mich inzwischen so sehr daran gewöhnt, es zu tragen, dass sich mein Kopf ohne es seltsam schutzlos und empfindlich anfühlte ... nun, das konnte allerdings auch an meiner Verletzung liegen. Als ich vorsichtig, fast schon ängstlich begann, die Wunde abzutasten, spürte ich nur ein leichtes Brennen an der Stelle. Die Wunde hatte einen Durchmesser von etwa fünf Zentimetern und war bereits mit einer Schicht aus Schorf überzogen. Solange ich meinen Kopf nicht allzu hektisch bewegte, hielt sich der Schmerz in Grenzen. Ich tastete den Rest meines Körpers ab, um nach weiteren potentiellen Verletzungen zu suchen, fand zum Glück aber nur eine Schramme im Gesicht, die kaum wehtat und mir harmlos erschien. Trotzdem war ich ein wenig beunruhigt. Ich machte mir Sorgen, dass ich mir vielleicht eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte, und ärgerte mich gleichzeitig über meine eigene Hilflosigkeit. Ein Anflug von Heimweh überfiel mich, so plötzlich und heftig, dass es mich selbst überraschte, und für einen kurzen Moment wünschte ich mir einfach nur, zurück zu meiner Mutter zu laufen und mich von ihr betüddeln zu lassen. Du bist so jämmerlich, Touko. Du wusstest von Anfang an, dass diese Reise nicht ganz ungefährlich sein würde, und schon bei der kleinsten Gefahr willst du zurück zu deiner Mami laufen und dich in deinem Bettchen verkriechen? Reiß dich gefälligst zusammen! Ich lächelte selbstironisch und schielte auf den Viso Caster an meinem rechten Handgelenk. Das Gerät funktionierte normalerweise nicht bei Gewitter, weil der Empfang dadurch gestört wurde, aber ein kleiner Versuch konnte ja nicht schaden ... auch wenn ich mir selbst deswegen lächerlich vorkam, ich wollte die Stimme meiner Mutter hören, basta! Ich schaltete den Viso Caster ein, wartete ein paar Sekunden lang besorgt – Wird er nach meiner unfreiwilligen Dusche überhaupt angehen? – und atmete erleichtert auf, als das Display erleuchtete. Ich wählte mich durch das Menü, bis die Telefonnummer meiner Mutter auf dem Display erschien, und drückte auf „Verbinden“. Der übliche Piepton ertönte, als das Gerät versuchte, eine Verbindung aufzubauen. Dann ertönte das unmissverständliche Rauschen, das ich bereits erwartet hatte, und die Meldung „Die gewählte Nummer ist zurzeit nicht erreichbar“ tauchte auf dem Display auf. Ich seufzte selbstmitleidig, probierte mehr aus Trotz denn aus Hoffnung noch die Nummern von Bell und Cheren aus und kapitulierte schließlich. Nun, es war ohnehin an der Zeit, zu N und meinen Pokémon zurückzukehren. Ich hatte das Gefühl, dass ich schon ziemlich lange fort war, und ich wollte nicht, dass N hier auftauchte und nach mir suchte. Ich zog einen Plastikstreifen mit eingeschweißten Schmerztabletten aus meinem Rucksack, schluckte eine, um meine Kopfschmerzen einzudämmen und einer möglichen Erkältung vorzubeugen, dann machte ich mich auf den Rückweg. ~ Während meiner Abwesenheit hatte N eine große Decke auf dem Boden ausgebreitet. Das Sesokitz lag auf der Decke, zusammen mit Stella und Shelly, die es in ihre Mitte genommen hatten und sich eng an es kuschelten, offensichtlich in dem Bemühen, es zu wärmen. Sir Crocodile zog wie ein Wächter Kreise um die Decke, Cheeta hüpfte immer noch fröhlich in der Höhle herum und N saß neben der Decke, streichelte das Sesokitz und redete im leisen und beruhigenden Ton auf es ein. Mein Blick verharrte für mehrere Sekunden auf dieser friedlichen Szene, dann wandte ich mich zu dem insektenartigen Pokémon um, das neben der Ecke stand, um die ich gerade herum gebogen war. „Hey“, sagte ich leise, „du musst das Matrifol sein, das mich aus dem Fluss gerettet hat.“ Das Pokémon legte den Kopf schräg als ich es ansprach, und blickte mit seinen großen Insektenaugen zu mir auf. Ich hob ganz langsam meine Hand und ging einen Schritt auf es zu. Die Antennen des Pokémon zitterten leicht, doch als es keine Anstalten machte, sich von mir zurückzuziehen, setzte ich einen zweiten, vorsichtigen Schritt und legte schließlich wie in Zeitlupe meine Hand auf seinen Kopf. Mehrere Sekunden lang blieb ich einfach nur still stehen, wartete ab, ließ dem Matrifol Zeit, sich an meine Berührung zu gewöhnen. Dann fing ich an, mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen seinen Kopf zu streicheln. Das Pokémon schloss die Augen und gab einen leisen, rasselnden Laut von sich. „Es mag dich.“ Erschrocken drehte ich mich um. N hatte aufgehört, das Sesokitz zu streicheln, und beobachtete mich mit einem Lächeln, das meine Wangen zum Glühen und mein Herz zum Hüpfen brachte. Ich wich seinem Blick aus und rang mir ein bemüht unverfängliches Lachen ab. „Ich mag es ebenfalls“, erwiderte ich. „Wie könnte ich auch anders, nachdem es mir das Leben gerettet hat?“ Ich streichelte das Matrifol noch ein paar Mal, dann ging ich zu N herüber und setzte mich neben ihn vor die Decke, um das Sesokitz näher zu betrachten. „Wie geht es ihm?“, fragte ich leise. „Es hat zum Glück keine ernsthaften Verletzungen, aber es ist sehr geschwächt. Nicht nur, weil es in den Fluss gefallen ist. Dieses Sesokitz ist erst acht Wochen alt. Normalerweise werden Sesokitz in diesem Alter noch von ihrer Mutter gesäugt, doch dieses hier hat seine Mutter vor zwei Tagen verloren.“ N sah mich von der Seite an, und plötzlich loderte eine unverhohlene Wut in seinen smaragdgrünen Augen, die mich wieder einmal aufs Neue erschreckte. “Ich habe es gefragt, wie es seine Mutter verloren hat, Touko. Sie ist in ein Fangeisen getreten und qualvoll verendet. Irgendjemand legt dort draußen Fallen aus.“ Es verschlug mir die Sprache. Ich wusste, dass es Menschen gab, die Pokémon jagten; natürlich wusste ich das. Die Gründe dafür waren vielfältig: Manche Menschen stellten Fallen auf, um wilde Pokémon von ihren Grundstücken fernzuhalten, andere aßen ihr Fleisch und verarbeiteten ihre Haut zu Leder oder ihr Fell zu Pelz. Aber ich war fernab von diesen Dingen aufgewachsen, in meinem Heimatdorf Avenitia war es verpönt, Pokémon zu jagen oder zu quälen. Es war eine Sache, davon zu wissen, dass es Pokémon-Jäger gab, eine völlig andere jedoch, so offen damit konfrontiert zu werden. Ich hätte entsetzt sein sollen, vielleicht auch wütend, aber tatsächlich empfand ich ... gar nichts. Als würde N all die Wut und das Entsetzen für sich allein beanspruchen. Er schien eine Reaktion von mir zu erwarten, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte, mein Hirn war wie leergefegt. Also griff ich nach seiner Hand und drückte sie, eine stumme Geste des Einverständnisses. Seine goldenen Armreife schlugen gegeneinander und klimperten leise. Er trägt ziemlich viel Schmuck für einen Jungen, dachte ich, und ärgerte mich im nächsten Moment darüber, dass ich in dieser Situation so etwas Dämliches denken konnte. Es dauerte mehrere Sekunden, bis ich mich endlich zum Reden überwinden konnte: „Als ich in Marea City war, habe ich mir auf dem Markt eine Flasche Kuhmuh-Milch gekauft. Es ist sicher nicht so gut wie die Muttermilch, aber immer noch besser als gar nichts.“ N starrte mich an. Es war verstörend; in der ersten Sekunde dachte ich wirklich, dass ein Teil von ihm gleich überschnappen würde, dass sich seine ganze Wut auf mich selbst fokussieren würde, weil ich die Sache mit dem Fallensteller und den grausamen Tod der Sesokitz-Mutter einfach ignorierte. Dann erlosch die Wut in seinem Blick so plötzlich wie eine Kerzenflamme im Wind. „Du hast Recht, etwas Kuhmuh-Milch würde ihm sicher gut tun.“ ~ „Erzähl mir noch mal von Anfang an, was heute passiert ist“, sagte ich etwas später. N und ich saßen nebeneinander, mit dem Rücken an die Höhlenwand gelehnt, und betrachteten die Pokémon, die sich vor uns auf der Decke zusammengekauert hatten. N hatte sich umgezogen, während ich das Sesokitz mit der Milch gefüttert hatte. Anschließend hatten wir unsere Schlafsäcke ausgepackt und uns so weit wie möglich darin verkrochen. Es half ein wenig gegen die Kälte, aber nicht genug. Ein Feuer wäre gut gewesen, war ohne Brennholz jedoch unmöglich in Gang zu halten. Immerhin hatten wir warmen Tee; ich hatte mir am Morgen eine Thermoskanne mit Pirsifbeerentee eingepackt, die Cheeta mit einer schwachen Glut-Attacke problemlos wieder erwärmt hatte. Manchmal war es durchaus von Vorteil, ein Feuer-Pokémon im Team zu haben. N nahm einen Schluck Tee und reichte den Becher an mich weiter. „Ich war auf dem Weg zur Elektrolith-Höhle“, begann er. Ich umklammerte den Becher mit beiden Händen und inhalierte den warmen Dampf, der daraus emporstieg. „Genau wie ich. Wurdest du auch von dem Gewitter überrascht? Es kam im wahrsten Sinne des Wortes aus heiterem Himmel. Ich hatte nicht einmal Zeit, meine Jacke auszupacken und anzuziehen.“ „Ich hatte eine Ahnung, dass so etwas passieren würde. Nicht, weil ich Zeichen dafür im Himmel erkennen konnte. Ich spürte es. Ich spürte sie.“ „Sie?“ Ich begriff nicht, wovon er sprach. „Wen meinst du?“ „Die legendären Pokémon. Boreos und Voltolos.“ „Boreos und-“ Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder daran erinnern konnte, woher ich diese Namen kannte. „Du meinst die Wettergötter? Aber ... das ist doch nur eine alte Legende! Meine Mutter hat mir früher Gute-Nacht-Geschichten über sie erzählt!“ „Die meisten Geschichten haben einen wahren Kern.“ Dem amüsierten Lächeln nach zu urteilen, das plötzlich über Ns Gesicht huschte, war mir meine Ungläubigkeit sehr deutlich anzusehen. „Es sind keine Götter, jedenfalls nicht so, wie du dachtest. Es sind Pokémon. Legendäre Pokémon. Boreos, der Herr der Winde, und Voltolos, der Herr des Donners.“ „Moment mal.“ Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich, als ich begriff, worauf er hinaus wollte. „Du meinst ... dieses Unwetter ... das sind diese beiden Pokémon?“ N brauchte gar nichts zu sagen, sein Blick war schon Antwort genug. Ich kauerte mich in meinen Schlafsack und lauschte dem Donner, der ausgerechnet in diesem Moment ertönte, als wüssten die Pokémon, dass wir gerade über sie redeten. So laut, wie das Geräusch war, ließ es eigentlich nur den Schluss zu, dass sich das Zentrum des Gewitters direkt über der Höhle befand. Die Vorstellung, dass ein Pokémon für diese Naturgewalt verantwortlich war, war immer noch schwer greifbar für mich. Es war Ehrfurcht einflößend, faszinierend und beängstigend zugleich. Ich unterdrückte ein Schaudern und nahm einen weiteren Schluck Tee. „Du hast sie also gespürt. Und dann?“ „Zuerst habe ich selbst nicht begriffen, dass es Boreos und Voltolos waren. Ich wusste nur, dass sich irgendetwas näherte. Etwas Großes. Und dann fing es auch schon an, zu stürmen und zu gewittern, ganz plötzlich, wie du schon sagtest.“ N nickte gedankenverloren. „Ich war begeistert, dass ich Zeuge eines solchen Ereignisses sein durfte, begriff aber schnell, dass es zu gefährlich sein würde, länger draußen zu sein als nötig. Ich wusste, dass sich die Panaero-Höhle ganz in der Nähe befindet, also habe ich beschlossen, dort Deckung zu suchen. Ich hatte die Brücke schon überquert, den Eingang zur Höhle schon fast erreicht, als ich die Hilfeschreie von Sesokitz hörte. Ich bin wieder umgekehrt, um nachzusehen, was los ist, und kam gerade noch rechtzeitig bei der Brücke an, um zu sehen, wie du versucht hast, das Sesokitz zu retten und wie du ins Wasser gestürzt bist.“ „Und dann hast du einfach mit den Fingern geschnippt, und schon kam ein Matrifol aus den Büschen gesprungen und hat uns aus dem Wasser geholt.“ Die ironische Bemerkung war mir entschlüpft, bevor ich es verhindern konnte, doch N nickt nur ernst. "So ähnlich könnte man es nennen, ja. Es hängt mit meiner Fähigkeit zusammen. Ich kann Pokémon ... spüren, anders kann ich es nicht erklären. Ich spüre ihre Anwesenheit, sogar ihre Gefühle, wenn ich mich nur stark genug darauf konzentriere, und ich kann durch meine Gedanken zu ihnen sprechen und sie können antworten. Deshalb wusste ich, dass das Sesokitz in Gefahr war, obwohl ich seine Schreie rein akustisch aus der Entfernung nicht hören konnte. Deshalb wusste ich, dass ein Matrifol in der Nähe war; deshalb konnte ich es bitten, euch mit seiner Fadenschuss-Attacke aus dem Fluss zu ziehen. Deshalb fällt es mir so leicht, mit Pokémon Freundschaft zu schließen. Und aus diesem Grund konnte ich bei unserer ersten Begegnung auch mit deinen Pokémon reden, obwohl sie sich in ihren Pokébällen befanden. Es ist vergleichbar mit-" "Telepathie", murmelte ich leise. Ich hatte schon davon gehört. Obwohl ich bisher noch keinem anderen Trainer mit einer solchen Gabe begegnet war, wusste ich, dass es sie gab. Kattlea von den Top Vier war das beste Beispiel dafür. Ich betrachtete mein schemenhaftes Spiegelbild auf der Oberfläche des Tees und versuchte mir vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, genau wie N mit Pokémon kommunizieren zu können. Wie es sich anfühlen würde, ihre Gefühle wahrzunehmen, richtig mit ihnen sprechen zu können, völlig mit ihnen im Einklang zu sein. Eine Wunschvorstellung, nichts weiter. Ich würde niemals in der Lage sein, das Band zwischen N und den Pokémon wirklich zu verstehen. Dieser traurige Gedanke drohte mich zu überwältigen, doch dann wurde mir plötzlich klar, dass es N genauso erging: Auch N würde wahrscheinlich niemals wirklich das Band zwischen mir und meinen Pokémon verstehen können. Und dann dachte ich daran, wie meine Pokémon jedem Wort, das ich an sie richtete, mit höchster Aufmerksamkeit lauschten. Wie sie um mich herumtollten, wenn sie glücklich waren. Wie sie sich an mich kuschelten, wenn ich traurig war. Wie Shelly strahlte, wenn ich die Schönheit ihrer Muscheln lobte. Wie Stella ihr Gefieder aufplusterte, wenn ich sie anstupste. Wie Cheeta quietschte, wenn ich ihn umarmte. Wie Sir Crocodile behaglich die Augen schloss, wenn ich ihn an seinem empfindlichen Bauch kitzelte. Wie sie alle in unseren Kämpfen jedem meiner Befehle im blinden Vertrauen gehorchten. Und mir wurde klar: Ich brauche das gar nicht. Ich brauche Ns Fähigkeit nicht, um meine Pokémon zu verstehen. Ich verstehe sie anders als er, aber das reicht völlig aus. „Du hast mit meinen Pokémon gesprochen, während du mich in diese Höhle gebracht hast“, sagte ich plötzlich. Der Gedanke kam wie aus dem Nichts, aber ich wusste instinktiv, dass es stimmte. „Sie waren überhaupt nicht überrascht, dich zu sehen, als ich sie aus ihren Pokébällen herausholte.“ „Du hast Recht.“ N hatte immerhin den Anstand, eine zerknirschte Miene aufzusetzen. „Sie haben die Erschütterung gespürt, als du in den Fluss gefallen bist, und ich habe sie beruhigt und ihnen erklärt, dass es dir gutgehen würde.“ „Wag es ja nicht, sie gegen mich aufzuhetzen!“ Ich drohte ihm mit dem ausgestreckten Zeigefinger, aber er lachte nur. „Das könnte ich gar nicht. Dazu lieben sie dich zu sehr.“ Ich war schon wieder gefährlich kurz davor, zu erröten, schüttelte die Verlegenheit jedoch ab und sagte nur: „Und ich liebe sie.“ Ja, ich liebte sie, und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich noch ohne sie leben sollte. „Ich liebe sie, und ich liebe es zu beobachten, wie sie jeden Tag ein wenig stärker werden. Ich liebe es, von ihnen zu lernen, ich liebe es zu sehen, wie sie von mir lernen. Ich liebe es, einfach mit ihnen zusammen zu sein, mit ihnen zu trainieren, sie zu streicheln und in den Arm zu nehmen. Sie sind ein Teil meiner Familie geworden, und das macht mich so glücklich, dass ich es kaum in Worte fassen kann.“ N nickte verständnisvoll, doch auch ein wenig melancholisch, und ich wusste, wo diese Melancholie herrührte: In der Zukunft, die N gestalten wollte, würde es keine Trainer mehr geben. Nicht, wenn ich es irgendwie verhindern kann. „Es ist wirklich bedauerlich“, sagte er, als hätte er gerade meine Gedanken gelesen. „Wenn mehr Trainer so wären wie du, wäre es gar nicht notwendig, meinen Plan in die Tat umzusetzen.“ „Bist du dir da sicher?“ Ich bemühte mich gar nicht darum, meine Skepsis zu verbergen, ganz im Gegenteil. Ich stürzte den Tee mit einem Zug hinunter und stellte den Becher mit einer resoluten Geste auf dem Boden ab, bevor ich mich zu ihm umdrehte, um ihm direkt ins Gesicht blicken zu können. „Ich bin mir da nämlich nicht so sicher, N. Versteh' mich nicht falsch - mir ist klar, dass nicht alle Menschen ihre Pokémon gut behandeln, und ich bin auch der Meinung, dass dagegen etwas getan werden muss. Aber die meisten Trainer, die ich bisher auf meiner Reise getroffen habe, haben ihre Pokémon wirklich gern gehabt, genau wie ich. Deshalb denke ich nicht, dass es richtig wäre, sie zu zwingen, ihre Pokémon freizulassen oder sie ihnen sogar wegzunehmen. Es würde beide Seiten nur unglücklich machen.“ Ich ließ ihn während meiner ganzen Rede nicht aus den Augen und studierte seine Gesichtszüge genau, um seine Reaktion abschätzen zu können. Was ich erwartete, wusste ich selbst nicht - vielleicht Enttäuschung, weil ich mich seiner Meinung immer noch nicht anschließen wollte? Nun, mit dem mitleidigen Lächeln, das sich gerade auf seinem Gesicht ausbreitete, hatte ich jedenfalls nicht gerechnet. „Es ist klar, dass du so denkst, Touko. Du bist in einer heilen, fröhlichen Welt aufgewachsen, aber es ist nicht überall so wie in deiner Heimat. Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe, würdest du die Dinge anders betrachten.“ Ich schwankte hin und her zwischen Beunruhigung („Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe“) und Verärgerung über seine herablassende Art. „Du tust so, als hätte ich in meinem ganzen Leben keinen einzigen Schritt aus Avenitia gesetzt, aber das stimmt nicht. Auch wenn ich noch nicht alles von Einall gesehen habe, bin ich doch schon ein wenig herumgekommen. Ich bin nicht so weltfremd wie du glaubst.“ „Bist du nicht? Wieso hast du dann so entsetzt reagiert, als ich dir von der Falle erzählt habe, die die Mutter von Sesokitz verletzt und letztendlich getötet hat? Ich habe es gesehen, Touko, du warst nicht einfach nur bestürzt oder wütend, du warst absolut fassungslos, als könntest du es gar nicht glauben. Du sagst, du wüsstest, dass nicht alle Menschen ihre Pokémon gut behandeln, aber das stimmt nicht - du weißt es nicht wirklich.“ Er beugte sich etwas nach vorn; seine Nähe war jetzt fast schon unangenehm, aber ich war zu erstarrt, um zurückzuweichen. „Glaubst du etwa, dass dieser Fallenleger ein Einzelfall ist? Eine Ausnahme?“ Er schnaubte ungläubig. „Das ist er nicht. So etwas passiert ständig, Touko, wahrscheinlich sogar in dieser Sekunde: Pokémon werden gequält und ausgenutzt. Doch die meisten Menschen verschließen die Augen davor und ignorieren es, solange es sie nicht direkt betrifft.“ „Ah, jetzt bin ich also nicht nur weltfremd, sondern auch ignorant?“ „Und naiv.“ Er meinte es nicht einmal beleidigend, sein Tonfall war absolut sachlich, doch das machte es für mich nur noch unerträglicher. „Und du etwa nicht?! N, du willst die Menschen ernsthaft dazu zwingen, sich von ihren Pokémon zu trennen! Merkst du nicht, wie illusorisch das ist? Wir Menschen leben schon seit Jahrhunderten mit den Pokémon zusammen, das kannst du nicht einfach so ändern! Ich finde es bewundernswert, wie du dich für die Pokémon einsetzt, aber dieser Plan ist einfach nicht der richtige Weg, er ist zu ... zu drastisch! Es muss auch anders gehen!“ Ich hasste es, wie meine Stimme zitterte, schreckte vor dem Zorn zurück, der in seinen Augen aufblitze und hasste es, dass ich mich von ihm einschüchtern ließ. „Denkst du etwa, es bereitet mir Vergnügen, zu solchen Mitteln zu greifen?“ Wie immer, wenn er aufgeregt war, überschlugen sich seine Worte geradezu. „Das tut es nicht! Aber die Menschen schaden den Pokémon, ob es uns nun gefällt oder nicht! Sie zerstören ihre Lebensräume, verkaufen sie, töten sie, sperren sie in Käfige oder Pokébälle, zwingen sie, an Kämpfen teilzunehmen, bei denen sie sich schwer verletzten können, essen sie ... Kennst du eine bessere Lösung, um daran etwas zu ändern? Eine, die mehr ist, als nur ein Tropfen auf dem heißen Stein?“ Die Hilflosigkeit, die ich angesichts dieser Anklage empfand, war schier überwältigend. „Nein“, sagte ich leise. Der Triumph in seinem Blick entging mir nicht. „... Aber das heißt nicht, dass es diese Lösung nicht gibt. Wir müssen nur danach suchen.“ „Du kannst gerne danach suchen. Aber ich werde meinen Plan weiter verfolgen.“ „Also schön.“ Ich stand kurz davor, in Tränen auszubrechen, aber ich hatte jedes Wort so gemeint, wie ich es gesagt hatte, und ich wollte verdammt nochmal nicht heulen. Das letzte, was ich wollte, war sein Mitleid - es war schon schlimm genug, dass er mich nicht richtig ernst nahm. Ich rückte ein paar Zentimeter von ihm ab und stand schließlich auf. Vor ein paar Minuten noch hatte ich Ns Anwesenheit als angenehm empfunden - nun wollte ich am liebsten so weit wie möglich von ihm weg. Shelly hob den Kopf und sah mich an. Soll ich ihm eine Dusche verpassen?, schien ihr Blick zu sagen, und als N genau im gleichen Moment eine Hand vor sein Gesicht hob, musste ich lachen - es klang hysterisch und verzweifelt, aber immerhin lachte ich. Dann bemerkte ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln, und das Lachen erstarb. ~ Wie schon bei meiner Begegnung mit dem Sesokitz dachte ich zuerst, dass meine überreizten Nerven mir einen Streich gespielt hatten. Ich drehte mich um, kniff die Augen zusammen und spähte in die Richtung, aus der die Bewegung gekommen war, konnte in den Schatten aber nichts entdecken. Nach kurzem Zögern hob ich eine Taschenlampe vom Boden auf und richtete den Lichtstrahl in die entsprechende Richtung – er traf direkt auf ein Paar leuchtend roter Augen. Es war mehr die Überraschung als wirkliche Angst, die mich zurückzucken ließ. Im Hintergrund donnerte es wie in einem schlechten Horrorfilm. Ich stolperte über den Schlafsack, der immer noch an meinen Fußknöcheln hing, und prallte mit dem Rücken gegen N, der plötzlich hinter mir stand. Er hielt mich an den Oberarmen fest und räusperte sich leise. „Du brauchst keine Angst zu haben, sie sind bloß neugierig.“ „Wer …?“ Ich richtete die Taschenlampe erneut auf die Stelle, und diesmal war ich vorbereitet und zuckte nicht zurück. Es waren zwei Milza. Eines von ihnen lugte hinter einem Felsen hervor, das zweite hatte sich schon ein paar Meter weiter vorgewagt und blickte uns neugierig an. N ließ mich los und trat einen Schritt zurück. „Vielleicht trauen sie sich näher heran, wenn wir uns wieder hinsetzen.“ „Hmh.“ Ich mied seinen Blick, kam seiner Aufforderung aber nach, setzte mich wieder auf den Boden und zog den Schlafsack über meine Knie. Es dauerte keine fünf Minuten, bis die beiden Pokémon schließlich ihre Scheu überwunden hatten. Eines von ihnen lief zu der Decke, auf dem meine Pokémon, Matrifol und Sesokitz lagen, schnupperte hier und dort und begann schließlich, mit Shelly Fangen zu spielen. Das zweite blieb direkt vor mir sitzen und blickte mich mit großen Augen an. „Es hofft auf Futter“, erklärte N, und ich musste kichern. „Tut mir leid, ich habe nichts.“ Das Trockenfutter, das ich eigentlich immer bei mir trug, zählte ebenfalls zu den Dingen, die dem Wasser zum Opfer gefallen waren. Ich streckte meine Hände aus, um zu verdeutlichen, dass sie leer waren. Das Milza schnupperte eine Weile lang an ihnen und legte sich schließlich mit einem Geräusch, das einem Seufzen sehr nahe kam, direkt zwischen mir und N auf den Boden. Ich strich gedankenverloren über seine schuppige Haut und das kleine Horn auf seinem Hinterkopf. „Es ist wunderschön“, murmelte ich nach einer Weile, ohne die Worte an eine bestimmte Person zu richten. „Ja“, antwortete N. Ich sah ihn von der Seite an, unschlüssig, was ich sagen sollte. Er hatte ein schiefes Lächeln aufgesetzt. Schon seltsam, auf wie viele verschiedene Arten er lächeln kann. „Sieht so aus, als wären wir jetzt Feinde“, meinte er. Ich ahmte sein schiefes Lächeln nach. „Das waren wir doch eigentlich von Anfang an.“ „Möglich. Vielleicht ist es besser so.“ „Wie meinst du das?“ Er unterbrach unseren Blickkontakt und betrachtete stattdessen die gegenüberliegende Wand, als würde er dort etwas sehen, das ich nicht sehen konnte. „Vielleicht ist es besser, dass jeder von uns nach seinem eigenen Weg sucht. So wie …“ Aber er führte den Satz nicht zuende. „N!“ Ich unterdrückte ein frustriertes Stöhnen. „Ich verstehe nicht, wovon du redest!“ „Du wirst es verstehen, wenn es soweit ist.“ „Könntest du diese Geheimniskrämerei jetzt bitte bleiben lassen? Ich möchte-“ Er hob die Hand, um mich abzuwürgen. „Du wirst es verstehen, wenn es soweit ist“, wiederholte er. „Du solltest jetzt besser schlafen. Es war ein anstrengender Tag.“ Damit hatte er definitiv Recht, aber ich hatte keine Lust, mir von ihm den Mund verbieten zu lassen. Ich kam allerdings nicht dazu, ihm genau das sagen, weil er mich zu sehr mit seinen nächsten Worten ablenkte: „Ich hätte das vorhin nicht sagen sollen.“ Mir war natürlich klar, was er meinte. „Soll das eine Entschuldigung sein?“ „Nicht für das, was ich gesagt habe, aber für die Art, wie ich es gesagt habe.“ Ich schwieg für mehrere Sekunden. Am liebsten hätte ich seine Entschuldigung abgewiesen, aber ich konnte mich einfach nicht dazu überwinden. „Na schön“, sagte ich schließlich, ein wenig widerwillig. „Ich nehme deine Entschuldigung an.“ „Danke.“ „Hm!“ Wieder breitete sich Schweigen zwischen uns aus, unterbrochen nur von den gelegentlichen Geräuschen, die Shelly und das Milza beim Spielen verursachten. Dann griff N plötzlich nach meiner Hand. Ich war viel zu überrascht, um sie wegzuziehen, und nachdem ich die Überraschung überwunden hatte, wollte ich es gar nicht mehr. „Ich bin trotz allem froh, dass wir uns begegnet sind, Touko. In Gavina … und auch heute.“ Da lag ein Ernst in seiner Stimme, der mir leichte Schauer über den Rücken jagte. „Ja“, antwortete ich sanft. „Mir geht es genauso.“ Und das war die Wahrheit. ~ Anmerkungen: Auch wenn es Pokémon in vielerlei Hinsicht an Logik mangelt, habe ich mich bemüht, dieses Kapitel möglichst realitätsnah darzustellen. Dazu gehört unter anderem, dass Touko keine Umhängetasche trägt, wie im Spiel dargestellt, sondern einen großen Rucksack. Ns Auftreten spiegelt den Eindruck wider, den ich beim Spielen von seiner Rolle erhielt. Ich weiß, dass manche Fans ihn eher weinerlich darstellen, aber so kam er bei mir nicht rüber. Auf mich wirkte er sehr charismatisch, aber auch ein wenig arrogant, und er konnte mitunter auch ziemlich aufbrausend sein. Entsprechend verhält er sich in diesem Kapitel. Ihm telepathische Fähigkeiten zu geben, war meine eigene Idee. Die lapidare Erklärung, dass er die Sprache der Pokémon halt versteht, weil er mit ihnen aufgewachsen ist, konnte mich nie wirklich zufrieden stellen, da finde ich meine Erklärung um einiges nachvollziehbarer. Und weil es in den Spielen tatsächlich Psychos gibt (ist nicht als Beleidigung gemeint, die Trainer-Klasse heißt wirklich so!), widerspricht es auch nicht dem Canon. Danke fürs Lesen! :) Ein Kapitel wird es noch geben, und dann ist diese Geschichte auch schon zuende. Kapitel 3: Die Hoffnung ----------------------- Seit ich denken kann, wollte ich Trainerin werden. Darin hatte für mich nie ein Zweifel bestanden, nicht der geringste. Es war wie ein unumstößliches Gesetz: Touko wird eines Tages Trainerin werden. Avenitia war ein abgelegenes Dorf, Orden gab es dort auch keine zu gewinnen, und dennoch geschah es ab und zu, dass ein Trainer in meiner Heimat aufkreuze und uns Kindern Geschichten erzählte; von abenteuerlichen Reisen, aufregenden Kämpfen, fremden Städten und unberührter Natur. Ich hatte all diesen Geschichten gelauscht, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen. Ich hatte jedes einzelne Wort in mir aufgesogen wie ein Schwamm und immer hatte eine leise Stimme in meinem Unterbewusstsein geflüstert: Das will ich auch. Ich hatte Bücher gelesen und Karten studiert, versucht mir die verschiedenen Städtenamen und Pokémon zu merken und davon geträumt, wie ich als Trainerin durch die weite Welt ziehen, Abenteuer erleben, ein paar Orden gewinnen und neue Freunde kennenlernen würde. Nun war ich bereits seit mehreren Wochen Trainerin. Ich hatte sechs verschiedene Städte besucht, fünf Orden gewonnen, einige Pokémon gefangen und etliche Pokémon gesehen. Und ich hatte begriffen, dass das Leben einer Trainerin tatsächlich großartig war, aber dennoch ein paar nicht unerhebliche Schattenseiten hatte. Zu diesen Schattenseiten zählten unter anderem ungehobelte Trainer, die mir nach langen Wanderungen auflauerten und mir unbedingt Kämpfe aufdrängen wollten, obwohl ich völlig erschöpft war, Team-Plasma-Rüpel, die versuchten, meine Pokémon zu klauen und Übernachtungen im Freien. Am schlimmsten waren definitiv die Übernachtungen im Freien. Ungehobelten Trainern und Team-Plasma-Rüpeln konnte ich immerhin in den Hintern treten, wenn sie mich zu sehr nervten. Gegen Übernachtungen im Freien konnte ich allerdings nicht sehr viel ausrichten, sie waren in manchen Situationen leider unvermeidbar. Viele Menschen glaubten seltsamerweise, dass Übernachtungen im Freien schön, aufregend und romantisch waren. Nun, in manchen Situationen waren sie das tatsächlich. Wenn das Wetter und ca. tausend andere Faktoren so freundlich waren, mitzuspielen. Da sie das aber nur äußerst selten taten, waren Übernachtungen im Freien hauptsächlich eines: scheiße. Wer – wie ich – kein Zelt mit sich herumschleppte, war gezwungen, einen geschützten Unterschlupf, wie zum Beispiel eine Höhle, zu finden. Wer keinen solchen Unterschlupf finden konnte, war gezwungen, auf Gras oder Waldboden zu schlafen, und dabei sämtlichen Witterungen, von Regen bis hin zu Nebel, schutzlos ausgesetzt. Aber auch das Schlafen in einer Höhle war nicht unbedingt angenehm. Man lag verspannt in einem dünnen Schlafsack auf nacktem, kaltem Felsboden, kleine, spitze Steinchen pieksten einem unaufhörlich in den Rücken, ein kühler Luftzug wehte hinein, Halsschmerzen- Halt, nein. Halsschmerzen zählten nicht unbedingt zu den Konsequenzen einer Übernachtung in einer Höhle. Warum hatte ich Halsschmerzen? Ich blinzelte träge, wischte mir den Schlafsand aus den Augen und unterdrückte ein Stöhnen als mir klar wurde, dass mir all meine Gliedmaßen wehtaten. Verdammt, ich bin zu jung, um mich wie eine Oma zu fühlen! Ich betrachtete die Höhlendecke, die nun in dämmriges Tageslicht gehüllt war, und wartete ab, bis die Erinnerungen zurückkehrten. Das Gewitter … das Sesokitz … ich war in den Fluss gefallen, N hatte mich gerettet und in diese Höhle gebracht … wir hatten das Sesokitz gepflegt, uns unterhalten und gestritten und den Streit schließlich in einer Art Waffenstillstand wieder begraben. Ich erinnerte mich noch daran, wie N mir gestanden hatte, dass er froh war, mich kennengelernt zu haben, und wie sehr mich das auf unheimliche Weise glücklich gemacht hatte. Kurz darauf hatten wir uns hingelegt, um zu schlafen. Wir hatten eine der Taschenlampen angelassen, um ein wenig Licht zu haben, und so hatte ich beobachten können, wie N mit diesem nachdenklichen Gesichtsausdruck ins Leere starrte, tief in Gedanken versunken, und ich hatte mir den Kopf darüber zerbrochen, worüber zum Teufel er so angestrengt nachdachte, ohne es zu wagen ihn anzusprechen … und dabei bin ich schließlich eingeschlafen. Das Gewitter war inzwischen vorüber, anscheinend waren Boreos und Voltolos weitergezogen. Das Dumme war nur: N war ebenfalls fort. Ich dachte (und hoffte) zuerst, er hätte unser Lager nur kurzfristig verlassen, um sich draußen ein wenig umzusehen, doch das war nichts weiter als naives Wunschdenken. Sein Schlafsack und sein Rucksack waren verschwunden, sogar das Matrifol, das uns geholfen hatte, und die beiden Milza waren fort. Es war eindeutig; N war gegangen, während ich geschlafen hatte, und das Einzige, was er zurückgelassen hatte, waren seine Decke, das Sesokitz, der Pokéball, mit dem er es eingefangen hatte und eine Taschenlampe, die ich nicht brauchte, weil es inzwischen hell war. Und ein zusammengefalteter Zettel, der neben meinem Schlafsack lag. Ich starrte den Zettel an und versuchte, die Enttäuschung, die sich in mir breitmachte, zu überwinden. Was hatte ich eigentlich erwartet? Wir waren, streng genommen, Feinde. N hatte es selbst gesagt, und ich hatte es bestätigt. N schuldete mir nichts. Im Grunde genommen konnte ich froh sein, dass er sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, mich aus diesem Fluss zu ziehen und mir das Leben zu retten. Aber warum tat der Gedanke, dass er sich klammheimlich davon gemacht hatte, dann so weh? Ich hätte den Zettel am liebsten in einer kindischen Trotzreaktion zerrissen und ihn einfach ungelesen liegengelassen, aber … wie schon gesagt: Das wäre kindisch gewesen. Und ich wollte mich nicht kindisch verhalten, und nicht länger in Selbstmitleid versinken. Also riss ich mich zusammen und hob den Zettel auf. Es war eine ausgerissene Seite aus einem Ringbuch, einfach gefaltet und an den Kanten leicht gewellt durch die Feuchtigkeit, die in Ns Rucksack gedrungen war. Ich klappte den Zettel auf und begann zu lesen. Touko, da ich noch einige dringende Angelegenheiten erledigen muss, habe ich beschlossen, sofort aufzubrechen, als ich merkte, dass Boreos und Voltolos sich beruhigten. Ich habe noch einmal über unser gestriges Gespräch nachgedacht und glaube, dich und deine Ansichten allmählich besser zu verstehen. Meine Entschlossenheit, das Ziel von Team Plasma in die Tat umzusetzen, ist allerdings nach wie vor ungebrochen! Wir werden sehen, wer von uns beiden am Ende Recht behalten wird. Bitte kümmere dich um Sesokitz. Ich kann mir niemanden vorstellen, der dafür besser geeignet wäre als du. Bis zu unserem nächsten Wiedersehen, N Ich las die Nachricht zweimal und bemerkte kaum, wie meine Hand zitterte, als ich damit fertig war. Dieser … Mistkerl! Macht sich mitten in der Nacht aus dem Staub und schmiert mir anschließend auch noch Honig ums Maul. Das ist ja wohl die älteste Masche der Welt! Und das schlimmste war, dass es tatsächlich funktionierte. Wie dämlich war ich eigentlich? Es war Cheeta, der mich von dem Gefühlschaos, das N hinterlassen hatte, ablenkte, indem er mich von der Seite anstupste und mich mit herzzerreißendem Bettelblick anschaute. Ich wusste, was das bedeutete, und fühlte mich schlagartig schuldig. Er hatte Hunger. Natürlich hatte er das, sie alle mussten hungrig sein, mir selbst ging es ja kaum besser. Ich steckte den Zettel in meine Hosentasche. „Komm her, Kleiner.“ Ich erschrak selbst, als ich merkte, wie kratzig meine Stimme klang. „Es tut mir leid, aber ich kann dir im Moment kein Futter geben. Aber ich werde mich gleich auf den Weg nach Marea City machen und dort bekommst du dann so viel wie du willst.“ Denn eine andere Möglichkeit, als zurück nach Marea City zu gehen, hatte ich nicht. Ich musste das Sesokitz so schnell wie möglich in ein Pokémon-Center bringen. Auch wenn N der Meinung war, dass es bei mir besser aufgehoben sei, war ich durchaus bereit, es der Pflege und Fachkenntnis von Schwester Joy anzuvertrauen. Und ich selbst hatte auch ein paar Tage Erholung nötig, in meinem Zustand wäre es zu riskant gewesen, mich durch die Elektrolithhöhle nach Panaero City durchzuschlagen. Ich umarmte Cheeta etwas länger als nötig und überredete ihn schließlich, in seinen Pokéball zurückzukehren. Die gleiche Prozedur wiederholte ich anschließend bei meinen restlichen Pokémon, bis nur noch das Sesokitz übrig blieb. Es schlief noch immer, ein deutlicher Hinweis auf seine Erschöpfung, und ich brauchte einiges an Zeit, um ihm gut zuzureden, bis es die Augen öffnete und mit meiner Hilfe den Rest der Milch austrank. Als ich auch das Sesokitz in einem Pokéball untergebracht, eine Tablette heruntergewürgt, all meinen Krempel zusammengepackt hatte und endlich bereit war, mich auf den Weg zu machen, war es schon 10 Uhr morgens. ~ Die Wärme, die mir nach dem Verlassen der Höhle entgegenschlug, traf mich wie ein Schock. Als ich in den strahlend blauen Himmel schaute, konnte ich kaum glauben, dass eben dieser Himmel noch vor wenigen Stunden von einem gewaltigen Gewitter erschüttert wurde, doch der Zustand des Landes legte ein eindeutiges Zeugnis ab. Etliche Bäume waren umgeknickt, abgebrochene Äste und zerrupfte Blätter lagen überall verstreut auf dem Boden, Wasser hatte sich in schlammigen Regenpfützen angesammelt, die noch nicht völlig von der kräftigen Sonne ausgetrocknet waren. Ich versuchte, das mulmige Gefühl in meiner Magengegend zu ignorieren und nicht daran zu denken, was passiert wäre, wenn N und ich nicht rechtzeitig in dieser Höhle Schutz gefunden hätten. Nach einem halbstündigen Fußmarsch begegnete ich einem Pokémon-Ranger, der sich auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses befand und versuchte, mit Hilfe seiner Pokémon eine zerstörte Brücke zu reparieren. Er hielt mit seiner Arbeit inne und starrte mich an, als wäre ich ein Geist. „Um Gottes Willen! Wo kommst du denn her, Kleine?“ Ich lächelte, um mir nicht anmerken zu lassen, wie erschöpft ich mich fühlte. „Keine Sorge, alles in Ordnung! Ich habe in der Panaero-Höhle übernachtet.“ Er starrte mich forschend an und ich beeilte mich weiterzureden, um neue Fragen abzuwürgen. „Ich bin auf dem Weg nach Marea City. Wie sieht es dort aus?“ „Ah.“ Er nickte, wirkte aber nicht allzu beunruhigt. „Die Stadt hat einiges abbekommen, doch die Schäden sind nur oberflächlich. Soweit ich weiß, wurde niemand verletzt. Die hatten gewaltiges Glück, weil das Gewitter in Richtung der Berge weitergezogen ist. Turner hat sich heute Morgen trotzdem ziemlich aufgeregt.“ Das glaubte ich ihm aufs Wort. Mit Turner, dem Arenaleiter von Marea City, war nicht gut Kirschen essen. „Bleib einfach auf der Seite des Flusses und geh weiter Richtung Süden, dann solltest du in ungefähr zwei Stunden in Marea City ankommen.“ „Danke!“ Ich lächelte ihm noch einmal zu und wollte mich bereits abwenden, als mir noch etwas einfiel. „… Wussten Sie, dass jemand hier in der Nähe Pokémon-Fallen ausgelegt hat?“ „Wie bitte?!“ Das Gesicht des Rangers verfinsterte sich. „Das ist verboten! Wo sind diese Fallen?“ „Ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht selbst gesehen, aber ein anderer Trainer hat mir davon erzählt.“ Er fluchte lauthals, dann schien ihm wieder einzufallen, dass er nicht alleine war, und er räusperte sich. „Tut mir leid, Kleine. Ich werde mich darum kümmern, verlass dich drauf!“ „Danke.“ ~ Ich brauchte nicht zwei, sondern drei Stunden, um nach Marea City zu gelangen. Als ich endlich vor den vertrauten Türen des Pokémon-Centers stand, hätte ich vor Erleichterung am liebsten laut gejubelt. Schwester Joy stand wie immer vor ihrem Tresen, ein Fels in der Brandung, der jedem Trainer Zuversicht schenkte. „Hallo, Trainer! Willkommen im Pokémon-Center! Wir- Meine Güte, Kindchen! Was ist denn mit dir passiert?!“ „Hallo!“ Ich ignorierte ihre Frage und legte die Pokébälle auf den Tresen. „Könnten Sie sich bitte um meine Pokémon kümmern? Besonders um dieses hier.“ Ich schob Ball von Sesokitz nach vorn. „Das Sesokitz ist gestern in einen Fluss gefallen und sehr geschwächt.“ Sie registrierte meine Worte, beachtete die Pokébälle jedoch überhaupt nicht. „Du siehst nicht gut aus. Wie geht es dir?“ „Einigermaßen.“ Das war die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich fühlte mich wie ausgekotzt. Und Schwester Joy schien genau das gleiche zu denken, denn sie ging um den Tresen herum, griff mit einer Hand nach meinem Ellenbogen und zog mich mit sanfter Gewalt in Richtung der Ruhezimmer. „Du wirst dich jetzt erst einmal hinlegen! Wir haben zum Glück noch genug Zimmer frei. Herrgott, du glühst ja richtig!“ Ich versuchte mich loszureißen, aber ihr Griff war fest wie ein Schraubstock. „Aber meine Pokémon-“ „Sind in ihren Pokébällen vorerst gut aufgehoben.“ Schwester Joy lächelte. „Ich kümmere mich gleich um sie, keine Sorge. Aber erst nachdem du dich hingelegt hast.“ Widerstand war zwecklos. Ich ließ mich in eines ihrer Ruhezimmer bugsieren, zog mir das Nachthemd über, das sie mir aufdrängte, legte mich brav ins Bett und wartete ungeduldig ab, während sie in aller Seelenruhe meine Körpertemperatur maß. „Hab ich’s mir doch gedacht!“, sagte sie schließlich. „Du hast Fieber! 38,7°C!“ Sie schüttelte das Thermometer und stecke es zurück in seine Hülle. „Ich werde dir gleich etwas Medizin bringen, und dann kümmere ich mich um deine Pokémon.“ „Sagen Sie mir hinterher Bescheid, wie es ihnen geht?“ „Natürlich!“ Sie strich mir mit einem liebevollen Lächeln eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Und jetzt schlaf ein bisschen.“ Ich schlief nach nur wenigen Minuten ein und träumte wirres Zeug. Von N, der mich anlächelte, sich plötzlich in G-Cis verwandelte und mich hämisch auslachte … von Sesokitz, das in ein Fangeisen trat und auf der Stelle tot umkippte … und von meiner Freundin Bell, die sich weinend über das tote Sesokitz beugte und davon stammelte, dass Team Plasma ihr schon wieder ihr Somniam gestohlen hätte. Als ich viele Stunden später endlich aufwachte, war ich vollkommen durchgeschwitzt und desorientiert. Die Leuchtzeiger der Wanduhr zeigten an, dass es 22:14 Uhr war. Ich tastete nach einem Lichtschalter, fand einen rechts über meinem Kopf, schaltete das Licht ein und bemerkte zu meinem völligen Entsetzten, dass meine verlorene Kappe auf dem Nachttisch lag. Ich kapierte zuerst überhaupt nicht, was los war, dann bemerkte ich die Nachricht, die direkt neben der Kappe lag, und griff mit zitternden Fingern danach. Hallo Touko, es tut mir leid, dass ich dich heute Mittag nicht sofort wiedererkannt habe, aber ich hatte dich noch nie ohne deine Kappe gesehen und du hast zudem (nimm es mir bitte nicht übel!) einfach fürchterlich ausgesehen. Jedenfalls hat eine Freundin von mir deine Kappe heute Morgen in ihrem Garten gefunden und ich habe mir die Freiheit genommen, sie zusammen mit deinen restlichen Sachen zu waschen. Mach dir keine Sorgen um dein Sesokitz, es wird schon bald wieder gesund sein. Das Wichtigste ist jetzt, dass du selbst wieder zu Kräften kommst. Deine Mutter hat übrigens versucht, dich über deinen Viso Caster zu erreichen. Ich habe das Gespräch entgegen genommen und ihr versichert, dass alles in Ordnung ist. Und jetzt schlaf noch ein bisschen! Grüße, Joy Ich schüttelte mit einem amüsierten Glucksen den Kopf, schaltete das Licht wieder aus und war augenblicklich eingeschlafen. ~ Ich blieb noch vier weitere Tage in diesem Ruhezimmer. Während der nächsten drei Tage schlief ich fast rund um die Uhr; am vierten Tag war mein Fieber endlich verschwunden, doch ich durfte das Bett trotzdem nicht verlassen. Immer, wenn ich versuchte, mich aus dem Zimmer zu schleichen, stand dort ein Ohrdoch, das mich auf eine derart gruselige Weise anstarrte, dass ich mich sofort zurück auf mein Zimmer verdrückte. Da ich nichts zu tun hatte, blieb mir viel Zeit zum Nachdenken, und auch wenn ich versuchte, nicht so viel an ihn zu denken, kreisten meine Gedanken fast ausschließlich um N. Seine Worte wollten mir einfach nicht aus dem Kopf gehen. „Vielleicht ist es besser, dass jeder von uns nach seinem eigenen Weg sucht.“ „Wir werden sehen, wer von uns beiden am Ende Recht behalten wird.“ „Du wirst es verstehen, wenn es soweit ist.“ „Ich bin trotz allem froh, dass wir uns begegnet sind.“ „Bis zu unserem nächsten Wiedersehen.“ Was auch immer N vorhatte – ich wurde den Gedanken nicht los, dass die Ausmaße seines Plans um einiges größer und verheerender waren, als ich anfangs vermutet hatte. In Septerna City hatte er mir von einem legendären Drachen-Pokémon erzählt, das er erwecken wollte. Ich hatte das damals als Unsinn abgetan, aber ich hatte auch nicht glauben wollen, dass Boreos und Voltolos wirklich existierten, bis ich ihre Macht am eigenen Leib zu spüren bekam. Wenn es dieses legendäre Pokémon wirklich gab und wenn es N wirklich gelingen sollte, es auf seine Seite zu ziehen, könnten die Folgen katastrophal sein. N wollte nur das Beste, aber ich bezweifelte, dass G-Cis und die anderen Mitglieder von Team Plasma die gleichen ehrenwerten Absichten hegten wie er. Und wenn N sich zu sehr in seinen Kampf um die Rechte der Pokémon hineinsteigerte … wenn er einen Fehler machte … dann musste ihn jemand aufhalten. Und dieser jemand war, so beängstigend dieser Gedanke auch sein mochte, vielleicht ich. Ich war schon viel zu sehr in diese Sache verstrickt, um mich jetzt noch herauszuhalten. N hatte mich zu einem Teil seines Plans gemacht, ohne dass ich in irgendeiner Weise eine Kontrolle darüber hatte. Und auch wenn ich immer noch erschreckend wenig über N wusste, gab es doch ein paar wichtige Dinge, die er mir anvertraut hatte: seine Träume, ein Teil seiner Pläne, ein Teil seiner Gefühle. Ich wusste noch nicht genau wie, aber ich wusste zumindest, dass ich ihm auf gewisse Weise wichtig war. Und dass er mir wichtig war. Das machte mich vielleicht zu einer der wenigen Personen, die im entscheidenden Moment die Gelegenheit hatten, zu N durchzudringen und ihn zur Vernunft zu bringen. Wenn ich das Band zwischen Menschen und Pokémon beschützen wollte, wenn ich diese Welt, die ich so liebte, bewahren wollte, wenn ich N vor sich selbst schützen wollte … dann musste ich etwas unternehmen. Und zwar bald. ~ „Herzlichen Glückwunsch, Touko! Du bist wieder gesund und ich kann dich ruhigen Gewissens aus dem Pokémon-Center entlassen.“ „Das klingt, als wäre ich selbst ein Pokémon.“ „Nur ein verantwortungsloser Trainer, der seine eigenen Grenzen nicht kennt.“ Ich unterdrückte ein Seufzen. Dafür, dass ich in dieses Gewitter hineingeraten war, konnte ich ja nun wirklich nichts. „Wie geht es meinen Pokémon?“ „Alles bestens.“ Schwester Joy schob mir eine Kiste mit den Pokébällen zu. „Was dein Sesokitz angeht-“ „Ah, das wollte ich Ihnen noch erklären. Das Sesokitz gehört gar nicht mir.“ „Huh?“ Sie blinzelte verwirrt. „Ja, ein anderer Trainer hat dieses Pokémon gefangen, aber nur, weil er es aus dem Fluss retten wollte“, erklärte ich. „Und ich habe es vorübergehend in meine Obhut genommen, um es zum Pokémon-Center zu bringen. Aber sein eigentlicher Trainer mag es nicht, wenn Pokémon in Gefangenschaft leben, deshalb dachte ich, dass es besser wäre, wenn ich das Sesokitz wieder freilasse, aber es ist noch zu klein, um alleine zu überleben. Deshalb wollte ich Sie bitten, sich um Sesokitz zu kümmern, bis es alt genug ist, um allein zurechtzukommen, und es dann freizulassen. Ich würde es selbst tun, aber ich habe noch etwas sehr Wichtiges zu erledigen, und vielleicht ist Sesokitz bei Ihnen besser aufgehoben.“ „Oh.“ Schwester Joy runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht so recht. Ich würde es natürlich tun, aber glaubst du wirklich, dass du das Richtige tust?“ „Ja.“ Es fiel mir selbst nicht leicht, Sesokitz zurückzulassen, aber nach einiger Überlegung war ich zu dem Schluss gekommen, dass es besser so war. Joy lächelte. „In Ordnung, dann werde ich mich um dein … ich meine, um das Sesokitz kümmern. Aber du solltest dich zumindest von ihm verabschieden.“ „Ja, natürlich.“ Ich nahm den Pokéball entgegen und warf ihn zu Boden, um das Sesokitz herauszulassen. „Hey, Kleines.“ Ich bückte mich, um Sesokitz zu streicheln. Bildete ich mir das nur ein, oder war es in den wenigen Tagen, die es in Joys Obhut verbracht hatte, tatsächlich um mindestens 20 Zentimeter gewachsen? Sesokitz drückte seinen Kopf gegen meine Schulter und rieb ihn daran. Ich grinste und streichelte seinen Hals. „Ich werde mich jetzt wieder auf den Weg machen. Du kannst hier bei Schwester Joy bleiben, bis du groß genug bist, um nach Hause zurückzukehren. Joy ist großartig, es wird dir bei ihr sicher gut gehen.“ Das Pokémon blickte mich an und legte den Kopf schief. „Also dann, auf Wiedersehen.“ Ich tätschelte seinen Kopf und wandte mich Schwester Joy zu. „Danke für alles!“ „Gern geschehen, Kleines!“ Ich wurde aus ihrem Grinsen nicht ganz schlau, ließ es aber dabei bewenden und nahm meine Pokébälle zurück. Als ich auf den Ausgang zuging, lief das Sesokitz neben mir her. „Halt, nein!“ Ich ging noch einmal in die Hocke, um es zu streicheln. „Du musst hierbleiben, okay?“ Ich ging weiter, und das Sesokitz machte immer noch keine Anstalten, stehen zu bleiben. Als ich bei der Tür ankam, folgte es mir immer noch. Schwester Joy lachte. „Verstehst du es denn nicht? Es will nicht hierbleiben - es will dich begleiten!“ „Aber ich kann es nicht mitnehmen – Aua!“ Das Sesokitz hatte mir seinen Kopf in den Hintern gerammt und mich umgeworfen. Schwester Joy lachte erneut. „Das war eine wirklich vorzügliche Takle-Attacke. Es wollte dir wohl demonstrieren, dass es nicht so schwach und hilflos ist, wie du glaubst.“ Ich rieb mir stöhnend den Hintern und wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Das Sesokitz kam wieder auf mich zu und rieb seinen Kopf gegen meine Wange. Unglaublich. „Du willst also wirklich mitkommen, ja?“ Es stupste seinen Kopf gegen meine Schulter. „Willst du den Jungen wieder sehen, der uns beiden geholfen hat?“ Und noch mal das Stupsen. Ich zögerte, atmete einmal tief durch, dann nickte ich. „Okay, mir bleibt wohl keine andere Wahl. Geh zurück in deinen Pokéball und ich werde dich mitnehmen.“ Es starrte mich einige Sekunden lang an, als wollte es mich dazu ermahnen, bloß keine faulen Tricks zu versuchen, dann ging es tatsächlich zurück zu dem Ball, der noch geöffnet auf dem Boden lag, drückte seinen Kopf dagegen und verschwand darin. Der Ball schloss sich von selbst. Ich hob ihn auf, immer noch ein wenig fassungslos. Schwester Joy stand nur daneben und grinste. N … das Pokémon, das wir beide gemeinsam gerettet haben, hat sich aus eigenem Antrieb gegen die Freiheit entschieden. Ich werde dieses Pokémon großziehen und trainieren, und wenn wir uns eines Tages wieder im Kampf gegenüberstehen, werden wir, wie du es selbst sagtest, sehen, wer am Ende Recht behält. Wenn ich dich mit dem Pokémon, das du selbst gefangen hast, besiegen kann ... wirst du dann verstehen, wie kostbar das Band zwischen Trainer und Pokémon wirklich ist, und dass du es nicht einfach so zerstören darfst? Ich hoffe es sehr. Ich gab dem Pokéball einen kleinen Kuss und lächelte. Alle meine Pokémon bekommen Namen, und ich glaube, ich habe schon einen passenden für dich: Hope. ENDE Wird es eine Fortsetzung geben? Mehr dazu erfahrt ihr in der Fanfiction-Beschreibung! ;-) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)